Roberto Gusmani Udine CDU 801.52: 801.31-54 SEMANTISCHE AMBIGUITÄT1 In den Noctes atticae von Aulus Gellius (XI, 12) finden wir die oft zitierte Nachricht, daß Chiysippus - einer der profiliertesten Vertreter der stoischen Sprachtheorie - alle Wörter für zwei- oder mehrdeutig hielt: «Chrysippus ait omne verbum am-biguum natura esse, quoniam ex eodem duo vel plura accipi possunt». Es fragt sich allerdings, in welchem Sinne dieser apodiktisch geäusserte Gedanke konkret zu fassen sei und inwieweit er mit dem, was wir über die stoische Sprachlehre wissen, in Einklang gebracht werden kann. Meine Absicht ist eben zu beweisen, daß jene Aussage mit den Grundsätzen der Stoa durchaus vereinbar ist und darüber hinaus einen auch für die moderne Semantik interessanten Ansatz enthält. Daß die gedrängte Formulierung zu Mißverständnissen Anlaß geben konnte, ist wohl kein Wunder. In der Tat setzt Aulus Gellius seinen Bericht fort, indem er auf die genau entgegengesetzte Behauptung des Dialektikers Diodorus Cronus hinweist: «Kein Wort ist mehrdeutig; weder spricht noch denkt jemand doppelt; noch darf die Ansicht aufkommen, es werde etwas anderes gesagt als das, was der, der redet, meint, daß er selbst sagt» (Übersetzung von Hülser). Die hier enthaltene Kritik würde aber nur dann zutreffen, wenn Chrysippus behauptet hätte, daß die Ambiguität in der Absicht des Sprechers liegt, was offensichtlich nicht der Fall ist. Auch moderne Kommentatoren haben deutlich Schwierigkeiten gehabt, mit der Auslegung dieser zum Widerspruch reizenden Behauptung fertig zu werden. Die üblichen Quellen der stoischen Lehre liefern uns indessen nur wenige brauchbare Ansatzpunkte. Bei Diogenes Laertius (VII, 62) wird die amphibolia oder Ambiguität als die Erscheinung definiert, bei der derselbe sprachliche Ausdruck (lexis) im Prinzip und nach seiner normalen Anwendung zwei oder auch mehrere Sachverhalte bezeichnen kann. Als Beispiel wird allerdings nur der doppeldeutige Satz auletris peptöke «die Flötenspielerin ist gefallen» aufgeführt, der auch in aule tris peptöke «das Gebäude ist dreimal gestürzt» zerlegt werden dürfte: Soll man daraus den Schluß ziehen, daß unter dem Begriff der amphibolia nur derartige banale Wortspiele gemeint wurden, die darin bestehen, daß die gleiche phonemische Kette verschiedene Zerlegungsmöglichkeiten zuläßt? Meiner Meinung nach hieße es, die stoische Theorie zu bagatellisieren. 1 Überarbeitete Fassung eines beim Kongress der "Societas Linguistica Europaea" gehaltenen Referates (Kiel 1991). 61 Bei Sextus Empiricus (Pyrrh. hyp. n, 256), der anderen Hauptquelle, wird -wenn auch in knapper Form - dieselbe Definition der amphibolia wiederholt, doch deuten die Beispiele, auf einen komplexeren Inhalt hin: Insbesondere werden hier Mánes als gemeinsamer Name für verschiedene Sklaven und oinos als Bezeichnung mehrerer Weinsorten aufgeführt. Somit ergibt sich, daß die Stoiker auch Fälle der referentiellen Multivalenz im Auge hatten, die - wie schon Aristoteles wußte - alle Gattungsnamen kennzeichnet und die Voraussetzung dafür ist, daß eine begrenzte Anzahl sprachlicher Elemente auf die potentiell unbegrenzte Menge der realen bzw. gedachten Gegenstände hinweisen kann. Auch im De captionibus des Galens wird -unter ausdrücklichem Hinweis auf die stoische Lehre - neben mehreren Arten der Ambiguität, die auf falscher Analyse bzw. auf mangelnder Eindeutigkeit des Kontexes beruhen, das Beispiel von andreios erwähnt, das je nach dem in Frage kommenden Bezugswort entweder "männlich" (etwa von der Kleidung gesagt) oder "mutig" (auf einen Mann bezogen) bedeuten kann und somit einen Fall echter Polysemie darstellt. Daß die Stoiker unter Mehrdeutigkeit tatsächlich auch die Polysemie verstanden, wird übrigens durch die Auslegung der Principia Dialecticae des Augustinus (9. Kapitel) nahegelegt, wo die stoische Auffassung ausdrücklich gutgeheißen («itaque rec-tissime a dialecticis dictum est ambiguum esse omne verbum») und am Beispiel von lat. ocies erläutert wird, das je nach Fall eine Heerschar, die Blickschärfe oder die Schneidigkeit einer Klinge bezeichnen kann. Zwar geht Augustinus nicht auf die Frage ein, ob eine solche Mehrdeutigkeit als reale Polysemie oder eher als zufällige Homophonie aufzufassen sei, doch wird das Interesse seiner Ausführungen dadurch nicht geschmälert. Übrigens bereitet eine konsequente Unterscheidung beider Typologien bekanntlich auch der modernen Semantik größere Schwierigkeiten. Auf alle Fälle ist in diesem Zusammenhang noch auf eine wichtige Beobachtung von Sextus Empiricus (Adversus Mathematicos XI, 25 ff.) hinzuweisen, nämlich die, daß die Stoiker eine andere Auffassung der polysemen Wörter als die früheren Philosophen vertraten, insofern sie unter den pollakhös legómena («Wörter, die auf verschiedene Weise gesagt werden») nicht Lexeme wie küön, das ganz verschiedene Designata wie einen Hund, ein Seetier, ein Sternbild und den Anhänger einer philosophischen Richtung bezeichnen kann, sondern nur die Fälle verstanden, wo ein deutlicher inhaltlicher Zusammenhang zwischen den kontextuell bedingten verschiedenen Anwendungen einunddesselben Wortes besteht, etwa wenn agathón "gut" auf Tugenden, Taten, Menschen, Dämonen usw. bezogen wird. Obwohl die einschlägigen Stellen bei Diogenes Laertius und Sextus Empiricus die Theorie durch zum Teil irreführende Extremfälle exemplifizieren, gewinnt man trotzdem den Eindruck, daß die Stoiker durch ihre Lehre der Ambiguität der Wörter nicht bloß auf zufällige Homophonien der Phonemkette Bezug nahmen, die sozusagen zur Pathologie der Sprache gehören. Vielmehr wurde jener Begriff auch auf die referentielle Multivalenz, auf die in der Norm der Sprache verankerte Polysemie und auf die durch den jeweiligen Kontext bedingten Schwankungen der Wörtsemantik erweitert. Daß in der stoischen Auffassung die Mehrdeutigkeit keinen Ausnahmefall 62 darstellte, sondern im Gegenteil zu den allgemeinen Eigenschaften der Lexeme gehörte, erhellt übrigens auch aus dem anfangs erwähnten Zitat des Gellius, wo es heißt, daß Chrysippus jedes Wort für «ambiguum natura» hielt: Der Zusatz natura "von Natur aus, von Haus aus" setzt offensichtlich voraus, daß die Ambiguität sozusagen den Normalzustand darstellt und zu den funktionellen Charakteristiken aller Worter gehört. Nun kommt es vor allem darauf an, hervorzuheben, daß diese Auffassung mit den theoretischen Voraussetzungen der stoischen Lehre durchaus in Einklang steht. Man muß sich nämlich immer vor Augen halten, daß für die Stoiker die vollbedeutende sprachliche Einheit nicht mit dem Lexem (lexis), sondern mit der Rede zu identifizieren ist. Die einzelnen lexeis tragen wohl zur Bedeutung des lögos bei, sind aber nicht als autonome semantische Größen zu betrachten: nicht nur weil es Wörter wie blituri gibt, die nicht semantisch sind, weil sie keine Referenz haben, sondern in einem allgemeineren Sinn, weil auch die semantische Funktionalität der normalen Wörter sich erst im Gefüge der Rede entfalten und präzisieren kann. Bezeichnenderweise werden in den stoischen Quellen die Grundelemente der Bedeutung, die lektä, ständig in Verbindung mit dem lögos erwähnt: selbst die sogenannten unvollständigen lektä sind eigentlich nicht mit den einzelnen Lexemen gleichzusetzen, sondern immer mit Sätzen, die sich dadurch von den vollständigen lektä unterscheiden, daß sie ein wesentliches Element wie das Subjekt entbehren. Allein im Zusammenhang der Rede realisiert sich nämlich für die Stoiker die 1:1-Entsprechung zwischen semainon und semainömenon, d.h. zwischen Ausdrucksund Inhaltsseite: auf der Ebene der Wörter kann lediglich eine in ihren Konturen unbestimmte semantische Potentialität festgestellt werden, die sich erst auf der höheren Ebene der Rede abgrenzen und näher bestimmen läßt. Deshalb sind Sätze immer eindeutig, während den einzelnen Wörtern, gerade weil sie im Prinzip in einer unendlichen Reihe von Äusserungen auftreten können, von Haus aus eine gewisse Ambiguität innewohnt: nach Augustinus' Worten, der sich in diesem Punkt eng an die stoische Lehre hält, «cum dico ambiguum omne verbum, non dico sententiam, non disputatio-nem, quamvis verbis ista texantur; omne igitur ambiguum verbum non ambigua dis-putatione explicabitur» («Wenn ich erkläre, daß jedes Wort mehrdeutig ist, so meine ich keineswegs, daß jeder Satz oder jede Argumentation mehrdeutig ist, wiewohl sie aus Wörtern bestehen; jedes mehrdeutige Wort kann somit durch einen nicht-mehrdeutigen Satz klargelegt werden»). Von diesem Standpunkt aus erweist sich Chrysippus' Behauptung als ein wesentlicher Bestandteil und eine folgerichtige Implikation der stoischen Sprachlehre: die Ambiguität, von der im vieldiskutierten Zitat die Rede ist, ist als die semantische Unschärfe jedes aus dem Kontext isolierten Lexems zu verstehen. Dieser Begriff der Ambiguität, der einer im Grande durchaus treffenden Intuition des Wesens und des Funktionierens sprachlicher Elemente entspringt, ist allerdings eine rein linguistische Eigenschaft, die mit der logischen Unbestimmtheit mancher begrifflicher Inhalte nichts zu tun hat. Heute spricht man dagegen häufig von "seman- 63 tischer Vagheit" in bezug auf Wörter wie etwa kalt, schwer, lang, deren Inhalt nicht anhand objektiver Maßstäbe näher bestimmt werden kann. Das ist allerdings ein anderes Problem, das die Sprachbetrachtung nur indirekt angeht. Die Schwierigkeit solcher inhaltlichen Definitionen ist in der Tat außersprachlicher Natur, an sich ist die einzelsprachliche Bedeutung von kalt usw. durchaus eindeutig bzw. sie ist durch dieselbe latente Ambiguität gekennzeichnet, die nach der Auffassung der Stoiker ein Merkmal aller Worter qua Wörter darstellt. Das Interesse dieses stoischen Standpunkts erschöpft sich meines Erachtens nicht im Rahmen der Geschichte unserer Wissenschaft; ihm gebührt darüber hinaus eine nicht zu unterschätzende Aktualität. Angedeutet sei hier nur, daß die Polysemie, die seit je den Vertretern eines strukturalistischen Erklärungsmodells soviel Kopfzerbrechen verursacht, im Lichte der Theorie der Ambiguität selbstverständlich keine Schwierigkeit bereitet. Ferner lassen sich auch andere Probleme der modernen Semantik möglicherweise überzeugender anpacken, wenn man von den dem stoischen Gesichtspunkt zugrundeliegenden Voraussetzungen ausgeht, wie ich hier an einem konkreten Beispiel kurz darlegen möchte. Die strukturelle Semantik hat bekanntlich die inhaltlichen Beziehungen zwischen Wörtern wie Tag und Nacht, jour und nuit usw. als inklusive Oppositionen interpretiert, da Tag manchmal (d.h. wenn es die 24 Stunden bezeichnet) auch den Begriff Nacht einschließen kann: Während Nacht das markierte Glied darstellt, wäre Tag, das auch im Sinne von 'Tag' + 'Nacht' gebraucht werden kann, als das merkmallose Gegenstück einer Opposition aufzufassen, die in gewissen Kontexten aufgehoben würde. Wenn man sich die Sache näher ansieht, so ergibt sich allerdings, daß diesem Gedankengang ein Mißverständnis zugrundeliegt. Die Bedeutung von Tag und Nacht bleibt in der Tat immer dieselbe, auch dort, wo es den Anschein hat, daß Tag im Sinne von 'Tag' + 'Nacht' verwendet wird. Es stimmt zwar, daß in einem Satz wie ich habe drei Tage Urlaub am Meer verbracht die Referenz des Wortes Tag auch die von Nacht einschließt, diese Erweiterung betrifft aber eben nur den denotativen Wert des Zeichens, nicht seinen eigentüchen linguistischen Inhalt, der unverändert bleibt. Es liegt hier vielmehr ein Fall von referentieller Unscharfe vor, die dadurch ermöglicht wird, daß der Sinn des betreffenden Satzes (d.h. dessen kommunikative Leistung) trotz dieser Ungenauigkeit außer Zweifel steht: Kein Zuhörer würde nämlich bei einer Äusserung wie ich habe drei Tage Urlaub am Meer verbracht ernsthaft auf die Idee kommen, daß der Sprecher die entsprechende Nachtzeit anderswo verbracht haben könnte. Oft nützt die Sprache diese in der Natur des Wortes verwurzelte Möglichkeit aus, um lexikalische Leerstellen in ökonomischer Weise zu beheben: Auf Italienisch, wo z.B. ein Wort für "Geschwister" fehlt, fragt man normalerweise quanti fratelli hail im Sinne von Wieviele Geschwister hast du!, obwohl fratelli eigentlich nur Brüder heißt. Einen Ausdruck wie quanti fratelli e sorelle hail würde man indessen als unnötig pedantisch und im Grunde normwidrig empfinden. Die Annahme einer inklusiven Opposition, dessen merkmalloses Glied manchmal an die Stelle des merkmalhaften treten würde, entspricht einem logischen Modell, 64 das aber vom sprachlichen Standpunkt aus als gekünstelt und gar irreführend erscheint. Derartige Fälle, wo ein Wort in einer konkreten Äusserung seine übliche Referenz insofern erweitert, als sie den referenziellen Bereich eines semantisch nahestehenden Wortes einzubeziehen scheint, sind vielmehr auf die potentielle semantische Unschärfe der Lexeme zurückzuführen, die in Situationen, wo es nicht auf Eindeutigkeit ankommt, geduldet werden kann und sich sogar als vorteilhaft erweist. Der hier besprochenen stoischen Theorie war allerdings in den folgenden Jahrhunderten wenig Erfolg beschieden. Selbst Augustinus, der sich den Gedanken der amphibolia zu eigen macht, lehnt dessen theoretische Voraussetzungen insofern ab, als er als semantisch autonome Grundelemente der Sprache die einzelnen Lexeme betrachtet, nämlich die verba Simplicia, die durch ihre Kombination die verba coni-uncta, d.h. die Sätze bilden. Diese verba coniuncta sollten den vollständigen oder eher autonomen lektá der Stoiker entsprechen, doch beweist schon die Eigenart der Bezeichnung (coniunctum vs. simplex), daß Augustinus' Gesichtspunkt hier trotz des äußeren Parallelismus dem der Stoiker gerade entgegengesetzt ist. Bekanntlich war die Meinung, daß die Lexeme als semantisch autonome Größen zu betrachten seien, auch in der Folgezeit vorherrschend. Daß De Saussure selbst trotz vieler Vorbehalte und Einschränkungen die "unités concrètes" praktisch mit den Wörtern identifizierte, sei hier nur nebenbei erwähnt. Somit konnte die stoische Lehre der Ambiguität, die - wie gesehen - mit bestimmten theoretischen Voraussetzungen eng verbunden war, auf die Entwicklung der Semantik keinen nennenswerten Einfluß ausüben, sie wurde vielmehr als eine Art Kuriosum betrachtet, zu Unrecht, wie es mir scheint. Povzetek POMENSKE DVOUMNOSTI Trditev stoika Hrisipa, daje vsaka beseda že po svoji naravi nenatančna, večpomenska, je bila največkrat razumljena preveč ozko, kakor da zadeva samo najbolj vsakdanje primere enakozvočij. Trditev pa je docela v skladu s prepričanjem stoikov, da jezikovna enota, kjer se označevalec spaja z označenim, ni posamezen leksem, pač pa logos, torej zaključeno, pomensko samozadostno sobesedilo. Pojem potencialne možne večpomenskosti leksema je močno koristen: pomaga razrešiti nekaj problemov, ki jim sicer strukturalno pomenoslovje ne more do živega. 65