29 ■ 1.06 Objavljeni znanstveni prispevek na konferenci (vabljeno predavanje) Bogoslovni vestnik 75 (2015) 1,29—50 UDK: UDK: 2-1 Besedilo prejeto: 2/2015; sprejeto: 3/2015 Jean Greisch »Erfahrungsdefizite« und »Erlebnistrunkenboldigkeit«: der Begriff der religiösen Erfahrung als Herausforderung an die Religionsphilosophie Zusammenfassung: »Erfahrung« ist ein »Zauberwort«, das heutzutage jedermann im Munde führt. Das ändert nichts an der Tatsache, dass dieser Grundbegriff aller europäischen Sprachen einer der ungeklärtesten Begriffe überhaupt ist, insbesondere dann, wenn man von »religiösen Erfahrungen« spricht. Anstatt dass man sich damit begnügt, die immer wieder zu hörende Klage über das sogenannte »Erfahrungsdefizit« an dem Philosophie und Theologie zu wiederholen, ist es hilfreicher, den in dieser Klage vorausgesetzten Begriff der Erfahrung kritisch unter die Lupe zu nehmen. Diese kritische Erörterung erfolgt hier in zwei Schritten: 1. Ein »dekonstruktiver« Rückblick auf William James' Varieties. 2. Eine von Nietzsche inspierierte genealogische Rekonstruktion des Erfahrungsbegriffs. Schlüsselwörter: Erfahrung, Erlebnis, Widerfahrnis, Hermeneutik, Religionsphilosophie, Lebenswelt Povzetek: »Izkušenjski primanjkljaji« in »doživetvena opitost«: pojem religijske izkušnje kot izziv za filozofijo religije »Izkušnja« je danes »magična« beseda, ki jo uporabljamo v vseh vrstah kontekstov. Prav zato ne smemo pozabiti, da je ta ključni pojem v vseh evropskih jezikih eden najmanj pojasnjenih, zlasti v diskurzih, ki zadevajo religijske izkušnje. Namesto da ponavljamo nikoli končane pritožbe o nezadostni izkušenjski utemeljitvi filozofije in teologije, je koristneje, da analiziramo pojme izkušnje, ki jih te kritike predpostavljajo. V razpravi bomo naredili dva koraka v to smer: 1) »dekonstruktivistično« ponovno branje dela Varieties Williama Jamesa; 2) genealoško rekonstrukcijo pojma izkušnje, ki ga je navdihnil Nietzsche. Ključne besede: izkušnja, življenjski svet, doživetje, živa izkušnja, filozofija religije, hermenevtika Abstract »Experience Deficit« and »Life-Experience Inebriation«: a Challenge for the Philosophy of Religion »Experience« is a »magical« term that is used today in all sorts of contexts. One should therefore not forget that this key concept in all European languages is also one of the least elucidated, especially when discussing religious experien- 30 Bogoslovni vestnik 75 (2015) • 1 ces. Instead of endlessly complaining about the so-called »experience deficit« in philosophy and theology, it would be more helpful to analyse the concepts of experience underlying these criticisms. The article makes two steps toward such an analysis: 1. A »deconstructive« rereading of William James' Varieties. 2. A genealogical reconstruction of the concept of experience inspired by Nietzsche. Key words: experience, life-world, life experience, philosophy of religion, herme-neutics »Hört mich an wie einen Menschen, der mehr fragt als erklärt (audite me interrogantem potius quam disputantem), der mehr sucht als behauptet, der mehr lernt als lehrt, und auch ihr, fragt doch wenigstens in mir und durch mich.« (Augustinus, In Ioh. Ev. Tract. XXXVIII, 9) »Erfahrung« ist ein »Zauberwort«, das heutzutage jedermann im Munde führt. Ist es aber das »Sesam, öffne dich!«, das uns nicht nur die »Tore der Wahrnehmung«, denen Aldous Huxley seinerzeit ein Buch gewidmet hatte, das nicht ohne Einfluss auf die legendäre Rockgruppe »The Doors« gewesen ist (Todorovitch 2000, 423-32), sondern auch alle Pforten des Verstehens öffnet? Diese Frage möchte ich hier aus der Perspektive des Religionsphilosophen erörtern. Es handelt sich um eine Vorarbeit zu der »Ereignis und Erfahrung« betitelten, vom Guardini-Lehrstuhl der Humboldt-Universität zu Berlin ausgerichteten Wissenschaftlichen Tagung im Oktober 2011. Die Termini »Erfahrungsdefizit« und »Erlebnistrunkenboldigkeit« im Titel dieser Lectio markieren die beiden extremen Pole des Spannungsfeldes innerhalb dessen ich mich zu orientieren versuche. »Erfahrungsdefizit« ist eines jener Reizworte, die sich fast zwangsläufig bei öffentlichen oder privaten Disputationen über Glaubensfragen einstellen. »Erfahrungsschwund oder gar Erfahrungsverlust zu beklagen, gehört zu den rhetorischen Grundfiguren der Kulturkritik«, schreibt Hans Blumenberg in seiner »Theorie der Lebenswelt«. Aber, so fügt er hinzu, »im Grunde waren solcher Verlust und Schwund jederzeit zu beklagen weil es Tendenz des Lebens selbst ist, bewährte Einstellungen nicht immer wieder an den Vollzug aktueller Erfahrung zu binden« (Blumenberg 2010, 56). Diese nur scheinbar ironische Bemerkung verweist uns auf die Notwendigkeit, oder doch mindestens auf die Möglichkeit einer kritischen Besinnung auf den Begriff der Erfahrung. Jean Greisch - »Erfahrungsdefizite« und »Erlebnistrunkenboldigkeit« 31 »Erlebnistrunkenboldigkeit«: Diesen eigenartigen Ausdruck gebraucht Martin Heidegger in seiner im Wintersemester 1937/38 unter dem Titel »Grundfragen der Philosophie« gehaltenen Freiburger Vorlesung, deren Thematik eng an die Fragen anknüpft, die ihn in dem umfangreichen, mehr als sechshundert Seiten langen Manuskript »Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)«, das erst zehn Jahre nach seinem Tod veröffentlicht wurde, beschäftigt hatten. Heidegger zufolge ist es gerade die »Erlebnistrunkenboldigkeit des modernen Menschen«, die ihn daran hindert, das wahre Wesen des thaumazein zu erfassen, d.h. »die Grundstimmung« des Staunens, »die das anfängliche Denken des Abendlandes in seine Frage nötigte und zur Notwendigkeit werden ließ« (Heidegger 1992 [Ga 45], 162). Wenn wir das Reizwort »Erlebnistrunkenboldigkeit« in seinem Kontext betrachten, merken wir, dass die Begriffe »Erlebnis« und »Machenschaft« (als Bezeichnung für die instrumentale Vernunft oder die reine Zweckrationalität) in Heideggers Augen wie siamesische Zwillinge miteinander verbunden sind. »Je rasender die Machenschaften der Vernunft und ihrer Berechnung«, schreibt er, »um so lauter und massenhafter der Schrei nach dem 'Erlebnis'. Beides übersteigert sich und verfängt sich wechselweise. Mehr noch: Die Machenschaften, z.B. riesenhafte Leistungen der Technik, werden selbst zum größten 'Erlebnis', und die Erlebnisse suchen die Form der Machenschaft.« (141) Auch abgesehen von der Frage, welche Art der Religionsphilosophie man auf das Seinsdenken des späten Heidegger gründen kann, stimmt der eben zitierte Satz nachdenklich: Könnte es nicht sein, dass religiöse »Erlebnisse« und moderne »Technik« viel enger miteinander verwandt sind, als vermutet? Der »Erlebnistrunkenbold« und der gedankenlose Techniker können sich sehr wohl in derselben Brust vereinen. Ehe wir uns solchen Fragen zuwenden, tun wir aber gut daran, uns zunächst etwas näher mit den Sprachspielen zu befassen, die wir mit dem Wort »Erfahrung« spielen. In seinem Hauptwerk Wahrheit und Methode wies Hans-Georg Gadamer darauf hin, dass dieses geläufigste aller Worte paradoxerweise zugleich »einer unserer am wenigsten aufgehellten Begriffe ist« (Gadamer 1990, 369; 352). Erläutern wir die Schwierigkeit anhand eines literarischen Beispiels, das uns zugleich einen ersten Einblick in die spezifische Fragestellung der Religionsphilosophie verschafft. Es ist der Gebrauch, den Friedrich Hölderlin in einem Entwurf seiner im Jahre 1801 entstandenen Hymne Friedensfeier vom Verbum »Erfahren« macht. Eine Strophe dieser Hymne, die den zwischen Frankreich und Österreich in Luneville geschlossenen Friedensvertrag feierte, der das linke Rheinufer Napoleon zuteilte, lautet: Viel hat erfahren der Mensch, Der Himmlischen viele genannt, Seit ein Gespräch wir sind Und hören können voneinander. (V. 91—3) 32 Bogoslovni vestnik 75 (2015) • 1 Unser Probleme sind heute gewiss nicht mehr die geschichtlichen Ereignisse und Erfahrungen, die zum Friedensschluss von Luneville geführt haben, sondern sie betreffen die Bedingungen einer friedlichen Koexistenz der Völker überall auf der Welt. Ob ein solcher Friedensvertrag, von dem Kant in seinem Aufsatz »Zum Ewigen Frieden« geträumt hatte, je geschlossen werden wird, und ob sich ein Dichter finden wird, der dieses Ereignis besingt, ist eine Frage, die vorläufig noch bei den Göttern steht. Das soll uns nicht daran hindern, uns unseren eigenen Reim auf Hölderlins Verse zu machen, indem wir uns fragen, was es heißt, »ein Gespräch« zu sein, und unter welchen Bedingungen das »voneinander« (und wohl auch das »aufeinander«) Hörenkönnen gelingen kann. Wer sich auf derartige Fragen einlässt, wird bald merken, dass die unzähligen und vielgestaltigen Erfahrungen, die wir Menschen im Verlauf unserer Geschichte gemacht haben, auf die eine oder andere Weise auch etwas damit zu tun haben, wie und bei welchen Namen unsere Vorfahren »die Himmlischen« genannt, angerufen und besungen haben. Dies führt unweigerlich dazu, dass wir uns fragen, in welchen Erfahrungen dieses Nennen der oder des »Himmlischen« gründet, es sei denn man wolle behaupten, dass ein solches Nennen ganz und gar grundlos, eben nur »aus der Luft gegriffen« sei. 1. Die vielfalt der religiösen Erfahrungen: Haben wir Anlass, William James zu dekonstruieren? Was bedeutet der Ausdruck, »die Himmlischen nennen«, und auf welche Art von Erfahrungen lässt er sich stützen? In religionsphilosophischer Hinsicht ist das Jahr 1901-1902 ein besonders wichtiges Stichdatum für unsere Fragestellung. Damals hielt der amerikanische Philosoph William James, der zusammen mit Charles Sanders Peirce und John Dewey einer der drei Gründergestalten des Pragmatismus ist, in Edinburgh die berühmten Gifford Lectures unter dem Titel The Varieties of Religious Experience, die bereits 1902 als Buch veröffentlicht wurden, und seither zu den Klassikern der Religionsphilosophie des 20. Jahrhunderts zählen. Wir haben immer noch gute Gründe, uns diesen Text etwas näher anzusehen, selbst wenn man James verdächtigen kann, eine inzwischen längst obsolet gewordene Auffassung der Psychologie und ein revisionsbedürftig gewordenes Paradigma der Philosophie zu vertreten. Anlässlich des hundertsten Jubiläums der Varieties hielt Charles Taylor im Rahmen der »Hans-Georg Gadamer Vorlesungen« im Frühling 2000 in Wien am Institut für die Wissenschaften vom Menschen eine Reihe von Vorlesungen, die inzwischen als Buch erschienen sind (2002). Taylor setzt sich hier in einer, wie er selbst zugibt, »idiosynkrasischen und selektiven Weise« mit James auseinander. Ebenso wie Taylor bin ich davon überzeugt, dass dieser Grundtext es immer noch verdient, »neubesichtigt« (revisited), was immer auch heißt, neu überdacht zu werden. Jean Greisch - »Erfahrungsdefizite« und »Erlebnistrunkenboldigkeit« 33 Wenn Taylor bedauert, dass abgesehen von einigen ehrenvollen Ausnahmen James heute von der Mehrzahl der akademischen Philosophen vernachlässigt wird, kann ich ihm nur zustimmen. (Taylor 2002, 22) Die Frage ist nur, welche Art der »Neubesichtigung« die Varieties verdienen. In meinen Augen kann es sich keinesfalls um die Besichtung eines altehrwürdigen Denkmals handeln, denn in der Philosophie gibt es »Denkmäler« nur insofern sie uns immer noch zu denken geben. Die Neubesichtigung kann nur in einer kritischen Auseinandersetzung bestehen, die man ebenso gut mit dem Modewort »Dekonstruktion« bezeichnen kann, sofern man nicht vergisst, dass »Dekonstruieren« (ein von Husserl und Heidegger geprägter Fachterminus) nicht bedeutet, »mit dem Hammer zu philosophieren«, sondern auf ursprüngliche Denkerfahrungen zu rekurrieren, was auch eine Form der von James geforderten fairness ist. Bezeichnenderweise finden wir in einer 1922 gehaltenen Vorlesung, in der Heidegger zum ersten Mal den Ausdruck »phänomenologische Destruktion« einführt, James unter den vier Autoren (James, Natorp, Dilthey und der Wundt-Schüler Münsterberg, Nachfolger von James in seinem Forschungslaboratorium für experimentelle Psychologie), die Heidegger zufolge eine solche »Destruktion« verdienen. (Heidegger 1993 [Ga 59], 96)1 Spätestens hier stoßen wir auf die Notwendigkeit einer kritischen Besinnung auf den Erfahrungsbegriff, den James seiner Religionsphilosophie zu Grunde legt. Die folgenden Überlegungen wollen einen eigenständigen Beitrag zu einer »dekonstruktiven« Relektüre von James liefern, welche in der ebenerwähnten Vorlesung Heideggers nur in einigen programmatischen Sätzen angedeutet ist.2 Im Jahr 1904 beschrieb James in einen Brief seine persönliche Situation hinsichtlich der Religion in folgenden Worten: »Ich habe keine lebendige Empfindung eines Verkehrs mit Gott. Ich beneide die, die eine solche haben, da ich weiß, dass sie mir unendlich helfen würde. Das Göttliche ist für mein aktives Leben auf abstrakte Begriffe beschränkt, die als Ideale mich interessieren und beeinflussen, aber sie tun es nur schwach im Vergleich mit dem Gottesgefühl, wenn ich ein solches hätte. Es ist nur ein Intensitätsunterschied, aber Intensitätsunterschiede können unser ganzes Energiezentrum verschieben. Immerhin ... es ist etwas in mir, das antwortet, wenn ich von Äußerungen des Gottesbe-wusstseins bei anderen höre ... Etwas sagt mir: Dort liegt Wahrheit, und ich bin sicher, dass es sich nicht bloß um alte theistische Gewohnheiten und Kindheitsvorurteile handelt ... Nennen sie dies, wenn Sie wollen, meinen mystischen Keim.« (Stumpf 1928, 17) Für eine präzisere Analyse von Heideggers frühem Programm einer „phänomenologischen Destruktion« im Rahmen seiner „Hermeneutik der faktischen Lebenserfahrung« verweise ich auf meine Untersuchung L'arbre de vie et l'arbre du savoir (Paris: Ed. du Cerf, 2000), 97-110 [Kap. 12: Les racines phénoménologiques de l'herméneutique heideggérienne]. Im Jahr 1910, als er noch in der Rolle eines rabiaten Anti modernisten auftrat, veröffentlichte der Student Martin Heidegger eine harsche Kritik der Varieties in der Zeitschrift der katholischen Akademiker. (Heidegger 2000 [Ga 16], 18-28 [Reden und andere Zeugnisse eines Lebenswegs]). 1 2 34 Bogoslovni vestnik 75 (2015) • 1 Das mag eine schmale und vielleicht wenig tragfähige Ausgangsbasis für die Konstruktion einer Religionsphilosophie sein, aber ein religionsphilosophisches Sprungbrett ist es immerhin. Es könnte ja sein, dass, wie im evangelischen Gleichnis vom Senfkorn aus diesem unscheinbaren »mystischen Keim« ein großer Baum entsprießt, in dessen Ästen die Vögel des Himmels nisten können. Dass James' Überlegungen über die »existentiellen Bedingungen der Religion« (bzw., entsprechend dem ursprünglichen Titel der Gifford Lectures »über die religiösen Bedürfnisse des Menschen und ihre Befriedigung durch die Philosophie«) sich nahezu ausschließlich auf die religiösen Triebe und Gefühle konzentrieren, dank derer einige Individuen eine außergewöhnliche, exzentrische oder gar abnorme Entwicklung durchmachen, ist nicht weiter verwunderlich. Worum es ihm geht, sind einzig und allein »die Gefühle, Handlungen und Erfahrungen von einzelnen Menschen in ihrer Abgeschiedenheit, die von sich selbst glauben, dass sie in Beziehung zum Göttlichen stehen« (James 1997, 64). James verhehlt seinen Hörern nicht, dass diese Definition nicht allen Aspekten des religiösen Phänomens gerecht wird. Seine Vorlesungen erheben keinen anderen Anspruch, als nur »die Phänomene der religiösen Erfahrungen« (41) zu betrachten, aber eben auch die volle religiöse Erfahrung bestimmter Individuen, einschließlich ihrer möglichen pathologischen Aspekte. Seine Gegenspieler in dieser Fragestellung sind die Vertreter einer reduktionistischen Psychologie, die er anhand des Sammelbegriffs des »medizinischen Materialismus« (46) kennzeichnet. Es genügt, einen Blick auf Jean-Pierre Changeux's L'homme neuronal und die Thesen, die er in seinem Streitgespräch mit Paul Ricreur über die Begriffe »Natur« und »Regel« vertritt, zu werfen, um zu sehen, dass der »medizinische Materialismus« heute im Zeichen der Neurowissenschaften immer noch den Wind in den Segeln hat. Stellen wir uns versuchsweise ein Streitgespräch zwischen James und Changeux, etwa über die mystischen Entzückungen der Heiligen Theresia von Avila vor. Wie würde wohl James auf Changeux's Behauptung reagiert haben, dass die »Posito-nenkamera« es heute schon dem Neurowissenschaftler ermöglicht, »'mehr' als der Psychiater und der Psychologe zu sehen« (Changeux und Ricreur 1998, 69), weil dieses Instrument ihm einen direkten Zugang zu den subjektiven Zuständen der Menschen verschafft, ob es sich nun über reale Erlebnisse oder reine Wahngebilde handelt? Changeux illustriert seine These anhand des folgenden Beispiels: »Bisher konnten wir uns nur einen Begriff von diesen Halluzinationen machen, indem wir auf die Aussagen des betroffenen Subjektes zurückgriffen. Hätte man eine Positonen-kamera auf den Kopf der Heiligen Theresia von Avila während ihrer mystischen Entzückungen gerichtet, hätte man sofort sagen können, ob sie unter Halluzinationen litt oder nicht, ob sie an epileptischen Anfällen litt oder nicht.« (71-2) Wie James auf diese Art des wissenschaftlichen Selbstdünkels reagiert hätte, entdecken wir bereits auf den ersten Seiten der Varieties, wo er für eine phänomenologische fairness plädiert: »Let us play fair in this whole matter!« (»Lasst uns in Jean Greisch - »Erfahrungsdefizite« und »Erlebnistrunkenboldigkeit« 35 dieser ganzen Thematik fair miteinander umgehen und uns selbst und den Tatsachen gegenüber ehrlich sein.«) (James 1902, 15; dt. 1997, 48) James zufolge verlangt das intellektuelle fair play gegenüber den religiösen Erlebnissen, dass man auch auf sie die drei Hauptkriterien anwendet, die für alle Urteile über geistige Dinge gelten: Unmittelbares Einleuchten, philosophische Verständlichkeit und moralische Nützlichkeit (immediate luminousness, philosophical reasonableness, moral helpfulness). Angesichts des Reduktionismus eines Changeux lohnt es sich auch heute noch, die ironische Bemerkung von James zu überdenken: »Die Heilige Theresa kann das Nervensystem der sanftestes Kuh gehabt haben, und trotzdem würde es ihre Theologie nicht retten, wenn die weitere Prüfung sie aufgrund dieser Kriterien als verdammungswürdig erweisen würde. Und umgekehrt: Hält ihre Theologie dieser Prüfung stand, ist es vollkommen gleichgültig, wie hysterisch und unausgeglichen die heilige Theresa gewesen sein mag, als sie noch bei uns auf der Erde weilte.« (James 1902, 45; dt. 1997, 51) In den religiösen Erfahrungen, die James zum Gegenstand seiner Untersuchung macht findet eine Verlagerung des inneren Energiezentrums und eine Steigerung der Erlebnisintensität statt. In solchen Erfahrungen »kippt der innere Mensch in eine völlig andere Gleichgewichtslage«, und er lebt von der Zeit seiner Bekehrung an »in einem neuen Energiezentrum« (James 1997, 331). Dieses »Umkippen«, welches das Neue Testament mit dem Wort metanoiein (»Umdenken«) bezeichnet, ist kein rein intellektueller Prozess, sondern das Ergebnis eines freien Spiels von Gefühl, Denken und Willen: »Starke Affektionen erfordern einen starken Willen; starke Kräfte zum Handeln gebrauchen einen starken Intellekt; ein starker Intellekt benötigt starke Sympathien, um das Leben stabil zu erhalten.« (349) Ähnlich wie Bergson3 mit seiner Unterscheidung von »morale close« und »morale ouverte«, insistiert James auf das Risiko, das mit jeder authentischen religiösen Erfahrung einhergeht: »Wenn alles immer aufwärts gehen soll, müssen einige bereit sein, den ersten Schritt zu tun und das Risiko auf sich zu nehmen.« (365) Immer aber ist es »die Stimme der menschlichen Erfahrung in uns, die alle Götter beurteilt und verurteilt, die quer zu dem Weg stehen, auf dem sie selbst vorwärts zu gehen vermeint« (340). Gerade deshalb ist dem wirklich religiösen Menschen jedes Überheblichkeitsgefühl verwehrt. Je größer das Risiko, desto größer die Toleranz gegenüber anderen Wegen, Sichtweisen und Lebensintensitäten, die Ausdruck des unaufhörlichen Ringens der Menschen um Wahrheit sind. Der Pragmatiker James geht mit Lessing einig, wenn er die Suche nach Wahrheit als einen unabschließbaren Prozess bestimmt, der immer prinzipiell für mögliche Korrekturen offenbleibt: »Ich glaube tatsächlich nicht daran, dass wir oder irgendein anderer Sterblicher irgendwann einmal zu einer absolut unangreifbaren un un verbesserlichen Wahrheit über solche Tatbestände vorstoßen werden, mit Zum Verhältnis von Bergson und James siehe Bergsons bahnbrechenden Aufsatz „Über den Pragmatismus von William James: Wahrheit und Wirklichkeit« in: Denken und schöpferisches Werden: Aufsätze und Vorträge (Meisenheim: Westkultur-Verlag, 1948), 234-45. 36 Bogoslovni vestnik 75 (2015) • 1 denen sich die Religionen beschäftigen ... Ich bin kein Liebhaber von Unordnung und Zweifel an sich. Vielmehr fürchte ich, die Wahrheit durch den Anspruch, sie schon ganz zu besitzen, zu verlieren.« (343) In Taylors Augen ist die Art und Weise, wie James an die Frage nach den »Existenzbedingungen von Religion« (44) herangeht, und sie in erster Linie als »etwas, das Individuen erleben« (Taylor 2002, 4) bestimmt, kennzeichnend für die Einstellung des heutigen Menschen gegenüber religiösen Phänomenen in einer säkularen Gesellschaft. Zwei Aspekte der Varieties verdienen diesbezüglich eine besondere Aufmerksamkeit: einmal der Individualismus, demzufolge die Religion als ein pudendum betrachtet wird, das die Intimsphäre des Einzelnen betrifft und zweitens die strikte Erfahrungsbezogenheit (»experientialism«), derzufolge die Religion in erster Linie ein Modus des Fühlens und eine Weise des Handelns und kein theoretisches Lehrgebäude ist. Taylor vermutet, dass dieses Religionsverständnis seine Wurzeln im christlichen Spätmittelalter hat und sich von da aus über die Bruderschaften des gemeinsamen Lebens, Franz von Sales, die Cambridge Platonists, George Fox, John Wesley, die Grosse Erweckungsbewegung, Pietismus und Romantismus verbreitet hat. Im ausserchristlichen Raum könnte man auf Analogien mit der Hinduistischen bhakti-Bewegung, den Jüdischen Hassidim und den Sufis im Islam verweisen. Taylor macht auf die Gefahr einer dreifachen Engführung aufmerksam, die die Sicht auf das volle religiöse Phänomen versperren kann. Erstens unterschätzt James die Bedeutung der kollektiven und gemeinschafts-bezogenen Aspekte des religiösen Glaubens, anders gesagt die Tatsache, dass niemand für sich allein glaubt. Zweitens hat er kein Gespür für die Sakramentali-tät, die insbesondere ein Charakteristikum des Katholischen ist. Drittens scheint die Theologie in seinen Augen kaum eine, oder bestenfalls nur eine sehr sekundäre Rolle zu spielen. Dennoch hat James in vielen Punkten die Eigenart der religiösen Phänomene erfasst, etwa wenn er sich auf das Erlebnis des Wiedergeborenseins konzentriert, dank dessen die negativen und potentiell zerstörerischen Erfahrungen der depressiven Niedergeschlagenheit, des Bösen und das Gefühl der persönlichen Sünde überwunden werden. (37) Taylor zufolge wird auch die säkulare Gesellschaft immer noch von diesen Formen der religiösen Gewissensangst heimgesucht. Ein typisches Merkmal der heutigen Geisteslage ist die mit dem Sinnverlust verbundene Schwermut oder Niedergeschlagenheit, in der nur noch wenig Platz, und möglicherweise überhaupt kein Platz mehr für Kants dritte Grundfrage: »Was darf ich hoffen?« übrigbleibt. Taylor selbst versteht diesen Sinnlosigkeitsverdacht nicht sosehr als das Gefühl der Austreibung aus einem verlorenen Paradies, einer »heilen Welt«, als die Furcht vor einer endgültigen Leere, die Dämmerung des Endes der letzten Illusion eines Sinns. (39f) Gerade diesbezüglich hat James Taylor zufolge die religiöse Stimmungslage des modernen Menschen gut getroffen wenn er die Erschütterungen der im Geist Wiedergeborenen höher bewertet als den soliden aber etwas bornierten Optimismus derjenigen, die keiner solcher Erschütterungen fähig sind. Jean Greisch - »Erfahrungsdefizite« und »Erlebnistrunkenboldigkeit« 37 Dass James in seiner anderen religionsphilosophischen Grundschrift sich intensiv mit der Bereitschaft und dem »Willen zu glauben« (The Will to Believe) auseinandersetzt, ist auch als eine apologia pro vita sua zu verstehen. Er musste gleichsam in sich selbst die Stimmen zum Schweigen bringen, die ihn davon überzeugen wollten, dass die Religion nur ein fossiler Überrest einer im Zeitalter der Wissenschaft nicht mehr lebensfähigen Bewusstseinsform ist. (43) Diesbezüglich sind wir immer noch vor eine Frage gestellt, die Nietzsche seinerzeit in einem »Inwiefern auch wir noch fromm sind« betitelten Aphorismus folgendermassen zusammengefasst hatte: »Was wißt ihr von vornherein vom Charakter des Daseins, um entscheiden zu können, ob der größere Vorteil auf Seiten des Unbedingt-Mißtrauischen oder des Unbedingt-Zutraulichen ist?« (Nietzsche 1988, Bd. 3 [Die fröhliche Wissenschaft, Fünftes Buch, »Wir Furchtlosen« § 344]) Die Schärfe dieser Frage versteht man nur, wenn man einsieht, dass hier nicht Glauben und Wissen einander gegenüberstehen, sondern zwei Grundüberzeugungen, die man ebenso gut als zwei Leidenschaften betrachten kann. Genau darauf kommt es James an, wenn er sich selbst und uns vor die Alternative stellt, ob wir besser beraten sind, wenn wir unserer Furcht, dass die Religion nur eine Täuschung sein könnte, mehr Glauben schenken, als unserer Hoffnung, sie könnte wahr sein. Taylor zufolge sprechen ebenso viele Gründe für die eine wie für die andere Grundoption. Die erste, von Bertrand Russell und Sigmund Freud vertretene Option versteht die Religion als einen nicht überwundenen Infantilismus. Ihren wohl schärfsten Ausdruck erhält diese Auffassung in Nietzsches Antichrist. Wer, »das Schwergewicht des Lebens nicht ins Leben, sondern ins 'Jenseits' verlegt« nimmt Nietzsche zufolge »dem Leben überhaupt das Schwergewicht«. Für einen solchen Menschen bedeutet das Wort »Heil der Seele« im Klartext nichts anderes als »die Welt dreht sich um mich« (Nietzsche 1988, 6:217 [Der Antichrist § 43]). In diesem Fall ist »das Bedürfnis nach Glauben« selbst nur »ein Bedürfnis nach Schwäche« und der Mensch des Glaubens »notwendig ein abhängiger Mensch« (6:236 [Der Antichrist § 48]). Dieser Auffassung zufolge wäre die Überwindung der Religion das letzte Stadium auf dem Weg zur Mündigkeit. Wer es soweit gebracht hat, der darf mit einem berechtigten Stolz auf den Weg zurückblicken, den er zurückgelegt hat, und mit einem gewissen Mitleiden auf diejenigen herabschauen, die immer noch an einer zukunftslosen Illusion hängen. Die andere Einstellung setzt mit James darauf, dass die Religion es mindestens verdient, näher untersucht zu werden, weil sie für so viele Menschen eine lebenswichtige Bedeutung hat. Taylor selbst trifft keine eindeutige Entscheidung für die eine oder die andere Option. Was ihn als Kulturphilosoph interessiert ist die Tatsache, dass mehr und mehr Menschen die gegensätzliche Spannung der beiden Positionen verspüren, auch nachdem sie sich für die eine oder die andere Option entschieden haben. Auf der Seite der Gläubigen führt dies zu exponierteren Formen des Glaubens, die sich den Herausforderungen der Ungläubigen zu stellen versuchen. 38 Bogoslovni vestnik 75 (2015) • 1 Aber auch auf der Seite der Ungläubigen wird die Möglichkeit des Glaubens als eine beständige Versuchung empfunden. Ein schönes Beispiel für diese Art von Ambivalenz ist ein Aphorismus aus Wittgensteins Vermischten Bemerkungen: »Ich kann nicht niederknien, zu beten, weil gleichsam meine Knie steif sind. Ich fürchte mich vor der Auflösung (vor meiner Auflösung), wenn ich weich würde.« (Wittgenstein 1980, 68) Ihr volles Gewicht erhält diese Selbstaussage, wenn man sie vor dem Hintergrund eines anderen Satzes aus den Vermischten Bemerkungen liest: »Die christliche Religion ist nur für den, der unendliche Hilfe braucht, also nur für den, der unendliche Not fühlt. Der ganze Erdball kann nicht in größerer Not sein als eine Seele. Der christliche Glaube - so meine ich - ist die Zuflucht in dieser höchsten Not. Wem es in dieser Not gegeben ist, sein Herz zu öffnen, statt es zusammenzuziehen, der nimmt das Heilmittel ins Herz auf.« (58) Es fällt nicht schwer, in diesen Sätzen den bleibenden Eindruck, den die Lektüre von James' Varieties auf den jungen Wittgenstein gemacht hatte, wiederzuerkennen. Man kann sie aber auch als Selbstbekenntnisse eines Philosophen lesen, dem es nicht gelungen ist, ein Augustinus oder ein Pascal zu werden! Was Taylor an James besonders fasziniert ist dass er, ähnlich wie Wittgenstein, sich in einem unbeständigen Gleichgewicht zwischen beiden Optionen befindet, eben jene Unbeständigkeit, die Taylor zufolge ein konstitutives Merkmal der Moderne ist. (Taylor 2002, 59) Das hindert ihn nicht daran, im Schlusskapitel seines Buches drei Punkte zu unterstreichen an denen das religionsphilosophische Konzept von James revisionsbedürftig ist. Erstens unterschätzt James die Tatsache, dass für die Mehrzahl der Menschen religiöse Überzeugungen im Rahmen von religiösen Gemeinschaften und Institutionen gelebt werden. Zweitens ist für viele Menschen die Religion auch in sozialer und politischer Hinsicht immer noch - positiv oder negativ - identitätsstiftend. Drittens beruht das religiöse Leben der meisten Menschen nicht auf aussergewöhnlichen Erlebnissen und Seelenzuständen, sondern es wird gepflegt und eingeübt. Insofern ist der religiöse Mensch gerade kein »Erlebnistrunkenbold« im von Heidegger angekreideten Sinn. In Taylors eigenen Worten: »Many people are not satisfied with a momentary sense of wow!« (116) Das sollte uns nicht daran hindern, mit James die Tatsache zu reflektieren, dass es gerade im Bereich der mystischen Erfahrung Formen der geistigen Trunkenheit gibt - James belegt sie mit einem dreiseitigen Zitat des islamischen Mystikers Al-Ghazzali - gegenüber denen der gesunde Menschenverstand nur ratlos den Kopf schütteln kann. Dass dies in James' Augen noch lange kein Grund ist, solche Erfahrungen zu verwerfen, beweist ein Satz aus dem Schlusskapitel der Varieties: »Das Jean Greisch - »Erfahrungsdefizite« und »Erlebnistrunkenboldigkeit« 39 Wissen über eine Sache ist nicht die Sache selbst. ... die Ursachen von Trunkenheit zu verstehen, (ist) nicht dasselbe, wie betrunken zu sein.« (James 1997, 476) Nicht weniger entschieden betont Taylor, dass wir uns Gedanken über den Preis machen sollten, den wir für die verschiedenen Formen des religiösen, manchmal erzwungenen Konformismus zahlen müssen: »Scheinheiligkeit, geistige Verdummung, innere Auflehnung gegen das Evangelium, Verwechslung von Glaube und Macht, und noch Schlimmeres«. (114) 2. Die vielfältige Bedeutung des Wortes Erfahrung: Entwurf einer Genealogie Wenn man das Wort »Dekonstruktion« nicht wie eine magische Zauberformel verwendet, oder wie einen philosophischen Hammer, mittels dessen alles und jedes sich zertrümmern lässt, lohnt es sich, dass wir uns daran erinnern, dass dieser auf Husserl und Heidegger zurückgehende Ausdruck nichts anderes bedeutet als die ständige Notwendigkeit, unsere Theorien und Begriffe auf die sie begründenden ursprünglichen Erfahrungen und originäre Anschauungen zurückzuführen. Eine solche phänomenologisch-hermeneutische Dekonstruktion möchte ich hier am Beispiel des Erfahrungsbegriffs in ständigem Blick auf den Umgang mit dem Begriff der religiösen Erfahrung durchexerzieren. Es handelt sich zunächst darum, sich der vielfältigen Bedeutungen bewusst zu werden, die der Ausdruck »Erfahrung« im Laufe der Geschichte erhalten hat, die Spuren, die diese Bedeutungen im Diskurs des Abendlandes hinterlassen haben zu untersuchen, insbesondere aber, die Grunderfahrungen zu identifizieren, die sich mit diesem Wort verbinden. Hierzu bediene ich mich, nicht ohne eine gewisse Ironie einer bestimmten literarischen Vorlage. In Nietzsches Götzendämmerung findet man einen kurzen, »Wie die 'wahre Welt' endlich zur Fabel wurde« betitelten Text. Die provozierende Geschichte (oder »Fabel«) die uns Nietzsche hier vorträgt wird dem Untertitel des Buches voll und ganz gerecht: Hier wird in der Tat »mit dem Hammer philosophiert«! Der Frage nach der Berechtigung von Nietzsches genealogischen Rekonstruktion des Wahrheitsbegriffes - die in Wirklichkeit eine Verfallsgeschichte ist - und Heideggers und Jacques Derridas (1978) Interpretationen dieses Textes will ich hier nicht nachgehen, wie ich es anderswo getan habe. (Greisch 1983, 43-60) Ich frage mich bloss, ob man es nicht in ähnlicher Weise auf eine Rekonstruktion der Verwandlungen ankommen lassen kann, die der Begriff der Erfahrung im Laufe der abendländischen Denkgeschichte durchgemacht hat. Diesbezüglich ist ein Vergleich mit den Paragraphen 62-80 in Heideggers Beiträgen zur Philosophie besonders aufschlussreich. Die einzelnen Phasen der Seinsvergessenheit, die er dort unterscheidet, finden hier ein genaues Gegenstück in den Umformungen des Wahrheits- und des Erfahrungsbegriffs. Wenn die Wahrheit, wie Nietzsche behauptet, für uns nicht mehr das ist, was sie früher einmal war - unwandelbar, 40 Bogoslovni vestnik 75 (2015) • 1 ewig, unparteiisch, übergeschichtlich, usw. - dann haben wir tatsächlich gute Gründe, uns zu fragen, ob das Gleiche nicht auch für die Erfahrung selbst gilt. Diese Hypothese, deren waghalsigen Charakter ich mir keineswegs verhehle, hat mich dazu verleitet, eine kleine Geschichte der Metamorphosen des Erfahrungsbegriffs zu entwerfen. Ich betone: Verwandlungen des Begriffs und nicht ein rein semantischer Streit um Wortbedeutungen! Je nachdem was man unter Erfahrung versteht, verwandelt sich unser Seinsverständnis und unser Selbstverständnis. Natürlich bedeutet das nicht, dass wir uns keine Gedanken über die verschiedenen Worte machen sollten, die im abendländischen Sprachraum für diese Sache verwendet werden, und über die etymologischen Wurzeln des Wortes. Hier zeigt sich sofort ein gemeinsamer Nenner, der sich mit einer Denkerfahrung verbinden lässt: Das griechische empereia, das lateinische experiri, das deutsche Erfahrung, das französische expérience, das englische experience, usw.4, verweisen uns insgesamt auf die vieldeutige indogermanische Wurzel per-. Sie bezeichnet sowohl den Feind und die drohende Gefahr (periculum), als die Überquerung oder den Übergang, der manchmal in einem wahren Durchbruch besteht, was bekanntlich auch ein Schlüsselwort der Mystik Meister Eckharts ist. Was auch die konkreten Erfahrungen sein mögen, von denen die Rede ist, so verweist die ursprüngliche Wortbedeutung auf einen gemeinsamen Sinnkern: die mit jeder Überquerung verbundene Gefahr. Besonders im Deutschen verbindet dieselbe Wurzel den Terminus Erfahrung, der einen Weg und eine Überquerung (etwa die Überquerung einer Furt, oder eines Meerbusens) mit dem Terminus Gefahr. Eine Erfahrung ist immer irgendwie gefährlich, oder sie ist eben keine Erfahrung! Hieran erinnert Heidegger in seinen frühen Freiburger Vorlesungen, in denen er unter dem Titel »Phänomenologie des religiösen Lebens« einen Vorstoss in den Fragebereich der Religionsphilosophie unternommen hatte. Ausschlaggebend ist in seinen Augen »die Tatsache ... dass wir - jeder in seinem faktischen Leben dem und dem begegnet oder dass ihm das und das Begegnen 'zustösst', dass er das und das kennenlernt, das ihm Eindruck macht, ihn umwirft, dass er 'einem anderen Menschen verfällt', bezeichnen wir als 'er-fahren', auf der Fahrt des Lebens erringen, antreffen, und das in den verschiedenen Modifikationen desjenigen, in dessen faktischem Verlauf sich eine Welt, die Umwelt und jede Lebenswelt aufbaut.« (Heidegger 1992 [Ga 58], 67) Dieser etymologischen und lexikalischen Gegebenheiten eingedenk, werde ich im folgenden, insbesondere im Blick auf den problematischen Ausdruck »religiöse Erfahrung« fünf genealogische Stadien der Entwicklung des Erfahrungsbegriffs unterscheiden, wobei ich mir nicht sicher bin, ob das fünfte Stadium bereits seine feste Gestalt angenommen hat. Nicht ohne eine gewisse Ironie, habe ich diesen Versuch Zum Bedeutungsspektrum des englischen Terminus „experience«, siehe: John M. Hinton, Experience: An Inquiry into Some Ambiguities (Oxford: Clarendon Press, 1973), 13-21. Zum Begriffsfels in der Gegenwartsphilosophie, siehe: Jürg Freudiger, Hrsg., Der Begriff der Erfahrung in der Philosophie des 20. Jahrhunderts (München: Beck, 1996). 1 Jean Greisch - »Erfahrungsdefizite« und »Erlebnistrunkenboldigkeit« 41 in Anspielung auf Nietzsches »Fabel«: »Wie die ursprünglichen Erfahrungen endlich zu wissenschaftlichen Experimenten und zu rein subjektiven Erlebnissen wurden. Geschichte eines Irrtums«, betitelt. Meine Fabel gliedert sich in fünf Stadien: 1. Erstes Stadium: »Die Lebenserfahrung konfrontiert uns mit einer gefährlichen, manchmal geradezu unheimlichen Wirklichkeit, die uns viele gute und böse Überraschungen bereithält. Jederzeit kann hier alles Mögliche sich ereignen. Selbst die Himmlischen, die Götter oder der Gott können uns in vielerlei Gestalt 'heimsuchen'. Religiöse Erfahrungen sind Widerfahrnisse und Heimsuchungen.« Wir, die Kinder einer wissenschaftlichen und technologischen Zivilisation assoziieren zumeist den Begriff der Erfahrung mit dem des Experimentierens. Erfahrungen werden »gemacht«, »produziert« und programmiert, und nicht durchgemacht und durchlitten. Die so verstandene »Erfahrung« ist ein Prozeß, dessen Verlauf wir kontrollieren und programmieren, auch wenn wir nicht sicher sind, was am Ende dabei herauskommt. Es ist kein Zufall, wenn man diesbezüglich von experimentellen »Montagen« spricht, die neuerdings ihren Ausdruck in dem gigantischen »Large Hadron Collider« (LHC) für Kernbeschleunigung gefunden haben, von dem eine neue Generation von Physikern sich entscheidende Aufschlüsse über die Feinstruktur der Materie und die Entstehung des Universums erwartet. Aus der Selbstvorstellung dieses Forschungslaboratoriums greife ich einen einzigen Passus heraus: »There are many theories as to what will result from these collisions, but what's for sure is that a brave new world of physics will emerge from the new accelerator, as knowledge in particle physics goes on to describe the workings of the Universe. For decades, the Standard Model of particle physics has served physicists well as a means of understanding the fundamental laws of Nature, but it does not tell the whole story. Only experimental data using the higher energies reached by the LHC can push knowledge forward, challenging those who seek confirmation of established knowledge, and those who dare to dream beyond the paradigm.« Symptomatisch für dieses Verständnis sind die Worte: »experimental data«, »pushing knowledge forward«, »challenging those who seek confirmation of established knowledge, and those who dare to dream beyond the paradigm.« Wenn wir von diesen Formeln auf den ursprünglichsten Gebrauch des Wortes »Erfahrung« zurückblicken, dann merken wir sofort einen entscheidenden Unterschied, der sich in gewisser Weise im Deutschen besser als in den romanischen Sprachen und im Englischen erhalten hat. Die Erfahrung ist zunächst ein Wider-fahrnis, etwas das uns widerfährt, uns überrascht und manchmal sogar überrumpelt, so zwar, dass wir aus der Bahn geworfen werden. Dies trifft auch auf die religiösen Grunderfahrungen zu, die im ursprünglichen griechischen Verstand des Wortes »Heimsuchungen« sind. Der Mensch wird von den bestürzenden Erscheinungen der Himmlischen heimgesucht. Hermes, der 42 Bogoslovni vestnik 75 (2015) • 1 Namenspatron der Hermeneutik ist ein gutes Beispiel für diese Art der Heimsuchung. Etwas davon ist noch in einer Perikope der Apostelgeschichte spürbar. Als Paulus und Barnabas in der Hafenstadt Lystra eintreffen, halten die dortigen Einwohner sie für Zeus und Hermes. (Apg 14,12-18) Auch abgesehen von diesem mythischen Hintergrund und der damit verbundenen archaischen »Theiologie« der Griechen haben die griechischen Tragiker uns eine Formel hinterlassen, die ein ähnliches Verständnis der Erfahrung als Wi-derfahrnis wiederspiegelt. Wenn etwa Aischylos (Agamemnon, 177) sagt, dass man durch Leiden lernt (to pathei mathos), dann schreibt er dem Widerfahrnis des Leidens, das ja eine »Prüfung« und kein »Experiment« ist, ein Verstehensver-mögen zu, das sich mit keinen anderen Mitteln erreichen lässt. Weil es Dinge gibt, die man nur in der Prüfung des Leidens »erfährt«, kann das Leiden als eine Schule der Weisheit verstanden werden. Der »vielerfahrene« - etwa Odysseus - muss viele Prüfungen über sich ergehen lassen und sie bestehen, ehe er den Namen eines »Erfahrenen« (empeiros) verdient. Dass dieses Verständnis des Erfahrens nicht den griechischen Tragikern vorbehalten ist, beweist ein Satz aus dem Gottesstaat des Heiligen Augustinus, in dem er das Opfer Isaaks in folgenden Worten beschreibt: »Häufig kann der menschliche Geist nur dadurch sich selbst kennenlernen, dass er auf Fragen, die sozusagen die Versuchung an seine Kräfte richtet - eine Prüfung nicht durch Worte sondern durch Erfahrung (non verbo, sed experimento, tentatione quodammodo interrogante) - Antwort geben muss.« (Augustinus, De Civitate Dei, XVI, XXXII [dt. 1978, 334; fr. BA 36, 293]) Als die ersten griechischen Denker den Akzent vom Adjektiv empeiros auf das Substantif empereia verlagerten, trafen sie eine folgenschwere Entscheidung, aus der Aristoteles die philosophischen Konsequenzen gezogen hat: Empereia bezeichnet jetzt die erworbenen Kenntnisse eines Menschen, die das Besondere in seiner Besonderheit gegenüber dem Wissen (epistémé) und der techné auszeichnen. »Erfahren« setzt immer ein Sichauskennen und ein Verstehen voraus, das sich nicht auf ein allgemeines Wissen reduzieren lässt, und das daher auch im Bereich des ethischen Handelns eine eigene intellektuelle Tugend impliziert: die Tugend der phronésis, ein Wort, das ins Lateinische mit »prudentia« übersetzt wurde. Dieselbe Auffassung liegt einer These des Aristoteles zugrunde, die zahlreiche mittelalterliche Denker und auch noch Thomas Hobbes immer wieder zitiert haben: Es bedarf vieler Erinnerungen, um ein »erfahrener« Mensch zu werden: ex-perientia fit ex multis memoriis. Auch Gadamer beruft sich noch auf den Spruch des Aischylos bei seinem Versuch, den Begriff der »hermeneutischen Erfahrung« zu begründen. Seines Erachtens enthält der Gebrauch, den Aischylos von diesem Wort macht, einen Aspekt, der im teleologischen Gebrauch, den Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes, die ja eigentlich eine »Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins« - bzw. eine »Wissenschaft der Erfahrungen des Bewusstseins« - ist, zu kurz kommt. Worauf es Hegel einzig und allein in seiner genialen Analyse der paradigmatischen Erfah- Jean Greisch - »Erfahrungsdefizite« und »Erlebnistrunkenboldigkeit« 43 rungen, die das menschliche Bewusstsein macht, wenn es mit der Andersheit der Welt und des anderen Bewusstseins konfrontriert ist, ankommt, ist die Fähigkeit des Geistes, sich über die jeweils gemachten Erfahrungen zu erheben und sie in eine bestimmte Form des Wissens zu verwandeln. Was hierbei übersehen wird, ist Gadamer zufolge, dass man von einer Erfahrung nur dann sprechen kann, wo eine Erwartung enttäuscht wird, und zwar so, dass damit unser Welt- und Selbstverständnis verwandelt wird. (Gadamer 1990, 361-2) Erwartungen können natürlich auf Befürchtungen sein: In diesem Fall spricht man von positiven Erfahrungen, im Gegenteil zu negativen Erfahrungen, in denen das Moment der Enttäuschung überwiegt. Es besteht kein Grund, anzunehmen, dass in der Religion negative Erfahrungen überhaupt keine Rolle spielen, wie ein religiöser Zweckoptimismus manchmal behauptet. 2. Zweites Stadium: »Die Welt wird als eine regio dissimilitudinis erfahren, in der wir uns nicht häuslich einrichten können oder sollen. Sie ist ein Durchgangsstadium für den homo viator, die ihn ständigen Prüfungen und Versuchungen aussetzt, die bestanden werden müssen, um das Ufer der ewigen Heimat zu erreichen.« Im zweiten Stadium der Entwicklung des Begriffs verlagert sich das Schwergewicht auf die Idee einer räumlichen oder zeitlichen Wegstrecke, die durchlaufen werden muss, mit allen Beschwernissen und Gefährnissen, die damit verbunden sind. Besonders gefährlich wird es, wenn der Weg erst gebahnt und gefunden werden muss. »Einsicht durch Fahrt«: Die »Erfahrung« ist in diesem Fall etwas, das man nur versteht, wenn man sich selbst auf den Weg macht und in Bewegung setzt. »Schreite vorwärts auf deinem Weg«, schreibt irgendwo Augustinus, »denn er existiert nur, solange du ihn begehst.« »Er-fahren« schreibt Heidegger in seiner ersten Einführung in die Phänomenologie, bedeutet soviel wie »auf der Fahrt des Lebens erringen.« (1992 [GA 58], 67) Paradoxerweise übersehen wir Vielbereisten, die immer mit unseren Fahrzeugen unterwegs sind, gerade die Tatsache, dass Fahrten immer auch Erfahrungen sind, und umgekehrt. Vielleicht ist gerade der »Tourismus« das, was uns so unerfahren im Umgang mit fremden Menschen, Kulturen und Religionen macht. Insofern lohnt es sich immer noch, gleichsam als Warnung und Gegengift, das »Reisen« betitelte Gedicht Gottfried Benns anzuhören: Meinen Sie Zürich zum Beispiel sei eine tiefere Stadt, wo man Wunder und Weihen immer als Inhalt hat? Meinen Sie, aus Habana, weiß und hibiskusrot, bräche ein ewiges Manna für Ihre Wüstennot? 44 Bogoslovni vestnik 75 (2015) • 1 Bahnhofstraßen und Rueen, Boulevards, Lidos, Laan — selbst auf den Fifth Avenueen fällt Sie die Leere an — ach, vergeblich das Fahren! Spät erst erfahren Sie sich: bleiben und stille bewahren das sich umgrenzende Ich. Weil ich nie ein Mitglied irgendeiner Gilde von Baden-Powells Pfadfindern gewesen bin, wird man es mir vielleicht verzeihen, wenn ich mich frage, ob nicht die großen Gestalten der Religionsgeschichte, Lao-Tze, Buddha, Jesus-Christus »Pfadfinder« in diesem Sinn des Wortes gewesen sind, indem sie uns Erfahrungsräume erschlossen haben, zu denen wir sonst keinen Zugang hätten, und Wege gebahnt haben, die sie selbst als erste beschritten haben. Damit rühren wir an einen anderen wichtigen Aspekt des Erfahrungsbegriffs: Erfahrung hat etwas mit Lebensorientierung zu tun. Ob in dieser Angelegenheit Benns: »bleiben und stille bewahren /das sich umgrenzende Ich« das letzte Wort behält, wird jeder für sich selbst entscheiden müssen. Einer anderen möglichen Interpretation des »Erfahrens« begegnen wir im vierten, »Little Gidding« betitelten Gedicht von T.S. Eliots Four Quartets. Der Titel dieses Gedichtes bezieht sich auf ein Dorf im Huntingtonshire, wo eine 1626 von Nicolas Farrer, dem Freund des großen englischen »mystischen« Dichters George Herbert gegründete Gebetsgemeinschaft ansässig war. Eliots Evokation dieser von zahlreichen religiösen Erfahrungen und Erinnerungen geprägten Ortschaft, »wo das Gebet immer noch gültig ist« (»where prayer is still valid«), endigt mit einem Zitat aus dem zweiten Kapitel der The Cloud of Unknowing betitelten Schrift eines anonymen englischen Mystikers des 14. Jahrhunderts (Hodgson 1982; dt., Riehle 1999; Johnston 1987; Steinmetz 2005): »With the drawing of this Love and the voice of this Calling«, das der Dichter durch folgende Verse ergänzt: We shall not cease from exploration And the end of all our exploring Will be to arrive where we started And know the place for the first time. (Eliot 1969, 220-221 [»Quatre quatuors«]) In diesen Versen spiegelt sich ein Verständnis der religiösen Erfahrung wieder, die sowohl durch den Titel einer Schrift Bonaventuras: itinerarium mentis in Deum (Falque 2001), als auch durch den Titel Scivias der Hildegard von Bingen illustriert werden kann. Anlässlich einer zum 16. Jahrhundert der Bekehrung des Heiligen Augustinus von der Philosophischen Fakultät des Institut Catholique in Paris veranstalteten Jean Greisch - »Erfahrungsdefizite« und »Erlebnistrunkenboldigkeit« 45 Tagung erinnerte Stanislas Breton daran, dass dort wo wir Modernen oder Postmodernen von Erfahrungen sprechen, die mittelalterlichen Denker vorzugsweise von einem itinerarium oder von »viae« sprachen, was natürlich auch für das Verständnis der Gottesbeweise eines Thomas von Aquin wichtig ist, die ja »quinque viae« und noch keine demonstrationes im modernen Sinn des Wortes sind. Ausschlaggebend ist in allen Fällen, sowohl auf der religiösen wie auf der intellektuellen Ebene, dass die als itinerarium verstandene Erfahrung früher oder später einen entscheidenden Durchbruch (ein wichtiges Wort inbesondere in der Sprache Meister Eckharts!) zur Folge hat, und letzten Endes ans Ziel führt. 3. Drittes Stadium: »Die Welt der modernen Wissenschaft ist die Welt der Phänomene, die Gegenstand empirischer Beobachtungen und wissenschaftlicher Experimente sind. Die einzige Wahrheit, die man dieser Welt zuschreiben kann, ist die Wahrheit des Vorstellens.« Mit der beginnenden Neuzeit, wo die vormaligen viae mentis in Deum sich in demonstrationes verwandeln, erfährt der Begriff der Erfahrung unter dem Druck der rasanten Entwicklung der Erfahrungswissenschaften einen weiteren Wandel. Alexandre Koyré spricht diesbezüglich von einem »experimentellen Dialog mit der Natur« (»dialogue expérimental avec la nature«). Dies ist eine etwas missverständliche Formel, denn in Wirklichkeit ist der »Dialog«, den der Naturwissenschaftler mit der Natur führt, ja ein Verhör. Kant ist sicherlich einer der Denker, der im Blick auf die Newtonsche Physik die philosophische und theologische Tragweite dieses neuen Begriffs der Erfahrung am schärfsten erfasst hat. Aber auch Hegel ist die Bedeutung dieses Begriffswandels nicht entgangen, der sich nicht nur auf den Bereich der Naturwissenschaften beschränkt. Für unsere Überlegungen besonders interessant ist das Fazit, das er im 7. Paragraphen der Enzyclopädie der philosophischen Wissenschaften aus dem Aufkommen des Empirismus zieht: »Das Prinzip der Erfahrung enthält die unendlich wichtige Bestimmung, dass für das Annehmen und Fürwahrhalten eines Inhalts der Mensch selbst dabei sein müsse, bestimmter, dass er solchen Inhalt mit der Gewissheit seiner selbst in Einigkeit und vereinigt finde. Er muss selbst dabei sein, sei es nur mit seinen äußerlichen Sinnen oder aber mit seinem tieferen Geiste, seinem wesentlichen Selbstbewusstsein.« (vgl. § 38, Zusatz.) Selbst dabei sein: Diese scheinbar selbstverständliche Forderung, die man auch bei James findet5 verliert ihre Selbstverständlichkeit, sobald wir uns fragen, worin unser »wesentliches Selbstbewusstsein« besteht. Es könnte ja sein, dass es erst dort »wesentlich« ist, wo es sich bewusst ist, dass der Bezug zum Anderen einen wesentlichen Bestandteil seiner Selbstheit ausmacht. „In all diesen Gefühlsangelegenheiten aber muss man selbst 'dabeigewesen' sein, um sie zu verstehen.« (James 1997, 354). 46 Bogoslovni vestnik 75 (2015) • 1 Viele Mystiker der Neuzeit haben den modernen Begriff der Erfahrung auf ihre eigenen Erfahrungen angewandt, wodurch die moderne Mystik sich selbst in eine Erfahrungswissenschaft sui generis verwandelt. (de Certeau 1982) Hierzu nur ein einziger, aber besonders sprechender Buchtitel: Jean-Joseph Surin: Science expérimentale des choses de l'autre vie acquise en la possession des Ursulines de Loudun (1663). 4. Viertes Stadium: »Der Welt der äußeren Beobachtungen, der Tatsachen und Sachverhalte, die dasjenige ausdrücken, 'was der Fall ist steht die innere Welt der mentalen Erlebnisse gegenüber. Damit verwandeln sich die Erfahrungen in Erlebnisse, deren einzige Wahrheit in den wechselhaften Seelenzuständen der betreffenden Individuen besteht.« Im vierten Stadium meiner genealogischen Rekonstruktion des Erfahrungsbegriffs verlagert sich das Schwergewicht immer deutlicher auf die subjektiven, psychischen oder geistigen Erlebnisse des Subjektes. Im ersten Teil von Wahrheit und Methode hat Gadamer die Bedeutung dieser neuen Akzentverschiebung unterstrichen, die erst verhältnismäßig spät eingetreten ist. (Gadamer 1990, 66)6 Erst vor diesem Hintergrund kann man von der Gefahr einer »Erlebnistrunkenboldig-keit« sprechen. Es ist das Zeitalter, in dem die Psychologie die Rolle der Königin aller Wissenschaften beansprucht. Am Ende des 19. Jahrhunderts haben selbst die Logiker ihre »reine Seele« (falls sie eine solche haben sollten), dem Teufel namens »Psychologismus« verkauft. Inwiefern Schleiermachers Definition der Glaubenssätze im 15. Paragraphen der Glaubenslehre: »Glaubenssätze sind christliche fromme Gemütszustände in der Rede dargestellt«, unter diesem Aspekt betrachtet werden kann, ist eine Frage, die ich besseren Schleiermacher-Experten als ich einer bin überlassen will. Ganz gewiss ist er kein »Erlebnistrunkenbold« im oben beschriebenen Sinn gewesen! Niemand hat die in Schleiermachers Definition enthaltene Provokation deutlicher empfunden als Hegel, wie sein böser Vergleich der »schlechthinnigen Abhängigkeit« mit der Unterwürfigkeit des Hundes, der in diesem Fall der beste aller Christen beweist. Ihm erhält er seine Grundüberzeugung entgegen, »so erhaben sich auch die Gefühle ausgeben möchten, so sind sie doch in mir und nicht als Freies vor mir«. Wer »Erlebnis« sagt, der sagt immer auch »Leben«. In der Philosophie der zwei ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts deckt der Siegeszug des Erlebnisbegriffes sich zu einem großen Teil mit der Entwicklung der Lebensphilosophien verschiedenster Prägung.7 Es ist kein Zufall, dass Heideggers im Band 60 der Gesamtaus- 6 Gadamer 1990, 66-76 zum Begriff des Erlebnisses; 352-66 zum Begriff der Erfahrung. 7 Zur Genese dieser philosophischen Kategorie vgl.: Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland, 1831-1933 (Frankfurt: Suhrkamp, 1994), 174-97. Jean Greisch - »Erfahrungsdefizite« und »Erlebnistrunkenboldigkeit« 47 gabe zusammengefassten religionsphänomenologischen Vorlesungen den Obertitel: »Phänomenologie des religiösen Lebens« tragen. Hierzu nur ein einziges Zitat, das deutlich macht, dass mit dem Begriff des »Erlebens« immer auch ein bestimmtes Selbstverständnis der Philosophie auf dem Spiel steht: »Das Problem des Selbstverständnisses der Philosophie wurde immer zu leicht genommen. Fasst man dies Problem radikal, so findet man, dass die Philosophie der faktischen Lebenserfahrung entspringt. Und dann springt sie in der faktischen Lebenserfahrung in diese selbst zurück.« (Heidegger 1995 [Ga 60], 8) Mit dem Problem des Selbstverständnisses der Philosophie ringt auch noch der späte Heidegger in seinen »Beiträgen zur Philosophie«, in denen die Polemik gegen die »Machenschaft« und die »Erlebnistrunkenboldigkeit«, die beide nur verschiedene Manifestationen der »Seinsverlassenheit« (Heideggers Wort für das, was Nietzsche »Nihilismus« nennt) sind, eine besonders scharfe Form annimmt. »Seelenlose« Machenschaft, und die Heraufkunft einer Scheininnerlichkeit, die immer stärkerer Dosen von Erlebnissen bedarf, um sich am Leben zu erhalten, sind zwar Gegensätze, die aber wie bereits eingangs erwähnt, ein und derselben Grundeinstellung entspringen: »Nun aber, da das Seiende vom Seyn verlassen ist, entsteht die Gelegenheit für die platteste 'Sentimentalität'. Jetzt erst wird alles 'erlebt', und jedes Unernehmen und jede Veranstaltung trieft von 'Erlebnissen'. Und dieses 'Erleben' bezeugt, dass nun auch der Mensch selbst als seiender seines Seyns verlustig gegangen und zum Raub seiner Jagd nach Erlebnissen geworden ist.« (Heidegger 1994 [Ga 65], 123-4) Diese zwischen 1936 und 1938 geschriebenen Sätze würden sicher einen ausführlichen Kommentar verdienen. Sie haben wohl auch Gadamer beeinflusst, der Anfang der sechziger Jahre Dilthey und Husserl eine erkenntnistheoretische Verkürzung des Erlebnisbegriffs vorgeworfen hat. Zu Recht oder zu Unrecht, das will ich hier nicht entscheiden. Für unsere religionsphilosophische Erörterung interessant scheint mir Gada-mers Kritik an der sogenannten »Erlebniskunst« zu sein. Eine Auffassung der Kunst, derzufolge das Kunstwerk nur dann authentisch ist, wenn es direkt aus den See-lenzuständen des Künstlers geschöpft ist, und wenn es auch nur verstanden werden kann, wenn der Betrachter oder Hörer dieselben Erlebnisse in sich selbst reproduziert, wird den Hauptwerken der abendländischen und aussereuropäischen Kunstwerken nicht gerecht. (Gadamer 1990, 76-7) Die Folgerung, die Gadamer aus dieser These zieht, betrifft nicht nur das Gebiet der Kunst, sondern auch das der Religion: »Man kann jedenfalls nicht bezweifeln, dass die großen Zeiten der Geschichte der Kunst solche waren, in denen man sich ohne alles ästhetische Bewusstsein und ohne unseren Begriff von 'Kunst' mit Gestaltungen umgab, deren religiöse oder profane Lebensfunktion für alle verständlich und für niemanden nur ästhetisch genussreich war.« (87) 48 Bogoslovni vestnik 75 (2015) • 1 5. Fünftes, hoffentlich nur hypothetisches Stadium: »Die Erlebnisse brauchen nicht einmal mehr einen substantiellen Ich zugeschrieben zu werden. Die Fiktion eines Subjektes oder eines 'Selbst, das unseren Erfahrungen und Erlebnissen zu Grunde liegt, ist die letzte Illusion, der wir uns entledigen müssen. Erst wenn dieser Verzicht geleistet worden ist, ist der Weg frei für den letzten Begriff der Erfahrung: das reine, freischwebende Vibrieren.« Weil der Philosoph ein Kind seiner Zeit ist, fällt es ihm besonders schwer, ein Urteil über seine eigene Epoche zu fällen. Dennoch glaube ich, dass wir uns fragen können, ob sich seit einigen Jahrzehnten nicht eine weitere Akzentverschiebung im Begriff der Erfahrung abzeichnet. Ich möchte diese Frage anhand einer kleinen Anekdote illustrieren. Während einer philosophischen Arbeitstagung in der französischen Benediktinerabtei Ligugé erfuhr ich, dass die Abtei immer häufiger von New Age-Pilgern besucht wird, die davon überzeugt sind, dass in der Krypta des Klosters die kosmischen Schwingungen besonders deutlich spürbar sind. Die diesbezüglichen Erfahrungen oder Erlebnisse lassen sich nur als reine Vibrationen verspüren, für die man empfänglich oder nicht empfänglich ist. Dass es sich hierbei nicht um einige wenige Sonderlinge und Exzentriker handelt, beweist auch die religionssoziologische Tatsache, dass es inzwischen bereits mehrere auf derartige Pilgerfahrten spezialisierte Reiseagenturen gibt. Diese neue Gattung von »religiösen« Touristen hat kein Interesse an der in der Klosterkirche gefeierten Liturgie. Damit stellt sich eine Frage, der Jean-Yves Lacoste zum Gegenstand seiner schönen Abhandlung: Expérience et absolu (1994; vgl. hierzu Greisch 2002, 266-91) gemacht hat, und die sicher Romano Guardini brennend interessiert hätte: Wie steht es um den Erfahrungsbezug der Liturgie? Soll man auch in diesem Bereich, wie das öfters geschieht, den Erfahrungsdefizit beklagen, oder eher vor der Gefahr der »Erlebnistrunkenboldigkeit« warnen? Ob man dem Metaphysiker die Lektüre von Tageszeitungen empfehlen soll oder nicht, wage ich nicht zu entscheiden. Als Religionsphilosoph aber hat mich ein am letzten Mittwoch in der Süddeutschen Zeitung erschienener Bericht über zwei Tagungen stutzig gemacht. Die eine fand im September statt und wurde von der Deutschen Bischofskonferenz unter dem Titel: »Potentiale zwischen Kirche und Theater« ausgerichtet. Die andere, von der Evangelischen Akademie Tutzing organisierte Tagung wurde in Berlin am Deutschen Theater abgehalten. »Erlebnisqualität«, so der Berichterstatter, war hier das »Wort der Stunde«. Ist »Erlebnisqualität« auch das Wort der Stunde für die heutige Religionsphilosophie? Diese Frage soll hier nicht entschieden werden, denn sie verlangt, dass der zweite Begriff, der in meinen Überlegungen ausgeblendet blieb, ins Spiel gebracht wird, nämlich der Begriff »Ereignis«. Jean Greisch - »Erfahrungsdefizite« und »Erlebnistrunkenboldigkeit« 49 Da ich mich für die genealogische Rekonstruktion des Erfahrungsbegriffs der literarischen Vorlage eines Nietzsche-Textes bedient habe, kann man sich natürlich fragen, ob der Paukenschlag, mit dem Nietzsches Fabel endigt: »Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? die scheinbare vielleicht? ... Aber nein! mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft! (Mittag; Augenblick des kürzesten Schattens; Ende des längsten Irrthums; Höhepunkt der Menschheit; INCIPIT ZARATHUSTRA«, ein Gegenstück in meiner Rekonstruktion hat. Diese Frage bringt mich in ziemliche Verlegenheit, denn mit einem »Incipit« in Form eines »Also sprach Zarathustra« kann ich nicht aufwarten. So bleibt mir nichts anderes übrig, als die Bestimmung dieses »Incipit« (das ja seinerseits der Indiz der Einmaligkeit bestimmter Ereignisse ist) auf eine spätere Besinnung zu verschieben. Zum Schluss dieser exploratorischen Überlegungen fällt mir ein Satz Paul Celans aus seiner Büchner-Preisrede Der Meridian ein. » - Ach, die Kunst!«: Celan, der bei diesem Ausruf von Büchners Danton »hängengeblieben« ist, betont, dass man ihn mit verschiedenen Akzenten versehen kann: den »Akut des Heutigen«, »den Gravis des Historischen - auch Literaturhistorischen -, den Zirkumflex - ein Dehnungszeichen - des Ewigen.« »Ich setze«, sagt Celan »mir bleibt keine andere Wahl - ich setze den Akut.« (Celan 1999, 4) »Ach die Erfahrung!«, »Ach die Religion!«, mögen wohl einige unter Ihnen am Ende dieser Lectio seufzen. Auch hier hängt sehr viel davon ab, welche Akzente wir in dieser Angelegenheit setzen: Ist die Religion nicht der Ort, wo der Akut des Heutigen sich mit dem eschatologischen Dehnungszeichen des Ewigen verkreuzen? Referenzen Augustinus. 1978. Vom Gottesstaat [De civitate Die]. Wolfgang Thimme, Übers. München: dtv. Bergson, Henri. 1948. 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