75315 Son'derabdruck aus „Internationale Monatsschrift f. Wissenschaft'Kunst u.Technik“. 12.Jahrg. 2 Herausgegeben v. Max Comicelius, Berlin W. 30 • Verlag v. B.G.Teubner, Leipzig u. Berlin Vergangenheit des sächsischen und überhaupt des norddeutschen Bodens mit seiner Menge slawischer Ortsnamen und anderen Erinnerungen an den Geschichtsforscher stellt, besondere Gründe vorhanden sein, diese Lücke auszufüllen.“ Die Errichtung einer Professur der slawischen Sprachen in Leipzig würde „den Glanz der Universität um so mehr erhöhen, je weniger man anderwärts für die Befriedigung dieses Bedürfnisses gesorgt hat“. Zum Schlüsse meint die Fakultät, daß vorerst auch eine außerordentliche Professur, wenn zu einer ordentlichen keine Mittel vorhanden wären, mit einer geeigneten Persönlichkeit besetzt werden könnte. Das Ministerium32) (26. Oktober 1867) verkannte keineswegs, daß auch eine Vertretung der slawischen Sprachwissenschaft in Leipzig wünschenswert sei, doch könnte es aus Mangel an Mitteln auch für eine außerordentliche Professur nicht auf-kommen. Schon nach 2 Jahren kam die Frage wieder in Fluß. Am 27. November 1869 richtete die wendische Prediger-Konferenz der Oberlausitz an das Ministerium ein Gesuch33) um Errichtung „eines Lehrstuhls bei der Universität Leipzig für slawische Sprachvergleichung mit besonderer Berücksichtigung der wendischen Sprache“. Dadurch würde nicht bloß eine Lücke im Reiche der Wissenschaft ausgefüllt, sondern auch für die vaterländische Kirche ein praktischer Nutzen geschaffen werden, wenn den daselbst studierenden Wenden Gelegenheit geboten würde, unter Leitung eines des Wendischen vollkommen mächtigen Philologen sich einen tieferen Einblick in ihre später amtlich zu gebrauchende Muttersprache anzueignen; dieser philologische Unterricht würde zugleich denjenigen deutschen Studierenden willkommen sein, die sich entschlossen haben, ein kirchliches Amt unter den Wenden annehmen zu wollen. Wie der weitere Verlauf zeigt, stand im Hintergrund 32) Acta die Lektoren betr. f. 64. 33) Acta die ao. Professoren der phil. Fak. betr. Vol. I f. 45—46. 31) Acta die Lektoren betr. f. 62. ein sehr ernster Kandidat, Dr. Christian Traugott Pfuhl31), Professor am Vitz-thumschen Gymnasium in Dresden, der nebst mehreren Abhandlungen ein Lausitz-Wendisches Wörterbuch (1866), ein grundlegendes Werk, und eine Laut-und Formenlehre der Oberliausitz:-Wendischen Sprache, mit besonderer Rücksicht auf das Altslawische“ (1867) herausgegeben hatte. Das Ministerium verlangte von der Fakultät einen Bericht34 35 36) (27. November 1869), ob sie die Berücksichtigung des Wunsches für angemessen ansehe und welche geeigneten Männer ihr bekannt sind, „die etwa als Privatdozenten oder als außerordentliche Professoren mit einem kleineren Gehalt... zur Befriedigung jenes angeblichen Bedürfnisses angestellt werden könnten“. Die Fakultät begrüßte in einem von Georg Curtius verfaßten Berichte30) (5.—6. Februar 1870) auf das freudigste diese Aufforderung, die ihr eine Aussicht auf die Erfüllung eines schon vor Jahren ausgesprochenen Wunsches ermöglichte, und führte „nach reiflicher Überlegung und Prüfung dieser Frage“, anknüpfend an den Bericht vom 19. Oktober 1867, folgendes aus: Wie früher bei der Ablehnung eines Lektorats liegen ihr auch jetzt praktische Absichten fern. Indes scheint auch die Konferenz der wendischen Pastoren selbst, indem sie sich des Ausdrucks „slawische Sprachvergleichung“ bedient und anerkannte Männer der Wissenschaft namhaft macht, etwas Höheres zu erstreben. Es kann sich daher „nur um die Berufung eines Mannes handeln, welcher, ohne daß er es ablehnt, für jenes praktische Bedürfnis zu wirken, auf der Höhe 34) Jagic, Istoriju slav. fil. 731—732, Otto’s Slavnik Naucny XIX 676. 35) Acta die ao. Prof. betr. I. f. 44. 36) A. a. O. 47—50. der jetzigen Sprachwissenschaft und den Vertretern anderer Zweige dieser Wissenschaft unter uns ebenbürtig zur Seite stehe“. Die slawischen Sprachen haben ein Interesse für den Sprachforscher als solchen wie für den Geschichtsforscher, namentlich in Nord- und Mitteldeutschland. „Durch die Errichtung eines Lehrstuhls für slawische Sprachen — denn so würde der Name wohl am besten lauten — würde Leipzig einen neuen Vorsprung vor allen übrigen deutschen Universitäten mit Ausnahme der österreichischen und Berliner (! sollte wohl heißen Breslauer) erlangen, denn selbst in Berlin fehlt bis jetzt, obwohl von dem Haus der Abgeordneten mehrfach beantragt, eine solche Professur.“ Die slawischen Sprachen sind untereinander so nahe verwandt, daß ein gründliches Studium der einen ohne Rücksicht auf die andere, namentlich aber ohne Rücksicht auf die älteste unter ihnen, die alt- oder kirchenslawische (altbulgarische) vollkommen unmöglich, ist, daß aber andererseits strenge wissenschaftliche Studien stets auch für den praktischen Gebrauch einer unter ihnen den entschiedensten Gewinn abwerfen. Die besonderen Bedürfnisse der Lausitz können also sehr wohl im Anschluß an die wissenschaftliche Pflege der slawischen Sprachen bis zu einem gewissen Grade befriedigt werden.“ Schwierig war die Personenfrage. Die Fakultät wendete sich nach Wien an Miklosich, welcher, sachlich und kurz wie immer, an Georg Curtius schrieb37) (15. Januar 1870): „Nach reiflicher Überlegung möchte ich Leskien empfehlen, nicht sowohl wegen seiner bisherigen, weder durch Umfang noch durch größere Bedeutung hervorragenden Leistungen auf dem Gebiete der slawischen 37) Bei den Acta s. o. Sprachforschung, als vielmehr deswegen, weil begründete Hoffnung vorhanden ist, er werde auf diesem Gebiete eine bedeutende wissenschaftliche Tätigkeit entwickeln: er ist dazu vorbereitet. Pfuhl hat sich durch einige Schriften als Kenner des Slawischen bewährt, es scheint mir jedoch, daß ihm zu größeren Leistungen weiter und tiefer gehende sprachwissenschaftliche Studien fehlen“. In Übereinstimmung mit Mikio-sich, dessen Voraussagung sich so glänzend bewährt hat, schlug also die Fakultät an erster Stelle, den außerordentlichen Professor des Sanskrit und der Sprachwissenschaft in Jena A. Leskien vor, der sich daselbst unter Schleichers Leitung ganz in das Studium der slawischen Sprachen vertiefte und die russische beherrschte, so daß er sich „das für einen Slawisten nicht eben schwer zu erlernende Wendische aneignen“ könnte, „wozu es etwa eines mehrwöchentlichen Aufenthaltes in der Lausitz bedürfte“. Leskien wurde als außerordentlicher Professor der slawischen Sprachen für 800 Taler schon für das Sommersemester 1870 berufen und nach einer Vorlesung „über den Untergang der slawischen und litauischen Sprachen in Norddeutschland“ am 22. Juli 1871 verpflichtet. Als er 1876 einen Ruf als ordentlicher Professor der vergleichenden Sprachwissenschaft nach Graz erhielt38), wo er Johannes Schmidt ersetzen sollte, konnte auf die Anfrage des Ministeriums die Fakultät abermals in einem Berichte von G. Curtius39) (29. Juni) rühmend hervorheben, daß Leskien während eines kurzen Zeitraumes von 6 Jahren „ein von den gewöhnlichen Wegen der Studierenden abwärts liegendes Lehrfach an der hiesigen Universität zu entschiedener Geltung gebracht“ hat, indem er es namentlich verstand „stets einen kleineren Kreis 38) Acta die Denomination der o. Prof, betr. VI. f. 427. 39) A. a. O. 430. jüngerer, auf Sprachstudien gerichteter Leute anzuregen und anzuleiten“. Die lehramtliche und wissenschaftliche Tätigkeit Leskiens sowie der Umstand, daß ein so umfangreiches Fach wie das der slawischen Sprachen, mit denen er noch das Litauische in seinen Vorträgen verbindet, sich für eine ordentliche Professur in vollem Maße eignet, bewog die Fakultät, seine Ernennung einstimmig auf das wärmste zu befürworten. So wurde Leskien am 7. Juli 1876 zum ordentlichen Professor der slawischen Sprachen an der Universität Leipzig40) ernannt, deren Lehrstuhl er zu beso'nders hohem Ansehen brachte, war aber nun der Reihe nach der dritte Ordinarius an einer Universität in Deutschland, denn bereits 1874 wurde eine ordentliche Lehrkanzel der slawischen Philologie in Berlin errichtet. Daß Berlin so lange einer slawischen Lehrkanzel entbehrte, lag an den Verhältnissen. Zuerst konnte keine geeignete Kraft gefunden werden. Der 1840 bis 1860 daselbst wirkende Privatdozent A. C y b u 1 s ki verstand es offenbar nicht, sich zur Geltung zu bringen, was bei dem ausgesprochenen polnischen Literaturhistoriker um so begreiflicher ist, wenn man bedenkt, wie in jenen Jahren selbst große Gelehrte über die Geschichte der neueren deutschen Literatur dachten. Die von der Leipziger Fakultät erwähnten Beschlüsse des preußischen Abgeordnetenhauses förderten auch nicht die Sache, da sie auf Wünsche der Polen zurückgingen, die eine polnische Lehrkanzel im Auge hatten. Eine glückliche Lösung dieser Frage war eigentlich einem Zufall zu verdanken. Miklosichs hervorragendster Schüler und sein Nachfolger in Wien V. v. Jagić, der sich in den Jahren 1861—70 in Agram hauptsächlich durch seine rege Tätigkeit in 40.) A. a. O. 431. der vom Bischof Stroßmayer gegründeten südslawischen Akademie der Wissenschaften einen bedeutenden Namen als Slawist gemacht hatte, wurde 1871 nach Odessa als ordentlicher Professor für vergleichende Sprachwissenschaft berufen. Als solcher kam er Oktober 1871 bis Januar 1872 nach Berlin41), um bei Weber Sanskrit zu studieren. Da fragte ihn sein Lehrer, was er von der Forderung einer polnischen Lehrkanzel halte. Jagić setzte das als etwas Bekanntes voraus, wunderte sich aber, daß Berlin keine allgemeine slawistische Lehrkanzel besitzt, wie sie Miklosich in Wien innehat. Darauf schrieb Weber einen Artikel in die Spenersche Zeitung, welcher die Frage in Fluß brachte. Ganz besonders interessierte sich dafiy Müllenhoff, der auch bei Miklosich in Wien und bei E. Kunik in Petersburg anfragte. Wenigstens Miklosich muß auf Jagić hingewiesen haben. So erhielt dieser in Odessa im Winter 1873/74 eine Anfrage des preußischen Ministeriums, ob er eine slawische Lehrkanzel in Berlin annehmen wollte. Jagic antwortete, daß er im Falle, daß es sich um eine Befriedigung der Wünsche der Polen handle, bittet von ihm abzusehen, aber bereit ist, eine allgemeine Lehrkanzel nach Art der von Miklosich in Wien anzunehmen. Da man im Ministerium in der Tat eine solche im Auge hatte, so bekam Jagic Gelegenheit, von 1874—80 bis zu seiner Berufung nach Petersburg, in Berlin zu wirken, wo ihn Germanisten und Sprachvergleicherhörten, die hauptsächlich russischen Unterricht wünschten, sonst aber Polen. Da Jagić in den ersten beiden Jahren von Hörern nicht geplagt wurde, fand er Muße, 1876 das „Archiv für slawische Philologie“ nicht bloß zu begründen, wobei für die Übernahme des Verlags von 41) Nach mündlichen Mitteilungen von V. v. Jagić. seiten der Weidmannschen Buchhandlung Mommsens Empfehlung ins Gewicht fiel, sondern auch mit eigenen Artikeln und namentlich mit zahlreichen und ausführlichen Rezensionen und bibliographischen Berichten anzhfüllen. So fand auch der letzte Punkt der Vorschläge Šafafiks aus dem Jahre 1841 nach 35 Jahren seine Verwirklichung, und es gehört zu Jagk's größten Verdiensten, daß er das erste der slawischen Gesamtphilologie, nicht nur einer einzelsprachlichen, gewidmete Organ schuf, um alle Slawisten ein einigendes Band schlang und die gelehrten Forschungen der Slawen wenigstens auf einem und dem wichtigsten Gebiet in deutscher Sprache der westeuropäischen, Gelehrtenwelt zugänglich machte. Nach Jagics Abgang wurde in Berlin 1881 zum außerordentlichen, 1892 zum ordentlichen Professor ernannt der Pole Alexander Brückner, einer der universellsten, iruchtbarsten und geistreichsten, dabei aber eigene, oft sprunghafte Wege gehenden Slawisten, der das Hauptgewicht auf eine philologische Durcharbeitung der slawischen Sprachen legt und sich durch Werke über die neuere Geschichte der polnischen und russischen Literatur auch in weiteren Kreisen bekannt gemacht hat. Be: den drei Lehrkanzeln von Breslau, Berlin und Leipzig blieb es nun wieder mehr als 30 Jahre. Wehmütig bemerkt darüber Jagic im Rückblick auf sein „Archiv für slawische Philologie“ zum Schlüsse des XX. Bandes (S. 640 bis 641) im Jahre 1838: „Unser Organ scheint während seines mehr als zwanzigjährigen Bestandes sehr wenig zur Verbreitung des Studiums der slawischen Philologie im europäischen Westen, zumal in Deutsdhland beigetragen zu haben. Allerdings war es von Anfang an nicht unsere Aufgabe, praktische Ziele zu verfolgen. Diese hätten sich jedoch selbst und als unmittelbare Folge erge- bea, wenn es uns gelungen wäre, eine größere Anzahl von jungen gelehrten Kräften des europäischen Westens für das von uns vertretene Fach zu gewinnen. Das war leider nicht der Fall. Seit dem Jahrp 1875 nahm die Zahl der neugegründeten Lehrkanzeln der slawischen Philologie allerdings ein wenig zu, doch gerade in dem nächst gelegenen Deutschland, dieser katexochen Pflegestätte der philologischen Disziplinen, nicht. Man bedenke nur folgendes. Jetzt gibt es w'ohl keine deutsche Universität ohne die Vertretung der romanischen Philologie, vom Englischen schon gar nicht zu reden, ohne altindische Philologie, ohne Studium der orientalischen Sprachen, zumal des Arabischen. Die slawische Philologie dagegen ist noch immer wie vor einem Vierteljahrhundert beschränkt auf Berlin, Breslau und Leipzig! Dieser klaffende Hiatus zwischen dem wissenschaftlichen Interesse für die germanisch-romanische Philologie auf der einen und für die orientalische Philologie auf der anderen Seite, kam mir immer fast wie ein völkerpsychologisches Rätsel vor, das ich mit der sonstigen Universalität Deutschlands auf dem Gebiete der Wissenschaft nicht in Einklang zu bringen vermöchte!“ Anzeichen einer Besserung erblickte Jagić in der Überflutung des deutschen Büchermarktes durch zahlreiche Hilfsmittel zum Studium der russischen Sprache und hoffte so noch die Zeit zu erleben, daß durch das Hintertürchen der russischen Sprache: auch die slawische Philologie in mehrere deutsche Universitäten ihren folgenreichen Einzug halten werde. Hauptsächlich mit der großen Bedeutung des Russischen wirkte auch derBy-zantinist Karl Krumbacher in München für die Hebung der slawischen Studien in Deutschland. Sein lesenswerter wert des Slawischen und die slawische Philologie in Deutschland“42 43), in dem er die Wichtigkeit der slawischen Sprachen für die verschiedensten Wissensgebiete nachwies, ließe sich namentlich heute mehrfach ergänzen. Nach langjährigen Bemühungen setzte Krumbacher in München eine ordentliche Lehrkanzel für slawische Philologie durch, auf welche 1911 E. Berneker berufen wurde. Im Jahre 1914 bekam Königsberg auch nach längerem Warten ein etatmäßiges Extraordinariat für slawische Philologie für P. Rost, dessen Begründung aber schon mit der Einführung des fakultativen russischen Unterrichts in den höheren Schulen des Ostens (Ost-Preußen, Posen, Schlesien), für den man also ausgebildete Lehrer braucht, zu-sämmenfällt. Die Erfahrungen des Weltkrieges haben nun gezeigt, daß man sich nicht bloß für die Russen, sondern auch für die Polen und Ukrainer, für die Bulgaren, Serben und Kroaten interessieren und überhaupt auch den Westslawen Beachtung schenken muß. Damit sind auch der Wissenschaft erhöhte und neue Aufgaben und Ziele gewiesen. Ein Teil des Programmes ist schon dadurch angedeutet, daß aus den Lehrkanzeln „der slawischen Sprachen“ Lehrkanzeln „der slawischen Philologie“geworden sind, denn neben den Sprachen muß auch das gesamte geistige18) Leben der slawischen Völker in möglichst weitem Umfange Gegenstand der Forschung und des Unterrichts werden. 42) Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik, 29. Februar 1908, mit Zusätzen und einigen Änderungen wieder abgedruckt: K. Krumbacher, Populäre Aufsätze, Leipzig 1909, S. 337—388. 43) Ich spreche natürlich nur vom philslogischen Standpunkt, möchte aber die nicht --- ------ . ^ändere Wichtigkeit anderer. Gebiete be- und überzeugender Aufsatz „der Kultufr toThyi-