f -^ Dr. Alfred Moller: Die bedeutendsten Kunstwerke 11. Bd.: Mittelalter und Neuzeit L_^ Laibach 1907 Druck und Verla,g von Ig. v. KIeinmayr & Fed. Bamberg Dl E BEDEUTENDSTEN K U N ST WE R K E MIT BESONDERER RUCICSICHT AUF A. ZEEHES LEHRBUCH DER GESCHICHTE ZUSAMMENGESTELLT UND BILDWEISE ERLAUTERT VON Dr. ALFRED MOLLER. II. TE1L: MITTELALTER UND NEUZE1T LAIBACH 1907 DRUCK UND VERLAG VON IG. v. KLEINMAYR 61 FED. BAMBERG 1 Das Mittelalter * Im folgenden wird die Kenntnis des im ersten Bande einleitend als «Asthetische Vorschule Gegebenen vorausgesetzt. 1 * ' Die friihchristliche Kunst. Gemeinsames religioses Ftihlen drangt immer nach einem die verehrte Gottheit feiernden, offenen Ausdruck. Die Griechen und Romer hatten ihren Gottern — im Gegensatz zu den Orientalen — ungewohnlich freundliche, anheimelnde, schone Wohnstatten gegeben, damit sie sich auf der Erde unter den Menschen heimisch und geehrt fuhlten. Auch den Christen ward es zum Bediirfnis, ihre Liebe und Verehrung, ihr Gefiihl zu Gott in wiirdiger Weise durch die Kunst zum Ausdruck zu bringen. Verfolgungen hatten die Christen nur gelegentlich zu leiden;* es drohte also von dieser Seite nicht die groCte Sclrvvierigkeit. Aber eine eigene Kunst besafi das Christentum natiirlich nicht von allem Anfang an. Der neue Glaube brauchte Zeit, bis er seine eigenen Ausdrucksmittel in der Kunst fand. Anfanglich werden unbefangen antike Motive vervvendet. So erscheint z. B. in dem Deckenbild einer Katakombe Christus in antiker Auffassung als Orpheus, wie er durch sein Saitenspiel wilde Tiere zu seinen Fiifien niederzwingt. An anderer Stelle erscheint bei Darstellungen der Taufe Christi im Jordan gelegentlich der Flufigott mit den entsprechenden Abzeichen; auf dem Sarkophag des Junius Bassus sieht man unter lauter christ- lichen Darstellungen das Himmelsgewolbe in heidnischer Weise versinnbildlicht. Fiir Christus als «guten Hirten» erfindet man keinen neuen Typus; der Widder tragende Flermes — ein bekannter antiker Typus — wird einfach nachgebildet und entsprechend umgetauft. Dem antiken Schonheitssinn — und damit dem der ersten Christen — entsprach als Ideal ein bartloses Gesicht fiir Christus besser als ein bartiges. Erst allmahlich entwickelt sich der Typus eines Christus mit Vollbart — wie er orientalischem Geschmack gefallt — und langere Zeit kommen beide Typen (bartloš und bartig) nebeneinander vor. Verhaltnismafiig iiberraschend schnell entwickelt sich das christliche Gotteshaus. Hier drangte das Bediirfnis zur entsprechenden, neuen Form und unter seinem Zwang entstand eine von allem Anfang an sehr zvveck- entsprechende, dem neuen Kult gut angepaOte Bauform. * Vgl. Zeehe, Lehrbuch der Geschichte, I. Bd., S. 253 (5. Aufl.). 6 Fiir den christlichen Gottesdienst war der Typus des antiken Tempels nicht o-eeio-net. Dieser ist das Wohnhaus des Gottes, nicht die Versammlungs- statte fiir die Gemeinde. Das Christentum verlangte die Teilnahme aller Anhanpfer am Gottesdienst und damit vor allem Raum; einen Raum fiir Abb. 1 a. Reste von der Palastanlage des Kaisers Diokletian in Spalato (Dalmatien). eine groBe Gemeinde, die in die neue Lelire einzufiihren war, und der dabei von solcher Anlage war, dafl jeder Besucher den Vorgangen am Altare folgen konnte. Dieses Bediirfnis einer neuen Kultform fand in der «Basilika» einen entsprechenden, vollauf geniigenden, eigentiimlichen Ausdruck. Der antike Tempel war von kleinem Innenraum, ein glanzendes Gehause fiir den Gott, den er barg; die Masse und ihre geistige Durchdringung waren hier die Hauptsache. Im christlichen Gotteshaus ist der Raum, seine klare, geeignete 7 Gliederung und Einteilung, die Hauptsache. Die basilikale Anlage (= Vor- herrschen der Langsachse, Einteilung in mehrere Schiffe, nischenformiger Ab- schlufi mit Altar dem Eingang gegeniiber, Oberlicht) ist bis heute im christ- lichen Kirchenbau die herrschende geblieben. Abb. 1 a. zeigt drei Bogen des Peristyls von dem von Kaiser Diokletian in Spalato in Dalmatien erbauten Palaste, der in allem Wesentlichen syrische Einflilsse verrat. Wir haben eines der fruhesten Beispiele vor uns, worin der gerade Architrav durch den Bogen ersetzt ist. Dieses neue, ebenfalls syrische Motiv, die Saule iibergehend in den Bogen, wird ein Hauptelement der christlichen Baukunst. Durch den mittleren Saulenzwischen- raum hindurch sieht man den Eingang zum Oktogon, dem Mausoleum des Kaisers. Die Basiliken werden seit der staatlichen Anerkennung des Christentums (313 n. Chr. unter Konstantin d. Gr.) in grofier Zalil errichtet. Vorher kam man — in den ersten Anfangen der neuen Religion — in den Hausern begiiterter Gemeindemitglieder zusammen; auch in den Katakomben gab es groCere Raume zwischen dem Netz der unterirdischen Gange, die, von oben her durch einen Lichtschacht erhellt, Raum boten zu Versammlungen, zu Gedachtnisfeiern fur die in diesen groOeren Raumen bestatteten Toten usf. Uber der Katakombe befand sich — in freier Landschaft — oft eine Bet- kapelle in einfacher Raumanlage (viereckig mit Nischen nach drei Seiten). Abb. 1 b. Wir sehen hier ein Cubiculum, eine zwischen die Gange der Kata¬ komben eingelagerte viereckige Grabkammer. Diese Cubicula waren Familiengrab- statten, ahnlich wie unsere Gruftanlageh, nur ein er Familie gehorig; zuweilen befand sich aber im Cubiculum noch ein Martyrergrab. Dieses war immer in einer bogen- formigen Wandnische (Arcosolium) untergebracht und besonders schon ausgestattet. Die gewohnlic.hen Grabstatten waren von rechteckiger, geradlinig umschlossener Form (wie hier auf unserer Abbildung) und hieBen Loculi. Sie wurden durch eine Ziegelwand oder eine Steinplatte verschlossen; darauf Name des Verstorbenen, Todestag * u. dgl. m. Eine Katakombenanlage ist folgendermafien zu denken : In den kornigen Tuffboden wurde (von einer Htigellehne aus oder dgl.) ein Stollen nach der Tiefe gegraben; an diesen Gang schlossen sich andere (oft bis zu funf Stockwerke tiber- einander), so dafi es ein ganzes Netz davon gab. Seitlich in den Gangen waren die Loculi angebracht, tiber- einander etwa wie Bettstellen auf unseren Dampfschiffen. Zwischen Abb. 1 b. Cubiculum in den Calixtkatakomben. den dunklen Gangen, die mit kleinen (Aus Liibke-Semrau, Kunstgeschicine, Neff, Eisiingen.) 8 Ton- oder Bronzelampen erleuchtet wurden, befanden sich die grofieren Raume mit Familien- und Martyrergrabern (Cubicula und Krypten), die oft durch einen Lichtschacht von oben her Licht empfingen. Die malerische Ausschmuckung zeigt um so mehr den Stil der heidnisch-romischen Kunst, je alter die betreffende Anlage ist. Wir haben dann in der Art der zierlichen romischen Wandmalerei des 1. und 2. Jahrhunderts n. Chr. (ahnlich wie in Pompeji) Darstellungen von sehr zierlichem, kraftig gefarbtem, zartstengeligem Blurnen- und Blattergerank mit Vogelchen, mit Putten, heitere Darstellungen von Ernten, Weinlesen usf. Benannt wurden die Katakomben nach dem bertihmtesten Martyrer oder Bischof, den sie bargen. Die Anlage dieser unterirdischen christlichen Gemeindefriedhofe Abb. 2. Basilika S. Apollinare in Classe bei Ravenna. (Aus Hatzinger «Altchristliche Architektur», Neff, EClingen.) lag eigenen Begrabnisgesellschaften (den «Fossoren») ob.* Am Beginn des 5. Jahrhunderts horte diese Bestattungsweise auf; keine der Grabinschriften fuhrt in eine spatere Zeit. Bis zu den grofien Christenverfolgungen (im 3. Jahrhundert) waren die Zugange zu den Katakomben durchaus nicht versteckt; diese Grabanlagen waren damals, ganz so wie die heidnischen, gesetzlich geschiitzt. Unterirdische christliche Cometerien oder Kata¬ komben findet man in Rom (etwa 60), Neapel, Chiusi, Syrakus, dann in Afrika usf., ferner in Oberitalien z. B. in Mailand. — Auf unserer Abbildung ist unter anderm Christus mit dem Lamm auf der Schulter zu sehen, in der tiblichen Stellung des Flermes mit dem Widder. Er fafit die Vorder- und Hinterbeine des Tieres mit je einer Hand und zieht es an seinen Nacken, ihm so Halt und Sitz gevvahrend. — Unter der Dečke ist ein Wandstreifen mit der Geschichte des Jonas (das Hauptmotiv ist auch auf unserer Abbildung noch erkennbar) ausgeftillt. * Die ersten Christen kntipften mit ihren unterirdischen Cometerien (= Begrabnisstatten) offenbar an den Gebrauch der Juden (Bestattung in Felsengrabern) an; in Rom war damals die Beerdigung in der Ebene gebrauchlich; doch hat daneben das Verbrennen der Toten nie ganz aufgehort. (|( 9 Abb. 2. Schon von auGen wird die Innengliederung des Raumes klar. Wir unter- scheiden: 1.) ein — uberhohtes — Hauptschiff mit flachem Satteldach, 2.) zwei Seiten- schiffe (auf der Abbildung nur eines sichtbar), niederer und mit einem Paltdach oben abgeschlossen. Gegenuber der Eingangsseite schlieGt das Hauptschiff mit einer polygonalen Nische, die, niederer als das Hauptschiff, hoher als die Seitenschiffe, selbstandig anschlieGt. AuGerdem sehen wir einen — plumpen, neuen — Vorbau und einen freistehenden Abb. 3. Basilika S. Apollinare in Classe bei Ravenna. runden Glockenturm (italienisch Campanile), dessen dichte, ungegliederte Masse zum Teil durch Fenster gelost ist und die mit einem flachen Dach schlieGt. An der Wand bemerken wir iiberall Rundbogen liber wenig erhabenen, eine Gliederung der Flache gebenden Mauerstreifen (sogenannten Lisenen). Noch ist der Name «in Classe> zu arklaren. Darunter ist der Hafenstadtteil von Ravenna — das ja, damals noch dicht am Meere gelegen, romische Flottenstation war — zu verstehen. Allgemeines iiber die Basiliken. In Griechenland gab es groGe Hallen, die meist von Holz gebaut waren und in denen der Konig zu Gericht saG (daher der Name fiaaiir/.r] [erganze ara] = Konigshalle). Seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. hatte man solche Hallen, von Saulen getragen, auch in Rom. Auch ein der Apsis der Basiliken ahnlicher Ausbau ist dort vorhanden (der Sitz fur den Richter). «In der Kaiserzeit wurde der Name ,Basilika* die Bezeichnung fur alle moglichen Anlagen von dieser baulichen Form, z. B. fiir Reitschulen, Exerzierhauser, Synagogen, etwa wie unser Begriff: Saal. Von da aus vvurde der Name auf das christliche Kirchengebaude iibertragen.» Was unsere Abbildung zeigt, ist nur eine Form der Basilikenbauart, die schon alle Keime fur den christlichen Kirchen- bau der Zukunft (romanisches und gotisches Zeitalter) in sich tragt. Es gibt neben den ausschlieGlich dreischiffigen zu Ravenna auch fiinfschiffige. In Ravenna fehlt stets 10 das Ouerschiff; auch die Gliederung durch Lisenen und daran schliefiende platte Bogen, die nicht freistehen (sogenannte Blendbogen) — Baubestandteile, die wir an den romanischen Kirchen stets wieder finden werden, — ist in dieser Zeit fur Ravenna im besondern kenn- zeichnend. Die Kirche S. Apollinare steht dem romanischen Zeitalter schon ziemlich nahe; sie stammt aus dem 6. Jahrhundert n.Chr. Die Glockenturme treten in dieser Zeit uberhaupt erst auf. Sie stehen anfanglich immer frei und etwas abseits von der Kirche, sind rund oder viereckig und mit flachem Zeltdach gedeckt. Zu einer Kirche gehort gewohnlich nur ein Glockenturm. Er ist auBen vollig schmucklos wie der ganze AuCenbau der Basiliken — meist unverzierter Backsteinbau — und, wie schon bemerkt, von rundbogigen Fenstern durchbrochen, und zwar in einer von Stockwerk zu Stockwerk steigenden Zahl, so dafi das Mauervverk des Turmes in der hochsten Hohe durch die grofite Zahl von Offnungen durchbrochen ist. Das ist sehr zweckentsprechend, denn diese Offnungen dienen einesteils als Schallocher, andernteils ist es wichtig, dafi der Druck der Masse von oben her durch solche Auflosung des Mauerwerkes in der Hohe verringert wird. Hier sind, wie auch im Mittelschiff der Basilika (siehe oben), spater viele Fenster zugemauert worden, so dafi auf unserer Abbildung das geschilderte Prinzip nicht klar erkennbar wird. Abb. 3. Der erste Blick, den wir beim Eintritt tun, eilt umvillkiirlich die Saulenallee entlang zum Altar, der Hauptstelle des christlichen Gottesdienstes. Daneben iibersehen wir aber auch den ubrigen Raum ungehemmt in voller Freiheit und Klarheit. 24 Saulen mit (dem charakteristisch ravennatischen) Doppelkapitell — der Stein, der vom eigent- lichen Kapiteli zum Bogen iiberleitet, heifit der Kampfer — lenken von Bogen zu Bogen den Blick zum Altar hin. Die innere Bogenflache ist uberall kassettiert, uber den Zwickeln sehen wir zwischen zwei Mauerstreifen perlenschnurartig aneinandergereiht Medaillons der Bischofe von Ravenna. Zum Altar fiihrt eine kurze, breite Treppe hinan. Unter dem sogenannten Triumphbogen — dem riesentorartigen Bogen, der das Langschiff der Basiliken von der Apsis, bei Querschiffbauten vom Querschiff trennt — steht in der mit Rundbogenfenstern versehenen Nische (= Apsis, Concha) der Altar. Sowohl die Wolbung darilber wie auch der Triumphbogen zeigen in Basiliken stets goldglanzenden und farbigen Mosaikschmuck. Auch die Mittelschiffwande, die, heute kalil und ode, durch das weifi einfallende Licht fast frostig aussehen — trotzdem die Zahl der Fenster, die friiher eben weniger Licht einliefien (siehe Abb. 4), durch Vermauerung von aufien verringert ist, — waren reich mit glanzendem Mosaik (biblischen Dar- stellungen) geschmiickt; ebenso fehlt heute der schone Mosaikboden von einst. Was aber geblieben, ist die einfache, schlichte und dadurch eindrucksvolle, groCe Raumwirkung, die sich auch aus der Abbildung ahnen lafit. Saulen und Kapitelle hier sind aus Konstantinopel bezogen; in Rom nahm man fur die christlichen Basiliken meistens Saulen von antiken Bauten, und zwar oft Saulen von verschiedenen Gebauden, so dali sie nicht nur in den Kapitellen Verschiedenheiten zeigten, sondern auch verschieden lang waren; der Ausgleich wurde dann in das Auge wenig befriedi- gender Weise durch hohere Sockel u. dgl. erzielt. Abb. 4. Wir sehen Fenster einer Basilika. Das Glas wird seit dem 4. Jahrhundert erwahnt, 'kommt aber wegen seiner Kostspieligkeit vor dem Ende des ersten Jahrtausends nicht recht in Aufnahme. O vo o o o <$> <&> 0\0 (fr (fr/ < 3 > t h (fr ■<$> <0 / <]> # <£>\ \ (fr d>L- <£^0 o (fr2^ 'O' (fr $>" o __ o '0 ^<> O (fr O o o o <> •$> <3> -Jfr O 0 o o c* O O O (fr /0 (X o O OSc O O o O v O* O O o O (fr 'Mustern ohne Ende», in denen in sich zuruckkehrende Bandstreifen in verwirrender Anordnung (Irrgartenmotive) vorherrschen. Haufig erscheinen zwei oder mehrere Muster durch auf- fallende, verschiedene Farben (z. B. Scharlachrot und Gold) leicht unterscheidbar iiber- einander, z. B. ein reicheres als Grundlage, ein einfacheres, weniger dichtes dariiber. Immer ist ein harmonischer, gleichmaCig leuchtender Eindruck die Folge solcher mit feinem Farbensinn gewahlten Anordnungen. Sehr haufig erscheinen Koraninschriften in das Ornamentale verwoben. Das geometrische Element herrscht bei aller Phantastik und bei allem Erfindungsreichtum vor. Die aus der Ranke entwickelten reichen Muster dieses Stiles nennen wir «Arabesken» (Abb. 13 b, c, d). Die karolingisch-romanische Kunst. Karl der Grofte sah eine seiner Pflichten als Kaiser auch in der Unter- stutzung der Kunst in seinen Landen. Durch einen gllicklichen Zufall ist uns gerade das prachtigste Baudenkmal, seine Palastkapelle zu Aachen — freilich mit mannigfachen Veranderungen und Zubauten — erhalten geblieben. Die Mehrzahl der karolingischen Kirchenbauten war wahrscheinlich mit weit ge- ringerem Geschick und geringerer Prachtentfaltung hergestellt; von ihnen sind Jahre 820 ca.). In dem uns erhaltenen Aachner Bau hat Karl d. Gr. eben alle nur mogliche Pracht aufgewendet, um einunubertreffliches Baudenkmal zu schaf- fen. Es wurde etwa um das Jahr 800 vollendet. Acht Jahre bedurfte es von St. Gallen vom zu seiner Herstellung. S nur Spuren erhalten. Es waren Langsbauten von dem uns schon bekannten Basiliken- schema, zumeist mit geradem Holzdecken- abschluC und ohne Wolbungen (Hauptbei- spiel der erhaltene Baurifi des Klosters Abb. 14 a. Grundrifi der Palastkapelle Karls des Grofien in Aachen. (A.us Liibke-Semrau «Kunstgeschichte», Neff, Efilingen.) Abb. 14 a, b. Wir erhalten in unserer Abbildung (b) einen vortrefflichen Einblick in den Rundbau, der aus einem achteckigen Mittelraum und einem niederen, ebenfalls zwei- geschossigen.sechzehneckigen «Umgang» besteht. Dieser Umgang offnet sich im unteren Geschofi in niedere Bogen, die auf stammigen Pfeilern ruhen, gegen den Innenraum. Er schlieCt mit KreuzgetvOlben (dartiber vgl. S. 26) gegen das zweite Stockwerk des Umgangs; dieses ist mit gegen den Mittelbau schrag ansteigenden Tonnen gedeckt, ein klein- asiatisches Motiv, das konstruktiv bedeutungsvoll ist, weil die Tonnen den Druck der Kuppel von den acht Wanden des Mittelbaues aufnehmen und auf die Umfassungs- mauer iibertragen; zugleich bringt ihr Ansteigen aber auch eine stolze Hohe des Geschosses nach dem Innern des Baues hervor, so daG dieses sich in acht riesigen Bogenfenstern (fast doppelt so hoch als das untere Geschofi!) nach der Mitte offnen kann. Diese gewaltigen Fenster sind der Lange nach durch je zwei Saulen, die uber- einander gestellt und durch Rundbogen getrennt sind, gegliedert. Die Kuppel empfangt von unten her durch acht Fenster noch besonders kraftiges Licht. Sie wird von acht Spitzkappen gebildet, die zu einem gemeinsamen Gewolbe zusammentreten, das auCen durch ein Zeltdach verdeckt war. Alles prangte in reichstem Mosaikschmuck. Es ist klar, dafi eine so kultne, zielbewu6te Bauweise nur denkbar ist, wenn sie sich auf reiche Kenntnisse und Erfahrungen stiitzt. Das ist hier der Fali. An einem Zentralbau in Ravenna (S. Vitale) sehen wir ein Beispiel der Vorbilder dieses Baues. Erwahnt sei noch, daB Karl d. Gr. die Saulen und Marmorplatten antiken Bauten entnehmen und nach Aachen schaffen liefi. 25 Abb. 14 6. Durchschnitt durch die Palastkapelle Karls des GroBen in Aachen. 26 Abb. 15. Zum Verstandnis des romanischen Gevvolbebaues ist folgendes zu beachten: Die hellenistische Basilika, die auf S. 9 beschrieben wurde, war holzgedeckt. Daneben taucht im mittleren Kleinasien friihzeitig die gewolbte Basilika auf, die, durch Monche nach Gallien iiber- tragen, den AnstoG zur Ent- wicklung im Norden gegeben hat. Im Siiden Frankreichs sind noch Basiliken erhalten, die im Mittelschiff, wie in Kleinasien, mit Tonnen und in den Seitenschiffen, wie in Aachen, mit steigenden Ge- wolben gebaut sind. Die Gevrolbeform des ausgebil- deten romanischen Baues ist das Kreuzgewolbe. Ein Kreuz- gewolbe (siehe die Abbil- dung!) entsteht, wenn sich zwei Tonnen unter einem rechten Winkel kreuzen. V or- teil: Die Tonne iibt in allen Punkten einen gleichmaGigen Druck aus.* Bei ihr lassen Abb. 15. Schema eines Kreuz- gewolbes (Innenkreuzung). sich nur sehr kleine Fenster einsetzen, wenn man sie nicht schon in den gewolbten Teilen anbringen will. Beim Kreuzgewolbe dagegen ist der Hauptdruck auf vier Punkte (die vier Eckpunkte) be- schrankt.** Der Zusammen- stellung aus zwei Tonnen entspricht es, daG mit Kreuz- gewolben nur iiber dem Qua- drat gewolbt werden kann. Ich kann namlich zwei Sttit- zen nur mit einem Halb- kreis verbinden und kann Halbkreise von gleichem Durchmesser nur iiber Raume von gleicher Spannweite fiihren. Sollen sich zwei Ton¬ nen also unter einem rechten Winkel schneiden, so mufi jede Tonne zur Uberdachung der gleichen Entfernung dienen — soli nicht die eine wirkungslos unter der anderen hindurchgehen, — d. h. ich kann mit sich schneidenden Tonnen, also mit Kreuzgewolben, nur quadra- tische Raume uberwolben. Da die Seitenschiffe der romani¬ schen Kirchen halb so breit sind als das Hauptschiff, so entsprache (vgl. den GrundriG Abb. 16!) je¬ dem Gewolbejoch (= Quadrat) des Hauptschiffes ein langlich- rechteckiger Raum im Neben- schiff. Da sich aber Rechtecke aus den oben erwahnten Griin- den nicht mit Kreuzgevvolben decken lassen, so erfolgt in den Seitenschiffen eine Auf- losung in Quadrate; jedem Qua- drat im Hauptschiffe entsprechen zwei kleinere Quadrate in den Nebenschiffen, mit einem Wort: Abb. 16. GrundriG einer romanischen Basilika. in den Nebenschiffen ist die doppelte Anzahl der Gewolbe wie im Hauptschiffe zu finden. Sehen wir uns nun einen Grund¬ riG genauer an. Abb. 16. Wahrend bei der altchristlichen Basilika, die wir oben abbildeten (vgl. die AuGen- und Innenansicht von S. Apollinare in Classe, Abb. 2 und 3), dieApsis (= Altarnische) unmittelbar an das Langschiff anschloG, sehen wir hier hinter einem Querschiff das Seiten- schiff noch verlangert und so die Apsis hinausgeschoben, so daG die beiden Schiffe hier die Form des lateinischen Kreu- zes -J- im GrundriG gegeniiber griechischen Kreuzform des der J_ -Form der altchristlichen Basiliken und der reinen Zentralbaues ergeben. Im ubrigen ist die Form der Basilika nicht wesentlich * Die Tonne = eine halbierte Rohre. Die Halbkreise an ihren Enden heiCen Schildbogen. ** IVas man freiiich nicht gleich voli auszunutzen verstand. Die Mauern bei romanischen Kirchen werden anfanglich viel zu schwerfallig und zu dick gebildet. 27 ver&ndert; wir sehen ein Haupt- und zwei Seitenschiffe (die Seitenschiffe waren auch jei der romanischen Kirche viel niederer als das Hauptschiff). Der Raum, welcher durch die Kreuzung von Lang- und Querschiff entsteht, heifit die Vierung. Sie gibt das Grundmafi fur den ganzen Bau. Das Langhaus ist nur eine Vervielfachung davon; ebenso das gleichbreite Querhaus. In den Seitenschiffen sind die Mafie ebenfalls von dieser Raumeinheit (= Viertel des Vierungsquadrates) gewonnen. Wir unterscheiden auf Abb. 17. Michaeiiskirche in Hildesheim. unserem GrundriB noch, dafi jedes Seitenschiff mit einer eigenen Apsis schliefit, dafi die Pfeiler im Mittelgang fur die Gurtbogen der Gewolbe des Hauptschiffes viel starker sind als die Stiitzen fur die Gevvolbe der Seitenschiffe und daft die Umfassungsmauer stark und dick, ohne vorspringende Pfeiler ist* Das Ausgehen von einer Raumeinheit hat sich aus technischen Grunden (Eigenart der Kreuzgewolbekonstruktion) ergeben, doch hat diese Regelmafiigkeit den uberaus klaren, ruhigen Eindruck zur Folge, den romanische Kirchen hervorbringen. (Man vgl. das Verhaltnis der Gewolbeanzahl in den einzelnen Schiffen.) Die Verlangerung des Langschiffes iiber das Querschiff hinaus ist eine * Den Druck der Gewolbe halten im Mittelschiff je vier Pfeiler. Der Seitenschub, der aus Grunden, die bei Erklarung der gotischen Gewolbe ausgefuhrt sind, sehr stark ist, wird von da auf die Nebenschiffsjoche und von dort auf die Umfassungsmauer ubertragen. 28 Folge der Vermehrung der Welt- und Klostergeistlichkeit im romanischen Zeitalter. Der & ganze Raum hinter dem Querschiff (= das Presbyterium oder das Chor) war den Priestern eingeraumt und durch Schranken (Cancelli, Lettnei) vom librigen Kirchenraum abgegrenzt. Oft war dieser Chorraum erhoht und untet ihm eine Gruft- kirche angelegt (die Krypta), zu der vom Querschiff eine Treppe hinabfuhrte. Abb. 17. Wir sehen hier eine friihromanische Kirche (gegriindet umdasjahr 1000), die noch flache Deckenbil- dung zeigt. Als Trager der Mittelschiffswand erscheinen nicht nur Saulen — wie bei der altchristlichen Basilika, — sondern auf je zwei Saulen folgt ein machtiger Pfeiler. (Dieser Wechsel der Stiitzen ist fur die niedersachsische Bauweise charakteristisch.) Die Vierung ist von zwei machtigen Gurtbogen ein- gesaumt. Dahinter ftihren Treppen hoch hinauf in die Apsis. Diese Hochlage hat seinen Grund in der Anlage einer Gruftkirche (Krypta) unter dem Chor, deren Fen- ster noch oberirdisch aus- mtinden. Rechts sieht man in das niedere Seitenschiff.* Da die Gliederung derWande durch architektonische For- men bei der romanischen Bauweise gering ist, so bringt vorallem dieBemalungLeben hervor. Es wechseln z. B. bei den groCen Bogen vor und nach dem Querschiff weifier und roter Stein; auch sonst erkennt man selbst aus der Schwarz-WeiiJ-Abbildung reichlich bemalte Stellen. Beriihmt ist die Malerei auf der Holzdecke der Kirche: in acht groiSen Mittelfeldern erscheint der Stammbaum Christi (man erkennt Adam und Eva ganz deutlich). Am Rande zvvischen Rankenwerk Brustbilder (Medaillons) von Propheten u. dgl. m. Abb. 18. Wir sehen den unteren Teil einer doppelgeschossigen Kreuzkapelle. Da dieser Teil also ein Obergeschofi zu tragen hat, ist er besonders stark und kraftig durchgefiihrt. Man erkennt gut die schwer lastenden Kreuzgevvolbe auf niederen, stam- migen — in jeder Beziehung echt romanischen! — Saulen. (Man beachte die Kapitell- formen der Reihe nach!) Die Saulen ruhen auf attischen Basen (= eine Einziehung Abb. 18 . Burgkapelle in Niirnberg (unterer Teil). * Die Kirche zu Hildesheim gehort zu jenen mit doppeltem Chor und doppeltem Quer- schiff. Der Bau schlieBt also an seinen Langsenden beiderseits in gleicher Weise ab. Das westliche Chor hat einen Umgang, d. h. das Seitenschiff ist um das Chor weiter geleitet. 29 zvvischen zwei Wiilsten). Die Eckpunkte der Platten unter jeder Saule sind durch ein derbes, knollenartiges Blatt, das Eckblatt, gekennzeichnet. Dieses ist (seit dem ll.Jahr- hundert vorkommend) nur der romanischen Saulenform eigen. Abb. 19. Wir sehen eine reiche und prachtige Anlage, an der wir unterscheiden: eine Vorhalle an der Westfassade, das Querschiff und iiber der Vierung einen niederen, massigen Turm (den Vierungsturm!), eine Choranlage (Chor- nische). Die Turme sind (Gegensatz zur Basilika, sieheAbb.2) nicht losgetrennt vom Hauptbau, son- dern organisch da- mit verbunden. Sie sind (secbs Turme) zu malerischer Grup- pierung venvendet.* Die Seitenturme (an den Ecken derStirn- seite des Baues und zu seiten des Chor- raumes) sind schlank und hoch; der Vie- rungs- und derFront- turm niedrig, breit und von polygonem Grundrifi. Das roma- nische Turmdach ist meist ein einfaches, niederes Spitzdach (ahnlich einem vier- seitig zugespitzten Pfahle); die Turm- wande ragen hier mit dreieckigem Ansatz ilber den Unterteil des Daches auf. Lis en en** und Blendarkaden sehen wir hier an der Apsis. Ferner ist flir den romanischen Stil kennzeichnend der Rundbogenfries (= die Aneinanderreihung von kleinen Halbkreis- bogen unmittelbar unter dem Dach und unter den Gesimsstreifen). Aufierdem sehen wir in reichem Mafie angebracht Zwerggalerien, die bei den rheinisch-romanischen Kirchen haufig sind. Es sind dies niedliche offene Bogengange, die zur Belebung der Wiinde dienen.*** Abb. 19. Dom in Speyer. * GroCe romanische Dome geben darum schon aus der Ferne, wenn sie sich mit ihren Ttirmen flachenhaft vom Himmelshintergrund abzeichnen, in diesem reichen Umrii3 ein schones Bild. ** Nur ivenig vortretende Wandstreifen. *** Aufier fur rheinische Bauten auch fur die oberitalienischen romanischen Stils bezeichnend. Vgl. die Anlage des Domes zu Piša mit dem schiefen lurme und zu 1 rient. 30 Romanische Einzelformen. Abb. 20 a, b. Ein Wiirfelkapitell = ein nach unten halb kugelig abgerundeter Wiirfel, der den Ubergang vom Kreise zum Quadrat des Bogenansatzes ausdriickt. Eine Saulen- kuppelung, verziert mit einer Gnomengestalt, Schlangen mit Katzenkopfen und Vogeln. Hier zeigt sich der Einflufi der deutschen Mythe; solche Nachklange aus den deutschen Abb. 20 a. Abb. 20 6. Abb. 21. Romanisches Kapiteli. Romanische Saulenkuppelung. Romanisches Fenster. Tiersagen zeigen sich im romanischen Stil noch haufig (Lindwurm und Drache, Berg- geist und abenteuerliche, fratzenhafte, oft derbkomische Figuren). Uberall sind die Bau- glieder (Kapiteli vom Schaft usf.) klar geschieden. Abb. 21. Wir sehen ein Fenster durch ein Rundsaulchen geteilt; eine haufige, fast regelmafiige Bauform im Romanischen. Die Fenster wurden schon mit Glas versehen; doch da dies anfanglich sehr teuer war, suchte man damit zu sparen. Um viel Licht durch moglichst kleine Offnungen zuzufilhren — auch wagte man anfangs niclit, die Mauer zu sehr durch Entlastung und Durchbrechen zu schwachen, — scliragte man die Fensterbanke nach aufien und innen ab. Romanische Kirchen waren trotzdem einst ziemlich schwach erhellt. Abb. 22. Die Flachen des Kapitells sind durch eingemeifielte, weich und weit- gehend stilisierte Pflanzen- und Band (Seil) formen verziert. Abb. 23. Auch hier wieder Blatt- und Flechtvverk, wie es fiir die romanische Stil- weise kennzeichnend ist. Alle Formen sind rund gekerbt, weich und vollappig. Zwischen Randwiilsten verlaufen flache, breite Rinnen. Das Rundbogige herrscht auch hier (wie in den meisten romanischen Haupt- und Einzelformen)* vor. Scharfe Ecken sind durchaus unter weicher Rundung verschwunden, schneckenformige Windungen treten oft auf. * Daher auch Rundbogenstil im Gegensatz zum gotischen (= dem Spitzbogenstil). 31 Abb. 24 (a, f b, k). Wir sehen romanische Schmuckformen, die oft an der Innen- seite von Torbogen (== Turlaibungen), unter Simsen u. dgl. vorkommen. , I f iil_ ** Kirchen mit gleichhohen Schiffen (Hallenkirchen) erhalten einen besonders einheitlichen, saalartigen Eindruck. In der Zeit der Gegenreformation, bei der die Predigt zu einem besonders vvichtigen Bestandteil der Religionsubung wird, sind sie besonders beliebt. Sie lassen einen gleich- mafiigen Anteil aller Kirchenbesucher an den Ausfuhrungen der Priester zu. *** In der friihen Gotik zeigt man die Bauform ohne jede Verzierung, unverhiillt (so z. B. an der Elisabethkirche zu Marburg in Deutschland; an Notre-Dame in Frankreich). Mit der vollen Beherrschung der Technik gestaltet man die Einzelformen aus, zerteilt man die Masse und gliedert sie, so daB das Auge im Anblick der reichen Details die konstruktive Notvvendigkeit der ein- zelnen, zierlich zerteilten Bauteile vveniger beachtet und mehr durch die dekorativen Schon- heiten gefesselt wird. 40 tritt — nur dort! — teilend auf, umzieht den ganzen Riesenleib und dient dazu, dafi an ihm alle Krafte, die dem Bau seine machtvolle Eigenart geben, zu kraftigem Schvvunge ausholen konnen. Wie in «begeistertem Ansturm» schwingen sich die Strebebogen plotzlich auf zu schwindelnder Hohe und nirgends halt in diesem Oberteil der Anlage mehr ein horizontaler Linienzug dem siegreichen AufschieGen aller Teile stand. Die Wagrechte zvvischen Dach und Wanden ist schon nicht mehr sichtbar, denn die Fenster senden hohe Abb. 31. Dom zu Koln am Rhein. Spitzgiebel dariiber empor, an denen sich noch die letzten Krafte in nicht endendem Auf- streben, in Spitzen und Sprossen und feinsten Zacken ausleben* Ttirmchen losen sich von den schwereren Pfeilern los und wachsen uberall bis zu zartester Verjiingung hinauf. Nirgends bleibt der Stein in der Hohe massig, ungebrochen, tot, uberall nimmt er Formen an, die die Schwerheit seines Stoffes kaum mehr vorstellbar machen. Welche ungeheuere Last driickt den Boden an den Stellen, die der Bau einnimmt, und wer hat nicht gerade den gegenteiligen Eindruck, den des leichten Wegdrangens von der Erde, wenn sein Blick un- willkiirlich an den schlanken Pfeilern emporgleitet und immer weiter von Spitze zu Spitze bis zu den letzten Spitzchen und Riffen gewiesen wird? Zwei machtige Tiirme schlieCen den Haupteingang ein. Vom Viereck im Grundrifi šteigen sie empor, verjiingen sich zu ldeineren polygonalen Formen und enden in ganz durchbrochenen, spitzen Steinhelmen, * Diese Spitzgiebel, sogenannte Wimperge (= Windberge), bekronen alle Portale und alle Fenster an reichen gotischen Bauten. 41 durch die der Himmel schaut, in ihrem ganzen Laufe die glanzendste Verkorperung des »gotischen Sehnsuchtsmotives nach dem Himmel, das auch in den kleinsten Teilen und in jedem Teil solcher Kirchenbauten widerklingt».* Von der Hauptmasse der Abb. 32 a. Notre-Dame-Kirche in Pariš. * Den Tiirmen des Kolner Domes laCt sicli ubrigens nachsagen, daC die Verjiingung zu plotzlich und unvermittelt erfolgt, daher wirkt sie bei aller Schonheit doch sdnverer als der jeder Plumpheit bare, eigenartige Turm von St. Stephan in Wien, der gleich vom Grund aus als Pyramide beginnt und sich gleichmaCig und stetig verjiingt. Zu bemerken ist, daC die Tiirme des Wiener Stephansdomes — einer unvollendetJ — nicht an der Eingangsseite (die ubrigens romanisch gehalten ist), sondern an der Chorseite an Stelle eines Querschiffes angelegt sind. 42 Turme Ibsen sich im Aufsteigen wieder Teile los, von eigenem Leben und von demselben Ausdruck erfiillt, den der ganze Bau zeigt. Uberall pt\I<žo1. Flac^ortramer?! Abb. 39. Gotische Ornamente. * Ausnahmen sind sehr seiten: der Turm der Kirche «Maria am Gestade» in Wien schlieCt mit einem haubenartigen, von MaCwerk durchbrochenen Aufsatz. ** An Stelle der glanzenden Eintonigkeit des byzantinischen Goldgrundes tritt hier ein freundliches Paradiesgartlein. An Stelle der hageren Heiligengestalten mit den weitaufgerissenen Augen und den bohrenden Blicken die milde, gtitige Gottesmutter l 45 Abb. 41 a. Gotisches Wohnhaus. (Nach Schmid «Kunststilunterscheidung».) Abb. 41 6. Hofansicht eines gotischen Hauses. Abb. 41 d. Wimperg. (Aus Kimtnich «Stil».) 46 und der machtige Altkolner Heiligenschein hinter ihrem Haupte kennzeichnen das zarte, gebrechliche Wesen als iiberirdisches, als die sanfte Mutter des Herrn. Ein heiliger Friede liegt tiber dem ganzen Bilde, das gerade durch das Zarte und Traumhafte, durch die Kindlichkeit der Auffassung iiberzeugt und wirkt. Ftir die Altkolner Schule — ahnlich dem Abgebildeten ist das Kolner Dombild — ist ali das hier Gegebene charakte- ristisch. Immer erscheinen die Madonnen schmalbrustig, mit geringer Betonung des Korperlichen, mit diinnen, feinen Handen und von schiichternem Gesichtsausdruck; der Kopf mit dem ovalen Gesichtchen ist etwas zur Seite geneigt, der Mund klein, die Augenlider niedergeschlagen. Die knittrige Art der Falten des schweren Mantels ist ebenfalls fur die Gotik charakteristisch (Einflufi der Holzschneidekunst). Abb. 41 a, b, c, d. Wir sehen a ein gotisches Wohnhaus (nordischer Typus) mit dem bezeichnenden Treppengiebel, dessen Grundform auch in der deutschen Renaissance — in reicheren Formen — erhalten bleibt; b den Hof eines gotischen Hauses (ebenfalls von spezifisch deutschem Charakter); c einen Krug mit fur die Gotik kennzeichnender und charakteristischer, hochstrebender Form, gotischem Deckelzierat und den gedrehten «Glanzbuckeln» um den Leib des Gefafies. In d sehen wir einen gotischen Fenster- giebel (Wimperg vom Kolner Dom mit Krabben und ftillendem Mafiwerk). Die Renaissance. Es werden vor allem die Einzelformen der antik-romischen Bauten (== Saulen, Gebalk, Ornamente, Kapitelle, Kuppelform) iibernommen* Die Kunst erhalt einen mehr weltlich-freien Žuga auch der Profanbau bekommt eine glanzende Ausgestaltung. Man unterscheidet eine siidliche (= die italienische) Renaissance und eine nordische. Die letztere ist vorvviegend deutsch; doch auch in anderen Landern (Frankreich, England) treibt sie unter italienischem Einflufl eigene Bliiten. Die Friihrenaissance (1420 bis 1500). Abb. 42 a, b. Wir lassen zuerst die Riesenkuppel, die wir tiber dem Bau sehen, un- beachtet. Das ubrige ist ein Bau in italienischer Gotik. Wir sehen ihn von nordisch-gotischen Bauten wesentlich verschieden: dem Bau wohnt — vom Turm abgesehen — nichts von der Abb. 42 a. Dom in Florenz. (Photographie Alinari.) * Das romische Ornament ziert und belebt mehr als das griechische. 48 aufstrebenden Tendenz nordischer Bauwerke inne. Gotische Wimperge u. dgl. erscheinen nur sparlicb und nur als Zierden; es ist nicht das ganze Aufiere in lotrecht aufschieGende Einzelformen aufgelost (vgl. S. 42, Anmerkung). Dagegen zeigt sich eine groGe Vorliebe fur die schone Ausgestaltung der Flache in der Verwendung von Schichten weiGen und dunkelgrunen Marmors;* die Fenster sind auffallend klein. Der Italiener behalt die groGen Wandflachen — zu malerischer Ausschmtickung — bei. Dadurch entfallt die Notwendigkeit des Strebesystems. Der Turm (Campanile) — ein cRiesenfarben- spiel» in Dunkelgriin, WeiG und BlaGrot — ist von quadratischer Grundform, hat fiinf Stockwerke und steht (vgl. mit den Doppeltiirmen dernordischen Gotiki), auGer organischer Verbindung mit dem iibrigen Bau, getrennt von der Kirche. (Er ist von Giotto [vgl. Text zu Abb. 47] erbaut und besitzt auGerordentlich schone, gotische Fensterformen, die durch ihre Hohe und GroGe dem. Bau etwas Luftiges, Leichtes geben.**) Der Bau der Kirche schritt langsam vor und wurde durch das Aufsetzen der Riesenkuppel, dieses erste groGe Werk der Renaissance, im Jahre 1436 vollendet. Filippo Brunell escho ist ihr Schopfer. Die Kuppel ist nicht direkt auf den Kirchen- korper aufgesetzt, sondern durch ein groGes, achteckiges Zwischenglied (die Trommel, den Tambour) darilber noch emporge- hoben.*** Diese Trommel ist von groGen Rundfenstern, die den Druck der Kuppel nach seitlichen Stutzpunkten abschieben und von unten Licht in die Kuppel lassen, durchbrochen und iiberdies noch von einem kleinen, ebenfalls Licht spendenden Aufbau (der sogenannten Laterne) gekront. Die Kuppel steigt zwischen acht Rippen in acht Feldern empor. Sie iibertrifft durch ihre elliptische Form, durch ihr Hinausgehen iiber die Halbkugelkuppeln der romischen und byzantinischen Rundbauten, diese weit an Hohenwirkung. Die Kuppel hat eine doppelte Schale (innere und auGere). Eine ungeheure Last ist hier iiber einen machtigen Raum gespannt. Ein solches Gewolbe zu schaffen, war seit Jahrhunderten nicht mehr versucht worden. Es ist begreiflich, daG der Meister, der mit einer soleh kuhnen Leistung seine Zeitgenossen iiberraschte, den AnstoG zu vielen neuen Baugedanken gab, und es wird verstandlich, weshalb auf diese erste gewaltige Leistung ein so reiches und allgemeines Aufbliihen der Baukunst und der anderen Kunste folgte. * Wofiir die toskanische Gotik allgemein Vorliebe zeigt. ** Die Fenster werden auch nach oben immer groCer (Auflosung der dtinneren Wand). Die Geschosse sind durch Quergesimse deutlich voneinander geschieden. Der schlanke Turm ist 84 m hoch. *** Vgl. darnit den Aufbau des Pantheon, bei dem die Kuppel ohne Tambour errichtet ist. Siehe auch iiber die Sophienkirche. Abb. 42 6. Fassade des Domes in Florenz. (Photographie Alinari.) 49 4 Abb. 43 a. Palazzo Pitti in Florenz. (Photographie Alinari.) 50 Abb. 43 6. Parterrefenster mit Brunnen; Palazzo Pitti. Photographie Alinari.) Abb. 43 e. Hoffenster im ersten Stock; Palazzo Pitti. (Photographie Alinari.) Abb. 43 a. Der Bau macht, wie mehr oder weniger die meisten Florentiner Pa- laste der Renaissancezeit, nach auBen einen einfachen, mehr burgartigen, wehrhaften Eindruck* Keine Ausbauten, Schmuck- formen oder dgl. beleben die Verhaltnisse. Ein einheitlicher Charakter, eben der des Trotzigen, Starken, beherrscht den ganzen Bau, der dadurch und durch seine groBen Verhaltnisse (riesige Fenster, Tore) wirkt. Einfache Gesimse ohne zierliche Aufsatze der Statuen scheiden klar und deutlich die Stockwerke voneinander und zerlegen den Bau in drei Teile (= drei Stockwerke). Die ganze Fassade ist rauh gehalten, und zwar in einer Rauheit, die den Eindruck macht, als hatten Riesen den Bau ge- schaffen. Was sich aus der Abbildung gar nicht ahnen laGt, zeigt die Wirklichkeit um so tlberraschender: es sind riesige, rauh belassene Steinblocke, aus denen alle Stockwerke zusammengesetzt sind (die so- genannte Rustika: die Mauerbildung aus an der Vorderflache unbehauenen Stein- quadern). Die Fenster (Abb. 43 6 und c) sind im Erdgeschofi viereckig und sehr klein — ein Gebrauch, der lange bei- behalten wird, —- oben rundbogig und hocu. Spater wird die Rustika so an- gewendet, daB sie an Rauheit und Derb- heit von Stockwerk zu Stockwerk abnimmt, so daB das oberste GeschoB, das stets mit einem oft sehr edel geformten Kranz- gesims abschliefit, am wenigsten vorsprin- gende und vollig geglattete Bossen zeigt. Auch kommen Vertikalgliederungen durch Pilaster (der wenig vorspringende Wand- pfeiler mit korinthischem Kapiteli wird in der Fruhrenaiss..nce mit Vorliebe ange- wandt!), Abstufungen nach oben durch ver- schiedene Hohe der Geschosse u. dgl. m. * So erscheint der Bau als eine Weiter- bildung der friihmittelalterlichen Burgen. Im Grundcharakter erinnert er an die Palastbauten der toskanischen (florentinischen) Go tik, z. B. an den Palazzo Vecchio in Florenz. 51 vor, die das Majestatische, Ernste, Grofiartige zugunsten des Gefalligen und Eleganten einschranken. — Der Palast der Familie wurde erst lange nach Brunelleschos Tod mit den Seitenfliigeln versehen, die man hier sieht. Abb. 44. Wir sehen die Fassade der Certosa di Pavia (= Kartause bei Pavia).* Durchgehende Pilaster teilen die Wand unten in fiinf Teile, das schmalere Obergeschofi in drei. Durch wagrechte Linienziige wird der Bau einmal sehr deutlich (liber den aneinander- Abb. 44 Certosa bei Pavia. (Photographie Alinari.) gereihten Rundbogenfenstern), mehreremal weniger deutlich durchschnitten (iiber dem Sockel, dann kurz, ehe das Obergeschofi wieder mit einer dichten Reihe von rund- bogigen Fenstern schliefit; diese vielen, nicht sehr bestimmt auftretenden Teilungen tragen viel zu dem etvvas bunten, unruhigen Eindruck des Ganzen bei). Eine Fulle von Schmuckformen belebt alle Teile der Wand, so dafi sie iiberreich, fast iiberladen aussieht. Man sieht die verschiedensten Fensterformen (man gehe sie der Reihe nach durch!), Saulen und Giebel. Das untere Geschofi wirkt vor allem durch den Reich- tum an plastisch vortretenden Schmuckformen. Das Obergeschofi ist einfacher, mit — in der Friihrenaissance so beliebten — platten Wandpfeilern (an der Umrahmung des Rundfensters usf.) versehen, aber reich durch'die farbige Wirkung der Flache. Bunte Marmorplatten iiberkleiden hier die Wand (= Inkrustation). Prachtvoll und iiberaus dicht gegliedert sind die von Kandelabern (eine beliebte Renaissanceform!) geteilten hohen * In einer Stunde (Bahnfahrt) von Mailand aus erreichbar. 4 * 52 Fenster mit Girlanden dariiber, das Schonste aber die Eingangspforte mit hellen romischen Saulen, die dunklere Kapitelle und ein ebensolches, vor- und zuriickspringendes (= ver- kropftes) Gebalk tragen. Der Giebel ist nicht fertig geworden. Der Bau solite oben in einem dritten Absatz, um die Seitenteile des zweiten vermindert, giebelartig schliefien. Statuen von Heiligen und Engeln sind vor den Pilastern in der ganzen Hohe des Baues (Photographie Alinari.) aufgestellt. Der Bau lafit die grofien Linien und die klaren Verhaltnisse des Palazzo Pitti vermissen, aber er wirkt trotz der tiberreichen Gliederung durch die Pracht und Schonheit der Einzelformen. Abb. 45. Aus dem Wasser des Canale Grande ragt der Palast in drei fast gleich- hohen Geschossen empor. Starke Gesimse treten zu bestimmter Gliederung klar hervor und sind durch Saulen mit korinthischen Kapitellen verbunden. Den schwacheren Vor- sprung unter den Balkonen stiltzen (natilrlich in romischer Art, d.h.nur zum Schein) Pilaster mit korinthischen Kapitellen. In den oberen zwei Stockwerken ist die feste Wand fast ganz verschwunden. Riesige Doppelfenster, sehr hubsch durch Bogenformen mit eingespannten Halbkreisbogen verbunden, nehmen dem Bau alles Schwere (vgl. mit dem Palast die wuch- tigen florentinischen Palastel), geben ihm einen leichten, festlichen Charakter. Der Mittel- saal im ersten Stock ist durch einen gemeinsamen Balkon zusammengefalJt und, wie im nachsten Stockwerk, von den seitlichen Teilen des Baues durch Saulenpaare — die an den Gesimsen, genau tibereinander, einsetzen — getrennt. Ein reiches Kranzgesims 53 schliefit unter dem Dach auf das schonste ab. Die Treppe fuhrt — Stufe um Stufe in weiterem Bogen — gerade in das Wasser, aus dem Gondelpfahle in den Farben der Besitzer aufragen.* Abb. 46 a, b. Reiter und Rofi, beide aus Erz gegossen, sind Urbilder der Kraft und des Selbstvertrauens. Trefflich sind die Verhaltnisse beider abgewogen, sie halten sich trotz der verschiedenen GroCe vor dem Beschauer das Gleichgewicht. Sie wirken als eine Einheit, nicht jedes als ein Teil fiir sich, nicht eines das andere in der machtigen Wirkung beeintrachtigend. Die etwas herausfordernde Haltung des Soldnerfuhrers — Abb. 46 a. Colleoni-Standbild in Venedig von Verocchio. er steht mit vorgeschobener linker Schulter und zuriickgenommenem rechten Arm geradezu in den Bligeln,— das stolz erhobene Haupt, alles verrat sein Siegesbewu6tsein, sein auf trotzigen Kampf gerichtetes Denken; in dem harten, bartlosen Gesicht verrat jeder Zug eiserne Willenskraft. Die Bildung des Pferdes bezeugt ein eingehendes Naturstudium. Man beachte den feinen Kopf, die lebenswahre Knochen-, Muskel- und Sehnenbildung. Der Sockel (Abb. 46 b) stammt nicht mehr von Verrocchio (= dem Lehrer Lionardo da Vincis). Er ist in seiner Hohe dem Denkmal und den umliegenden Gebauden ■— das Kunstwerk schmiickt den Platz vor der Kirche SS. Giovanni e Paolo in Venedig — auf das wirkungsvollste angepafit. Abb. 47. Technisch ist ja vieles mangelhaft: der Schauplatz ist nur angedeutet, das Haus fiir die Menschen hier viel zu klein; auch Palaste gibt Giotto oft nicht grofier als die Leute, die daraus hervorkommen. Die Natur setzt sich bei ihm meist * Nebenbei bemerkt: Im Palazzo Vendramin starb 1883 Richard Wagner. 54 aus scharf-kantigem, gezacktem, terrassenartig abgehacktem Gestein, aus baumkuchen- artigen Formen zusammen, die ganz kahl sind und aus deren Grau nur hie und da, hochst unvermittelt, mit wenig Blattern, die «wie aus Blech» geformt sind, ein Baum hervorwachst. Die Tiere unten sind ganz schematisch gebildet, aber der geistige Gehalt des Bildes ist nicht gering. Wie deutlich wird die Trauer des alten Mannes, wie natur- 46 6. Colleoni-Standbild in Venedig; Gesamtansicht des Denkmals. wahr wird sie in jedem Zug, in Haltung und Antlitz gegeben! Und die Hirten, die sich verstandnisvoll, voli des Mitleids mit dem wei6haarigen Alten, ansehen! Das alles ist sprechend, sehr eindrucksvoll und sehr lebenswahr. Mit wie einfachen Mitteln wird das alles klar gemacht! Nichts Uberfliissiges und auch keine Diirftigkeit in Mienenspiel und Gebarden! Schlicht, einfach verstandlich, mit einer geradezu feierlichen Ruhe spricht sich Giotto aus, schildert so naturgetreu uralte Vorgange gerade durch die Beschrankung auf das durchaus Notwendige und erzielt kraftige Eindriicke durch Weglassen alles Neben- sachlichen. Wie die Farbe, ist auch die Linienfiihrung an den Figuren und der Faltenwurf einfach, aber klar. Giotto gibt allen Formen etwas Grofies, Majestatisches. Die Gewander legen sich nicht in viele kleine, Unruhe schaffende Falten. Immer gibt es vvenige durch 55 lange Briiche voneinander gesonderte Flachen mit geradem Gewandabschlufi nach unten. Die Modellierung ist wenig hervortretend. Die Figuren sehen wie ausgeschnitten, fast flach aus, werfen keine Schatten. Immerhin hat Giotto zuerst «an Stelle der byzan- tinischen Raumlosigkeit seinen Gestalten eine bestimmte Umgebung (Landschaft) ge- geben». Abb. 47. Fresko von Giotto in Padua. Abb. 48. Fra Angelico, Dominikanermonch im Kloster von Fiesole (auf einer Anhohe aufierhalb von Florenz), erhielt schon zu Lebzeiten den seltenen Beinamen «il beato» = der Gluckliche. Ein kindliches Gemtit spricht aus allen seinen Werken, ein inniger Glaube an Gott. Aus dieser Wesenheit heraus stellt er die Geschichte Marias und Christi auf Erden mit ruhiger, naiver Selbstverstandlichkeit dar. In die kleine Kreuzganghalle, die auf schlanken, dilnnen Saulen ruht, ist der Engel eingetreten. Ein wenig erschreckt, in sanfter Demut neigt sich die jugendliche Maria vor dem Willen Gottes, der ihr ver- kundet wird. Alles das spielt sich schlicht, ohne groGe Bevvegungen und oline Pathos ab. Links erscheint auf einer blumigen Wiese — Fra Angelico liebt die Natur und schildert sie schon eingehender und tvirldicher als Giotto (siehe Abb. 47) — das erste Menschen- paar auf der Flucht aus dem Paradiese. Rechts beginnt bereits die Tilgung ihrer Schuld durch die gottliche Sendung. Dieser versohnende Gedanke spricht aus dem Bilde. Fra Angelico lebt noch im kindlichen Glauben des Mittelalters. Die Zeit der Gotik spricht 56 noch aus seinen Darstellungen. Man wird an die deutschen Meister aus dem alten Koln erinnert (siehe Abb. 40), die mit ebenso zarter Empfindung, mit der gleichen Innigkeit ilire Madonnen — milde, kindlich und holdselig — malen. Seine Farbenwahl stimmt Abb. 48. Maria Verkiindigung von Fra Angelico da Fiesole. mit seiner ubrigen Art gut zusammen. Er liebt zarte, sanfte Tone: blaftrosa, himmelblau, weifi, goldgelb. — In hollischen Szenen versagt Fra Angelico; das Rohe, Harte liegt seiner Natur fern. Bosewichter kann er nicht malerj. Die Hochrenaissance. Abb. 49. Papst Nikolaus V. hat schon im Jahre 1450 mit dem Umbau der alten Basilika di S. Pietro (siehe S. 11, Abb. 5 a und b) begonnen. Die wesenfliche Grundlage der heutigen Peterskirche schuf Bramante (um das Jahr 1500), insofern er als Grundrifi ein griechisches (siehe S. 26) Kreuz (siehe oben im Grundrifi den breiteren Raum der Anlage bis zum punktierten Teilstrich) plante. Raffael folgte auf Bramante in der Bauleitung.* Er fafite den Plan, dem geschlossenen Zentralbau ein Langhaus anzufugen. Dieser Plan kam nicht zur Ausfiihrung und Michel Angelo als Bauleiter griff auf den Grundgedanken Bramantes zuriick. Es solite nun die Eingangsseite dadurch betont werden, dafi an Stelle einer Apsis dort un- mittelbar eine prachtige Vorhalle vorgelegt werde. Dadurch ware die Einheit einer zentralen Anlage unbertihrt geblieben.** Michel Angelo kam aber nur zur Ausfiihrung der riesigen Hangekuppel, die alles bisher Geschaffene iibertrifft und die eine Spannung von 42 1 j i in hat. Die Einwolbung der Kuppel fand erst nach dem Tode des Meisters •— der die Leitung unentgeltlich, «Gott zuliebe», iiber- nommen hatte — nach seinem Modeli statt. Diese Kuppel ist jener Bauteil der St. Peterskirche, der ihr den Weltruhm gab und der ihn auch voli recht- fertigt. Carlo Maderna, der Bauleiter nach Michel Angelo, legte der Zentralanlage ein Langhaus vor und schwachte damit die einheitliche Wirkung des Innenraumes und die volle Wirkung der Kuppel. Auch die Vorhalle mit der riesigen Dekorations- fassade stammt von ihm. Der Grundrifi zeigt uns eine Hauptkuppel auf vier freistehenden, machtigen Pfeilern*** sowie vier kleinere Kuppeln an den einspringenden Teilen der ursprunglichen Anlage zwischen den Apsiden. Die Raume um die Kuppel sowie das Mittelschiff des Langhauses sind mit Tonnen, die Seitenschiffe mit elliptischen Kuppeln eingedeckt. Abb. 50 a, b. Durch das vorgelegte Langschiff hat die Kuppel, wie bemerkt, ihre beherrschende Stellung verloren; sie erscheint zu weit zuruckgeschoben.t Die Fassade der Vorhalle zeigt drei Geschosse, von denen die zwei unteren von dem obersten (niederen, von Abb. 49. Grundrifi der Peterskirche in Rom. * Es ist nichts Seltenes, dal3 sich ein Ktinstler in der Renaissance als Maler, als Architekt und als Bildhauer betatigte. So leistete z. B. Michel Angelo auf allen drei Gebieten Geivaltiges. ** Eine AuBenansicht der Peterskirche nach dem Plane Michel Angelos findet man in Springers «Handbuch der Kunstgeschichte» (6. Aufl.), III. Bd., S. 163. *** Jeder Pfeiler hat 71 m Umfang ! + Man vgl. den KuppelumriB mit dem des Florentiner Domes (siehe S. 47). 58 attikaahnlicher Bildung) durch ein wagrecht durchlaufendes, vorspringendes und zuriick- tretendes (verkropftes) Gebalk geschieden sind; dieses Gesims wird durch korinthische Saulen (seitlich durch korinthische Pilaster) getragen. Die Saulen ilber dem Haupteingang sind durch einen Giebel zusammengefafit und damit die Mitte betont. Die Fassadenwand schliefit oben mit einer Balustrade, auf der sich die Gestalten der Apostel und die Christi (an 6 m hoch) erheben. Die Seitenteile der Fassade tragen Uhren mit grobem Zifferblatt Abb. 50 a. Peterskirche in Rom. und sind unten mit Durchgangen versehen. Eine sanft ansteigende Treppe fiihrt zur Anlage hinauf. Beiderseits scliliefien an den Bau die beruhmten Saulengange des Bernini, die den Platz vor dem Bau umschliefien (Abb. 50 £) und in^ein wirksames Verhaltnis zur Kirche bringen. Rechts sieht man einige Gebaude, die dem Vatikan angehoren. Die Kuppel erhebt sich auf einem weiten und hohen Mauerzylinder, der von 16 (mit Renaissancegiebeln geschmuckten) hohen Fenstern —- ebenso wie die «Laterne!» —• durchbrochen wird. Eine Fiille von Licht flutet also in die Kuppel von oben und unten ein. Die P'enster sind von gekuppelten korinthischen Saulen eingefafit, die zum Schmuck der hier einsetzenden Strebepfeiler dienen, von denen aus sich das kraftvolle Kuppelgerippe — 16 Rippen an der Zahl — sehr sanft ansteigend erhebt. Die Kuppel erreicht mit der Laterne eine Plohe, die selbst wenige Turmbauten besitzen. Sie ist 132 1 / 2 m hoch, ein «hoch in der Luft schwebendes Pantheon?. Noch das Auge (die Spannweite in der 15 x / 2 m hohen Laterne) ist 8 1 / 2 m weit. In unserer Abbildung mufi die Fassade durch die Verhaltnisse ihrer Einzelteile und ihren Schmuck wirken. Den Haupteindruck erzielt sie in der Wirk- lichkeit vor allem durch das Riesenhafte ihrer Anlage, durch die Masse ihrer Saulen usf. 59 Abb. 50 6. Peterskirche in Rom; Frontansicht mit den Saulengangen. 60 In der Abbildung fallt diese Wirkung natiirlich weg und der Eindruck bleibt hier darum hinter dem kleinerer Bauten von groGerer Klarheit und Vornehmheit der Anlage zuriick. Abb. 51. Wir sehen vom Langschiff unter einerTonne, die dem Renaissancegeschmack entsprechend reich kassettiert ist (erst das Barock pflegte die Decken mit groGen Gemalden zu versehen), nach dem'Raum unter der Kuppel. Von der Fulle des Lichtes, das ein- stromt, ist die Innenseite des Tambours (drei Fenster darin erkennt man) und der ganze Boden reich erhellt. Man sieht auch z\vei der Kup- pelpfeiler, auf denen die Hangedreiecke . (da ihre auf den Pfeilern aufruhen- den Scheitel abgekappt sind, sind es eigentlich Hangevierecke) ruhen.* Der Innenraum — der groGte Kirchenraum der Welt — kommt, weil neben den ungeheuren Verhaltnissen Kleineres als MaGstab fehlt und weil die Masse (Pfeiler, Saulen, Pilaster, riesen- hafte Statuen) neben dem Raum mindestens gleich- r , t , u , , • , . „ stark hcrvortritt nicht so Abb. 51. Inneres der Peterskirche m Rom. (Photographie Aiinari.) zur Geltung als es die aus der Abbildung gar nicht zu ahnenden — Hohen und Weiten erwarten lieGen. Auch lenkt die prunkvolle TJberftille der Einzelformen •— kein Fleckchen an den mit Marmor belegten Wanden ist frei und ungeschmtickt geblieben — die Blicke von der ruhigen Schonheit, die der Raum an sich darstellt, ab. Da blinkt alles von buntem Stein, goldenem Zierat und dichtestem Flachenschmuck (Aufteilung der Flache in Kassetten, Riefen — z. B. an den Pilastern — usf.). Vor dem apsidalen AbschluG des Mittelschiffes sieht man den Altar unter einem Tabernakel auf gevvundenen (= barocken) Saulen, ein Werk des hervor- ragendsten Architekten der Barockzeit, Lorenzo Berninis.** Die gedrehten Saulen «dekla- mieren» mit ihrer Krtimmung von einer Last, die sie gar nicht zu tragen haben, denn ihre Bekronung besteht aus leichten, grotesken, nichtssagenden Formen, die sich in will- kiirlicher Weise — sie konnten sich ebensogut in anderer Stellung an die Saulen an- schlieGen — gegeneinander lehnen, um an ihrer Verbindungsstelle ein Kreuz aufzunehmen. Die innere Haltlosigkeit des prunkvollen Aufbaues kommt in unserer kleinen Abbildung zu weit schwacherem Ausdruck als im Original. Abb. 52. Hier in dem Palast der Farnese, der, wie wenig andere Bauten, als Muster- beispiel des romischen Renaissancebaues gelten kann (man vgl. ihn mit dem floren- tinischenl), ist die dekorative Behandlung der Hausteinfugen (die grobe Rustikagliederung) * Uber die Anlage der Kuppeln auf Hangedreiecken vgl. die auch fur die Peterskirche in Betracht kommenden Ausfuhrungen liber die byzantinischen Hangekuppeln vorne im betreffenden Abschnitt bei der byzantinischen Kunst. ** Der Schopfer der oben envahnten Saulengange. 61 Abb. 52. Palazzo Farnese in Rom (Stirnseite) 62 auf die Ecken,, auf den Eingang, mit einem Wort: auf baulich besonders in Anspruch genommene Teile beschrankt, denen sie nun — passenderweise — den Eindruck be¬ sonders sicherer Festigkeit gewahren. In Stein sind dann ferner andere wichtige Gliede- rungen (Simse, Fensterumrahmungen) gegeben, wahrend die flache Wand einfachen Verputz zeigt. Sowohl durch das Material wie durch die hellere Farbe des Hausteines vor dem dunkleren Verputz wird eine klare und einfache Gliederung erreicht. Die groCen Abb. 53. Hofansicht des Palazzo Farnese in Rom. 4 Fenster Iassen helle, die hohen Geschosse machtige Raume ahnen. Von kleinlichen Detail- vvirkungen und aufdringlich dichtem Prunk ist iiberall abgesehen. Ober starken Gesimsen erheben sich die Reihen der Fenster, alle in beiden Geschossen gleichhoch, mit den in Rom beliebten Halbsaulenumrahmungen, die ein Giebeldach, teils rund, teils drei- eckig, zusammenschlieCt. Das reiche, aber auch nicht uberladene Kranzgesims stammt von Michel Angelo. So macht der Bau durchaus einen vornehmen Eindruck. Er ist nicht so massig und finster wie der florentinische Palast, den wir auf S. 49 sahen, und nicht so reich wie der festlich-heitere Venedigs (S. 52). Der romische Palast halt in ruhigem Ernst zvvischen beiden die Mitte. Abb. 53. Der Palast, dessen Stirnseite wir in Abb. 52 sehen, čffnet uns hier seinen Hof. Weite Bogen, zvvischen denen jonische Saulen stehen, bilden im Erdgeschofi hohe Arkaden. Die Saulen setzen sich im nachsten Stockwerk zwischen Blendbogen als Wandpfeiler fort. Im 63 dritten Geschofi ragen korinthfeche Pilaster bis zum Gesims. Man beachte die ruhige Umrahmung und Uberkrbnung der Fenster. Die Wirkung ist, wie die der Fassade, von edler Einfachheit, Klarheit der Verhaltnisse und feierlicher Ruhe. Abb. 54. Wessen Auge sich etwa an uppigen, reich geschmuckten Barockbauten verwohnte, der findet diese Anlage vielleicht leer und unansehnlich, allzu mager an Schmuck und Zierat. Sie wirkt nur durch ihre Formen, die sich leicht und frei entwickeln, und durch das fein abgewogene Gleich- gewicht der Teile und Mafie, die nir- gends eine gezvvun- gene, schwerfallige oder unruhige Fiih- rung der Linien zei- gen. Bis auf schmale Bogenteile, schlanke Saulen und eine ganz niedere Brustwehr im ersten Stock ist die ganze Masse zugun- sten des Raumes, der sich ganz dem Licht und der Luft offnet, geschwunden, ohne dafi bei aller Leich- tigkeit ein allzu zier- licher Eindruck er- reichtwird. DasFeh- len derber, iiber- triebener Wirkungen auf das Auge, von denen prunkhafte Bauten selten ab- sehen, ermoglicht ein en reinen, vor- nehmen GenuB, der auch dadurch nicht beeintrachtigt wird, dafi wir Nachahmungen dieses klassischen Urbildes des Renaissancesaulenhofes oft zu sehen bekommen, dafi wir also den Bau nicht mehr als so «neu» empfinden, wie die Zeitgenossen des Schopfers (= Bramante), auf die er in voller Ursprunglichkeit einwirkte. Abb. 55. Trotz des Reichtums der Wandgliederung ist der Eindruck dieser blendenden, schimmernden Doppelsaulenhalle ein einheitlicher. Nur durch ein gleichmabig mit einem Triglyphenfries geschmiicktes Steingebalk sind die dorischen Saulen im ErdgeschoG von den jonischen des hoheren Obergeschosses geschieden. Ein prachtiger Fries mit einem breiten Mittelteil, auf dem kleine Engelknaben (= Putten) schwere Blatt- und Frucht- kranze tragen, gibt nebst der hohen Dachbalustrade, an der sich auf Steinsockeln Statuen erheben, einen vvurdigen Absclilufi. Die Saulen des ersten Stockwerkes sind von kleineren umgeben, die die Fensterbogen tragen. Die Wand tritt hinter diesen Saulenmassen ganz zuriick. Rechts erblickt man die zierliche Loggetta (den Raum fur die Ehrenwache des Dogen) mit sehr hohem AufsatzgeschoG (= Attika), dahinter ein Stuck des vor wenigen Abb. 54. Hof der Cancelleria in Rom. 64 Abb. 55. Loggetta und Biblioteca di San Marco in Venedig. (Photographie Alinari.) Jahren (1902) eingestiirzten Campanile von S. Marco, der unter seinen Triimmern auch die Loggetta begrub. Abb. 56. Einen nicht minder glanzenden Eindruck macht die Villa Scassi von Galeazzo Alessi. (Man versuche, sich auch die Wirkung der — dem Mittelbau gewisser- Abb. 56. Villa Scassi bei Genua. 65 mafien «entstromenden» — Treppe an dieser eigenartigen Anlage zu erklaren.) Der Triglyphenfries — ahnlich wie in Abb. 53 — ist hier besser zu sehen. Abb. 57. Von demselben Meister ge- schaffen. Hinter dem durch einen Giebel betonten Mittelbau spriefit eine Kuppel hervor, die mit Rucksicht auf die Holie und Entfernung der beiden hohen Seiten- tiirme angelegt ist und die zu ihnen in einem bewundernswerten Gleichgewicht steht. Auch die beiden kleinen Kuppel- tiirmchen sind nicht ohne Bedeutung filr den Gesamteindruck. Man versuche, sie sich wegzudenken — sie schaffen Ruhe- punkte zwischen den Tiirmen und der Kuppel, — denke sich die Kuppel fehlend oder weiter zuriickgeschoben, und man wird erkennen, wie wohl abgewogen alle Mafie, Massen und Entfernungen hier sind. Man beachte auch die durch kannelierte Wandpfeiler gegliederte einfache Stirnseite. Abb. 58. Die Gestah ist im Auftrage der Domvorstehung aus einem verhauenen, schmalen und langen Marmorblock in riesenhaften Verhaltnissen ■— die Figur erreicht eine Hohe von mehreren Metern ! — gearbeitet.* Das Korperliche (Muskulatur, Knochen, Gelenke) ist in einer Weise ver- standen, da6 der Jiingling mit seinen wuchtigen Formen (man beachte die FuiJe, die Hande) doch von einer unglaublich lebensvollen Wirkung ist. Niclits ist tot und starr, der Ausdruck des Abwartens erfullt das ganze Wesen. David ist eben «auf dem Sprung*, sein Korper, in dem eine Fulle von Tatkraft aufgespeichert ist, bereit, die Ruhe in energisches Vorgehen gegen den Feind iibergehen zu lassen. Scharf blickt das Auge nach dem Gegner (dieser Ausdruck ist hier wegen der starken Schatten, die den Blick decken, nicht voli zu wiirdigen), blitzschnell wird die Schleudertasche, die, mit dem Stein beschwert, auf der linken Schulter liegt, herabgleiten, die rechte Hand wird den Riemen (der von Hand zu Hand iiber den Rilcken des Junglings gelegt zu denken ist) in sausende Schwingung versetzen und der todliche Stein wird das Ziel erreichen, das der junge Riese im Auge hat. (Man beschreibe die Stellung, Muskulatur, die Gesichts- bildung bis ins einzelnste und man wird sehen, auf wie viele neue, noch ungeahnte Reize und Feinheiten man aufmerksam wird. Noch lehrreicher waren Versuche im Nachzeichnen.) Abb. 59. Wir sehen, wie bei Michel Angelo , der Ausdruck, den er in eine Gestah legt, bis in die letzte Fingerspitze fortschvvingt. Die Energie, die das ganze Wesen des nervigen Junglings erfullt und die seinem Fleisch die Regungen des Geistes, sein Wollen und Denken mitteilen, die es bis zur hochsten Steigerung belebt, spricht auch aus dieser «Tatze», aus der alles Schlaffe verbannt ist (vgl. auch den dazugehorigen Arm usf.). Abb. 60. Wir sehen den einen Teil des Unterbaues vom Grabmal Julius II. (das, riesig gedacht, nie vollendet vvurde). In einer Nische ist ein langbartiger Riese in einer * Darum vom florentinischen Volke als «il gigante* (= der Gigant) bezeichnet. M 61 le r, Die bedeutendsten Kunstwerke, II. Abb. 57. Kirche S. Maria di Carignano in Genua. (Photographie Alinari.) 5 66 «Augenblicksstellung*: Moses. Nichts erscheint an diesem Korper in der Erschlaffung des Ausruhens. Irgend ein gevvaltiger Eindruck wirkt offenbar auf jeden Muskel (man beachte nur das mit gespannten Sehnen aufgesetzte rechte Bein, Knie und Fufi, und das zurtickgestellte linke Bein). Die Adern sind geschwellt, das Gesicht von einem' Ausdruck, der Trotz, Kraft (siehe den Mund mit den zuriickgezogenen Mund- vvinkeln!), Bitterkeit und Schmerz verrat. Das Augenblickliche der Haltung liegt nicht nur in der Beinstellung, die ein sofortiges, ruckartiges Sicherheben zulaGt, Abb. 59. Rechte Hand Davids. (Photographie Alinari.) auch das Spiel der Hande ist kennzeich- nend. Ihre Muskeln spannen sich, die Finger tasten in muhsam verhaltener Er- regung in den Bart, klammern sich an den Leib fest, und nur mit aller Macht kampft der Gewaltige seine Erregung nieder. Wie paGt zu dem Gesetzgeber des Alten Bundes dieser Ausdruck be- siegten Zornes? Als Moses vom Sinai herabschritt, begltickt durch Gottes Ge- Abb - 58 ' David von Michel An 8 el ° in Florenz ' setze — die Gesetztafeln sehen wir an der rechten Seite des Sitzenden, — erblickt er sein Volk in Verehrung vor einem Gotzenbild, vor einem aus Gold gebildeten Kalb. Unwillen, Schmerz und Verachtung steigen in ihm auf und erfullen mit ihrem Widerstreit sein Inneres. Seine Glieder durchzuckt die volle Kraft des Zornes, in seinen Handen erscheint der Kampf damit in deutlichstem Ausdruck, in seinem Kopf der Sieg dariiber, der wilde Schmerz iiber die armseligen Betorten. So 67 erscheint ein grofier Gemtltskampf hier in ergreifendem Ausdruck. Aber wie kommt dieses Motiv auf das Grab des Papstes Julius II.? — Der Moses ist mehr als nur der Aus- Abb. 60. Moses von Michel Angelo in Rom. (Aus Wickenhagen «Geschichte der Kunst*, Neff, Efilingen.) druck eines stilrmischen Seelenkampfes, eines von edleren Gedanken miihsam bewaltigten Zornes. Wir ahnen einen anderen Zweck bei der Wiedergabe dieses Mannes von 5* 68 ursprunglicher Kraft, der im Momente wildester Leidenschaftlichkeit, in berechtigtem Groll uber die Menschheit noch Verstandnis ftir sie findet nnd bei dem bei aller Furcht- barkeit des Zornes schliefilich noch edles Mitleid iiberwiegt. Michel Angelo hat hier wohl den leidenschaftlichen, stiirmischen, aber im Grande seines Herzens wahrhaft groCen, von den hochsten Gedanken erfiillten Papst Julius gekennzeichnet. Er hat ihn aber nicht in leiblicher Nachahmung vor den Beschauer gestelit; sein Geistiges, den grofien Grundzug seines Wesens finden wir in diesem Moses.* Man be- achte in eingehendster Beschreibung alle Einzelheiten, suche nach derBegriindung ftir die eigentiimliche Gewandlage iiber dem ausdrucksvollen, von der Energie des ganzen Korpers auf das starkste erfiillten rechten Knie. Rein aufierlich wohl durch Verschieben in der Er- regung zu erklaren; kompositionell aber jedenfalls durch Bedeckung des zu deut- lichemWillensausdruck in derHorizontal- lage wenig geeigneten Schenkels. Die Horner auf dem Haupte des Moses sind die (schon seit Jahrhunderten iibliche) Umsetzung von Flammenzungen, die den erleuchteten Gesetzgeber kennzeichnen, vom Malerischen ins Plastische. Die Schmuckleisten seitlich vom Sitzenden zeigen echten Renaissancezierat. In den spiralartig eingerollten, lehnenahnlichen Formen (sogenannten Schnecken oder Voluten) lernen wir eine Form kennen, die wir im Barock haufig wiederfinden werden. Abb. 61. Die Anlage des Grabes gleicht einem zweiten an der gegentiberliegenden Wand (siehe unten) in der sog. Neuen Sakristei von S. Lorenzo in Florenz. Sie bergen beide Angehorige des beriihmten florentinischen Geschlechtes der Mediceer: die Herzoge Lorenzo und Giuliano. Unsere Abbildung zeigt in einer Nische zvvischen Pilastern, wie sie der Renaissance gelaufig sind, und zivischen Blendfenstern mit uns schon vertrauten Giebel- formen die Statue des Verstorbenen. Er ist sitzend gegeben, das Gesicht von oben her tief beschattet,** das Kinn und die eine Wange in die Hand gesttitzt, die andere * Das personliche Verhaltnis des Papstes zu Michel Angelo mahnt an den Kampf z\veier Riesen. Zwei geivaltige Temperamente prallen hier aufeinander, finden sich und bekampfen sich immer wieder. Zivei Seelen, sich verivandt, aber jede von so ausgepriigter, unbeugsamer Eigenart, dafi selten in volliger Einigkeit diese Venvandtschaft der Charaktere zurn Ausdruck gelangt. ** Es ist dies ebensovvenig Zufall wie die vollige Beschattung bei der Figur der «Nacht» (siehe Abb. 63), die Halbbeschattung bei den beiden Dammerungsfiguren (Abend- und Morgen- dammerung) und die helle Beleuchtung auf dem Antlitz des «Tages» (siehe Abb. 62). (Vgl. Knackfufi und Zimmermann, «Kunstgeschichte», II. Bd., S. 538.) 69 auf dem rechten Knie, ganz in tiefes Sinnen verloren; wieder keine Portratfigurim leiblichen Sinne, sondern der Aus- druck einer bestimmten Veranlagung, ein Cha- rakterbild. In instinkti- vem Verstehen dieser Auffassung wird die Ge¬ stah vom Volke in Flo- renz als «il pensiero* (= der Denker) bezeich- net* Auf einem Sarko- phag unten ruhen alle- gorische Figuren: die Abenddammerung und die Morgendammerung (erstere als Mann, letztere als Weib dargestellt). Abb. 62 und 63. Die Abbildungen zeigen uns die Gestalten des Tages (mannlich) und der Nacht (weiblich), die auf den Sarkophagvoluten des Giulianograbes in glei- cher Weise aufliegen, wie die Dammerungs- figuren auf dem des Lorenzo. Auch die Wand uber den Gestalten ist nattirlich in gleicher Weise gegliedert, wie bei den zuletzt bespro- chenen. Wir betrachten nun im Zusammenhang: Die allegorischen Gestalten der Medi- ceergraber. In die Zeit, * Sem Gegeniiber Giu- liano von Medici ist — ebenfalls in der Feldherrn- uniform, aber ohne be- schattenden VVolfshelm, mit Lockenkopf— als lebhafter, mehr rasches Handeln er- \varten lassenderHeerfuhrer erfaBt. Abb. 62. Der Tag von Michel Angelo. (Detail von den Mediceergrabern^in Florenz.) (Photographio Alinari.) Abb. 63. Die Nacht von Michel Angelo. (Detail von den Mediceergrabern in Florenz. (Photographie Alinari.) 70 da Michel Angelo an den Herzogsgrabern arbeitete, fallt die Belagerung von Florenz, der Republik, an der der Kiinstler mit ganzer Seele hing. Er la6t fiir einige Zeit den MeiCel und leitet selbst die Verteidigung der Stadt, die nach verzweifelter Gegenwehr fallt. Von Natur aus miCtrauisch und von ernster Gemutsart, erscheint Michel Angelo von nun an noch verbitterter, noch menschenfeindlicher, noch herber in seiner Ver- achtung der Welt. In dieser Stimmung arbeitet er weiter an den Grabern und gibt seinen Gefiihlen dort einen wahrhaft grofien Ausdruck. Die beiden Fiirsten, die nicht sehr rtihmenswerte Angehorige des Geschlechtes der Medici waren, galten ihm nichts und die erschiitternde Grundstimmung einer tiefen Trauer, die so wunderbar gleich- mafiig aus jenen vier Gestalten spricht, die ernst und schwer auf den Sarkophag- formen ruhen, ist nicht in erster Linie in Beziehung auf die in den Nischen Dar- gestellten zu deuten. Der Kiinstler, dem, wie allen groCen Naturen, die Freuden gegeniiber den grofien Enttauschungen und Schmerzen des Lebens verschwindend klein und kleinlich erscheinen, gibt hier seiner Trauer, seiner Entsagung ergreifenden Ausdruck. Hier betrauert er mit allen, die gleich ihm fiihlen, nicht nur die verlorene Freiheit des heimatlichen Bodens, sondern auch alle die im heiGen Glauben an die Menschheit unerfullt gebliebenen Ideale. Hier lost sich seine Verzweiflung, seine Erschutterung, seine weltschmerzliche Stimmung in einem einzigen, wunderbar tiefen und klangvollen Akkord. Die Gestalten, die Michel Angelo hier gibt, sind nicht leere, geistlose Allegorien* Sie sind von eigenem Ausdruck durchdrungen, nicht blofi geftihllose Trager von Ab- zeichen. Auch an und fur sich bedeuten sie eine bemerkenswerte Neuerung. Michel Angelo setzte hier Verkorperungen fur die zu allen Zeiten gleichmafiig zum Ausdruck drangende Trauer an Stelle der an Grabern bisher tiblich gewesenen Tugendfiguren, an Stelle eines in gedankenloser Herkommlichkeit gebrauchten, nichtssagenden Grabschmuckes einen von bisher ungekannter Eigenart.** An allen vier Figuren fallt die starke Bewegung und Ver- schrankung der Glieder auf, der iiberzeugende Ausdruck der inneren Unruhe.*** Was wir schon oben bei Michel Angelo bemerkt haben, sehen wir auch hier: ein uniibertroffenes Verstandnis fiir den menschlichen Korper. Dieses zeigt sich nicht nur im anatomischen Sinne, es gibt sich vor allem in der Kunst, den Leib ganz zum Ausdruck der Seele zu machen, in ihm die Wirkungen eines bewegten Innenlebens zu zeigen, kund. (Bei Moses zornige Erregung im Kampfe mit anderen Gefiihlen; bei David stolzes KraftbevvuGtsein.) Wir verstehen nun, warum der Kiinstler jede Htille, jedes Ver- bergen der Korperformen als ein Hemmnis sich auszusprechen, empfunden hat, warum * Wie z. B. die iiblichen Verkorperungen der Justitia, Austria, Germania, die samtlich als schone Frauen dargestellt werden, die an und fiir sich''nichts sagen, sondern nur durch einen ■— aufierlich angefugten — Aufputz deutbar werden, indem man sie mit den entsprechenden Adlern, Wappen, Helmen, mit Wage oder Schwert u. dgl. behangt. ** Diese Tugendfiguren finden etwa in den vielen immer wiederkehrenden betenden Engels- gestalten unserer Friedhofe ihr Seitenstlick. *** Auf die folgende Zeit (== das Barock, siehe unten!) war Michel Angelo insofern von iiblem Einflufi, als die Kiinstler nach Michel Angelo ihm wohl in der Darstellung reicher, kom- plizierter Korperbewegungen folgten, diese aber nicht, wie der Meister, als verstandlichen, zwin- genden Ausdruck seelischer Zustande zu geben verstanden. So machen ihre wild bewegten Gestalten einen befremdenden, einen willkiirlichen Eindruck. Das Gebaren der iiblichen Barock- figuren erscheint unlogisch, unverstandlich oder gemacht, gekiinstelt, theatralisch, mit einem Wort: das Barock gibt gewaltsame, schwierige Bewegungsmotive um ihrer selbst willen. Sie zeigen die technische Meisterschaft ihrer SchSpfer (Virtuosentum), sind fiir den oberflachlichen Beschauer stets packend, aber ohne die Grdile der Schopfungen Michel Angelos. 71 er die vier Gestalten in volliger Nacktheit geben mufite* Betrachten wir zuerst die «Nacht» und den «Tag». In fast gewaltsamer Stellung (man versuche sie nachzuahmen!) liegen die beiden Gestalten da. Die Stellung der Nacht verrat einen unruhigen Schlummer, der noch nicht lange wahrt und nicht lange vvahren wird. Es ist nur ein kurzes Rasten innerhalb leidenschaftlicher Qual. Das Leiden der Seele tont noch durch den Schlummer und spiegelt sich in dem machtigen Korper wieder, in dem keine wohltuende Erschlaffung (man be- achte die durch die starke Drehung des Korpers bewirkte Spannung der Bauchmuskulatur) zu be- merken ist. Der «Tag* (Abb. 62) ist in eben- solcher Lebensfiille und in noch stiirkerem, dieser Kraftnatur entsprechen- den, leidenschaftlichen Ausdruck innerer Zer- stortheit gegeben. Un- willig — das Gesicht lafit diese Stimmung, trotz- dem der Kopf unvoll- endet ist, trefflich er- kennen — hat er sich erhoben und wendet sich nun (ja, der Riese «walzt» sich geradezu), iiber die rechte Schulter vvegblickend, dem Be- schauer zu. Nicht nur in der vvild bewegten Stellung, auch durch die reichlich innervierte Muskulatur** ist der Eindruck im Sinne der inneren Unruhe gegeben (= dadurch, daB die glatten Korperflachen durch Muskelhugel und Furchen in viele kleine Teile zerlegt werden).*** Abend- und Morgendammerung (Abb. 61) sind ruhiger und in zwangloserer Stellung gegeben. An ihnen spricht sich (man beachte die weichere Modellierung des Fleisches und den sanfteren Linienflufi, die weniger machtvolle Muskulatur, die ruhigere Kopfstellung, den milderen Gesichtsausdruck) mehr stihe Trauer und sanftere Wehmut aus. f Alles steht in Mafi und Anlage mit dem umgebenden Raum der Lorenzo- Abb. 64. Kopf der Aurora am Grabmal der Medici. (Photographie Alinari.) * An allen starken Affekten nimmt immer der ganze Korper des Menschen teil. (Vgl. • Asthetische Vorschule* in der Einleitung des I. Bandes.) In ruhiger Genufistimmung verzichtet der Kiinstler leichter auf das Fehlen der Gevvandung. ** _ (jje von den in ihr verlaufenden Nerven zur Tatigkeit (= Zusammenziehung) gereizte Muskulatur. So spricht man von der Innervation der Gesichtsmuskulatur im Gegensatz zur Erschlaffung derselben, die — bei volliger geistiger und Gemiitsuntatigkeit — einen gegensatzlichen leeren Ausdruck ergibt. *** Man gehe in der Bevrunderung der anatomischen Genauigkeit nie zu iveit! Es ware falsch und zeigte von einem (nicht ungewohnlichen!) engherzigen und kleinlichen Erfassen kunst- leiischer Aufgaben, volite man die Bedeutung der Bildhauerei nur in der Beherrschung des Tech- nischen (richtige Korperbildung, Kenntnis der Formen [= Anatomie], Geschick im Bearbeiten des Steines) sehen. t Beide Gestalten ohne Beigabe, nur durch sich rvirkend. Die Abb. 123. In zartem Re¬ lief ist die Gestalt der Nacht sehr schon in das Rund kom- poniert. Die Figur ordnet sich ohne Zwang ein, denn die Stellung der Beine kommt nur dem beabsichtigten Eindruck des Vorwartsschwebens zustatten, der auch durch andere Mittel (die leichte Vorneigung des Oberkorpers, die Behandlung der nachwehenden Draperie) vorgetauscht wird. Man beachte den Ausdruck leisen Schlummers im Kopf der Schwebenden. In der Gevvandbehandlung ist das Vorbild voll- endeter griechischer Werke leicht erkennbar. Der leichte FluG schoner Linien (man beachte die Bildung der Arme und FiiGe) wirkt hier in doppelter Hinsicht (das Weib- liche und die Nacht) vortrefflich charakterisierend. Abb. 124. So wie sie in unserem Gedachtnis leben, hat Ritschl sie dargestellt: als Freunde, die sich neidlos umfassen. Die Stellungen sind von ungesuchter Einfachheit. Der Kilnstler hat auf ein «Idealisieren» durch antike Gewandung oder dgl. verzichtet. Auch allegorische Figuren fehlen. Aus den Kopfen selbst spricht geistiges Leben, das keiner Erlauterungen mehr bedarf. Das Zeitkostum, das sich freilich nicht so wie das griechische der Form unterordnet, sondern immerhin genug bedeutungslose, steife Flecken bildet (z. B. die RockschoGe), laGt doch wenigstens das Standmotiv klar durchscheinen und ist jedenfalls kilnstlerisch noch immer viel wirkungsvoller als unseie heutige Fiacht. Goethe ist, wie Schiller, stark indivrdualisiert, ohne daG der Eindruck der einen Gestalt auf Kosten der anderen iiberwiegt. Abb. 125. O ve rb ec k ist ein Hauptvertreter jener Richtung, die — Reaktion auf die Aufklarungsideen der franzosischen Revolution! in det I flege alttestamentarischei Stoffe, dann in der Verherrlichung des deutschen Mittelalters («Romantiker») und der alt- deutschen Sittenreinheit ihr Ideal erblickten. Das Gemalde hier macht stark den Eindruck Abb. 123. Die Nacht von Thorwaldsen. (Nach Photographie der Phot. Ges. in Steglitz bei Berlin.) Abb. 124. Goethe-Schiller-Denkmal von E. Ritschl in Weimar. Abb. 125. Verkauf Josefs von Overbeck. (Nach Originalaufnahme.) 127 einer «gemalten Zeichnung», denn die Umrisse sind sehr scharf, das Licht (man beachte den gleichmafiig dunklen Ton der Gesichter und die neutrale Beleuchtung der Landschaft!) ist ohne kiinstlerische Absicht verwandt, auch in seiner Wirkung auf die Modellierung Abb. 126. Die apokalyptischen Reiter von Peter Gornelius. (Nach Photographie der Phot. Ges. in Steglitž bei P.erlin.) der Kflrper und ihre Grenzlinien gleichgultig, ohne von tieferem Naturstudium zu zeigen, vervvertet. In der Farbe vvechseln gleichmafiig helle und dunkle Stellen miteinander ab, ohne feinere Obergange zu zeigen, ohne ein einigendes Gesamtkolorit zu geben. Aber die Schlichtheit in der Gestaltung des Stoffes, der erfafit ist, ohne dafi der Kunstler auf billige Wirkungen und packende Eflfekte hinarbeitet, besticht doch als der Einfachheit der biblischen Darstellung wohl angepafites, von echter Empfindung durchdrungenes Kunstvverk. Der kleine Josef, der demutig-trauernd dem Kaufer folgt, und die schachernden Briider sind im Ausdruck der Kopfe und Gebarden beachtensvvert. 128 Abb. 126. Den Stoff, den schon Albrecht Diirer in grausig - kraftvoller Weise behandelte, nochmals zu gestalten, ist ein Wagnis gewesen * Dargestellt sind oben Engel, die (man beachte die stark ausgepragten, interessanten Bevvegungsmotive!) die «Schalen des Zornes* ausgieCen. Unten die Erfullung christlicher Pflichten in drei kleinen Bildchen: Gefangene werden besucht; Trauernde an der Bahre eines Kindes getrostet; verirrten, ermiideten Reisenden wird der Weg gewiesen. In der Mitte sehen wir die vier Reiter, die nach der Offenbarung des Johannes (Kap. 6) kurz vor dem Weltende ausgesandt wurden, um den vier ten Teil der Menschheit zu vernichten. Cornelius zeigt einen alten Mann mit teuflischem Gesichtsausdruck, der als ein rucksichtsloser Schnitter, auf seinem wilden RoG daherstiirmend, mit machtigem Sensenschvvung die Menschen niedermaht (= der Tod).** Ein zweiter auf mutvoll einhergaloppierendem Pferd fallt mit (gewal- tigen Seliwertstreichen (= der Krieg) alles unter sich; ein Mann mit Wage ruft, auf seinem Abb. 127. Siegfrieds Leiche von Schnorr von Carolsfeld. (Aus Brocker «Kunstgeschichle».) Tier daherjagend, die Teuerung der Lebensmittel aus, die die Hungersnot im Gefolge haben wird. Auf gestreektem Pferd sprengt ein vierter daher. Ein Turban verrat seine Abkunft: er kommt aus dem heiGen Morgenland (= die Pest). Vom Sturmeshauch dieser wilden Jagd beriihrt, sinken die Menschen unten in dichten Massen dahin. Die Gewalt des wilden Daherstiirmens kommt mit packender Kraft zum Ausdruck! Diese Reiter und Pferde sind von einer so tiberirdischen Wildheit erfiillt, dafi einem ihr Herbrausen durcli die Luft hoch ilber dem festen Boden ganz selbstverstandlich erscheint. Und die wenigen Menschen unten, wirlcen sie nicht in dem dichten Knauel von sich reckenden, abwehrenden und hilflos sinkenden Gliedern als eine grofie Masse, die schon vor dem Sausen der grimmen Waffen vergehen mufi? An uns voriiber saust es, braust es wie ein furchtbares Wetter. Das Werk ist, obwohl es ja gedanklich schon von Diirer vorgebildet ist, ktinstlerisch doch eine vollkommen eigene Tat, denn Cornelius hat die Motive zeichnerisch grofiten- teils in selbstandiger Weise verwertet und stellt sich mit seiner Leistung ebenbiirtig neben den groBen altdeutschen Meister. (Die Gruppe unten moge Gestah fiir Gestah beachtet, zergliedert und eingehend beschrieben werden!) Auch Cornelius mifiachtet die Farbe, und der Vorwurf, nicht naturfrische Gemalde, sondern kiihl Ucolorierte Kartons» geschaffen zu haben, trifft auch ihn. Abb. 127. In die deutsche Heldensage greift als echter Romantiker (man erinnere sich auch der Lieblingsstoffe der Romantiker der deutschen Literatur: Uhland u. a.) * Vgl. das «Meisterbild» des Kunstwart-Verlages: «Die apokalyptischen Reiter« von Albrecht Diirer. ** Diirers «Tod» im Holzschnitt «Die Reiter der Apokalypse» ist ein unheimlicher, zahnloser, schrecklich abgemagerter Alter, der nicht so leidenschaftlich vorgeht. Er reitet auf diirrem Klepper dahin und sieht iiber seine Opfer weg, die unter seinem Pferd wehrlos hinfallen. 129 auch Schnorr von Carolsfeld. Das Licht von zwei Fackeln beleuchtet greli den Zug mit der Leiche des erschlagenen Siegfried, den Ausgang eines Tannenwaldes und eine Strafie, die durch Hugelland ftlhrt. Hinter dem grellen Lichtstrich erscheint als undurchdringliche schwarze Flache der Nachthimmel wirkungsvoll angedeutet. Die Gruppen des von R.uhe und feierlich - stillem Wesen erfiillten Zuges sind geschickt getrennt und verbunden, die Gestalten von edler Wurde (man vergleiche die ruhige, einfache Linienftihrung mit der lebhaften auf dem Bilde von Cornelius), dabei trefflich charakterisiert. Reue, boses Gewissen, Trauer und wilder Trotz — Hagen der Fuhrer! — Abb. 128. Der Tod als Erloser von Alfred Rethel. * kommen klar zum Ausdruck. Man beachte auch die vvirkungsvolle Verwertung der Schatten auf dem Boden, die Bunde usf. Die uns heute vom kleinsten Theater her als ♦ unrichtig* bekannte Tracht dtirfte gleichvvohl auch einem Pedanten die Freude am Bild — der Wert eines Gemaldes hangt von anderen als von solchen Nebendingen ab! — nicht verleiden. Abb. 128. Der Alte hat immer redlich geschaffen. Aber heute ist er friihzeitig miide geworden, ist eingeschlummert und hat das Lauten versaumt. Da ist ein anderer lang- sam die Treppe heraufgekommen, ein Pilgersmann, und der zieht nun die Glocke. Jeder wei(3 nun wohl, was dem alten Mann geschehen ist. Er ist gestorben und die Statte seines Wirkens erglanzt nochmals im Abendfrieden um ihn. Die Fenster sind offen und ebenso die Ture, die zur Turmhohe ftihrt. Gotische Fialen schauen uberall herein, ein gotischer Wasserspeier streckt sich (links) in die Luft. Tief unten liegt das weite Land. M611 er Die bedeutendsten Kunstvverke, II. 9 130 Die Sonne ist im Sinken und sendet machtige Strahlengarben in den Himmel. Ein Voglein singt hell auf der Brustung und der Friihlingswind zieht durch den offenen Torbogen und das Fenster ins stille Gemach. Der Alte hort den ldeinen Sanger nicht mehr. In sich zusammengesunken sitzt er da, die arbeitsmiiden Hande im SchoG, das kable Haupt mit dem sparlichen Haar, das tief in den Nacken hangt, zuruckgelegt in die hohe Leline des Armstuhles. Und der Pilger lautet. Ein «heiliges Lauten», das in das Land hinaustont und zu klingen scheint aus diesem Bilde, das in unilbertrefflicher Weise das Friedvolle eines stillen Todes nach einem Leben voli Muhe und Arbeit verkiindet. Abb. 129. Marias Gang liber das Gebirge von J. Ftihrich in Wien. Abb. 129. Die Charaktere und die Stimmung der Landschaft klingen zu einer ilberaus friedlichen, kindlich-einfachen Wirkung zusammen. Der Kiinstler hat seinen Stoff — wie wir es schon bei Diirer sahen — mit gutem Grunde in unsere Gegenden iibertragen. Ein Weg fuhrt eine sanft ansteigende Anhohe hinauf; hinter dunklen Hiigelkonturen die lichte Wolbung des Himmels. Ein heimatlicher Wald, nicht finster und unheimlich dicht, sondern mit freundlichen Ausblicken ins Helle. Darin schreitet nun Maria, ganz versunken in ihre Gedanken, hin. Man beachte, wie das trefflich zum Ausdruck gebracht ist: sie setzt den Štab vor sich leicht auf und schreitet mechanisch aus. Man sieht, dafi die Bewegung nicht einem kraftigen Willensakt entspringt, sondern unabhangig vom Gedanken- ablauf, dessen traumerische Art das Gesicht ausspricht, vor sich geht. Engel, die Rosen streuen und singen, gehen der Madonna voraus und folgen ihr. Man beachte den kleinen Dirigenten, der fur ein richtiges Einfallen seiner Genossen im Singen mit bezeichnen- den, klar sprechenden Gebarden Sorge tragt. (Zu beachten, wie er mit der rechten Hand dem Engel zur Rechten noch wehrt!) Diese Kinder mit Rosen und Liedern er- ganzen treffend das Stimmungsbild, kennzeichnen das zarte, frommen Traumen folgcnde Innenleben Marias. Josef, der die Rosen sammelt, die zu seinem Erstaunen reichlich 131 niederregnen, bringt einen leicht humoristischen Ton in das schlichte Bild. Die Bewegung des Biickens im Schreiten, die dem komplizierten Motiv klar angepaftte Gewandfiihrung gehoren, wie Maria und die fliegenden Engel, zu den beachtenswertesten Teilen des Werkes* Abb. 130. Waldkapelle von Moritz von Schwind. Abb. 130. Man kann wirklich sagen, dafi die Ktinstler (Dichter, Maler und Kom¬ ponist) Dinge horen und sehen, die ein gevvohnliches Auge und Ohr nur ahnen, die ihm aus dem dunklen Ahnen erst im Werke klar erfafibar gegeniibertreten. So hat Richard VVagner im «Waldweben» des Musikdramas «Siegfried» das kaum horbare Weben und Leben stillen Waldfriedens, ali das leise Summen der Kafer, das Blatterwehen, die fernen Gerausche des Lebens und vieles andere, das man nur aufnimmt, ohne es zergliedern zu konnen, zu einem klaren musikalischen Ausdruck gebracht. So hat auch Schwind als Maler ali die Friedensgeheimnisse des Waldes hier in einem Bild gesammelt und in ihren klarsten Aufierungen mit Hinweglassung alles Zufalligen, alles nicht der Erzielung einer Grundstimmung Dienenden dargestellt. Zu einer Zeit, da viele in Mifiachtung der heimatlichen Natur nach Italien gingen, ist er den zauberhaften Wirkungen der * Ein bedeutendes Werk sind die Fresken Fiihrichs in der Altlerchenfelder Kirche zu Wien. Q* 132 deutschen Gegenden nachgegangen undj hat sie in vielen tief und ernst empfundenen Werken zur Geltung gebracht* Hier die einsame Waldstrafie mit den dunklen, dicht gestellten Baumen zur Seite und der einfachen Kapelle. Ernste Schatten dampfen alle Farben ab und erhohen den Eindruck tiefen Friedens. Nur die Spitzen der Baume und die Berggipfel driiben tauchen noch in das milde, weiche Licht der Abendsonne. So recht eine Stelle und Stunde, um zu beten. Da hat sich auch eine miide Frau, Abb. 131. Dantes Fahrt unter Fiihrung Vergils nach den Gefilden der Verdammten von Delacroix. die barfuC des Weges kam, unter der Macht dieser Waldstimmung vor dem grofien Gitterfenster der Kapelle miide im Betstuhl niedergelassen und versinkt ganz in eine andachtige Stimmung. Sprechen nicht Hande und Gesicht die frommen Gedanken des miiden Menschenkindes uniibertrefflich aus? Man betrachte nur die Haltung der Hande, die Stellung von Leib und Haupt, die leise Erschlaffung der Gesichtsziige, die Augen! Abb. 131. Fiir Delacroix, der kraftige Farben und Bewegungen in der Natur suchte, war das so recht ein Stoff. Wie er orientalische Motive wegen der Farbenpracht der Trachten, der gesattigten Tone im starken siidlichen Lichte, der reich gefarbten Ticrwelt liebte, so zog ihn an diesem Stoffe ahnliches an, vor allem die Moglichkeit, machtvolle Bewegungen weifier Menschenleiber im unheimlich gefarbten dunklen Gewasser, im Lichte brennender Bauten am Ufer zu geben. Dargestellt ist Dantes Fahrt unter Fiihrung * Schvvind hat auch die deutschen Sagen und Marchen, die alle in stimmungsreichen Ortlichkeiten — tiefen “VValdern, wie «Riibezahl»; einsamen IVassern, wie «Melusine» — spielen, in prachtiger Weise illustriert. 133 Vergils nach den Gefilden der Verdammten. Da kommen sie heran, versuchen aus der qua- lenden.Flut an der Barke heraufzuklettern (der Mann, der sich am Bootsrand ganz links aufzieht, und der rechts vonVergil!), stiirzen wieder verzweifelt zurilck, versinken mit schmerz- lichem Stohnen (die Frau und der Mann an der Vorderseite) oder mit ergebungsvollem Schmerz (der Bartige rechts vorn). Diese leidenschaftlich zuckenden Glieder erhalten noch besondere Eindrucksfahigkeit durch das unruhige «Gewoge derTinten», durch die scharfen Gegensatze der Farben — einheitlich helie und ganz dunkle Tone nebeneinander — Abb. 132. Friihstuck von Claude Monet. (Nach Photographie Giraudon.) und durch die eigenartige Beleuchtung. Die beiden Dichter, der eine hell, der andere ganz dunkel gekleidet, der eine unruhig und nach der Hand des anderen, ruhigen fassend, das alles ist auch im einzelnen prachtig gegeben; die machtigste VVirkung aber erhalt das Bild erst durch die Farbe, die Delacroix nach langen Zeiten, in denen die Zeichnung mit blasser Kolorierung (die Klassizisten!) vor allem herrschte, wieder zu Eliren brachte. Abb. 132. Wer aufmerksam an einem Sommertage in grellem Sonnenschein eine Landschaft, etwa mit einem Dorf darin, Tieren, Menschen usf., betrachtet, der findet, sofern er zu schauen versteht und nicht nur gedankenlos vor sich hinsieht, dafi im Vergleich zu einem triiben Tage (etwa bewolktem Himmel nach langem Regen) alles anders aussieht. Die einzelnen Gegenstande sondern sich nicht mehr in Farbe und Form so klar von- einander, der grelle Glanz, ein gewisses Flirren und Flimmern, lost alle Umrisse auf, es verschwimmt alles mehr in der leuchtenden, zitternden Luft. Nun gar ein Menschengewiihl in solchem Lichte! Man blicke doch einmal an einem solchen Sommertage Sonntags in einen grofien von Menschen belebten Park (etwa um die Mittagsstunde) oder in einen grofien dicht besetzten Gasthausgarten. Flimmert es nicht bunt und unruhig? Da kommt noch etwas dazu: die'Menschen bleiben nicht ruhig, es ist ein stetes Kommen und Gehen. 134 Das stellt der Malerei eine weitere schwere Aufgabe, die die Vertreter der modernen Kunst aber mit Vorliebe aufsuchen. Sie wollen den allgemeinen, verwirrenden Ein- druck malen, den bewegte Massen (wechselndes Licht, gehende Menschen) geben. Die vortreffliche Echtheit der Lichtwirkung kommt auch in der Schwarz-WeiB-Abbildung gut zur Erscheinung. Hier ist jeder Gegenstand ganz unter dem bestimmenden Einflufi der besonderen Lichtfulle, nicht in Unabhangigkeit davon gegeben. Fruher hatte man es reinlich, in festen Linien bis in alle Einzelheiten gezeichnet.* Man beaclite die Straucher und die Blumen vorne! Wenn wir ilber eine Wiese blicken, so sehen wir nicht von allen den tausenden Gras- und Blumenstengeln j eden einzelnen vollig genau. Wir sehen nur Abb. 133. Das DorfVetheuil von Claude Monet. (Nach Photographie Giraudon.) ein allgemeines Gewoge von Grtin und Rot u. dgl. Wir haben eben einen Gesamt- eindruck. Der moderne Maler versucht nun, diesen gesamten, ersten Eindruck (= im- pressio; die Maler dieser Art: Impressionisten) wiederzugeben. Wir erhalten von dieser Art der Malerei hier eine Vorstellung. Da ist nicht Stiick um Stiick in der Reihenfolge gemalt. Man sehe schlieBlich das Bild aus groBerer Entfernung an. Abb. 133. Ein weiteres Mittel, den Farben jene Leuchtkraft zu geben, die sie unter dem EinfluB des Lichtes erreichen konnen, ist die Zerlegung der Farben auf dem Mal- grunde. Die Farben werden nicht auf der Palette gemischt, sondern in kleinen Strichen oder Tiipfchen auf die Leimvand nebeneinander gesetzt. In der Nahe erscheint ein solches Bild als ein vviistes Durcheinander von Farbenfleckchen, aus einiger Entfernung aber betrachtet, ergibt sich die Mischung (der auf der Leinwand ungemischt nebeneinander * Eine Begrenzung durch feste Linien haben eigent-lich Menschen, Tiere, Baume usf. nicht. Daher verschmaht es der moderne Maler, in der Rundung eines Leibes Grenzen und Umrisse in scharfen Strichen zu geben. 135 stehenden Farben) im Auge des Beschauers mit der Wirkung einer viel grofieren Leucht- kraft, als sie ohne diese Behandlung der Farbe erreicht werden kann* So sehen wir hier ein «in Sonne gebadetes» Dorf unter hellem Sommerhimmel, umgeben von Wiesengriin. Wir miissen freilich zugeben, dafi erst der Anblick eines Originals eine richtige Vorstellung von dem Vorteil der Malweise Monets mit ihrer naturwahren, uniibertrefflichen Licht- wirkung geben kann.** Abb. 134. Arnold Bocklin hat die «Toteninsel» fiinfmal gemalt. Diese Gemalde, in der Hauptsache einander ahnlich, zeigen doch im einzelnen mancherlei Unterschiede. Am Abb. 134. Die Toteninsel von Arnold , Bocklin. (Nach Photographie von F. Bruckmann, Mtinchen.) feierlichsten wirkt wohl die — am meisten verbreitete — sogenannte «dritte Redaktion» des Bildes. Wenn wir gleichwohl hier nicht diese, sondern eine andere abbilden, so geschieht es, weil die tlblichste Wiedergabe der «Toteninsel» durch die Zurschaustellung in den Kunstladen und die Abbildung in Handbuchern der Kunstgeschichte schon iiber- aus bekannt ist. Wir sehen auf unserer Abbildung ein hochfelsig mit senkrechten Wanden aus dem Wasser aufsteigendes, einsames Eiland. Die Felswande umschlieCen im rechten Winkel eine dunkle Masse dicht zusammenstehender, die Felsen zum Teil noch ein wenig tiberragender Zypressen, die zwischen den Kalkwanden wie eingeklemmt erscheinen. Uber die Felsen hangen an verschiedenen Stellen dunkle Moos- oder Gestriippstrahne nieder. In die Wande sind rechteckige Grabkammern, Grufte, gehauen, die in der Anlage gewissen uralten Felsengrabern in Lykien (vgl. Bd. 1, Abb. 31, S. 34) ahnlich sind. Im Vordergrunde schlieBt eine niedere, helle und glatte Steinwand (auf der * Es ist hiemit die Technik der Pastellmalerei, in der sich besonders leuchtende zarte Fleischtone wunderbar erreichen lassen, in die Olmalerei iibertragen. ** Unter seinen Nachfolgern kam es freilich zu Ausartungen auf diesem Gebiete. Nur wirklich bedeutende Meister verfugen uber eine genugende Kenntnis der Natur, um das Prinzip der Farbenzerlegung richtig und mit der Wirkung, die Monet erzielte, anzutvenden. 136 dritten Ausgabe des Bildes eine Gerollmauer) die Insel rampenartig ab. Zwischen zwei etwas hoheren, Lowen tragenden Pfeilern ist der Eingang. Das Wasser umlagert dunkel und schwer das Eiland. Auf die Insel zu wird ein Kahn gerudert, in den vorne queruber ein weifibedeckter, blumenbekranzter Sarg gestellt ist, hinter dem grofi und gerade eine in Weifi gekleidete menschliche Gestah aufragt. Wodurch kommt nun der Eindruck der Feierlichkeit und Schwere, der Eindruck des Monumentalen in dieses Bild? Erstens durch die Geschlossenheit des Aufbaues, durch die ilberaus ruhige, fast symmetrische Anlage und durch die einfache Linien- fuhrung. Die Insel erscheint als ein fast rechteckig begrenzter Block. (Auf der dritten Redaktion des Bildes ist rechts kein Felsen wie hier von der Hauptmasse losgesprengt, die Wirkung also noch einheitlicher.) Er ist seitlich von senkrecht aufragendem Gevvande begrenzt. Neben diesen lotrechten Linienzugen, die auch in den Zypressen wiederkehren, spielt eigentlich nur die Horizontale, und zwar diese eine sehr bedeutende Rolle (= vorderer Abschlufi der Insel, obere Begrenzungslinie derselben; Rand der Wasser- flache). Die Mittellinie ist sehr stark betont (Eingangspfeiler und Offnung dazwischen!*). Bocklin selbst sagte einmal: «Die Symmetrie ist entweder langweilig oder feierlich.» Hier ist durch das ganze Motiv, ferner durch eine Symmetrie, die Abwechslung und Reichtum in Einzelheiten aufweist, der Eindruck feierlicher Grofie in unnachahmlicher Weise geschaffen. Monumental wirkt das Werk auch dadurch, dafi der Felsenstock der Insel so dicht vor das Auge des Beschauers, so nahe an den Bildrand geruckt ist und dafi daneben nur ein sparsamer Ausblick auf Meer und Himmel gestattet wird. Dadurch wird der Blick des Beschauers fest auf die Insel gebannt. Diese steht in machtiger Grofie, als Hauptgegenstand des Gemaldes, in sparsamen Begrenzungsflachen unmittelbar vor uns. Die schwere Masse driickt fast auf den Beschauer. Ist durch die Symmetrie und die tiberaus einfache Linienfuhrung der Eindruck der Ruhe gegeben, so wird durch die Behandlung in Licht und Schatten dieser Eindruck zu einer dumpfen, lastenden, bedriickenden Ruhe gemacht. Jeder Lichtmangel wirkt, wie in der Natur, auch im Bilde beangstigend (vgl. Bd. I, »Asthetische Vorschule», S. 7 u. 8, Anmer- kung). Und ganz bedeutend spricht hier die atmospharische Stimmung zur Erzielung eines bestimmten Eindruckes mit. Die Schatten herrschen iiberall bedeutend vor. Wohl liegt das Wasser ruhig und glatt, aber es wirkt trotz dieser Ruhe nur schwer und unfriedlich, denn es tragt den unheimlichen VViderschein des Himmels: fahles Licht neben dem tiefen Dunkel schwerer Wolkenmassen. Es ist also nicht die friedliche Ruhe eines heiteren Sommertages, sondern die drauende Stille vor Sturm und Gevvitter, die aus diesem Bilde auf uns wirkt.** Dazu diese grenzenlose Einsamkeit! Nur Wasser und Himmel, der dtistere Graberort, die stille Fahre mit dem Toten und den stummen * Auf der dritten Redaktion ist dies noch deutlicher. Auf dieser sind nur die Torpfeiler (neben dunkler Gerollmauer) blendend weiC, dabei hoher und schmaler als hier. Der Eingangs- raum selbst ist nicht durch eine wei!3e Treppe gegeben, sondern das Wasser tritt als schwarze Flache noch zwischen den Pfeilern in die Insel ein. Der Kahn mit dem Sarg fahrt dort gerade auf den Inseleingang zu. Es ist hochst wiinschenswert, daC die hier verglichene Ausgabe des Bildes, nach Betrachtung und eingehendster Beschreibung der vorliegenden Abbildung, auch wenigstens in einer Wiedergabe gezeigt wird. ** Man beachte auch, daC die Spitzen der Zypressen von einem leichten Winde bewegt werden. Auf der dritten Redaktion des Bildes sind links einige Felsblocke im Meer. Das Wasser rauscht hier leicht schaumend in weifem Gischt um die Steine. Hier verrat sich also auch schon der Sturm inVorboten, wenn man nicht einen durch unterirdische Krafte bewegten fVasserstrudel, also auch eine unheimliche Bevvegung, annehmen soli. 137 Begleitern, alles Momente, die mitsprechen. Licht und Schatten sind hier disharmo- nisch verwendet und gerade ihr absoluter Gegensatz tut viel zum unheimlichen Eindruck des Ganzen, Blendend und greli gleifit das helle Licht auf den Pfeilern der Vormauer, auf dem aufgemauerten Umgang rechts auf halbem Felsen, undurchdringlich schwarz liegen die Schatten vorne im Wasser. Wie unergriindlich tief sieht nicht das Meer rechts aus, wo sich der gesonderte Felsen bis zu betrachtlicher Tiefe diister spiegelt! (Auf der dritten Redaktion sind die Kontraste von hell und dunkel noch viel starker. Besonders links an der Felsenwand! Auch die Wolkenbildung und die Himmelsbeleuchtung sind dort noch beunruhigender.) Zu ali dem mufi noch das Format des Bildes (mehr breit als hoch) gerechnet werden. Alles fiigt sich zu einem monumentalen Eindruck zu- sammen. In dem Gleichgewicht und der fast architektonisch klaren und machtigen Gliederung des Ganzen, in seiner Linienfuhrung und Begrenzung in den Verhaltnissen des Bildes liegt es, wenn es grofi und machtig wirkt, nie in der Grofie des Blattes, auf dem gemalt wird. Bocklins