Adriano Fabris KOMMUNIKATIONSETHIK 1. Medienethik und Kommunikationsethik. Wir leben in einer Epoche, in der die Medien performativer denn je sind. Sie wirken auf die Realität ein, verändern sie, konstruieren sie. Die Medien leisten heute eine eigentliche Virtualisierung des Wirklichen; das heißt, sie sind ein Vehikel von Virtualität.1 Das bloße Bewusstsein dieser Situation reicht indessen nicht aus. Wir müssen verstehen, welches ihre Auswirkungen sein können. Wir müssen in der Lage sein, sie einzuschätzen und zu beurteilen. Dies können wir tun, indem wir über eine phänomenologische Analyse hinausgehen und einen explizit ethischen Standpunkt einnehmen. Zu diesem Zweck dürfen wir uns allerdings nicht nur auf die verschiedenen Medien und ihre Macht konzentrieren. Diese Macht wird nämlich von den Medien, je nach spezifischem Charakter, auf unterschiedliche Weise ausgeübt. Die Macht des Fernsehens zum Beispiel ist eine andere als diejenige von Internet. Und dennoch, trotz der Unterschiede, besitzt die Macht der Medien ein gemeinsames Element, eine gemeinsame Herkunft. Diese stammt von der Tatsache, dass alle Medien Kommunikationsmittel sind. Generell hat die Kommunikation die Macht, den Raum unserer Erfahrung zu konstruieren, auf unsere Realität einzuwirken und sie zu verändern. Sie tut dies 97 1 Vortrag auf der Konferenz "Virtualität. Phänomenologische Zugänge", PTHV 21. - 23. 11. 2014, Vallendar. mittels der Medien. Es ist die Kommunikation, die uns eine Realität zu teilen erlaubt, einen sozialen Raum schafft. Dies kann sie auf unterschiedliche Weise tun. Es ist die Kommunikation, die heutzutage die Macht hat, die Realität zu virtualisieren - eine Macht, die die Medien ganz konkret nutzen. Diese Macht müssen wir demnach analysieren. Wir müssen die Verbindung zwischen Kommunikation, Virtualität und Konstruktion des Sozialen vertieft untersuchen. Und dies müssen wir, wie ich bereits sagte, nicht nur mittels einer Beschreibung der Welt tun, in der wir leben, sondern auch und insbesondere mittels einer Kritik derselben. Wir müssen zeigen, dass diese Welt, in der ganz konkrete Erfahrungen virtueller Realität stattfinden, nicht die einzig mögliche ist. Ganz im Gegenteil: Es gibt verschiedene Arten, unterschiedliche Möglichkeiten, um gesellschaftlich geteilte Beziehungen zwischen Wirklichkeit und Virtualität zu schaffen. Die Ethik, die Kommunikationsethik, und dabei vor allem die ICT-98 Ethik (ICT steht für Information and Communication Technologies), kann uns dabei helfen, sie zu definieren und in die Tat umzusetzen. Den Gedankengang in diese Richtung zu lenken, ist deshalb das Ziel meiner Rede. Ich werde versuchen, das Problem an der Wurzel anzupacken, wie es an sich immer Aufgabe der Philosophie ist. Und um die Frage in all ihren Aspekten auszuleuchten, muss neben einer Phänomenologie des Virtualen und einer Ontotogie des Virtualen, die erarbeitet wurden, um die Gesellschaft zu verstehen, in der wir leben, auch eine Ethik des Virtualen entwickelt werden. Das ist es, was ich tun will. 2. Die Notwendigkeit einer Kommunikationsethik. Warum stellt sich heute die Notwendigkeit einer Kommunikationsethik? Seit einigen Jahren sind in den verschiedenen Teilen, insbesondere der westlichen Welt die Fragen der Kommunikationsethik zu einem Interessengebiet der Forschung geworden: Medienforscher, Soziologen, Philosophen. Davon zeugen die vielen Publikationen zum Thema. Dieses Interesse entsteht allerdings nicht zufällig, sondern ist das Symptom einer ganz spezifischen Situation. Es verweist auf das zunehmende Unbehagen vieler, auf unterschiedliche Weise in kommunikative Prozesse eingebundener Menschen bezüglich ihrer Position und der Rolle, die sie im Rahmen der globalen Kommunikationsprozesse innehaben. Das Interesse ist, mit anderen Worten, Ausdruck der Notwendigkeit einer Reglementierung des kommunikativen Raums, und es tritt im Bewusstsein derer, die in die entsprechenden Dynamiken einbezogen sind, immer klarer zutage. Diese Notwendigkeit weist heute vor allem zwei Aspekte auf. Da ist zunächst das Bedürfnis zu überprüfen, ob es möglich ist, nicht einfach nur hinzunehmen, was durch einen globalen, selbstversorgenden und selbstregulierenden kommunikativen Prozess übermittelt wird; mit anderen Worten, die Notwendigkeit festzustellen, ob die kommunikationsfähige Person nur mit einem Target gleichgestellt werden muss, einem Ziel, das vom InformationsÜbertragungsmechanismus angepeilt wird, oder nicht. Eine Weiterentwicklung dessen ist dann der Wunsch, einen Freiraum für jedermann zu schützen, der sich mittels verschiedener Medien ausdrückt; das beinhaltet auch die Freiheit, die 99 paradoxerweise in der Verweigerung des Kommunizierens bestehen könnte, das heißt durch Ausschalten des Fernsehers oder Computers. Mit Verweis auf diese Problematiken wird heute die Notwendigkeit einer Kommunikationsethik geltend gemacht2. Doch wie können wir diese Disziplin genauer definieren? Die Kommunikationsethik hat im Rahmen der angewandten Ethiken die Aufgabe, die moralischen und die beim kommunikativen Handeln wirkenden Verhaltensprinzipien zu ermitteln, zu vertiefen und zu rechtfertigen, und zugleich zu einem von ihr festgelegten Verhalten zu motivieren. Wie kann die Kommunikationsethik ihre Ziele verwirklichen? Es sind insbesondere zwei Strategien, die zu einem Kommunizieren führen, das allgemein als gut und angemessen gelten kann. Die erste findet in der konkreten Ausarbeitung einer Berufsdeontologie statt; in der Definition eines Verhaltenskodex, der von allen, in einem bestimmten Kommunikationsbereichtätigen Personen respektiert werden soll. Die zweite besteht in einer allgemeinen Ausarbeitung dessen, was gut kommunizieren bedeutet, und zwar mit Verweis auf einige philosophische 2 Für eine Vertiefung dieser Aspekte siehe A. Fabris, Etica della comunicazione, Carocci, Rom 2014. Kriterien: insbesondere auf die Idee einer kommunikativen Natur des Menschen, auf den der Sprache innewohnenden dialogischen Aspekt, auf das dem Publikum und der Audience geltende Augenmerk, auf das allgemeine Prinzip der Nützlichkeit, auf das (von Apel und Habermas entwickelte) ideale Kriterium der "Kommunikationsgemeinschaft".3 Doch da ist noch eine andere Aufgabe, die diese Disziplin erfüllen muss und die gerade als erste Antwort auf das oben erwähnte Unbehagen besonders interessant ist. Ich meine damit die Idee einer Kommunikationsethik als Kritik der scheinbar selbstverständlichen und verbreiteten Auffassung des Kommunizierens. Eine solche Kritik dient vor allem dazu, von den kommunikativen Prozessen Distanz zu nehmen, was uns erlauben kann, ihre vielfältige Gliederung zu verstehen und in der konkreten kommunikativen Tätigkeit die richtigen Entscheidungen zu treffen. 100 3. Die Kommunikationsethik als Kritik der kommunikativen Vernunft. Was bedeutet all dies genau betrachtet? Dazu ein Beispiel. Nehmen wir ein beliebiges Lehrbuch der Semiotik oder der Linguistik. Darin wird meist zu Beginn eine gute Definition von Kommunikation erläutert, die dann natürlich präzisiert und vertieft wird, ohne allerdings die ihr zugrunde liegende Struktur in Frage zu stellen. Danach bedeutet ,kommunizieren' ganz allgemein, eine Botschaft oder eine Information von einem Sender an einen Empfänger zu übermitteln. Einmal abgesehen von den vielfältigen Anpassungen, die diese Definition erfahren kann, bleibt die ihr zugrunde liegende Idee unverändert bestehen: kommunizieren bedeutet übermitteln. Dies ist die allgemein anerkannte, sogenannte „Standardthese". Doch selbst bei einer stillschweigende Annahme dieser These müssen wir uns in der Perspektive einer Kommunikationsethik, im Sinne einer Kritik des Kommunizierens fragen: Was liegt dieser These zugrunde? Worauf „basiert" sie? 3 In Deutschland erfolgte dies insbesondere durch die Betrachtungen von Karl-Otto Apel (der eine Kommunikationsethik erarbeitet hat, um damit eine allgemeine Ethik zu entwickelt) und dann mit der Diskursethik von Jürgen Habermas. Auf diese Frage kann ich im vorliegenden Rahmen nicht eingehen, denn dazu müsste ich auf den historischen Hintergrund eingehen- der mit der Entstehung der Kybernetik nach dem Zweiten Weltkrieg zusammenhängt -, in dem diese „Standardthese" gereift ist und Verbreitung gefunden hat. Ich will mich aber auch nicht mit Veranschaulichungen durch mögliche Beispiele dieser Idee der Kommunikation aufhalten, unter denen sich heute, als ihre alltägliche Verkörperung, vor allem die Erfahrung der Werbekommunikation durchsetzt. Mich interessieren vielmehr die ihr zugrunde liegenden Voraussetzungen: die Prinzipien ausgehend von denen die Bedeutung des Ausdrucks „gut kommunizieren" zu verstehen ist. Denn wenn wir diese „Standardidee" des Kommunizierens annehmen, ändert das auch an der Art, wie wir unsere zwischenmenschlichen Beziehungen leben, sehr viel. Mehr noch, es ändert in unserer Erfahrung des Sozialen schlicht alles. Die erwähnten Prinzipien des Standardbegriffs der Kommunikation beziehen 101 sich vor allem auf die Leistung eines bestimmten Prozesses, auf die Wirksamkeit einer bestimmten Handlung, auf die Effizienz eines bestimmten Systems. "Gut" kommunizieren bedeutet, etwas auf wirksame Weise übermitteln, mit minimalem Aufwand ein maximales Resultat erhalten, alles eliminieren, was in diesem Prozess Verzögerungen, Störungen, Redundanzen oder Ambiguitäten erzeugt. Es handelt sich also um einen weiteren Ausdruck jener „Diktatur der Prozedur" die alle Bereiche der heutigen Welt durchdringt. Vor dem Hintergrund dieser Standardidee des Kommunizierens ergibt sich demnach als richtunggebendes Kriterium ein wirtschaftliches Kriterium. Und dieses verbindet sich gut und gern mit Aufgaben, die zum Beispiel die Informatik und die Telekommunikationswissenschaften erfüllen sollen. Doch dieses Kriterium gilt nicht für alle unsere kommunikativen Erfahrungen. Und vor allem ist ein solcher Begriff nicht frei von Konsequenzen, gerade was den ethischen Aspekt betrifft. Wenn nämlich "gut kommunizieren" bedeutet, auf wirksame und effiziente Weise kommunizieren, dann ist das bevorzugte Paradigma die Nützlichkeit. Daraus ergeben sich auch die anderen, in der Standardthese impliziert vorhandenen Elemente als selbstverständlich: der einseitig verlaufende Charakter der kommunikativen Dynamik in der Beziehung zwischen Sender und Empfänger, die tendenzielle Reduktion des Kommunizierens auf eine Informationsübermittlung, die Fixierung und Isolierung der Kommunikationsinstrumente - sowie des Kanals, des Kodes und des kommunikativen Kontextes - in Bezug auf die Erfahrung der von den Kommunizierenden erlebten Interaktion. Ob ein kommunikativer Prozess gut ist, wird also letzten Endes auf das angemessene Funktionieren eines Systems reduziert. Die Gesellschaft ist dieses System und die Individuen sind dessen Komponenten. Nun, die Kommunikationsethik als Kritik der kommunikativen Vernunft und der Modi, in denen diese Vernunft normalerweise ausgeübt wird, erlaubt uns Abstand zu nehmen von solcherlei, als selbstverständlich angesehenen Voraussetzungen. Und sie erlaubt uns vielleicht sogar, mögliche andere Wege zu ermitteln. Anhand einer komplexer artikulierten Idee von Beziehung - die 102 über eine simple Datenübermittlung hinausgeht - können wir eine andere, ursprünglichere Auffassung des Kommunizierens erarbeiten; eine Auffassung, die weniger einseitig ist als die in der Standardthese enthaltene und besser imstande, Motivationen für ein kommunikatives Handeln zu erhalten, die nicht nur wirtschaftlicher Natur sind. Wir können uns diesem Begriff annähern, indem wir uns am Etymon des Worts ,Kommunikation' orientieren, wie es für die meisten europäischen Sprachen gilt. Das Wort stammt nämlich aus dem Lateinischen ,communicatio und bezeichnet allgemein „zur Seite legen", andere „Anteil nehmen lassen" an dem, was man besitzt. In diesem Begriff wirkt eine besondere Metapher, und zwar diejenige der „Beteiligung", und nicht zufällig finden wir im Deutschen das Wort ,Mitteilung', das zwar eine andere Etymologie hat, aber demselben semantischen Feld angehört. ,Communicd bedeutet ursprünglich, „der Gemeinschaft zur Verfügung stellen", „einen gemeinsamen Raum schaffen": Augenfällig ist die Verbindung zwischen diesem Verb und dem Adjektiv, communis' und dem Substantiv, communitas'. Bereits diese etymologischen Verweise stellen die Eckpfeiler der Standardthese in Frage, nämlich die Einseitigkeit der kommunikativen Beziehung, die Idee, dass das Feedback dem erzeugten Impuls nachfolgt und sich daraus der repetitive mechanische Charakter ergibt, der laut dieser These den kommunikativen Prozess kennzeichnet. Mehr noch. Wir werden uns jetzt einer grundlegenden Verwirrung bewusst, die die Standardauffassung zu Fall bringt: die Verwirrung zwischen kommunizieren und informieren. 'Informieren' bedeutet effektiv Inhalte übermitteln, Botschaften zustellen. Und dies ist zweifellos ein der Kommunikation inhärentes Merkmal. Doch im kommunikativen Bereich geschieht noch etwas mehr, das auch von den Informationsprozessen verlangt wird: Es erfolgt eine eigentliche Beteiligung, es entsteht eine Bindung, die über den reinen Informationsaustausch hinausgeht. Kurzum, es bilden sich kleine oder größere Gemeinschaften. Dies macht eine Neudefinition des Begriffs von 'Kommunikation' in einer weitergefassten Perspektive notwendig. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, bedeutet kommunizieren, einen gemeinsamen Beziehungsraum zwischen Gesprächspartnern zu eröffnen. Und damit wird augenfällig, dass das kommunikative Handeln gleichzeitig ein ethisches Engagement voraussetzt und schafft. Doch vor allem 103 geht daraus hervor, dass eine solche Auffassung auch der „Standardthese" zugrunde liegt. Mehr noch: Sie erlaubt nicht nur, die Dürftigkeit und Schemenhaftigkeit der These zu überwinden, sondern auch die stillschweigende Annahme der ihr zugrunde liegenden - sich an einem utilitaristischen Paradigma orientierenden - ethischen Auffassung. Sie erlaubt damit, ein weiteres und umfassenderes Paradigma von Kommunikationsethik zu beleuchten, das den vorherdargelegten Modellen zugrunde liegt. Und schließlich erlaubt sie, unsere sozialen Beziehungen nicht nur von einem wirtschaftlichen und mechanischen Gesichtspunkt aus zu denken. 4. Kommunikationsethik und Ethik des Virtualen. Wir leben in einer Epoche, in der es wichtiger denn je wäre, dass die Ethik, und dabei insbesondere die angewandte Ethik eine kritische Haltung einnimmt. Dies gilt vor allem insofern, als die Entwicklung der neuen Technologien in den verschiedenen Informations- und Kommunikationsbereichen eine eigentliche Krise hervorruft. Es handelt sich dabei nicht nur um die Krise einiger traditioneller Instrumente zur Kommunikation - wie Zeitungen, die zunehmend durch auf dem Tablet gelesenen News ersetzt werden - , sondern es geht, wesentlich tiefgreifender, um eine Krise innerhalb des Kommunikations- und Informationssystems. Ich spreche hierbewusst vonKrise in zwei Bedeutungen. Einerseits herrscht Krise, weil die globale, von den New Media begünstigte Kommunikationeinschneidende Konsequenzen mit sich bringt, was den Zugang zu Informationen, ihre eingehende Prüfung, Organisation, die Definition ihrer Spezifizität als Information an sich betrifft sowie in Bezug auf die Professionalität und Kompetenz derjenigen, die diese Aufgaben berufshalber übernehmen müssten. Die „Internet-Galaxie" ist insofern ein gutes Beispiel für die gegenwärtig stattfindenden Veränderungen des Kommunizierens sowie die Art und Weise, wie diese Veränderungen auf die Informationsprozesse einwirken. Andererseits und noch stärker herrscht Krise in der Beziehung zwischen der technologischen Entwicklung und dem ethischen Umgang damit, und zwar dergestalt, dass sogar grundlegende Bedingungen der kommunikativen Interaktion in Frage gestellt zu werden drohen. Ich denke dabei zum Beispiel an den Respekt vor der Wahrheit, die Achtung vor den Menschen, 104 die Vertrauensbeziehungen zwischen Gesprächspartnern, die Würde dessen, der beruflich oder als einfacher Benutzer im Kommunikationsbereich tätig ist. Alle diese Themen sind neuerdings in mehreren, in verschiedenen Sprachen und mit unterschiedlichem Ansatz veröffentlichten Büchern über Medienethik und Kommunikationsethik aufgegriffen und abgehandelt worden. Der angloamerikanische Ansatz richtet das Augenmerk vor allem auf die Aspekte der Berufsdeontologie und erläutert konkrete Case Studies, während die Kontinentalforschung4 verstärkt nach allgemeinen Kriterien sucht, die in der Lage wären, eine gute Kommunikation zu gewährleisten. Dasselbe gilt für die Forschungsbeiträge in italienischer Sprache.5 Doch wie ich bereits zu Beginn sagte, interessiert mich im Rahmen der vorliegenden Tagung die Frage, welchen Beitrag die Kommunikationsethik leisten kann im Umgang mit den Aspekten der Virtualisierung des Wirklichen, die unsere alltägliche Erfahrung zunehmend kennzeichnen und unser soziales Gefüge verändern. Dazu müssen wir jedoch in der Lage sein, eine korrekte Beziehung zwischen dem Virtualen und dem Wirklichen zu schaffen. Dies ist, wie ich dargelegt habe, eine der Aufgaben der Ethik des Virtualen. Zu diesem Zweck müssen wir zunächst die implikationen ethischen Charakters in Verbindung mit der Dimension des Virtualen erhellen und sie 4 Dazu, um nur ein paar Beispiele zu nennen, seien für den deutschsprachigen Raum erwähnt die Forschungsarbeiten unter der Leitung von Rüdiger Funiok von Uvk (Hrsg.: Grundfragen der Kommunikationsethik, UVK Verlag, Konstanz 1996), von Adrian Holderegger (Hrsg.: Kommunikations- und Medienethik, Herder, Freiburg i. B. 2004), sowie der Gruppe des ICIE, unter der Leitung von Rafael Capurro (allerdings hauptsächlich der Ethik der Neuen Medien gewidmet); für den frankophonen Sprachraum diejenigen von Frederic Vajas (Communication, Ethique, Institution, Editions Universitaires Europeennes, Saarbrücken 2010) und von Dominique Wolton (zum Beispiel die kürzlich veröffentlichte Studie Informer nest pas communiquer, CNRS, Paris 2009); außerdem von Richard L. Johannesen (Ethics in Human Communication, Waveland Press, Prospect Hights, Ill. 1996), von Luois A. Day (Ethics in Media Communications: Cases and Controversies, Wadswoth, Belmont 2006), sowie das ganz neue Handbuch von George Cheney, Steve May und Debashish Munshi (The Handbook of Communication Ethics, Routledge, New York 2011). Für die Italienische Schweiz sind erwähnenswert die beiden Bücher von Enrico Morresi: Etica della notizia. Fondazione e critica della morale giornalistica, Casagrande, Bellinzona 2003; und LLonore della cronaca. Diritto all'informazione e rispetto delle persone, Casagrande, Bellinzona 2008. 5 Unter den neueren Veröffentlichungen sind zu nennen: G. Bettetini, A. Fumagalli (Hrsg.), Quel che resta dei media. Idee per unetica della comunicazione, Franco Angeli, Mailand 1998; eine neue, aktualisierte Auflage 2010; R. Stella, Media ed etica. Regole e idee per le comunicazioni di massa, Donzelli, Rom 2008; R. Ronchi, Teoria critica della comunicazione, Bruno Mondadori, Mailand 2003; Id., Filosofia della comunicazione, Bollati Boringhieri, Mailand 2008; G. Di Biase, Comunicare bene. Per unetica dellattenzione, Vita & Pensiero, Mailand 2008; F. Bellino, Per unetica della comunicazione, Bruno Mondadori, Mailand 2010. Vom Autor dieses Artikels sind zahlreiche Studien zum Thema verfügbar. Neben dem in der Fußnote 1 genannten Titel, siehe auch A. Fabris (Hrsg.), Guida alle etiche della comunicazione, Edizioni ETS, Pisa 2011. 105 einer ernsthaften Kritik unterziehen. Dabei geht es vor allem zwei Implikationen. Die erste, allgemein sehr verbreitete Implikation ist an die Idee gebunden, dass alles, was vom technologischen Fortschritt stammt, an und für sich gut ist. In unserem Fall scheint es, als wäre alles "virtuos", was von einer „virtuellen" Welt stammt. Was sie an Möglichkeiten bietet, muss unbedingt ausgeschöpft werden. Die Fortschritte der Technologien müssen positiv aufgenommen werden. Dass sie eine Neuheit sind, ist Gewähr dafür, dass sie gut sind. So betrachtet, versteht man, wieso der Enthusiasmus für die technologische Dimension eine solche Sogwirkung hat. Wenn gut ist, was virtuell ist, lohnt es sich, darin Zuflucht zu nehmen. Und damit werden andere Erfahrungen, andere Realitäten, andere Welten abgewertet. Wer die virtuelle Dimension erlebt, ist überzeugt, nichts anderes zu benötigen. So denken oder handeln zum Beispiel all diejenigen, die vor dem Computer sitzen und auf jede andere Art von 106 Sozialbeziehungen verzichten. In dieser Perspektive braucht es keine Beurteilungskriterien mehr, die uns eine Orientierungshilfe sein könnten beim Übergang vom Möglichen zum Wirklichen. Es ist nicht mehr nötig, die Verantwortung zu spüren für die Verwirklichung von etwas in der alltäglichen Welt. Im Bereich des Virtualen ist das Mögliche bereits wirklich; was gedacht wird, ist immer auch schon vollbracht. Man braucht nur nach dem zu greifen, was die virtuelle Realität bietet. Dies bringt zudem eine Potenzierung unserer Fähigkeiten und unserer normalen Macht mit sich. Dies stellt uns vor das zweite ethische Problem: Es ist spezifischer mit dem Risiko einer Virtualisierung der Realität verbunden, von der die Medien ein mögliches Instrument darstellen. Es geht dabei nicht nur darum, dass in dieser wirklichen und virtuellen Situation die alltägliche Erfahrung und Parallelwelten dazu neigen zusammenzufallen, sondern dass in der virtuellen Realität alle -zwischenmenschlichen - Beziehungen austauschbar, gleichgültig sind. Und dies unabhängig von der Tatsache, dass das Internet diese Beziehungen vervielfältigt und die Möglichkeit bietet, sie immer einfacher und rascher aufzunehmen. Ein Beweis dafür ist die Tatsache, dass mittels Sozialen Netzwerken nicht qualitativ intensivere, menschlichere Beziehungen geknüpft werden, sondern nur umfangreichere. Abschließend stellt sich die Frage: Können diese beiden Problemkreise von einem ethischen Gesichtspunkt ausbetrachtet werden? Und davon ausgehend: Wie sollen wir mit der Veränderung der Vorstellung von „Sozialem" umgehen, die die Virtualisierung unserer Welt mit sich bringt? Wenn diese Probleme ihren Ursprung in der virtuellen Beziehung als reine Gleichgültigkeit haben, können wir einen ersten grundlegenden Anhaltspunkt für ein korrektes Verhalten gewinnen, indem wir versuchen, den Begriff von „Beziehung" zu überdenken, das heißt, indem wir die ganze ethische Tragweite dieses Begriffs von einem allgemeinen Gesichtspunkt aus beleuchten, und vor allem indem wir ein Beziehungsmodell erarbeiten, das konkret verglichen werden kann mit den verschiedenen Formen virtueller Beziehungen (in denen die Differenzierung dazu tendiert, in eine Indifferenz umzukippen). Es geht hier um die Idee, gemäß der es keine Beziehungen gibt außer zwischen Verschiedenen. Aufder einen Seite wird die Verschiedenheit in der Beziehung nicht aufgehoben, 107 sondern gefördert, aber innerhalb einer Verbindung. Auf der anderen Seite wird die Verschiedenheit nicht bis zur Zwietracht getrieben, sondern-eben- in eine Bindung integriert. Die Beziehung, kurzum, lebt vom Gleichgewicht einer Verschiedenheit, die gleichermaßen geschützt und möglichen neuen Verbindungen gegenüber immer offen ist. Gewiss, diese ^esen gelten auf einer allgemeinen Ebene, das heißt von einem abstrakt philosophischen Gesichtspunkt aus. Doch wenn wir sie auf unsere alltägliche Erfahrung anwenden, in der Beziehungen mit virtuellen Welten und Beziehungen innerhalb virtueller Welten inzwischen etwas Normales sind, können wir eine kritische Haltung einnehmen: eine Haltung, die - wie wir gesehen haben - die Kommunikationsethik kennzeichnet. Sie erlaubt uns, Distanz zu nehmen von der Verwirrung, der Gleichgültigkeit von Wirklichem und Virtualem, die unser Alltagsleben bedroht, und die Möglichkeiten zu genießen, die uns die virtuelle Realität bietet, ohne auf andere Formen von Erfahrung verzichten zu müssen. Aus dieser Perspektive wird eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Virtualisierungsprozess des Wirklichen möglich, wie er die Welt der Medien zunehmend kennzeichnet - und zwar sowohl online als auch offline. Und vor allem kann so die Möglichkeit einer Auseinandersetzung mit der Virtualisierung des Sozialen genutzt werden, die sich in unserer Epoche zunehmend verbreitet. Es geht dabei nicht so sehr darum, sie zu verdammen, als vielmehr zu verstehen, dass sie nur einen Aspekt darstellt, eine Möglichkeit reicher und differenzierter sozialer Beziehungen, die wir täglich erleben können. Auch und gerade durch unser Kommunizieren. 108