Adel Theodor Khoury 29 Adel Theodor Khoury Es geht in diesem Beitrag um die Frage nach der Rolle der Religionen bei der Bildung und Festigung der kulturellen Identität von Menschen und Ge- meinschaften. Am Beispiel des Islams in Europa soll dann untersucht wer- den, ob und wie weit Menschen, Gruppen und Länder, deren Kultur nicht von Werten aus christlichen Wurzeln geprägt ist und deren Rechtsstandards nicht in jedem Punkt mit denen Europas übereinstimmen, fähig sind, sich in die europäische Kultur zu integrieren Die Religion als Trägerin des kulturellen Erbes In unserer Welt, die trotz aller Zerrissenheit und Selbständigkeitsbestre- bungen vieler Völker enger zusammenrückt, kann niemand in einer selbstge- fälligen Isolation leben, keine Gemeinschaft kann allein ihr eigenes Überleben sichern, keine Religion kann sich einbilden, die Lösung aller Probleme der Menschen zu besitzen. Den Menschen der heutigen Zeit wird jedoch immer deutlicher bewusst, welche Stellung die Religionen in der Welt einnehmen und welche Funktion sie im Leben der jeweiligen Völker erfüllen. Die meisten von ihnen sind Träger oder wenigstens Mitträger des kulturellen Erbes ihrer Ge- meinschaften, somit auch in der Weltgemeinschaft. Auch wenn Säkularisten und Aufklärungsschwärmer den Religionen keine Zukunftschance einräumen und sie immer wieder totsagen, erweisen sich die Religionen als erstaunlich le- bensfähig. Davon zeugt die heutige Renaissance der Religionen in den meisten Ländern der nichtwestlichen Welt – zumal in den Ländern der islamischen Welt –, eine Renaissance, deren Heftigkeit manche Skeptiker in Erstaunen ver- RELIGION UND KULTURELLE IDENTITÄT Am Beispiel des Islams in Europa Phainomena xviii/68-69 Adel Theodor Khoury 30 setzt und manche Zukunftsplaner ratlos macht. Auch das Wiedererwachen der Religiosität – wenn sie auch nicht an eine bestimmte Religion gebunden ist –, das Aufkommen der Suche nach Sinn und Transzendenz ist eine deutliche Bestätigung des Hingewiesenseins des Menschen auf Gott, seiner Heilsbedürf- tigkeit und seines Ausschauhaltens nach Heilswegen. In diesem menschlichen Kontext bieten die Religionen ein System von Heils- wahrheiten und Sinngebung über Gott und die Beziehung des Menschen zu Gott, über den Kosmos, über Leben und Tod, über die Gesamtgeschichte der Men- schen. In ihren Interpretationsmodellen von Kosmos und Leben, von Entste- hung und Geschichte bieten sie eine hilfreiche Orientierung zur Bewältigung der Gegenwart, zur Integration der Vergangenheit und zur Planung der Zukunft. In ihrer Bezugnahme auf die Transzendenz Gottes bilden sie eine kritische Instanz und ein Korrektiv gegenüber allen innerweltlichen Totalitarismen: ge- genüber totalitären Ideologien, die die Gegenwart festlegen wollen um den Preis von Freiheit und Wahrheitssuche; – gegenüber totalitären Utopien, die eine erträumte Zukunft erzwingen wollen auf Kosten der Menschen der Ge- genwart; – endlich gegenüber totalitären Machtansprüchen, die einer Usur- pierung der Allmacht Gottes gleichkommen. Vor allem bieten die Religionen eine Antwort auf die Frage nach dem Sol- len und dem Wertesystem, endlich – und das ist das Wichtigste – eine Antwort auf die Frage nach Heil und Erlösung. Sie weisen auf die Wege hin, die zur Aus- söhnung mit sich selbst und den Menschen, zur Aussöhnung mit der Schöp- fung und der Umwelt, zur Versöhnung mit Gott führen. Auch wenn die Religionen sich der gleichen Anliegen der Menschen an- nehmen, ihre konkreten Antworten und Lösungen hängen mit ihrer je eigenen Kultur zusammen. So suchen die Völker ihre eigene Identität zu wahren; sie stemmen sich insbesondere gegen die Überfremdung durch aufgezwungene, nicht integrierte Anschauungen und Modelle, die ihnen von den stärkeren Industriegesellschaften aufoktroyiert werden. Denn sie wollen nicht die Irrun- gen und Wirrungen der technisch beherrschten Gesellschaften mitmachen oder nachahmen. Sie suchen in der eigenen Tradition das von der Religion geprägte eigene kulturelle Lebensmodell, mit dem sie sich identifizieren und ein ausgesöhntes Leben führen können. Zugleich suchen sie über die Grenzen einer gefestigten Identität hinaus nach einer gemeinsamen Grundlage, nach einem gemeinsamen Grundwertesystem zum Aufbau der einen Welt und zur Gestaltung der Universalkultur der Menschheit. Was die Kultur betrifft, so kann sie definiert werden als das Streben des Menschen, sich selbst zum Ausdruck zu bringen: seinen Verstand, seine Adel Theodor Khoury 31 Erkenntnisse und das Wahre, das er bereits erkannt und das er in seiner um- fassenderen Gestalt weitersucht; – seine Identität, seine Werte und Normen und das Gute, das er erstrebt und das er zur Erfüllung seines Lebens zu tun sucht; – seine Sehnsucht, seine Vorstellungen aller Art und das Schöne und Erhabene, von dem er träumt und das er immer wieder schmerzlich vermisst. Damit ist gesagt, dass Kultur und Religion sich auf breiter Ebene treffen und dass die Religion eine primäre Trägerin des kulturellen Erbes der Völker und der Menschheit darstellt. Spannungen zwischen Religion und Kultur Ein harmonisches Miteinander von Religion und Kultur findet sich heute wie früher bei Völkern und Gemeinschaften, die im Bewusstsein einer ein- heitlichen Gesellschaft leben. Das sind unter anderen die so genannten tradi- tionellen Religionen und die Religionen mit einer theokratisch begründeten Staatsordnung. Wenn man hier von den Bindungen innerhalb der Familie oder des Stammes absieht, so ergibt sich in diesen Gemeinschaften ein undifferen- ziertes Bild von der Gesellschaft: Wirtschaft, Politik, Rechtssystem, Erziehung und Religion sind keine scharf getrennten Bereiche sozialen Lebens, sondern gehören zusammen, wobei die Religion die vorherrschende und bestimmende Kraft ist. Sie spielt im sozialen Gefüge eine stark integrierende Rolle, und sie bedingt die Entstehung und Festigung der stiftenden und gestaltenden Ele- mente des kulturellen Erbes der jeweiligen Gemeinschaft. Das ist der Fall im Islam. Der Islam ist nämlich Religion und sozial-politische Lebensordnung in einem. Zu einer Spannung zwischen Religion und Kultur kommt es, wo sich das Bewusstsein einer pluralistischen Gesellschaf herausbildet, in der ein gedeih- liches Zusammenleben der Menschen nur dann möglich ist, wenn Toleranz und Religionsfreiheit herrschen (was den zerstörerischen Kampf der verschie- denen religiösen Traditionen in einer Gesellschaft vermeiden hilft) und wenn ein Mindeststandard an Menschenrechten anerkannt wird. Oft kann dies nur durch einen Kampf gegen den Widerstand der Religionsvertreter und gegen die Dominanz religiöser Vorstellungen und Normen erreicht werden. Eine weitere Spannungsebene ist der Zusammenprall der Autono- miebestrebung des Menschen gegenüber Gott und der Natur und der funda- mentalistischen Forderung nach buchstäblicher Treue zu den Quellen des ei- genen religiösen und kulturellen Erbes. Die Welt ist heute ja im Bewusstsein des säkularisierten Menschen nicht mehr das große Geheimnis, die Gabe Gottes an die Menschen. Der Mensch Phainomena xviii/68-69 Adel Theodor Khoury 32 der Industriegesellschaft glaubt, es allein schaffen zu können: Er erklärt sich selbst seine Welt und versorgt sich selbst. Seine Welt ist seine eigene Gabe und Aufgabe, er will sie nach seinen Bedürfnissen nützen und nach seinen Plänen gestalten. Was zählt, ist nicht mehr die Schöpfungsordnung Gottes, sondern der Zukunftsentwurf des Menschen. Der Mensch nimmt die Gestaltung seiner Gegenwart und die Planung seiner Zukunft in die eigene Hand nach Model- len und Normen, die er sich selbst festlegt. Denn die Wissenschaft und die Technik haben ihm das Gefühl vermittelt, dass er im Hinblick auf die von ihm zu erfüllende Aufgabe relativ allwissend und relativ allmächtig geworden ist. Somit braucht er Gott und auch die Religion nicht mehr. Der säkularisierte Mensch, der seine Lebensverbundenheit mit der Schöp- fung aufgebrochen und sich vom Schöpfer losgesagt hat, ist nun auf sich selbst verwiesen. Vor der Welt und vor Gott hat er keine Angst mehr. Angst hat er nunmehr vor sich selbst. Vielleicht sind gerade diese Angst vor der eigenen Beschränktheit und der Widerstand gegen die eigene Willkür das Signal für eine Wende in der Haltung des modernen Menschen. Ihm geht es langsam wieder auf, dass das Leben am besten aufgehoben ist in der sicheren Geborgenheit einer Lebenseinheit, die den Menschen in eine harmonische Verbindung mit Gott und mit der Schöp- fung stellt. Hier vermag die Erfahrung der Gegenwart und Wirkung Gottes zur Befreiung des Menschen von der Angst vor sich selbst beizutragen. Dank seiner Ausrichtung auf den transzendenten Gott kann der Mensch über sich selbst hinausgehen; und dies mit der Zuversicht dessen, der weiß, dass letzt- lich nicht er selbst, sondern Gott der Urgrund seines Daseins und der Garant seiner Zukunft ist. Eine extreme Reaktion gegen die Überheblichkeit des Menschen, die Belie- bigkeit seiner Werte und Normen und die tödliche Gefahr, die darin besteht, dass nunmehr der Mensch der Herr seines eigenen Schicksals werden will, ist der Fundamentalismus aller religiösen Richtungen. Denn der Fundamentalis- mus sucht seine Identität nicht nur gegenüber anderen Anschauungen, son- dern auch gegen die anderen zu definieren. Daher ist er unfähig, die Angaben und Inhalte der eigenen Ausrichtung auf universale Werte und Normen hin zu überschreiten. Zukunftsperspektiven Gesucht werden offene Religionen, die sich positiv äußern zur pluralistischen Gesellschaft, zur Praxis der Toleranz, zur Anerkennung der Religionsfreiheit und der Menschenrechte. Adel Theodor Khoury 33 Gesucht wird ein Ethos, das als Grundlage für die Suche nach Modellen eines gedeihlichen Zusammenlebens der Menschen in der ganzen Welt und für die Gestaltung einer Universalkultur dienen kann. Muslime in Europa Millionen Muslime leben in den verschiedenen Ländern Europas. Eine klei- ne Minderheit von ihnen stammt aus europäischen Ländern. Die meisten aber kommen aus verschiedenen Ländern der islamischen Welt und bringen mit sich die Probleme, mit denen sie in ihren ursprünglichen Ländern konfrontiert wa- ren. Sie haben außerdem neue Probleme zu lösen, die ihnen aus ihrer Situation erwachsen in einem Europa, dessen kulturelle Wurzeln hauptsächlich in der jü- disch-christlichen Tradition verankert sind und dessen Geschichte im jüdisch- christlich-islamischen Austauschrahmen verlaufen ist. Ähnliche Probleme sind auszumachen bei denjenigen Ländern der islamischen Welt, die nach Europa drängen. Aber die heute zu beobachtende zunehmende Politisierung des Islams in den meisten Ländern der islamischen Welt – was nicht ohne Widerhall in den ent- sprechenden Gemeinden in Europa bleibt – ist zur Quelle vieler Unsicherheiten geworden, und bei vielen Gruppen in Europa und in Ländern der islamischen Welt auch zum Grund für zunehmende Militanz gegenüber einem Westen, den die islamistischen Gelehrten und Religionsführer ständig verurteilen und an- prangern und auch als Gefahr für den Islam hinstellen. So kann man verstehen, dass der Islam in seinem religiös begründeten poli- tischen System manche Hindernisse in sich birgt, die eine Integration in Euro- pa erschweren und den da und dort vielleicht vorhandenen Integrationswillen blockieren. Wenn man außerdem bedenkt, dass im Bereich der islamischen Welt die dort entwickelte Kultur und das dort herrschende Lebensmodell nicht neben der Religion bzw. gegen eine religiöse Bevormundung, sondern unter dem unmittelbaren Einfluss der Religion entstanden sind und weiter leben, dann kann man die berechtigte Frage stellen: Welche Hindernisse stellt der Islam in seiner religiös sanktionierten politischen Gestalt für eine Integration von Muslimen in Europa dar? An einigen Beispielen aus der islamischen po- litischen Ordnung soll dies nun verdeutlicht werden. Islamische Identität Die Muslime, die in Europa leben bzw. nach Europa wollen, sind darauf bedacht, ihre »islamische Identität« zu wahren, damit sie nicht ständig mit ei- Phainomena xviii/68-69 Adel Theodor Khoury 34 nem schlechten Gewissen leben müssen. Aber wie wird »islamische Identität« bestimmt? Es gibt bekanntlich eine maximale bzw. in den Augen der Muslime optimale Identität der Muslime, die erreicht werden kann, wenn sie in einem Land leben, dessen Bevölkerung mehrheitlich islamisch ist und dessen Geset- ze den Vorgaben der islamischen, religiös bestimmten Rechtsordnung (Scha- ria) entsprechen. Es gibt aber auch eine Grundidentität, die erreicht wird, wenn Muslime in einem Land leben, das zwar kein islamisches Land ist, das aber ihnen Rechtssicherheit garantiert für ihr Leben, ihr Eigentum und ihre Religionsfreiheit – was der Fall ist in den Ländern Europas. Sollten jedoch die Muslime in Europa bzw. die Länder, die anstreben, der Europäischen Union anzugehören, auf einem Sonderrecht für sich bestehen, dann sind Konflik- te vorprogrammiert oder es entsteht eine Parallelgesellschaft, die Probleme, wenn nicht Gefahren für die Gesamtgesellschaft in sich birgt. Es erscheint hilfreich, dies an einigen Bestimmungen der islamischen Scha- ria zu verdeutlichen. Scharia und Demokratie Der traditionelle Islam im Allgemeinen erhebt einen Totalitätsanspruch, das heißt, er beansprucht, Gottes Recht in allen Bereichen des Lebens durch- zusetzen, und zwar im Hinblick auf die Einzelnen wie auf die Gemeinschaft und den Staat. So kennt der Islam keine Trennung von Religion und Staat, von Glaubensgemeinschaft und politischer Gesellschaft. Die islamische Ge- meinschaft und auch alle Gemeinschaften, die im islamisch regierten Staat leben, stehen unter dem Gesetz Gottes, wie es der Islam versteht, und haben nach seinen Bestimmungen zu handeln. Gottes Recht dient als Richtschnur der politischen Entscheidungen der Regierung, als Grundsatzung staatlicher Institutionen und als Maßstab zur Bestätigung der Autorität des Staates oder zur Verurteilung seiner Abweichungen bzw. seiner Willkür. Das Gesetz Gottes, das im Koran grundgelegt ist und in der Überlieferung des Propheten Muhammad seine authentische Interpretation und vorbildli- che Anwendung gefunden hat, ist nach dieser Anschauung des traditionellen Islams das Grundgesetz des islamischen Staates. Legislative und Regierung haben sich daran zu halten und zu orientieren. Ihre Zuständigkeit und ihre Handlungsmöglichkeit bestehen lediglich darin, Anwendungsgesetze zu ver- abschieden zur Regelung konkreter Anliegen, und zwar nur in den Fällen, für die der Koran und die Überlieferung nicht bereits konkrete Lösungen festge- legt haben. Desgleichen ist die Rechtsprechung an die Inhalte des Korans und der Überlieferung gebunden. Einen Ermessensraum hat der Richter nur dort, Adel Theodor Khoury 35 wo Koran und Überlieferung keine genauen Angaben enthalten. Eine wichtige Funktion im islamischen Staat übernimmt der Rechtsgelehrte. Er ist Berater, aber auch Kontrollinstanz für die verschiedenen Ämter in Staat, Verwaltung und Justiz. Aufgrund dieser Bindung des politischen Lebens in der islamischen Gesell- schaft an das von Gott in seiner Offenbarung erlassene und von Muhammad in seiner Überlieferung zur Anwendung gebrachte und authentisch interpre- tierte Gesetz wird der islamische Staat als Theokratie bezeichnet. Damit ist angedeutet, welche Art von Unverträglichkeit besteht zwischen einer so verstandenen islamischen Theokratie aufgrund der Bildung eines Gottesstaates, dessen Autorität, Strukturen und Gesetze durch die Autorität Gottes, des Propheten Muhammad und der muslimischen Gelehrten sanktio- niert sind, und dem demokratischen System Europas. Menschenrechte Ein besonders empfindlicher Punkt ist die Frage nach der Anerkennung und Durchsetzung der Allgemeinen Menschenrechte. Allgemeine Bemerkung Da der Islam dazu tendiert, anzunehmen, dass das positive Recht der ge- schichtlichen Offenbarung Gottes die Bestimmungen und Vorschriften vor- legt, die in der Praxis zur Anwendung kommen sollen, kann es da und dort zu einem Konflikt zwischen Gottesrechten (nach der positiven Offenbarung des Korans und den Bestimmungen der Überlieferung und der Scharia) und den Menschenrechten kommen, und dies vor allem in Bezug auf die Religionsfrei- heit, die Stellung der Frau und manche Bestimmungen des Strafrechts. Daher findet man in den verschiedenen Menschenrechtserklärungen, die bereits von islamischer Seite proklamiert wurden, immer wieder den Zusatz: »vorbehalt- lich anders lautender Bestimmungen der Scharia«, was einer Relativierung der Menschenrechte und einer teilweisen Rücknahme der Anerkennung ihrer all- gemeinen Gültigkeit gleichkommt. 1. Religionsfreiheit im Islam Für den Islam entsprechen der Glaube an Gott und der Gehorsam gegen sei- nen Willen der schöpfungsmäßigen Anlage des Menschen. Der Glaube ist je- dem Menschen zugänglich. Er ist von den Propheten der verschiedenen Völker verkündet worden. Endlich stellt der Islam selbst, wie er es in seinem Absolut- Phainomena xviii/68-69 Adel Theodor Khoury 36 heitsanspruch bekräftigt, die letztgültige Form des Monotheismus und des religi- ösen Gesetzes dar. So gibt es für keinen Menschen und unter keinen Umständen eine Entschuldigung für die Verweigerung des Glaubens sowie für den Abfall vom einmal angenommenen Glauben und die Abkehr vom Islam. Für den Abfall vom Glauben übergibt der Koran die Renegaten dem Zorn Gottes. Außer der jenseitigen Vergeltung und der gelegentlich auftretenden dies- seitigen Strafe, die mit dem Zorn Gottes zusammenhängt, legt der Koran dafür direkt keine weitere Strafe fest. Die Rechtsgelehrten berufen sich jedoch auf die Koranstelle 4,88-89, in der befohlen wird, irregeführte Heuchler als Gefahr für die Gemeinschaft zu betrachten und, »wenn sie sich abkehren,« sie zu greifen und zu töten, wo immer die Muslime sie finden. Dieser Fall wird auf die Aposta- sie angewandt.1 Auch Muhammad hat sich nach der islamischen Überlieferung in diesem Sinn geäußert: »Wer seine Religion wechselt, den tötet.« (bei Bukhari und Abu Dawud) Und: »Das Blut eines Muslims ist nur in drei Fällen freigegeben: bei Apostasie nach dem Glauben, bei Unzucht nach legitimer Eheschließung und bei einem nicht als Blutrache verübten Mord.« (bei Bukhari, Muslim u.a.) So sind sich die Rechtsgelehrten über das Strafmaß für die Apostasie einig. Denn das islamische Gesetz hält den Abfall vom Glauben für die schwerste Sün- de und darüber hinaus für eine direkte Gefährdung der Existenz der Gemein- schaft, so dass der Renegat gleich einem Kämpfer gegen die Muslime behandelt wird: Er soll hingerichtet werden. Für die Muslime also, die den Status von Mitgliedern der Gemeinschaft (Umma) besitzen, gibt es im Prinzip keine Religionsfreiheit. Der offizielle Is- lam billigt dem Muslim nicht mehr die Freiheit zu, den einmal angenommenen Glauben weiter zu behalten oder auch abzulegen. Es gibt jedoch heute einige muslimische Denker, die sich kritische Fra- gen über die Gültigkeit solcher Bestimmungen in einer veränderten Si- tuation stellen. Mahmud Shaltut, früherer Shaykh der Azhar in Kairo und heute weiterhin eine anerkannte Autorität im Islam, wendet z. B. ein: »Viele Rechtsgelehrte meinen, dass solche Strafen durch die Überlieferungen, die von einzelnen Gewährsmännern tradiert werden, nicht bestätigt werden kön- nen und dass der Unglaube allein kein Grund ist, das Blut (des Ungläubigen) freizugeben, sondern der Grund zur Freigabe des Blutes ist die Bekämpfung 1 Zur Strafe der Apostasie im Islam siehe S. M. Zwemer, The Law of Apostasy in Islam, London 1924 (deutsch: Das Gesetz wider den Abfall vom Glauben, Gütersloh 1926); S. A. Rahman, Punishment of Apostasy in Islam, Lahore 1972; Adel Theodor Khoury, Toleranz im Islam, Altenberge 21986, S. 110–115 (dort weitere arabische Literatur). Adel Theodor Khoury 37 der Gläubigen, der Angriff gegen sie und der Versuch, sie von ihrem Glauben abzubringen«.2 2. Stellung der Frau In Bezug auf die Bestimmungen des Korans und der Scharia zur Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft muss man zwischen dem religiösen, dem rechtlichen und dem kulturellen Bereich unterscheiden. Religiöser Bereich Im religiösen Bereich geht der Islam von einer Gleichheit und Gleich- stellung von Mann und Frau aus. Die Pflicht, zu glauben und das Gute zu tun, betrifft alle Muslime, und die Belohnung für die Treue sowie die Bestrafung für den Ungehorsam ist bei Gott für die Frauen wie für die Männer bestimmt (Koran 40,40). Bei der Erfüllung der religiösen Pflichten (Glaubensbekennt- nis, Pflichtgebet, Fasten, gesetzliche Abgabe, Wallfahrt nach Mekka) können jedoch der Frau Konzessionen gemacht werden, die mit ihrer biologischen Beschaffenheit oder mit ihrer sozialen Umwelt zusammenhängen. So werden die Frauen während ihrer Menstruation von der Erfüllung des Pflichtgebets befreit (wegen der Reinheitsvorschriften gelten die Frauen für die Dauer ihrer Regeln als kultunfähig, wie im Judentum und in anderen Religionen); schwan- gere und stillende Frauen brauchen nicht zu fasten; die Frauen sind nur dann angehalten, die Wallfahrt zu leisten, wenn ihnen das nötige Geld und die nöti- ge Begleitung bereitgestellt werden; die Frauen haben nicht die Pflicht, das Ge- meinschaftsgebet in der Moschee zu verrichten (am Freitag Mittag), sie dürfen es aber tun, wenn sie es wollen. Rechtlicher Bereich In vielen Punkten des rechtlichen Bereichs wird den Frauen die Gleichbe- rechtigung vorenthalten. Das traditionelle Ehe- und Familienrecht im Islam sieht eine Vorrangstellung des Mannes vor: Polygamie, Mischehe, Recht auf Entlassung der Frau, Vollmacht über die Ehefrau (4,34: »Die Männer haben Vollmacht und Verantwortung gegenüber den Frauen, weil Gott die einen vor den anderen bevorzugt hat und weil sie von ihrem Vermögen [für die Frauen] ausgeben ... Ermahnt diejenigen, von denen ihr Widerspenstigkeit befürchtet, und entfernt euch von ihnen in den Schlafgemächern und schlagt sie. Wenn 2 Mahmud Shaltut, Al-Islam, ‘aqida wa shari‘a, 8. Auflage o. J., Beirut (etwa 1978), S. 281. Phainomena xviii/68-69 Adel Theodor Khoury 38 sie euch gehorchen, dann wendet nichts Weiteres gegen sie an«.) Bislang ging die traditionelle islamische Gesellschaft von einer strengen Arbeitsteilung aus, wobei der öffentliche Bereich Domäne des Mannes und der innere Bereich der Familie Domäne der Frau ist. Das will besagen, dass öffentliche Ämter den Frauen nicht zugänglich waren. Auch darf die Frau sich nur vor engen Angehörigen frei bewegen (24,31; 4,34), was in manchen Ländern die Einfüh- rung strenger Kleidersitten begünstigt hat. Heute versuchen Frauenorganisationen eine neue Deutung koranischer Stellen und traditioneller Aussagen zu erreichen. Sie sind bemüht, den An- alphabetismus in den Reihen der Frauen zu bekämpfen und die Gesellschaft für eine größere Beteiligung der Frauen an den gemeinsamen Aufgaben zu gewinnen. Anmerkungen zur Lösung der Grundprobleme Grundsätzliche Feststellungen Trotz all dieser Schwierigkeiten hat die islamische Diaspora eine echte Chance, eine für sich günstige und für den Islam im Allgemeinen wegwei- sende Richtung zu finden und einzuschlagen. Diese Chance besteht aber nur, wenn die Muslime die Herausforderung, die ihr Leben in der Fremde mit sich bringt, annehmen. Sie dürfen ihre für sie bislang ungewohnte Situation nicht als Alibi nehmen und ihr Heil in der Flucht in extremistische Bewegungen und in radikale Haltungen suchen. Sie müssen den Mut haben, ein Leben als Minderheit zu akzeptieren, und nach einer geeigneten Form des Zusammen- lebens mit der Mehrheit einer Gesellschaft suchen, deren Wertsystem zwar christlich geprägt ist, die sich aber nicht mehr bewusst und betont an religi- ösen Vorstellungen und Normen orientiert. Um ihre Chance in der Diaspora wahrnehmen zu können, muss die islami- sche Gemeinschaft das Land, in dem sie lebt, im Grundsatz bejahen und nicht als Feindesgebiet betrachten. Diese Entfaltung des islamischen Lebens in einer nicht-islamischen Gesell- schaft muss auf Lösungen beruhen, die die Diaspora-Situation der Muslime berücksichtigt. Hier ist festzustellen, dass nicht alle Muslime in Europa und in der Welt die Meinung und die Haltung der Islamisten und der Militanten teilen. Es gibt Ansätze einer Friedenstheorie und einer Reflexion über ein gedeihliches Zu- sammenleben mit den Anderen, z. B. in Europa. Es ist auch festzustellen, dass das islamische Rechtssystem, auch in seiner klassischen Gestalt, eine von vie- Adel Theodor Khoury 39 len verkannte Flexibilität und Offenheit aufweist. Gerade die Handhabung des Gesetzes im Sinne seiner Flexibilität und Offenheit bietet den Muslimen eine bislang kaum benutzte Chance. Durch die Anwendung der Analogie, die Berücksichtigung des Gewohnheits- rechtes, die Bejahung des eigenen Urteils qualifizierter Gelehrter besitzen die Muslime einen ziemlich breiten Raum für neue Lösungen. Neben den Grund- sätzen des Glaubens und der gesunden Tradition darf der Rechtsgelehrte näm- lich folgende Gesichtspunkte berücksichtigen: das Interesse der Gläubigen, die Rechtssicherheit bei nicht eindeutiger Situation, seine Befürwortung einer Lösung, die Billigkeit und Gerechtigkeit in den Entscheidungen berücksichtigt, endlich die Absicht des Gesetzes, Erleichterung für die Menschen zu bringen. Zurzeit ist eine heftige Diskussion in der islamischen Welt entbrannt, ob eine solche Methode, die der westlichen Hermeneutik ähnlich aussieht, er- laubt oder nicht erlaubt, nützlich oder eben gefährlich ist. Der politisierte Is- lam scheint heute diesen Weg blockieren zu wollen. Schluss Zum Schluss gilt es, an die Adresse der EU und der integrationswilligen Muslime Folgendes festzustellen. 1. Ob es in der EU gelingt, die Muslime zu integrieren, hängt weitgehend davon ab, ob es den Muslimen selbst gelingt, glaubwürdig Klarheit über ihre Grundsätze und ihre politischen Ziele zu schaffen, und dies auf Dauer. 2. Sollte nicht die EU helfen, dass im Islam die Gemäßigten aktiver wer- den und stärker Gehör finden? Man sollte ernsthaft darüber nachdenken, ob nicht ein Forschungsprojekt (in Zusammenarbeit mit Muslimen) eingerichtet werden sollte, das die Gestalt eines für die Moderne und die demokratische Zivilgesellschaft offenen Islams ausarbeitet – dies auf der Grundlage der Anga- ben des Islams selbst, damit die Ergebnisse auch Akzeptanz finden. Das würde helfen, viele Konflikte zu vermeiden. 3. Entscheidend aber ist: Man muss integrationsfähig sein, damit die Inte- gration gelingen kann. Und man muss erst die Integration wollen, um integra- tionsfähig zu werden.