F^ Ostindische Damen und Herren. Von vl'. I. ten Drink. Aus dem Holländischen von Wilhelm Lerg. Erster Theil. Autlllieirte An5gnbe. Leipzig: Ludwig Hcnicke 1868. Die unterzeichnete Verlagshandlung wird unter dem Collectiv-Titel DMsHs HNiulHM eine Reihe von Schriften veröffentlichen, die uns mit der Natur und Cultur jener fernen Ländergebiete näher bekannt zu machen bestimmt sind. Sie beginnt die Indische Bibliothek mit dem interessanten Werke van Hoevells Äus dem indischen Leben daran schließt sich unmittelbar Dr. I. ten Brink's Oftindische Damen und Herren während andere Wcrke in Vorbereitung sind. So sollen alljährlich eine Anzahl Bände zu einem mäßigen Preise veröffentlicht werden mit dem ausgesprochenen Zwecke: zu belehren und zu unterhalten. Leipzig, Verlag von Ludwig Äenicke. Inäiscke Hibliotkrk. ii. vr. I. ten Brink OStindische Damen und Herren. Ersier Theil. Autorisirte Ausgabe. Leipzig Ludwig D e u i ck e 1868. Windische Damm und Herren. Vier Veiträge zur Kenntniß der Sitten und Gebräuche in der europäischen Gesellschaft von Holländisch-Indien. Von vr. Z. ten Krink. Aus dem Holländischen von Wilhem Berg. Erster Theil. Autorisirte Ausgabe. Leipzig Ludwig Denicke «868. Sr. Excellenz dem Minister der Kolonieen A D. Fran) van de Putte zugeeignet. Inhalt. Seite 1. Wie Hcrr Alexander Wierinr am Landungsplätze in Ba° tavia ankam, und wie er auf dem Komptoir des Herrn Karl Hcinrich Buys empfangen wnrdc....... 3 2. Wie Herr Alexander Wierinx den Molenvliet entlang nach dem Marine-Hotel fährt, und was er bei seiner Ankunft dafelbst dachte................. 12 3. Wie Alexander fein erstes Frühstück im Marine-Hotel ein. nahm und mit wem er dort zusammentraf...... 25 4. Alexander bekommt Bcfnch und wohnt einer improvisirten Soiree bei................... 34 5. Morgenverguügungen einer vornehmen Dame. Alexander dinirt bei feinem zukünftigen Chef........ 51 U. Alexander amusirt Mcvrouw Buys und die Damen Bok-tcrman, und der Junker Van Spranekhuyzen macht il,m eine vertrauliche Mittheilung........... 74 7. Alexander verrichtet ein gutes Wert, und erlebt ein so«' derbares nächtliches Abenteuer........... 85 8, Mevrouw Buys hat ihren Empfaugsabcnd. Alexander durchlebt eine glückliche Stunde, ein alter Bekannter von Fräulein Van Wccvercn tritt auf..........1U1 U Alexander hält fein erstes öffentliches Plaidoycr. erhält eine erste Warnuug, und wird durch ein „wohlmeinendes Freundcswort" getröstet............. ^l VIN Inbalt. Eeile 10, Worin Alexander sich so gut als möglich seiner Aufgabe entledigt, Fräulein 5!ucy Bolterman verschiedene Male den Kopf schüttelt, und die Neugicrde der Mevrouw Buy« auf dic unerwartetstc Weise befriedigt wird...... >4» l 1. Worin sich die Mitglieder der Concordia bei einem tl^> <1»n3»ut. belustigen, Alexander sich mehr uud mehr in Verlegenheiten stürzt und Herr Buys emeu sehr schnellen Entschluß faßt................. N! 12. Was Alexander am folgenden Montagmorgen auf dem Komptoir dcr Herren Buys und Andermans vernahm, und wie er seinen Tag seruer zubrachte.......1!»van!« lEssen, Herr!) sagte er mit gleichgiltigem Tone, als Alexander ihn verwundert ansah. Ein Blick auf seine Uhr überzeugte den jungen Plllklislbc Menschen. ZI Advokaten, daß die Stunde des äHeuner geschlagen hatte. III. Wie Alexander sein erste« Frühstück, im ^Harine-Hülel einnahm, und mil wem er dorl zujammcnlras. Als Alexander zum zweiten Male in die Hinter-galerie trat, saßen schon eine Menge Gäste an der Tafel. Es war wohl noch hie und da ein leerer Platz, aber fortwährend kamen noch neue Gäste, die schnell alle Lücken ausfüllten. Alexander's Platz war zwischen einer prächtig gekleideten jungen Dame und einem ältlichen Herrn mit einen: braungebrannten Gesicht, gelbseid-nem Rock, weißer Hose und weißer Weste. So war mit kleinen Abweichungen das ganze Herrenpersonal gekleidet. Alexander allein trug noch seinen schwarzen Tuchrock. Außer seiner Nachbarin sah er noch vier dicke Damen am obern Ende der Tafel, die Alle mit sehr tief ausgeschnittenen Kleidern, sehr rother Gesichtsfarbe und außerordentlich schwarzem Haare prunkten. Weitere Beobachtungen verhinderte Parang, der 20 Praktische Menscbcn. der ihm eben eine Schüssel Reis anbot. Wohl hatte Alexander schon an Bord der Thetis manche Notizen über die indischen Reisspcisen machen können, aber immer noch gebrach es ihm an der richtigen Würdigung dieser Hanptlebensfrage. Dieß fand er sogleich heraus, als er langsam eine kleine Portion Reis anf den Teller genommen hatte und die Dame, als sein Blick zufällig auf den gegenüberliegenden Spiegel fiel, schelmisch lachen sah. Er hegte eine außerordentliche Furcht, sich lächerlich zu machen, nnd fühlte, daß er sehr ungeschickt er-röthete. Aufmerksam beobachtete er jetzt, was der ältliche Herr mit dem brannen Gesichte thnn würde, unr beschloß, ihm so viel als möglich nachzufolgen. Als man diesem eine Schüssel mit Kerry und Hühnerfchen-keln anbot, bemerkte er, daß der Mann nur ein paar Löffel Kerry über seinen Reis goß, nnd er that sogleich dasselbe. So ging es mit Allem — bis Alexander seinen Teller mit Zugemüse so überladen hatte, daß er sich eigentlich noch verlegener fühlte, als vorher. Einige Male hatte er schon den Blick auf seine Nachbarin gerichtet und sie aufmerksamer betrachtet. Es war noch ein junges Mädchen von ungefähr zwanzig Jahren. Lebhafte Augen, scharf geschnittene Züge, ein angenehmes Lächeln, ein makellos weißer Hals, ein sehr tief ausgeschnittenes Ballkleid bildeten ein mehr Praktische Menschen. Z7 reizendes, als schönes Ganze. Von Zeit zu Zeit richtete sie an einen kleinen dicken Herrn mit einem kahlen Scheitel, der an ihrer linken Seite saß, das Wort; sie nannte ihn „Papa", und er antwortete ihr stets mit unverständlichen Worten. Sie bediente sich mit großer Gewandtheit von den mannichfachen Zuspeisen des Neis-gerichtes, aß sehr viel und sehr schnell, und sprach fortwährend. Sie hatte ihrerseits Alexander schon gründlich studiert und den „Vollblutgrünen" mit einer gewissen Schadenfreude über seine Verlegenheit in ihm erkannt. Im Übrigen gefiel ihr sein Aeußeres. Seine frische Farbe, seine lebendigen braunen Augen und sein schwarzes Lockenhaar, seine feinen Züge und seine schlanke Gestalt plaidirten mit überzeugender Kraft zu feinem Vortheile. Gerade brachte Padang eine große, runde Schüssel mit verschiedenen Abtheilungen, in denen sich allerlei 8»nida1-8»nida1! befand. Alexander machte mit der Hand eine abwehrende Bewegung, obschon sein Nachbar mit dem braunen Gesichte sich von dem Einen orcr Anderen zugereicht hatte. Im selben Augenblick fühlte er seinen Arm leicht berührt und hörte die Stimme der jungen Dame: ' Eine Zuspeise zum Reis, aus Gemüse, Gewürz, trockenem Fiick und tl-inen Krebschm bestehend. Z8 Praktische Mcnlchcn. „Nein, mein Herr, das dürfen Sie nicht verweigern, das gehört zum Reis. Haben Sie früher schon indischen Reis gegessen?" Alexander ermannte sich und antwortete ohne Zögern, aber doch etwas flüsternd, daß er noch gar keinen Begriff davon habe. „Dann werde ich Ihnen da;u verhelfen," sprach sie weiter. — »kaaan^! Xassi gaindai-ßamdai »ama, 'toenaii! (Bringe dem Herrn die Zuspeisen!) Und nun müssen Sie noch etwas von dem Rothen nehmen, das ist deliciös — und von den Bohnen, und von den gekochten Mek, sehr indisch, aber delikat." Alexander gehorcht und dankt seiner liebenswürdigen Nachbarin so artig als möglich. „Ich kann es wohl sehen, daß Sie eben erst in Batavia angekommen sind!" fährt sie fort. „Mit der Mail gewiß, mein Herr?" „Mit einem Segelschiff, der Thetis." „Ja, dann können Sie auch noch nicht viel von Indien wissen. Mit der Mail kommt man nach Galle und Singapore und wird so nach und nach an das indische Leben gewöhnt. Was mich betrifft, so finde ich es sehr albern, sich über Jemanden, der eben erst ankommt, lustig zu machen, und darum helfe ich immer den Grünen." Praktische Mensckln. Z9 „Sehr verpflichtet, Fräulein. An Bord haben mir ein paar indische Officiere Anleitungen gegeben, aber ich merke wohl, daß ich die Hälfte davon vergessen habe." „Wir wollen Ihnen schon durchhelfen'. Kommen Sie als Beamter hierher, mein Herr?" .... „Wierinx, Advokat," ergänzte Alexander, der deutlich sah, daß seine neue Bekannte neugierig war, seinen Namen zu wissen. Die junge Dame wendete sich augenblicklich zu dem kleinen Herren, den sie Papa nannte, und sagte: „Papa, darf ich Dir Herrn Advokat Wierinx vorstellen , der heute erst mit der Thetis angekommen ist?" Der kleine Herr mit dem kahlen Scheitel bog den Kopf ein wenig und steckte einen Löffel voll Reis in den Mund. Auch Alexander verneigte sich, so gut als es ging, und wünschte im Stillen, den Namen seiner beiden neuen Bekannten zu wissen. „Wir sind auch erst ein paar Wochen in Batavia," fuhr die Dame fort, welche sah, daß ihr Vater fortfuhr zu dejeuniren, „wir kommen von Samarang, wo Papa einen großen wko' hatte. Papa bleibt wegen Geschäften ein Paar Monate hier. Ich bin nur mit- 1 Toko, Laden. Is) Praktische Menschen. gekommen, um dem armen Manne ein Bischen Gesellschaft zu leisten, denn wir kennen hier fast Niemanden." Da sie sich aber auf's Neue mit Reis verschen mußte, schwieg sie einen Augenblick; dadurch fand auch Alexander die Gelegenheit, seinem wohlgefülltcn Teller einige Aufmerksamkeit zu schenken, denn bis jetzt stand er noch immer unberührt vor ihm. Einige der jüngeren Gäste hatten indessen neugierig auf ihn geblickt und zwar so auffällig, daß er mit uicdergeschlageucn Augen und dem drückenden Bewußtsein, Vieler Blicke auf sich gerichtet zu sehen, sein Frühstück begann. Er wußte sich noch keine vollkommene Rechenschaft ^von seinen Empfindungen zu geben; doch fand er Etwas in dem Gespräche der jungen Dame, was ihn nnangenehm berührte , ohne daß er einen bestimmten Grund dafür angeben tonnte. Sie sprach lebhaft uud schnell, mit wohllautender Stimme, lächelte fortwährend sehr freundlich und ließ dabei zwei Reihen schöner, weißer Zähne sehen. Alexander hatte nach dem drückenden Gefühle von Enttäuschung, welches ihn noch quälte, ein großes Bedürfniß nach freuudlicher Zuspräche, und jetzt schien ihm die Zuvorkommenheit seiner Nachbarin eher hinderlich, als angenehm zu sein. Sie selbst hatte sich eben an einen gegenüber sitzenden jungen Mann mit Praktische Menschen. Is einem todtbleichen Gesichte gewendet, der mit tiefer Baßstimme einige artige Antworten murmelte. So viel Alexander bemerkte, wurde an der Tafel wenig gesprochen. Am obern Ende derselben, wo die vier dicken Damen saßen, herrschte sogar ein tödtliches Stillschweigen. Von dort her erklangen nur die lauten Befehle eines Ehrfurcht gebietenden, sehr gesetzten Herrn, dessen schneeweißer Anzug gegen sein kaffeefarbenes Gesicht sehr abstach. Ohne Zweifel war er der Cavalier dieser Damen; aber da er meistens malayisch sprach, verstand Alexander nichts von dem, was gesagt wurde. Indessen hatte unser junger Advokat einen Anfall auf semen sorgenerregenden Teller mit Reis gewagt und ihn unter allerlei Gedankeu geleert. Jetzt erst fiel ihm ein, daß es seine Aufgabe sei, sich auf die malayische Sprache zu legen, und zum ersten Male erwachte wieder ein kleiner Theil jener Energie in ihm, die er immer besessen, aber diesen Morgen durch den Drang der Umstände gar zu schnell hatte schwinden lassen. Da seine Nachbarin den bleichen Jüngling mit der Baßstimme noch immer mit der Aufzählung der samarang-schen Vergnügungen unterhielt, so beendete er ohue Störung sein Frühstück. Gerade hatte er den Plan gefaßt, sie wegen der Erlernung des Malayischen um Rath ;u fragen, als sie ihn ganz unerwartet anredete: 32 Praktische MtiMcn. „Mein Herr, nehmen Sie keine Früchte?" Wirtlich hatte man einige ihm noch ganz unbekannte Früchte auf den Tisch gestellt und Jeder hatte zugelangt. „Nehmen Sie ein Stück von dieser pompelnweF," fuhr sie fort, „die können Sie ruhig nehmen! Ich werde Sie einmal bedienen. — Früchte geben immer Gelegenheit, um über die , Grünen^ zu lachen!" Und geschickt brach sie eine rosenrothe Scheibe aus der schönen Frucht und legte sie mit einer schnellen Handbewegung auf Alexander's Teller. Dann belehrte sie ihn, wie er das bittere Häutchen von dem saftigen Fleische der ponipsiinoeß losmachen müßte, und frug ihn neugierig, wie es ihm schmeckte. Wäre Alexander nicht ein wenig über seine eigne Haltung bestürzt gewesen, und hätte er seine Nachbarin nicht wegen ihrer größeren Kenntniß und Erfahrung des indischen Lebens beneidet, dann hätte er gewiß größere Sympathie für sie gefühlt und würde vergessen haben, daß ihre Zuvorkommenheit unwillkührlich den Gedanken an Keckheit in ihm erweckte. „Erlauben Sie," begann nun Alexander seinerseits , „Sie scheinen besonders günstig für uns Neulinge gestimmt?" „Natürlich, Herr Wierinx! Ich bin selbst mehr Praktische Menschen. 33 oder weniger noch ein Neuling. Ich bin erst ein Jahr aus Europa zurück. Ich habe meine Erziehung in Brüssel in einem großen Damenpensionat genossen. Anfangs erschien mir Samarang sehr einförmig — und ich weiß nicht warum, aber ich fing an, das indische Leben sehr unangenehm zu finden. Ich erkannte selbst meine alte dados' nicht mehr, Ka8i2n,!"2 Während dieser Antwort hatte sich die Sprecherin in ihrem Stuhle zurückgelehnt und ihren eleganten Fächer eifrig in Bewegung gesetzt. Ihr Vater hatte Alexander einmal von der Seite angesehen und sich eine Cigarre angesteckt, dann hatte er laut gegähnt und seine Augen geschlossen. „Ist es leicht, malayisch sprechen zu lernen?" fragte Alexander weiter. „Sie können es in zwei Monaten lernen, wenn Sie gut aufpassen. Bleiben Sie einige Zeit im Ma-rine-Hötel?" Das hörbare Gähnen des Herrn mit dem kahlen Scheitel ließ sich abermals vernehmen. Gleich darauf schob er seinen Stuhl mit lautem Geräusch auf den marmornen Fußboden zurück und stand, sich langsam streckend, auf. 1 Baboe, Amme. - Ivasian , lcidcr. Jütische Vlbüolhtl, II. 3 g z Praktische Mcnschcn. „Jane!" rief er plötzlich, indem er seine Tochter auf die Schulter tippte. Die junge Dame erhob sich schnell. Alexander folgte, und ehe er noch ihre flüchtige Verneigung erwidert hatte, war der samarangsche toko-Besitzer schon mit seiner Tochter aus der Hintergalerie verschwunden. IV. Alexander ßekomml Vesuch und wohnt einer impravilulen Soiree bei. Es war sechs Uhr geworden. Alexander hatte auf Rath des Hotelbesitzers Siesta gehalten. Danach hatte er seine Koffer geöffnet und neue weiße Beinkleider und dergleichen Weste herausgenommen. Er hatte einen hellgrauen Rock von dünnem Stoffe ausgewählt und sorgfältige Toilette gemacht. Die drückende Hitze hinderte ihn einigermaßen. Daß die außergewöhnliche Geschäftigkeit, mit der er im Zimmer auf- und niederlief und mit der er den Inhalt seiner Koffer ordnete, nicht wenig dazu beitrug, schien ihm nicht in den Sinn zu kommen. Auf einmal kniete er wieder bei seinen Koffern nieder. Mit ernstem Praktische Menschen. gg Gesichte ergreift er ein Portrait und betrachtet es lange mit unaussprechlicher Liebe. Es war das Portrait seiner Mutter. Der Photograph hatte Mevrouw Wierinx in einem glücklichen Augenblicke aufgefaßt. Die dunkeln, sprechenden Augen und das ergrauende Haar verliehen ihrem Gesichte etwas wehmüthig Interessantes, etwas Zartes, welches jeden Fremden gerührt haben würde. Auch der eigene Sohn beugte sich bei ihrem Anblick, und eine stille Thräne floß aus seinen Augen. Für ihr Glück zu leben, sie wieder in den vorigen Zustand des Reichthums zu erheben, das war stets das Ziel seines Stre-bens — durfte er jetzt schon muthlos werden, bei dem ersten Schritte auf der mühevollen, von ihm selbst erwählten Bahn? Warum auch hatte er sich eine solche übertriebene Vorstellung von der Freundschaft und dem Interesse seiner zukünftigen Chefs gemacht? Warum auch sollte man bei seiner Ankunft in Batavia bereit stehen, ihn abzuholen und ihn zu feiern, wie es früher in Freundschaftszirteln und in dem heiligen, häuslichen Kreise geschehen war? Erröthend hob er den Kopf, wischte die Thränen weg. die seine Wangen befeuchteten, und legte das Bild ehrerbietig vor sich auf den Tisch. In diesem Augenblicke wurde die Thür leise ge- 3» Zß Praktische Menschen. öffnet. Padcmg trat einige Schritte vorwärts und zeigte auf einen andern Malayen, der eine schwarze Brieftasche an breitem Riemen über der Schulter trug. auf der Schwelle stehen blieb und sich tief vor Alexander verneigte. »8Ä6lÄt, to6>vg,n!« sEin Brief, Herr!) Zu gleicher Zeit gab der Bediente einen Brief an Alexander, der die wohlbekannte Handschrift seiner Mutter trug. In fliegender Hast warf er Padang einige Gulden zu, der langsam mit dem Postboten abrechnete und endlich das überflüssige Geld unter einer Fluth von Worten dem eifrig Lesenden anbot. Da dieser nicht aufsah und weiter las, legte der Bediente das Geld feierlich anf der Tisch und entfernte sich still. Beim Schließen der Thür machte der Pfiffige Malaye eine sehr vergnügte Geste mit der linken Hand und lachte sehr freundlich gegen die Ialousieen der Hintergalerie. Alexander hatte indessen den Brief seiner Mutter verschlungen. Vier Seiten voll Liebe und Trost aus dem innig liebenden Mutterherz geflossen, waren nur zu schnell gelesen, und wiederum sing er von vorn zu lesen an, während ein Seufzer der Rührung und Freude seiner Brust sich entrang. Der Brief war sicher nicht aus regelrechten Phrasen zusammengesetzt, aber jedes Wort athmete so viel Sorge, so viel liebreiche Praktische Mcnschcn. 37 Zuneigung, so viel ängstlichen Kummer über das Loos des Vielgeliebten, daß dieser sich selbst nicht genügen konnte in dem süßen Gennsse von Lesen und Wieder-lesen ohne Ende. „Wenn Du dieses erhältst, bist Du, wie ich hoffe, schon wohlbehalten in Batavia angekommen. Wie habe ich für Dich gefürchtet und geseufzt, mein lieber Sohn! Als es hier in Amersfoort stürmte und wüthete, wie habe ich dann alle Zeitungen gesucht, um zu sehen, ob irgend ein Schiff der Thetis begegnet war! Schreibe mir doch Alles ausführlich und umständlich, sobald Du augekommen bist. Ich bin mit meinen Gedanken fortwährend bei Dir; wie wird es Dir wohl gehen in der nenen, fremden Stadt, wo Niemand für Dich sorgt. Niemand Dich kennt. Niemand Dich werth hält? Wäre ich nur mit Dir gegangen, um Dich zu trösten, wenn Dn getäuscht wirst; denn Du wirst auf vielerlei Selbstsucht und lieblose Beurtheilung stoßen." — — — Während Alexander diese letzten Worte mit Wch-muth überlas, wurde heftig auf ganz holländifche Weise an seine Thür geklopft. Er verbarg schnell den Brief, ließ mit schwacher Stimme ein „Herein" hören, und augenblicklich darauf erschien ein schön und modern gekleideter Mann mit halbgeschlossencn Augen, besonders vornehmem Lächeln und tadellos weißen Zähnen. I8 Praktische Menschen. Mücklich, daß ich Sie endlich finde," hub er an; „schon habe ich vergebens in dem Hotel der Niederlande und im Java-Hotel nach Ihnen gefragt!" „Herr Buys hat mir dieses Hotel angewiesen, und da ich gewiß am Besten that, seiner Anweisung zu folgen, so finden Sie mich hier. Wo sind Sie, Van Spranekhuyzen?" Der Junker Van Svranekhuyzen warf langsam Strohhut und Rock auf den Tisch, legte sich auf's Sofa und antwortete gähnend: „Für die erste Zeit komme ich auch hierher. Sobald ich meinen Freund Ruytenburg aufgefunden habe, gehe ich vielleicht zu ihm. 8apri8ti, wie abscheulich warm ist es hier!" Van Spranekhuyzen sprach sehr leise und sehr abgemessen. Es schien, daß er sich sogleich in die indischen Sitten fügen wollte; er trug einen ganz weißen Anzug, und zeigte nur durch eine gewisse Art, den Kragen und die Kravatte zu tragen, daß er der europäischen f^Inon noch nicht ganz abgeschworen habe. Die Züge seines Gesichtes bildeten kein unangenehmes Ensemble, nur schwebte ein Ausdruck von Schlauheit und Stolz darüber hin, der auf den geübten Physiognomiker zurückstoßend wirken mußte. Unmittelbar nach seinen letzten Praktische Menschen. 39 Worten stand er wieder auf, winkte Alexander und fügte hinzu: „Lassen Sie uns nach der Vorgalerie gehen, es ist ein Viertel vor sechs, halb sieben wird für das Diner geklingelt, und hier ist es nicht auszuhalten!" Alexander folgte mechanisch. Seine Gedanken verweilten noch bei seiner Mutter, er hörte wenig darauf, was sein Reisegefährte zu ihm sagte. In der Vorgalerie trafen sie ungefähr dieselbe Gesellschaft, die Alexander diesen Morgen an der Tafel kennen gelernt hatte. „Eine sonderbare Gesellschaft! Kennen Sie alle diese Leute?" fragte Van Spranekhuyzen, indem er Alexander , der auf die marmornen Steine der Vorgalerie niederstarrte, anstieß. „Zu Mittag habe ich sie fast Alle gesehen," antwortete dieser, „aber ich kenne Niemanden. Die Dame dort und der Herr mit dem kahlen Scheitel haben mich angesprochen, ich habe ihnen meinen Namen genannt, aber kenne den ihren nicht. Der alte Herr ist aus Sama-rang, glaube ich." „Ah so, dann ist es der Slijkers aus Samarang, der schon ein paar Mal banquerott gemacht hat. Er ist hier gar nicht angesehen!" „Wie wissen Sie denn das?" „Ich habe soeben mit dem jungen Brandelaar, 4y Praktische Mcnschcn. einem Bekannten Ruytenburg's, einen Augenblick gesprochen. Ich erwarte ihn hier. Er hat mir erzählt, daß Sie hier sind, und hat mir schon Einiges von Ihrem Gespräch mit der liebenswürdigen Jane mitgetheilt." „Sie haben Ihre Zeit gut angewendet!" Van Spranekhuyzen zuckte die Schultern, nahm aus einem eleganten Etui eine Cigarre und rief: »X»88i kpi!« i „Sprechen Sie denn schon Malayisch?" fragte Alexander verwundert, als er sah, daß ein Bedienter wli-api (Feuertau) brachte, und daß Van Spranekhuyzen sich desselben bediente, als ob er es seit Jahren gewohnt sei. „Und wie hat man Sie im Komfttoir Buys und Audennans empfangen?" fuhr der Junker fort, ohne Alexander's Frage zu beantworten. „Die Herren waren sehr beschäftigt und hatten nicht viel Zeit; Herr Buys hat mir gerathen, mich sehr auf das Malayische zu legen, nnd hat mir einen Brief an's Marine-Hotel mitgegeben." „Und das war Alles?" „Herr Buys hat mir noch verschiedene gute Winke gegeben, und Herr Andermans desgleichen. Ich warte ' Geben Sie Feuer! Prattischt Mtnfchen. H.1 hier auf nähern Bescheid und wünsche bald in Thätigkeit zu kommen." Van Spranethuhzen blinzelte geheimnißvoll mit den Augen, Alexander schlug die feinen nieder. Wie oft hatte er in vertraulichen Gesprächen am Bord der Thetis mit hochgespannter Erwartung von seiner bevorstehenden Begrüßung durch den Freund seines Oheims gesprochen; welche Illusioueu hatte er sich nicht von der Wirkung des Schreibens gemacht, das er dem Herrn Buys überbringen sollte! Er begriff, daß Van Spranekhuyzen sogleich seine Enttäuschung merken mußte, und dieß beunruhigte ihn in hohem Grade. „Da kommt Brandelaar!" rief jetzt Van Spranek-huyzen und zog Alexander zu einem jungen Manne in indischer Kleidung hin, der gerade aus seinem Wagen stieg und in die Vorgalerie trat. Alexander wurde feierlich vorgestellt, und erkannte seinen gegenüber sitzenden Nachbar mit dem todtenbleichen Gesichte und der tiefen Baßstimme. Derselbe sprach wenig und ohne ein unnützes Wort dabei anzuwenden. Man unterhielt sich hauptsächlich über Sprauekhuygen's Freund, der nach Buitemzorg verreist war, nnd über die anwesenden Gäste. Alexander fragte nach einigen Namen. Als die vier dicken Damen und der Herr mit dem kaffeebraunen Gesichte einen Augenblick anf den H.Z Praktische Menschen. Schaukelstühlen der Veranda Platz nahmen, sagte Brandelaar: „Ein steinreicher Landeigenthümer aus Buitenzorg. Jährlich eine Ernte von drei Tonnen!" „Sein Name?" fragte Van Spranekhuyzen. „Bokkerman!" antwortete Vrandelaar. Ein lautes Klingeln unterbrach plötzlich die Gespräche. Die Mahlzeit war bereit. Ruhig und langsam bewegte sich der Zug der Hotelgäste über den marmornen Fußboden der innern Galerie. Alexander hatte seine unangenehme Stimmung noch nicht ganz verloren. Im Stillen zog er zwischen sich und Van Spranekhuyzen Vergleiche. Dieser hatte an Bord niemals von seinen guten Aussichten gesprochen, und doch hatte er sich schon auf unbegreifliche Weise Bekannte zu verschaffen gewußt; gleich fühlte der weltkluge Junker sich heimisch, während er selber, der so fest von dem Gelingen des Unternehmens überzeugt war, dem er so viele Opfer gebracht hatte, ein unbestimmtes Gefühl von Enttäuschung und Unzufriedenheit mit sich selber herumtrug, welches noch stets auf die empfindlichste Weise zunahm. Alexander erhielt an der Tafel seinen alten Platz, zur rechten Seite von Fräulein Slijkers, die besonders große Toilette gemacht hatte, ein noch tiefer ausgeschnittenes Ballkleid und einen Kranz von rothen Ca- Praklischc Menschen. 43 melien in den schwarzen Haaren trug. Das Diner war eine mittelmäßige Nachahmung einer schlechten europäischen Mahlzeit in einem Hotel zweiten Ranges; es wurden viele Befehle auf malayisch gegeben, die Alexander zu entziffern versuchte, und fast Jeder sprach flüsternd mit seinem Nachbar. „Es ist heute Abend sehr heiß!" flüsterte Jane Slijkers, indem sie ihren Fächer eifrig bewegte. Alexander verneigte sich zerstreut und glaubte zu bemerken, daß sie ihn mit einem gewissen Interesse beobachtete. „Ich hoffe, daß Papa schnell wieder nach Sama-rang zurückkehrt," fügte sie hinzu, „es ist hier doch sehr einförmig. Des Abends eine Spatzierfahrt oder eine Partie sind nnsere einzigen Amüsements. Da haben wir doch in Samarang zum Wenigsten noch einige Empfangsabende, auf denen getanzt wird. Tanzen Sie gern, Herr Wierinx!" „Im Winter, ja, Fräulein'." „Hier ist kein Winter! Und doch geht es sehr gut. Sie werden es wohl auch bald mitmachen!" „Ich kenne hier Niemand!" „Sie haben doch gewiß Briefe aus Holland mitgebracht , und sind Sie einmal in einer Familie vorgestellt, dann kennen Sie alle!" 44 Praktische Äcnsckcn. Jane Slijkcrs sprach sehr leise und beinahe vertraulich. Alexander hielt sie für noch eben so kokett als diesen Morgen, aber er fand doch ein wenig Vergnügen daran, sich mit Jemanden auf vertrauliche Weise zu unterhalten. Zufällig sah er nach seinen gegenüber sitzenden Nachbarn auf, und bemerkte, daß Grandclaar und Van Spranethuyzen neben den reichen Grundbesitzer Bokkerman Platz genommen hatten, und daß zwischen diesen drei Herren ein sehr lebendiges Gespräch im Gange war. — Die vier dicken Damen belächelten Alles sehr gutmüthig und einfältig. „Wer ist der fremde junge Mann mit den halbge-schlossencn Augen und dem eleganten Äußern!" fragte Jane wieder, nach einen Augenblick Paase. „Mein Reisegefährte, Iuuker Van Spranckhuy-zen!" antwortete Alexander. „Ich werde dem jungen Brandelaar sagen, daß er sich Papa vorstellen läßt, dann können beide Herren nach dem Diner den Kaffee mit uns trinken, und Abends in unsern Zimmern eine Partie machen." Augenblicklich beugte sich die junge Dame zu ihrem Vater nnd flüsterte ihm Etwas in's Ohr. Der wko-Besitzer von Samarang sah auf, winkte mit den Augcn und verschlang eine große Scheibe Ananas. Auch jetzt wurde Alexander freundlich belehrt, wie er verschiedene Praktische Menschen. HI Früchte genießen müsse, und gegen das Ende der Tafel ertappte er sich auf einem, langsam stärker werdenden, Verlangen, seiner Nachbarin all' seine Bekümmernisse und Enttäuschungen mitzutheilen. Der Kaffee wurde in der Vorgalerie eingenommen. Brandelaar stellte Van Spranekhuyzen vor. und die drei Herren nahmen in der unmittelbaren Nähe der Familie Slijkers Platz. Zuerst hatten die beiden Ersten die vier Damen Bokterman nach ein paar bereit stehenden Wagen begleitet, sich sehr tief vor dem Herrn verbeugt, uud sich geheimnißvoll das Eine oder Andere in's Ohr geflüstert. Jane begann sogleich mit Van Spranekhuyzen ein lebendiges Gespräch, Brandelaar empfing dann und wann ein Wort von dem Wko-Besitzer, und Alexander schaute träumend hinaus. Da fiel ihm ein neues und fesselndes Bild in die Augen. Ein ungewöhnlich heller Mondenschein goß sein silbernes Licht über die ganze Gegend. Das dichte tropische Grün neben dem Hotel wurde zum Theil glänzend dadurch beleuchtet. Längs Molenvliet fuhren fortwährend zahlreiche Equipagen. Die hoch aufflackernden Bambusfackeln der Bedienten hinter den Wagen verstreuten eine phantastisch feuerrothe Gluth in die Runde. Ein Konzert von tausend Grillen erfüllte die Luft mit sanftem, monotonem Ge- 46 Praktische Menschen. rausche, zuweilen überstimmt durch den lauten Ruf eines inländischen Verkäufers von Leckereien, und durch den gellenden Ton des chinesischen Eishändlers. Es wurde Alexander wunderbar zu Muthe. Er fühlte, daß ihm noch das Organ mangelte, um diese neue interessante Welt zn verstehen, und unwillkürlich schlich ein bitteres Heimweh in sein Herz nach der alten Welt, welche er vor Kurzem verlassen hatte. Aber schnell begriff er auch, daß er sich vor aller Weichheit hüten müsse, er dachte an Van Spranekhuyzen und dessen gewandte Manieren, und, eine Cigarre heraussuchend, rief er ziemlich laut: »Xassi Äpi!« Niemand hatte darauf Acht gegeben, und darum sah auch Niemand, wie nervös heftig er das Feuertau des Bedienten annahm, und wie eilig er mit dem Anstecken der Cigarre war. Als er um sich herum sah, bemerkte er, daß die Gesellschaft aufgestanden war und sich noch um den Herrn vermehrt hatte, der bei Tafel an seiner rechten Seite gesessen hatte. Er hörte später, daß dieser aus Bangka kam, und zur Herstellung seiner Gesundheit nach Europa reisen sollte, daß er Tirman Todding heiße und Controleur bei den Bergwerken war. Alexander war inzwischen auch aufgestanden. Der alte Slijkers kam lächelnd auf ihn zu und fragte: Praktische Menschen. H.7 „Lust ein Spielchen zu machen, he!" Gleich darauf kehrte er aber Alexander den Rücken zu, bewegte sich vorwärts, und bald befand sich die Gesellschaft in den besten Zimmern, welche das Ma-rinevurinFin8, wie Schutzgeister der Wohnung. Es war 8 Uhr des Morgens. Schon brannte die Sonne mit scharfen Strahlen auf die Kiespfade um 4» 52 Praktische Menschen. die weiße, glänzende Villa, deren Fenster und Thüren sorgfältig geschlossen waren. Wenn man näher trat, kam man an die weite psnäoMo (offene Hintergalerie), wo große Rouleaux dieselben Dienste leisteten, welche im Haupt- und Nebengebäude die peißisnne» erfüllten. Wenn man an der Seite drei Stufen ersteigt, nnd sich dann rechts wendet, befindet man sich auf dem spiegelglatten, marmornen Fußboden der ponäuppa. Es ist eine weite Galerie, mit reichem, gutem Geschmack möblirt. Nach Südosten ist sie ganz offen, weiß angestrichene Säulen tragen das Dach der Veranda. Da aber die Rouleaux niedergelassen sind, entbehrt man die schöne Aussicht auf den großen Garten hinter der Villa, wo Blumen und hohe Bänme die zahlreichen Nebengebäude, die Ställe uud die lange Reihe von Bedientenwohnungen dem Auge vollkommen verstecken. In der Mitte der perläu^io steht eine lauge Tafel, jetzt mit den Überbleibseln eines einfachen Frühstücks bedeckt. An dieser Tafel sitzen drei Personen, eine junge Dame und zwei Kinder. Die junge Dame schenkt eben ihre ganze Aufmerksamkeit einem kleinen Mädchen von acht Jahren, welche auf Malayisch noch eine Tasse Thee von ihrer Wärterin verlangt. Beide, Dame und Kind, haben ein bleiches und selbst leidendes Aussehen. Aber das Kind ist auffallend häßlich, und die Dame auf- Praktische Menschen. 53 fallend schön. Die fast trüben matten Augen des Kindes fchen zornig um sich her; der breite Mund ist weit geöffnet. Die junge Dame steht auf, fchenkt eine Tasse Thee ein und reicht sie, ohne ein Wort zu sprechen, dem Kinde. Schnell läuft eine malayische Frau herbei, und stellt sich hinter den Stuhl des'aufgebrach-ten Mädchens. Die Dame spricht jetzt leise ein paar Worte, das Kind trinkt seinen Thee schnell aus, schiebt seinen Stuhl zurück und fällt der Dame um den Hals. „Was fehlt Mariechen, Fräulein?" Die Stimme, welche diese Worte sprach, kam aus einer Ecke der penäoi^o und gehörte einer andern Dame an, die in ihrer ganzen Länge auf dem Sofa ausgestreckt lag und einen eleganten Quartband in ihrer Hand hielt. Man konnte schwer errathen, in welchem Alter sie stand, wenn es auch sicher schien, daß sie fünf und zwanzig Jahre schon hinter sich und die fünf und fünfzig noch nicht erreicht hatte. Ebenso schwer war zu bestimmen, ob ihr Gesicht einen angenehmen oder unangenehmen Eindruck mache. Die gelblichweiße Farbe wurde durch eine dünne Lage ^o^ärs äe rix ein wenig bedeckt, die hellbraunen Augen konnten sehr verführerisch glänzen, jetzt blickten sie aber ziemlich ausdruckslos auf dcu Frühstückstisch. Nase und Mund waren wohl etwas scharf, aber nicht unangenehm geschnitten. JH. Mktischc Mcnschcn. das lange, reiche Haar hing ihr lose mn den Nucken herab, die ganze kleine, äußerst zarte Figur war uur mit dem kadaai und «aronF i bekleirct, aber beide waren von dem feinsten und kostbarsten Stoffe. So war das Äußere der Dame, die laut und befehlend geftagt hatte i „Was fehlt Mariechen, Fräulein?" „Sie hat etwas Kopfweh, Mevrouw!" antwortete die Dame am Tifche. »linkaas! saunen!) Wenn sie nicht gleich still ist, muß Moenah mit ihr hineingehen!" Darauf nahm Madame Buys ihr Buch wieder auf und setzte ihre Lecture fort. Das Fräulein gab dem Kinde verstohlen einen Kuß auf das kurzabgeschnittene fahlblonde Haar, und flüsterte ihr wieder Etwas in's Ohr. An der andern Seite des Tisches saß ein Knabe von zehn Jahren, mit lebendigen, schwarzen Augen, einem reizenden Lockenkopfe, und gesunder, blühender Farbe. Bei seinem Stuhle stand ein malayischer Junge, der ihm Alles reichte, was er nur mit einem einzigen Worte befahl. Zuweilen sah er auf, um zu beobachten, ob seine Mutter, Mevrouw Buys, auf ihu Acht gäbe, und fuhr dann fort k^vee-knee (Gebäck! zu ' Eigenthümlicher indischer Rock, dcr um dcn Leib geschlagen lind zusammengerollt wird. Praktische Menschen. 55 «ssen, ohne sich viel um das leise Verbot der reizenden jungen Dame zu bekümmern. Es war dieser Gouvernante wohl anzusehen, daß sie ihrer Aufgabe nicht gewachsen sei. Über ihre ganze Person lag ein gewisses niederländisches, um nicht zu sagen, europäisches Timbre ausgegossen, welches mit dem charakteristischen, echt indischen Äußern der Madame Buys den schärfsten Contrast bildete. Sie trug ein einfaches Merinokleid, hellfarbig und leicht, wie es das Klima erforderte, aber nach Stoff und Schnitt echt holländisch. Das ungemein reiche, goldblonde Haar war zierlich, aber ohne Kunst frisirt, und schmiegte sich in breiten Wellen an die edle Stirn und an die bleichen Wangen. Die Züge ihres Gesichtes waren sanft und regelmäßig, die großen dunkelblauen Augen warfen einen tiefen, halb wehmüthigen Blick um sich her. Das bleiche, kränkliche Mädchen stand jetzt an ihrer Seite, und sah vertrauensvoll zu ihr empor. In gebrochenem Holländisch, mit malayischen Worten vermischt, erzählte sie von ihrem Kopfweh, von der Ungezogenheit ihres Bruders, der Moenah, die dadoe, ausgespottet hatte; von einer Menge Kinderplagen, welche auf junge leidende Gemüther gewöhnlich einen so tiefen Eindruck machen. Die Gouvernante hörte Alles aufmerksam an, aber behielt dabei den Knaben Iß Praktische Menschen. immer im Auge. Dieser lief jetzt spielend in der i>en-äoppo auf und nieder, und schlug mit einer Reitgerte wild um sich herum. Erst bekam der malayische Junge einen Schlag, der ihm geschwind und schweigend aus dem Wege lief, darauf bedrohte er Mocnah, die aber ruhig stehen blieb und nur die Gouvernante und das Kind beobachtete. Iu eiuem Augenblicke, in dem Niemand nach ihm sah, schlüpfte der Knabe gewandt zwischen seine Schwester und die dadoe und gab der Letzteren einen harten Schlag auf den nackten Fuß. Aufgebracht entriß sich das Mädchen den Armen der Gouvernante und wollte ihm die Reitpeitsche entreißen. Ein Ringen, Schreien und ein ängstlicher Ausruf der erschreckten Gouvernante folgten. Aber ehe sie noch aufgestanden war, hatte Madame Buys selbst die zwei, fechtenden Kinder geschieden und dem Kuaben die Reitpeitsche abgenommen. „Fräulein, es ist halb nenn!" sprach sie höflich kalt, aber befehlend; „die Kinder müssen an die Arbeit. Nehmen Sie Mariechcn zn sich. Ich werde Karl noch eine Stunde bei mir behalten. Es ist immer solch' ein soesak! mit den Kindern!" In diesem Augenblicke trat der Herr des Hauses in l 8oe8ak, Unruhe. Praktische Menschen. 57 die ponäoppo. Die Gouvernante entfernte sich stillschweigend mit rem lautweinenden Mädchen. Karl hatte sich hinter seine Mutter versteckt, und suchte verlegen ihre Hand zu küssen. „Was giebt es wieder?" fragte Herr Karl Heinrich Buys, indem er sich unzufrieden umsah. „Mariechen ist lästig, und Fräulein Van Weevereu sieht das immer ruhig an!" „Das Kind ist trank und schwach. Gott weiß, was ihr fehlt. Was thut Karl hier?" Der vielversprechende Knabe war wieder still weggeschlichen und hatte die Reitpeitsche zurückgenommen. Als er seinen Namen von seinem Vater aussprecheu hörte, flog er eilig auf ihn zu und sah ihm schmeichelnd und lächelnd in's Gesicht, während er seine Hand faßte. Das gesunde, kräftige Ausseheu des Jungen verleitete den Vater zu einer herzlichen Umarmuug des ungezogenen Kindes. Mevrouw Buys war nach ihrem Sofa zurückgekehrt. Ihr Mann folgte ihr; sein weißer Anzug und sein brauner Strohhut ließen erkennen, daß er bereit war, nach seinem Komptoir in der Stadt zu fahren. „Adele," sagte er, am Sofa still stehend, „es kommen heute Gäste zu Tisch. Die Familie Bokkcrman aus Buitcnzorg und zwei junge Herren, die eben aus 58 Praktische Menschen. Holland angekommen sind. Der Eine ist Wierinx, der durch Van Eynsbcrgen aus Utrecht an unser Komptoir empfohlen wurde." „Und der Andere?" „Der Andere ist einer seiner Freunde, ein Junker, ich habe den Namen vergessen." „Sind sie amüsant?" „Ich weiß es nicht. Bokkcrman ist ein guter Client. Sorge für das Diner, ich komme früh aus der Stadt zurück." „Wieder 8oe8ak! Aber zur Abwechselung . . ." »Daniel .... par .... Ernest Feydeau!« sprach Karl laut. während er das Buch seiner Mutter aufgenommen hatte und den Titel zu entziffern suchte. »viam (Still!), Karl! Soll die Gouveruante auch zur Tafel kommen. Buys?" „Natürlich! Sie hat in den zwei Monaten ihrer Anwesenheit noch nichts dergleichen mitgemacht. Sie paßt am Besten für die jungen Leute, nm über Hottand zu schwatzen, und damit soeäali!"' „Kokett genug dazu ist sie sicher, aber, enkn, sie kann anf Karl Acht geben. Ich meine immer, sie hätt sich für viel zu gut, um mit den Kindern umzu- 1 Soedah, ssenug. Praktische Mnschcn. 59 gehen; aber sie sagt nicht viel und bleibt HMich im Hintergrund, Xasian!" / „Sie giebt sich doch viel mit Mariechen ab. Das Kind ist immer in ihrer Gesellschaft, und ist ihr je länger je mehr zugethan!" Mevrouw Buys zuckte ungeduldig die Achseln und nahm heftig ihr Buch auf. Herr Buys schüttelte den Kopf und rief einem Bedienten zu: «sosros pa^anF KaiiEtta!« (Sag', daß man den Wagen anspanne!) Dann blieb er in Gedanken stehen, sah anf seine Uhr, umarmte seinen Sohn, warf seiner Frau ein flüchtiges Abschiedswort zu und eilte hinaus, da eben der Wagen vorfuhr. Mevrouw Buys gähnte aus Langeweile und Mißvergnügen, streckte sich wieder anf das Sofa, schickte Karl in das Zimmer der Gouvernante und vertiefte sich auf's Neue in «Daniel«. Ungefähr um 7 Uhr desselben Tages zeigte die psnäoppo ein ganz anderes Aussehen. Zahlreiche ala-basterne oder bronzene reich vergoldete Hängelampen verbreiteten rings nmher ein helles Licht. Die Tafel 60 Praktische Mcnschcn. war mit den Zubereitungen zu ciucr luxuriösen, europäisch-indischen Mahlzeit überladen. Porzellane, Krystalle und Silber glänzten von allen Seiten. Man tonnte wohl merken, daß der Herr des Hauses nicht umsonst fünfzehn Jahre als Advokat in Indien zugebracht hatte. Hatte er sich aber diesen großen Reichthum erworben, so durfte man dabei auch nicht abläugneu, daß er ihn mit viel Geschmack zur Verschönerung von Haus uud Hof angewandt hatte. Herr Karl Heinrich Buys entdeckte Schönheiten, wo Niemand sie vermuthete, Nie-mano sie gefunden haben würde. Auf alleu Auctionen machte er Einkäufe, die sein Meublcmcnt, sein Porzellan, sein Glaswerk aufs Neue bereicherten — hätte er Zeit gehabt, so hätte er vielleicht nicht ungern die Rolle eines batavischen Mäecus gespielt. In diesem Augenblicke erfüllten ihn ganz andere Gedanken. Die ganze Reihe der Geladenen, die eben aus der innern Galerie nach der penäoppo strömten, hatte sich in ehrerbietiger Entfernung von ihm und dem steinreichen Gutsbesitzer Votkerman versammelt. Langsam folgte man den laut sprechenden großen Herren. Während man sich der Tafel näherte und einen Augenblick stillstand, bemerken wir Mevronw Buys in einer wohlgewählten reichen europäischen Toilette, nur ein wenig entstellt durch eine zu reiche Schautragung von Diamanten, Armbändern Praktische Menschen. 61 und sonstigen Kleinodien. Sie unterhielt sich mit der ältesten der dicken Damen Bokkennan, die eine eben so prächtige, aber weit weniger geschmackvolle Toilette trug, und den Gebrauch von Gold und Edelsteinen bis zu Diamantnadcln in dem großen Haarwulste ihres Hinterkoftfes erstreckte. Die drei anderen Damen Bokker-man standen unter dem Schutze des Junkers Van Spranckhuyzen, sie lauschteu fröhlich und unaufhörlich kichernd auf die Bemerkungen des schön gekleideten Dandy. Der Zng wurde durch Alexander und Herrn Andermans beschlossen, die Beide schweigend neben einander gingen, und achtlos zu gleicher Zeit den marmornen Fußboden betrachteten. Am Seiteneingang der pßnäoppo erscheint jetzt Fräulein VanWecvercn, die Gouvernante, welche, von Karl gefolgt, sich so still als möglich und sich verlegen verbeugend an das untere Ende der Tafel begeben will. Der Herr des Hauses kommt ihr aber zuvor, und stellt sie mit artiger Handbewcgnng den Gästen vor. Herr Botkerman und seine Damen erheben flüchtig den Kopf während dieser Formalität. Alexander's Blick hellt sich anf, er verneigt sich zuvorkommend. Van Spranckhuyzen allein tritt einen Schritt zurück uud verbeugt sich auffällig tief — dann dreht er fich nm und schenkt seine ausschließliche Aufmerksamkeit der Schaar 62 Praktische Mcnschcn. Bedienten, die alle in langen da^os von gleichem Schnitte und von roth nnd schwarz geblümtem Stoffe die pen-äopp« durchlaufen. Fräulein van Wceveren ist plötzlich leicht erröthet, und mit auffälliger Eile bei Seite getreten. Nur Zwei der Anwesenden haben dieß bemerkt: Alexander und Mevrouw Buys. Die Gäste haben alle ihre Plätze eingenommen. Der Wirth hat die zwei ältesten Damen Bokkcrman zu seiner rechten und linken Seite. Ihm gegenüber sitzt der reiche Buiteuzorgsche Gast mit Mevrouw Buys an seiner rechten und Fräulein Bokkcrman Nr. 3 an seiner linken Seite, Alexander links von Mevronw Buys und rechts von Fräulein Van Wceveren, die sich allein an der schmalen unteren Seite der Tafel befindet. Doch hat sie fortwährend die Aufsicht über Karl, der im Beisein der Fremden sehr verlegen ist, und gerade gegenüber Alexander neben Einer der beiden ältesten Damen Botkerman sitzt. Die übrigen Gäste haben sich so vertheilt, daß Van Spranekhuyzen zwischen den Damen Vokkerman Nr. 3 und Nr. 4 einen Sessel einnimmt, während diese letztere junge Dame, die jüngste, dickste und dümmste der Familie allein am obcrn Ende der Tafel ebenso wie die Gouvernante sich befindet. Mr. Andermans hat als vis-a-vis des Van Spranekhuyzen zwischen ihr und ihrer ältesten Schwester Platz Praktische Menschen. ^3 genommen, welche Letztere wiederum neben seinem Compagnon und Wirthe sitzt. Anfangs wird nicht viel gesprochen. Die zwei großen Herren, denen sich znweilen Andcrmans als dritte Größe associirt, wechseln manchmal einige Worte über politische Begebenheiten und Amtsgcschäfte. Die Worte: „Eisenbahnen, Stieltjes', die Bank, Franssen Van der Putte wurden mit passendem Tone und Ernste als Hauptelemente der Unterhaltung angewendet. Mevrouw Buys hat eine vielseitige Aufgabe. In erster Reihe hat sie auf die vollwichtigen Artigkeiten des Herrn Vokkerman zu antworten, der sehr lant spricht und in ein schallendes Gelächter ausbricht, wenn er etwas recht Wichtiges zu sagen meint. Dann hat sie aber auch Alexander einen Theil ihrer Aufmerksamkeit zu widmen, den sie auf das allersreundlichste und so ganz »ans <>^ii6 unterhält, daß dieser sich immer heimischer fühlt und immer ungezwungener darauf antwortet. Dabei muß sie noch Fräulein Van Wecvercn beobachten, die noch bleicher und leidender erscheint, als am Morgen, und seit dem Anfange des Diner kein Wort gesprochen hat. An der andern Seite der Tafel herrscht von Zeit zu Zeit eine Todtenstille. Van Spranckhuyzen, der die 1) Sücljcs, politisch bekannte Persönlichkeit Indiens. gz Praktische Menschen. Sorge für die Unterhaltung auf sich genommen zu haben schien, schweigt zuweilen minutenlang und thut, als ob er nach den politischen Discussioueu der großen Herren lausche, obschon Andermans bei sich selber die Frage aufwirft, warum der Junker so oft verstohlen einen flüchtigen Blick auf die Gouvernante richtet. Die Damen Bokkermau unterhalten sich scheinbar sehr ernstlich mit den verschiedenen Gerichten der Mahlzeit, obwohl sie in Wahrheit nur sehr wenig genießen, nud in der tiefsten Tiefe ihrer Herzen sehr gegen eine geregelte Unterhaltung eingenommen sind. Der kleine Karl bleibt aus Furcht vor den Fremden sehr still sitzen, aber vcrsncht fortwährend, seinen kleinen Sklaven zn bewegen, ihm ein Glas Wein einzuschenken. Die strengen Blicke Fräulein Van Weeveren's halten jedoch Beide im Zaune. Alexander fühlt sich hier zum ersten Male wohl. Schon vier Tage seines Aufenthaltes in Indien hat er unter abwechselnd hoffnungsvollen oder niederschlagenden Stimmungen durchlebt. Die Einladung, die ihm heute früh im Namen des Herrn Buys zugekommen war, hat seine gute Aussichten wieder wach gernfen. Er setzt alle seine Kräfte daran, um gefügig und liebenswürdig zu scheinen. Er antwortet Mevronw Buys mit ganz derselben fröhlichen Praktische Menschen. ßH Erregung, die ihn in allen Kreisen Hollands zu einem so willkommenen Gaste gemacht hatte. Zuweilen wendet er sich auch der Gouvernante zu, deren ausgezeichnete Schönheit und feingebildete Manieren ihm auffallen, aber sogleich hat Mevronw Buys eine Frage bereit, oder Karl flüstert halblaut, daß cr so niu.1ci6 ^verlegen^ sei, oder daß er ein Glas Wein trinken wolle. Fräulein Van Weeveren wird überdies; sichtlich durch ihre eigenen Gedanken von der Unterhaltung abgezogen. Die unmittelbare Gegenwart der Mutter ihrer ciövo^ oder die fremden Gaste scheinen sie zu gcniren. Alexander's freundliche Fragen werden nur sehr schüchtern beantwortet, und das Gespräch zwischen den beiden jungen beuten wird nicht fortgesetzt. Der Gastherr hat indessen dem Inhalte seines Weinkellers alle Ehre erzeigt. Die drei großen Herren lachten und sprachen lauter, auch die Damen Botterman wagten zuweilen ein Wort fallen zu lassen. Ban Spranckhuyzeu zeigte sich mehr saiiZ frmd als im Anfange. Alexander fuhr fort, die neckenden und pikanten Anmerkungen von Mevronw Buys über Holland und die Holländer scherzend zn widerlegen. Das Diner ist schon lange zu Ende, schon geraume Zeit ist man am Dessert. Der Borschlag des Wirthes, in der Vorgalerie eine Cigarre zn rauchen, wird mit großem Jüdische Vidln'Ihcl, II. 5 ^ Praktische Ncnschcn. Vergnügen angenommen. Und wieder setzt sich der Zug der Gäste in beinahe derselben Ordnung in Bewcguug. Nur die Hausfrau hält Fräulein Van Wecveren einen Angenblick zurück und ersucht sie, der Vercituug des Kaffees ihre Aufmerksamkeit zu schenken, und Van Spra-nekhuyzen bleibt absichtlich einen Augenblick zurück, um der Gouvernante einen laugen, vielsagenden Blick zuzuwerfen. In der Porgalerie hat sich die Gesellschaft bald in Gruppen vertheilt. Die drei großen Herren schaukclu unter wichtigen Gesprächen auf und nieder. Der alte Herr Bokkerman hat eineu kleiuen Theil von seiner chrfurchtgebietcnden Erscheinung abgelegt, seine kaffcc-farbigeu Züge werden fortwährend durch ncue Anfälle von schallendem Gelächter aus ihrer ernsten Nuhe gerüttelt. Andcrmanö erzählt eine spaßige Geschichte von einem chinesischen Prozesse, und rechtfertigt auf wahrhaft glänzende Weise seinen alten Ruhm trockener Komik. Der Hausherr leiht der Erzähluug ein sehr geneigtes Ohr, aber vertieft sich roch dabei in eigene Gedanken; er überlegt ncnc, ernstere Prozesse, die in seiner täglichen Praxis vorkommen. Die zwei ältesten Damen Bokkerman haben sich schweigend, aber mit ihren Ballkleidern laut rauschend, in eine entfernte Ecke der Vorgalerie zurückgezogen. Praktisch! Menschen. 67 Mevrouw Buys bcgiebt sich zu ihncn, und ruft auch Alexander mit einem beinahe unbemerklichen Nink zu sich. Bei Tafel hat sie sich sehr gut mit dem „grünen" Advokatchen amüsirt, sie will ihn noch mehr sprechen. Die zwei jüngsten Damen Bokkcrman halten sich in der inneren Galerie an der Seite von Fräulein Van Wccvercn auf, um an dem Kaffee zu hclfcu. Van Sprancthuyzen hat sich diesen drei Damen als c-avu-liere «erveute beigesellt. Alexander's fröhliche Stimmung hat noch gar nicht nachgelassen. Er ist fest überzeugt, daß er die liebenswürdigen Aufmcrtsamkciten von Mevromv Buys nur ren einflußreichen Briefen seines Thcuns zn verdanken hat. Jetzt wirr ras ^cben beginnen, welches ihm seine Illusionen vorgegaukelt haben. Freund und Vertrauter seines Chefs, wird er sich bald durch tüchtige Nechts-gclehrsamteit, durch Vortrag und Fassung beim Plcü-doycr eine bedeutende Stelluug in dem Comptoir von Buys und Andcrmans erobern, und dann — — „Aber wir haben nun so viel über Holland gesprochen, erzählen Sie mir nun doch, Herr Wierinx, was Sie über Batavia denken?" Diese Worte wurden sehr freundlich, und mit einem liebenswürdig?!! Lächeln begleitet, von Mcvrouw Buys 5» 68 Praktisckc Ncnscbcn. ausgesprochen. Sie besaß in vollkommenem Maaße rie Gabe, für sich einzunehmen, wenn sie wollte, und sie machte an diesem Abende reichen Gebrauch von derselben. „Wenn ich hier in Ihrer prächtigen, marmornen Vorgalerie sitze," beginnt Alexander, „wenn ich dort die zierlichen, schlanken Palmen sehe, die im Mondcu-licht wie mit einem Silberregeu übcrfluthet stehen, dann verstehe ich schon einen Theil der Poesie dieser herrlichen Natur — dann" — „Pardon, aber ich fragte Sie nicht, wie Sie einen Klapperbaum oder dergleichen finden, sondern was Sie von dieser Stadt, von den Menschen denken?" Mevrouw Buys wirft Alexander noch einen ermu-thigenden Blick zu, und legt einen Augenblick ihren Fächer an die feinen kippen. „Ich kenne nur noch sehr wenig von Batavia, Mevrouw. Ich bin erst fünf Tage im Lande, habe einige Male längs Rijswijk und dem Waterlooplatze meinen Spatziergang gemacht, und bin einmal um den Königsplatz gefahren!" „Wo wohnen Sie?" „Ill dem Marine-Hötel!" — „Haben Sie dort mit den Gästen keine Bekanntschaft gemacht?" Praktische Menschen. ßI „Ich hatte die Ehre, den Herrn Botterman und seine Damen von Weitem bei Tische zu sehen." „Das haben mir die Damen erzählt! Ihr Freund, der Junker Van — Van" — „Van Spranekhuyzen!" ergänzt jetzt Fräulein Botkerman Nr. 1. „Dante, Betsy! Nun also, Ihr Freund Van Spra-nekhnyzen scheint schon die ganze Gesellschaft zu kennen; er wollte mir gerade von seinen Erlebnissen Bericht erstatten, als wir zur Tafel gingen. Übernehmen Sie es nun, Herr Wierinx. Erzählen Sie uns die Geschichte Ihrer vier ersten Tage in Batavia!" „Eine lange Geschichte, Mevrouw! Sie werden sich langweilen. Aber wenn Sie wünschen" — — „Tjrba sieh, da kommen Marie und Lucy!" ruft jetzt Fräulein Bokkcrman Nr. 2. Wirklich verfügten sich jetzt auch die beiden jüngsten Damen Botterman zu den Vieren. Van Spranek-hnyzen folgte ihnen, sah aber etwas unruhig um sich her. Während einer der Bedienten Stühle für die Hinzukommenden brachte, und ein anderer Kaffee anbot, entstand unter der Gruppe eine kleine Bewegung. Van Sprancthuyzcn nimmt die leere Tasse von Fräulein Botterman Nr. 3; Alexander erweist Mevrouw Buys densclbeu Dienst, ungeachtet der lachenden Op- 70 , Praktische Menschen. Position der Damen, die ihnen zurufen, daß die Bedienten schon dafür sorgen würden, daß sich die Herren zu viel Mühe damit geben. Aber Van Spranek-huyzen ist nicht von seinem Vorhaben abzubringen, er winkt auch Alexander, und beide Herren laufen eilig, unter lautem Gelächter der Damen, in die innere Galerie. Als sie dort angekommen sind, steht Van Spra-nckhuyzen still, erfaßt Alexander's Arm und flüstert: „Beschäftigen Sie Alle eine halbe Stunde lang; ich mnß die Gouvernante sprechen." „Kennen Sie denn?" „St! Ich werde Ihnen später Alles erklären, setzen Sie die Tassen hierher nnd kehren Sie gleich zurück'." Alexander fand die Damen in der fröhlichsten Stimmung. Mcvrouw Buys erklärt ihm, daß er sich ganz „grün" betragen habe, und Alexander stimmt so herzlich in ihr Lachen ein, daß von Neuem eine wahre Lachsalve losbricht, die selbst an der anderen Seite, wo die großen Herren schaukeln, ihr Echo findet. Aber Van Spranckhuyzen war schnell in die innere Galeric getreten. Fräulein Van Weeveren war verschwunden. Er durchläuft heftig die penäoppu, aber auch da ist sie nicht. Hierauf eilt er in den Garten und nähert sich den Nebengebäuden. Nicht weit von ihm schimmert ein weißes Mousselinkleid. Noch Praktische Menschen. 71 einen Schritt weiter, und cr hat die Hand der Gouvernante erfaßt, die mit einem leichten Schrei zurückschreckt. „Fürchtest Du Dich vor mir, Ernestine?" flüstert er fanft mit bebender Stimme. „Vor Ihnen, Junker Van Spranekhnyzen!" rief sie laut, und mit äußerster Geringschätzung fügte sie hinzu: „Gott behüte mich vor solcher Erniedrigung!" „Ernestine, sprich leiser? Um Gottes Willen leiser, oder Du machst uns Beide vor den dummen Leuten da in der Veranda lächerlich!" Sie standen in einer kleinen Galerie vor den Nebengebäuden. Bei dem Lichte einer gläsernen Laterne sah er, daß sie todten-bleich war. Aber sie wandte augenblicklich das Gesicht weg, während eiu Zittern über ihren Körper flog. „Was wollen Sie?" fragte sie etwas leiser in stolzem, befehlendem Tone. „Mich entschuldigen, mich vertheidigen über den schändlichen Verdacht, der auf mir ruht." „Schweigen Sie! Ich will nichts von Ihnen hören, ich weiß Alles. Als Sie das Gerücht vernahmen, daß mein Vater bei seinem plötzlichen Ableben seine Familie in Schnlren zurückließ, haben Sie reu Haag schnell verlassen und mich durch das absoluteste 72 Piaklischc Menschen. Stillschweigen deutlich erkennen lassen, wie Sie il wnt, I»rix von mir frei zn sein wünschten" .... „Siehst Du nun, Ernestine, ein bloßer Verdacht, sonst nichts"--------------- „Schweigen Sie, sage ich Ihnen. Sie haben keinen einzigen meiner Briefe beantwortet. Und Sie hatten dafür Ihre gnten Gründe! Die ganze Stadt wußte es, vaß Sie um Ihrer unerhörten Schuldenlast willen die Flucht suchen mußten, daß Sie Ihre Gläubiger bis jetzt mit der Hoffnung anf das reiche Hei-rathsgut hingehalten hatten, welches Ihnen mit meiner Hand zufallen sollte." „Ernestine, ich beschwöre Dich " — — „Nennen Sie mich nicht bei meinem Namen, Sie haben kein Recht, denselben in Ihren falschen Mund zu nehmen!" Jetzt war es Van Spranekhuyzeu, der zitterte. Er wurde plötzlich blutroth uud murmelte, schäumend vor Wuth, einen schweren Fluch. „Uud nun, da Sie mir hier nnerwartet begegnen," fuhr sie ruhiger fort, „mm, Junker Van Sftranekhny-zen, fürchten Sie sich, daß ich entdecken könne, wer Sie sind — denn schon sind Sie beschäftigt, sich nach einer neuen Erbtochtcr umzusehen! Es ist wirklich wie Praktische Menschen. 73 gefunden für einen Mann Ihres Schlages, Vier auf einmal in Aussicht zu haben!" Van Epranekhuyzen schwieg einen Augenblick. Auf einmal erhellte ein plötzliches, boshaftes Lachen seine zuckenden Gesichtszügc. „Klag' mich an, wenn Du es wagst?" sprach er scharf und kühl, „Du bist zu stolz, um Dir diese Freude zu gönnen. Dn sollst schweigen, so wahr, als Du mich eiumal lieb gehabt hast, Baronesse Van Wee-veren-Benscoop!" Ernestine wankte. Aber plötzlich faßte sie sich, richtete sich in ihrer ganzen Höhe anf und sah ihn auf's Neue mit der vollsten Geringschätzung an. „Gott hat mich wirklich schwer gestraft," sagte sie, langsam die Hand aufhebend, „daß ich solch' einem Buben, wie Sie sind, Junker Eduard Van Spranekhuy-zen, jemals meine Zuneiguug schenken konnte! Jetzt muß ich schweigen, aber die Zeit kommt, in der ich sprechen werde; wehe Ihnen, wenn ich dann Ihr Schnrkenantlitz erblicke!" Ernestine fühlte sich leise am Kleid gezogen. Es war Moenah, die dadoe, die ihr anzeigte, daß nonna Maricchen so trank sei und laut nach dem Fräulein riefe. 7H. Mktisckc Menschen. VI. Alexander amnfirl Alevrouw Vuijs und die Hamen Tokkcrma», und der Junker Ban SpnmckhiWeu machl ihm eine oerlranliche Millyeilung, „Und nun, Herr Wieriux, warten wir auf Ihre Erzählung!" hatte Meorouw Buys mit eiucm bezaubernden Lächeln gesagt. Alexander war noch immer über den Auftrag Van Spranekhuyzen's etwas verwirrt und neigte zögernd den Kopf. Aber die fröhlich lachenden Blicke der Damen Bokkerman, die ermnthigenden Winke von Mcvrouw Buys machten ihm enrlich Muth. „Obschon ich noch nicht die ganze tadie-ä'kots-Gesellschaft des Marine-Hütcls kenne, so bin ich doch über meine Nachbarn ganz im Klaren" — fing er an. „Denken Sie sich, man hat mir an der einen Seite einen Herrn mit einem dnnkclrothen Gesicht zum Nachbar gegeben, derselbe ist aus Bangka nnd heißt Tir-man Todding. Nach jedem Worte sagt er unaufhörlich: ,He? Wie geht es Ihnen, he? Warm, he? Guten Morgen, he'.'" Praktische Menschen. 75 Die Damen Bokkennan platzten heraus. Mevrouw Buys nickte Alexander» fröhlich zu und schenkte ihm ihre volle Aufmerksamkeit. „An der andern Seite," fuhr er fort, „sitzt Fräulein Jane Slijkers" .... „Die Dame, die dreizehn Mal verlobt gewesen ist'." fiel Mevrouw Buys ein. „Ein unausstehliches Mädchen!" rief Fräulein Bok-kerman Nr. 1, die am Besten holländisch sprach und darum für 1e del espi-it der Familie galt. „Die Dame," fuhr Alexander fort, „hat mich gleich sehr artig angesprochen, hat mir gezeigt, wie ich Reis essen muß, und wie ich mit den brauneu Fruchten" -------------- „Mangistans!"' ergänzten die Damen Bokkerman Nr. 3 und 4. „Wie ich also mit Mangistans und Pompelmuscn umgehen müßte. Ich fand sie anfangs ein wenig frei und sehr kokett, aber da ich an meinem ersten Abende in Batavia etwas gedrückt und verstimmt war, so nahm ich ihre Hülfe gern an, nur wir plaurerten recht angenehm!" „Und überdieß," fügte Mevrouw Buys hinzu. Mangistans — einc herrliche indische Frucht. 76 Praktische Menschen. waren Sie bange, einc komische Figur an der Tafel zu spielen, und ließen sich darum mit Leichtigkeit erobern!" Mevrouw Buys gebrauchte dei dem Aussprechcn dieser Worte die sanftesten und bezauberndsten Töne ihrer Stimme. Ihre dunkelbraunen Augeu sahen ihn dabei so freundlich und einnehmend an, daß er, von der Richtigkeit ihrer Bemerkung getroffen und von ihrer in die Augen fallenden Freundlichkeit fortgerissen, lachend zustimmte. „Sie lud mich dann ein," fnhr er fort, „den Abend in den Zimmern ihres Vaters, des Herrn Slij-kers, zuzubringen. Ich nahm die Einladung sehr gern an, da ich es nicht sehr angenehm fand, meinen ersten Abend ganz allein in dem fremden Hotel zu verleben. Die Herren fingen bald an ein Spiel zu machen, und"--------------- „Und dann fing Fräulein Jane von Neuem an. Ihnen von ihrer Sympathie für , Grüne' zu sprechen, und daß sie es gar nicht hübsch findet, sich über ,Grüne< lustig zu machcu, lillsi^n!"^ Die Damen Botkerman kicherten von Neuem. Mevromv Buys hatte die letzten Worte in bestricken- ' Xn8i'»n — Es ist Jammer. Praktische Menschen. 77 dem Tone gesprochen, aber da die gar zu laute Fröhlichkeit ihrer Gäste sie ein wenig zu verdrießen schien, nahm sie ihren Fächer dabei vor den Mund und sah zerstreut hinaus. „Sie machte mir allerhand vertrauliche Mittheilungen" — setzte Alexander hinzu; „sie fand Batavia gar nicht amüsant; sie hoffte, daß Papa wieder nach Europa zurückkehren werde, daß sie noch einmal nach Brüssel reisen könne; endlich veranlaßte sie mich auch, eine Partie mit den Herren zu machen!" „Was spielten die Herren?" fragte Mevrouw Buys. „VinFt-6t-nn!" antwortete Alexander. „Ich setzte anfangs eine Kleinigkeit und verlor an diesem Abende zwei und zwanzig Gulden!" . Dießmal lachten die fünf Damen im Chor. Ale« Zander blickte rnur um sich. Er war ängstlich, etwas lächerliches gesagt zu haben, und sah darum fragend nach Mevronw Buys.^ „Fahren Sie fort, Herr Wierinx!" sagte die Hausfrau ruhig und tippte mit ihrem Fächer auf seinen Arm. „Den folgenden Tag ging es ebenso" — fuhr Alexander schnell und mit leichtem Erröthen fort. „Beim Frühstück hatten wir cine Discussion über Vcethoven'sche Musik, und beim Diner erzählte sie nur. daß sie einen 78 Praktische Menschen. gewissen Herrn Brandclaar nicht ausstehen könne, daß sie meinen Freund Sprauekhuyzen sehr scharf fände, und zuletzt lud sie mich wieder ein, den Abend bei ihr zuzubringen." „Seien Sie vorsichtig, Herr Wierinx!" fiel Me-vronw Buys ein, „sie hat eine förmliche Belagerung mit Ihnen angefangen, und sie versteht ihr Geschäft!" Glücklicherweise trat eben ein Bedienter mit Erfrischungen zwischen die beiden Sprechenden, denn Alexander war sichtbar um eine Antwort verlegen. Doch blieb er fortwährend in sehr fröhlicher Stimmung, da die Gattin seines zukünftigen Chefs ihn mit so viel Anszeichnung behandelte. Er richtete das Wort beständig an sie, und hatte für die Damen Bokkerman nur einige höfliche Redensarten. Aber diese Letzteren trösteten sich durch eifriges Hin- und Herwiegcn auf ihren Stühlen, und durch den reichlichen Genuß gcmifchten Weines aus riesigen Bier-gläsern. „Am zweiten Abend," begann Alexander wieder, „fing das Spiel noch früher an, und ich war sogleich bei der Partie. Ich spielte mit wechselndem Glück, aber hatte doch am Schlüsse vierzig Gulden vcrlorcu." „Ich sehe wohl, daß Sie noch kein großer Spieler sind, Wierinx!" sprach Mcvrouw Buys beinahe flü- Praktische Mcnschcn. ' 7ft stcrud zu ihm. „Die jungen Leute spielen hier mit viel höhcrem Eiusatze als in Holland, und Sie sind sicher kein leidenschaftlicher Spieler." „Um die Wahrheit zu sagen," antwortete Alexander eben so leicht, „ich habe gar keinen ^piit äs ^jeu. Ich spielte, um nicht ganz allein und verlassen zu sein. Ich hatte in Holland so viele gute Freunde und eine so liebe Mutter — wir wareu Ab cuds zusammen und so glücklich!" Mevrouw Buys sah schnell auf die Seite, um em ernstes Gesicht zu erzwingen, denn sie hatte eigentlich eine unwiderstehliche Neigung zum Lachen. „Aber dann müssen Sie auch eine bessere Gesellschaft suchen, als die Slijkers nnd den Herrn Tirman Todding!" flüsterte sie zuvorkommend, indem sie Alexander's schlanke Figur, seiu lockiges Haar nnd seine lebendigen Augen betrachtete. „Ich glaube auch nicht, daß ich ihren soirees wic-rer beiwohnen werre." Alexander überdachte still, während er dieß sagte, daß ein großer Theil der kleinen Summe, die ihm seine Mutter bei der Abreise eingehändigt hatte, bereits im Spiele verloren war. „Kann ich hoffen," fügte er zögernd hinzu, „daß ich von Zc'.t zu Zeit hierher zurückkommen darf?" „Kommen Sie, fo oft Sie wollen, und merken Sie 8(j Praktische Menschen. sich, daß wir den letzten Dienstag jedes Monats empfangen. Wir werden Sie auch in den Familien, wo getanzt wird, vorstellen, dann haben Sie überall Zn- , tritt. Aber keine Slijkcrs mehr'." Alexander verneigte sich sehr glücklich, hatte aber eine schwache Überzeugung, daß man ihm Etwas gesagt hatte, dessen wahres Verständniß ihm noch nicht aufgegangen war. „Lucy!" fuhr Mevrouw Bnys zu Fräulein Botter-man Nr. 3 gewendet fort, „erzähle doch dem Herrn Wierinr, wer Jane Slijkers eigentlich ist!" „Ein kokettes Geschöpf!" antwortete die angesprochene Dame, „aber sehr pinwr gewandt^ im Umgänge mit Herren. Neulich auf dem Balle in der Eoncordia tanzte sie mit all' den neuen Officieren. In Samarang war sie schon fünfmal verlobt, und ihr Papa"------------- „Ihr Papa hat schon ein paarmal Bankerott gemacht," fällt Mevrouw Buys ein, die auf Alexander's Gesicht eine gewisse Verwunderuug über die eigenthümlichen Berichte der jungen Dame merkt; „ich glaube nicht, daß er bei einer anständigen Familie empfangen wird. Die jungen Leute im Marine-Hütel gebrauchen ihn und seine Tochter wie eine Art Amüsement. Das Knistern eines Wagens auf dem Kiese ließ die Damen alle zugleich aufsehen. Die drei großen Herren Praktische Menschen. 8l ivaren aufgestanden, und eifrig sprechend stand mitten unter ihnen — der Junker Van Spranckhuyzen. Der alte Herr Bokkerman schien sehr viel Gefallen an seinem Gespräche zu finden, da er zuweilen herzlich lachte. Aber er hatte seinen Wagen befohlen, und der wartete nun schon vor der Thür auf ihn. Sogleich standen auch die Damen auf. Die beiren bis jetzt getrennten Parteien mischten sich nun zum ersten Male nach dem Diner durch einander. Der Hausherr trat sogleich auf Alexander zu, und sagte kurz-. „Morgen um acht Uhr erwarte ich Sie in der Stadt auf dem Komptoir!" Als Alexander antworten wollte, hatte sich der Herr Buys schon entfernt, um die Abschiedshöflichkeitsbezeigungen der Damen Botkermen entgegen zu nehmen. Drei dudne» brachten weißseidene Shawls, nnd während Mcvrouw Buys jede der vier korpulenten Auitenzorgschcn Schönen freundlich umarmte, wechselte sie mit Moenah schnell einige malayische Worte, die Niemand verstand. Inzwischen waren noch zwei Wagen vorgefahren. Der Herr Vokkcrman fuhr mit seineu zwei ältesten Töchtern weg. Van Spranekhuyzen wünschte sich vier Arme, um Jeder der Damen einen anbieten zu können. Andcrmaus nahn: die zwei jüngsten Damen in seinen Wagen. Auch Alexander und Spranekhuyzen verabschiedeten sich. Herr Buys nickte nur mit dem Inlischt Vibliolhcl, II. i,!hel, II. 7 gz Praktische Menschen. de Slijkers'. Die frische Luft wehte ihm Kühlung zu. Leise wandelte er auf der steinernen, kleinen Vorgalerie voraus, die an den Logierzimmern entlang, läuft. Um Niemanden aus der Nuhe zu störeu, ging er so vorsichtig als möglich — er wollte hinaus gehen, das Molenvliet hinab wandern, um sein brennendes Hirn. zu kühlen, seine Gedanken zu ordnen. Auf einmal bleibt er. regungslos stehen. Vier Schritte vor ihm liegen die Zimmer der Familie Slijkers. Dort wird mit größter Behutsamkeit eine Thür geöffnet. Ein Herr in indischem Nachtkleide schleicht heraus, und gleitet an der Mauer hin auf Alexander zu. Im Augenblick, in dem Beide an einander vorbei gehen müssen, bleibt-der eben Gekommene mit plötzlichem Entsetzen uud einem halberstickten Schrei stehen. Einige Sekunden verstreichen, ehe Einer von Beiden eine Bewegung macht. Alexander geht endlich ciuen Schritt vorwärts und erkennt Van Sprauekhuyzen. „Wieriux!" — ertönte es dumpf und heiser, „was-thun Sie hier in der Galeric?" „Ich wollte hinaus, da es mir in meinem Zimmer zu heiß wurde — ich mußte einen Theil der Nacht dazu verwenden, um Mail-Briefe für morgen ;u schreiben!" Van Svranekhuyzen holte tief Athem und murmelte Praktische Menschen. 99 Etwas bei sich selber, was sehr auch einem groben Soldatenfluch glich. „So, da gehe ich auch mit!" erwiderte er. — „Ich habe en lamiiie ein Partiechen mit dem alten Slijters gemacht — etwas spät geworden — Brandelaar tonnte nicht kommen — ein Glas starken Punsch getrunken — ich brauche auch frische Luft!" Alexander schwieg. Er fand die Begegnung sehr sonderbar. Van Sprancthuyzen sprach so leise und so eilig, als ob er fürchtete, daß noch Jemand, außer Alexander, ihn hören könne. Und die Art und Weise, in welcher er aus jener Thür geschlichen war, konnte wenigstens sehr verdächtig genannt werden. Indessen waren beide jungen ^eute auf das Molenvliet gekommen und gingen schweigend zusammen weiter. „Ich dachte" — fing Alexander endlich an, — „daß Sie die Slijkers nicht mehr sähen?" „Von Zeit zu Zeit komme ich wohl noch einmal hin," anttvortete Van Spranekhuyzen schnell; „ich spiele gern eine Partie, und diesen Abend langweilte ich mich über die Maaßen. Überdieß kann man so ganz »ans Föne zu dem alten Manne gehen, nur im Xadaai.l Ich hatte mit Bandelaar zu lange in der Galerie ge- 1 Kabaai, Übmvurf. eine Art Kittel. 7» 1y 0 Praktische Mcnfckcn. sprochen, und es war für einen Besuch bei Ruytenburg zu spät geworden. — Da habe ich mit den Slijkers vorlieb genommen. Übrigens hänge ich das nicht gern an die große Glocke. — Sie verstehen mich!" Eins stand fest. Van Spranethuyzen war außergewöhnlich gesprächig und vertraulich. Alexander hatte ihn wenig in solcher Stimmung gesehen. Nichts war ihm recht klar, und obschon er unwillkürlich eine ungünstige Meinung gegen den lebhaft sprechenden Junker faßte, ließ er sich doch von Allem überzeugen, was dieser ihn zu versichern beliebte — seine eigenen Gedanken beschäftigten ihn viel zu sehr; die unerwartete Begegnung hatte sie nur auf einen Augenblick unterbrochen. Unter solchen Umständen währte der Spaziergang beider Freunde nur kurze Zeit. Man kehrte bald nach dem Hotel zurück. und sprach nur von Zeit zu Zeit ein einzelnes Wort. Als Alexander an sein Zimmer gekommen war, reichte er Van Spranekhuyzen ebenso freundlich als früher die Hand — er schrieb ihrer zufälligen Begegnung nicht viel Bedeutung zu. Bald verschwand er in seinem Zimmer, nm seinen Brief zu beendigen. Aber Van Spranekhuyzen wandte seine Augen noch einmal dem Lichtstrome zu, der aus der Thür drang, ballte die Faust und flüsterte: „Bist Du Praktische Menschen. >>yj ein Spion, mein lieber Wierinx? Gieb Acht! Mu Fluch.) Ich werbe es Dir mit gleicher Münze bezahlen, sobald ich kann, und zwar vollzählig'. (Noch ein Fluch.) Wenn Du mich hinderst, mußt Du fort! Sei vorsichtig, mein lieber Freund, Du bist auf einem gefährlichen Wege!" ^Dritter Fluch.) VI11. Ullvlouw Vnus Hal ihrcn Empsangsaßcnd, Alexander dnrchleßt eine glückliche Stünde, ein alter Vekannler von Fräulein Van Veevercn tritt auf. Die ganze Villa Buys war glänzend erleuchtet, es war der gewohnte monatliche Empfangsabend. Alle Vorbereitungen waren getroffen, um wiederum einen jener glänzenden batavischen Bälle zu geben, welche trotz ihrer täglichen Wiederkehr, immer noch den größten Theil der vergnügungs- und tanzlustigen vornehmen Welt mit stets neuer Lust zusammenströmen läßt. Und die Empfangsabcnde der Mcvrouw Buys hatten noch einen außergewöhnlichen Ruf von Glanz, und waren wegen des großen Zusammenflusses der verschiedensten ^ft) Praktische Menschen. Gäste, und der ausgezeichnetsten Sorgfalt für das Büffet besonders gesucht. Die für den Anfang des Balles bestimmte Stunde hatte schon geschlagen. Die Vorgalerie, der mittlere Saal, die penänppo, Alles funkelt von zahllosen Lampen und Wachskerzen. Eine prächtige Reihe von Kronleuchtern glänzt zumal in dem letzteren Raume, wo der eigentliche Ballsaal ist. Alle Möbel sind aus dem ganzen Raume entfernt, Sofas und Schaukelstühle an drei Seiten desselben in Reihen geordnet für die tanzlustigen oder zuschauenden Damen. Damven, der würdige toekkn-Iampos sLampenbediente), läuft in Galakleidung mit doppelt würdigem Gesichte umher, um dem Werke seiner Erleuchtung einen letzten Blick zu weihen. Noch ist Keiner der Gäste angekommen. Me-vrouw Buys sitzt im Augeublicke ganz allein auf dem Sofa. Mit welch' besonderem Geschmack hat sie ihr Festkleid gewählt! Ein tiefausgeschnittenes seidenes Ballkleid von der grauen Farbe, welche ein französischer Romancier ForFe-äe-piFeon, nennen würde, einige weiße Rosen in den dunkelbraunen Haaren, ein Kunstwerk von einem Fächer mit gemalten Figuren von Marquischen aus der Zeit der Regentschaft, ein herkömmliches Lächeln und ein Duft von Befriedigung über das ganze Gesicht, gaben ihr diesen Abend ein besonders Praktische Menschen. zftg interessantes und reizendes Aussehen. Sie ist eifrig beschäftigt, ihre weißen Flaes8 fest zu knöpfen, und lauscht ungeduldig, ob noch keine Wagen vom Königsplatze her rollen. Langsam schlendert jetzt der junge Herr Karl in die Iienaoppo. Auch er ist in Gala. Er freut sich über das Licht und die bevorstehende Festlichkeit, und beschäftigt sich angelegentlich damit, seinen kleinen Sklaven Ali zu quälen, und die inländischen Musikanten anzugaffen, die in großer Zahl zur Seite der Galerie das Ballorchester bilden. Mevrouw Buys ruft ihn eilends zu sich, und beauftragt ihn, die Gouvernante und sein Schwesterchen zu holen. In wenigen Augenblicken erscheinen Beide. Ist hier auch eine beseelende Kraft vom Feste ausgegangen, oder welchen anderen Ursachen ist es wohl zuzuschreiben, daß Fräulein Van Weeveren so ruhig vergnügt um sich her blickt, und daß das kleine Mariechen so zufrieden in seinem rosenrothen Kleidchen herbeihüpft? Mevrouw Buys stellt sich auch im Stillen diese Frage, und bemerkt mit einem einzigen Augenaufschlage das Festkleid der Gouvernante. Das weiße Mnll-Oewand, nur hier und da durch ein eiuzelnes blaues Band geschmückt, war mit dem ausgesuchtesten Geschmack verfertigt und verziert. Es lag etwas unbeschreiblich Vollkommenes und Elegantes l yz Praktische Mnschtn. über diesem einfachen Ballkleide, das zum größtem Theile von den eigenen äoißtZ-äe-lee des hochgebor-nen Fräuleins hergestellt war. Fräulein Van Weeveren ttug dazu das köstliche blonde Haar in langen Locken ohne Blumen; sie hätte keine bessere Wahl treffen können, und wäre sie die ausgelernteste Coquette gewesen. Mevrouw Buys hatte dieß sogleich gesehen, und auf einige Augenblicke wich das zufriedene Lächeln von ihrem Gesichte, um einem strengen, unfreundlichen Zuge Platz zu machen. „Werden Sie gut Acht geben, Fräulein, daß Karl und Mariechen nicht lästig sind?" sagte sie schnell, während sie hastig aufstand, weil man das Geräusch der anrollenden Wagen hörte. Fräulein Van Weeveren hatte keine Zeit zur Ant-' wort — aus der innern Galerie nahte eben Herr Buys mit einigen Damen, auf dem Fuße von einigen anderen. Paaren gefolgt, deren Damen die Wirthin mit fröhlichen Ausrufungen und den dabei herkömmlichen Umarmungen bewillkommneten. Kaum waren die ersten Gäste angelangt, als auch schon immer wieder neue nach der hinteren Galerie strömten, welche bald von einer bunten Menge in Festkleidern erfüllt war. Aber besonders lebhaft war der Anblick, den man am Eingang der Vorgalerie hatte. Hier stand jetzt der Praktische Menschen. ^)H Hausherr in schwarzem Frack auf den Treppen rer Veranda, um die Ankommenden zu bewillkommnen. Prächtige Equipagen, Palankins,' Miethwagen und denäie« folgten einander in ununterbrochener Reihe, und warfen, als sie in vollem Trabe in die Besitzung einfuhren, durch die hochaufsiammeuden Fackeln der Bedienten einen hcllrothcn Schein über die Kieswege und das Grün des Gartens. Herr Buys half mit steifer Vornehmheit einigen vornehmen Damen beim Aussteigen und überließ die Anderen einem Hilfscorps tanzlustiger junger Leute, die er mit einem Worte zu diesem Dienste nöthigte. Hier that sich vor Allem Vtzn Spranekhnyzen vor, der fortwährend von der Vorgalerie nach der pen-äuMu lief und Dame.nach Dame zur Wirthin führte. Als sein Freund Ruytenburg und dessen Damen erschienen, hat er sich mit der größten Gewandtheit des Armes von Fräulein Lucy Bokterman bemeistert, und sie leise um zwei oder drei Tänze gebeten, die sie ihm kichernd zusagte. Van Svranethuyzen war wirklich unwiderstehlich. Er trug seinen neuen, echt europäischen Ballsrack mit augenfälliger Grazie und wußte sich mit ' Palantins — Sessel, auf welchen orientalische Fürsten anf dcil Schultern getragen werden. 106 Praktische Ucnschen. berechneter Bescheidenheit stets so lange im Hintergrund zu halten, bis er die Anfmertsamkeit auf seine schlanke Person gerichtet wußte. Alexander war auch unter den jungen Leuten in der Vorgalerie. Er hatte sich beeilt, Mevrouw Buys zn begrüßen, hatte aber in dem Wirrwar der zusammenströmenden Menge nur einen officicllen Gruß von ihr erhalten. Jetzt belustigte er sich damit, die ankommenden Gäste zu beobachten. Es war zum ersten Male, daß er die elegante batavische Welt in so großer Anzahl beisammen sah. Schon hatte er ans seinen Spaziergängen und in seinen Miethwagen einen großen Theil dieser vornehmen Welt kennen lernen, schon wußte er einige Personen und Familien mit Namen zu nennen, aber der Kreis seiner Bekannten beschränkte sich bis jetzt auf die nächste Umgebung; denn er hatte sich zwar beeilt, seine Empfehlungsbriefe an einige angesehene Familien zn übergeben, aber er war durch den meistens kühlen, officiellen Empfang abgeschreckt worden, die ihm ganz fremden „großen" Herren noch einmal zu besuchen. Sein Vormund Van Eynsbergen hatte ihn über-dieß versichert, daß eine Empfehlung an den Herrn Buys ihm den Zutritt zu allen angesehenen Kreisen verschaffen werde; und war dieß auch bis jetzt noch Mktisckt Mtnslbtn. 1 ft7 nicht geschehen, — da seine Chefs sich bis jetzt noch auffällig wenig dämm bekümmert hatten, wie er außer dem Komptoir im gesellschaftlichen Leben auftrat — die ausnehmende Artigkeit der Mevrouw Buys hatte Alles vergütet, und es ihm nicht an Gelegenheit fehlen lassen, höchst angenehme Stunden in ihrer Gegen-ivart zu verleben. Indessen hatten die Wagen fortwährend neue Gäste herbeigebracht, unr Alexander dachte plötzlich daran, daß es doch wohl höflich sei, wenn er sich den jungen Herren anschlösse, welche die Damen zu der Hausfrau begleiteten. Als er sich zu ihnen stellte, kam sein Nachbar von der wdis-ä'Iiüw des Marine-Hütels, der Herr Tirman Todding, auf ihn zu und fragte: „Die Damen hineinbringen, he?" „Wenn ich darf'." antwortete Alexander flüchtig lächelnd, als er bemerkte, daß des Mannes rothverbranntes Gesicht durch einen schwarzen Frack beinahe noch sonderbarer aussah, als wenn er den gewöhnlichen weißen Rock trug. „Ueberlasscu Sie es nur Van Spranekhuyzen, gewandt genug mit Damen, he?" Alexander bemerkte, daß sein Tischnachbar ein ge- 108 Praktische Menschen. wisses geheimnißvolles Gesicht machte, und sehr sonderbar die Augen zukniff, als er dieß sagte. „Wissen Sie was!" — fuhr Tirman Todding fort — „spielen Sie ihm morgen einen Streich, und erzählen Sie Jane Slijkers, wie lieb er mit dem dicken Fräulein Bokkerman ist, — Jane kaun hier nicht herkommen — Kasian!« Es war wohl anzunehmen, daß der Beamte auf Urlaub aus Bangta sich mit einem Extragläschen Wein regalirt hatte — seine Augen rollten sehr unruhig in ihren Höhlen, und er sprach ausführlicher und schneller, als er es je gethan hatte. „Fräulein Slijkers wird nun bald nach Samarang zurückkehren!" bemerkte Alexander, der wohl wußte, daß sein Nachbar in der Gegenwart genannter Dame eine vollwichtige oourwißie ausübte. „Vielleicht auch nicht, he?" „Ich begreife Sie nicht, Herr Tirman Todding!" „Hören Sie einmal, he! Wenn sie so fortfährt wie jetzt, und Jane ganze Abende mit ihm," — im Augenblicke führte Van Spranekhuyzen zwei junge Damen mit brannen Gesichtern und weißen Ballkleidern vorbei — „in der Vorgalerie flüstert, wenn sie sich überall nachlaufen, und sich immer etwas Geheim- Praktisch! Mensckcn. 1 j)9 nißvolles zu sagen haben, dann könnte es wohl geschehen, daß Jane noch ein wenig hier bliebe, he!" Mit fröhlichem Lachen sah Alexander seinen Tischnachbar an. Seine außergewöhnliche Vertraulichkeit verwunderte ihn ebenso sehr, als die Neuigkeiten, die er vernahm. Er hatte von Fräulein Slijkers keine große Notiz mehr genommen, seit Mevrouw Buys es ihm abgerathen hatte; man hatte sich von Zeit zu Zeit an der Tafel gesprochen, und wenn sich Van Spranek-huyzen ihr gegenüber mit besonderer Höflichkeit betrug, glaubte er das auf Rechnung der allgemeinen Höflichkeit seines galanten Freundes schreiben zu müssen; da er fest überzeugt war, daß dieser im Geheimen mit Fräulein Van Weeveren verlobt war. Jetzt erst fing s j ^ bas Wörtchen alle im Sinne des Malayischen gosäali aufgefaßt werden müßte, und nichts Anderes bedeutet als: „Ich habe meine Tänze schon vergeben." Obschon Alexander dieß für den Augenblick nicht begriff, so fragte er doch nicht weiter, da er noch andere Bekanntschaften anzuknüpfen wünschte, und dazu schon eine junge Dame mit ganz holländischem Äußern ausgewählt hatte. Sie saß in einer Ecke der psnäoppo und schien über den Rand ihres Fächers ziemlich unzufrieden nach Tänzern umzuschauen. Aber kaum hatte Brandelaar mit einer Verbeugung gesagt: „Fräulein Dunsinger, kann ich das Vergnügen haben, Ihnen den Herrn Wierinx vorzustellen?" als sie mit spitzer und trockener Stimme antwortete i „Ich habe keinen einzigen Tag mehr frei!" „Entschuldigen Sie," fiel ihr Alexander gefaßt in's Wort, „ich hatte Sie noch nicht darum gebeten!" Brandelaar lächelte, zog Alexander am Arme mit sich fort, und warnte ihn, nicht zu viel Geistesgegenwart zu haben. „Die jungen Damen," fügte er hinzu, „sind hier nicht zahlreich und halten sich sehr preciös. Wir sind hier nicht in Holland, mun okn-! Wir müssen ihnen etwas nachsehen, und wenn sie auch die lästigsten lin-Kau8 (Launen) hätten!" Indische VibU«che', II, .. 3 11 4 Praktische Menschen. Alexander stimmte gar nicht mit ihm überein, aber schwieg für den Augenblick. Die Tanzmusik ertönte, die Paare setzten sich in Bewegung, und nur mit vielem Hin- und Herlaufen glückte es den beiden Herren, noch einige tanzlustige Damen aufzuspüren, die theils wegen ihrer vorgerückten Jahre, theils um ihres unschönen. Äußeren willen bis jetzt vergessen waren. In einer anderen Ecke der psnäoppo wurde indessen ein lebendiges Gespräch zwischen Fräuleiu Van Wee-weren und dem jungen Advokaten geführt, von dem Alexander seiner Mutter geschrieben hatte, als er seine Abendspazierfahrt im Wagen der Mevrouw Buys erzählte. „Sie lassen ihn also ruhig seinen Weg gehen?" fragte er. „Bis jetzt, ja. Ich will lieber jede Begegnung vermeiden. Als ich den Plan faßte, hierher zu gehen, begriff ich sehr wohl, daß ras Vergangene vollkommen todt für mich war. Nur theilnahmsvolle, wahre Freunde will ich gern über mein früheres Leben sprechen. Sie wissen, daß mein Consin, der Baron Van Weeveren, mir diese Stelle verschafft hat. Als ich in Batavia ankam, redete mich Herr Buys mit dem Titel Fräulein Van Weeveren an, nnd ich habe den still beibehalten." Praktische Menschen. 115 „Ich verstehe Sie, gnädiges Fräulein 1"^ „Still, Herr Dubuis, wie unvorsichtig!" Mr. Andre Antoine Guirault Dubois legte den Finger an die Lippen, und bat ernstlich um Vergebung, Fräulein Van Weeveren nickte unmerklich und sah mit einer gewissen Verlegenheit vor sich nieder. Zerstreut zog sie die kleine Marie Buys an sich heran, und strich ihr das widerspenstige rauhe Haar glatt. Der junge Mann mit dem distinguirten Äußern hatte sie und ihre Familie früher in den Tagen des Glückes gesehen — er wnßte ihre ganze Geschichte. „Es fällt mir schwer, Sie anders zu nennen," — wiederholte er — „aber wir wollen es versuchen. Erlauben Sie, daß ich Ihnen offen sage, wie ich Ihren weisen Entschluß vom Anfang an sehr bewundert habe. Und jetzt ist es mir klar, daß ich Ihren Muth nicht zu hoch angeschlagen!" „Ich habe meine Pflicht gethan — das ist Alles, und nun kein Wort des Lobes mehr, keinen Schritt mehr über das Gebiet der gewohnten Höflichkeit! Glauben Sie mir, ich tadle mich selbst oft über meine ' Nicht gan; übersetzbar. Mejnfvrouw-Fräulein, ist der Titel für jede junge Dame höheren Standes, Freule-Fräulein der Titel hochadeligcr junger Damen. Diesen letzteren gebraucht hier der Advokat. 8* 11 ß Praktische Mcnschcn. Schwäche im Verbergen meines Ranges, den man früher oder später doch leicht entdecken wird. Als ich Van Spranekhuyzen znm ersten Male hier begegnete, war ich feig genug, einen Augenblick zu fürchten."------------- „Er hat das größte Interesse dabei, seine frühere Verbindung mit Ihnen geheim zu halten'." „Also halte ich mich von dieser Seite sicher. Aber es ist mir eine unaufhörliche Qual, diesen Mann beinahe täglich zu sehen. „Es ist ein panisr peree, darüber sind alle seine Freunde einig. Ich habe nur einige kühle Worte mit ihm gewechselt, und will so wenig wie möglich mit ihm zu thun haben. Wer ist doch sein Frennd, der junge Advokat Wierinx, der bei den Herren Buys und An-dermans im Geschäfte ist?" „Ich kenne ihn nicht, und will ihn auch nicht kennen, — aus zwei Gründen. Zuerst sind mir die Freunde dieses Van Spranekhuyzen sehr verdächtig, und ferner steht er bei Mevrouw Buys in hoher Gunst!" „Es scheint Etwas von einem Intrignanten in diesem Menschen zu stecken. Er versucht seine Stellung bei dem Herrn Buys zu befestigen, indem er stets aux ^>6tit8 gains Mevrouw gegenüber ist. Er ist nicht ungeschickt!" „Nein, Dubois, da thun Sie ihm unrecht. Wenn Praktische Mcnfchn,. 1 17 Sie hier einige Monate länger wären, würden Sie begreifen, daß solche Manöver ihm nicht den mindesten Vortheil bringen. Ich glaube eher, daß er sehr ungeschickt und geschwätzig ist, da er sich nach jeder Laune der großen Dame schickt und ihr mit beispiellosem Eifer Gehorsam leistet." „Und die große Dame?" „Sie wendet ihn als ein Mittel an, sich zu amü-siren, — es wird nicht lange mehr dauern!" — In diesem Augenblicke drängte sich Moenah, die dadoe, leise und scheu durch die Menge und rief der Gouvernante zu: „5hoirja pan^ii!" sMevrouw ruft.) Ernestine Van Weeveren flüsterte ihrem Nachbar noch einige Worte zu, und verschwand dann zwischen den tanzenden Gruppen. Mr. Andrc Antoine Guirault Dubois versank in tiefes Nachdenken. Er erinnerte sich, daß er eine Quadrille mit der Gouvernante tanzen würde, ironisch lächelnd sah er einen Augenblick auf die festliche Menge, und ging dann nach der Vorgalerie, wo man ihn bald sehr ernst mit dem Herrn Buys und später ebenso eine Weile mit dem Herrn Andermans sprechen sah. Ernestine Van Weeveren hatte Mevrouw Buys an Alexander's Arme gefunden, und aus ihrem Munde 11 8 Praktische Mcnschcn. die halb befehlende, halb hofliche Bitte vernommen, daß die Bedienten so schnell als möglich die Damen mit allen gewünschten Erfrischungen versähen. Mevrouw Buys hatte das Talent, Alles zu bemerken, was rnnd um sie her vorging, und im vollen Gespräche mit Alexander hielt sie es für rathsam, das Gespräch ihrer Gouvernante mit jenem „bleichen, grünen Advokatchen mit seinem französischen Namen" abzubrechen. Ihrer Beobachtungsgabe war es auch zuzuschreiben, als sie eine Weile später zu Alexander sagte: „Ihr Freund Van Spranekhuyzen scheint unsere arme Lucy Bokkerman ganz bezaubern zu wollen!" „Das scheint eine üble Gewohnheit von ihm zu sein," antwortete Alexander mit fröhlichem Lachen. „Ja, aber dießmal scheint es ernstlich gemeint. Lucy ist roth vor Verlegenheit, und er flüstert ihr fortwährend in's Ohr!" „Ich begreife ihn nicht!" „So, was wissen Sie denn mehr davon? Sie können mir ruhig Alles anvertrauen, Wierinx!" — Mevrouw Buys hatte seit einiger Zeit die Gewohnheit, Alexander einfach „Wierinx" zu nennen, und hatte im Augenblick den Plan gefaßt, ihn über seinen Freund Van Spranekhuyzen einmal gründlich auszufragen. Praktische Menschen. 119 „Eigentlich weiß ich nichts davon," antwortete Alexander „ich vermuthe nur das Eine oder Andere!" „Nun?" „Ich dachte, daß Van Spranekhuyzen heimlich mit Fräulein Van Weeveren verlobt sei. Er hat sie früher in dem Haag gekannt, nnd einmal sprach er sich auch so aus, als ob"-------------------- „Dann hat er Sie absichtlich täuschen wollen. Ich habe sehr gut bemerkt, daß sich die Beiden verabscheuen. Sie haben ein gutes Herz, Wierinx! und lassen sich zu schnell beschwatzen!" Alexander sah Mevrouw Buys mit einem unbeschreiblichen Ausdrucke an; Verlegenheit, Ehrerbietung, Bewunderung, hohe Bewunderung lag in seinem Blicke. Indessen hatte er sogleich geantwortet: „Sie haben ganz Recht, Mevrouw, was das Erste angeht. Schon seit einiger Zeit wurde ich zweifelhaft, wenn ich ihn jeden Abend in so eifrigem Gespräche mit Jane Slijkers fand. Überdieß lassen mich manche Umstände glauben, daß etwas Geheimnißvolles in seiner Haltung Ihrer Gouvernante gegenüber, ebenso als gegenüber Fräulein Slijkers liegt!" „Der Controleur Tirman hat eben einige sehr merkwürdige Einzelheiten über ihn und jene Dame an Mevronw Andermans erzählt. Wir wollen auf den 1ZY Praktische Menschen. Junker Acht geben, und ein wenig für unsere arme Lucy besorgt sein!" Schmetternd ertönte jetzt die Musik der k-ai^aise, in welcher Alexander die Ehre hatte, an der Seite der Frau vom Hause zu stehen. Während sich die Paare ordneten, fuhr Mevrouw Guys leise fort, Alexander weiter auszufragen. Be-wundernswerth war der Takt, mit dem sie Alles von ihm herauslockte, was sie wissen wollte. Während sie sich mit vornehmer Grazie in den verschiedenen Figuren des Tanzes bewegte, und ihr äußerlich Niemand anmerken konnte, daß sie eben ein für sie sehr interessantes Gespräch führte, wußte sie Alexander» durch einen einzigen Blick zu weiteren Mittheilungen zu ermuthigen,, und bald hatte sie Alles vernommen, was er ihr nur mittheilen konnte: wie er eines Abends sehr spät Van Spranekhuyzen bei einem Besuche von den Slijkers hatte zurückkommen sehen, und wie verlegen Jener über ihr zufälliges Zusammentreffen gewefen war. Alexander war zu entzückt über die freundliche Vertraulichkeit der Hausfrau, um nur einen Augenblick darüber nachzudenken, ob es auch räthlich sei, ihr diese Mittheilungen zu machen. Nur Einer der Gäste hielt Beide fortwährend im Auge — es war der bleiche Advokat mit dem Praktische Menschen. 1Z1 französischen Namen, der neben Fräulein Van Weeveren im Tanze stand. „Wierinx! schnell ein Glas Wein mit Wasser!" sagte Mevrouw Buys, als die Quadrille zu Ende war, und sie an der Seite der gesetzten, nicht tanzenden Damen Platz genommen hatte. Es klang etwas besonders Intimes, etwas rccht Vertrauliches aus dem Tone, in dem sie diese Worte zu ihm sagte — ihr Befehl schien eine ehrende Auszeichnung zu sein. Alexander durchlief fröhlich die Gruppen der Gäste. Der Gedanke: so habe ich doch endlich hier eine dauerhafte Freundschaft geschlossen! flog ihm durch den Kopf, und doch blieb eine gewisse gehcimnißvolle Unruhe in der Tiefe seiner Seele. ob dieser Gedanke auch Wahrheit in sich schloß? Und während er so mit dem verlangten Glase vorwärts eilte, fiel ihm plötzlich ein, daß er sich selbst noch niemals ehrlich bekannt hatte, was er eigentlich unter dem Worte Freundschaft verstände; aber er legte sogleich seinem Gewissen Schweigen auf, als er bedachte, daß ihm bis jetzt Jeder mit einer gewissen Mißachtung begegnet war, daß Mevrouw Buys allein ihn recht würdigte, so wie er gewürdigt sein wollte. „Hören Sie!" fuhr Mevrouw Buys fort, als er sich wieder an ihrer Seite niedergesetzt hatte, „Sie 4 ZZ Praktische Menschen. müssen mich immer über die galanten Abenteuer Ihres Freundes Spranekhuyzeu benachrichtigen. Ich möchte die Geschichte von Fräulein Van Wceveren wohl einmal wissen. Sie brauchen ihn nicht danach zu fragen, denn er sagt Ihnen doch die Wahrheit nicht. Beobachten Sie aufmerksam, was er thut; erzählen Sie es mir dann und damit sosclak!" Alexander nickte fröhlich zustimmend, denn wiederum hatte die Stimme von Mevrouw Buys so sanft und vertraulich geklungen, als ob sie ihm die süßeste Schmeichelei sagte. Und ebenso fügte sie hinzu: „Und nun lassen Sie mich fragen, welche der Damen Ihnen Tänze zugesagt haben?" „Ein Walzer von Fräulein Mina Henkens, ein Galopp von einem zweiten Fräulein Henkens, eine Quadrille von Fräulein Deeselar" — — — „Wie kommen Sie doch an Alle die sonderbaren Damen?" „Brandelaar präsentirte mich. Ein gewisses Fräulein Dunsinger wies mich ab, ehe ich sie um einen Tanz fragte!" „Natürlich. Fräulein Dunsinger hat ihre beständigen Anbeter unter den zweiten Lieutenants. Sprechen Sie nur nicht zu viel mit ihren äan86u868 und" — hier sank die Stimme der Hausfrau zu noch leiserem Praktische Menschen. /j ZI Geflüster — „stehen Sie nun schnell auf, Sie haben hier schon zu lange gesessen. Kommen Sie morgen zum Essen — es ist Samstag — dann hören wir später die Musik in der Concordia!" Mevrouw Buys warf Alexandern beim Abschied einen vielsagenden Blick zu, in dem sich zwei Momente vereinigten i ihre ganz besondere Vorliebe für Eine Person und die beständige Sorge, dieselbe Niemand anders, als ihn selber, merken zu lassen. Indessen hatten die Gäste des Herrn Buys sich wieder auf's Beste amüsirt. Und wahrlich fand auch ein Jeder Gelegenheit, sein Vergnügen nach seinem individuellen Geschmack zu wählen. Die tanzende Welt bestand aus zwei großen Abtheilungen. Die erste Abtheilung bildete eine ausgesuchte Gesellschaft unter den jungen Damen, Alle von echt holländischen Manieren und holländischer Bildung, Töchter hoher Beamten und Mitglieder der indischen Regierung. Die zweite Gruppe dagegen repräsentirte mehr das eigentliche Indien: Farbige von verschiedenen Nuancen, von einer unmerklich gelben Schattirung bis zum reinsten Kaffeebraun. Bei den Herren hätte man solche Trennung schwerer zu Stande gebracht, da beinahe Alle von echt holländischer Art waren, wodurch auch dann hier und da 124 Praktische Menschen. eine Annäherung zwischen den zwei Abtheilungen der tanzenden Damen möglich wurde. Von den Zuschauern blieb anch noch viel zu bemerken , da auch hier die gewöhnliche europäische Steifheit und Förmlichkeit, wie meistens in holländisch Indien, einem lebendigen und ungezwungenen Verkehr Platz gemacht hatte. Und diejenigen von den Herren, welchen ein allzu tiefes Studium der tanzenden Menge unangenehm war, fanden in einem Seitenzimmer das vollkommenste Büffet, das jemals für einen batavischcn Empfangstag eingerichtet worden war. Fortwährend sah man lautsprechende Gruppen hinein gehen, und es war an diesem Abende sehr in die Augen fallend, daß Niemand einen so eifrigen Gebrauch davon machte, als der Controleur Tirman Todding, der „zur Herstellung seiner Gesundheit auf Urlaub nach Holland zurückkehren wollte," und sein Freund Brandelaar. Man sah sie mit großer Aufregung und Herzlichkeit einander das Eine und Andere in's Ohr sagen, und deutlich hörte man von Zeit zu Zeit die Baßstimme Brandelaar's, wie er zu den Bedienten rief -. »X988i, Ill^i anFßor ^a886in!« („Schenken Sie noch ein Glas Rheinwein ein!") Von ihrem Gespräche vernahm man nichts, obschon Einige später behaupteten, daß Tirman Todding zuweilen Praktische Menschen. ^ZI den Namen einer gewissen Jane Slijkers ausgesprochen, und daß er daß er dabei mit seinen Augen allerhand gymnastische Kunststücke gemacht habe. Die fröhliche Musik der letzten Quadrille ließ Brandelaar nach der psnäoppo zurückeilen. Eiligst suchte er seine Tänzerin, eine der fünf Damen Henkens, und stellte sich in Reih und Glied — zum großen Vergnügen Alexander's, der mit seiner Dame, dem Fräulein Deeselaar, schon einige Zeit nach seinem vis-a-vis sich umgesehen hatte. Alexander war in der fröhlichsten Laune. Noch nie hatte er sich in den zwei und einem halben Monate, die seit seiner Ankunft verstrichen waren, so vollkommen zufrieden, so ganz zu Hause gefühlt. Wohl flüsterte von Zeit zu Zeit in seiner tiefsten Seele die alte, allzu empfindliche Ehrsucht, daß er auf dem Komptoir seiner Chefs für nichts mehr, als für einen intelligentem Schreiber galt — aber in der Aufregung des Festes schob er leise den Schleier über die traurige Wirtlichkeit, und er tröstete sich mit dem Bewußtsein, daß es doch Menschen gäbe, die ihn nach seinem wahren Preis zu schätzen wußten. Armer Alexander! Er hatte sich mit so viel männlichem Muth von dem Mutterherzen losgerissen und die große Reise unternommen; sein Zweck war so edel, sein Wille so gut — war es ein Wunder, daß seine reizbare, gefühlvolle Seele sich 126 Praktische Menschen. augenblicklich an alle Die anschloß, die ihm auch nur die oberflächlichsten Beweise von freundlicher Zuneigung gaben? Jetzt aber fühlte er sich für den Augenblick zufrieden und glücklich, und bekümmerte sich gar nicht darum, ob Herr Buys seine vielen Besuche gut oder übel deuten würde — Mevrouw hatte ihn zu sich eingeladen! — Damit war Alles gesagt. Im Übermaße seines Glückes unterhielt er sich schr lebhaft mit seiner Dame Fräulein Dceselaar, eiuer netten Brünette mit köstlichen blauen Augen, die unter ihren langen, schwarzen Wimpern mit der größten Einfachheit und Unschuld in die Höhe schauten. Aber es half ihm nicht viel, ob er erregt und geistreich sprach; sie lächelte meistens ziemlich albern bei seinen don-mots, und antwortete auch immer sehr kurz auf die meisten seiner lustigen Fragen. Am Ende schien er aber doch einen Gegenstand ;u berühren, der ihr Interesse einflößte. Er erzählte von den Bällen in Holland, und wie da gerade im Gegensatze ;n Batavia stets mehr Damen anwesend wären, als Herren. Die Idee, während eines Tanzes sitzen zu bleiben, schien sie sehr zu verwirren. Endlich wagte sie eine Frage: „Wie kommt es denn, daß dort so viele junge Mädchen find?-------------Heirathen sie denn nicht?" Praktische Menschen. ^Z7 „Zuweilen wohl, zuweilen nicht!" „Warum nicht?" Eine Figur in der Quadrille zwang Alexander«, die Antwort schuldig zu bleiben. Es war die letzte Quadrille, und diese wurde stets herkömmlich durch den einen oder den anderen besonders scherzhaften oder geistreichen Herrn geleitet. Dießmal war diese Aufgabe dem Herrn Nuytenburg zugefallen, der in Batavia für den fröhlichsten und scherzhaftesten der älteren Herren gehalten wurde; er wollte sich nun dieses Ruhmes würdig zeigen, indem er mit Stentorstimme die unmöglichsten Figuren abrief. Als Alexander endlich wieder neben seiner Dame stand, fragte sie noch einmal mit ihrem süßen Silberstimmchen: „Warum denn nicht?" „Das ist schwer zu erklären. Darf ich einmal versuche«, es Ihnen dnrch die Mythologie zu verdeutlichen? Sie haben sicher von Mythologie gehört?" „Nein, ich habe von diesem Schriftsteller noch nichts gelesen!" Alexander lächelte, als ob er nichts verstanden habe, sah Fräulein Deeselaar fröhlich in das liebe Gesichtchen, und wandte endlich seinen Blick auf die kostbare Breche, die ihr Ballkleid schmückte. „Während ich Ihre Broche betrachte," fuhr Ale- 1 28 Praktische Menschen. xander fort, „schwebt mir eine Geschichte aus der Mythologie vor der Seele, welche es Ihnen vollkommen deutlich machen wird, warum die jungen Damen in Holland manchmal nicht heirathen." „Ich habe Geschichten sehr gern'." „Also die zwei goldenen Äpfel Ihrer Broche mit der goldenen Schlange umwunden lassen mich an die goldnen Äpfel aus dem Garten der Hesperiden denken '." „Der was?"--------- „Der Hesperiden, einer sehr angesehenen Familie! Nun war auch ein gewisser, sehr verständiger junger Mann, Herkules genannt"--------- „Ein häßlicher Name!" „Ja, aber dieser Herkules war doch sehr geschickt und gewandt — er hatte lange darüber nachgedacht, wie er die goldenen Äpfel erobern könne, und da fiel es ihm plötzlich ein, daß er dazu das goldne Vließ aus Kolchis nöthig hatte!" „Und wie ging es weiter?" „Nun, Herkules unternahm die Reise nach Kolchis, bekam das goldene Vließ, und kam dann von selbst in den Garten der Hesperiden, wo er die goldenen Äpfel frisch und fröhlich pflückte!" „Ja, solche Geschichten habe ich mehr bei meinem 5 Praktische Menschen. 1Z9 Fräulein gehört, als ich noch bei dem Fräulein Unterricht hatte — aber ich begreife noch nicht"-------- „Warum die jungen Damen in Holland zuweilen nicht heirathen? Ja, dann muß ich Ihnen weiter erzählen, daß die meisten jungen Männer in Holland zuweilen ebenso anständig uud gescheidt sind, als jener Herkules, daß sie wohl auch gem die goldenen Äpfel aus dem Garten der Hesperiden pflücken möchten, — aber der Zug nach Kolchis glückt nicht immer!" „Wenn ich nur die Namen merken könnte, dann würde ich die Geschichte morgen Papa erzählen! Aber, Herr Wierinx, sind Sie auch darum aus Holland weggegangen?" Alexander sah erstaunt aus. Aber Fräulein Dee« selaar sah so naiv und ruhig aus, daß er sicher sein tonnte, nur durch Zufall eine geistreiche Antwort von ihr erhalten zu haben. Die Quadrille war zu Ende, und man lief nur noch paarweise die psnäoppo auf und nieder. Gerade als Fräulein Deeselaar ihre letzte Bemerkung machte, trat der Herr Andermans auf Beide zu, und ersuchte um eine kurze Unterhaltung mit Alexander, sobald sein Gespräch beendigt sein würde. Man trennte sich; Fräulein Deeselaar, um die Geschichte Alexander's in der fremdartigsten Weise ihren Indische Vibüolhtl. II. 9 1IH Mktischc Menschen. Freundinnen wieder zu erzählen, und er selbst, um das Verlangen seines zweiten Chefs zu erfüllen. Andermans führte ihn auf eine sehr förmliche Weise nach dem Büffetzimmer, und sagte ihm, daß er ihn Jemanden vorstellen müsse, der dort auf ihn warte. Es stellte sich heraus, daß es Niemand anders war, als der neue Advokat mit den französischen Namen: Mr. Andre Antoine Guirault Dubois, der frei und ungezwungen auf ihn zutrat, und nach einigen Augenblicken freundlicher Unterhaltung, auf Alexander einen sehr angenehmen Eindruck machte. Ihre gleiche Lage und gleichen Aussichten gaben schon diesem ersten Gespräche einen vertraulichen Ton. Es wurde ein Glas auf die neue Bekanntschaft getrunken. Andermans betheiligte sich dabei mit einer gewissen i-L86i-v6, und man nahm mit dem Versprechen Abschied, sich bald wiederzusehen. Der Empfangsabend hatte nun seine letzten Augenblicke erreicht, und das Verlangen der älteren Damen wurde erfüllt — Jeder machte sich zum Fortgehen bereit. Als Alexander unter den sich zuletzt entfernenden Gästen einen officielleu Händedruck von Herrn Buys empfangen hatte, und sich fertig machte, seinen Wagen zu suchen, fand er Brandelaar und Tirman Todding, die in gleicher Absicht links und rechts liefen, und sehr Piaktischc Menschen. >31 laut nach ihrem Wagen riefen. Im Augenblicke hatte er sie zurechtgewiesen, und da sie zusammen nach dem Marine-Höiel zurückkehrten, so fuhr er mit ihnen. Eine liebliche Kühle wehte während der Fahrt. Brandelaar kreuzte die Arme über der Brust, und fing mit etwas rauher Stimme an: >>^,k! HU6 Venise est belle!« Tirman Todding sprach ohne Aufhören, und ge-stikulirte gegen eine nicht anwesende Person, die er mit dem Titel „Hochgeborner Junker" ansprach. Alexander schloß die Augen und überdachte die vergnügten Stunden dieses Abends, den Tag, der erst noch kommen sollte, das Diner und die Concordia. IX. Uscxandcr I'M lein cljles öffenlliches ?laidoM, erhält eine erste Varimng, und wird durch ein „wohlmeinendes Freundesworl" gclrostel. Es waren bereits vierzehn Tage seit jenem glanzvollen Empfangsabend bei Mevrouw Buys verflossen. Die Uhr des Herrn Andcrmans zeigte Eins; er war den ganzen Morgen, eifrig mit Schreiben beschäftigt, 9* <1 Iy Praklisckc Menschen. allein auf dem Komptoir der Firma anwesend. Er wünschte im Stillen, daß Buys bald zurückkehren möge, um ihm über die Vertheidigungsrede Nachricht zu bringen, die man endlich dem jungen Wierinx zugestanden hatte. Es war doch nur eine wenig bedeutende Erbfrage, eine Forderung des chinesischen toko-Besitzers,' Lo-Hiang, zum Vortheile eines armen Blutsverwandten; der Prozeß konnte kaum dreihundert Gulden einbringen. Wierinx konnte sich daran wagen, und einmal vor dem Landrathe Plaidiren! Schritte im Korridor ließen den vor sich hin Grübelnden aufsehen. Herr Buys tritt herein, nickt Andermans gravitätisch zu, setzt sich in seinen Fauteuil und ruft Sidin, das äHeuini- zu bereiten. Während der Bediente diesen Befehl vollzieht, wird kein Wort zwischen den Herren gesprochen. Bald setzen sich Beide schweigend an den Tisch und fangen an zu essen. An-dermans sieht seinen Amtsgenossen forschend an, und fragt: „Gut plaidirt?" Buys antwortet: „Anderthalb Stunden, und schlecht'." Darauf wird das äHeuner unter vollkommenem * Toko, Laben. Praktische Menschen. 133 Stillschweigen fortgesetzt. Wieder erklingt ein Schritt im Korridor. Alexander erscheint in der Öffnung der Thür und tritt höflich grüßend hinein. Seit einiger Zeit haben ihn die Herren eingeladen, an ihrer Mahlzeit auf dem Komptoir Theil zu nehmen. Mit fröhlichem Gesichte nimmt er Platz vor dem bereitliegenden Couvert. Ungefähr vor zehn Tagen hatte er von seinen Chefs den Auftrag erhalten, in Sachen Lo-Hiang zu plaidi-ren. Mit Begeisterung war er an die Arbeit gegangen, fest entschlossen, dießmal durch die That zu beweisen, daß er noch zu etwas Anderem tüchtig sei, als zum Kopiren. Er hatte die Sache bis auf die geringfügigste Kleinigkeit untersucht, sich von der chinesischen aäat l genau unterrichtet. Alles wohl erwogen, und endlich ein ausführliches Plaidoyer zusammengestellt. Die letzten fünf Tage hatte er sich selbst in seine Stube eingeschlossen, und hatte absichtlich einen Empfangsabend im Hause des Herrn Ruytenburg versäumt, zu dem ihn Mevrouw Buys doch befohlen hatte. Diesen Morgen hatte er sehnlich die Gerichtssitzung und in ihr den Augenblick herbeigewünscht, in dem seine Sache an die Reihe kommen werde. Er wußte wohl, daß er bei 1 Adat, ein Gebrauch, der RechiSgiltigleit besitzt. 134 Praktische Mcnfchcn. dem Landrathe nur durch den Vorsitzer und den Griffier verstanden wurde, daß der Ihak8g sHaupt der inländischen Residenz-Polizei), der I^nFkoeloe smuhame-danischer Priester) und die chinesischen berathschlagenden Richter nichts von seinem holländischen Plaidoyer verstanden, aber doch wollte er beweisen, nicht vergebens die Rechtsgelehrsamkeit studiert zu haben, sollte er auch nur vor dem Präsidenten allein sprechen. Und mit Fener und Überzeugung hatte er anderthalb Stnnden gesprochen, bis ihm der Schweiß von Stirn und Hals tröpfelte. Bei ^emer Rede hatte er den Herrn Buys bemerkt, der aufmerksam zuhörte, und er hatte ihn im Stillen für diesen Beweis von Interesse gedankt, von dem er sich die besten Folgen vorspiegelte. Sobald er jetzt an der Tafel seiner Chefs Platz genommen hatte, sah er einigermaßen neugierig auf. Herr Andermans bot ihm den Reis an, Herr Buys trank langsam ein Glas Wein, und wischte sich mit einem feinen, leinenen Taschentuch die Stirn ab. Auf Beider Gesicht konnte man nichts lesen. Alexander fing still sein Frühstück an, und dachte, daß die Herren wohl ein wenig verwirrt über seinen Triumph wären, uud warten wollten, bis er Etwas gesprochen habe. Mechanisch nahm er etwas Reis, seine ganze Erwar- Praktische Ncnschcn. 1 35 tung war auf das bevorstehende Lob seiner Prinzipale gerichtet. „Ich glaube, daß der General-Gouverneur gestern nach Buitenzorg zurückgekehrt ist!" sagte Andermans. „Ja!" antwortete Buys. „Dann gehen Sie wohl morgen?" „Vielleicht!" Es folgte eine Pause. Alexander wollte alle Augenblicke von seiner Vertheidigungsrede anfangen, aber schwieg aus Verlegenheit. Herr Buys zerschneidet einen ch'eroek (Iava'sche Orange) und ist scheinbar in tiefes Nachdenken versunken. „Gestern bei Nuytenburg gewesen?" fragte Andermans wieder. „Ja; außergewöhnliches fröhliches Fest, gehombret mit dem Unteradmiral, keine Karten gehabt!" lautete die Antwort des Herrn Buys. „Ich hörte zu Hause, daß man sehr eifrig getanzt hat. Reeve hat eine Quadrille angeführt. Ein lustiger Mensch, dieser Reeve!" — „Adele hat auch davon gesprochen. Reeve ist noch ein alter Bekannter, glaube ich!" „Der einzige junge Officier, der mir auf die Dauer gefällt!" Wieder eine Pause. Alexander hat mit sehr ge- 1 Z^ Praktische Mnschen. mischten Empfindungen, unter denen sich Enttäuschung und gekränkter Stolz um den Vorrang streiten, nach diesem Zwiegespräche gelauscht. Jetzt ist es ihm unmöglich, länger zu schweigen, und während er die Schalen eines pisanF mit seinem Messer in kleine Streifchen schneidet, sagt er zögernd zu Herrn Buys: „Ich glaube. Sie heute früh bei der Sitzung des Landraths bemerkt zu haben." Der Herr Buys nickt ein wenig mit dem Kopfe. Alexander schneidet die pisan^-Schalen in noch kleinere Streifchen, und fügt hocherröthend hinzu: — „Darf ich hoffen, daß Sie mit meinem Plaidoyer zufrieden sind?" — „Was soll ich sagen, Herr Wierinx! Ich weiß es selbst noch nicht!" hub Herr Buys an. — „Zuerst war Ihr Stück viel zu laug. Dann können Sie hier in Batavia alle die Gelehrsamkeit zu Hause lassen. Der Ihaksa und die chinesischen Richter müssen sich schrecklich gelangweilt haben! Aber Sie haben ein recht gutes Organ." Nun stand Herr Buys langsam auf und schob seinen Stuhl eigenhändig an seinen Schreibtisch. Andermans rief Sidin um Feuer für seine Cigarre. Alexander stand eilig vom Tische auf und ging schnell in sein Seitenzimmerchen. Prakmche Menschen. > 37 Und wieder, ebenso wie am Tage der Ankunft des jungen Advokaten, begegnen sich die Blicke beider Chefs auf vielsagende Weise, und wieder neigen beide lächelnd den Kopf. Es wäre schwer gewesen, zu sagen, was Alexander an diesem Tage in dem Zeitraume von zwei bis vier Uhr zu Nutzen der Firma Buys und Andermans verrichtet habe. Er saß aufrecht vor seinem Schreibtische, und sah unaufhörlich auf einen Haufen Papiere und Bücher. Erst stützte er den Kopf mit beiden Händen, ein leichtes Beben fuhr durch seine Glieder, und einzelne schwere Thränen rollten auf die Prozeßstücke. Aber bald preßte er die Lippen zusammen und erhob das Haupt. Ein Anflug von tiefgekränktem Stolze breitete sich über seine Züge aus. Ein sehr gutes Organ! Das war alles Lob, das er für seinen Fleiß und seine Studien erntete! Der IHaska und die chinesischen Richter würden sich schrecklich gelangweilt haben! Er müßte in Batavia alle die Gelehrsamkeit zu Hause lassen'. Rohheiten und unfeiner Scherz anstatt Ehre und Dank! Er rief feine ganze Geisteskraft zusammen, um nur nicht in lautes Weinen 138 Mktisckc Menschen. auszubrechen, er hielt sich an seinem Schreibtische fest, um nicht in die Höhe zu fliegen, und den ersten Gegenstand, der ihm in die Hand kommen würde, in wüthendem Zorne zu zerschmettern. Und dann erinnerte er sich wieder, mit welcher Vorliebe er an diesem ersten Plaidoyer gearbeitet habe, wie er nichts versäumt hatte, um die Sache bis in ihre geheimsten Einzelheiten zu untersuchen —, welch' einen Succeß hatte er sich vorgespiegelt, wie hatte er gehofft, bei feinen Chefs in Ansehen zu steigen und dem heiligen Ziele näher zu kommen, dem Ziele, für das er Vaterland und Mutter verlassen hatte! Und wieder siel sein Kopf in seine Hände, und heiße Thränen perlten auf die Prozeßstücke herab. Allerlei verwirrte und traurige Vorstellungen wirbelten in seinem Kopf auf und nieder. Würde es ihm jemals in Batavia glücken? Würde er mit der gründlichsten Rechtskenntniß und mit der eifrigsten Anstrengung jemals ein Advokat werden wie Herr Buys und Herr Andermans? Eine Sekunde lang zuckte ein bitteres Lachen um seine Lippen. Aber sie waren die Einzigen, an die er sich anschließen konnte und mnßte. Sein Vormund hatte ihm so oft gerathen, sich in allen Hinsichten nach den Wünschen des Herrn Buys zu richten, so werde es ihm nicht fehlen, einst sein Ziel zu erreichen. Plötzlich Praktische Menschen. 1 39 scheint ein guter Gedanke die Oberhand in ihm zu gewinnen, er legt sich in seinen Stuhl zurück und denkt lange und ruhig nach. Auch in Holland hat er Enttänschungen erfahren, Schwierigkeiten zu bekämpfen gehabt, und hatte er sie nicht immer besiegt? Warum sollte es ihm hier nicht glücken? Mußte er auch ein wenig von seinem wissenschaftlichen Eifer dabei auf's Sftiel setzen, was schadete es, wenn er nur ein praktisch brauchbarer Sachwalter, ein guter toekan-dih'ara. Wortkünstler), wie die Ma« layen es nannten, wurde. Aber im Vaterland war die zarte Sorge seiner Mutter stets bereit, jeden Kummer, jeden Schmerz mit unbegrenzter Liebe aus seinem Gedächtnisse zu verwischen — und hier war er so ganz allein. — ',— Oder würde Mevrouw Buys wirklich Interesse an seinem Leben und seinen Kämpfen nehmen? Hatte sie ihn nicht sichtbar ausgezeichnet, ihm stets theilnahmsvoll zugehört, auch wenn er ihr sein Leid klagte? Er hatte das Bedürfniß nach Freundschaft, nach einem Gemüthe, das all' sein Streben und Trachten, Freud' und Leid mit ihm theilte — und war sie nicht das Alles für ihn gewesen? Eine Purpurröthe bedeckte mit einem Male sein Gesicht. Er fragte sich selbst, ob es nur treue Freundschaft sei, die er von ihr verlangte — ob er sich nicht nur aus einer ge- 1 40 Praktische Mnschcn. wissen getränkten Eitelkeit an sie angeschlossen habe, und ob sein Herz von jedem anderen Gefühle frei sei? Unruhig bewegte er sich auf seinem Sessel hin und her. Er versank in tiefes, fieberhaftes Träumen. Auf der einen Seite standen sein Kummer, seine verschwundenen Illusionen, sein mißglücktes Plaidoyer; auf der anderen Seite sein Verhältniß zu der Gattin seines Chefs — zwischen Beidem flüsterte sein Gewissen leise, sehr leise, und beinahe unverständlich: Wehe Dir. wenn jemals ein Gedanke sündiger Leidenschaft in Dir entstände!----------------------------------------------------------------- Und wieder fuhr ein Schauer durch seine Glieder. Es war ihm, als ob er am Rande eines unergründliches Abgrundes stände. als ob er rettungslos verloren wäre, und rathlos preßte er seine Stirn in beide Hände und versuchte, seinen Gedanken eine andere Wendung zu geben. So kam die Stunde, in welcher er gewöhnlich sein Komptoir verließ. Noch zauderte er unentschlossen eine Weile; er hörte die Herren Buys und Andermans fortgehen, und noch immer faß er vor feinem Schreib-tifche. Er war gewohnt, mit Brandelaar in einem Wagen nach dem Marine-Hotel zurückzufahren. Brandelaar war erster Commis auf einem großen Handels- Praktische Menschen. 141 komptoir. Er besaß eine eigene denäi und hatte Alexander freigebig einen Platz darin angeboten, da er wohl begriff, daß es dem jungen Advokaten im Anfange schwer fallen würde, Wagen und Pferd zu kaufen. Alexander erinnerte sich jetzt, daß es hohe Zeit sei, zu gehen. Schnell stand er auf und ging nach Bran-delaar's Komptoir. Auf halbem Wege kam ihm dieser schon mit seinem denäi entgegen, nahm ihn auf und fuhr mit doppelter Eile nach dem Molenvliet. Man wechselte nur einige alltägliche Fragen. Brandelaar schien auch in Gedanken versunken, und darum sprachen Beide wenig. Allerlei verwirrte Ideen flogen noch immer durch Alexander's Hirn, aber ein einziger Gedanke beherrschte alle mit siegender Gewalt: er wollte diesen Abend Mevrouw Buys sprechen und ihr Alles erzählen. Seit er diesen Beschluß gefaßt und jede andere Bekümmcrmß in den Hintergrund gedrängt hatte, wurde er ruhiger und fing sogar an. bei dem Aussteigen am Marine-Hötel nach einigen Neuigkeiten aus der deau-inonäs zu fragen. „Ist wohl heute irgend ein Empfangsabend'." fragte er auf der Schwelle seines Zimmers. „Nicht, daß ich wüßte!" antwortete Brandelaar. „Samstagabend! Musik in der Concordia, voilk Wut!" Alexander verschwand grüßend in seinem Zimmer. 1 H.Z Praktische Menschen. Er warf sich dort auf sein Sofa, barg den Kopf in seinen Händen und weinte einige Augenblicke bitterlich. Aber das dauerte nur eine kleine Weile, bald richtete er sich auf, lächelte über seine Schwäche und versuchte einige Minuten zu ruhen. Darauf sing er an, sich mit der größten Sorgfalt anzukleiden, er hoffte Me-vrouw Buys zu Hause zu finden und dann, wie gewöhnlich, zusammen mit ihr nach der Musik zu gehen. Es war als ob sie ihm jetzt, wo alle seine Erwartungen von dem Prozesse so jämmerlich mißglückt waren, doppelt nothwendig geworden wäre, und sobald er mit gewisser Malice an das sonderbare Verhältniß zu ihr und seinem ersten Chef dachte, biß er sich heftig auf die Lippen und versuchte, einen fröhlichen Refrain zu wiederholen. Es war ihm gerade recht, daß die Glocke zum Diner rief, denn er fühlte sich mit sich selbst gar nicht zufrieden, er wollte Lebendigkeit, Zerstreuung, Bewegung um sich sehen. Es traf sich gerade, daß es bei dem Diner ganz besonders still und feierlich zuging. Seine beiden Nachbarn, Fräulein Jane Slijkers und der Herr Tirman Todding, waren abwesend. Er sprach mit erzwungener Fröhlichkeit einige Worte zu Brandelaar, der sich erinnerte, daß sein Freund diesen Morgen plaidirt hatte, und ihn scherzend nach dem Ausgange fragte. Alexan- Praktische Menschen. 1 43 fand den Muth, scherzend darauf zu antworten, und selbst eine komische Schilderung von der feierlichen Haltung der chinesischen Richter, und der mürrischen Aufmerksamkeit des IHak8a zu geben. Sobald die Mahlzeit abgelaufen war, lief er in die Vorgalerie und erwartete mit Ungeduld den Augenblick, in dem er sich in die Villa Buys begeben tonnte. Aber wie sehr er sich auch beeilt hatte, er kam doch zu spät. »5^01^3. saeälüi p6FÜ« — Wevrouw ist schon ausgegangen!) Das war Alles, was er von Damoen, dem Lampenbedienten, der feierlich auf den weißen Marmorstufen der Veranda saß, um eine senoetoe Inländische Cigarre) zu rauchen, vernehmen konnte. Sogleich beschloß er, Mevrouw Buys in der Nähe der Concordia aufzusuchen. Die Bewegung des Fah-rens, die frische Abendbrise, die lebendige Bewegung, die er überall auf seinem Wege nach dem Waterloo« platze bemerkte, brachten mehr Ruhe in seinen Ideengang. Wohl quälte ihn die Erinnerung noch, daß sein Probestück eine Niederlage gewesen war, aber er wußte sich zu seinem Vortheile zu überzeugen, daß die außergewöhnlichen Umstände, in denen er sich bewegte, die einzige Schuld an seinem Unglücke trugen. Bald war er an dem Gesellschaftsgebäude der Concordia angekommen. Die strahlende Erleuchtung der Samstagsabende 14H. Praktislbt MenWn. glänzte ihm schon von ferne entgegen. Die Klänge einer fröhlichen Ouvertüre begrüßten ihn auf dem Platze. Es schien an diesem Abende ein außergewöhnliches Interesse für die musikalische Soiree der wehrhaften Societät Concordia zu bestehen. Die ganze Straße neben dem Gebäude war mit Equipagen angefüllt, in denen die batavischen Damen-dsau-monäs, leise plaudernd oder in äaloe kar rüsiite nach der Musik lauschend, reichlich vertreten war. Es war sehr dunkel in dieser Allee, weil die dichten tropischen Bäume selbst den Schimmer des herrlich gestirnten Firmamentes ver« bargen, und nur der Lichterglanz, der aus dem Gesell« schaftsgebäude strömte, hie und da ein mattes Licht verbreitete. Alexander stieg aus seinem Miethwagen, und begann die Equipagen entlang zu gehen, um zu entdecken, ob Mevrouw Buys schon angekommen sei. Eine Zeitlang suchte er vergebens. Auf einmal stand er unerwartet neben dem wohlbekannten Wagen. Man hatte ihn nicht bemerkt, und darum verbarg er sich noch einige Augenblicke im schwärzesten Schatten, um zu sehen, wer mit Mevrouw Buys hergekommen sei. Hätte man in diesem dunkeln Winkel sein Gesicht beobachten können, so würde man wohl über den Ausdruck wilden Entsetzens erschrocken sein, der Plötzlich seine Züge entstellte. In dem Wagen zeigte Praktische Menschen. 1 H.H sich Mevrouw Buys mit zwei Damen Henkens. Die beiden Letzteren bewegten nur ihre Tücher und sahen gedankenlos umher. Aber am Schlage des Wagens, gerade an der Seite von Mevrouw Buys, stand ein junger Officier des indischen Lagers. Beide sprachen sehr lebhaft, obschon flüsternd und heimlich lachend. Der Officier hatte Alexandern den Rücken zugekehrt, so daß man nichts von seinem Gesichte erkennen konnte, aber es war sehr deutlich, daß er sich hier sehr wohl fühlte und sich im vertraulichsten Tone mit Mevrouw Buys unterhielt. Alexander hatte geraume Zeit nöthig, um sich zu fassen. Er ging in der Allee ein Stück zurück, verwies sich selbst seine Bestürzung, und versuchte schnell, gar nichts Besonderes darin zu finden, daß Mevrouw Buys mit dem einen oder andern Officier spräche. Als er sich zum zweiten Male dem Wagen näherte, war der Officier verschwunden. Mit erzwungener Fassung zeigte er sich am Wagen. „Ah, Herr Wierinx! Sind Sie da? Ich dachte wirklich, daß Sie für immer von der Welt Abschied genommen hätten!" Mevrouw Buys hatte: „Herr Wierinx" gesagt, und in einem unbeschreiblich spottenden Tone gesprochen. Alexander antwortete zögernd und erzählte die ganze Geschichte seines Plaidoyer. Indijcht Vibüolhtl. II. 10 1 H.6 Praktische Menschen. „Aber Sie hätten doch wohl gestern zum Empfangsabende bei Ruytenburg kommen können. So ein Plai-doyer kostet doch wirklich nicht so viel Zeit'." Und Alexander verdoppelte seinen Eifer, nm ihr zu beweisen, daß das Plaidoyer eine Lebensfrage für ihn geworden war. Er schlug den alten, vertraulichen Ton an, in dem er so oft zu ihr gesprochen hatte, da der kühle Ton von Mevrouw Buys ihn zum Rasendwerden marterte. Er strengte alle seine Beredsamkeit und Überredungsgabe an, um ihre unfreundliche Laune zu beschwören, er Plaidirte zum zweiten Male an diesem Tage, und es ist wohl nicht schwer zu entscheiden, welches der beiden Plaidoyers ihm am besten geglückt war. Mevrouw Buys hatte indessen trocken gelächelt, und während sie ihn mit ihrem Fächer leise auf die Finger tippte, sagte sie: „Nun gut! Erzählen Sie mir das ein anderes Mal. Haben Sie eine Neuigkeit von Van Spranek-huyzen?" „Van Spranekhuyzen?---------Ich habe ihn in der letzten Zeit aus dem Auge verloren. Er ist, glaube ich, aus dem Marine-Hotel ausgezogen." „Alte Neuigkeiten! Er hat wo anders Zimmer gefunden. Gestern Abend hat er wieder unausgesetzt Lucy Bokkerman den Hof gemacht. Ich muß wissen, wer Praktische Menschen. 1 47 das Iunkerchen ist, vor Allem, was mit ihm und meiner Gouvernante in Holland vorgefallen ist. Ich kann sie doch nicht selbst fragen, denn wir bleiben immer in der gehörigen Entfernung von einander. Aber Sie können das wohl für mich ausforschen, Wierin;! Thun Sie einmal Ihr Bestes, Sie werden mich damit sehr verpflichten!" Mevrouw Buys hatte wiederum nur „Wierinx" gesagt, sie sprach wieder mit demselben sanftflüsternden, schmeichelnden Tone, mit welchem sie oft so großen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Ihr Gespräch dauerte noch lange. Alexander dachte mit keinem Worte mehr an seine Enttäuschungen, er war ganz Ohr, und erfreute sich mit ungewohnter Lebhaftigkeit an der neuen Gunst, die ihm wieder rückhaltslos verliehen wurde. Man schied mit der Absprache, daß Alexander sein Bestes thun solle, genügende Berichte einzuziehen, und daß er am folgenden Tage zum Frühstück kommen solle, — Herr Buys war schon nach Buitenzorg gezogen. 10» 148 Praktische Menschen. X Worin Ulciander sich so gut als möglich seiner Uufgaße entledigt, Ffiiiilein Hicu VoWerman verschiedene Nale den Hops schültcN, und die Neugierde der Mevrouw Vu^» aus die linerwarlelste Veise ßesriedigt wird. Es war Sonntag früh, ungefähr um elf Uhr. In der penäoppo der Villa Buys herrschte die vollkommenste Ruhe. Auf dem Sofa finden wir die Herrin des Hauses, ebenso wie früher in ihrer Lektüre vertieft. Von Zeit zu Zeit gähnt sie aus Langeweile und schließt minutenlang die Augen. Sie ist in sehr übler Laune. Alle Bedienten haben es erfahren, gewiß nicht am Wenigsten Alima, ihre Kammerfrau, die dort am Boden niederkauert und zuweilen verstohlen das Gesicht ihrer Herrin belauscht. Seit einigen Tagen ist das kleine Mariechen kränklicher als zuvor. Mevrouw Buys hat sich die Mühe gegeben, persönlich nach der Kranken zu sehen. Aber das Kind hat wenig Freude bezeigt, als. sie eintrat. Es klagte, weinte, zeigte sich launisch, und wandte znletzt das Gesicht von ihrer Mutter ab. Fräulein Van Weeveren hatte der Kleinen so sanft uud überredend zugeflüstert, daß diese das matte Köpfchen Praktische Menschen. 1 49 wieder erhob, und während sie mit ihren mageren, gelben Händchen die Finger der Gouvernante umschloß, ihre Mutter mit dem vollen Unwillen eines verzogenen Kindes und der Verbitterung eines langen, ungeduldigen Leidens ansah. Auch Mevrouw Buys hatte versucht, ihrem Kinde etwas Tröstendes zu sagen, indem sie trocken sagte: „daß es Nichts zu bedeuten habe, daß es wohl bald wieder vorbeigehen werde"---------aber Mariechen hatte nicht auf sie gehört und nur Fräulein Van Weeveren in die schönen, dunkelblauen Augen gesehen. Zuletzt hatte Mevrouw Buys die Schultern gezuckt und sich unzufrieden entfernt. Warum sie unzufrieden war, wollte sie sich selbst nicht eingestehen. Sie hatte einen ganz besondern Widerwillen vor häßlichen und kranken Kindern, und dachte im Stillen ohne Skrupel, daß sie gar kein Talent dazu habe, sich mit all' der soesalii von Unwohlsein und Krankheit abzugeben. Und doch war sie neidisch auf die Gouvernante. Jeder konnte diesen Morgen vorzüglich bemerken, daß Mevrouw Buys sehr schlechter Laune war. Zuerst hatte Karl Befehl erhalten, die psnäoppo zu verlassen. Er wurde mit Sidin nach einem Zimmer in den Neben- 1 Soesah, Unruhe. 1 50 Praktische Menschen. gebäuden verbannt, und vergnügte sich dort, heimlich verbotene Früchte zu essen und eine aus seines Vaters Zimmer gestohlene Cigarre zu rauchen. Seine Mutter hatte indessen versucht, ihre Langeweile mit einem neuen Pariser Oktavbande zu todten; aber stets verfiel sie wieder in Bettachtungen, welche sie wieder nicht fröhlicher machten. Erstens brannte sie vor Neugierde, ausführlich zu wissen, wer Fräulein Van Weeveren sei. Buys hatte gesagt, daß sie aus einer sehr vornehmen Haag-schen Familie käme, aber Buys war immer so kurz angebunden, so gleichgiltig in dieser Art von Sachen, daß sie dadurch nicht viel klüger geworden war. Als Herr Van Spranekhuyzen erschien, hatte sie bald begriffen, daß sie nun den Faden der Geschichte in den Händen hatte, um so mehr, weilMoenah, die dados, ihr erzählt hatte, daß sie diesen Herrn und die Gouvernante zusammen an der Zimmerthür des Fräuleins in eifrigem Gespräch gesehen habe. Aber Beide vermieden soviel als möglich, mit einander zu sprechen, und obgleich es deutlich war, daß sie einander früher gekaunt hatten, so blieb es doch im höchsten Grade unerklärlich, warum sie einander auf so augenfällige Weise aus dem Wege gingen. Sie war nicht abgeneigt, zu vermuthen, daß Fräulein Van Weeveren mit ihrem glatten Gesichtchen eine abgerichtete uud ausgelernte Praktische Mlnschln. 1 3 l Kokette sei, die früher mit dem galanten Herrn Van Svranekhuyzen eine oder die andere Begegnung gehabt hatte, und gerade weil Beide so systematisch schwiegen, schien es ihr, daß ein wichtiges Geheimniß hinter dieser Geschichte liege. Anf der letzten Soiree bei Ruyten-burg, anf der Buys so albern gewesen war, das Fräulein mitzunehmen, hatte diese wieder lange Zeit mit dem Herrn Dubois, dem jungen paagschen Advokaten, geflüstert, und zwei- oder dreimal mit ihm getanzt. Dieser junge Herr schien auch mehr von ihr zu wissen, und obgleich sich Mevrouw Buys selbst offenherzig eingestand, daß sie den jungen Mann darum gar nicht liebenswürdiger fand, nahm sie sich doch vor, ihn bei der ersten Begegnung etwas mehr ». taire zu nehmen. Und darauf dachte sie über die Vergnügen des letzten Freitagabends nach, und langsam erstieg vor ihrer Phantasie das Bild eines jungen, gewandten Officiers mit feinem, blonden Knebelbarte. Der Lauf, den ihre Gedanken jetzt genommen hatten, schien sie etwas mehr zu befriedigen und in angenehmere Stimmung zu bringen ; sie schloß wenigstens die Augen, dachte eine kleine Weile nach und lächelte im Geheimen. Indessen kam Damoen langsam auf das Sofa zu uud wartete, bis seine Herrin die Augen öffnete. 1 5Z Praktische Menschen. Dann sagte er, daß tosnan' Wierinx vorgelassen zu werden wünschte. Mevrouw Buys gähnte erst, dachte dann einen Augenblick nach, und gab endlich sehr mürrisch Befehl, ihn herein zu lassen. Alexander trat mit einem sehr animirten Gesichte in die pen-äoppo. Der Auftrag, der ihm am vorigen Abend gegeben wurde, hatte ihn von neuem Eifer erfüllen lassen — er hatte sich sogleich an's Werk gemacht, und kam jetzt, um von der Einladung zum Frühstück Gebrauch zu machen und seine ersten Resultate mitzutheilen. Glücklicherweise hatte er dadurch die Enttäuschung vom vorigen Tage weniger peinlich empfunden. Die Idee, ein Verlangen von Mevrouw Buys befriedigen zu können, hat ihn mit Begeisterung erfüllt, um so mehr, da er innerlich besorgt ist, daß seine zufällige Abwesenheit vom Schauplatze der batavischen Festlichkeiten ihm ihr Wohlwollen etwas entzogen habe. Mevrouw Buys hat sich träge erhoben und reicht Alexander« mit einer gewissen Nonchalance die Hand. Nach der ersten Begrüßung nehmen Beide auf dem Sofa Platz und Alexander ruft fröhlich aus: „Ich bringe Ihnen viel Neues, Mevrouw!" 1 Toewan, Herr. Praktische Nenschcn. > gz Mevrouw Buys nickt steif und lächelt zum ersten Male. „Gestern Abend, als ich Sie verließ," fährt Alexander fort, ging ich in die Societät. Nach einigem Herumschanen fand ich Tirman Todding und den alten Herrn Slijkers, welche mit der größten Aufregung zusammen sprachen. Sie saßen ziemlich versteckt in einer Ecke, lachten immer laut auf, und hatten einige Flaschen Champagner vor sich stehen!" „Und haben Sie Ihnen etwas neues von meiner Gouvernante erzählt?" Alexander sah Mevrouw Buys enttäuscht und erschrocken an. Ihre Stimme klang so trocken, so höflich kühl, daß er alle seine Luftschlösser über ihre Zufriedenheit mit seinen Neuigkeiten zusammenfallen sah. Erröthend fuhr er fort: „Sie haben mir wenigstens wichtige Dinge mitgetheilt. Tirman Todding geht über acht Tage mit der Mail nach Holland, aber wird erst noch mit der liebenswürdigen Jane Slijkers in den heiligen Stand der Ehe treten!" „So! — und weiter?" „Und weiter habe ich noch eine ausführliche Aufklärung über die frühere Verbindung Van Spranekhuyzen's mit Fräulein Jane." 1 zz Praktische Menschen. Die Sonne brach jetzt ein wenig in den Zügen der Mevrouw Bnys durch. Sie nährte eine außerordentliche Neugierde für alle oaneans, aber hatte dieses Mal ein besonderes Interesse an der Erzählung, da sie Lucy Bokkermam! fortwährend gegen den Junker einzunehmen gesucht hatte, den sie vorlänfig haßte, weil er mit ihrer Gouvernante in einer geheimnißvollen Beziehung zu stehen schien. Und Alexander bemühte sich, die Erzählung so spannend als möglich zu machen. Obgleich Mevrouw Buys es dießmal für gut fand, nichts davon merken zn lassen, so fand sie doch den Inhalt von Alexander's Mittheilung außerordentlich unbedeutend, da sie den Vertraulichkeiten von Männern wie Slijkers uud Tirman Todding nur halb Glauben schenkte. Es zeigte sich nun, daß Van Spranckhuyzen vom Anfange an eine schweigende Bewunderung für Fräulein Jane au den Tag gelegt, daß die junge Dame Alles sehr ruhig hingenommen, daß der Junker sich mehr und mehr bei dem alten Slijker einzudringen versncht, ganze Abende bei ihm zugebracht, und sich fleißig im Ecarte geübt hatte. Als der Samarangsche I'oko-Besitzer endlich heransmerkte, daß er auf die Dauer weniger glücklich war, als Svranekhuyzen, als es seiner Tochter je länger, je deutlicher wurde, daß es ihrem feurigen Bewunderer bloß darum zu thun war, eine Praktische Menschen. 1 55 Weile seine Lieblingsrolle von Lovelace zu spielen — da hatten Beide ihre Geduld verloren, zumal als er an einem gewissen Abende die Unverschämtheit so weit getrieben hatte, um — nachdem er bis tief in die Nacht hinein mit dem Vater gespielt, und ihm sogar ansehnliche Summen abgewonnen hatte — still in das Zimmer der Tochter zu drängen. Fräulein Jane hatte ihm sogleich eine tüchtig gewürzte Strafpredigt gehalten, die so guten Erfolg hatte, daß er sich in aller Stille wie ein ertappter Verbrecher aus dem Zimmer entfernte. Danach hatte er seinen Einzug in das Java-Hotel genommen, und seit der Zeit war nun nichts mehr von ihm gehört worden. Aber der galante Tirman Todding, der seit geraumer Zeit ein freundliches Lächeln der heldhaften und schwergeprüften Jungfrau erbettelt hatte — Tirman Todding hatte in einein vertraulichen Augenblicke dem alten Slijkers Alles anvertraut, der ihn sogleich zum Schwiegersohn annahm, und auch das Jawort von den Lippen seiner Tochter zu entlocken wußte mit der Versicherung, daß sie binnen vierzehn Tagen mit dem sterbensverliebten Controleur iu die Ehe treten würde, wenn man diese wichtige Feierlichkeit in diesem Zeitraume genügend vorbereiten könne. „Nun wissen Sie Alles, Mevrouw!" endigte Ale- 1 gß Praktiscbc McnMn. zander, „was ich gestern hörte; ich hielt es für interessant genug, um es Ihnen sogleich zn erzählen!" „Ausgezeichnet, Wierinx! Wenn Jeder so schwatzte, als der alte loko-Besitzer und der unglückliche Tirman Todding, dann wüßten wir bald mehr!" „Alles ist mir unter dem Siegel der strengsten Verschwiegenheit mitgetheilt, und ich glaube selbst, daß, wenn die Herren nicht ein wenig erregt gewesen wären, ich wohl mich keines so umfassenden Vertrauens zu rühmen gehabt hätte!" „Nnd gleich kommen Sie, um mir Alles wieder zu erzählen." Mevrouw Buys sah Alexander fortwährend an. Er fühlte, daß sein Gesicht wieder auf recht lächerliche Weise purpurroth wurde. Einen Augenblick heftete er seine volle Aufmerksamkeit auf die Falten seiuer weißen Weste und seines weißen Beinkleides, zupfte etwas an seinem Kragen, und spielte verlegen mit dem Taschentuche. Endlich sah er auf und sagte zögernd: „Ich kann Ihnen doch Alles anvertrauen, nicht wahr? Ich betrachte meine Geheimnisse als die Ihrigen, Es thut mir leid genug, daß ich nicht mehr weiß." „Es ist für heute genug! Ich will es als Sühne gelten lassen, wodurch Sie Ihre Versäumniß vom Freitag ein wenig wieder gut gemacht haben." Praktische Menschen. 1 g7 „Aber ich mußte für mein erstes Plaidoyer arbeiten, es hat mir aber wahrlich nicht viel geholfen!" Und eilig begann nun Alexander eine warme Beschreibung aller seiner Enttäuschungen. Mevrouw Buys hörte mit vergnügtem Lächeln zu. Sie hatte ihre üble Laune durch Alexander's Gegenwart vollkommen vergessen, er hatte durch sein Gespräch beinahe ihre Langeweile vertrieben, darum konnte sie nun wohl ein wenig seine Klagen anhören, das war nur ein gewöhnlicher Beweis der Dankbarkeit. „Sie sind zu schnell niedergeschlagen, Wierinx;" fing sie endlich an. „Die ganze Sache hat nichts zu bedeuten, ein andermal plaidiren Sie etwas kürzer, und dann wird Buys Sie wohl loben, voila wut!« „Ich hoffe, daß Sie die Wahrheit sprechen. Mevrouw! Sie geben mir meinen ganzen alten Muth wieder zurück. Ich bin Ihnen unendlich verpflichtet!" Es klang eine leise Rührung aus Alexander's Stimme, die mehr ausdrückte, als er selbst vermuthete. Mevrouw Buys nickte ihm aufgeräumt zu, und streckte mit einer gewissen Vertraulichkeit ihre linke Hand nach ihm aus. Alexander ergriff sie schnell und führte sie bebend an seine Lippen. »Toewan Ruytenburg sama nonna Bokkerman !« (Der Herr Ruytenburg und Fräulein Bokkerman!) 1 58 Praktische Menschen. sagte Damoen in diesem Augenblicke, indem er plötzlich vor ihnen erschien. Mevrouw Buys winkte bejahend und stand ohne merkliche Bewegung auf. Alexander folgte in der äußersten Verwirrung ihrem Beispiele und ging nach der anderen Seite der psnäoppo. Als sich die beiden neuen Besucher zeigten, empfing sie Mevrouw Buys mit der lebhaftesten Freundlichkeit, umarmte Lucy Bokkerman mit fröhlichen Ausrufungen, und erzählte dem Herrn Ruytenburg ausführlich, welche Gründe den Hausherrn nach Buitenzorg gerufen hatten. Man fand es in der penäoppo zu warm, und auf Anrathen von Mevrouw Buys ging man in die innere Galerie. Alexander schloß sich der Gesellschaft sehr befangen an, und fing sogleich mit dem Herrn Ruytenburg ein nervös lebhaftes Gespräch an, dessen einzelnen Worten Mevrouw Buys aufmerksam folgt, obgleich sie scheinbar sehr vertraulich mit ihrer jungen Freundin zu schwatzen scheint. Im Anfange hat sie sich einmal nach dem jungen Manne umgeschaut, und sich mit kaum merklichem Zorne auf die Lippen gebissen, jetzt spricht sie leise und vertraulich mit Lucy, der sie flüsternd Vorwürfe macht, auf dem Balle des Herrn Ruytenburg viel zu viel der Unterhaltung des Junker von Spranek-huyzen gelauscht zu haben. Fräulein Lucy schüttelt den Kopf mit dem dümmsten Praktische Menschen. > 39 Gesichte der Welt, lacht beständig sehr erregt und ohne Anlaß, und lobt mit der naivsten Offenheit die guten Eigenschaften des Junkers. Mevrouw Buys fährt fort, sie zu ermähnen, sagt, daß sie schweren Verdacht gegen Van Sftranekhuyzen habe, daß sie mehr wisse, als sie sagen wolle, doch daß Lucy nur einmal gut aufmerken solle, was der junge Wierinx sage, wenn man ihn eben beim Frühstück über das Eine oder das Andere fragen würde. Aber Lucy schüttelt nochmals den modisch frisirten Kopf mit den diamantncn Haarnadeln und wirft Alexander einen herausfordernden Vlick zu. Dieser hat sich indessen wieder ganz gefaßt, und macht dem Herrn Ruytenburg eine lange Erzählung über die Verhältnisse im Mutterlande. Der Letztere ist ein ganz mageres, kleines, vierzigjähriges Männchen mit pergamentfarbigen! Gesichte. Der Herr Ruytenburg hat auch noch übcrdieß den Namen des spaßhaftesten und fröhlichsten Gesellschafters der ganzen batavischen, fashionable« Welt. Im Erzählen von echt indischen Anekdoten übertrifft er bei Weitem Herrn Cornells Andermans. Als Ceremonienmeister ist er bei Festen von unschätzbarem Werthe. Seit Jahren ist er Com-missair bei der Officiergesellschaft Concordia, und sobald etwas Außergewöhnliches von Festlichkeiten oder /> 6ft Praktische Menschen. ein Galaball Statt finden soll, tritt er in der vollen Kraft seiner Unersetzlichkett auf. Herr Ruytenburg ist überdieß ein stets seltener werdendes Beispiel eines lustigen ouäFllrt^ dessen großes Vermögen ihn nicht dahin gebracht hat, in Langeweile, Unzufriedenheit und Stumpfsinn zu verfallen. Von angesehener Familie, kam er mit einflußreichen Empfehlungen aus dem Mutterlande an, obschon das Gerücht lief, daß er seine Jugend nicht in der frömmsten Enthaltsamkeit zugebracht habe. In seiner kleinen Stellung an einer der innern Residentschaften, wußte er sich bei seinew Residenten so angenehm zu machen. daß dieser bald keinen Anstand nahm, ihm eine seiner legitimen hellbraunen Töchter zur Frau zu geben. Bei dem Tode seines Schwiegervaters erbte er ein echt indisches Vermögen, ließ sich in Batavia nieder und assocnrte sich mit einem juugen renommirten Handlungshause, aus dem er fortwährend die ansehnlichsten Gewinne zog. Nur eine Schattenseite war in seinem Leben. Seine Gattin war von Sitten uud Gebräuchen echt Iavaisch, kleidete sich immer ungern in europäisches Costüm, und sprach noch immer sehr schlecht holländisch. Seine l OuäßÄi-t — Jemand dcr lange in Indien gelebt, und dort sein Glück gemacht hat. Praktische Menschen. 1 ß z Lieblingsidee, nach Holland zurückzukehren, hatte er schon vor Jahren aufgegeben, da Mevrouw Ruytenburg Nervenzufälle bekam, wenn er dieß nur berührte. Er hatte sich nach und nach in sein Schicksal gefunden, und hatte sich nur die Freiheit vorbehalten, seine holländische Unterhaltungsgabe unbeschränkt glänzen zu lassen, wenn auch Mevronw Ruytenburg durch ihren natürlichen Abscheu vor allen Äußerungen der echt holländischen Welt nur selten bei seinen Triumphen gegenwärtig war. Für den Junker Van Spranekhuyzen hatte er eine außerordentliche Sympathie gefaßt. In früheren Jahren hatte er dessen Eltern gekannt. Er erinnerte sich der festlichen Einladungen auf ihrem Landhause in Gelderland, und wie sie ihm einen Brief mitgegeben hatten, der ihm nicht wenig zur Erlangung seiner ersten Stelle behülflich gewesen war. Darum hatte er auch Alles gethan, um Van Spranekhuyzen eine Stellung bei dem Negierungs-Secretariat zu verschaffen, die zwar gering besoldet war, aber doch gute Aussichten auf baldige Beförderung bot. Ferner hatte er seine kleinen Privatbemerkungen gemacht, und als der Herr Bokkerman mit seinen Töchtern nach Vuytenzorg zurückkehrte, hatte er seine Gattin, die mit der Familie Bolkerman verwandt war, leicht zu überreden gewußt, Fräulein Lucy, die sich Indisä'c VibUolhcl. II. 11 1 6 Z» Praktische Menschen. so ausgezeichnet in Batavia amüsirte. auf unbestimmte Zeit zu sich zu bitten. Während nun dieser Herr lebhaft mit Alexander über Holland spricht, erwacht sein komisches Talent, und er macht allerlei lustige Mittheilungen ans seinem früheren Leben in Amsterdam, dem Haag und öeiden, die bald zu Erzählungen über seinen Aufenthalt in Madiven und Rembang übergehen, welche Alexander mit höflicher Aufmerksamkeit, aber mit einer gewissen nialaiss verfolgt. Mevrouw Buys hat Champagner — den ostindischen Morgenwein — anbieten lassen, und hat sich von Zeit zu Zeit in das Gespräch der Herren gemischt. Bald ist die lkleine Spannung, die anfänglich für einige Augenblicke geherrscht hat, vollkommen verschwunden, und man führt ein lebhaftes Gespräch, in welchem die laute Stimme und das herzliche Gelächter des lustigen Ruytenburg vorherrschend zu hören sind. In diesem Augenblicke bringt ein Bedienter seiner Herrin eine Karte mit dem Namen des Mr. Andre Antoine Guirault Dubois. Mevrouw üderlegt einen Augenblick, und beauftragt dann dem Bedienten, den neuen Besucher eintreten zu lassen. Bei semer Ankunft herrscht zuerst feierliche Steifheit, aber da er fchon der ganzen Gesellschaft bekannt ist, fängt man bald wieder Praktische Menschen. 1 ßI an, in den früheren Ton zurückzufallen. Dubois fühlt sich einigermaßen enttäuscht, daß er den Herrn Buys nicht antrifft; sein junges Advokatenherz wurde zu dem Manne hingezogen, der in Batavia und beinahe in ganz Indien einen so großen Ruf der Tüchtigkeit hat. Aber es lebt noch eine andere Hoffnung in seinem Herzen, und darum nimmt er in der fröhlichsten Stimmung Theil an dem Raketenfeuer von Witzen, womit Herr Ruytenburg seine Zuhörer ergötzt. Im Allgemeinen kann man annehmen, daß sich die ganze Gesellschaft in einer sehr zufriedenen Stimmung befindet'. Alexander, weil er auf's Neue von Mevrouw Buys zu Gnaden angenommen worden ist; diese selbst, weil sie ihre verdrießliche Laune vom Morgen ganz vergessen hat; Herr Ruytcnburg, weil Jemand über ihn lacht; Dubois, weil er Jemand erwartet, der noch kommen wird, und Lucy Botkerman, weil Niemand auf sie Achtung giebt. Mevrouw Buys ladet ihre Gäste zum Frühstück ein. Ruytcnburg bietet der Wirthin seinen Arm mit einer gewissen Zierlichkeit an, Alexander und Lucy folgen, Dubois sieht sich heimlich nach allen Seiten um, und geht mechanisch hinter den beiden Paaren her. Als man an der Tafel sitzt, kommt Moenah, um Mevrouw Buys Etwas leise in's Ohr zu sagen. Fräulein Van Weeveren wird nicht am Frühstückstische erscheinen, da 164 Praktische Wuschen. die kleine Kranke unwohler ist, als am Morgen. Zwischen Lucy und der Wirthin werden hierauf einige Worte gewechselt, welche den aufmerksam zuhörenden Dubois in ein plötzliches Stillschweigen versenken. Anfangs wird sehr wenig bei Tische gesprochen, Ruytenburg und Mevrouw sind Beide mit ihrem Reis beschäftigt, Alexander wechselt einige Worte mit Dubois, welche dieser zerstreut beantwortet, Lucy sieht lächelnd vor sich hin. „Es war recht animirt am Freitage Abend'." richtet endlich Ruytenburg das Wort an Mevrouw Buys. „Ein sehr angenehmer Abend! Ich habe mich sehr gut amüsirt!" „Spranekhuyzen und Reeve haben ihr Möglichstes gethan!" „Reeve ist ein angenehmer Mensch, aber von diesem Herrn Van Spranekhuyzen halte ich nicht viel. Nicht wahr, Lucy?" Lucy schüttelt ein wenig den modern frisirten Kopf und lächelt, da sie nichts Anderes zu thun weiß. „Aber warum nicht?" fragt Ruytenburg. „Es ist ein sehr amüsanter Mensch. Ich wollte, daß er Ihnen einmal das neue französische Lied vorsänge: »J'ai un pied, qui r'mue!« Praktische Mcnsckcn. lg5 Geistreich, lustig, iii-8t i-ats! Ich bin immer froh, wenn er kommt!" Und der fröhliche Gesellfchaftsmenfch legte sich hintenüber in feinem Stuhle, und wiederholte leise die Melodie von »1s pieä, Hui r'inuk,« während er mit seinem Messer den Takt schlug. „Was mich betrifft, ich habe diesen jungen Mann gar zu geheimnißvoll gefunden!" antwortete Mevrouw Guys. „Stellen Sie sich vor; den ersten Abend, den er hier im Hause zubringt, schleicht er sich aus der Gesellschaft weg, und Moenah hat ihn in einem sehr intimen Gespräche mit meiner Gouvernante gefunden!" Alexander sieht etwas erstaunt auf. „Nnn, dann hat er Fräulein Van Weeveren vielleicht in Holland gekannt! On est 1s in»1?« ruft Ruytenburg entschuldigend aus. „Ja, aber darum braucht er doch nicht in aller Stille nach ihrem Zimmer zu schleichen! Und dann ist noch eine solche alberne Geschichte im Marine-Hotel vorgefallen. Erzählen Sie uns das noch einmal, Herr Wierinx!" Alexander sieht Mevrouw Buys mit der größten Verwunderung und Verlegenheit an. Ruytenburg wendet sich zu Alexander und runzelt die Stirn. Lucy schüttelt leise den Kopf. Endlich fühlt Alexander, daß 1 66 Praktische Ucnschcn. die Aufmerksamkeit Aller auf ihn gerichtet ist, und daß man auf ihn wartet. Er erzählt darum in möglichster Kürze, wie Spranekhuyzen Jane Slijkers den Hof gemacht habe, und wie er aus verschiedenen Gründen abgewiesen worden sei. „Aber ich glaubte, daß Sie ein Freund von Van Spranekhuyzen wären!" fällt Ruytenburg in schroffem Tone Alexandern in's Wort. „Es war mein Reisegefährte, später haben wir einander wenig gesehen." „Das scheint so'." Ruytenburg spricht diese Worte kühl und scharf aus. Darauf wendet er sich zu Mevrouw Buys und sagt mit Plötzlich veränderter Stimme 'freundlich und wohlwollend zu ihr: „Es kommt mir vor, als ob die Famile Slijkers allerhand unpassende Gerüchte verbreite. Ich kenne Van Spranekhuyzen und seine Famlie als außerordentlich anständige Menschen; man hat sich sicher ein Vergnügen daraus gemacht, um ihn in ein lächerliches Licht zu stellen, da er sich mit der Gesellschaft im Marine-Hotel nicht gemein machen wollte!" „Wer weiß, ob er sich nicht auch aus diesem Grunde von meiner Gouvernante entfernt hält. In meiner Gegenwart scheuen sie sich. das leiseste Wort zu ein- Praktische Reufchtn. 167 ander zu sagen, und doch scheint er sie in Holland gekannt zu haben. Aöer die Neigungen können freilich wechseln'." „Mit Erlaubniß, Mevrouw! da bin ich nicht einig mit Ihnen!" Der Sprecher dieser Worte war Mr. Andre An-toine Guirault Dubois. Seine bleiche Wange war durch eine flüchtige Rothe der Entrüstung gefärbt. Er hatte dem Gespräche aufmerksam zugehört, und so oft Mevrouw Buys in spottendem, beinahe verächtlichem Tone von „ihrer Gouvernante" und von Van Spranek-huyzen gesprochen hatte, war seine Aufmerksamkeit verdoppelt und sein Zorn gestiegen. Aber endlich fühlte er sich nicht länger im Stande, länger zu schweigen; bei den Worten von Mevrouw Buys erhob er heftig den Kopf, und mit erzwungener Ruhe, die seine Bewegung deutlich verrieth, sagte er: „Mit Erlaubniß, Mevrouw, da bin ich uicht einig mit Ihnen'." „So, mein Hen?" „Und zwar, weil es noch nicht entschieden ist, wer sich gemein machen würde, Fräulein Van Weeveren oder dieser Herr Van Spranekhuyzeu! Wenn Beide vermeiren, sich zu sprechen, so können dafür noch andere, wichtigere Gründe bestehen." 1 68 Praktische Menschen. „Sie scheinen sehr eingenommen für meine Gouvernante zu sein!" bemerkte Mevrouw Buys, die still vor sich hinlächelte und Ruytenburg einen Wink gegeben hatte, sie sprechen zu lassen. „Sie haben sie sicher früher gekannt, und können uns vielleicht Einiges aus ihrem Leben mittheilen." — „Ich würde kein Recht haben. Ihnen Etwas aus ihrem Leben mitzutheilen, wenn sie mir dasselbe nicht selbst gegeben hätte!" sprach Dubois jetzt sehr ernst und das Haupt mit so vieler Noblesse aufrichtend, daß Jeder sich unwillkürlich gedrungen fühlte, ihn mit theilnahmsvollcr Aufmerksamkeit zuzuhören. „Ich bin von jeher der Freund ihrer Familie gewesen und kann Ihnen nachdrücklich versichern, daß diese zu den ältesten und edelsten Hollands gehört. Als diese Familie durch Unglücksfälle und Elend betroffen wurde, hat sie keinen Augenblick gezögert, so zu handeln, wie gewiß nur Wenige an ihrer Stelle gehandelt haben würden. Sie, das hochgeborne Fräulein, hat bewiesen, daß sie die stolze Devise des alten französischen Adels begriff: »Lou 8anF N6 pent uißntii!« Sie hat eine Stelle in Ihrem Hause als Gouvernante angenommen, Mevrouw, weil sie lieber arbeiten wollte, als von der Gnade und dem Mitleiden eines geizigen, steinalten Oheims abzuhängen. Es wundert mich nicht, daß Sie Praktische Ncnschcn. ' ^9 so wenig von ihrem Zustande und ihren früheren Schicksalen unterrichtet sind. Eine gewisse Scheu, ein leicht zu entschuldigendes Überbleibsel des alten Familienstolzes, die geringe Annäherung, die hier gewöhnlich zwischen einer neuen Gouvernante und einer indischen Familie besteht, haben sie verhindert, sich jemals darüber auszusprechen. Sie war selbst ängstlich, daß Jemand den Titel Fräulein Van Weeveren mit dem ihr mehr zukommenden: Baronesse vertauschen möchte!" Es folgte ein Augenblick allgemeinen Stillschweigens ; Mevrouw Buys kreuzte die Arme über die Brust und murmelte: „Großer Herr! Eine Baronesse! Das fehlte nur noch!" Ruytenburg schob seinen Stuhl ungeduldig hin und her und sagte endlich sehr verstimmt: „Aber, Herr Dubois, mit dem Allem haben Sie uns noch nicht erklärt, warum Ihre Baronesse und unser Van Spranekhuyzen einander ans dem Wege gehen." Der junge Advokat erhob wieder den Kopf, sein Gesicht war in diesem Augenblicke todtenbleich geworden. Schnell entschlossen sagte er: „Es wäre mir angenehmer gewesen, die Sache ganz ruhen zu lassen. In Holland kennt Jeder die 170 Praktische Menschen. Geschichte, und es würde mir im Interesse des Fräuleins Van Weeveren sehr angenehm sein, wenn man so wenig als möglich von ihr spräche." „So, aber ich habe niemals Etwas davon gehört, und da ich Van Spranekhuyzen als anständigen Menschen hochachte, möchte ich wohl wissen, was"--------- „Die Sache ist einfach, Herr Ruytenburg'. Er war ein halbes Jahr mit dem Fräulein verlobt, welche er sehr reich wähnte, wie damals Jedermann dachte. Als es sich nach dem Tode des Barons Van Weeveren-Benscoop herausstellte, daß diese Erwartung m?ge-gründet war, hat er sie eben ganz einfach ihrem Schicksale überlassen." Und wieder schüttelte Fräulein Lucy Bokkerman sehr ernsthaft ihren Kopf. Als Mevronw Buys eine halbe Stunde später in ihr Boudoir trat, fand Alima, daß sie noch ebenso übellaunig und verstimmt war, als am Morgen. „Eine Baronesse!" sagte sie laut. „Nun, mir ist es recht! Ich werde mich nicht darum geniren! Der Van Spranekhuyzen gefällt mir, aber Wierinx ist ein Tölpel!" Praktische Menschen. ^74 XI Von« sich die Mitglieder der Concordia ßei einem tde änu8llnt ße- lustigen, Alexander sich mehr nnd mehr in Verlegenheiten stürzt und Herr Anus einen sehr schnellen snlschlnst fastt. Sechs Tage waren verstrichen. Ungefähr acht Uhr Abends — es war wieder Samstag — rollte eine ununterbrochene Reihe Wagen und denäie» nach dem Waterlooplatze. Die Gesellschaft Concordia gab den Mitgliedern und ihren Damen ein tke äaQ8Äiit. Wie immer schien heute wieder eine große Aufregung unter den batavischen deaii-monäs zu herrschen über den anziehenden, obgleich nicht mehr neuen Genuß eines Balles. Die weite Vorgalerie der Societät war schon mit einer Schaar Herren angefüllt, die ihre makellos weißen Handschuhe behutsam anzogen und bereit standen, die ankommenden Damen hinein zu führen. Schon zeigte sich die Blüthe der schönen Welt und schwebte am Arme von dienstfertigen Commissairen oder hülfreichen zweiten Lieutenants hinein. Der eigentliche Ballsaal der Concordia ist größer, als die größte 1,611601,90 des größten herrschaftlichen 172 Praktische Rtnschln. Gebäudes. Es ist ein weitausgedehntcr, riesiger Marmorsaal, mit glänzenden, krystallenen Lüstres, mit Sei-tengalerieen, welche die frische Kühle des Abendwindes hineinführen. Militainnusitchöre lassen schon ihre fröhlichsten Weisen erschallen. Jeden Augenblick treten neue, schöngeschmückte Tänzerinnen in den Saal. Schon füllen sich die Sofas an den Wänden mit einer Blumenlese batavischer Schönen, obwohl nicht unbemerkt bleibt, daß der eigentliche Kern der Elite nur durch ihre Abwesenheit glänzt. Am obern Ende des Saales scheinen einige Ehrensitze für die vornehmsten Damen rcscrvirt zu sein. In der Nähe dieser Stelle, die schon ganz mit einer eifrig plaudernden Menge angefüllt ist, befindet sich das Sofa, auf dem Mevrouw Buys an diesem Abende Platz genommen hat. Sie ist von einer zahlreichen Menge dienstbereiter Cavaliere umgeben. An ihrer Seite auf dem Sofa sitzt Lucy Bokterman. Beide prangen in großer Gala. Mevrouw Buys trägt ein rosenfarbenes, ungemein tief ausgeschnittenes, mit Spitzen garnirtes Ballkleid. An ihrem Halse erglänzt eine Schnur Perlen mit diamantnem Schlosse. Flüsternd spricht sie zu einem jungen, hübschen Lieutenant der indischen Ca-valerie, der, zierlich gegen das Sofa gelehnt, seinen feinen, blonden Knebelbart zu ihr neigt. Er widmet Praktische Menschen. 473 zwar Allem, was sie zu ihm spricht, die verbindlichste Aufmerksamkeit, aber findet dabei doch Gelegenheit, seinen zahlreichen Bekannten, die vorüberströmen, fröhlich zuzulächeln. Ein corpulenter Capitain, der als ein boshafter Spötter bekannt ist, erzählt den Umstehenden, daß der junge Reeve eben ein besonderes Studium aus den mageren Schultern der Mevrouw Buys und den colossalen äito des Fräuleins Bokkerman macht, dessen Ergebnisse so wunderbarer Art seien, daß er nicht aufhörte, fortwährend darüber zu lachen. Lucy hat ein weißes leichtes Ballkleid erwählt, das sehr reich mit dunkelrothen Rosen und grünen Zweigen übersät ist. Sie hat ihreu ganzen Vorrath goldner Armbänder zur Schau gestellt, — ihre starken, etwas gar zu demokratisch rothgefärbten Arme fallen dadurch nur noch mehr in's Auge. Neben ihr stehen Ruyten-burg und Van Spranekhuyzen in sehr vertraulichem Gespräche. Der Letztere ist wiederum sehr fein; fein schlichtes, hellblondes Haar ist auf der Mitte des Kopfes gescheitelt, während er seine weißen Zähne stets vortheilhaft zu zeigen weiß. „Ich will Dich nun ganz mit ihr versöhnen!" fährt Ruytenburg fort. „Sie war durch das dumme Geschwätz Deines Freundes Wierinx gegen Dich eingenommen." 174 MktWc Menschen. Van Spranekhuyzen lacht sehr einnehmend und läßt die ganze Batterie seiner weißen Zähne sehen. „Komm, Eduard, wir haben sie zu unsern bevorstehenden Festen nöthig. Es ist eine charmante Frau! Frage sie um einen Tanz!" „Ja, aber die Gouvernante?" „Die kommt heute Abend sicher nicht, und Du begreifst wohl auch, daß die uns nicht hindern wird." „Ich bilde mir immer ein, daß sie Lucy gegen mich einnimmt!" »N0N86N8! Du mußt doch wissen, daß die Baronesse, nach Allem, was zwischen euch Beiden vorgefallen ist, zu stolz ist, um jemals auch in der Ferue nur darauf anzuspielen. ^.Ilons! 1e pieä, yui r'mue!« Und darauf traten beide Herren auf Mevrouw Buys zu. Erst wurde geheimnißvoll geflüstert, und Ruy-tenburg versicherte, während der Junker eine Verbeugung des blonden Schnurrbartes beantwortete, daß er Alles untersucht habe, und daß daraus erhelle, Van Spranekhuyzen habe sich in diesem Falle ganz als Gentleman gegen Fräulein Van Weeveren-Benscoop benommen. Mevrouw Buys sieht zerstreut aus und meint, daß man von der ganzen Sache nicht so viel Notiz neh-nem müsse. Fräulein Van Weeveren hätte niemals Praktische Menschen. 17 5 darüber gesprochen, der lächerliche Dubois habe die Geschichte auf's Tapet gebracht, dächte gar nicht daran, von der Sache Notiz zu nehmen, und Niemand könne sie je dazu zwingen, das Fräulein Baronesse zu nennen. Van Spranekhuyzen riß nun seine halbgeschlossenen Augen so weit als möglich auf, und prä-sentirte Mcvrouw Buys seine weißen Zähne mit der Bitte um einen Tanz. Mevrouw Buys wehte vornehm mit dem kostbaren Fächer, so daß alle die vielfarbigen Marquischen, die daranf gemalt waren, dem Junker ihre hohe Zustimmung zuzuwinken schienen. Es folgte ein sehr belebtes Gespräch, bei dem Mevrouw Buys im Stillen zu der Überzeugung kam, daß sie niemals gedacht hätte, in Van Spranekhuyzen einen solchen angenehmen Menschen zu finden. Und die Marquischen tanzten auf und nieder, und Van Spranekhuyzen stand in der elegantesten pose und ließ seine Zähne glänzen. Am Eingänge des Vallsaales, unter eine Menge Officiere in großer tenue, die auf Freunde warteten, welche sie den tanzlustigen Schönen vorstellen sollten, stand auch Alexander seit einiger Zeit. Sein Auge schweifte unruhig rundherum, und seine Wangen färbte etwas mehr als die gewohnte Rothe. Er hatte eine Woche in der reinigendsten Spannung durchlebt. Seit 176 Praktische Wcnscken. vorigem Sonntag hatte er Mevrouw Buys nicht gesehen. Vergebens suchte er sie bei den gewohnten reunion» der batavischen Welt. Herr Buys war erst am vorigen Tage aus Buitenzorg zurückgekehrt, aber das konnte die Ursache ihrer Abwesenheit nicht sein. Eine geheime Überzeugung sagte ihm, daß er an jenem letzten Sonntagmorgen eine mehr oder weniger sonderbare Rolle gespielt habe. Aber Mevrouw Buys hatte ihn selbst aufgefordert, die Geschichte von Van Spra-nekhuyzen zu erzählen — er war sehr verlegen darüber gewesen, aber hatte keinen Augenblick daran gedacht, die Aufforderung zurückzuweisen. Noch am selben Morgen hatte sie beinahe vergessen, ihm die Hand bei'm Abschiede zu reichen; und doch hatte sie keinen Grund zur Unzufriedenheit. Die ganze Woche hindurch quälte und verfolgte ihn dieser Gedanke. Mit der größten Anstrengung war es ihm doch nicht gelungen, denselben zu vertreiben. Er verwies sich selbst seine sonderbare Sorge, fortwährend machte er selbst die härtesten Bemerkungen über seine eigne thörichte Unruhe, aber immer wieder kehrten seine Gedanken auf diesen Gegenstand zurück, und er flüsterte still zu sich selber: „Warum sollte sie böse sein? Sollte sie wirtlich böse sein?" Er wollte es sich selbst nicht eingestehen, daß er sehr viel unter diesem Gedanken gelitten; er hatte Zer- Praktische Menschn,. 177 stremmg gesucht, hatte einen langen, ausführlichen Brief an seine Mutter geschrieben, in welchem er eine vergnügte Stimmung heuchelte — aber Alles war vergebens gewesen. Lange sehnte er sich nach dem Samstage, weil er mit Sicherheit annehmen konnte, Mevrouw Buys dann anzutreffen. Und nun stand er da, das laute Klopfen seines Herzens bezwingend — denn er hatte sie und ihre Gesellschaft entdeckt. Diesen Officier hatte er vor acht Tagen an ihrem Wagenschlage gefehen! Und Spranekhuyzen! Sie lächelt und hört auf ihn. Es hat eine Annäherung zwischen Beiden Statt gefunden! — ---------Indessen hat er eilig einige Schritte vorwärts gethan. Da versperrt das hübsche Fräulein Henkens am Arme eines beleibten Infanterieobristen ihn, den Weg. Er verbeugt sich flüchtig, sie verneigt sich zuvorkommend und fragt, ob er schon Tänzerinnen gefunden habe? Alexander murmelt Etwas, wiederholt es noch einmal und begreift zuletzt, daß er etwas Auffälliges gesagt haben müsse, da ihn der beleibte Obrist verwundert anstarrt. Sogleich faßt er sich so gut als möglich und bittet ohne Überlegung das schöne Fräulein Henkens um einen Tanz. Diese schüttelt ihre glänzenden, krausen Locken und sagt, daß er ihre Schwestern Minna, Anna und Helena nur fragen solle — sie habe alle ihre Tänze schon Tage zuvor weggegeben. IndWt VibUotbtl, II. 12 178 Praktische Menschen. Indessen ist er näher zu dem Sofa getreten, auf dem Mevrouw Buys sitzt. Die Damen stehen gerade auf. Lucy Botkerman legt ihren rothen Arm auf den eleganten schwarzen Frackärmel Van Spranekhuyzen's. In diesem Augenblicke verbeugt sich Alexander mit noch lauterem Herzklopfen vor der Gattin seines Chefs. Sie sieht ihn einen Augenblck schnell und forschend an. „Sie kommen spät, Herr Wierinx!" sagte sie endlich, gleichgiltig die Marquischen durchmusternd. „Aber Sie werden sich — doch über mich — erbarmen?" antwortete Alexander bebend. Mevrouw Buys faltet ihren Fächer zusammen, winkt dem blonden Schnurrbart und sagt schnell: „Ich habe alle meine Tänze vergeben! Hier, Herr Reeve'." Während sie das sagte, hatte sie den Arm des Artillerielieuteuants genommen und sich mit ihm unter die zahlreichen Paare gemischt, die bereit standen, den ersten Walzer anzufangeu. Alexander blieb bewegungslos auf demselben Platze stehen. Ein kalter Schauer erfaßte ihn, während ihm doch der Schweiß nber die Stirn tropfte. Solche spöttische Weigerung, ohne Grund, nach Allem, was vorgefallen war! Die laute Tanzmusik ließ ihn erschreckt aufsehen. Niemand hatte ihn bemerkt, er stand ganz Praktische Menschen. ^79 allein neben dem verlassenen Sofa. Mit Mühe riß er sich von dieser Stelle los und schlug den Weg zu der Seitengalerie ein. Tausend Gedanken, zu denen bittere Enttäuschung, heimliche Eifersucht und quälende Angst reichen Stoff lieferten, durchkreuzten seinen Kopf. Eine Frau, deren Zuneigung, deren Freundschaft er für immer gewonnen zu haben meinte — — — Bei dieser Idee stand er mit dem Fuße stampfend still, und verbarg sich in dem Schatten einer weißen Säule. Er richtete das Auge auf den Vallsaal, in welchem die bunte Menge durcheinander wühlte, und dort war sie — sie, die ihn früher vor allen Andern auszeichnete uud durch ihr Wohlwollen beglückte! Wodurch hatte er nun ihre Ungnade verdient? Auf eiumal führte er die Hand an den Kopf. Wenn sich die Sache nun wirklich so zutrug, als sie vorgab? Wenn er wirtlich zu spät gekommen wäre? Wenn sie wirklich keine Tänze übrig hatte? Er legte vielleicht eine zu große Bedeutung auf einen zufälligen Umstand. Die indischen Damen hatten so eine kurzaugebundene Manier zu sprechen. Vielleicht war Mevrouw Buys gar nicht im Mindesten böse, wenn er sie nach dem Tanze ansprach. Alexander holte tief Athem. Die tanzenden Paare bort drüben schienen so lebenslustig und aufgeweckt vorbeizuschweben, jedes blickte mit so viel innerer 12» 180 Praktische Mtnschen. Zufriedenheit in die Runde, daß es ihm unmöglich war, Jemanden übler Laune zu beschuldigen. Und wäre sie auch wirklich zufällig ärgerlich gewesen, sollte die Freude des Festes sie nicht zu milderen Gefühlen stimmen, würde sie ihn nicht wieder mit dem alten Wohlwollen empfangen? In tiefen Gedanken verließ Alexander sein Versteck. Er war jetzt so weit gekommen, daß er gar nicht mehr über seine Bemerkungen und Wünsche nachdenken konnte. Wohl nannte er noch immer bei sich selbst seine Gefühle gegen Mevrouw Buys mit dem officiellen Namen von Wohlwollen, Freundschaft u. s. w., aber tief in der innersten Seele hatte er sie lieb gewonnen mit einer geheimen, niemals ausgesprochenen Dichterliebe. Er war in die Mitte einer Gesellschaft geschleudert worden, die mit kalter Selbstsucht ihren Weg verfolgte — wie sie es immer seit dem ersten Tage ihres Bestehens gethan hat — nirgends fand er eine Freundeshand, die sich ihm aus Zuneigung entgegenstreckte. Während er so unaussprechlich viel verloren hatte, als ihm seine abgöttisch geliebte Mutter Lebewohl sagte, so mußte ihn die Auszeichnung, die sichtliche Freundschaft, die deutlich gezeigte Zuneigung von Mevrouw Buys lebhaft berühren und mit seinem Schicksale aussöhnen. Nun war er nicht nur in seinen Erwartungen getäuscht. Praktische Menschen. ^ß^ sondern er hatte auch außerdem mit Schwierigkeiten zu kämpfen, welche seine jugendliche Eigenliebe und Ehrsucht im Beginne wohl allzuleicht genommen hatte. So oft die Stimme des gesunden Verstandes und sittlichen Gefühls, so oft Vernunft und Gewissen sich dieser unbesieglichen Leidenschaft widersetzten, zeigte sich für Augenblicke ein peinlicher Zug auf seinem Gesichte; aber dann kam das gekränkte Selbstgefühl, dann kamen die Erniedrigungen, die er erlitten hatte, welche die guten Inspirationen unterdrückten; er hob den Kopf in die Höhe, und stellte gegen die Mißachtung so Vieler das Wohlwollen einer Einzigen. Überdieß war sein Herz von jedem unreinen Gedanken frei. Mit unbegrenzter Dankbarkeit hatte er die Freundlichkeit der Me-vrouw Buys beantwortet; es war ihm eine Nothwendigkeit geworden, die innersten Gedanken seines Herzens in ihrer Gegenwart zu offenbaren, er wollte ihr im Stillen eine chevalereske Anbetung weihen und in einer unausgesprochenen Liebe schwärmen. Armer Alexander! Er hätte besser gethan, den Stier Apis oder den Vogel Rock anzubeten! Der Walzer war zu Ende. Das Gewühl der lebhaft sprechenden Paare erfüllte den ganzen Raum des Ballsaales. Alexander hatte sich von seiner ersten Bestürzung einigermaßen erholt; er bahnt sich mitten hin- 1 82 Praktische Mnsckcn. durch einen Weg und sucht nach Mevrouw Buys. Ein fröhlicher Ausruf bringt ihn zum Stillstehen. Brandelaar, der Jane Slijkers am Arme führt, faßt ihn bei der Hand. Man protestirt gegen sein ernstes Gesicht. Und Fräulein Jane fragt, warum er noch nicht getanzt habe, ob er vielleicht zu beu sehr vornehmen Herren gehöre, die nur Zuschauer bleiben, oder eine Partie machen, aus Furcht, die Symmetrie ihrer Haartour in Unordnung zu bringen? „Da hinten," fügt sie hinzu, „an einem Tischchen sitzt Ihr theurer Freund Van Spranethuyzm schon beim Lhombre mit den Herren Bnys und Nuytenburg. Er hat eben ein Bischen mitgetanzt, das gehört sich so, wenn man mit so einem dicken Fräulein Vokkerman verlobt ist!" „Verlobt?" fragt Alexander zerstreut. „Ja gewiß, verlobt! Es ist auch hohe Zeit, wie sollte er souft seine Schulden im Marine-Hötel und wer weiß wo uoch bezahlen? Wußten Sie das noch nicht, Herr Wierinx?" „Er ist zu sehr mit feinen Prozessen beschäftigt!" fällt Brandelaar lachend ein. „Nun, wenn Sie doch nicht tanzen," fuhr Jane fort, „leisten Sie dann Tirman Toddmg etwas Gesell- Praktische Menschen. 1 gg schaft. Er weiß, daß ich gern tanze, und sieht mir zu Liebe zu!" Das Paar setzte fröhlich plaudernd seinen Weg fort. Es ist wieder einige Ordnnng in den von Licht widerstrahlenden Marmorsaal gekommen. Das Chor der Stabsmusikanten trägt in einem verborgenen Verstecke bei der Seitengalerie ein Potpourri aus der »äame Klanoks« vor. Die Tänzerinnen wehen eifrig mit ihren Fächern; allerlei Grnppen, in denen buntfarbige Balltoiletten , weiße Pantalons nnd schwarze Fracks, goldne und silberne Epauletten, künstliche Blumen nnd pouärs-äs-ri?, Ordenskceuze und Edelsteine, hellbraune Schultern und glänzend schwarze Angen am meisten hervortreten, sind an jeder Seite des Saales zu bemerken. Alexander sucht einen Augenblick vergebens. Endlich entdeckt er die beiden Damen, welche wie beim Anfange des Balles auf einem Sofa zusammensitzen. Me-vrouw Buys ist durch eine Wolke von Officieren und festlich aufgeputzten Komptoiristcn umringt. Noch Niemand spricht mit Lucy Bokkerman — sie ist verlobt. Nach Fassung ringend nähert sich Alexander dieser Gruppe. Er verneigt sich vor Lucy und, um einen Vorwand zum Gespräche zu suchen, murmelt er einen banalen Glückwunsch zu ihrer Verlobung. 184 Praktische Menschen. »8aeäak!' Lassen Sie es nur sein!" antwortet die umfangreiche Schöne, die ihn sehr gleichgiltig, beinahe böse ansieht. „Am letzten Sonntagmorgen sprachen Sie allerlei Böses über Eduard, und nun glnckwün-schen — das ist gar nicht nöthig!" Das Blut steigt Alexander plötzlich zu Kopfe. Noch einmal murmelt er eine Entschuldigung, aber Lucy sieht nach einer ganz andern Seite des Saales und nimmt gar keine Notiz von ihm. Schnell mischt er sich nun unter die Gruppe der Verehrer von Mevrouw Buys, und während Einige derselben weiter gehen, erobert er einen Platz neben dem Sofa. „Bin ich wirtlich zu spät gekommen?" beginnt er halb flüsternd, und zwingt sich mit der größten Gewalt, einen fröhlichen Ton anzunehmen. „Warum?" fragt Mevrouw Buys kalt und lallt. „Ich hatte mir das Vergnügen machen wollen, Sie um ein Francaise zu ersuchen!" „Das Vergnügen ist auf meiner Seite, Herr Wie-rinx! Aber mein Ballbuch ist geschlossen, also ein anderes Mal!" lwd sich zu Lucy wendend: „Gieb mir einmal 1 Soedah! Es ist schon gut! Praktische Menschen. 185 Deinen Arm, Kind! Dort sehe ich Mevrouw Ander« mans, und ich habe sie noch nicht begrüßt!" Alexander biß sich die Lippen blutig. War dieß eine parti pri8? Oder was hatte er gethan? Die wunderlichsten Vermuthungen stiegen in ihm auf. Sie selbst hatte ihn zum Einziehen von Nachrichten über Van Spranekhuyzen ausgeschickt; er hatte sich beeifert, dieselben einzuholen, und als er diese treulich überbracht hatte — die vertraulichen Mittheilungen des alten Slij-kers mißbrauchend — nachdem Dubois unerwartet die hellste Einsicht in des Junkers Charakter gegeben hatte — nun schien sie sich auf einmal an Diesen anzuschließen und seine Verbindung mit Lucy Bokkerman gut zu heißen. Sein Kopf schwindelte. Das Licht, das ihn von allen Seiten umstrahlte, schien Spott mit ihm zu treiben. Die laute Quadrillenmusik reizte ihu auf bis zum Wüthendwerden. Noch einmal eilte er hastig durch die Seiteugalerie und bis an das Büffetzimmer. Auch dieses durchläuft er schnell und kommt in den Vorsaal des Gesellschaftsgebäudes, wo man dem Dämon des Spieles opfert. „Ein schöner Abend, he?" sagte eine bekannte Stimme zu ihm, und beim Aufsehen gewahrt er das seuerrothe Gesicht Tirman Todding's. „Wollen Sie ein wenig ausruhen, he? Ein Glas 186 Praktische Menschen. Rheinwein, he? Setzen Sie sich nieder, dann können wir ein wenig plaudern. 8»p'aäa! Xassi ^la» deissi!" springt ein reines Glas!") Und Tirman Todding schenkt Alexander Wein ein, und beginnt eine lange Erzählung über seine baldige Hochzeit und seine Reise nach Europa. Er erhebt alle guten Eigenschaften seiner Jane bis in den Himmel, er will Italien und Frankreich mit ihr besuchen und einen Monat in Paris bleiben. Alexander sieht ihn unempfindlich an, trinkt sein Glas aus, und noch eins. und noch eins, solange die Erzählung dauert und so schnell ihm der glückliche Bräutigam nur einschenkt. Indessen kommt mehr Ordnung in seine Gedanken. Mevrouw Buys ist ernstlich böse ans ihn, und er muß die Ursache wissen. Vielleicht ist dieselbe leicht zu entdecken, nufzuhellen und aus dem Wege zu räumen, vielleicht werden sie bald auf die freundschaftlichste Weise wieder zusammen sprechen und über das Mißverständniß lachen. Plötzlich steht er auf und verläßt Tirman Todding mitten in der Erzählung seiner Reisepläne. Der Controleur anf Urlaub starrt ihm einen Augenblick mit der größten Verwunderung nach, schenkt sich darauf schnell zwei Gläser ein------------------um die Flasche zu leeren, und begiebt sich kopfschüttelnd, die Hände anf dem Rücken, iil den Ballsaal, um Jane Slijters, seiner vielgeliebten Praktische Menschen. j 87 Braut, oas Eine oder das Andere mitzutheilen. Aber Alexander hat sich schon lange in das Gewühl der Tanzenden gemischt. Zwei riesige Quadrillen nehmen das ganze Terrain ein. Bald hat er Mevrouw Buys herausgefunden, die mit dem reizendsten Lächeln eine «kaine äs äauiks ausführt. Er stellt sich ihr gegenüber und folgt den Figuren des Tanzes mit ernster, nervöser Aufmerksamkeit. Er bewundert im Stillen den meisterlichen Geschmack, mit rem sie sich zwischen den oft plump auf einander eindringenden Tänzern bewegt. Er folgt jeder Geberde, jedem Blicke und wartet, ob sie vielleicht ihre Aufmerksamkeit auf ihn richten würde. Vergebens, die Quadrille ist beendigt, die Menge wogt in bunter Verwirrung auf und nieder. Alexander bleibt stehen, versucht, so ruhig als möglich um sich herum zu sehen, und wartet, bis die Damen auf's Neue ihre Plätze eingenommen haben. Zuletzt bemerkt er. daß Mevrouw Buys neben der Frau eines hohen Officiers auf einem der Ehrensofas Platz genommen hat. Das Gespräch zwischen den beiden Damen scheint nicht lebhaft zu sein, da er Mevrouw Buys mit ihrem Fächer unbemerkt einen leichten Gähnanfall verbergen sieht. Sogleich begiebt er sich nach jener Richtung. Mit Anstrengung aller seiner Kräfte gelingt es ihm endlich, sich den Damen ungezwungen zu zeigen. 188 Praktische Menschen. Mit einer gewissen Hast schiebt er einen Fauteuil her« bei, und während er sich mit höflicher Verbeugung darauf niederläßt, sagt er so aufgeweckt als möglich: „Es ist recht voll heute Abend!" Mevrouw sieht ihn einen Augenblick ohne irgend Ausdruck an, und läßt die Marquischen fortwährend auf- und niedertanzen. Alexander spricht noch einige Gemeinplätze über den Ball und die Wärme, worauf Mevrouw Buys es endlich gut findet mit einem: „So, Herr Wierinx!" zu beantworten. Er begreift, daß er jetzt einen entscheidenden Schritt wagen muß. Er wendet sich mit erzwungener Ruhe zu Mevrouw Buys, und sagt so leise, daß sie allein es verstehen kann: „Sind Sie unzufrieden mit mir. Mevrouw? Habe ich Etwas versehen?" Mevrouw Buys wirft den Kopf, den sie anfänglich ihm zugewendet hatte, stolz hintenüber, läßt die Marquischen hastig auf- und niedertanzen und lächelt liebenswürdig. „Ich verstehe Sie uicht, Herr Wierinx!" So klingt ihre Antwort kalt, ohne einen bemerkbaren Ton von Zorn oder Interesse. „Ich glaubte bemerkt zu haben, daß Sie aus dem Praktische Menschen. 1 89 einen oder andern Grunde gegen mich eingenommen wären!" „So, da müssen Sie nicht so viel Aufmerksamkeit darauf schenken, das hat nichts zu bedeuten!" Und zu der vornehmen Dame, die neben ihr saß, fügte sie hinzu: „Ich glaube, daß wir nun eine Mazurka bekommen werden!" Es folgte eine Antwort, und dießmal war das Gespräch beider Damen fließend genug, da Mevrouw Buys in höflichen Fragen ganz unerschöpflich war, während sie Alexander theilweis den Rücken zukehrte, und ihm gar keine Aufmerksamkeit mehr schenkte. Nicht etwa, weil sie ernstlich böse auf ihn war, sie fand ihn nur sehr ungeschickt, — und was die Hauptsache war: er amüsirte sie nicht mehr! Alexander saß noch geraume Zeit in dem Stuhl an ihrer Seite. Allerlei unmögliche, fremdartige Pläne durchkreuzten seinen Kopf. Aber so oft er diesen Kopf aufrichten und sie bitten wollte, ihn einmal anzuhören, entsank ihm plötzlich der Muth und stieg seine Verwirrung und Verlegenheit bis zum Wahnsinnigwerden. Einige Augenblicke später sah er einen fein befrackten Herrn nach dem Ehrensofa zu kommen. Dieser Herr beugte sich tief, und präsentirte den Damen seine mitten 1 90 Praktisckc Mcnscdcn. auf dem Kopf gescheitelten blonden Haare und seine glänzend weißen Zähne. Gerade als Alexander Van Spranethuyzeu erkannte, hatte Mevrouw Buys schon dessen Arm angenommen nnd sich unter die auf- und niederwandelnde Menge gemischt, um eine Mazurka zu tanzen. Im Vorzimmer des Gesellschaftshauses, in welchem der größte Platz durch Spieltische eingenommen wird, setzen die Herreu Guys und Nuyteuburg indessen ihre Spielpartie fort. Andermans hat Van Spranek-huyzen's Karten aufgenommen, als sich dieser an seine Tanzpflichten erinnerte. Die Herren schenkten dem Spiele ihre ganze Aufmerksamkeit. Von Zeit zu Zeit wechselte man ein unbedeutendes Wort; die Tanzmusik erfüllte überdieß Alles mit einem durchdringenden Geräusch, so daß es leichter war, zu spielen, als zu sprechen. So verfolgte man das Spiel ruhig weiter, als das Aufhören der Musik das Ende des Tanzes verkündigte. „Nichts Neues in Buitenzorg?" fragt Ruytenburg den Herrn Karl Heinrich Buys, während Andermans mit großem Ernste die Karten giebt. „Der Gouverneur kommt nächsten Samstag herunter !" Es erfolgt eine Pause. Herr Buys spielt ein Solo und spannt alle Kräfte an, um ein außergewöhnlich Praktische Menschen. />g s schwaches Spiel zu gewinnen. Während ihn Überlegung und Glück begünstigen, kommt Van Sprauekhuyzen wieder zu ihnen zurück. Andermans, der gern fortspielen möchte, aber den ganzen Abend keine Partie hat machen können, giebt ihm mit einer gewissen Ungeduld seine Karten. Der Junker verweigert höflich ihre Zurücknahme, setzt sich aber ;n ihm nieder, um die Ehan-cen des Spieles zu verfolgen. „Amüsirt?" fragt Ruyteuburg. „Ziemlich," antwortet Vun Spranekhuyzen. „Es scheint, daß sich unser Wierinx sehr schlecht amüsirt!" bemerkt Andermans. „Er schweift in tiefen Gedanken den Saal auf und nieder!" „Ein sonderbarer junger Mann!" sagt Ruytenburg, die Karten mischend. „Wie so?" fragt Buys. „Vorigeu Sonntag traf ich ihn bei Mevrouw Buys, wo er sein Möglichstes that, um Van Spranethuyzm lächerlich zu machen." „Er kommt viel zu Ihnen!" sagt der Junker leise flüsternd zu Herrn Buys. „Adele findet ihn recht amüsant." „Hm'. Hm!" bemerkt Andermans. „Heute Abend benimmt er sich sehr närrisch'." murmelt Nuytenburg. 192 Praktische Menschen. „Me so?" fragt Buys wieder. „Nun, vom Anfange an hat er Mevrouw Buys verfolgt. Wo sie sitzt, findet man ihn auch sogleich. Während des Tanzens hat er ihr unaufhörlich zugesehen. Jeder muß das bemerken." Herr Buys legt eben seine Karten nieder. Er wirft einen Blick in den Tanzsaal und sucht ohne irgend eine sichtbare Gemüthsbewegung nach den erwähnten Personen. In der Zwischenzeit flüstert Ruytenburg mit Andermans. Zuletzt scheint Herr Bnys irgend Etwas bemerkt zu haben, denn er sagt beinahe unverständlich: „Ist der Kerl toll? Ficht Adelen und läßt sich durch den Bedienten über den Haufen rennen!" „Und," fährt Ruytenburg fort, „ich finde es unverschämt, sich bei Jemand so einzudrängen. Als ich am Sonntage kam, saß er mit Mevrouw Buys auf demselben Sofa, und wußte im Anfange gar nicht, was er sagen sollte, so verlegen und komisch war seine Haltung!" „8o6äg,ti!" ruft der Herr Buys wie zähzornig — dem wollen wir abhelfen. Was spielen die Herren?" Van Spranekhuyzen lacht triumfthirend und schenkt dem Spiele seine ganze Aufmerksamkeit. Buys beißt sich auf die Lippen und gewinnt bald mit größter Ruhe eine Frage, als ob kein Wort gesprochen worden Mktischl Mtnschcn. 193 sei. Und regelmäßig werden die Karten gegeben, mir wirr gepaßt und gespielt wie früher, und das Gespräch an dem Spieltische war eben so einförmig als vorher; nur Van Spranekhuyzen warf von Zeit zu Zeit einen Mkelneuen Gemeinplatz dazwischen, und drohte mit der vollen Batterie seiner schneeweißen Zähne. Das Fest der Officicrsgesellschaft Concordia neigte sich zu Ende. Lustig ertönt die fröhliche Melodie der yuädriiie de» liincioi» durch den Saal. Dort hinten in einer Ecke steht Alexander unbeweglich mit seinem Hut in der Hand, eben wie am Anfange des Balles. Er denkt gar nichts mehr; instinttmäußig sorgt er dafür, daß seine sonderbare Haltnng Niemanden zu sehr in die Augen falle. Oft läuft er hin und wieder, oder besucht das Büffet, wo er den ersten besten Traut, den man ihm anbietet, hastig hinunterschlürft« Noch immer verfolgt sein Auge jede Bewegung von Mcvrouw Buys beim Tanzen. Er hört einen Theil der fröhlichen Gespräche der Tanzenden, und fühlt bei jedem frohen Tone seine eigenen Schmerzen nur um so empfindlicher. Inzwischen hat ihm doch schon der Eine oder der Indische Biblio,!'«!, II, 13 194 Praktische Llenschtn. Andere einen neugierigen Blick zugeworfen. Nicht weit von ihm steht Fräulein Duusinger neben einem sehr langen, hochaufgeschossenen zweiten Lieutenant. Beim Tanzen hat sie die Damen darauf aufmerksam gemacht, daß dieser Herr Wierinx mit seinem lockigen schwarzen Haare gerade so aussieht, als ob er wahnsinnig in eine unbekannte Schönheit verliebt sei. Fräulein Hcn-kens, die für einige Tänze auf ihn gerechnet hatte, lacht vor Vergnügen hell auf, als sie dieß hört. So amüfirt man sich noch einige Zeit über, und bricht bald in ein lautes Gelächter aus, als er Plötzlich seinen Platz verläßt, um nach einer anderen Seite des Saales zu gehen. Dort stand er eine Weile unbemerkt. Endlich schenkt ihm eine Dame aus einer nahen Quadrille ihre Aufmerksamkeit. Sie sieht ihn theilnahmsvoll an, zufällig kreuzen sich ihre Blicke. Es ist Fräulein Dee-selaar, Alexander erkannte ihre goldne Broche mit den zwei goldenen Äpfeln und der goldnen Schlange. Ein trauriges Lächeln zuckt um seine Lippen, er erinnert sich des Empfangabends bei Mevrouw Buys. „Betrachten Sie einmal Herrn Wierinf!" sagt Fräulein Deeselaar zu ihrem Herrn. „Ich glaube, daß er sich sehr langweilt, kasian!" Der Herr sieht auf. Auch er begegnet Alexander's Praktische Menschen. 195 Blicke, und dieser erkennt mit einiger Theilnahme in ihm seinen Freund und Amtsgenossen Dubois. Als der Tanz beendigt ist, führt Dubois schnell seine Dame an ihren Platz. Daraus tritt er eilig auf Alexander zu, spricht ihn mit der ungezwungensten Herzlichkeit an, und zieht ihn leise mit sich fort bis zu einem lauschigen Plätzchen in der Vorgalerie. Dort fängt er ein Gespräch über Holland uud das holländische Leben an, an dem Alexander nach und nach Theil nimmt, und sich nach einer halbstündigen Unterhaltung weniger gehetzt und verzweifelt fühlt und dadurch einen Theil seiner gewöhnten Stimmung wieder gewinnt. Lachend bringt Dubois Wein. Er hatte einen Augenblick gefürchtet, daß die starren und sonderbaren Blicke seines Freundes einem unmäßigen Gebrauche von Getränken zuzuschreiben seien. 13» 196 PlaklM Menschen. XII. Vas Uleiander am sosgendcu Nontagmorge» aus dem Homploir der Herren Vuu.« und 'Undernmn«! vernahm, und wie er seinen Tag ferner zußrachle. Es war Montag früh halb neun Uhr, der dsnäi Orandelaar's stand in der Stadt vor dem Komptoir des Herren Buys und Andennans. Alexander stieg langsam aus und grüßte seinen Freund mit einem ebenso langsamen Kopfneigen. Sein Schritt war schleppend und träge. Im Komptoir fand er den Herrn Buys schon eifrig an der Arbeit. Zerstreut grüßend tritt er gleich in sein Zimmer und setzt sich an seinen Schreibtisch. Sein Gesicht war todtenbleich, seine Augen eingefallen, und in seinen Zügen hat eine große Veränderung Statt gefunden. Der Schmrz mußte wohl heftig gewesen sein, der in noch nicht zwei Tagen das blühende Gesicht des jungen Mannes so verwüstet hatte. Seit dem vorigen unglückseligen Samstage hatte sich die tiefste Niedergeschlagenheit seiner bemeistert. Er hatte versucht, feine mißmuthige Stimmung vor Jedem zu verbergen, und scheinbar ruhig und gelassen an der Praktische Menschen. 497 Tafel des Marinc-Hötels zu erscheinen. Aber Jedermann hatte die Veränderung in seinem Wesen, sein sonderbares Stillschweigen bemerkt. Mechanisch ordnet er jetzt einige Papiere. Plötzlich senkt er aber den Kopf in die Hand, und ein neuer, Alles beherrschender Gedanke scheint in ihm aufzusteigen. Ist derselbe seiner Zukunft gewidmet, oder vielleicht einer Mutter, seiner so leidenschaftlich geliebten Mutter? Schweifen seine Gedanken fernhin über die See in das vielgeliebte Vaterland, wo seinem Ohr so oft geschmeichelt wurde durch die süßen Klänge der Freundschaft und des Wohlwollens? Träumt er vielleicht von dem lieben Hause, wo ihn jedes Auge mit Vorliebe anblickte, wo jede Hand sich freudig in die seine legte? Da rollt eine Thräne über seine eingefallene Wange. „Mutter, beste Mutter!"......lispelt er kaum hörbar und drückt seine beiren Hände nervös heftig vor das Gesicht, als ob ihn dieser Gedanke mit Schrecken erfüllte. Ein fester Schritt kommt aus dem Komptoir nach seinem Zimmer. Schnell richtet er sich auf, wischt seine Thränen ab und setzt mit eigenthümlicher nnß-glückter Hast seine Geschäfte fort. Der Herr Buys tritt herein. Er hat einige Papiere in der Hand, winkt Alexander mit gebietender Bewegung, sitzen zu bleiben, /syH PMischc Menschen. nimmt einen Stuhl nnv setzt sich in einiger Entfernung von ihm nieder. „Ich muß mit Ihnen sprechen, Herr Nierinx'. Ich habe über Ihre Angelegenheiten nachgedacht." Alexander wendet sein Gesicht nach ihm zu und bemerkt, daß sein Chef ihn besonders ernst und forschend anstarrt. Der junge Mann neigt den Kopf, ein heftiges Herzklopfen erschwert sein keuchendes Athem -holen, eine unbestimmte, unangenehme Furcht bemeistert sich seiner ganzen Seele. „Ich habe über Sie nachgedacht" — wiederholt Herr Buys, ruhig und langsam — „und es ist mir vorgekommen, als ob unser Komptoir nicht den geeigneten Wirkungskreis für Sie böte." Alexander sieht zitternd auf und starrt seinen Che mit dem verzweiflungsvollen Muthe des jungen Rekruten an, der gegen losdonnernde Feuerschlünde anrückt und keine Gelegenheit zum Entkommen sieht. „Ihre Studien scheinen Sie zur Behandlung verwickelter Rechtsfragen bestimmt zu haben. Auf unserm Komptoir kommen nnr alltägliche Fälle vor. Wir verlangen nur Gewandtheit und praktischen Sinn. Sie scheinen ein besonderes Behagen im Ergründen der mühseligsten Fragstücke zu finden. Das hat Ihr Plaidover bewiesen, in das gewiß mehr Rechtswissenschaft hinein- Praktische Mcnscktn. 1 99 geflochten war, als hier seit zehn Jahren vor den Landrath gebracht worden ist." Herr Buys wartet einen Augenblick. Alexander behält seinen starren Blick und antwortet nichts. Darauf ertönt wieder die langsame und trockene Stimme des Herrn Buys: „Ich glaube bemerkt zu haben, daß Ihnen die gewöhnlichen Komptoirarbeiten lästig sind. Sie fühlen sich zweifelsohne erhaben über die Dienste, welche ich und mein Compagnon von Ihnen fordern!" Alexander erhob mit einem Male stolz den Kopf. Schnell und mit aller frühern Energie fällt er ein: „Ganz gewiß nicht, Herr Buys! Ich bin niemals vor einer Arbeit zurückgewichen, welche Sie von mir verlangt haben. Ich habe wie der geringste Commis eines Handelskomptoirs abgeschrieben — Tagelang abgeschrieben, ohne daran zu denken, daß ich noch zu etwas Anderem tüchtig sei. Und ich habe doch nicht fünf Jahre lang Jurisprudenz studirt, um hier in Ba« tavia abzuschreiben — das konnte ich schon auf den Bänken res Gymnasiums. Aber ich würde Alles gem ohne Klagen gethan. Alles gelitten haben, wenn ich nur das geringste Wohlwollen an Ihnen bemerkt hätte, — wenn Sie nur je sich die Mühe gegeben hätten, mich über meine Aufgabe zu unterrichten, mir den Weg 20ft Praktische Mcnschcn. zu zeigen, auf dem ich mit den Früchten meines frii. heren Studiums wuchern könnte. Und dieß wenigstens hatte ich von dem Freunde meines Oheims sicher erwartet !" „Sie sind noch sehr jung, mein lieber Herr Wie-rinx! Ich darf Ihnen darum nicht übel nehmen, was Sie jetzt zu sagen belieben. Auch erscheinen Sie mir diesen Morgen außergewöhnlich agitirt. Erlauben Sie mir. Ihnen einen gntcn Rath zu geben. In diesem Klima ist es sehr ungesund, sich so aufzuregen — lassen Sie uns also ruhig bleiben!" Herr Buys wehte sich mit seinem leinenen Taschcn-tuche Kühlung ;u, während er später, als er bemerkte, wie sein rechter Schnh etwas bestaubt war. diesen sorgfältig und ruhig reinigte. Alexander biß sich auf die Unterlippe; er wollte Etwas antworten, fand aber keine Worte und richtete seine Blicke rathlos auf ein rothes Band, mit dem einige vor ihm liegende Prozcßstücke zusammengebunden waren. Darauf fuhr sein Chef fort: „Es ist nicht meine Schuld, daß Sie Ihre Stel-luug nicht besser begreifen. Ich will jedoch sehen, was ich für Sie thun kann. Ban Eynsbcrgcn hat Sie empfohlen, uud da ich bemerke, daß Sie noch viel Anleitung uöthig haben, so will ich nicht unterlassen. Praktische Menschen. Zyl Ihnen nach meinen besten Kräften zu rathen. Übung in ostindischen Rechtssachen gebricht Ihnen noch in reichem Maaße. Darum habe ich beschlossen, Ihnen zur Erreichung dieser Übung zu verhelfen. Das batavische Leben scheint überdieß keinen guten Einfluß auf Ihre Stimmung und Ihre Gesnndheit auszuüben. Es scheint mir, daß eine Luftveränderung Ihnen sehr nöthig sei'." Herr Buys hielt einen Augenblick ein, um Etwas an seinem Halskragen zu ordnen. Alexander hatte schon mehrere Male den Lauf des rothen Bandes um das Prozeßstnck mit starrem Blicke verfolgt. Als die Stimme des Herrn Buys sich wieder veruehmen liek, schien es ihm, als ob in der Ferne eine Sterbeglocke geläutet, und als ob er eingeladen würde, seinem eigenen Be-gräbniß beizuwohnen. „Eine Ortsveränderung scheint mir sehr nöthig. Ich habe deßhalb diesen Brief" — hier sah Alexander einen Brief vor sich niederfallen — „an meinen Freund Hnlswijk zu Samarang geschrieben, mit der dringenden Bitte, Ihnen einen Platz in seinem Komptoir einzuräumen. Dort könnten Sie sich ohne Hast für Ihr Amt vorbereiten. Dort ist Zeit in Überfluß, nm ausführlich über die Sachen zu sprechen, und ich zweifle nicht, daß Sie nach einem Jahre eifrigen Studiums ein tüchtiger Advokat werden. Morgen um sieben Uhr 2ftZ PrattM Mcnsckc», geht das Mailschiff nach Samarang ab. Ich habe für Ihre Überfahrt schon gesorgt. Hier ist Ihr Reise« billet!" — Und wieder fiel ein Papier vor Alexander nieder. — „Sie werden bei Hulswijk vorläufig auch unter denselben Bedingungen arbeiten, gegen zweihundert Gulden monatliches Salair. Ihre laufenden Ausgaben wird das Komptoir regeln. Sie können sich nun nock ruhig für Ihre Abreise vorbereiten. Abschicds-visiten sind nicht nöthig. Ich werde Mevrouw Buys und andere Bekannte von Ihnen grüßen. Und ich glaube, daß ich Sie jetzt nicht länger mehr aufhalten darf. — Ich werde einen Wagen holen lassen, dann können Sie sich den ganzen Tag auf Ihre Reise vorbereiten! — Sidin!" Es verstrichen einige Minuten, während welcher es tödtlich still in dem Zimmer war. Jetzt zeigte sich Sidin in der Öffnung der Thür. Herr Buys sprach vornehm und befehlend: »I^anFFil Karstta 8k^va!« (hole einen Miethwagen) . Aber Alexander hatte sich aus seiner Niedergeschlagenheit emporgerichtet. Sein Gesicht war bleifarbig bleich geworden, seine Lippen waren fest aufeinander gepreßt. Er hatte seinen Beschluß gefaßt. Herr Buys war aufgestanden, hatte einen Augenblick auf seine Praktische Menschen. Iftg Schuhspitzeu geblickt, und sich bann langsam entfernt. Es dauerte noch eine Weile, dann kam Sidin und zeigte dem in tiefes Nachdenken versunkenen jungen Manne an, daß der Wagen bereit sei. Im Komptoir sprach Herr Buys noch einen Augenblick mit ihm; er hoffte, daß es ihm in Samarang gut gefallen möge, er wünschte ihm eine glückliche Reise, und reichte ihm abgemessen wie immer die Hand. Herr Andermans, der indessen gekommen war, sagte ihm Etwas dergleichen und beehrte ihn mit einem ähnlichen Händedrucke. Schweigend, äußerlich ruhig und ohne Bestürzung warf Alexander einen Blick um sich her, grüßte seine Chefs mit lauter Stimme und eilte nach dem Wagen. Als er fortgefahren war, sah Herr Anderman auf seinen Compagnon. Aber dieser hatte das batavische Handelsblatt zur Hand genommen, und hielt es aufgeschlagen vor sein Gesicht. Es wurde an diesem Morgen vor dem Frühstücke beinahe kein Wort gewechselt. Als Alexander in seine Stube im Marine-Hotel trat, schloß er die Thür sorgfältig hinter sich zu. Dort schleuderte er zuerst den Brief und das Reisebillet für Samarang mit gleichgiltiger Geringschätzung in eine 2ft H. Piaktiscke Menschen. Ecke des Zimmers Dann kniete er vor seinem Koffer nieder und öffnete ihn hastig. Schnell hatte er gefunden, was er suchte. Mit Federkraft erhob er sich und machte einige Schritte nach seinem Schreibtische. Aufmerksam betrachtete er nun den Gegenstand, den er in dem Koffer gesucht hatte — seineu Revolver. Das Pistol war nicht geladen — er sah sich um, als suche er ein Mittel, um augenblicklich sich eine Ladung zu verschaffen. Sein Blick fuukelte in einer wilden, traurigen Gluth, fein Mund war zu einem bittern Lachen verzogen. Warum sinkt seine Hand jetzt so plötzlich nieder — warum entfällt das Pistol derselben? Warum fährt ein heftiges Zittern durch seine Glieder? Warum entringt ein banger Mgstschrei sich seiner beklommenen Brust? Warum wirft er sich plötzlich auf sein Sofa — beide Hände vor dem Gesichte, während er sich ächzend hm-und herwindet? Er hatte das Bildniß seiner Mutter gesehen! Bald war die heftigste Wuth seiner Verzweiflung gebrochen. Es war, als habe ihn seine Mutter sanft vorwurfsvoll angesehen — eine Alles überwältigende, tiefwchmüthigc Rührung hatte sich sciuer ganzen Seele bemächtigt. Einen Augenblick blieb er todtenstill auf dem Sofa liegen. Daun schluchzte er plötzlich laut Praktische Vcnschcn. Z05 auf — ein wohlthätiger Thränenstrom entstürzte seinen Augen. So blieb er Stunden lang. Aber kein einziger tröstender Gedanke erleichterte sein Leiden. Zuweilen richtete er sich auf, schlug das Auge in die Höhe, und sah jeden Gegenstand in seinem Zimmer mit einer gewissen ruhigen Hartnäckigkeit an, als ob er sie nie gesehen hätte. Dann wieder durchlief er das Zimmer in allen Richtungen. Einmal trat er zufällig auf die in eine Ecke geworfeneu Papiere für Samarang. Zähne< knirschend taumelte er zurück, und siel mit einem heiseren Wnthschrei wieder auf das Sofa zurück. Ungefähr um zwei Uhr wurde laut zum Frühstück geklingelt. Er hörte es nicht. Danach klopfte Padang an die geschlossene Thür. Er hörte es nicht. Stunden lang blieb er so vor sich hin brüten. Zuweilen flössen heiße Thränen über sein Gesicht — dann schluchzte er heftig und klammerte sich mit aller Kraft am Sofa fest — zuweilen saß er regungslos, mit dem Kopfe in der Hand und den Elnbogen auf den beiden Knieen, und starrte die Fußmatten an. Zuweilen auch lachte er — scharf und laut, wenn Plötzlich eine Erinnerung oder ein Bild seines früheren Lebens an seiner armen gequälten Seele vorbeizog. Und die Stunden flogen vorbei, und in seinen Zustand kam keine Veränderung. Verschmäht — wo Zftl; Plaktlschc Mcnschcn. sein Herz liebliche Träume gehegt hatte — verachtet, wo er für den Schatz jeuer stillcu, geheimeu Zuneigung nur um ein wenig Wohlwollen ersucht hatte — verspottet und beherrscht von dem Manne, von dem er für alle Reichthümer der Welt kein einziges befehlendes, erniedrigendes Wort ertragen konnte — verzagt, von der Thür gewiesen, entfernt wie ein lästiges, uu« nutzes Mitglied einer Gesellschaft, in der er zu glänzen, zu herrschen, zu befehlen gehofft hatte — alle Illusionen seiner Iünglingsjahrc, all' seine Hoffnungen für die Zukunft, all' sein guter Wille, sein edles Streben, seine kräftige Energie für immer vernichtet, gebrochen, getödtet! Es kam kein einziger Lichtstrahl in die wirre Nacht seines Geistes, er schüttelte den Kopf willenlos hin und her — er fühlte es: — er hatte sich selbst überlebt! Denn die doppelte Schmach, die man ihm angethan, hatte ihn zu tief und furchtbar verwundet — er dachte in dieser Stunde nicht daran, sich mit ruhigem Stolze gegen das Loos zu erheben, welches ihn traf. Seine weiche, für Eindrücke nur zu empfängliche Natur hatte von Anfang an nach Freundschaft, nach Geistesverwandten gesucht; iu wonniger Täuschung des Herzens hatte er die Hand, welche Mevrouw Buys ihm anfänglich reichte, ergriffen, und, ohne es sich selbst Praktische Mcnschcn. Z97 zu bekennen, war die Verhöhnung, mit der sie ihm begegnete, noch unendlich peinigender für sein Herz, als für seinen Stolz das Verbannungsurtheil, welches ihr Mann diesen Morgen über ihn ausgesprochen hatte. Es war indessen Abend geworden. Laut erklang wieder die Glocke für das Diner. Er schien es nicht zu bemerken. Er saß immer bewegunglos mit dem Kopf in den Händen. Es wurde auf's Neue an die Thür geklopft — dießmal anhaltend und laut. Er hörte die Stimme Padang's und wartete mit angehaltenem Athem, bis dieser aufhören würde, zu rufen. Er hörte verschiedene Stimmen sprechen und behaupten, daß er nicht in seiner Stube sei. Padang allein bestand darauf, daß er ihn hatte zurückkommen sehen. Endlich erstarb das Gespräch in der Ferne, und wiederum sank sein Kopf in die Hände, und er setzte seine wilde Träumerei fort, ohne Ziel, ohne sich Rechenschaft von seinem Zustande zu geben, ohne seiner Abreise am folgenden Morgen einen einzigen Gebanken zu schenken. So gingen Stunden vorbei, ohne daß er sich darum bekümmerte. Endlich fühlte er durch die Dumpfheit, welche nach und nach der Nervenkrisis folgte, einen folternden und drückenden Kopfschmerz. Das Physische Leiden brachte ihn einigermaßen zur Einsicht über seinen Zustand. Er dachte zum ersten Male an seine Reise ZYK Praktische Ucnschcn. nach Samarang. Aber wieder klang Plötzlich ein spot« tischcs Gelächter durch das Zimmer. Er stand auf, suchte in der Dunkelheit seinen Strohhut und nahte sich der Thür. Erst lanschte er eine Weile, ob vielleicht Jemand in der Nähe sei, darauf öffnete er so vorsichtig als möglich seine Thür. Wie ein Verbrecher blickte er um sich her — es zeigte sich Niemand. Alles war still. Die Heimchen feierten Hochzeit und die tokkoli' ließ von Zeit zu Zeit ihren einförmigen Ruf erschallen. Alexander ist bald dranßen. Mit der äußersten Vorsicht schließt er seine Thnr. Schnell, aber leise eilt er weiter. Bald ist er seitwärts um das Hotel herum geschlichen und hat ras Molenvliet erreicht. Der drückende Kopfschmerz, der ihn erst zu sich selbst brachte, dient nur dazu, um ihn mehr und mehr zu verwirren. Der Lichterglanz, der ihm aus der Gesellschaft Harmonie entgegenströmt, läßt ihn schen die Schattenseite des Weges wählen — bald ist er am Nijswijt, und hastig vorauslaufend wirft er einen ängstlichen Blick auf die Villas, die sich zu seiner rechten Hand erheben. Es ist ungewöhnlich dunkel, und doch erkennt er mit einer Scharfheit und Deutlichkeit, wie sie ihm früher nie eigen war, jedes Gebäude, an dem er vorbeieilt. Er l Große Eidechse, nach ihrem Rufe „Getto" genannt. Piaktisckc Menschen. ZH9 erkennt das Hotel res Generalgouvernems mit seinen beiden Etagen, seinem Schilderhaus und leeren Fahuen-stock. Er sieht einen Unterofficier im Wachthause. der auf seinem Stuhle hinten über lehnt, und die Arme über der Brnst gekreuzt hält, — er rennt beinahe an die Schildwacht an, und weicht vor zwei Equipagen aus, die in schnellem Trabe vorbeirollen. Er sieht die Damen im Wagen in Ballkleidung und lacht trübe und bitter. Er sieht Alles, was ihn umringt und ihm begegnet — die Klingel des malayischen ^varonF'-Inhabers tönt ihm mit sonderbarem Geräusch in die Ohren — das Lichtmeer, das in der Vorgalerie des Hotels der Niederlande sich ausbreitet, läßt ihn nur noch schneller vorauseilen und rechts die Secretairallee wählen. So läuft er fort, ohne Ziel, ohne Nachdenken, während der marternde Kopfschmerz sich durch ein athemloses Keuchen vor Hitze und Übereilung noch verdoppelt. Aus der Secretairallee wendet er sich rechts und folgt dem breiten Wege längs des Königsplatzes. Die wunderbare Schroffheit seiner Sinneswerkzeuge ist im Zunehmen. Zuweilen steht er still und hält die Hand an seine glühende Stirn — dann versucht er, seine Ge- l 'WäronF — klcincr Laden, Krambude. Indische BibliotlKk, II. 14 2If) Praktische Ncnschcn. danken zu sammeln, aber vergebens. Wilde Sputgestalten erstehen vor seiner Phantasie uno treiben ihn in verzweiflungsvoller Jagd vorwärts. Die Abendbrise bringt ihm die Töne einer entfernten Musik. Er hat schnell diese Töne begriffen. Das dumpfe Dröhnen der großen Trommel sagt ihm, daß irgendwo in den Villas an der Südseite des Platzes getanzt wird. Eine sonderbare Neugierde ergreift ihn. Noch schneller eilt er voraus. Wenn sie eben glücklich und zufrieden beim Tanze stäude, während er um ihretwillen verzagt und verspottet, sinnlos und verwirrt durch Seelenleiden und Körperschmerz in der Irre herumläuft! Der Gedanke ist ihm stets deutlich geblieben, daß er von Batavia weggeschickt wurde, weil Herr Buys die deutlich bewiesene Freuudschaft, oie laut ausgesprochene Sympathie — dieses Wort wählt Alexander mit Vorliebe — die einstens zwischen ihm und dessen Gattin bestand, für immer niederschlagen und abbrechen will. Mit Freuden würde er um ihretwillen gelitten und muthig sein Loos getragen haben, hätte sie nicht ohne Ursache und mit der größten Geringschätzung die stille Verehrung zurückgewiesen, welche sie doch erst erweckt und ermuthigt hatte. Schon so oft hatte er diese Idee in den letztverstrichenen Stunden mit bitteren Empfindungen durchdacht, so daß jetzt ein Wuthblick in seinen Praktische Menschen. ZIj Augen funkelte, als er so mit fieberhaftem Schritt nach der Südfeite des Königsplatzes eilte. Aber es war dunkel auf dem Wege, — und hätte ihn auch Jemand beim matten Stcrnenschimmer erkannt, fo würde er wohl gezweifelt haben, ob der beinahe vernachlässigt gekleidete junge Mann mit dem zerknitterten und staubigen weißen Rock, mit dem leichenblassen Gesicht und den verwirrten Haaren der früher in seiner Kleidung so geschmackvolle und sorgfältige Herr Alexander Wie-rinx wäre. Indessen nahte er der Wohnung, in der diesen Abend großer Empfang war. Er erkannte sogleich die Villa Henkens und erinnerte sich, daß er in der Con-cordia Ewer dieser Damen versprochen hatte, zu kommen. Er bleibt an der Seite des Gitters stehen — die Villa liegt tief in dem Garten. Er sieht das Licht und hört die Musik, aber wagt nicht, einen Schritt vorwärts zu gehen. Die fröhliche Melodie des Galopps thut ihm weh, als klänge aus ihr ein Spottlied über seine Niederlage. Er ballt die Faust gegen das Haus und murmelt eine halblaute Verwünschung. Plötzlich dringt er durch das Gitterthor und springt schnell hinter die hohen Bäume, die an der Seite ihr üppiges Grün gen Himmel erheben. So schleicht er weiter, während er vor Furcht kaum athmet, wenn sein vor- 2^2 Praktisckc Mcnsckcn. sichtiger Schritt im Kiese knarrt. Immer lauter erklingt die Musik — schon hat er sich der Vorgalene der Villa genähert. Da sitzen einige Herren auf Schaukelstühlen, um zu rauchen und »X1ima:U te bieten« — eine Lichtwolke drängt sich nach außen. Alexander schleicht noch vorsichtiger weiter. Er sieht das Licht aus der peiilio^po über die Besitzung strömen. Eine große Menge malayischer dadoes kauern mit ihren Frennden und Gelaunten, die ans dem nächsten kaniponF l zusammengeströmt sind, am Wege nieder, um den Ball zu belauschen. Wenn er einen Schritt vorwärts geht, muß das Licht auf ihn fallen und muß man ihn sehen. Er bleibt im Schatten eines Kanaribaumes 2 stehen und späht hinein. Die tanzenden Paare wühlen bunt durcheinander. Mit der Schärfe des Gesichtes, die ihm jetzt eigen ist, unterscheidet er schnell Einige der Anwesenden. Er erkennt bald Alle. Da wandelt ein Paar ruhig auf und nieder, nachdem sie an dem Galopp eifrig Theil genommen haben. Der Cavalier ist ein Officier mit einem blonden Knebelbart und die Dame---------Mevrouw Buys. Alexander klammert sich an dem Baumstamme fest. Ein heftiger Zorn glüht in seinen Augen. Sein Athem 1 Xainponß, Flecken, Dorf. 2 Kanaribaum, eine Art von Mandelbaum. Praktische Mcnschtn, 213 wirb immer schwerer. Er lehnt den Kopf an den Baum — der folternde Schmerz zwingt ihn, die Augen zu schließen. Mit einem dröhnenden Schlage der großen Trommel endet der Galopp. Alexander blickt anf, als ob er aus einem Traume erwache. Die malayischen Bedienten, die Frauen und Kinder, die dem Balle zusehen, stehen anf und verbreiten sich über die ganze Besitzung. Wenn man ihn gewahr würde und schändlich verjagte! Er reißt sich von der Stelle los, auf welcher er im Zeitraume von wenigen Minuten so unsägliche Schmerzen gelitten hat — er schleicht wieder durch das dichte Grün, stürmt dann eilig dem Eingänge zu, und stiegt den Weg entlang ohne zu wissen oder zu sehen, wohin er sich wendet. Von diesem Augenblick an hat er jede Spur eines geregelten Gedankens verloren. Er flog wieder den Weg hinauf und eilte ängstlich weiter, als ob man ihn anf den Fersen verfolgte. So legte er in tnrzer Zeit den ganzen Weg zurück, der die Ostseite des Königsplatzes begrenzt, kam an dem Fort vorbei und betrat die Schleusenbrücke. Ohne sich umzusehen, stürzte er stets voraus und entfernte sich in der Richtung von Bazar-Baroe. 21 z Praktische Menschen. Es war Mitternacht. Der garän« sinländische Po. lizeiagent) am Wachthause Bazar-Baroe that eben zwölf Schläge auf den Block.' Schon verschiedene Male halte er einen Vorübergehenden bemerkt, der mit auf die Brust niederhängcndem Kopfe schnell hin« und herlief. Einen Augenblick hatte er ihm nachgestarrt nnd sich verwundert, daß derselbe Mann so oft vorbeikam — darauf hatte er, als er den nächtlichen Wanderer in der Dunkelheit verschwinden sah, sich niedergekauert, und sich einen neuen 8iri-Pfropfen 2 zurecht gemacht. Doch der Wanderer setzte seinen Weg immer mit ungewöhnlichem Eifer fort. Oft schlug er einen Seitenweg ein, und kehrte ebenso schnell zurück. Aber es schien nicht, daß seine Wanderung ein Ziel hatte, da er niemals sich nach dem Platze umsah, auf welchem er sich befand, und nur immer schnell mit sich selbst sprechend vorwärts strebte. Jetzt geht er den schmalen Fußweg eines Xainpon^ entlang. Während er an dem Bambus-pn^ar Geländer) entlang läuft. erhebt ein Wächterhund in einer der Hütten ein wüthendes Bellen. Es ist, als ob ihn dieß Bellen mit Schrecken erfüllte — er beeilt seineu Schritt immer mehr. Bei einer Krümmung des Fußweges stößt ' Wächw'zciclicn in Indccn, -' 8iri, Betel. Praktische MMcn. ZI 5 er in der Dunkelheit gegen den Stamm eines Klapperbaumes. Er wankt, bringt die Hand an den Kopf, — es fließt Blut über sein Gesicht. Einen Augenblick steht er still, Er zittert wie ein Fieberkranker und keucht mit krampfhafter Anstrengung nach Athem. Niemand von der eleganten Welt Batavia's wäre jetzt im Stande, auf dieser Stelle in diesem durch Leiden entstellten und jetzt noch mit Blut besudelten Antlitze die einst so schönen und regelmäßigen Züge, ras ehemals so blühende Äußere des Herrn Alexander zu erkennen. Er ist indessen immer weiter gegangen, immer den Krümmungen des Fußpfades folgend. Er schiebt sich längs der p»F»r i entlang; zuweilen hängt sich sein von leichtem Stosse verfertigter weißer Rock an die Spitzen des daindl>s2; er reißt ihn heftig los und kümmert sich nicht darum, ob er zerreißt. Es ist todtenstill in dem XamponF. Zuweilen nur bellt ein Hund. Zuweilen auch raschelt der Fuß eines Bewohners über die dürren Blätter seines Hofes. Zuweilen erklingen Stimmen in den Hütten — und dort ertönt der einförmige. 1 I'agar, Umzäunung. 2 Lamdoe, Bambus. 216 Prallischc Mnschc«. düstere Gesang eines IlaHi', der die Litanei der Todten anhebt. Endlich hat Alexander den Kam^on« durchkreuzt und befindet sich wieder auf dem breiten Wege. Vergebens will er noch immer eilig vorauslaufcn, eine große Ermüdung bemächtigt sich endlich seiner. Kaum 'ist er sich dessen selbst bewußt, obschon der schleppende, träge Gang, den er unwillkürlich angenommen hat, es deutlich zeigt; da glänzt in der Ferne ein Lichter-glanz, als ob noch eine Wohnung geöffnet und eine festliche Beleuchtung angezündet sei. An den Seiten des Weges stehen meistens ansehnliche europäische Wohnungen, dazwischen dann und wann ein chinesisches Haus. Langsam schreitet Alexander dem Lichterglanze zu. Als er näher kommt, bc-merkt er ein fremdartiges Gebäude in chinesischem Style, mit chinesischen Lampen von farbigem Papier erleuchtet. Uud diese Beleuchtung ist so reich angebracht, daß der ganze Vorplatz und selbst der Weg davon erhellt sind. Das Gebäude selbst ist nach dem Wege zu ganz offen. Zahlreiche Chinesen laufen fortwährend hinein und heraus. Von Innen ist es auf bizarre Art mit rothen Zetteln geschmückt, auf denen riesige chinesische Buch- 1 Hadji, Pilgrim. Praktische Acnschcn. Z17 staben stehen, ferner mit bnnten Papicrblumcn und mit rothen Wachskerzen. Alexander hält sich im Schatten und nähert sich so viel als möglich dem Eingänge. Er sieht verschiedene Chinesen auf dem Boden sitzen, die mit einander wür< feln und spielen. Mit der größten Feierlichkeit und dem vollkommensten Stillschweigen verfolgt man die Chancen des Spieles. Kaum steht er dort eine kleine Weile, als ihn ein Vorbeigehender lange und neugierig angafft. Als er dieß bemerkt, zieht er sich eilig an die Seite des Gebäudes zurück, auf der ihn eine dichte Finsterniß vollkommen verbirgt. Hier lehnt er die ungestüm klopfende Stirn gegen einen hölzernen Pfeiler, der das schiefe Dach des Gebäudes stützt. „So, kommen Sie auch noch einmal nach dem Spiele zu sehen? Es ist eine interessante Truppe, he?" Diese Worte erklangen plötzlich in Alexander's unmittelbarer Nähe und schienen von Jemand zu kommen, der sich im Spielhause befand. „Ja, aber ich begreife nicht, was die Kerle eigentlich spielen. Ich habe schon viel darüber nachgedacht, kann es aber nicht errathen!" So lautete die Antwort. Alexander erhob den Kopf wie von schmerzlichster Berührung, es war Van Spra< nekhuyzen's Stimme. 218 MklM Mensche». Und nun begann folgendes Gespräch i „Ich weiß es auch uicht recht. Sie thun, glaube ich. einen Griff in einen Sack mit Erbsen, streuen einige davon in einen Köcher und werfen dann. um zu sehen, ob es gleich oder ungleich ist'." „Das ist ein fades Spiel, ich spiele lieber Ecarte!" „Ich auch! Giebt es heute nichts Neues?" „Lucy ist mit Ruytenburg hinauf, um unsre Verlobung unter Mitwirkung von Papa Bokkerman definitiv festzustellen. Wenn Alles in Ordnung ist, gehe ich auch nach Buitenzorg!" „Bleiben Sie im Secretariat?" „Ich weiß es noch nicht. Vielleicht ziehe ich zu dem allen Manne, und fahre des Morgens in den Kaffeeplantagen herum als Privatcontroleur , äs mon Sie lachten laut auf; dann fuhr die erste Stimme fort: „Ich bin heute Abend auf Henkens Empfangsabend gewesen. Eine alberne Gesellschaft!" „Wer war da?" „Nichts Besonderes, außer Mevrouw Buys, die mir die hohe Auszeichnung von zwei Tänzen zu Theil werden ließ!" „Das ist eine Prachtfrau! War Herr Alexander Wierinx auch da?" Praktische Menschen. Z j 9 „Nein! Mina Henkeus erzählte mir, daß Buys den Menschen nach Samarang gesandt hat, weil er ganz und gar unbrauchlich war!" „Ausgezeichnet!" „Warum?" „Ach, es war ein dummer, aufgeregter Schwätzer, der mich einmal in meiner Abwesenheit bei Mevrouw Buys in Gegenwart Rnytcnburg's und Lucy's unverschämt verleumdet hat. kla pauvrs Luo^! I5IIs n'a p»8 iuvente 1a pouclre! Darum that es mir bei ihr in teiuem Falle Schaden, und bei Rnytenburg glücklicherweise auch uicht, da er es rasend trcnlos fand; wir sind nämlich zusammen angekommen, und er galt für meinen Freund. Am Samstag Abend habe ich Buys vor ihm gewarnt, es hat geholfen, wie ich merke!" „Hat er nicht zuweilen unter die feurigen Anbeter der Mevrouw Buys gehört?" „Mit weniger Erfolg als Sie, mein lieber Reeve! Letzten Samstag auf der Concordia lief er ihr nach eomms un Rolanli oniu^e! Aber sie findet ihn ziemlich dete und hat ihn darum links liegen lassen." Ein jäher, entsetzlicher Schrei erklang in diesem Augenblicke in der Nähe des Spielhauses. Es war Alexander, der vor Wuth und Leiden den Pfeiler des Daches, an dem er sich festgeklammert hatte, losließ 229 Piaklischc Vtcnschtn. und hinein stürzen wollte. Aber als er einen Schritt vorwärts that, wankte er, ein heftiger Schwindel erfaßte ihn, ein dumpfes Geräusch tönte in feine Ohren, er wollte rufen, tonnte aber keinen Laut von sich geben — ohnmächtig streckte er seine Hände nach dem Spielhause aus und sank in der Dunkelheit bewußtlos zu Boden. XIII. Vorm Hcrr Andre Unloine Oxiraull ^»l'ois tin ^'icl'cswerk verlichlcl und cioi^ fths paffcudc ?''»c»n'rklmgm »mchl. Der sogenannte Kasernenwcg ist keineswegs einer der reizendsten Orte, welche die schöne Pillastadt Welte-vreden den neugierigen Spaziergängern anzubieten hat. Nur eine Stelle verdient daselbst nähere Bekanntschaft. Es ist der Platz, auf dem sich die ausgebreiteten Gebäude des großen Militair- und Bürgerhospitals erheben. Das ist auch die Meinung des Mr. Andre Antoine Guirault Dubois, der zehn Tage nach den eben erzählten Vorfällen aus seinem denäi steigt, und sich Praktische Menschen. ZZj nach dem Haupteingange des Hospitals begiebt. Es ist acht Uhr am Abend, die Schilrwache läuft ruhig vor dem Gitter auf und nieder. Dubois läuft schnell hinein und geht zuerst nach der Wachtstubc des dienstthuenden Arztes. Dieser steht auf der Schwelle, um eine Cigarre zu rauchen. Es ist ein junger Mann mit kurz verschnittenen: Haar und einem großen rothen Knebelbarte, der schweigend und feierlich Dnbois die Hand reicht. „Wie geht es?" fragt der Letztere. „Sehr schlecht, teine Hoffnung!" antwortet der Militairarzt — „das cerebrate Leiden ist beseitigt, aber die Dyssenterie giebt ihm den coup 60 «race." „Kann man nichts dagegen thun?" „Wenig, ich werde aber eben noch Etwas versuchen'. Aber ich darf Ihnen keine Hoffnnng geben, er ist ganz entkräftet, und seit Mittag so klar im Kopfe und so hell von Begriffen, daß ich sehr unruhig bin!" „Wird ihn mein Besuch stören?" „Im Gegentheil' er fragte mich schon zweimal, ob Sie schon gekommen wären!" Schnell eilt Dubois die Treppen der Terrasse hinauf , welche sich als Vorgalcrie an den Krankenzimmern hinzieht. Er wartet einen Augenblick, ehe er in eins dieser Zimmer eintritt, um zu sehen, ob der Kranke 222 Praktische Menschen. vielleicht eingeschlummert ist. Ane tleine Lampe brennt auf dem Tische ueben der eisernen Bettstelle. Ihr Schein fällt auf das Gesicht des Kranken, der im Zimmer verpflegt wurde. Dieses Gesicht ist schauererregend, bleich. Wie tief eingefallen die Augen, so sind sie dennoch geöffnet. — Erschöpfung uud Kraftlosigkeit haben jcden Ausdruck von Schmerz und Leid verwischt. Dubois tritt in das Zimmer. „Wie geht es, Wierinx?" fragt er leise. Alexander reicht ihm die magere, weiße Hand und versucht matt zn lächeln. „Besser!" sagt er endlich mit flüsterndem Tone. „Ich bin heute sehr ruhig. Ich habe viel denken können. Die Nacht wurde ich auf einmal frei von dem folternden Kopfschmerze. Es wird nicht lange mehr dauern, mein bester Dubois!" Dubois wendet das Gesicht ab und schüttelt mechanisch den Kopf. „Nein, das wissen Sie selbst, lieber Freund! Ich lebe keine acht Tage mehr! Ich habe Alles bedacht. Alles noch einmal erwogen, und — ja, ich darf sagen, daß ich mein Schicksal gelassen erwarte. Wahrlich, ich trauere nicht über mich selbst,---------ich trauere um meine — — liebe Mutter — —" Alexander hat sich in seinen Kissen etwas aufge- Praktische Menschen. 223 richtet. Seine Stimme, die beim Sprechen kräftiger geworden war, sank jetzt bis zu einem kaum hörbaren Flüstern herab. „Ach, Wierinx!" sagte Dubois, „das sind überspannte Ideen; wer weiß, wie bald Sie wieder gesund sind! Wir haben Sie hier nöthig, wir wollen zusammen ein Komptoir errichten und noch manchen glücklichen Abend zusammen verleben, wenn ich erst mit meiner Braut verheirathet bin!" Alexander lächelte nun wirklich. Er erhob sich etwas mehr und fragte hastig: „Ist es wahr, Dubois? Sind Sie mit Fräulein Van Weeveren verlobt?" „Schon im Stillen seit einigen Wochen. Meine Stellung ist noch lange nicht glänzend, und Sie begreifen, daß ich Ernestine nicht dem leisesten Scheine der Lächerlichkeit Preis geben will. Aber gestern schlug mir Herr Deelmans vor, mich unter sehr guten Bedingungen mit ihm zu associiren. Sie wissen, daß sein Komfttoir mit dem von Buys und Andermans concurrirt, ich habe also bessere Aussichten"--------------- „Und Sie müssen glücklich werden! Sie haben Er-fahruug, Überlegung und Takt! Sie werden Ihr Glück machen, Sie werden nicht untergehen und Schiffbruch leiden---------wie ich!" 2Z4 Äraktislbt Mnschcn. Ein flüchtiges, mattes Noth ergoß sich über die gespannten Züge des Kranken. Er ergriff die Hand seines Freundes und versuchte sie zu drücken. Dubois hielt diese Hand mit sanfter Gewalt fest und versuchte auf's Neue. ihm Muth und Hoffnung einzusprechen. „Sie sind ein edler uud wahrer Freund!" hub Alexander mit entschlossener und ruhiger Stimme wieder an, „aber ich bin über meinen Znstaur vollständig im Klaren. Ich lcirc nicht mehr, ich denke frei wie früher, allein ein untrügliches Gefühl sagt mir, daß mein Ende bald kommen wird. Schmeicheln wir uus darum nicht mit falscher Hoffnung'. Vielleicht fühle ich mich niemals wieder so frei im Kopfe, als jetzt — — und ich habe Sie um etwas zu bitten, Dubois!" Die beiden Freunde sahen einander mit tiefer Rührung in die Augeu. Der Leidende mit der Farbe des Todes und den eingefallenen Wangen, mit kahl geschornem Kopfe, entblößt von dem sonst so üppigen Lockenbciare. — die Augcu iu Fiebergluth erglänzend. — und rer breitschultrige Dubois mit dem lebendigen, klugen Augen-aufschlage, mit regelmäßigen, lebendigen Gesichtszügeu, aus denen nur Entschlossenheit uud Vebensmuth strahlte. Alexander fuhr fort: „Sie haben nach Amsterdam geschrieben, ich ranke Ihnen, das ist gut! Aber Sie dürfen niemals sagen. Praktische Menschen. IIg was die Ursache meines Todes ist; eine heftige Dyssen-terie hat mich---------dahingerafft!" — Der Kranke ließ den Kopf sinken. Leise flössen einige Thränen über fein Gesicht, feine farblosen Lippen flüsterten: „Mntter, beste, liebe Mutter!" aber bald fah er Dubois wieder mit derselben Festigkeit wie vorher an und sagte: „Ich werde mich gut halten, Dubois! Es soll mir in meinen letzten Augenblicken glücken, wenn ich es auch vorher nicht konnte.---------Ich habe mir heute felbst das Urtheil gesprochen. Ich habe Alles erwogen. Ich beschuldige Niemand. Verwöhnt und eitel bin ich hier angekommen, ich wollte gefeiert werden, wie zu Hause von meinen Freunden, ich war unfähig, die geringste Enttäuschung zu ertragen, ich schloß mich an Jeden an, der mir fchmeichelte und mir Gehör fchenkte. So habe ich mich auch--------------an Mevrouw Buys angefchlossen! Glauben Sie mir — — — es war nichts Anderes im Spiele, nichts Unedles, nichts-------- Strafbares!" Dubois hatte den Leidenden mit ehrerbietiger Bewunderung angestarrt. Manchmal hatte er fchon felbst ähnliche Gedanken gehabt, aber niemals geglaubt, sie ans Alexander's eigenem Munde zu vernehmen. Er Indische Nilliotkcl, II. 15 226 Praktische Menschen. machte eine flehende Geberde, als ob er seinen sterbenden Freund bitten wollte, sich nicht zu sehr anzustrengen, und sagte mit bebender Stimme: „Sie beurtheilen sich zu hart, Wierinx! denn die Welt ist hier kalt und selbstsüchtig wie überall. Sie lebten im Zauberlaude der Träume und Illusionen und fanden hier nichts, als kalte, strenge, praktische Menschen, die Sie bei jeder Begegnung beleidigen mußten. Sie verlangten Freundschaft, Achtung, Aufmerksamkeit, zartes Begegnen, und Sie waren bereit, dieselben doppelt zu vergelten — man sah von oben herunter auf Sie nieder, und überließ Sie Ihrem Schicksale. Sie suchten nach einem einzigen Wesen, das wenigstens Ihren Kummer hören wollte, und es war Ihre Schnld wahrlich nicht, daß Mevrouw Buys sich kurze Zeit mit Ihnen beschäftigte." „Richtig, Duboisi Sie hat sich kurze Zeit mit mir beschäftigt. Ich brachte auf kurze Zeit ein neues Element in den einförmigen Verlauf ihrer täglichen Vergnügen. Dazu habe ich lange genug gelebt; aber es war meine Schuld nicht, daß ich verlangte, überall mit offenen Armen aufgenommen zu werden, weil ich unter so günstigen Voraussichten und mit einer Menge Empfehlungsbriefen Europa verlassen hatte!" Mit Angst und Rührung sah Dubois in das Ge- Praktische Menschen. Z27 sicht seines tranken Freundes. Alexander's Augen erglühten immer mehr, er sprach mit stärkerer Stimme als anfänglich. Vergebens mahnte Dubois zur Ruhe und zum Schweigen. „Lassen Sie mich sprechen," fuhr Alexander fort, „so lange mich die Kraft noch nicht verläßt. Ich will nicht sterben, bevor ich dem einzigen Freunde, den ich hier besitze, nicht Alles gesagt habe. Mein Gewissen macht mir Vorwürfe, daß ich versucht habe, die Zuneigung dieser Frau zu gewinnen, um mich dadurch für die Mißachtung ihres Mannes zu entschädigen. Ich wollte wirklich Jemanden theilnahmsvoll für meinen Kummer sehen, und als sie mich dazu ermuthigte, ergriff ich aus gewohnter Eigenliebe ihre Hand — das ist mein Verbrechen!" Mit einem schweren Seufzer sank er in seine Kissen zurück. Dubois kniete schnell neben dem Bette des Leidenden nieder und sah ihn mit banger Furcht an. Alexander hatte die Augen geschlossen und athmete kaum hörbar. Jetzt trat der Militairarzt mit dem langen, rothen Knebelbarte leise herein. Er ergriff die kraftlose Hand des Kranken und untersuchte seinen Puls, dann winkte er dem erschreckten Dubois, der aufstand und sich mit ihm hinaus in die Galerie begab. „So gut als todt," sagte der Doktor mit größter 15» 228 Praktische Menschen. Ruhe und leise flüsternd, als ob der Tob selbst in ihrer unmittelbarer Nähe sei; — „ich hatte es wohl erwartet. Man müßte von Eisen sein. um in diesem Klima eine solche Gehirnkrankheit zu überwinden. Sie bleiben wohl?" „So lange Sie wollen. Aber ist wirklich so große Gefahr?" „Er lebt keine Stunde mehr!" „Lassen Sie uns denn hineingehen!" „Es ist noch nicht nöthig. Er liegt in einer Art Ohnmacht, bei der ich nichts thun kann, und aus der er wahrscheinlich noch einige Male für Minuten erwachen wird. Hat er hier Familie?" „Niemand!" „Dann wird wohl das Komptoir für das Begräb-niß sorgen." „Das weiß ich nicht!" Dubois seufzte tief und verfiel in ernstes Nachsinnen. . „Etwas ist mir noch ein Räthsel" — fuhr der Arzt mit dem rothen Barte fort, — „wo er die Nacht gewesen ist, in welcher er aus dem Marine-Hotel weggeschlichen ist, und in welcher er beim ersten Schimmer des folgenden Morgens von dem zaräu? von Bazar-Baroe gefunden wurde!" Praktische Mcnschcn. ZZ9 „Ich habe ihn gestern gefragt. Er war aus Verdruß über---------seine Geschäfte die ganze Nacht herumgeschwärmt, und war endlich vor Erschöpfung zusammengesunken. Er weiß sich nicht mehr zu erinnern, wie er in's Hotel zurückgekommen ist; aber sein Bediente hat mir erzählt, daß er in einem Wagen zurückgebracht wurde, den man auf Bazar-Baroe für ihn genommen hatte, weil er nicht gehen konnte. Er sollte gerade diesen Tag nach Samarang abreisen, und Herr Andermans war schon um sieben Uhr an seinem Zimmer, um zu sehen, ob er fertig sei. Noch am selben Morgen um neun Uhr wurde er im Auftrage seiner beiden Chefs hierher gebracht! Aber wollen wir nicht wieder hineingehen?" „Hm! Wir können einmal nachsehen!" Kaum hörbar traten beide Männer wieder in das Zimmer. Nicht die geringste Veränderung war in dem Zustande des Patienten eingetreten. Der Arzt untersuchte nochmals seinen Puls. „Es bleibt Dasselbe!" sagte der Militairärzt, indem er seinen Knebelbart um den Finger wickelte. „Ich kann nichts dabei thun. Rufen Sie mich. wenn ich nöthig bin!" Dubois blieb allein mit dem Sterbenden. Eine tödtliche Stille war um ihn her. Er setzte IIH Praktische Menschen. sich am Bette nicdcr und dachte nach. In dem Be« kenntniß des Sterbenden lag noch dieselbe leidenschaftliche Aufregung, die ihm früher immer zu eigen gewesen war. Er war nicht so schuldig, als er sagte. In der That war cr in vieler Hinsicht eitel und verwöhnt, aber aus wie vielen Gründen konnte man riefe kränkliche Weichheit in seiner Natur nicht entschuldigen! Da war zuerst die innige ^iebe, die ihn mit seiner Mutter verband, zumal seit Familienunglück sie getroffen hatte — da war sein ächt ritterliches Streben, um mit eigener Kraft ihr Vermögen herzustellen — da waren die Lobeserhebungen, mit denen man ihn so viele Jahre lang überschüttet hatte i zuerst weil er reich, jung und geistreich war; später wegen seines Talents auf dem Gebiete der Wissenschaft. Dubois neigte das Haupt. Er blickte mit tiefem Mitleide« zu ihm nieder. Wie viel erle Kräfte gingen mit diesem jungen Manne zu Grunde'. Warum hatte er sein Vaterland verlassen? Mit all' seiner Energie und all' seinem Stolze hatte doch die allzu delikate, beinahe frauenhafte Weichheit seines Gemüths den Kampf mit der praktischen Welt, die ihn umgab, niemals bestehen können. Bis zum Tode durch die steife Kälte seines Chefs verwundet, für kurze Zeit durch die Laune einer selbstsüchtigen, gefühllosen Frau angezogen. Plötzlich ver- Praktische Mcnschcn. IZI stoßen und verschmäht, verjagt und überzeugt, daß er seine Zukunft für immer verloren habe — so war Unentfchlossenheit und Verzweiflung über ihn gekommen, und hatte ihn fortgerissen, bis er hier lag, sterbend in der Blüthe seiner Jahre. Eine halbe Stunde war so verstrichen. Die Stille wurde durch nichts unterbrochen — draußen sangen tausend Insekten ihr einförmiges Lied. Der Kranke hatte sich nicht bewegt — sein Freund hatte sich durch den Lauf seiner wehmüthigen Gedanken fortreißen lassen und schweigend gewartet, bis er gerufen wurde. Plötzlich richtet sich Alexander halb auf. Dubois springt erschreckt in die Höhe. Wunderbar, es spielt ein ruhiges Lächeln um die trockenen Lippen des Leidenden. „Bester Dubois!" flüstert er sehr langsam, „ich kann Ihnen sehr gute Nachrichten bringen. Ich reise nach Holland — ich verlasse Batavia"------------- Ein Schauer durchfuhr die kräftigen Glieder des Freundes. Und wieder lispelte die beinahe klanglose Stimme: „Sogleich reise ich fort, und werde bald zu Hause sein. Ich träumte eben, daß ich eine liebe Mutter in unserer Familienslube sähe — dort in Amsterdam!-------- Ich bin sehr eilig, Dubois! Geben Sie mir Ihre 232 Prnktifcht Mnfchtn. Hand! Grüßen Sie Alle von mir, wollen Sie? Ihre Verlobte vor allen Dingen, und Andermans und Buys; Buys auch---------danken Sie ihm für die Sorge, die er mir in meiner Krankheit bewiesen hat. Ich bin besser, um Vieles besser — ich gehe in's liebe Vaterland --------zu meiner Mutter"------------- Mit einem Male war Alles still. Der leidende sank langsam in sein Kissen zurück. 9toch einmal schlug er das gebrochene Auge zu seinem Freunde auf. Dann war Alles vorbei. Ein juuges und stolzes Herz hatte aufgehört zu schlagen! Hastige Schritte näherten sich von der Vorgalerie. Zwei Besuchende traten eiu. Der Militairarzt mit dem langen, rothen Barte ließ einen vornehm aussehenden Herrn vorausgehen. Dubois winkte mit der Hand und zeigte auf den Todten. „Ich dachte es wohl!" sagte der Arzt, trat näher und fühlte nochmals mechanisch reu Puls. Auch der vornehme Herr kam nun näher. Es war Herr Karl Heinrich Buys, der den Kranken besuchen wollte. Einen Augenblick stand er schweigend vor der Leiche, dann starrte er Dubois forschend in's Gesicht, der tief niedergeschlagen den Kopf und die Brust niedersinken ließ, und endlich sagte er: „Das ist cm trauriger Fall, meine Herren! Aber Praktische Menschen. 233 gegen Fieber und Dyssenterie ist nicht viel zu thun. Es thut mir leid um den Mann, denn er wäre mit der Zeit noch ein guter Advokat geworden. Doktor Soelers — das Begräbniß geschieht auf meine Kosten!" XIV. WnK die Salinen am IHorgrn um ließe» Ahs ans dmi Friedhole von Kannliang sahen, und warum Ulevrouw ÄuzjS am selben Ul'ende ihre zweile !j».l?5ak alle die Feste der ganzen Woche — ich langweile mich schon, ehe ich hingehe!" Der Ball bei Ruytenburg war diesen Abend wirklich sehr glänzend. Ganz Batavia mit Allem, was es in dem dilute Vortreffliches, Angesehenes und Schönes besaß, war reichlich vertreten. Die ganze Familie Bottcrman aus Bmtenzorg war anwesend. Die Zahl der Gold- und Iuwclkleinodien, Armbänder, Ringe und Haarnadeln, welche die Damen bei dieser Gelegenheit zur Schau trugen, erreichte wirtlich eine fabelhafte Höhe. Die Braut hatte ein außergewöhnlich' glühendes Aussehen, selbst ihr Hals und ihre Arme schienen vor Entzücken geröthet. Der Bräutigam wich keinen Augenblick von ihrer Seite, er übertraf sich selbst im leisen Flüstern der süßesten Schmeicheleien, und lachte so oft, als ob er es absichtlich thäte, um seine weißen Zähne genugsam bewundern zu lassen. Indische Biblwchel. II. 1s Z4I Praktische McnWn. Sie wurden durch Jeden der ncnankommcnden Gäste beglückwünscht. Man freute sich sehr über das junge Paar, und sagte ihnen allerlei fröhliche, feierliche oder alberne Dinge. Man beglückwünschte anch den alten Bokkerman, und Jeder schien ihm mit angenehmem Lächeln und glänzendem Blick zu erklären, daß Alles pour Is mieux clan«? le moillenr ds8 mondes wäre. Es wurde mit der größten Aufregung getanzt, und Ruytcnbnrg lachte so laut und lustig, daß Jeder, der sich in seiner unmittelbaren Nähe befand, unaufhörlich mitlachen mußte. Herr Buys und seine Frau waren auch gekommen. Der Erstere stand in tiefen Gedanken allein, die Letztere schwebte eben in einem Walzer durch den Saal. Warnm Buys so ernsthaft aussah, wußte Niemand als Andermans, der ihn eben begrüßt und von ihm gehört hatte, daß die Krankheit seines Töchterchens sich verschlimmert habe, aber daß ihn seine Fran gewissermaßen gezwungen habe, dem Feste'beizuwohnen. Mevrouw Buys amüsirle sich ausgezeichnet. Man hatte ihr einen jungen Komptoirhelden aus Samarang vorgestellt, der nach Batavia übergesiedelt war und der einen außerordentlichen Takt besaß, mit Damen, wie Mevrouw Buys, umzugehen. Sie hatte nicht viel an ihr Kind gedacht, denn wenn es anch noch so krank Praktische Menschen. Zzg war, so wollte dasselbe doch nichts von ihr wissen und wollte nur allein von Fräulein Van Weeveren besorgt sein. Darum hatte sie auch Buys gezwungen, das Fest mit ihrer Gegenwart zu verherrlichen, und hatte sich außerordentlich geärgert, daß er so lange in der Krankenstube blieb, und so lange mit dem Doktor gesprochen hatte. Und sie tanzte fortwährend — und mit der größten Liebenswürdigkeit bewegte sie sich unter der Menge in Gala, und uickte links und rechts mit den sichtbarsten Zeichen von Zufricdeuheit. Schon war rie Hälfte des Abends auf die allerangenehmste Weise verstrichen, und die zweite quaariiio äo8 laiiciLl» wurde eben nuter vielem fröhlichen Gelächter geordnet, als sie plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter fühlte und beim Umsehen ihren Mann bemerkte, der ihr leise zuflüsterte: „Adele, wir müssen fort. Mariechen stirbt?" Sie hatte vor der Welt vollkommen Macht über sich und machte also dem Samarangschen Komvtoirhel-den eine sehr höfliche Entschuldigung; er mußte nun eine andere Dame für seine Quadrille suchen. Aber als man leise dem Festgewühle entronnen war und in schnellem Trabe nach Hause fuhr, saut sie mit einem un-zufriedeuen Gesicht in sich selbst zusammen. Buys trieb den Kutscher unaufhörlich zur Eile an. In der größten 16* 344 Praktische üitcnscken. Hast kam man endlich auf den Vorplatz der Villa. Der Wagen stand still. Damoen, der Lampenbediente, ging zu seinem Herrn, nnd sagte ihm (>twcw leise in's Ohr. Die kleine Dulderin war in den Armen der Gouvernante verschieden! Goenong Sahari. April, 1863. Druck von «reitlopf und Hä« »>!^u!»N»!!«>. Leipzig: Ludwig Dcnickc lb68.