Das Wissen der Gegenwart Deutsche Universal-Mbliothek für Gebildete. Einzeldarstellungen aus dcm Gesamtgebiete der Wissenschaft, in anziehender gemeinverständlicher Form, von hervorragenden Fachgelehrten Deutschlands, Österreich-Ungarns und der Schweiz. Jeder Band bildet ein für sich abgeschlossenes Ganze. — Die Bände erscheinen in kurzen Zwischenräumen.— Eleganie Ausstattung— Schönes Papier u. grosser Druck — Reich illustriert —Druck u. Format aller Bände gleichmässig. - Jeder Band füllt ca 15 Bogen.—Solider Leinwand-Einband ffbcr ftntb ist ehtjcltt hüttflirf) imb hostet flcbunbftt mtr 1 Pnrk ' = 60 $x. = 1 JFr. 35 @ts. Das von uns eingeleitete Samniellverk: fHas Wissen der Gegenwart" durch dessen planmäßige Durchführung die Aufgabe gelost Werden soll, dem Gebildeten auf jedem' einzelnen Gebiete wie ans dem Gesamtgebiete der Wissenschaft vom Standpunkte der Heutige» Forschung aus befriedigende Aufklärung, Belehrung und Anregung zu bieten, wird Hiermit der allgemeinen Teilnahme empfohlen. Für unsere Sammlung ist vorläufig ein Umfang von zwei bis dreihundert Vimden in A-ussicht genommen, von dentN jeder einzelne ein Ganzes für sich, zugleich aber einen Baustein zu einem GcsamtgMude bildcu soll. Bei dem Plane des Unternehmens Haben Wir Me- Zweiteilung, welche als Herrschende unverkennbar durch die moderne Wissenschaft Hindurchgeht, zum obersten Einteilungsgrunde gemacht. Die Ulltulwissenschnsten und die Historischen Wissenschaften^ die gleichsam Wie glücklich gelegene Inseln immer mehr fruchtbares Land ansetzen und selbst widerstrebende Disziplinen an sich Heranziehen, werden, wie sie im Leben der modernen Wissenschaft selbst die Herrschaft angetreten Haben, auch in unserem Werke, welches dieses Leben klar abspiegeln will, die beiden großen Hauptgruppen der systematischen Eiuteilung bilden. Die rein abstrakten Wissenschaften, welche eine dritte Gruppe bilden kmuiten, Werden wir keineswegs aus unserem Werke ausscheiden, aber nicht sowohl vom dog< malischen als vom Historischen Standpunkte aus beleuchten. Und dies cms dem Doppelgrunde, weil in einem Teil dieser Wissenschaften, Wie z. B. in der Mathematik, ein anderes Wissen als ein durchaus vollständiges Fachwissen nicht denkbar ist, Während in einem andern Teile, wie in der Metaphysik, positive Wahrheit nur insoweit, als es auf innere Geschichte ankommt, zu bieten ist. Wir bemerken nur nuch, daß wir die ßiinder- und Völkerkunde, die als Abständige Wissenschaft immer bedeutsamer Hervortritt und die naturwissenschaftlichen und Historischen Elemente in sich schließt, in unserem Plane deshalb der großen Gruppe der Historischen Wissenschaften angereiht Haben, Weil der HauptgestäMpuntt, von dem die Methode dieser Wissenschaften ausgeht, nämlich die territoriale Abgrenzung, ein Historischer ist. Inhalt der erschienenen Sande: Vd, 1. Gindely, U., Gcsch. d. »Ujiihr. Krieges in drei Abteilgn. I. 1Sl8—162!: Derböhm. Aulst, u. s. Bestrafung. 28u S. Mit 3 Doppelvollbilb., 1 Vollbild u. 4 Porti, in Holzst. Vd. 2. Klein. »r. Herm. I., Allgemclue Witternngslnnbe. 26« Seiten. Mit e Kanen, 2 Vollbildern und 31 Abbildungen in Holzstich. Bd. ». Olndcly, Ä., Geschichte des »0 jährigen Krieges in drei Aliteilungen. II. 1Ü22-1U32: Der »iedersächsische, dänische und schwedische Krieg bis zum Tode Gustav Adolss. 292 Seiten, Mit 1« Doppeloollbildern und 4 Ponratö in Holzstich. Nd. 4. Taschenbcrg, Prof. Or. E., Tie Insekten nach ihrem Nuhcn und Schaden. 3U4 Seiten. Mit 70 Abbildungen. Bd. o. Giodcly, «l., Geschichte oe« «0jährigen Kriege« in drei Abteilungen. III. 1!>H^—I«j8: Der schwedische und der schwedisch-französische «rieg bis zum westfälischen Frieden. 24» Seilen. Mit!»Doppeloollbild.«. 8 Potträls in Holzstlch. Äd. «. Jung, l»r. Karl Emil. Der Weltteil Australien. I. Abtlg.: Ncr Anstraltontinem und seine Vewnhner. 28l> Seiten. Mit 14 Voll> bildern, 24 in den Text gedruckten Abbildungen und 2 Karten in Holzftich. Bb, ?. Taschenbtrll, Nr. Otto, Die Verwandlungen der Tiere. 272 Seiten. Mit 88 Abbildungen. Vd. ». Jung, l»r. Karl Emil, Dcr Wellteil Australien. II. Abtlg.: I. Die Kolonien de« Australlonnnenls u. Tasmanien. II. Melanesien (I. Teil). 212 Seiten. Mit 1» Vollbildern, 2!» in den Text gedruckten Abbildungen »nd 6 Karten in Holzstich. Bd. 3. Klaar, sllfild, Geschichte des modernen Drama« iu Umrissen. »2a Seiten. M>t u Porträts in Holzslich. Bd. lO, Better, «r. «arl Emil, Die Sonne und die Planeten. 303 S. Mit «8 Abbildungen. Bd. 1>. Jung, 0r. E., Dcr W.lttcil Australien. III. Abtlg.: I. Melanesien (II. T,). II. Poluuesie» (I. I.). »04 S. M. 2? VoUbilbeiir u. 31 in d. Tezt gedruckt. Ubbilbgn. Bd. 12. Gerland, Ur. E., Licht und Wärine, »20 Seiten. Mit 4 Porträts und IW Figuren in Holzstlch. Vd. 13. Jung, Nr. Karl Emil, Der Weltteil «luftralien. IV. Abtlg.: I. Polynesien (II. Teil). II. Neuseeland. III. Milronesien. 2?S Seiten. Mit l8 Vollbildern und 32 in den Text gedruckten Abbildungen. Vd, 14. Der Weltteil Afrika I. Hartmaun, Pwf. Nr. N., I, AbyMien und die übngen Geb. d. Oslliiste Asrllas. 3lü 2. M. 1« Vollbildern u. »A i. d. Text gedruckt.AbbUdgn. Äd. 1». Jung, Iul., Uebe» und Litte» der Ätuuler in der ttaiserzeil 1. 2»» Heiien. Mit ü Vollbildern und ?u in den Text gedruckten Abbildungen. Vd. 1«. Peters, Prof. vr. C. F. W., Die Fixsterne. 1.U Seilen. Mit W Abbildungen. Vd. 17. Jung, Iul., Leben und Sitten der Nuiucr in der Kaiserzeit II. 28li Seiten. Mit i» Vollbildern und 63 in den Text gedruckten Abbildungen. Bd. 18. Schult?, Prüf. »r. «., Kuustgeschichie I. 2«4 Seiten. Mit W Vollbildern und 1^0 in den Text gedruckten Abbildungen. Bd. IS. Der Weltteil Europa I. Willlon»», i»r. Moiitz. Die puremnsche Halbinsel I. 2vl» Leiten. Mit 2U Vollbildern und >4 in den Text ««.druckten AbbUduug^n. Bd. 2U. Leymann, Paul, Die Erde und der Mond. 280 Seiten. Mit 6 Vüllb,loern und dli in den Text gedruckten Abbildungen. Bd. 21, Lchultz, Prof. III. A,, Kunst und Kunstgeschichte II. 5V2 Netten. Mit 4! Vollbildern und <2 in den Text gedruckten Abbildungen. Vd. 22. Der Weltteil Amerika I. Ochsenius, C„ Chile, «and und Leute. 2«8 Seiten. 2» VulluildtlN, 5>,< in den Text gedruckten Abbildungen und 2 Karten in Holzstlch. Vd. 23. MrU« von Waldcck, Rußland. Einrichtungen, Sitten und Gebräuche. 282 Seiten. Mit 2? Vollbilder» nnd bi in den Text gedruckte» 'Abbildungen. Vd. 24. Der Weltteil Afrila II. Hartman», Prof. »r. «., Die Nilläuder. «24 Seiten. Mit 10 Vollbildern und 60 in den Text gedruckten Abbildungen. Inhalt der erschienenen Ziinde: Vd. 25, Wirth, Max, Las Geld. 224 Seiten. Mit 103 !n den Text gedr. Abbildungen. Ad. 2«. Hopp, E.O., Gesch. d. Verein. Staaten v. Nord-Amerila. I. 232 S.WtbVlüden Text «edr. Abbild, u. Kaue». Nd. 27. Valentiner, Kometen und Meteore. 250 Selten. Mit 62 r'. 1k, ?xl ftedrl Abbildungen. Vd. 31. Der Weltteil ssnropa !l.lWMt'l>>i!!«^>^tzZ,, Die Httrenaischo Halbinsel. II. -^i Lciieu. Mu il !i!ultbui>X/^«v^? ,!U> Ml^l4jl.in dru Hi^fl g»»ru,F»tl> von, TXe Tcrtillunst. 2«8 Teilen. Mit N>2 i» den Text gwrÜccleiiMhbübimge,,. Vd. 34. Der Weltteil Nfrita IV. ssril S. Mit ü" i» ten left gedr. Abb. u, 1 Karle. Nd. »5. Lipftcrt, Jill., Allaememe Kultnrgeschichte. I. «!>2 Seiten. Mlt b? in den Text gednicknn Abbildungen. Bd. 3« n, -17. Der Weltteil Amerika, ll. und III. Sellin, A. W., Das Kaisereich Vra. siüen. i! Abteil»n>ien. 4!w Eeiteu. Mt 2:^ Vollbildern, «« in den Text ge> dincktrn Abbildungen »nb 5 Karlen. Vd. 33. Hausen, I»r. Ndulf, Die Ernährung der Psianze^. 272 Veite», Mit 74 in den T,xt «edruckien Al'bllbnngen. Vd, W. Hupft, ss. O., Mrl^ichte der Vereinigten Staaten. II. 224 Selten. Mit »2 in dcn Texl » rinttie,, Abbildungen. Vd. ^0. Geschichte tier Malerei in E,nzeldarstcllu"«en. I.: Wnrzbach, l»r. A.»,, Geschichte rei I,olläud,,chen Malerei. «W Seilen. Mit 71 in den Text gedruckten Abbüdnngen. «d. 41. Tnschenbern., Nr. Otto, Vüder au« d«m Ttnleben. 2»« Seiten. Mit «« in den Tcxl gidnillien Abbüdnngen. Vb. ^2. Brusien, !>>-. Her»,.. Karl der Vrosze. 1»2 Selten. M,t 23 !n den Text ge- drnckie» Adbüdnügen. Vb. 43. Der Weltteil (kuropa III., Willkomm, Nl. M., Die pnrenäischc Hawiüscl. III. ^>!^ Seilen. Mit 45 in den Tcxl gcdrnclien Abbilbnnge«. Vb. 44 u. 45. Gräber. Prof. Nr. V,, Die, äußere» mechanischen WeNzeuie >er Tiere. In 2 Abteilung!!,!. 4l!4 Seile». Mit 3l,5 in den Tezl gedructlen Abbiltungen. Vd. 4s. Hupft, lernst OUo, Geschichte der lLcreiniglen Staaten von Äoidaiuerila, III. (^>ch!us!). 27«: Seiten. Mit 40 in den Texi gedruckten Abbilruugen. Vd. 47. Liftpcrt, Iul.. Allqemelne Kulturgeschichte. II. 212 Seiten. Mit » druckten Abbildungen. Vb. 48. «ippert, Iul„ ANssemeine Kulturgeschichte. Hl, 232 Seiten. Mt melneren in dcn Text gelmulle,! Abbil^uugcu. Folgende ßände find in Vorbereitung und werden nach und nach erscheinen: Vel>an.t>cl, Prof. !>>-.. Die deutsche Sprache. Vliiwncr, Prüf. !»>-. H,, Titte» und liebe« der Gritchcn. (2 AbteUnngen.) (f«li, Prof. »r., Die Schweiz, (klsas, Nr. U,, Der Schall. ssunlnicr, Prof. Nr. Au„,, Napoleon I. (2 Abteilungen.) Hnrlmann, Prof. »i-. N,, Mada«,nslar. Nrül«!»el, Prof. N>-. Otto. Der Ocean, Lippcit, Iuliuö. Ocschichlc der deutsche» Nultur. (3 Abteilungen.) ^"«eOrNuche^ii""' ^"^' "^ ^' lN«ßl"'ld. Vinrichtunae«. Slttt,, «nd Pinner. Prüf, Nr. «., Die Gesche der Natnr-lkrschei»u«gen. Tchasjlcr, Nr. M., Acstljctil. (2 Abteilungen.) Das Wijsen der Gegenwart Deutsche Universal-Sibliothekfür Gebildete. XI.IX. Hand. Ausstand. Einrichtungen, Sitten und Gebräuche Friedrich Meyer uon Waldeck. Leipzig: Prny - Freytag. l8»6. F. Hempski) ^niserin Maria ss^doroiuna »nd Knis^r AlVNidcr III, im >lvün>l»zisorn,it. Aussland. Einrichtungen, Sitten und Gebräuche ^schild^rt von Friedrich Meyer uon Waldeck. II. Abteilung. Staatsuerwaltuna. und Lnndesuerteidigung. Kirche und Geistlichkeit. Die Uation und ihre Stände. Mit 1« Vollbildern imd !ll in den Hell gedruckten Abbildungen. Leipzig: Prag: G. Frei, tag. 1886. F. Temp sky. Alle Nechlc vuvl'chaltcii! Inhalt. II. Staatüuermaltung u»d Fandtül'erteidigung......... 1 1. Der Kaiser.................. 1 2. Die Ncichs-Institutionen.............. 28 3. Das Landheer................. 41 4. Die Flotte.................. 62 5. Offiziere und Civilbeamte............. 64 ß. Die NanMasfen................ 73 ?. Geburts- und Vevdicnstadcl ............ 78 III. Kirche und Geistlichkeit............... 82 1. Die Neltaeistlichkcit............... 83 2. Die Klostcrgeistlichkcit................ 89 3. Die Kirchen.................. 93 4. Die Muster................. 103 5. Religiöse Feste nnd Gebräuche ........... 130 6. Die religiösen Sekten............... 145, IV. Die Wlion „ud jh^ Stände............. i?i 1. Der Landcdelmann............... 175 2. Der Kaufmann................. 190 3. Der Bauer...........,...... 200 Abbildungen. Titelbild: Kaiserin Mari« F6dorowna und Kaiser Alerand« II!. nn Krom»lg?ornat. Figur. 1. Hollieamtcr in Oala. 4. (Titelbild nnd Fig. 1 nach Bildern in H. Hoppe? „Krünung dl'l russischen ^taiscr",) 2. Stallmeister des kaiserlichen Hofs in Oala-Uniform. (Nach ei,!«' Oriqinalfthoto.i.rnphie.) «, 3. Krünungsherold, 9. 4. Der St. Andreas- oder Thronsaal im Kreml zu Moskau. lü. b. Kaiserliche Insignien dcs russichei, Reichs, 15. 6. Die Salbnng des Kaisers, ^l. 7. Vrodschüssel und Salzfaß, darncbracht uo,n Adel des Ta!nb,'>wschcn Oonuerneuniits. ^'^, (Fig, 3—7 nach Vildern in H. Hnppes „Krünung der rnssischen Kaiser,! 8. Soldat der Kaulasus-Armee. (Nach einem Bilde in „I.s 'l',>»i- >1,l M,»>,!^,) ll!. s. sseldwebel des Scharfschützen-Bataillons der laiseilichen Familie. «Nach einer 0ri>,i»al p>)0ll>gr,ipl,,e.) >l!. — VIII — Figur. 10. Oberst eines Grenadierregiments. . 14. Lesssicr aus dem Convoi des Kaisers, (Nach einer Originalphotographie.) 57. 15. Dshigit>»wka (nach einem Bilde in „I^u '!'I. 23. Vrzpriester im Ornat. (Nach einem Bilde in H. Huppes „Krönung d. russ. Kaiser",) !!2. 24. Sinlnnler jür den Nail einer Kirche (Nach einem Bilde in Shiwopissüaja Nossija.) !)4. 25. 'Alte hölzerne Kirche. (Nach einem Bilde im „Sodtfchi", der Architekt.) !''zlischen Klosters. 1>)5. 27. Nonne, Gaben sammelnd. 106. 28. Kloster WalaS,m. III. >'<»,r c^n ?Vlo„<1ü>. ^-l. Ostern in St. Petersburg. I l». (Fig. :!3—ül nach Vildern in Shiwupissnaja Nossija.) 35. Todtenfest. (Nach einem Bilde in „Vom Fels zuin Meer.) 1"!^. ZL. Kaufmann. I. 37. Kaufmannsfrau. (Nach einer Originalphotüssraphie.) 1!^!. 38. Russisches Dorf. (Nach einer Originalphotographie,) 2i<>. l!9. Russisches Vauernhaus. (Originalzeichnunss.) 2l5. 'l», Mushll, (Nach einer Oriqinalphotographie.) 217. 4l. Bänerin in Wintertracht. (Nach einem Bilde in „^« '1,'our lw ztanci«".) 2l!1. 4i. Russisches Dampfbad. (Originalzeichnung,) '^2. 43. Dorfnnisitant. (Nach einem Vilde in „l^o 'l'aur ll>i ÜIunä«",1 Ä25. ^4. Oberdwürnil. (Nach einer Originalphotngraphie.) 227. 45. Unterbw,',rnik. «Nach einein Bilde in „Vom Fels zum Meer".) 228. 46. Wodow^s (Wasserträger), (Nach einer Originalphotographie.) 229. 47. Herrschaftlicher Kutscher. (Nach einer Originalvhotographie.) l«0. 48. Straßentypen aus St. Petersburg! Heiinasuerkäuferin. Händler init Topfgewächsen. Verlauf« von Gefrorenem. Händler mit Sbiten. Mit Limonade. Mit Apfelsinen. Mit Fleisch filr die Katzen. Korlchänolerin, Hausierender Tatar. Kurzwarenhändlerin. Verläufer von Band, Knöpfen u. dgl. Händler mit Flecht- und Drcchslerwaaren, Mit Kinderspielzeuss Nluineninädchen. Glaser. Verläufer uon papierncn «ogeln. Milch-srau. Händler mit bunten Luftballons. ic Bezeichnung Zarmuitsch, welches von Nichtrussen häufig mit Z^ßarewitsch verwechselt wird, bedeutet nur Zarensuhn, tcmn also jedem Großfürsten beigelegt werden, welcher im Purpur geboren wurde; Zar^wna heißt Zarentochter. - 3 .— Anschauungen der Zeit bedingten gewisse Veränderungen in den äußeren Formen — in allen wesentlichen Dingen stimmt die Ceremonie jedoch noch heute mit der Art und Weise, wie sie bei den Zaren der vergangenen Jahrhunderte stattgefunden hat. Dcr folgenden Skizze ist die Krönung des regierenden Kaisers am 27. Mai 1883 zu Grunde gelegt. Die gesammte Feier besteht schon dcr Zeit nach aus drei verschiedenen Akten: dem Einzug des Kaisers in die Residenz Moskau, dcr Verkündigung des Tages der Krönung nnd dieser Handlung selbst. Der Einzug in die erste Residenz findet von dem in der Umgebung Moskaus liegenden Petruwskischen Palais aus statt. Neun Kanonenschüsse gcben das erste Signal, die Glocken dcr großen Mariä-Himmclfahrts-Kathcdralc des Kreml ertönen in feierlichem Geläute, Truppcnmasscn in glänzender Parade-Uniform bewegen sich durch die Stadt und bilden anf allen Straßen und Plätzen, die dcr Zug zu passieren hat, Spalier. Alle Personen, die "am Einzüge teilnehmen, sind versammelt, vor dem Petr.)wstischcn Palais blitzt im Sonnenschein eine unabsehbare Neihe goldener Wagen, tummelt sich eine zahllose Schaar edler, rcichgcschirrter Rosse. Da öffnen sich die Thore des Palastes, das kaiserliche Paar erscheint, gefolgt von sämmtlichen Großfürsten und Großfürstinnen. Die Kaiserin nimmt in ihrem Wagen Platz. Dcr Kaiser besteigt scin herrliches, blüthenweißes Pferd und die Prozession setzt sich in Vewcgnng. Eröffnet wird dieselbe durch Militärabteilungcn im reichsten Schmucke, nntcr denen dcr eigene Convoi des Kaisers vor allen in die Augen fällt. Diese Leibwache dcs Zarcn ist aus den schönsten, jugcndkräftigcn Gestalten der Kosaken vom Kaukasus gebildet, den besten Reitern dcr Welt, die in dcr farbenhellen, malerischen Tracht ihrer Heimat, eine wildpoctischc, Gruppe, in freier ungezwungener Haltung auf ihren edlen, feingcbauten Nofscn vorüberziehen. Den militärischen Gruppen schließen sich die Abgeordneten dcr asiatischen Völkerschaften an, welche die Oberhoheit dcs rus- — 4 Fig. 1. Hofbeamtor in Gala. fischen Zaren anerkannt^ haben. Zwei in der Reihe, hoch zu Roß, ziehen sie einher, ein buntscheckiges ethnographisches Bild; Gestalten, Züge, Trachten, wie sie nur die lebhafteste Phantasie zu ersinnen vermöchte, unter denen die Bewohner Bucharas, Chiwas und der Turkmenen-Steppe am grellsten in die Augen fallen. Es folgen die Deputierten der Kosakcngebiete und der Moskauischc Adel, geführt vom Adclsmarschall des Kreises. Eine unabsehbare Neihc mannichfalti-ger Hofdienerschaft in den glänzendsten Livreen und Kostümen zieht nun am Auge des Zuschauers vorüber und deutet die Nähe des Zaren an. Unter den Fouricren verschiedenen Grades, den Lakaien und Reitknechten wandeln die abenteuerlichen Gestalten der Mohren in orientali-schcrKlcidung,Läufcriu ihrer altertümlichen Tracht mit wallenden Straußfedern auf den Barets und die prächtigen, zugleich geschmeidigen und athletischen kaiserlichen Jäger in grünem, gold-blitzcndcm Kleide, deren Zng von dem Chef der kaiserlichen Jagd geschlossen wird. Die Hosbeamtcn in aufsteigender Skala folgen — 5 — demselben, die Kammerjunker und Kammcrherrn zu Pferde, die Ccremonienmeistcr, Obcrecremonienmeistcr und Hofmarschällc mit ihren goldenen Stäben (Fig. 1) in langgcspannten offenen Phaetons, die zweiten und ersten Hofchargen sowie die Mitglieder des Ncichs-rats in Uiersitzigen vergoldeten Galakutschen. Die Leibschwadroncu der stattlichsten Kavallerie-Regimenter, der Chevalier-Garde und der Garde zu Pferde, reiten unmittelbar vor dem Kaiser. Jetzt dröhnt die Erde von dem donnernden Hurrah der versammelten Hunderltauscnde — der Kaiser naht und grüßt sein Volk. Auf seinem herrlichen Schimmel, mit dem einfachste« Sattel- und Zaumzeug, erschemt jetzt der Zar in der schlichten Uniform eines russischen Generals, dunkelgrüuem Halbkaftau, hoheu Stiefeln uud schwarzer Lammfellmützc. Dicht hinter ihm der Thronfolger im Waffenschmuck des Kosaken-Atamans. In der unmittelbaren Nähe des Kaisers befinden sich der Minister des kaiserlichen Hauses, der Kriegsminister, der Kommandeur des kaiserlichen Hauptquartiers und die Offiziere äu ^our der Suite. Dem Kaiser und seinen Sühnen folgen in blitzender Kavalkade sämmtliche Großfürsten und Prinzen des kaiserlichen Hauses, sämmtliche zur Krönung eingetroffenm fremden Monarchen und Fürstlichkeiten, eine wahre Sturmflut des Glanzes und der Pracht. Cotoyiert wird diese stralende Schaar von der Gesammtheit der Gcneraladjutantcu, Generalmajors der Suite uud Flügeladjutauteu des Kaisers, alleu Offizieren, welche den Großfürsten attachiert sind und dem militärischen Gefolge der fremden Fürsten uud Prinzen. Von neuem zittert der Boden von dem frenetischen Iubcl-dcr Menge — sie hat die Kaiserin erblickt, die mit der lieblichen Tochter in goldener Staatskarosse von nie gesehener Pracht erscheint. Sie grüßt freundlich nach rechts und links und weckt immerfort neuen donnernden Zuruf der berauschten Menge. Der Wagen der Zarin ist mit acht wcißgeborcncn Schimmeln lang gespannt, jedes Pferd wird von einem Stallbcdicntcn geführt. An der rechten Seite reitet der Obcrstallmcistcr des Hofes, an Flg. 2. Stallmeister des kaiserlichen Höft in Gala-UmiM»l, __ 7 __ der linken cm Stallmeister (Fig. 2), vor der Kutsche cin Mar-stalloffizicr. An dm Riemen stehen zwei Pagen, neben der Karosse gehen vier Kammerkosaten in blauer, goldverbrämter Tracht, hinter derselben reiten sechs Kammerpagcn nnd zwei Marstallbedientc. In ähnlichen, wenn auch weniger reich ausgerüsteten und begleiteten Galakutschen folgen nun sämmtliche Großfürstinnen und Prinzessinnen des kaiserlichen Hauses. Zwei Schwadronen Panzerrciter markieren, daß die letzten Mitglieder der Familie des Monarchen vorübergezogen. Nun folgen ill viersitz igcn vergoldeten Galakutschen sämmtliche Damen des Hofes, wie Staatsdamen, Hofmcisterinnen, Kammerfräulein, Hof-fräulcin u. s, w. Eine Schwadron Husaren uud eine Schwadron Ulanen schließen den feierlichen Zug. Sobald die Spitze der Prozession das Weichbild von Moskau betritt, werden 71 Salutschüsse gelöst. Hier wird der Zar von dem Gcneralgouvcrncur der alten Residenz begrüßt, der sich mit seinem Gefolge der kaiserlichen Suite anschließt. An fünf verschiedenen Stellen der Stadt begrüßen den Herrscher zuerst das Stadthauftt (der Oberbürgermeister) von Moskau mit den Stadtverordneten, den Mitgliedern der städtischen Behörden und den Zünften mit ihren Abzeichen; sodann der Präsident und die Mitglieder des Moskauer Gouvernements-Landschaftsamtes; ferner der Landadel des Moskauer Gouvernements, der Gouvernements-Adelsmarschall an der Spitze; weiter der Gouverneur von Moskau mit den Vcrwaltungs- lind Gerichtsbehörden des Gouvernements; endlich der Kommandant von Moskau mit den ihm untergebenen Stabs- nnd Obcroffiziercn. Vci der Kapelle der Mutter Gottes von Iwörsk steigen der Kaiser und die Großfürsten vom Pferde, die Kaiserin und die Prinzessinnen verlassen die Eqnipagen, werden am Eingänge der Kapelle von einem hohen Geistlichen mit Kreuz und Weih" Wasser empfangen und bczeugcu dem Mnttcrgottcsbilde ihre Verehrung. — 8 — Auf dem ganzen Wege, den dcr Zug passiert, bilden, wie erwähnt, die Truppen Spalier und aus den zahllosen Kirchen tritt die Geistlichkeit mit den Heiligenbildern und Kreuzen. Ans dem ganzen Wege kein einziges Haus, das nicht auf das reichste geschmückt wäre mit Fahnen, Flaggen, goldbcfranztcn Teppichen, Guirlanden, Büsten nnd Bildern. Im Kreml angelangt, begiebt sich der Kaiser mit den Semigen gcradenwegs in die Kathedrale zu Maria Himmelfahrt, wo er von hohen Geistlichen empfangen nnd ein Dankgottesdienst zelebriert wird. Sobald der Zar die Kirche betritt, werden 85 Salutschüsse abgefeuert. Auch in der zweiten und dritten Kathedrale des Kreml verrichten der Kaiser und seine Familie ihre Andacht, worauf sie endlich erst den Palast betreten. In diesem Augenblick werden U)1 Kanonenschüsse gelöst, von allen Kirchen Moskaus beginnt das feierliche Glockengelänte, das den ganzen Tag über fortdauert und Abends strahlt die Stadt, mit Ausnahme des Kreml, der sich in Stille und Dunkelheit hüllt, in feenhafter glänzendster Beleuchtung. Die feierliche Verkündigung des Tages derKrönnng bildet den zweiten Akt der Festlichkeiten. Dieselbe geschieht nach altem Herkommen an drei Tagen hintereinander, von einer Deputation, die wie folgt zusammengesetzt ist: Zwei Abteilungen Panzerreiter (Chevalier-Garde nnd Garde zu Pferde), mit Paukenschlägern und Trompcterchor, bilden die Estorte, welche von drei Generaladjutanten kommandiert wird. Zwei Obcrccremonien-meistcr und vier Ceremonicnmeister mit goldenen Stäben führen die mit der Proklamation betrauten beiden Sekretäre des dirigierenden Senats, welche von Krönungsherolden begleitet sind. Bei jeder Militärabtcilung befinden sich noch zwei besondere Hornisten mit Heroldstrompeten. Alle genannten Personen mit Ausnahme dcr Herolde und der Militärs tragen über dcr rechten Schulter goldverbrämte seidene Schärpen in den drci Neichs-farben. Die Sekretäre des Senats sind selbstverständlich in Galauniform, die Herolde tragen ein altertümliches, pittoreskes, ____ <5 ____ sehr retches Kostüm (Fig. 3). Dcr Glanz dieses Auszuges wird noch in eigentümlicher Weise durch zwüls tzandpserdc vermehrt, welche von reich galionicr- F>N> 3. ten Marstallbedienten geführt werden. Diese Pferde, sämmtlich von tadelloser Weiße, sind mit großen Decken von Goldbrokat geschmückt, anf deren beiden Seiten das Ncichswavpcn angebracht ist; auf den Köpfen nicken stattliche Büsche von weißen Straußfedern. Nachdem sich diese Protlamations-Deputation Morgens um !1 Uhr im Krcml versammelt hat, bc-giebt sie sich zunächst anf den Senatsplatz und nimmt dort eine wolgcordmtc Aufstellung. Ein Wink des kommandierenden Generals — die Herolde erheben ihre goldencnStäbe,dicHcrolds-trompcten lassen eine helle schmetternde Fanfare erschallen, das Militär macht Honneurs, jcdcrmaun sonst entblößt das Hauvt und einer der Seuatssekretäre verliest mit lauter Stimme ^°n^^Hcr.w, vom Pferde herab die folgende Proklamation: „Der Allerdurchlauchtigstc, Allcrerhabenste Große Herr und Kaiser (folgt der Name) hat den von Seinen Ahnen ererbten — 10 — Thron dcs russischen Reichs und des untrennbar mit diesem verbundenen Zartums Polen uud Großfürstcntums Finland bestiegen und hat, dem Beispiel der sehr gottcsfürchtigcn Herrscher Seiner Nhnen, folgend, zu befeblen geruht: die allcrheiligste Krönung Seiner Kaiserlichen Majestät und die heilige Salbung wird unter Gottes Bristand am (folgt das Datum) stattfinden, an welcher heiligen Handlung Seine Gemahlin, die große Kaiserin (folgt der Name) teilnehmen wird. Von dieser Feier wird allen getreuen Unterthanen hiermit Kunde gegeben, damit sie an dem bezeichneten Tage inbrünstige Gebete zum König aller Könige emporscnden, daß derselbe in Seiner reichen Gnade die Regierung Seiner Majestät segnen und Frieden und Nuhc festigen möge zu Seinem heiligen Nuhmc uud zum unwandelbaren Heil und Gedeihen dcs Reichs." Nun verteilen die Herolde gedruckte Exemplare der Proklamation an das Volk, während die Regimcntsmusik die Nationalhymne spielt. Der Aufzug verläßt unter klingendem Spiel den Kreml, das Schauspiel wiederholt sich nochmals auf dem roten Platz, wo sich das ganze Cortege in zwei Hälften teilt, welche die Stadt durchziehen und die Verkündigung auf verschiedeneu Plätzen derselben wiederholen. Das geschieht, wie erwähnt, an drei Tagen und zwar an jedem Tage auf andercu Plätzen der Stadt Moskau. Am Tage vor der Krönung und Salbung des Kaiserpaares ertönen um 4 Uhr Nachmittags die ersten Glockcnschlägc von der großen Mariä-Himmclfahrts-Kathcdralc dcs Kreml, welchen sämmtliche Glocken der unzähligen Kirchen in der alten Zarcnstadt antworten. Es ist das Zeichen, welches die rechtgläubigen Bewohner Moskaus zum Gebet für den Zaren in die Kirche ruft. Die Tempel füllen sich. vor allen die Kathedralen des Kreml. In der Himmelfahrtskirche hat der Gottesdienst einen besonders feierlichen Charakter, da demselben die gcsammtc hohe Geistlichkeit beiwohnt, die zur Krönung nach der Hauptstadt geeilt ist. Um 6 Uhr abermaliges Signal von der Himmel- — 11 — fahrtskathedralc, welchem das Glockengeläute sämtlicher Kuchen der Zarcnstadt antwortet nnd es beginnt der Vcspcrgottcsdicnst, welchem die Majestäten in der Erlüserkirche beiwohnen und damit zugleich ihre Vorbereitung für das heilige Abendmahl abschließen. Am Krönungstage um 7 Uhr Morgens bcgiebt sich die ge-sammte hohe Geistlichkeit Nnsslands in die Himmclfahrtskirche des Kreml, wo der hohe Akt stattfindet, um dort im Gebet langes Leben für den Kaiser zu erflehen. Kundgcthan wird diese religiöse Handlnng den Einwohnern der Stadt durch die große Glocke des Iwan Wcliki und ^1 Kanonenschüsse. Die Personen, welche der Krönung zu assistieren haben, ohne an der Prozession teilzunehmen, beginnen sich in der Kathedrale zu versammeln. Nach stattgefuudencm Gebet liest die Geistlichkeit die liturgischen „tzorcn", welche gegen !1 Uhr beendigt sind. Nun begeben sich sämmtliche Prälaten durch die südliche Pforte des Tempels auf den Vorhof, um dort den Großfürst Thronfolger, den Kaiser und die Kaiserin zu empfange». Beim Anblick der höchsten Geistlichen des Landes bekreuzigt sich voll Andacht die auf der Esplanade des Palastes versammelte Volksmasse und tiefes Schweigen herrscht im ganzen Umkreis der Kathedrale. Jetzt durchschreitet der Oberst-Ccremonicnmeister der Krönung mit seinem goldenen Stabc den Naum, welcher Kirche und Palast trennt, um dem Minister des kaiserlichen Hofes zu melden, daß die „Hören" beendigt sind. Der Minister bringt die Kunde dem Thronfolger und diefcr giebt das Zeichen zum Aufbruch in den Tempel. Die Prozession steigt die „rote Treppe" herab. Sie wird eröffnet von Cercnwnicmueistcrn mit den Stäben, dann folgen die Kammerjunker, Kammerherren, zweiten und ersten Hofchargen uud die Kavaliere der fremden Höfe. Sowie diefcs bunte Gewühl blitzcuder Uniformen den Fuß der Treppe erreicht hat, präsentieren die Truppen, die Trommeln wirbeln und ein begeistertes donnerndes Hurrah der Voltsmenge begrüßt den — 12 — Zsßarcwitsch, Ihm folgen die Mitglieder der kaiserlichen Familie und die fremden Fürstlichkeiten in der Weise, daß je einer der durchlauchtigen Herren eine der hohen Damen führt. Den Schluß bilden die Hofdamen der russischen und fremden Herrscherfamilien. Unter dröhnendem Zurnf der Menge begiebt sich der Thronfolger mit seinem glänzenden Cortege über den Schloßplatz zum Vorhof der Kathedrale, wird von der Geistlichkeit mit Kreuz und Weihwasser gesegnet und tritt in das Innere der Kirche. Inzwischen finden auf der Esplanade die Vorbereitungen für den zweiten, feierlichsten der Auszüge statt. 32 Obcrofft-ziere tragen aus der Rüstkammer des Schlosses (Granowltaja Paläta) bis zum Fuße der roten Treppe einen prachtvollen, goldschimmernden Baldachin, geschmückt mit Reichsadlern, Strauß-fcderbüschcn und der kaiserlichen Krone. 32 Gcncraladjutantcn nehmen ihn dort in Empfang. Ein hoher geistlicher Würdenträger, in der Regel der Beichtvater der russischen Majestäten, begleitet von zwei Diakonen, welche das Weihwasser in goldenen Becken tragen, steigt vom Vorhuf der Kathedrale herab nnd besprengt den ganzen Weg, den die Prozession zn nehmen hat, mit Weihwasser. Der Oberst-Krönungsmarschall meldet den Majestäten, daß alles zum Zuge bereit sei. Kaiser und Kaiserin verlassen ihre Privatgcmächer und begeben sich in den St. Andreas- (Thron-) Saal (Fig. 4), wo sie auf den Thronscsseln Platz nehmen. Der Kaiser trägt Generals-Uniform mit der gewöhnlichen Kette des St. Andreas-Ordens (der höchsten aller russischen Dekorationen), die Kaiserin eine Robe von Silberbrokat. Im Saale werden die Majestäten erwartet von den Mitgliedern des Ncichsraths, den Staatssekretären und den Adelsmarschä'llcn. Elite-Truppen bilden in allen zu passierenden Sälen Spalier. Im Alexander-Saal befinden sich die Sendboten des Adels, die Stadthäupter, die Vertreter verschiedener Institutionen, die Moskauer Damen der ersten drei Rangtlassen, im St. Georgs-Saal die Offiziere aller Grade, welche nicht anderweitig zu fungieren haben, im - Der St. Andreas- oder Thron-Saal im Kreml zu MoZlau. St. Wladimir-Saale Abteilungen der Moskauer Militär-Vildmiqs-Anstalten. Jetzt giebt der Zar das lang ersehnte Zeichen. Trompeten^ — 13 — Fig. 4 — 14 — fanfaren und Paukenwirbel ertönen auf den Terrassen vor dem Andreassaal (am Ufer der Moskwä.) und gegenüber der Kathedrale zur Verkündigung, auf der Seite der roten Treppe, in welcher Richtung sich der Krönungszug in Bewegung setzt. Eine Abteilung Chevalier-Garde in Gala eröffnet denselben, ihr folgen 24 Pagen und 24 Kammerpagcn in reich mit Gold besetzten Uniformen. Zwei Ceremonienmeistcr mit den Stäben bilden die Spitze einer endlosen Neihe von Vertretern der Vauerngemeinden, der Städte und der Landschaftsämter (Semstwo) des Reichs. Die dritte Abteilung der Prozession wird von den Vertretern aller Institutionen, sowol der staatlichen wie der städtischen und körperschaftlichen, der alten Zarenstadt Moskau gebildet. Nun folgen die Beamten des Hofministeriums, die Abgeordneten sämmtlicher Kosakenhecre, die Adelsmarschälle aller rnssischcn Provinzen, der General-Prokurator des 1. Departements des dirigierenden Senats, die Ehrenvormundc, die Senatoren, die in Moskau anwesenden Gcncralguuvcrneure, der Prokurator des heiligen Synod, die Staatssekretäre, die Chefs selbständiger Verwaltungszwcige, die Minister und die Mitglieder des Reichsraths. Mit fieberhafter Aufmerksamkeit folgen die vielen Zchn-tausende des schauenden Volkes der langsamen Bewegung dieses endlosen Zuges, der sich von der roten Treppe zur Kathedrale begiebt, in welche nur die Chefs der einzelnen Gruppen eintreten, während alle übrigen in der Umgebung der Kirche die Rückkehr der Prozession abwarten. Nun erscheinen zwei Krönungs-Cercmonienmeister und der Oberst-Ccremonienmeistcr der heiligen Handlung mit ihren Stäben. Die Truppen präsentieren unter Trommelwirbel und Glockeu-klang — es gilt den kaiserlichen Insignien, die von den ersten Würdenträgern des Reichs getragen werden. Zwei Herolde in ihrer malerischen Tracht und ein Unteroffizier der Palast-Garde mit der Fahne schreiten ihnen voran. Zur Seite eines jeden Trägers befinden sich zwei Assistenten von hohem Range. Die Zeichen Fig. f.. Kaiserliche Insignien de« russischen Reichs, — 16 — der kaiserlichen Würde folgeil einander in folgender Ordnung: Die große Krone des Zaren, die kleine Krone der Zarin, das Scepter, der Reichsapfel, der Pnrpurmantel des Kaisers, der Purpurmantcl der Kaiserin, das Ncichsschwcrt, das Neichssicgel, das Reichsbanner, die Kette des St. Andreas-Ordens der Kaiserin *). Zu beiden Seiten der Insignien gehen die Flügeladjutantcn, die Generalmajors der Suite und die Gcncraladjutantcn des Kaisers. Wenn die Zeichen der kaiserlichen Würde der Pforte des Tempels nahe sind, bcgicbt sich dic gesammtc Geistlichkeit auf den Vorhof und die beiden vornehmsten Metropoliten des Reichs empfangen dieselben mit Weihrauch und Weihwasser. Die Spannung der Zuschauer hat jetzt ihren höchsten Gipfel erreicht, aller Augen sind wie von maguctischer Gewalt au die rothe Treppe gefesselt. Nun tönt ein erdcrschütterndcs Hurrah aus hundcrttausenden von Kehlen, und widerhallt in der zahllosen Menge, welche sich Kopf an Kopf auf allen Plätzen des Kreml und den benachbarten Quais drängt. Sämmtliche Militär-Musitkorps, auf der Esplanade des Arcml vereinigt, intonieren die schöne, melodische Nationalhymne — der Zar steigt die rothe Treppe herab. Eine Abteilung Chevalier-Garde schreitet voran, dann folgen Hof-Marfchälle verschiedener Grade, zuletzt der Obcrst-Kröuungs-Marschall. Dem Kaiser assistieren Zwei Großfürsten, feine Brüder, hinter ihm gehen der Minister des Hofes, der Kriegsminister, der Kommandant des kaiserlichen Hauptquartiers, der General-Adjutant, der Generalmajor der Suite und der Flügcladjutant än .jour, sowie der Kommandeur des Chevalier-Gardcrcgnnents, der letztere mit gezogenem Schwert. Neuer, wiederholter enthusiastischer Jubel begrüßt die Erscheinung der Kaiserin. Auch sie wird von zwei fürstlichen Assistenten begleitet. Staatsdamcn und Hoffräulcin folgen. *) Unsere Zeichnung (Fig. hj enthält nicht die sämmtlichen InsMieu. Die Purpurmäntel, wie das Neichssiegel sind, als zur Darstellung weuic; geeignet, w^Mlilicbeu, dagegen ist das Neichsschild, wclchcs bci der Krünuna.s-cercmonio uichl mchr in Anwendung lomntt, imt dcu übrigen abgebildet. ___ 1?> ___ Am Fuße dcv rothen Treppe angelangt, begeben sich die Majestäten unter den Baldachin, der von sechzehn Gcncraladjutautcu getragen wird, sechzehn andere Gencraladjutantcn halten die Schnüre desselben. Hinter dem Baldachin gehen die General adjntanten vom 9tange eines Generals der Infanterie, Kavallerie oder Artillerie, eine Abteilnng Chevalier-Garde folgt. Den Zng schließen die Vertreter des russischen Adels, des Handclsstandcs von Moskau und eine ncnc Abteilung Chevalier-Garde. Kaiser und Kaiserin nähern sich, von dem Baldachin überdacht, unter tausendfachem Jubel der Menge uud lebhaftem Geläute aller Kirchcnglockcn Muskans der Kathedrale. Die Gencral-adjutautcu, welche dcu Baldachin tragen, bleiben vor den Stufen zum Vorhof stehcu und die Majestäten schreiten zum Südvortal des Tempels. Der Zuruf der Volksmenge, die Musik, das Glockengeläute brechen plötzlich ab und feierliches Schweigen herrscht ringsum. Beim Eintritt in den Tempel werden Zar und Zarin von Miem der Metropoliten in kurzer, kerniger Ncdc begrüßt, ciu anderer reicht ihnen das Kreuz zum Kuß, ein dritter das Weihwasser. Die Majestäten und ihre Assistenten schreiten bis zu der Vilderwand (Ikonostas), welche das Allerheiligste vom Schiff der Kirche trennt, verbeugen sich vor den mittleren, königlichen*) Pforten jener Wand dreimal und küssen die dort befmdlicheu Bilder des Erlösers und der heiligen Jungfrau. Nun schreiten sie die Stufen hinauf, welche zur Estrade führen, auf der sich die Thronsesfcl befinden. Diese Estrade ist im Centrum der imposanten Kathedrale zwischen den vier gewaltigen Pfeilern, welche die Kuppel tragen, errichtet. Eine mit rothem Tnch beschlagene Treppe von 12 Stufen *) Königliche (/?«l5i).ix«t) heißen dieselben, weil mich Chrysostunms Mit ihnen das Himmelreich sich öffnet. Die Übevschnng „kaiserlich" ist falsch. Niemand ans;er den Litnrgcn darf diese mittlere Thür des Ikonostas durchschreiten. Übrigens vergleiche man den Abschnitt über die Einrichtung der rnssischen Kirchen nnd den Gottesdienst in denselben. Meyer, Russtaud. II, 2 — 18 — führt, gegenüber dem Allerheiligsten, zu derselben hinauf. Zwischen den beiden hinteren Pfeilern erhebt sich eine mit scharlachrothem Sammet drapierte Bühne, auf welcher die Thronsessel des Zaren Michail Fsdorowitsch und Alexsi Michailowitsch aufgestellt sind. Über denselben wölbt sich ein glänzender Baldachin von Scharlach-Sammet mit Gold gestickt, der an einer Kette befestigt ist, die von der Decke der Kirche herabhangt. Links von den beiden Thronen befindet sich auf der Estrade eine lange Tafel, mit reicher Decke von Goldbrokat, zur Aufnahme der Insignien. Die ganze Estrade ist von einem vergoldeten Pfeilergeländer umgeben. Die Kirche bietet in ihrem Schmuck einen großartigen Anblick dar. Bis zur Höhe der Pforten sind die Mauern mit rothem Tuch bekleidet, ebenso der Fußboden. Zwischen den beiden Pfeilern der rechten Seite steht die Tribüne für die kaiserliche Familie und die fremden Fürstlichkeiten, zwischen den Pfeilern der linken die Tribüne für die Generaladjutantcn. Im Raume des Schiffes sind noch mehrere Tribünen angebracht für die Personen, welche der Krönung anwohnen, unter anderen auch eine für die christlichen Geistlichen nichtgriechischcr Bekenntnisse*). Inzwischen hat sich die Geistlichkeit in doppeltem Spalier von der Estrade bis zur mittleren Thür des Aüerheiligsten aufgestellt und die Neichsinsignien werden auf der erwähnten Tafel von ihren Trägern niedergelegt. Kaiser und Kaiserin sind die Estrade hinangestiegen und haben sich auf den Thronen niedergelassen, ihre Assistenten stehen zur Seite. Alles, was zur Krönung gehört, hat sich dem Nange und der Funktion gemäß auf den Stufen der Estrade, auf den Tribünen und im Schiff der Kirche nach fefter Ordnung aufgestellt. Die feierliche Handlung der.Krönnng beginnt. *) Für die Ieitungs-Korrespondenten war bei der letzten Krönung trefflich gesorgt. Auf der Senatoren-Tribüne befanden sich 12 Plätze für dieselben, von denen ? von russischen, die übrigen oon ausländischen Bericht? erstattern eingenommen wurden. — 19 — Dcr Metropolit von Nowgorod und St. Petersburg ersteigt die Stufen der Estrade und fordert den Kaiser mit kurzer Anrede auf, nach dem alten Brauch christlicher Monarchen vor allen seinen treuen Unterthanen den heiligen Glauben der orthodoxen Kirche zu bekennen. Er hält dem Zar ein offenes Buch hin und derselbe liest mit lauter vernehmbarer Stimme den Text des Glaubensbekenntnisses, indem er sich bei den Namen des Vaters, des Sohnes, und des heiligen Geistes dreimal bekreuzigt. Der Metropolit bittet sodann fur den Kaiser um die Gnade des heiligen Geistes nnd verläßt die Estrade. Es folgt die Recitation einer Reihe von Gebeten, Gesängen und Bibelstellen, die sich ans das Herrfcheramt beziehen, worauf fich zwei Metropoliten auf die Estrade begeben. Der Kaiser nimmt die gewöhnliche Kette des St. Andreas-Ordens ab und befiehlt, ihn mit dem kaiserlichen Purpurmantel und der zugehörigen Brillantkette des genannten Ordens zu bekleiden. Es geschieht durchdie beiden Metropoliten nnter Beihülfe der kaiserlichen Assistenten. Mit dem Purpnr angethan beugt der Kaiser das Haupt und unter Handauflegung spricht einer der Metropoliten Gebete für den Zar und seine Legierung. Nun gebietet dcr Kaiser, ihm die Krone zu bringen. Der Metropolit nimmt dieselbe entgegen und reicht sie dein Monarchen, der aufrecht vor dem Throne stehend dieselbe mit beiden Handen ergreift und sich aufs Haupt setzt, währcud der Geistliche ebenso wie bei der Bekleidung mit dem Pnrvur spricht: Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes. Amen. Nachdem der ehrwürdige Priester aus einem ihm vorgehaltenen Buche ciuc kurze Anrede gelesen, verlangt der Kaiser uach Scepter und Reichsapfel, die ihm iu dcr frühcrcu Weise vom Metro-Polit überreicht werden, worauf abermals eine Anfprachc des Geistlichen erfolgt. Dcr Kaifcr, bekleidet mit allen Zeichen seiner hohen Würde, nimmt jetzt auf kurze Zeit seinen Platz auf dem Thronscssel ein. legt aber bald wieder Scepter uud Reichsapfel nieder uud ruft die Kaiferin zu sich. Die hohe Frau naht und kniet auf reichem — 20 — Kissen vor dem Gemahl nieder. Der Zar nimmt die Krone vom Haupte und berührt mit derselben die Stirn der Gattin, dann bringt man ihm die kleine Krone, die er der Kaiserin aufs Haupt setzt, sowie den Pnrftnr und die Vrillantkctte dos St, Andrcas-Ordens, mit denen er die Zarin unter Beistand ihrer Assistenten und dazn designierter Staatsdamcn schmückt. Nun erhebt sich die Kaiserin imd nähert sich dem Kaiser, der seine Gemalin küßt,*) Nachdem die Majestäten wieder auf den Thronen Platz genommen, ergreift der Kaiser von Neuem Scepter nnd Reichsapfel, cm Protodiakouus vcrkündct den vollständigen Titel des Monarchen und fleht zum Himmel um langes Leben für Kaiser imd Kaiserin, worauf die Kirchcnsängcr des kaiserlichen Hofes, welche sich in ihrem glänzenden Fcstkostüm in der Nähe der Geistlichen befinden, dreimal die Worte „langes Leben" intonieren. 101 Kanonenschüsse und das Geläute aller Kirchenglockcn der alten Kapitale verkünden in diesem Augenblick, daß die Ceremonie der Krömmg bceudigt ist. Eine ungeheure Vewegung macht sich auf allen Plätzen des Kreml bemcrklich. Die zahllose Menge, welche dieselben bedeckt und bit' dahin das tiefste Schweigen beobachtete, bricht in begeisterten Jubel aus. Fünf Miuutcn fpätcr herrscht wieder feierliche Stille. Indessen haben die Geistlichkeit und die Laien beider Geschlechter, ohne ihre Plätze zu verlassen, die Majestäten dnrch cinc dreimalige tiefe Vcrncigung beglückwünscht; die kaiserliche Familie aber und die fremden Fürsten begeben sich zur Thron^ Estrade imd bringen dem Hcrrschcrpaarc ihre Glückwünsche persönlich dar. Nachdem alle ihre Plätze wieder eingenommen, die Kanoncn-salvcn und dag Glockengeläute cmsgetlnngcn, erhebt sich der Kaiser vom Throne, legt Scepter und Reichsapfel ab, beugt die *) Unser TileMid stellt den ^cnwärtni. regierenden Kaiser Alcxcmdcr III. und feine erlauchte Hrmalin im Ornat dcs geschilderten Momentes dar. — 21 — Kniee und aus dcm vom Metropoliten ihm vorgehaltenen Buche spricht er mit lauter klarer Stimme das Gebet um den Beistand des Allmächtigen bei dcr hohen Aufgabe, die ihm geworden. Jetzt erhebt cr sich und bleibt vor dein Throne stehen. Nun kniet dcr Metropolit von Nowgorod nieder nnd seinem Beispiel folgcu — mit Ausnahme des Zaren — alle in dcr Kirche nnd ihrer Umgebung Versammelten. Dcr Geistliche spricht im Namen des Volkes ein Gebet für den gekrönten Monarchen, an deu er weiterhin noch eine Ansprache richtet. Nun stimmen die Sänger das Tedcnm an, Glockengeläute ertönt von Neuem uud der liturgische Gottesdienst beginnt. Der Kaiser nimmt die Krouc vom Haupt, welche auf der bczcichnctcn Tafel niedergelegt wird. Nach Verlesung dcr Evangelien reichen zwei Erzbischöfc die heilige Schrift dcm Hcrrschcrpaar znm Kuß. Venn Beginn des Gesangs, welcher dcm heil. Abendmahl vorauszugehen Pflcgt, breitet dcr Gouverneur vou Moskau mit scinen Gehülfen vom Throu bis zn dcn königlichen Pfortcu des Allerhciligstcu einen langen Teppich von himbeerfarbenem Sammet mit Gold besetzt aus. Von dcr Psortc dcs AUcrhciligsten bis zum Altar wird dieser Teppich mit eiucin zweiten vou Goldbrokat bedeckt, dessen Enden im Allerhciligstcn von Protodiakoncn niedergelegt werden. Sobald die fungierende Geistlichkeit selbst das Abendmahl genommen hat, öffnen sich die königlichen Pforten des Nllcrhciligsten und zwei Erzbischöfc, begleitet von Protodiakonen treten ans denselben. Der eine von ihnen meldet dcm Zar, daß der Augenblick dcr Salbung gekommen ist. Dcr Kaiser iibcrgicbt sein Schwert dcn Assistenten und schrcitct im Purvurmautcl zur Pforte des Allerheiligstcn; die Kaiserin folgt ihm. Es bildet sich ciuc neue Prozession vou dcn Stufen dcs Thrones bis zum Ikonostas. Voran schreitet dcr Oberst-Ccrcmonicnmcistcr mit zwei Ccremonicmncistern; es folgt dcr Obcrhofmarschall mit einem Hofmarschall, sodann dcr Oberst - Krönnngsmarschall mit drei Würdenträgern, wclchc Krouc, Scepter nnd Reichsapfel — 22 — tragen. Unmittelbar hinter ihnen der Kaiser mit seinen Assistenten und zwei Offizieren der Chevalier-Garde. Die nächsten nach dem Zaren sind der Kommandant der Chevalier-Garde mit gezogenem Schwert, die Minister des Hofes und des Krieges, der Kommandant des kaiserlichen Hauptquartiers und der dienstthuende Gcncraladjutant. Der Kaiserin folgen ihre fürstlichen Assistenten. Die Schleppen der Pnrpurmäntcl werden von Großwürdcnträgern des Hofes und Kammcrhcrren getragen. Der Zar bleibt vor der königlichcnPfortc auf dcmVrokattcppich stehen, die Kaiserin vor dcm Ambon.*) Das Gefolge der Majestäten bildet einen Halbkreis hinler denselben. Der Metropolit von Nowgorod ergreift das Prachtgefäß mit dem Salböl, taucht den kostbaren Zweig hinein und salbt den Kaiser an Stirn, Nase, Lippen, Ohren, an der Brust und den Händen, indem er die Worte spricht: „Das ist das Siegel gegeben vom heiligen Geist," Ein zweiter Metropolit trocknet die gesalbten Stellen. (Fig. 6.) Dnrch Glockcngclä'ut und 101 Kanonenschüsse wird dieser feierliche Moment dcm Volke verkündet, das mit lautem Jubel antwortet. Der Kaiser tritt jetzt zur Seite, zum Bilde des Erlösers, und die Kaiserin begicbt sich auf den Brokat-Teppich vor der königlichen Pforte, wo sie, jedoch nur auf der Stirn, gesalbt wird und zur linken Seite vor das Bild der Gottesmutter tritt. Nun führt der Metropolit vou Nowgorod den Zar in das Allerhciligste, der Saum des Pnrpurmantcls wird jetzt von Priestern gehalten. Am Altar angelangt nimmt der Kaiser das Abendmahl als Herrscher Nnsslands wie die Geistlichkeit, d. h. in beiderlei Gcstalt, zuerst das Brod und dann den Wein. Aus dcm Hciligtnm zurückgekehrt, tritt der Monarch anf seinen früheren Platz vor dcm Bilde des Erlösers, die Kaiserin *) Erhöhter Plcch auf dcm Miros MM) zwischen dcm Schiff d«r Kirche und dem Mcrheilissstcn, Fig, «. Die Salbung des Kaiftrs. — 24 — nähert sich der königlichen Pforte und empfängt dic Kommunion in gewöhnlicher Weise, wie die Laien, ans den Händen des Metropoliten von Mwgorod.*) Jetzt kehren die Majestäten zur Thron-Estrade zurück und der ganze Zug bcgicbt sich wieder auf die Stufen derselben, wie er sie verlassen hatte. Dankgcbctc und Gesang folgen. Nachdem Zar und Zarin das Kreuz geküßt fetzt sich ersterer die Krone wieder auf und nimmt Scepter und Reichsapfel. Alle Anwesenden, Geistliche und Laien, grüßen mit dreifacher Verbeugung. Der Großfürst-Thronfolger und alle übrigen Mitglieder - der kaiserlichen Familie verlassen jetzt in derfelbcn Ordnung und mit derselbcn Begleitung die Kathedrale, wie sie dieselbe betreten, und kehren in den Palast zurück. Kaiser und Kaiserin verlassen in vollem Krönungsschmuck gleichfalls die Kirche in der früheren Prozession und begeben sich unter Glockengeläute, 101 Kanonenschüssen, Trommelwirbel, Trompctentlang und dem dröhnenden Hurrah der Volksmenge, die dcu gckröuteu Kaiser begrüßt, iu die Kathedrale des Erzengels Michael, wo sie den Gräbern der Vorfahren und den Heiligen ihre Ehrfurcht beweisen und von dort in die Kathedrale zu Maria Vcrkündignng, wo gleichfalls eine kurze Andacht stattfindet. Nun bewegt sich der Zug, die Majestäten unter dem Baldachin, zur roten Treppe, an deren Fuß der Metropolit von Nowgorod das Kaiscrpaar mit dem Kreuze seanct nnd dann in die Himmel-fahrtskathedralc zurückkehrt. Auf dem crstcn Treppenabsatz verlassen Kaiser und Kaiserin den Baldachill, auf dem obern Podest bleiben sie stehen uud grüßen nach altem Herkommen dreimal das versammelte Volk, dcffen begeisterter Jubel in diesem Augenblick eine geradezu unbeschreibliche Höhe erreicht. *) Frauen ist das Betteten des Allerheilisssteu nicht gestattet. Die Laien empfangen beim Meiidmnhl nur das geweihte Brod, welches in den Wein ssetancht ist. — 25 — Im St. Andrcas-Saal angelangt übergiebt der Zar Scepter und Reichsapfel den Trägern dieser Insignicu nnd die Majestäten begeben sich, mit Krone und Pnrpurmantcl bekleidet, in dic mncrcn Gemächer, nm das Banket in der Rüstkammer zu erwarten. Den Abschluß der Krönung bildet das genannte öffentliche Mahl, welches Kaiser und Kaiserin in dem mächtigen Saal einnehmen, welcher die Rüstkammer oder Granowstaja Paläta genannt wird. Selbstverständlich ist dieses öffentliche Banket der Majestäten eine Ceremonie wie alle vorhergehenden. Sie sitzen dabei unter dem Thronhimmel im Purpurmautel mit der St. Andreaskctte, mngeben von ihren Assistenten und bedient von den höchsten Würdenträgern des Hofes. Als Zuschauer sind die ssesammtc hohe Geistlichkeit aller christlichen Bekenntnisse, sowie die Personen der ersten beiden Nangklasfcn gegenwärtig. Vor dem Beginn des Mahles hält der Metropolit von Nowgorod das Gebet. Instrmncntal-Mnsik und Gesang wechseln während des Festes, bei welchem vier Toaste ausgebracht werden: auf den Kaiser (61 Kanonenschüsse), die Kaiserin (5l Kanonenschüsse), die kaiserliche Familie (ZI Kanonenschüsse), die Geistlichkeit und alle gctreucu Unterthanen (31 Kanonenschüsse). Nach beendigtem Mahl setzt der Kaiser wieder die Krone auf, nimmt Scepter und Reichsapfel nud begicbt sich mit der Kaiserin unter dem Gesänge des „Gloria" iu deu St. Andreas-Saal, wo die kaiserlichen ^>nsignieu abgelegt werden. Die Majestäten ziehen sich nun in ihre Privatgcmächer zurück uud die Feier der Krönung und Salbnng hat ihr Ende erreicht. Zu diesem großen Staatsakt werden dem Kaiser von zahl^-losen Deputationen die kostbarsten Geschenke dargebracht, meist in der Form von Salz und Vrod, das nach alter russischer Sitte jedem überreicht wird, mit dem im Leben irgend eine als günstig angesehene Veränderung vorgeht, wie Heirat, Wechsel der Wohnung, neues Amt, Übersiedelung und dgl. Das dem Kaiser znr Krönung dargebrachte Salz nnd Brod pflegt in — 26 — goldenen oder silbernen Salzfässern und Arodschüsscln überreicht zu werden, welche vorzügliche Kunstwerke sind, das herrlichste, das die berühmte russische Goldschmiedeknnst hervorzubringen vermag. Viele Hunderte solcher Salzfässer uud Schüsseln sammeln Fiss. 7. NrodschOssel und Salzsaß davnebracht vom russischen Adel, sich bei jeder Krömmg und werden sorgfältig im Winterpalais zn St. Petersburg ausbewahrt. Unsere Abbildung giebt die goldene Vrodschüssel nebst Salzfaß, welche bei der Krönung Alexander III. vom Adel des TamlV'wschen Gouvernements überreicht wurden. — 27 — Da cm beträchtlicher Tcil der Ncichsgcschäftc dcs Kaisers Persönlicher Entschließung unterliegt, bedarf derselbe zur Erledigung derselben einer Anzahl von Behörden, welche zusammen die Eigene Kanzlei des Kaisers bilden. Sie besteht jetzt aus drei Abteilungen, von denen der dritten (früher vierten) die Verwaltung der zahlreichen Wohlthätigkcits- nnd Erziehungsanstalten untersteht, welche von der kaiserlichen Familie gegründet wurden; der Geschäftskreis der zweiten ist das ungeheure Gebiet der Gesetzgebung; die erste hat alle übrigen Angelegenheiten vorzubereiten, über welche von der Person dcs Kaisers selbst verfügt wird. Auch das Staatssckretariat des ^roßfürstcntums Finland wird der eigenen Kanzlei des Kaisers Zugerechnet. Die im Jahre 182l; gegründete frühere dritte Abteilung existiert nicht mehr. Ihr Chef war Kommandcnr der Gcnsdarmcric und Direktor der geheimen (politischen) Polizei. Dabei hatte sie die Bestimmung, Misbräuchc der Beamten auf-zudeckeu und dieselben zu bekämpfen, eine Aufgabe, die sie oft recht glücklich gelöst hat. Mächtigen Provinzial Gewalthabern, bie sich in der Ausübung ihrer Willtür sicher fühlten, trat nicht selten eiu schlichter Gcnsdarmcrie - Offizier mit bestem Erfolge cntgcgen. Damit wurde aber die gesetzliche Ordnnng in Verwaltung und Instiz über den Haufen geworfen, wie sich denn überhaupt in den Händen dcs Chefs dieser dritten Abteilung cinc Machtfüllc concentrierte, die im autokratischen Staate neben dem Kaiser ein Widerspruch war. Znr Aufhebung des Instituts wag dcun auch noch mitgewirkt haben, daß Kaiser Alexander II. das Odium, welches überall auf der geheimen und politischen Polizei ruht, nicht gern ans seiner eigenen Kanzlei sehen mochte uud so wurde im Jahre I8«0 die damalige dritte Abteilung aufgelöst und die pulitifche Polizei nebst der Gcnsdarmeric dem Minister dcs Innern unterstellt. Neben der Eigene n Kanzlei besteht noch eine Bittschriften-Kommission, deren Geschäftskreis dnrch ihren Namen nm-schrieben ist. — 23 — 2. Die Keichs-Institutionen. Die Regierung des russischen Reichs ist ihrem Grundprinzip nach ein Organismus, dessen Glieder nichts anderes sein können, als Ausstralungcn der autokratischen Gewalt des Kaisers. Dieselbe verkörpert sich als Central-Regierung in den Ncichs-Institutionen, von denen die Verwaltung der Landesteile in den Pruvinzial-Institutioncn abhängt. Zu den Neichs-Institutionen gehören der Reichsrath, das Minister-Komit^, der Dirigierende Senat, der Heilige Synod*) und die Ministerien. Ncichsrath, Minister - Komit« und Senat repräsentieren sozusagen, die gesetzgebende, verwaltende und gerichtliche Gewalt des Kaisers. a. Der Neichsrath wurde von Alexander 1. im Jahre 1810 nach dem Vorbilde des damaligen napuleunischcn ^on8«I ä'<;tn,t gegründet. Da in Russland an eine parlamentarische Verfassung nicht zu denken war, sollte die ncnc Behörde die Gewalt des automatischen Zaren als gesetzgebender Körper ergänzen und vertreten, dabei aber zn gleicher Zeit die Ministerien nnd anderen oberen Verwaltungsbehörden übcrwacheu. Beiden Aufgaben konnte dieser Staatslorpcr nicht entsprechen; ihn hinderte daran sowohl seine Zusammensetzung wie seine Geschäftsordnung. Was die erstere betrifft, so wurden die Mitglieder des Reichsraths aus den höchsten teils im Dienst stehenden, teils verabschiedeten Würdenträgern ernannt, von denen es gewöhnlich den ersteren an Zeit, den letzteren an Kraft gebrach, sich in genügender Weise den Angelegenheiten der Institution zu widmen. Heute ist der Rcichsrath eine rein passiv beratende Behörde, welche das Budget Prüft, alle Regicruugscmgclegen-hcitcn — mit Ausuahmc der auswärtigen — zu begutachten hat und außerdem eine gewisse Kontrolle der hö'hcrcu Vcr- *) Das Wort wird im Russisch«! männlich gebraucht. — 29 — waltung ausübt. Im Rcichsrath wird das Plenum von dcn drei Departements desselben unterschieden. Dieselben umfassen Gesetzgebung und Kodifikation, Civilangelegcuhcitcn und Kultus, endlich den Staatshaushalt. Die eigentliche Gcschäftsabteilung des Rcichsraths ist die Reichskanzlei, mit dem Rcichssekretär an der Spitze. Gegeuwärtig besteht der Neichsrath aus dcn Großfürsten, den meisten Höhcrm Reichs- und Hofbeamten, dcn gegenwärtigen nnd früheren Ministern und den bedeutenderen Ministergehülfen (Nutcrstaatssckretärcn). Alle sind auf Lebenszeit ernannt. Das militärische Element überwiegt. Ein wesentlicher Unterschied besteht zwischen den Mitgliedern der Departements, welche als Fachmänner die laufenden Geschäfte erledigen und den Mitgliedern des Plenums, welches nur zusammeutritt, wenn allgemeine Fragen von Wichtigkeit zu entscheiden sind. Nach dem gewöhnlichen Geschäftsgänge gehen alle in den cntzclnen Ministerien ausgearbeiteten Rcgierungsaktc, welche der Bestätigung des Kaisers bedürfen, zuerst in das Mittistcrkomits, werden dort verhandelt und gelangen dann in den Rcichsrath, wo sie von Neuem berathen und mit einem Protokoll, welches die Anschauungen der Körperschaft darstellt, in die eigene Kanzlei des Kaisers gesandt werden, die sie dann dem Zaren zur Sanktion vorlegt. Ist letztere erfolgt, fo nehmen die betreffenden Aktenstücke ihren Weg zum Senat, begleitet von einer kaiserlichen Kabiuctsordre, welche befiehlt, ihnen Gesetzeskraft zu geben und sie demgemäß zn Promulgieren oder an die Behörden, die es angeht, zu senden. So ist also die Wirksamkeit des Reichsraths eine berathende, die des Senats eine vollziehende. Übrigens enthal-ien die genannten Neichsrathsprotokolle neben dcn Majoritätsbeschlüssen auch die Minoritätsgutachtcn und es bleibt dem kaiserlichen Willen überlassen, welche von diesen er bestätigt. Es geschieht nicht allzuseltcn, daß der Kaiser die Ansicht der Neichsraths-Majorität verwirft und die der Minorität zum Gesetz erhebt. !>. Das Minister-Komit6. Russland hat seine Minister — 30 — llild seine einzelnen Ministerien, aber kein Gesammt-Miuisterium. kein Kabinet im politischen Sinne mit einem leitenden Ministerpräsidenten. Man würde deshalb irren, wenn man in dem Minister-Komit« etwas ähnliches vermuthete, wie einen westeuropäischen Mimster-Nath, welcher über die Grundfragen der inneren nnd äußeren Reichspolitik beräth und entscheidet. Zwischen den (5hcfs der verschiedenen Vcrwaltungszwcige besteht weder Zusammenhang noch Solidarität und die Aufgabe des Ministcr-Komitss besteht nur darin, eine Anzahl von Regierungs-Vor-lagen vorläufig zu berathen und für die Verhandlung im Reichs-rath vorzubereiten. Übrigens ist dasselbe nicht allein ans den Ministern und den Chefs selbständiger Verwaltungen zusammengesetzt, es gehören zn ihm auch die Abteilungspräsidcnten der eigenen Kanzlei des Kaisers, der Oberproknrator des Heiligen Synod, der Neichskontroleur und die Vorsitzenden der drei Departements des Neichsraths. Der ständige Präsident des Minister-Komitüs, der selbst nicht aktiver Minister ist, wird vom Kaiser unter den höchsten Würdenträgern ernannt, sein Amt bringt mehr Ehre als politische Bedeutung. o. Der Dirigierende Senat wurde 1711 von Peter dem Großen an Stelle des ehemaligen Vojarcnraths eingesetzt, erhielt durch Katharina II. eine neue Organisation und erlitt später verschiedene Umgestaltungen. Ursprünglich war diese Behörde mit sehr bedeutenden Rechten ausgestattet, während der Abwesenheit oder Minderjährigkeit des Monarchen mit der höchsten Gewalt betraut nnd sollte sämmtliche Zweige der Verwaltung kon-trolicren. Gegenwärtig ist ihre Thätigkeit fast nur auf gerichtliche Funktionen beschränkt und der Senat ist kaum noch etwas anderes, als der oberste Kassationshof und der Verkündiger der Gesetze. Nominell besitzt er freilich noch ausgedehntere Aefng-nisse, wie z. B. das Recht, jeden Beamten, die höchsten nicht ausgenommen, sowic jeden Unterthan des Reichs vor sein Forum zu zitieren und abzuurteilen. Gegen seinen Spruch giebt es keine gesetzliche Appellation, über demselben steht nur der — 31 — Gnadcnakt dcs Kaisers. Jeder Unterthan hat das Nccht, mit Umgehung aller übrigen Behörden, sich wegen Übclständen im Reiche klagend an den Senat zu wenden, der die Sache verfolgt. Ein Nest seiner Funktion als oberster Kontrolleur der Staatsmaschinc hat sich erhalten, indem der Senat bisweilen im Auftrage dcs Monarchen einzelne seiner Mitglieder in bestimmte verdächtige Gonvernemcnts zur Revision sendet. In solchen Fällen besitzen diese Senatoren eine ganz enorme Machtvollkommenheit. Sie revidieren alle Kassen, alle Bureaus, alle Institutionen der Regierung in den angewiesenen Landesteilcn und haben das Recht, jeden Beamten ohne Ausnahme, selbst den höchsten, augenblicklich zu Mieren, zu entlassen, zu verhaften und den Gcrichtcu zu übergeben. Es muß ihnen in den ganzen Negierungs- und Gc-meinde-Verwaltnngsapparat Einblick gegeben werden, sie nehmen alle Klagen der Bevülkcrnng entgegen nnd informieren sich aufs Genaueste über die Lage der letzteren. Nachdem sie nach jeder "Achtung hin, so weit es im Augenblicke möglich, Ordnung gemacht, kehren sie nach St. Petersburg zurück und überreichen "cm Kaiser ihren Bericht mit den Vorschlägen über nothwendige deformen nnd Änderungen, die dann Anhaltspunkte für weitere Maßnahmen der Negierung bilden. In den letzten Jahren wurden vielfach dergleichen Senatorcnrcvisioncn in den verschiedensten Teilen dcs Reichs unternommen. Sie haben unendlich viel Adelstände aufgedeckt uud die besteu Früchte getragen. Der Senat zerfällt in eine größere Anzahl von Departements, die meisten mit juristischem Geschäftskreis, eins ist für die Landesvermessung bestimmt, eins wird durch das Heroldsamt gebildet. Jedes Departement hat seinen besonderen Ober-Prokurator . im Heroldsamt tritt an die Stelle dcs letzteren der Heroldsmeistor. An der Spitze der gesammten Körperschaft steht der Iustizmimster als Generalprokurator des Senats. Die Zahl der Senatoren, welche vom Kaiser ernannt werden, ist unbegrenzt. Sle zerfallen in zwei Kategorien, von denen die eine nur den Sitzungen des Plenums beizuwohnen hat, die andere den Bc- — 32 — stand der Departements bildet und die Geschäfte als Fachmänner versieht. ä. Der Heilige Synod. Eine der bedeutsamsten Rcfur-men Peter des Großen war es, daß er die nationale Kirche mit dem Staat verknüpfte und ihren Einfluß auf das Volt der Regierung dienstbar machte. Zn diesem Zwecke beseitigte er das Patriarchat, indem er nach dem Tode des Patriarchen Adrian (1700) dessen Stuhl unbesetzt ließ und, statt der persönlichen Spitze, die Leitung der kirchlichen Angelegenheiten einem geistlichen Kollegium, dem „Heiligen Synod", anvertraute (1721). Das Wesen der russischen Kirche nud ihre hierarchische Ordnung blieb dabei unberührt. Der Heilige Synod existiert heute noch in derselben Weise, wie ihn sein Gründer organisiert hatte. Er ist die Zentralbehörde für alle Angelegenheiten der russischen Kirche und hat in geistlichen Dingen ungefähr dieselbe Stellung wie der Senat in weltlichen. Er führt die Aufsicht über den gc-sammten Klerus, präsentiert zu allen geistlichen Ämtern, wacht über die Reinheit der Lehre, sorgt für die Handhabung der kirchlichen Gesetze, überwacht die geistlichen Schulen u. dgl. m. Der Synod besteht aus deu höchsten Würdenträgern der russischen Kirche; sein Präsident ist der jedesmalige Metropolit von St. Petersburg, Nowgorod und Finland. Den Kaiser vertritt ein hoher Beamter, ein Laie, der Obcrvrokurator des Heiligen Synod. Nach einer Anweisung Peter des Großen soll derselbe „ein kühner Mann, womöglich ein Militär" sein. Er legt dem Kollegium die zu berathenden Angelegenheiten vor, ohne seine Zustimmung ist kein Beschluß giltig und die Ausführung des Beschlossenen hat er einzuleiten. s. Die Ministerien wurden von Alexander 1. ziemlich gleichzeitig mit dem Ncichsrath gegründet. Der aufgeklärte Monarch wollte seinem Lande Institutionen geben, welche den Einrichtungen der großen europäischen Staaten entsprächen. Auch bei der Organisation der Ministerien war Frankreich das Vorbild. Durch einen UNs (Erlaß) des Kaisers aus dem Jahre — 33 — 1802 wurden sie an die Stelle der Kollegien Peter deö Großen gesetzt, welchen letzteren das Prinzip der Kollegialverwaltung zu Grunde lag. Sämmtliche Ministerien zerfallen in Abteilnngcn, die bei den meisten die Bezeichnung „Departement" führen und fast ganz unabhängig von einander sind. Jedem Minister steht ein Konseil, ein Rath des Ministeriums, zur Seite, für dessen Versammlungen übrigens keine bestimmten Termine anberaumt sind. Die Minister sind Generaladjutanten, wirkliche Geheimräthe oder Staatssekretäre. Der letzte Titel bezeichnet sozusagen die Civil-Generaladjutanten des Kaisers. Er bleibt, auch wenn sein Träger das Amt aufgiebt, das ihn mit sich brachte und hat insofern hohen Werth, als er den Zutritt zur Person des Kaisers einschließt. Gewöhnlich steht dem Minister ein Minister-Gehilfe (Towärischtsch, eigentlich Gefährte, Genosse, Kamerad) zur Seite, der etwa dem westeuropäischen Uuterstaatssetretär entspricht, die Geschäfte übernimmt, welche sein Chef ihm anvertraut und denselben während dessen Abwesenheit von der Haupt- und Residenzstadt vertritt. Die russischen Minister haben in der Regel einen bis zwei Empfangstage wöchentlich, an denen jeder, welcher Gesellschaftsklasse er angehöre, mag er noch so armselig und schmutzig gekleidet sein, Zutritt zu dem Empfangszimmer des Staatswürdenträgers hat, um diesem seine Bitte oder Klage mündlich vorzutragen und schriftlich zu überreichen. Die Humanität und Gerechtigkeit dieser Einrichtung, die sich übrigens bei allen hochgestellten Beamten Russlands wiederholt, liegt so klar zu Tage, daß sie dem hochcioilisierten Westen dringend znr Nachahmung zu empfehlen wäre. An solchen öffentlichen Empfangstagcn bietet der Audienzsaal namentlich des meist beschäftigten und meist überlaufeneil Ministers des Innern, ein höchst pittoreskes Bild aus dem an Gegensätzen so unendlich reichen russischen Volksleben. Neben Bauern aus weitentlegenen Gouvernements in ihrer einfachen Tracht, mit dem Staub der langen Wanderung am riemcngeknüpften Bundschuh, lehnt der mit Orden bcsäete hohe Staatsbeamte oder Meyer, Nusslanb. n. 3 — 34 — der elegante Kammcrherr in reicher, goldgestickter Uniform. Dann fulgt der hcrabgekommenc Sprößling eines weiland mächtigen Adelsgeschlcchts in dürftigster, armseligster Kleidung. Er sucht ein Amt oder ein Stnatsalmoscn. Hier klirrt ein schmucker Kavallerie-Offizier ungeduldig spielend mit den Sporen, dort ruht in erhabener Würde der Pope in langem Talar mit tief herabhängendem Bart- und Haupthaar. Kaufleute, welche Unternehmungen bewilligt haben wollen, bei denen es sich um Millionen handelt, harren ruhig ucben Gelehrten, Künstlern, kleinen Beamten. Der polnische Jude in schmutzigem schwarzen Kaftan wartet auf seine Zeit neben dem braven, von dem Feinde zum Krüppel geschossenen Invaliden, dessen Brust kaum Platz genug bietet für die vielen Ehrenzeichen, welche die Geschichte seines bewegten Lebens erzählen. Hoch uud niedrig, arm und reich umfaßt gleichzeitig der geschmackvoll ausgestattete weite, helle Raum. Ein gewisser Unterschied wird allerdings gemacht. Die Höheren, welche gewöhnlich Dinge mit dem Minister zu verhandeln haben, die sich nicht zur öffentlichen Besprechung eignen, werden einzeln in das Kabinet dcö Mächtigen geladen und erledigen dort ihre Geschäfte. Sind diese vertraulichen Unterredungen beendigt, so tritt der Minister in den großen Audienz-saal und nun herrscht dort Grabesstille. Von einem einzigen Beamten begleitet, geht der hohe Herr von Person zu Person. Eigenhändig uimmt er die Gesuche entgegen, liest sie und übergiebt sie seinem Begleiter. Mit jedem spricht er, mit dem einfachsten und ärmsten, wie mit dem vornehmsten und reichsten, und zwar mit einer Freundlichkeit und Artigkeit, wie man sie — ich betone das ganz besonders — nur in St. Petersburg findet. Die Ministerien der russischen Hauptstadt befinden sich sämmtlich in großen palastartigen Gebäuden mit reicher geschmackvoller inneren Ausstattung. Alle Raume imponieren durch ihren Umfang, ihre Höhe und Helligkeit und werden im Winter durch enorme Heizungsvorrichtnngcn erwärmt, die von dem Vorplatz — 35 - an im ganzen Gebäude eine gleichmäßige Temperatur verbreiten. Überall herrscht die größte Ordnung und Sauberkeit. Hat cm Ausländer Geschäfte in einem russischen Ministerium und versteht auch nicht ein Wort russisch, so mag er nur ganz unbesorgt ohne Dolmetsch die Näume der hohen Behörde betreten; er kann sicher sein, daß eine ganze Anzahl von Beamten die ihm geläufige Sprache sprechen und ihm mit der größten Zuvorkommenheit nud Liebenswürdigkeit alle nothwendigen Aufschlüsse geben werden. Russland hat augenblicklich zehn Ministerien. Diese sind das Ministerium 1. des Hofes Kaiserlichen Hauses); 2. der auswärtigen Angelegenheiten; 3. des Innern; 4. der Finanzen; 5. der Justiz; 6. der Volksaufklärung (des öffentlichen Unterrichts); 7. der Verlehrsanstaltcn; 8. der Domänen (Staatsgüter); 9. des Kriegs und 10. der Marine. Zum Ministerium des Hofes gehört neben den üblichen Geschäften dieses Ressorts die Verwaltung der Apanagen, das Ordenskapitel, die Akademie der Künste und die Eremitage (Museum für bildende Kunst). Übrigens ist der Hofstaat des russischen Kaisers ein so zahlreicher, daß dessen Verwaltung allein Arbeit zur Genüge bringt. So bestehen an dem Hofe die bekannten sieben Erzämtcr als erste Hofchargcn; jeder Träger eines solchen hat seinen Stab und alle sieben zusammen zählen nur an Hofbcamten und Dienern etwa 4030 Köpfe. Dazu kommt endlich noch eine enorme Anzahl von Kammerhcrren, Kammcrjun-kern, Kammerpagcn und Pagen. Wie es die politischen Interessen Nusslands bedingen, hat das Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten fein besonderes asiatisches Departement. Beim Kriegsministerium befindet sich eine abgesonderte Verwaltung der Russland eigentümlichen irregulären Truppen. Das Ministerium des Innern hat ein Departement für fremde Kulte, ein Mcdizinal-Departemcnt, ein statistisches Konnte und umfaßt die Verwaltung der Posteu und Telegraphen sowie die Oberpreßverwaltung mit den Censurkomi- — 36 — t6s. Der Name des Domänenministeriums bezeichnet nur unvollkommen die große Bedeutung und die vielseitigen Aufgaben dieser Behörde. Sie verwaltet — mit Ausnahme des in Kau-kasicn und Turkestan gelegenen — alles Staatseigentum, die ungeheuren Staatswaldungen, den Bergbau, die Montan-Industrie, dirigiert sämmtliche Lehranstalten für Landwirthschaft, Forst-und Bergwesen, leitet die großen Vermessungen, bcanfsichtigt das Reichs-Gestütwesen, den Fischfang, ja es administriert die Gesammtangelegenheiten mancher Völkerschaften (wie z. B. der Kalmyken) ganz und gar. f. Die Provinzialverwaltung. Der kolossale Regic-rungsapvarat des Riesenreichs gliedert sich auf autokratischer Grundlage von den Centralregierungsinstitutionen herab bis zu den Verwaltungen der kleinsten Staatscinhciten. Das Reich zerfällt in Gouvcrucmcnts, die Gouvernements in Bezirke oder Kreise, die Kreise in Stadtverwaltungen und bäuerliche Amtsbezirke oder Gemeindcvcrbände (Wulost), die letzteren endlich in die einzelnen Bauern gemeinden. Peter der Große hatte das Land in 8 Gouvernements geteilt, seine Tochter Elisabeth vermehrte diese auf 16, Katharina II. auf 40. Die Zahl dieser Verwaltungsgebietc wuchs von Negierung zu Negierung, weniger durch den Zuwachs des Reichs als durch die Vermehrung der Bevölkerung. Die früheren Gouvernements Peters und Katharinas mußten in zwei, ja zuweilen in vier Teile zerlegt werden, ohne daß die mittlere Zahl der Bevölkerung geringer wurde. Die aus administrativen Rücksichten hervorgehende Begrenzung der Gouvernements (vgl. Bd. I. S. 2) ist meistens künstlich und willkürlich; historische Tradition, Verwandtschaft der Volksstämme u. dgl. hat mit derselben nichts gemein. Diese Gouveruements, deren Zahl im Verhältnis zur Größe des Reichs eine geringe ist, sind an Ausdehnung sehr verschieden, je nach der Zone, dem Klima, der Bevölkerungsdichtigkeit. Die nördlich und östlich gelegenen unifassen ein größeres Areal als die bedeutendsten Staaten des westlichen Europas. — 37 — Die mittlere Ausdehnung derselben übertrifft immer noch Belgien, Holland, die Schweiz. Freilich steht die Bcvblkerungszahl fast in umgekehrtem Verhältnis zur Grüße dieser Provinzen. Von den Gouvernements unterscheidet man die Gebiete. Es sind dies gewöhnlich kürzlich erworbene Landesteile, deren Verwaltung diese oder jene Lokalcinrichtung beibehalten hat und die demgemäß nicht vollständig dein Gonvcrnements-Organismus entsprechen. Sind sie später dem Reiche assimiliert, so werden sie in Gouvernements verwandelt.*) Die Gouvernements, und zwar hauptsächlich die an der Grenze, waren früher in Gruppen zu drei nud vier in General-Gouvernements vereinigt, deren weites Gebiet unter General-gouvcrneuren mit ausgedehnter Machtvollkommenheit stand. Man hatte diese Einrichtung aus Gründen der Staatsraison nach und nach aufgehoben. Alexander II. rief sie während der letzten von der Revolution bedrohten Jahre seiner Regierung von neuem ins Leben und sie bewährte sich, indem man die wichtigen Posten den tüchtigsten nnd erfahrensten Generalen der russischen Armee anvertraute. Gegenwärtig giebt es im europäischen Russland, abgesehen von Finland, das seinen eigenen Gcneralgouverneur hat, und Moskau, dessen Gouvcrnementschef jene Bezeichnung nur als Ehrentitel führt — 5 Generalgouvernements, welche die folgenden Gouvernements einschließen. Generalgouvernement. Gouvernements. 1. Warschau. Warschau und die Wcichscl- gouvernements. 2. Ch-irkow. Charkow, Tschcrnlgow, Poltüwa. 3. Kilcw. Kljcw, Wolynien, Podolien. 4. Odessa. , Cherssun, Ickatcrinosläw, Tau- rien, Vessarabien. 5. Wtlna. Wllna, Kowno, Grädno. *) Die Kosakengebiete, welche halb militärisch, halb bürgerlich organisiert sind, werden „Länder" genannt, z. B. das Land der domschen Kosaken, — 38 — Das Amt der Generalgouverneure ist mit fast unbeschränkter Machtvollkommenheit ausgestattet und erstreckt sich über Landesteile, die den Umfang Deutschlands weit hinter sich lassen. Innerhalb seines Gebiets schaltet ein solcher Machthaber freier als ein konstitutioneller Monarch. Er kommandiert sämmtliche in dem Generalgouvernement befindliche Truppen und ist gleichzeitig die autokratischc Spitze des ganzen Negierungsaftparats. Er kann Beamte und Offiziere jederzeit anstellen und entlassen und hat in Betreff des geschäftlichen und sozialen Lebens der Bevölkerung sehr weitgehende Befugnisse. Für die Provinzen ist die Zwischenregierung dieser Mächtigen, sobald sie tüchtige Männer sind, worauf im autokratischcn Staat ja alles ankommt, eine Wohlthat, für die Ministerien eine große Entlastung. Der Wirksamkeit jener durch Alexander II. ernannten Gencralgouver-neure, die freilich fast sämmtlich energische, begabte, ehrliche und Populäre Männer waren, ist es zuzuschreiben, daß in den letzten Jahren, nach dem Nihilisten-Terrorismus, wieder Ruhe und Ordnung in Russland eingekehrt ist. An der Spitze des Gouvernements steht der Gouverneur, ihm zur Seite der Vizegouverneur, der einem kleinen Raths-Kollegium, der Gouvernementsregierung, präsidiert. Auch der Gouverneur ist ein kleiner König in seinem räumlich großen Königreich. Natürlich sind seine nur oberflächlich bestimmten Machtbefugnisse einigermaßen zusammengeschmolzen, wo er einen Generalgouvcrneur in nächster Nähe über sich sieht. Auch sind dieselben neuerdings start beschnitten worden, teils durch gesetzliche Vorschriften, teils durch die vermehrte Öffentlichkeit und die verbesserten Kommumkationsmittel. So hat er mit gerichtlichen Dingen nichts mehr zu schaffen und manche seiner ehemaligen Funktionen hat die Semstwo übernommen, von welchem Institut der Selbstverwaltung später die Rede sein wird. Trotzdem liegt das Geschick seiner Beamten wie das Wohl und Wehe der Bevölkerung vielfach in seiner Hand. Er beherrscht den Regierung saftparat, doch stehen die im Gouvernement befindlichen — 39 — Truppen nicht unter seinem Kommando. Während die Gouver-neurspostcn früher als einträgliche Versorgung für altgewordenc höhere Staatsdiener betrachtet wurden, sucht man dieselben neuerdings mit frischen, jungen, energischen und thätigen Kräften zu besetzen. Die jetzt im Amt befindlichen Gouverneure sind der Mehrzahl nach redliche, offene, tüchtige Männer, die ihre Pflichten nach bestem Wissen und Vermögen erfüllen und der hohen Vertrauensstellung, die sie einnehmen, würdig sind. Die Kreise oder Bezirke, in welche die Gouvernements zerfallen, haben meistens einen älteren Bestand und eine natürlichere Begrenzung als jene. Das Gouvernement hat deren je nach seiner Ausdehnung und Bcvölkerungsdichtigkcit 8 bis 15. Der Chef des Kreises, IsMwnik, ist kein Vcrwaltungsbcamtcr, wie etwa der preußische Landrath oder der französifche Unter-Präfclt, seine Wirksamkeit ist eine vorzugsweise polizeiliche. Die eigentliche Verwaltung des Kreises geschieht von der Gouverne-mcntsbehörde aus. In den Kreisen sondern sich die nächstfolgenden Verwaltungs-Parzellen in Stadt und Land. Für die Städte wurde im Jahre 1870 eine Städte-Ordnung crlaffen, welche seitdem in dem größeren Teile Russlands eingeführt ist und auf dem Prinzip der Selbstverwaltung durch gewählte Organe beruht. Nach ihren Bestimmungen ist die „Allgemeine Stadtverwaltung" in folgender Weise gegliedert. 1. Die Wahlversammlung der unbescholtenen Bürger, welche das 25. Jahr erreicht haben, wählt die Stadtverordneten. Die Versammlung der Stadtverordneten (Duma) ernennt die eigentliche Verwaltungsbehörde der Stadt, das Stadtamt (Npräwa), den Magistrat. An der Spitze dieses Stadtamtes und der gesammtcn Stadtverwaltung steht das, gleichfalls von der Stadtverordnetenversammlung gewählte Stadthaupt, der Oberbürgermeister oder Bürgermeister. In kleinen Städten können diesem Stadthaupt mit Bewilligung des Ministeriums auch die Pflichten des ganzen Stadtamtes übertragen werden. - 40 — Ist dic russische Stadtverwaltung in ihren Hauptzügcn eine Nachbildung westeuropäischer Einrichtungen, so hat sie doch keineswegs ein so weites Feld für ihre Wirksamkeit, wie ihre älteren Schwestern. Jedenfalls ist dasselbe für die Elemente, aus denen die D,ima zu bestehen Pflegt, mindestens groß genug. Bei der Landbevölkerung begegnen wir zunächst dem Gemeindeverband oder Amtsbezirk sWalost). Derselbe besteht in der Vereinigung mehrerer Dorfgemeinden zu einem administrativen Körper mit beschränkter richterlicher Gewalt. Eine besonders große Gemeinde kann auch für sich allein eine Wulost bilden. Je zehn Banerhöfe wählen einen Abgeordneten in die Wölostversammlung, Zu welcher außerdem alle Gemeinde- und Wolostbeamten gehören. Die Wolostversammlung steht unmittelbar unter der Abteilung für Baucrnangclegenheitcn der Kreis-behördc, welche die Beschwerde-Instanz für diesen Gemeindever-band ist. Der Versammlung präsidiert der WülosVÄlteste (Star-schinü). Er ist zugleich der Chef der W6lost-Vcrwaltung, zu welcher alle Beamten des Gemeindcvcrbandcs nebst einigen gewählten Beisitzern gehören. In den meisten Angelegenheiten hat die Wolost nur emc berathende, keine beschließende Stimme. Das Wolost-Gericht entscheidet in Streitigkeiten bis zum Werth von 100 Rubeln, kann Geldstrafen bis zu 3 Rubel verfügen und auch auf Ruthenstrafe erkennen. Die Bauerngcmeinde endlich, die letzte Einheit in der russischen Staatsmaschine, umfaßt die Bauern eines Dorfes mit gemeinsamen Grundbesitz (Mir). Wie das Landeigentum ein gemeinschaftliches ist, fo sind es auch die Pflichten dem Staate gegenüber. Für die Abgaben, Naturallieferungen, die Einstellung der Rekruten hastet nicht der einzelne, sondern die ganze Gemeinde, die Regierung giebt ihre Vorschüsse an Geld und Getreide nur der Gemeinde, als solcher, nicht dem einzelnen Bauer. Ihre Interessen verwaltet die Bauerngemeinde durch gewählte Vertreter, den Gemeindeausschuß, an dessen Spitze der gleichfalls gewählte und von der Negierung bestätigte Dorfälteste (Stärosta) — 41 — steht. Der Gemeindeausschuß entscheidet über die Verteilung der Grundstücke, die Umwandlung von Gemeindebesitz in persönliches Eigentum, Verteilung und Erhebung der Steuern, Erwerbung von Gemeindebesitz, Errichtung von Magazinen, Schulen u. dgl. m. Er hat eine fast unbeschränkte Gewalt über die Gemeindemitglieder, die so weit geht, daß er Mißliebige aus administrativen Gründen nach Sibirien schicken kann. Diese ungeheure Macht in der Hand roher Bauern resultiert aus der Solidarität des Landbesitzes und der Haftbarkeit für Steuern und Abgaben. So bildet die Dorfgemeinde eine durch Gesetz, Besitz und Pflichten gegen die Regierung eng verbundene Familie, eine Einheit, wie sie sich im Völkerlebcn der Welt nicht wiederholt und die man versucht wäre für ciuc Ausgeburt sozialistischer Traume zu halten. 3. Das Landhecr. Wie in andern monarchischen Staaten, war auch iu Nuss-land die Armee von jeher das Licblingskmd der Herrscher, und die stetige Sorge, welche die Zaren dem Heere zuwandten, hat sich bis auf den heutigen Tag unvermindert erhalten. Infolge dessen gehört die russische Armee zu den besten Institutionen des Staates. Man unterscheidet in Russland reguläre und irreguläre Truppen. Ich spreche zunächst nur von den ersteren. In früheren Zeiten suchte der Adel eine besondere Ehre darin, dem Heere, besonders aber den Garde-Negimcntcru der Nesidenz anzugehören, denen es so an einem Nachwuchs gewandter Offiziere niemals fehlte. Anders verhielt es sich mit der Linie und besonders der LiniewInfantcrie, deren Offiziere aus den unbemittelten Ständen hervorgegangen, an Schulbildung und militärischem Wissen außerordentlich viel zu wünschen übrig ließen. Dafür war denn auch ihre Carriere eine sehr beschränkte und über den Hauptmann hinaus brachten es nur wenige. Die Stellen der Stabsoffiziere wurden aus der Garde — 42 — besetzt, aus welcher die Streber mit Rangerhöhung in die Linie übertraten, um einige Jahre später, nach starkem Avancement, in die Garde zurückzukehren. Im Gencralstab, den technischen Truppen und dem Kriegsministcrium befanden sich damals viele baltische Deutsche und Ausländer, welche vom Hofe freundlich angesehen, der Mehrzahl nach durch gewissenhafte Pflichterfüllung, Fleiß, Bildung und hervorragende Tapferkeit sich zu bedeutenden Stellungen emporzuschwingen wußten. Alle diese Zustände gehören jedoch der Vergangenheit an nnd die russische Armee der Gegenwart ist eine völlig andere geworden. Dem Grundprinzip dieser Schilderungen gemäß werde ich im Folgendeu keineswegs eine allseitig erschöpfende militärisch-statistische Beschreibung der russischen Truppen geben. Ich werde mich darauf beschränken. Einrichtungen, Zustände. Besonderheiten dem Leser vorzuführen, welche die russische Armee in wesentlichen Dingen von den westeuropäischen Heeren unterscheiden. Im Allgemeinen kann man mit Sicherheit behaupten, daß sich die russischen Truppen durchgängig auf der Bahn entschiedenen Fortschritts befinden. Die niederen und höheren Militärbildungsanstaltcn, welche von den letzten Monarchen mit ganz besonderer Sorgfalt gepflegt wurden, haben den günstigsten Einfluß auf das allgemeine Niveau der militärischen Kultur ausgeübt. Der nach der Aufhebung der Leibeigenschaft teilweise verarmte Adel wie die intelligenten Elemente der russischen Nation dienen mit Vorliebe in den Reihen der Armee, wie es denn bei der Lcichtlcbigkeit des Nusseu und seiner geringen Ausdauer für wissenschaftliches Studium und ernste Beschäftigung nicht leicht einen passenderen ehrenvollen Beruf für ihn geben kann, als den OffiZiersstand. Je tiefer und eigenartiger die Bildung des russischen Militairs geworden, desto mehr hat das Einströmen deutscher Elemente aus den Ostsceprovinzen und ausländischer Einwanderer sich vermindert. In neuerer Zeit hat dasselbe fast ganz aufgehört und selbst die technischen und gelehrten Truppenteile purificieren sich^ fortdauernd von nicht nationalen Vcstaudteilen. Dieser __ ^I __ Vorgang liegt durchaus in der Natur der Sache und ist keineswegs in nationalen Antipathien begründet. Nussland ist su außerordentlich verschieden von den Ländern Westeuropas und seine Eigentümlichkeiten sind so markant ausgeprägt in dem innersten Leben der Armee, daß der Ausländer mit seiner Erziehung und seinen Lebensanschauungen, selbst bei hervorragender Begabung, im Schoße des russischen Heers sich vorkommen muß, wie cm auf fremden, ungünstigen Boden verpflanztes Gewächs, das nicht gedeihen kann und in feiner Umgebung nur störend wirkt. In neuerer Zeit wird dem ticfeingewnrzelten Protektionswesen in der Armee ^ das ja auch anderwärts noch in üppiger Blüthe steht — von Oben kräftig entgegengearbeitet, die Avan-ccmentsverhältnisse werden mit Einsicht festgestellt, die Gagen verbessert, alle übrigen Beziehungen des iDffizicrscorps sorgfältig geregelt und der Dienst desselben ist ehrenvoller und aussichtsreicher geworden. Junge und tüchtige Kräfte werden jetzt rascher befördert und die älteren, unfähigen Elemente durch Pensionierung ausgeschieden. So ist denn das Offizierscorps der Armee, selbst in der früher gemiedenen Linien-Infanterie, ein ganz anderes geworden und hat seine Vorgänger weit hinter sich zurückgelassen. In jedem Truppenteil begegnen uns anständige, gut equipierte junge Offiziere, deren Wissen dem deutschen Durchschnittslieutenant nicht nachsteht. Selbstverständlich hat diese Umgestaltung auf das ganze Heer ihren wohlthätigen Einfluß ausgeübt. Selbst die Besatzungen der kleinsten, entlegenen Provinzialstädte lassen cs an Sauberkeit, Ordnung und Schlagfcrtigkcit nicht fehlen. Von segensreichstem Einfluß nicht allein auf die Tüchtigkeit und den allgemeinen Bildungsgrad der Armee, sondern auch auf das Bildungsstrcben im ganzen Volke war die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht durch Alexander II. im Jahre 1874. Man hat diese Einrichtung in weiser Fürsorge als ein wirksames Mittel benutzt, um das in Nusfland noch sehr niedrig — 44 — stehende allgemeine Bildungsniveau zu erhöhen und den Eifer zur Erwerbung nützlicher Kenntnisse zu wecken und zu reizen-Während die Gesmnmtdicnstzcit bei den Landtruppen auf 15 Jahre normiert wurde, von denen 5 resp. 6 je nach den verschiedenen Truppenteilen auf den aktiven Dienst kommen, erfreuen sich diejenigen, welche Bildungsanstaltcn verschiedenen Grades absolviert haben, auch wenn sie nicht als Freiwillige eintreten, der folgenden Erleichterungen: 1. Diejenigen, welche den Kursus einer Universität oder einer anderen Lehranstalt erster Kategorie beendet oder eine entsprechende Prüfung bestanden haben, befinden sich nur 6 Monate im aktiven Dienst und I4>/2 Jahre in der Reserve. 2. Diejenigen, welche den Kursus iu Lehranstalten zweiter Kategorie (Gymnasien, Realschulen u. dgl.) beendet oder ein entsprechendes Examen abgelegt haben, verbleiben 1'/^ Jahre im aktiven Dienst und I.^ Jahre in der Reserve. 3. Bei vollendetem Kursus in Lehranstalten dritter Kategorie bleiben die Eingezogenen 3 Jahre im aktiven Dienst und 12 Jahre in der Reserve. 4. Der vollendete Kursus in Lehranstalten vierter Kategorie (Elementarschulen u. dgl.) giebt das Recht auf den verkürzten aktiven Dienst von 4 Jahren mit II Jahren in der Reserve. Die als Freiwillige in die Reihen der Armee eintretenden erfreuen sich noch größerer Vergünstigungen. Sie zerfallen nach ihrem Bildungsgrade in drei Klassen, welche die folgenden Zeitabschnitte in der aktiven Armee zu dienen haben: 1. Diejenigen, welche eine Bildungsanstalt erster Kategorie mit abgelegtem Schluh-Examen absolviert haben, 3 Monate. 2. Die Abiturienten einer Vildungsanstalt zweiter Kategorie, 6 Monate. 3. Diejenigen, welche ein Examen nach besonderem Programm bestanden haben, 2 Jahre. - 45 — Nach Ausdienung dieser Zeit können die Freiwilligen, fo-wol die im Unteroffizicrsrange stehenden, wie die zu Offizieren beförderten, entweder den aktiven Dienst fortfetzen oder sich znr Reserve zählen lassen, in welcher sie 9 Jahre verbleiben. So wird also der Student einer Universität, der sein Examen gemacht hat, nach dreimonatlichem aktiven Dienst, wenn er sich gut geführt, Offizier, je nach feinem Belieben, in der aktiven Armee oder in der Reserve; der Abiturient eines Gymnasiums nach 6 Monaten. Die Freiwilligen werden zu jeder Zeit des Jahres in den Dienst aufgenommen. Nur wenn sie in die Garde oder die Kavallerie eintreten, sind sie verpflichtet, sich aus eigenen Mitteln zu erhalten; bei den andern Truppen trägt der Staat die Kosten ihrer Sustcntation, wenn sie nicht den Wuusch aussprechcn, auf eigene Nechmmg zu leben. Nach dem Bestehen der festgesetzten Prüfung uud wenn ihre Vorgesetzten sie überhaupt für würdig erachten, erhalten die Freiwilligen ihre Beförderung zu Unteroffizieren: die 1. Kategorie nach 2. die 2. nach 4 Monaten, die 3. nach einem Jahr; zu Offizieren: die 1. Kategorie nach 3, die zweite nach 6 Monaten, die 3. nach 3 Jahren; doch muffen sie innerhalb der bezeichneten Fristen eine Lagerübnng mitgemacht haben. Heeres stärke, Bild uugsgrad, Religionsbekenntnis;. Nach Publikationen des russischen Kriegsministcrinms, welche mit dem 1. Januar 1883 abschließen, betrug die Stärke der Armee zn dieser Zeit 30 831 Generale, Stabs- und Oberoffiziere nnd 819 769 Unteroffiziere und Gemeine, also fast das Doppelte der deutscheu Friedensstärke. Hierbei ist selbstverständlich in erster Linie die kolossale Größe des Reichs, die enorme Ausdehnung seiner Grenzen zu berücksichtigen. Vom strategischen Gesichtspunkte aus läßt sich ja überhaupt nicht von einer russischen Armee als Ganzem sprechen, sondern nur von der europäisch-russischen, der kaukasischen, der ccntralasiatischen und sM nschen. Diese Heeresmassen stehen im Kriegsfall untereinander — 46 — in so gut wie gar keinem Zusammenhang und so schwindet denn auch die Bedeutung des scheinbar so großen Stärkeunterschieds den andern europäischen Truppen gegenüber. Das Bildungsniveau der Netruten ist noch ein bedauernswerth niedriges. Unter 212 900 Einberufenen befanden sich nur Fig. 8. Fig. 9. Soldat der Kaulasus-Armee. Feldwebel des Scharsschühenbataillons der kaiserlichen Familie. 5184, denen wegen ihrer wissenschaftlichen Bildung die Vergünstigung einer verkürzten Dienstzeit zu Teil werden konnte. Etwa 44000 konnten schreiben und lesen, 160 000 waren ohne Fig. ,o. Oberst eines GrenadicrregimentZ. ^^. ^c Russisches Heer unter Alexander III. Infanterie. I. Offizier der Linie in Parade-Uniform. 2. Feldwebel der Linie, feldmarschmäßig. 3. Soldat, feldmarschmäßig. 4. Liniensoldat. 5. Tambour der Linie. 6. Feldwebel van der Garde. ?. Soldat der Garde-Infanterie. 8. Offizier der Garde-Infanterie. 9. General non der Suite. 10. Adjutant von der Garde-Infanterie. 11. Offizier von den Schützen der kaiserlichen Familie. 12. Generaladjutant 3V. ^ Meycr, Nusslmid. II. 1. u. 2, Offiziere der Linien-Kavallerie. Z. u. 4. Soldaten der Linien-Kavallerie. 5. Soldat der Linien-Futz-Artillerie, «. Offizier der Garde-Feld-Artillerie. 7. Generalmajor der Linien-Kavallerie. 8. Soldat der Garde-Fuß-Ariillerie. 4 — 50 - jeglichen Unterricht. Der Religion nach unterschied man unter den Rekruten 162174 griechisch-katholische, 22 724 römisch-katholische, 7 038 evangelisch-lutherische, 769? Juden. 6742 Mu-hamcdancr, 281 Heiden u. s. w. Auch befanden sich unter den Einberufenen des Jahres 1882 zum ersten Mal 111 Mennoni-ten, welche sich der allgemeinen Wehrpflicht unterwerfen mußten, jedoch nicht zum Frontdienst verwandt wurden. Keine andere Armee in der Welt enthält ein solches Gemisch von Völkern und Religionen. Bekleidung, Bewaffnung, Ausrüstung. Die russische Armee glich in ihren früheren Uniformen der preußischen wie ein Ei dem andern; sie war eine Nachahmung derselben mit geringfügigeu Abänderungen. Aber schon unter Kaiser Nikolai I. wurde für die auf beständigem Kriegsfuß befindlichen Truppenteile eine Bekleidung eingeführt, welche der nationalen Tracht, den Volksgcwohnhciten, den klimatischen Bedürfnissen und der Bequemlichkeit in höherem Maße Rechnung trug. So finden wir im Anzug des Soldaten der ehemaligen Kaukasus-Armee, zur Zeit, als dieselbe mit den wilden Bergvölkern in ununterbrochenen Kampfe lag, die angeführten Gesichtspunkte in gewissem Grade berücksichtigt. (Fig. 8). Iu höherem Grade geschah dies bei dem von Kaiser Alexander II. errichteten Scharfschützenbataillon der kaiserlichen Familie, welches mit seinen weiten Hosen in den hohen Stiefeln, dem gehakten (nicht geknöpften) Halb-kaftan (Waffenrock) und der mit Lammfell besetzten Mütze (Fig. 9) den Übergang bildet zu der vollkommen nationalen Uniformierung, wie sie von dem jetzt regierenden Kaiser, mit Ausnahme weniger Garderegimenter, für die ganze Armee eingeführt wurde. Unsere Leser finden Typen dieser neuen Bekleidung in den Fig. 10, II, und 12, denen wir noch in Fig. 13 das Bild einer barmherzigen Schwester in der Tracht hinzufügen, wie sie von diesen weiblichen Schutzengeln der Armee im Felde getragen zu werden pflegt. Das Wesentliche der ueuen russischen Uniform besteht iu der Lammfcllmütze, dem Halbkaftan mit zwei Fig. 13. — 51 — übereinander gehakten Klappen, den weiten Hosen in den fast bis zum Knie reichenden Stiefelt:, einem Mantel aus naturfarbenem dicken Wollenstoff und dem Baschlyk, der bekannten Kopf- und Halsbetleidung von Kameelgarntuch. Dabei führt der Soldat noch eine Feldmütze deutschen Modells mit farbigem Rande. Diese Bekleidung, welche sich auf das engste an die russische Nationaltracht anschließt, sieht nicht allein schmuck und nett aus, sie ist auch ungemein viel billiger, als die früher mit blanken Knöpfen und Tressen versehene und erscheint als durchaus praktisch für die Kampagne. Das letztere hat sie noch zu bewähren. Es haben sich freilich auch schon tadelnde Stimmen hören lassen, welche darauf hinweisen, daß durch die neuen Halb-kaftans Brust und Magen zu stark zusammengeschnürt würden, doch scheint mir das, wenn es sich bestätigt, ein leicht zu beseitigender Mangel. Etwas anderes ist es mit der Fellmütze, an welcher man auszustellen hat, daß sie im Sommer zu heiß, keinen Schutz vor Sonne und Regen, für Augen und Genick, darbiete. Alles das, wenn es begründet ist, werden die Lager- Barmherzige Schwester im Feldlaznreth. - 52 — Übungen und Manöver binnen kurzer Zeit klar ans Licht stellen und man wird den wirklich vorhandenen Mängeln abzuhelfen suchen. Die Bewaffnung ist vortrefflich und der modernen Kriegskunst durchaus entsprechend. Die Infanterie führt ein Hinter-ladegcwehr von kleinem Kaliber (Berdan) mit Bajonnet, dessen Visir bis auf 1500 Schritte reicht. Die Offiziere, wie der größte Teil der Reiterei und der Artillerie führen den nationalen krummen Säbel, die Schäschka. Die Ausrüstung des Infanteristen besteht in einem Gcpäck-sack, einem Zwicbacksack, einem Stiefelfutteral, sämmtlich aus wasserdichtem naturfarbcncm Segeltuch, der Feldflasche, dem Kochkessel, einer Bahn des Zeltes, einem halben Zeltstock und einem Strick. Der Tornister ist abgeschafft. Am Leibgurt werden zwei Patrontaschen getragen. Jede Kompagnie führt außerdem 80 kleine Spaten und 20 Beile in Lederfuttcralen mit sich. Die Gesammtbelastung des Fußsoldaten beträgt 28,6 k^. Die gesammtc Linien-Kavallerie führt Dragonergcwehr mit Vajonnet. Karabiner, Revolver und Lanzen existieren nur bei einzelnen Garderegiementern. Gehalt, Löhnnng, Handwerke. Das Einkommen der Offiziere bis zum General ist außerordentlich gering gegenüber der enormen Theuerung aller Dinge, die nicht zum gewö'nlichen Lebensunterhalt gehären. Zwar ist die neue Uniform auch für den Offiziersstand bedeutend billiger, als die frühere, doch immer noch zu kostbar im Verhältniß znr kleinen Gage. So kann der Offizier, wenn er kein Vermögen besitzt, nur kümmerlich von seinem Gehalt existieren; die Folgen sind Verschuldung und Untcrschleife, gegen welche neuerdings in energischster und unnachsichtigster Weise von der Negierung vorgegangen wird. Auf der andern Seite trachtet man aber auch danach, durch Erhöhung des Gehaltes und der Tafelgelder und durch Verbesserung der Offiziersmcssen die materielle Lage des russischen Offizierscorps günstiger zu gestalten. — 53 — Die Löhnung dcr Mannschaften ist so außerordentlich klein, daß sie, mit Ausnahme der Türkei, niedriger ist, als in sämmtlichen modernen Staaten. Selbstverständlich ist die arme Familie nicht im Stande, den Soldaten zu unterstützen. So sieht er sich denn, um seine Lage einigermaßen zu verbessern, veranlaßt, in seinen dienstfreien Stunden, deren er genug hat, ein Handwerk zu treiben und für das Publikum zu arbeiten. In der Kaserne sind in der Regel sämmtliche Handwerke vertreten, duch wird die Schuhmacherei, als das einträglichste, den übrigen vorgezogen. Abgesehen von dem Geldverdienst, als erstem Motiv dieser Beschäftigung, ist die Sache an sich von enormen praktischem Werthe. In dein Riesenreich des Zaren, dessen dünn« gesäete Einwohner vorzugsweise Ackerbau treiben, hat der Bauer in seinem entlegenen Dorfe oder einsamen Gehöft, selten Gelegenheit, ein Handwerk zu erlernen, wie es doch außerordentlich förderlich für ihn wäre. Nun wird aber jedem Soldaten in der Kaserne ein Handwerk nach seiner Wahl gelehrt uud ist seine aktive Dienstzeit vorüber, hat er einen einträglichen Broterwerb für das bürgerliche Leben erlernt, mit dem er sich in Nussland, wo das Handwerk noch einen goldenen Boden hat, auskömmlich ernähren kann. So verdanken zahlreiche russische Handwerker aus dem Bauernstande die Erlernung ihres Berufs dem Mi-litairdienft, mancher Bauer, dcr auf seinem Hofe in der langen Winterzeit eine nutzbringende Hausindustrie betreibt, hat die Fertigkeit in derselben seiner Soldatcnzeit zu verdanken — während in den westeuropäischen Armeen dem Eingestellten die Zeit fehlt, ein Handwerk zu betreiben oder zu erlernen und derselbe häufig sogar vergißt, was er gekonnt hat uud für die Arbeit, die er früher betrieb, verdorben wird. Die Nahrung des russischen Soldaten kann nur so außerordentlich bescheidenen Ansprüchen genügen, wie sie der Land-Mann dort an seine Kost zu machen gewohnt ist. Kohlsuppe und Grütze zusammen mit dem trefflichen Schwarzbrod, bilden blc Hauptbestandteile derselben, selten kommt Fleisch dazu. Da- — 54 — zwischen trinkt der Soldat auch Thee, den er sich von dem Erlös seiner Arbeit anschafft und zu dessen Bereitung ihm die Kasernenküche jederzeit das nöthige hciße Wasser liefert. Kasernen. In den meisten größeren Städten sind die Soldaten, so weit es sich hat möglich machen lassen, in Kasernen untergebracht. Die Wohnungen der Garde sind musterhaft eingerichtet. Sie haben ihre besonderen Kirchen, Exercierhäuser, Manegen, Bade- und Turnanstalten und bestehen in der Regel aus großen, weit ausgedehnten Gcbäudekomplexen mit weiten, hellen und luftigen Räumen. In allen Kasernen, selbst in denen der entlegensten Prouinzialstädte, herrschen Ordnung und Reinlichkeit in wünschenswertester Weise und ist so für das leibliche Wohl der Mannschaften auf das beste gesorgt. Eine ganz eigentümliche Erscheinung in den Kasernen sind die verheirathetcn Soldaten mit ihren Frauen, von denen ich jedoch nicht zu sagen weiß, ob sie, bei der stark verkürzten Prä-senzzcit, noch heute existieren und geduldet werden. Es war den Mannschaften, die sich gut geführt hatten, gestattet, mit Bewilligung der Vorgesetzten für jeden einzelnen Fall, sich zu ver-hcirathen und mit ihren Fanlilien in der Kaserne Zu leben. Besondere Räume, durch Schirmwändc in einzelne Abteilungen geschieden, waren den vcrehlichlen Soldaten angewiesen, jede Abteilung von einer Familie bewohnt. Die Soldatenfrauen wußten sich nützlich zu machen. Sie wuschen, nähten, flickten, stopften für die Unvcrheirathcten und das Publikum und verdienten damit noch ein hübsches Stück Geld, das den Ihrigen zu gute kam. In St. Petersburg zeichnete sich besonders die Marine-Kaserne durch ein reiches Kontingent von Matrosen und Soldaten ans, welchen die Süßigkeiten des Ehelcbens zu genießen gestattet war. Gedrillt und gemaßregelt wird der russische Soldat ungleich weniger, als die Angehörigen der meisten anderen modcr> nen Armeen, besonders Deutschlands und Österreichs. Er würde ein Übermaß von Drillen und Chikaniercn auch nicht ertragen können und während der deutsche Soldat, wenn er einmal von einem Offizier mit ausgesuchter Grausamkeit behandelt wird. sich erschießt, würde der russische ihn erschlagen, obwohl er weiß, daß der Galgen oder die sibirischen Bergwerke sciuer mit Sicherheit warten. So ist der Dienst der russischen Mannschaft weit gemüthlicher, als in den westeuropäischen Staaten, ohne daß dadurch ihrer Leistungsfähigkeit Eintrag geschähe. Der Offizier, der den russischcu Soldaten zu behandeln versteht, kann alles von ihm verlangen, was er will uud findet stets den gefügigsten, aufopferndsten Gehorsam. Auch seit die allgemeine Wehrpflicht eingeführt ist, rekrutiert sich die Armee vorzugsweise aus dem Bauernstände, der von Natur znm Soldaten geboren, einen durch das Klima vollkommen abgehärteten Körper besitzt und in Ertragung von Strapazen, Äußerung körperlicher Kraft nnd Ausdauer das Unglanbliche leistet. Aedarf der russische Nckrut dergestalt weniger körperliche Trainierung als der westeuropäische, so sucht man ihm während der vcrhältnißmäßig kurzen Präsenz-zeit in erster Linie das beizubringen, was ihm vorzugsweise mangelt — die einfachste Schulbildung. Man lehrt ihn also außer dem, was er an theoretischem militairischen Wissen bedarf, Lesen, Schreiben, Ncchncn, Geographie, Geschichte — kurz alles, was der Elementarschule angehört. Da es in Russland noch au der ausreichenden Zahl von Dorfschulen fehlt, erlangt die Regierung durch diesen Kascrncnuntcrricht das sehr bcachtenswerthc Resultat, daß eine gründlichere Schulbilduug in die große Masse des Vauerustandes gelangt. So muß heute noch — und das ist gewiß eine sehr weise Maßregel, die Kaserne der Dorfschule zu Hülfe kommen. Die Disciplin ist vortrefflich und auf ihre Erhaltung und weitere Ausbildung wird vou der Negierung der größte Werth gelegt. Dabei behandelt der Offizier den Soldaten mit großer Güte und Freundlichkeit und dieser ist ihm von ganzem Herzen ergeben. Die Strafen sind weder so häufig, noch so strenge als in anderen Armeen und man achtet darauf, daß die Schande den männlichen Geist nicht unterdrückt. Selbst in — 56 — Gegenwart des Monarchen, den der russische Soldat wie eine Gottheit verehrt, ist seine Haltung ohne Zwang, seine Antworten sind freimüthig und ohne Verlegenheit. Ausdauer und Tapferkeit. Gewöhnt an jede Witterung und Beschwerde, an die elendeste und sparsamste Nahrung, an Tage uud Nächte dauernde Märsche und an die schwersten Arbeiten; von Natur roh, aber gut discivlinicrt, von hartnäckigster Tapferkeit, empfänglich für enthusiastische Gefühle, ergeben dem Zaren, dem Vatcrlandc, seinen Anführern; religiös, geduldig, gelehrig und gehorsam vereinigt der russische Soldat die Energie eines von der Kultur unbeleckten Volkes mit den Vorteilen der Civilisation. Man kann von ihm die unglaublichsten Leistungen verlangen, man kann ihn in den entsetzlich kalten, langen Nächten des russischen Winters im Freien, im Schnee, in seinen Pelz gehüllt, schlafen lassen; man kann ihn im dichtesten Kugelregen, wo rings um ihn die Kameraden wie niedergemäht zu Boden fallen, zum Angriff führen oder als Reserve stehen lassen, man kann ihn tagelang bei einem Stückchen Brod hungern lassen und ihm die größten körperlichen Anstrengungen zumuthcn, man kann ihn ganz ohne Löhnung und Verpflegung lassen — und er erträgt das alles mit stoischem Gleichmut und wird dabei noch lachen, singen und tanzen, sobald sein Offizier nur ihn richtig zu behandeln versteht. Bei seiner bewunderungswürdigen, persönlichen Tapferkeit ist ihm das BaMnet die liebste Waffe und die Armee bewahrt als geflügeltes Wort die echt russische Äußerung des Feldmarschalls Ssuwürow, die ich hier in freister Übersetzung wiedergebe: „Die Kugel ist ein dummes Ding, das Bajonnet ist der wahre Jakob!" Die irregulären Truppen bilden eine Besonderheit der russischen Armee, die sie vor allen europäischen Heeren voraus hat. Unter der Bezcichuung „irregulär" darf man sich jedoch nicht ungeschälte bewaffnete Massen von losem Zusammenhange denken, wie die türkischen Baschibosuks oder die französischen Franctircurs. Den weitaus größten Bestandteil der russischen Fic,. 14. — 57 — irregulären Truppen bilden die Kosakenhcere, welche ich im I. Teil, S. 132 ff. eingehend geschildert habe. Sie werden zumeist als Reiterei verwendet und schließen sich, was Ausbildung und Dienst betrifft, im Großen und Ganzen den regulären Kavallerieregimentern an, wobei besonders hervorzuheben ist, daß die Kosten, welche sie verursachen, un-gemcin viel geringer sind, als die der regulären Truppenteile. Dabei gewinnt die Armee durch diese leichten Regimenter bedeutend an Kraft. Außer den Kosaken giebt es noch andere, freilich wenig zahlreiche, irreguläre Formationen im russischen Heer, wie die aus den eingeborenen Völkerschaften des Kaukasus und der Krym gebildeten. Die Leibwache, der sogenannte eigene Convoi, des Kaisers Alexander II. gab von diesen malerisch gekleideten, mannigfaltig bewaffneten wilden Völkerschaften eine interessante Musterkarte. Da wechselten Abteilungen von Tschcrkessen mit Grusiern, Lesgiern, Krym-schen Tataren, Dagestancrn und Kosaken in buntester Reihenfolge, ein reiches farbenprächtiges Bild der verschiedenen Lanocs- Lesgier cm3 dein Convoi dcs KaisorZ. — 58 — trachten dieser tapferen, halbbarbarifchen Volksstämmen (Fig. 14). Neuerdmgs hat man den Bestand dieser Leibwache vereinfacht und ihn auf Gardckosakcn vom Kub^n und T«rek beschränkt. Die irregulären Truppen bilden für die Kriegszeit eine stattliche Heercsmacht, bestehend aus W.'i Schwadronen (Ssatnien), 50 Kompagnien und 120 Geschützen; im Ganzen etwa 155 000 Mann mit 3640 Generalen, Stabs- und Oberoffizieren. Bei den irregulären Truppen kommen, wie gesagt, hauptsächlich nur die Kosaken und deren Reiterei in Betracht. Sie reiten, nach westeuropäischer Kavallericanschauung, unschön, mit kurzer Bügelschnallung, kutschieren mit den Armen und klopfen mit den Schenkeln, aber sie haben ihre kleinen, langen, flinken, fabelhaft ausdauernden, an Strapazen aller Art gewöhnten Pferdchen außerordentlich in der Hand. Der Kosak und sein Pferd haben beide eine eiserne Konstitution, keine Arbeit, keine Witterung, keine Noth macht sie träge und schlaff. Der große, schlanke, elegant gebaute, hübsche Kosak sitzt auf seinem kleinen Roß wie angewachsen, bringt es hin, wo er will, nimmt mit Elan die schwersten Hindernisse und attakiert nach dem Urteil Sachverständiger mit einer Verve, einer Richtung und richtigen Fühlung, wie mau es bei keiner Kavallerie der modernen Armeen sieht. Bei den schärfsten Gangarten des Pferdes gebraucht er mit erstaunlicher Gewandtheit Säbel, Lanze und Feuerwaffe und springt im Karriere vom Pferde herunter, um den am Boden liegenden Infanteristen anzugreifen. Bei seiner angeborenen instinktiven Findigkeit und Orientierungsgabe — indem er sich nach Wind und Sternen richtet, nichts ihm entgeht und er alles auf sinnreiche Weise kombiniert — leistet er vorzügliches als Eclaireur. Ist die russische Armee stolz auf ihre Kosaken, so hat sie die vollste Berechtigung dazu. Ihr Ruhm ist historisch begründet, auf jeder Seite der russischen Kriegsgeschichte sind ihre Thaten verzeichnet. Als in der Schlacht bei Eylau (180?) die französischen Kürassicrc die russische Linie durchbrochen hatten, sielen die Kosaken über sie her, stäche» sie von den Pferden herab — 59 — und in wenigen Augenblicken erschienen 530 Kosaken mit französischen Kürassen geschmückt. Sie waren es, welche die mächtige Armee Napoleons nach dem Brande von Moskau durch ihre unermüdlichen Angriffe bei Tag und bei Nacht zu einer an Verzweiflung grenzenden Panik brachten und so das meiste zur Vernichtung derselben beitrugen. Sie waren es, die im letzten türkischen Kriege die denkwürdigsten Reiterangriffe ausführten. Auch im Frieden wird der Kosak zu den verschiedensten Dienstleistungen von der Regierung verwendet. Er bildet die Begleitung der hohen Würdenträger in Civil und Militär bei Reisen und Rekognoscierungen, er ist die Stütze der Polizei und seine gefürchtete Nagatka (Peitsche) sprengt die Straßcnaufläufe des Pöbels auseinander, er leistet Dienste als Ordonnanz, kurz überall und immer wird der Kosak begehrt und benutzt als nothwendiges Werkzeug der Staatsmaschine. Will man von den staunenswerten Leistungen der irregulären Reiterei eine Vorstellung gewinnen, so dürfte man das nicht besser erreichen, als bei den eigenartigen Übungen, welche von diesen Truppen gcwdnlich am Schlüsse der großen St. Petersburger Paraden veranstaltet werden. Diese Exercitien, Dshigituwka genannt — Wesen und Bezeichnung entstammen dem Orient — entsprechen in gewissem Grade den Reitcrschauspielen, welchen die Araber den Namen Fantasia geben. Ich will es versuchen in kurzen Zügen die Dshigituwka zu skizzieren. Die eigentliche Parade, die im Wesentlichen allen westeuropäischen großen Militärproduktioncn dieser Art gleicht, ist vorüber. Der hohe Kreis, vor dem sie stattgefunden, hat sich noch nicht aufgelöst, er erwartet ein neues militairisches Schauspiel. Ihm gegenüber halten unbeweglich zwei Ssütnien Kosaken vom Kaukasus mit ihren blauen Halbkaftans, auf dem Kopfe den hohen Kalpät (Kosakenmütze) von Pelzwerk. Sie reiten die kleinen, gedrungenen Pferde der Kabardä. Ein Wink dcs Kommandeurs! und in demselben Moment lösen sich die Schwadronen in einzelne Reiter auf, welche mit — 60 — der Schnelligkeit des Blitzes, ventro a tsir«, an dem Zuschanerkreisc vorübersauscn. Die einen lassen den Zügel fahren und wenden sich, um den Karabiner auf den Hintermann abzuschießen, die andern lassen sich vom Pferde herabfallen, nm in jähem Sprunge sofort wieder oben zu sitzen, wieder andere stehen auf dem Sattel, den blanken Säbel zwischen den Zähnen und feuern ihre Pistolen auf den Feind ab, alle vollführen sie die gewagtesten, kühnsten Reitertunststücke. (Fig. 15.) Und das geschieht nicht etwa im Circns auf weicher, geebneter Sandbahn, von Reitern, welche die Sohlen mit Kreide und die Schenkel der Pferde mit Kolophonium eingericben haben, das alles sehen wir vor uns auf freiem Felde von Reitern in voller Kricgsausrüstung. Da raffen sie im Carriere Gegenstände vom Boden auf, stürzen mit einem Fnß im Steigbügel von dem wild dahin jagenden Pferde, halten mit dem rasenden Nenner gleichen Schritt in Sprung und Lauf, schwingen sich wieder in den Sattel, stellen sich auf das Pferd, laden den Karabiner, schießen nach vorn, nach hinten, lassen sich rückwärts in den Sattel fallen und brausen dahin bald dem Pferde im Nacken, bald auf dem Widerrist sitzend — das sind keine Reiter, wie man in den wohlgedrilltcn Armeen des Westens zu sehen gewohnt ist — das sind berittene Dämonen, die mit Iubelgeheul und donnerndem Hurrah wie blitzsprühendc Gewitterwolken an uns vorübertosen. Jetzt rasen beide Schwadronen in wildem Gählanf auf uns heran. Voran drei Reiter neben einander; ein vierter Kosak, der anscheinend fein Pferd verloren hat, steht hinten auf, die weit ausgespreizten Beine auf den beiden Seitenpferden. Dann folgt ein Sohn der Berge, die lebendige Beute, einen Gefangenen, vor sich anf dem Sattellnopf. Ein dritter entführt in wilder Flncht ein Weib und hat sich feiner Haut zu wehren, gegen seinen schönen Ranb, der sich mit Händen nnd Füßen sträubt und gegen die Reiter, die ihn verfolgen und den krummen Säbel über seinem Haupte schwingen. So folgt ein wildes Kriegsbild 3V- 2Z. — 62 — dem andern. Da erschallt ein Kommando. Die eine Ssutnie formiert sich, die andere verschwindet. Jetzt ein Wink, ein Pfiff — und alle Pferde der formierten Schwadron liegen platt auf dem Erdboden und die Kosaken, den Karabiner schußbereit in der Hand, erwarten den Angriff des heranstürmenden Feindes. Dieser — die zweite Ssütnie —, rast jetzt in wildem Kriegsjubel herbei. Die Reiter werfen im Carriere Säbel und Karabiner in die Luft und fangen sie wieder auf, sie feuern scharf auf den vor ihnen im Staube liegenden Gegner, der vernichtet erscheint — da empfängt sie eine wohlgezielte Salve, die Pferde der ersten Ssutnie springen auf die Beine, die Kosaken in den Sattel und in wütender Contre-Attaque verfolgen die Angegriffenen den Gegner, der sich in wilder Flucht auflöst. Dichte Staubwolken verhüllen bald die fortbrausenden Schwadronen vor den Blicken der bewundernden Zuschauer. 4. Die Flotte. Die russische Flotte, einst die Licblingsschöpfung des großen Umbildners des Reichs, hat sich nicht zu der gewaltigen Bedeutung entwickeln können, die ihr genialer Gründer im Auge hatte. Schon die Natur bietet der Hindernisse und Schwierig» teiten so viele, daß es der russischen Marine fast unmöglich gemacht wird, den Wettkampf mit den Flotten anderer Großstaaten aufzunehmen. Der lange und strenge Winier im weißen und baltischen Meere legt den nordischen Kricgsfahrzeugen dauernde Fesseln an. Auf den Binnengewässern, welche den russischen Flotten zu Stationen dienen, haben dieselben mit der Unregelmäßigkeit der Winde, mit der geringen Tiefe des Fahrwassers zu kämpfen. Die Stürme des Schwarzen Meeres und die Klippen des Finischen Busens erschweren die Schiffahrt in hohem Grade. So weist auch der beschränkte Zutritt zum offenen Meere die russische Flotte vorzugsweise auf die Defensive hin. Dabei haben mancherlei Unzuträglichkeitcn im dirigierenden Personal und endlich noch der unglückselige Krymkrieg die russische 63 - Kriegsflotte in ihrer Fig. i«. Entwickelung zurückgehalten und verkümmert. Der letztere hatte die freiwillige Vernichtung d'es größten Teils der Kriegsschiffe des Schwarzen Meeres zur Folge und beschränkte vertragsmäßig die Zahl der auf dem Pontus zu haltenden Fahrzeuge. Diese Fessel hat Russland im Jahre 1870 abgestreift und die Flotte des Schwarzen Meeres beginnt wieder zu wachsen. Die aktive Dienstzeit der Marine-Mannschaften dauert 7 Jahre; 1882 betrug die Stärke derselben etwas über 26000 Mann. Die Uniform der Offiziere und Mannschaften ist von der westeuropäischen Kriegsmarine mcht UntorUnttnant MilWxm,) o^r r„p>ich^n Flotte, sehr verschieden, bis auf die Farbe, welche bei der russischen Flotte dunkelgrün ist. (Fig. 16.) Von großer Bedeutung erscheint für Russland die Ent- — 64 — Wickelung seines Torpedowesens. Der finische Meerbusen mit seinen Skären und Klippen mit dem dazwischen liegenden ruhigen Fahrwasser, das jedoch für den Feind große Schwierigkeiten bietet, begünstigt den Gebrauch dieser Neuerung in hohem Grade. Im türkischen Kriege von 1876-78 haben russische Torpedoboote durch ihre kühnen Angriffe bedeutende Erfolge errungen. Im Jahre 1878 gründete die Gesellschaft zur „Hebung der russischen Hcmdclsschifffcchrt" aus gesammelten Beiträgen die sogenannte „Freiwillige Flotte" in 6 Dampfern bestehend, welche im Kriege als Kreuzer im Frieden Handelszwccken dienen sollen. Die Regierung ist jetzt eifrig bestrebt, so weit es die finanzielle Lage gestattet, die Marine zu heben, ihr Material zu vermehren und in ihrer Verwaltung und Ausbildung die Bahn stetigen Fortschritts einzuschlagen. 5. Gffiziere und Eivilbeamte. Der russische Offizier, in Hinsicht auf Tapferkeit und Ausdauer ein vortrefflicher Soldat, von feiner gesellschaftlicher Bildung und Tournürc, teilt im allgemeinen die Vorzüge und Schwächen des Nationalcharakters. Er ist ein geistreicher und gewandter Causeur, aber selten geneigt zu langwieriger, anstrengender Arbeit, zu strengen theoretischen Studien. Daher die allgemeine Klage, daß es im Kriege so sehr an der richtigen, wolkombinicrten Führung gefehlt hat. Auch in dieser Beziehung haben sich die Zustände bedeutend gebessert und die höheren Militairanstalten bilden jetzt tüchtige, arbeitsfähige Theoretiker aus. Ein großer Vorzug des russischen Ofsizierstandes besteht darin, daß er sich nicht kastenartig gegen das Civil abschließt, daß die Ansicht, das Militair sei ein ganz besonderer, bevorzugter Beruf, mit besonderen Standesgefetzen, besonderer Standcschre und besonderen Standesvorzügen — daß diese Ansicht in Nussland gar nicht existiert. Sie würde zunächst dem russischen Geiste widersprechen, der einen ganz besonderen Respekt vor der Geistes-kultur hegt und jeden gebildeten Menschen dem andern völlig — 65 — gleichstellt, ganz abgesehen von der Position, die er in der bürgerlichen Gesellschaft einnimmt. Erscheinungen von socialer Überhebung des Militärs, wie wir sie in Deutschland beobachten, sind in Rnssland unmöglich. Dazu kommt die Einrichtung der Nangtlasscn, die jedem Civilbcamtcn einen bestimmten Rang (Tschin) zuerkennt, welcher ihn mit einer der üblichen Militärchargen staatlich vollkommen gleichstellt und den eigenartigen Militärdünkel im Keime erstickte. Dem Generalmajor, der sehr wol weiß, daß der Geheimrath eben so gut einen Pas über ihm steht, wie der Generallieutnant, kann es nicht beifallen sich über denselben erheben Zu wollen. Andere Verhältnisse, von denen später die Rede sein wird, üben gleichfalls ihren Einfluß aus und so findet in Nussland ein gesellschaftlich viel innigeres Zusammenleben zwischen Militär und Civil statt, wie in den westlichen Nachbarstaaten, ein Zusammenleben, das von Alters her znr wolthätigen Gewohnheit geworden, keine unnatürliche Scheidung und Absonderung aufkommen läßt. In Russland lassen sich — wie fast überall — zwei m die Augen sallcnde Kategorien von Staatsbeamten unterscheiden. Die einen entstammen den bekannten Familien der Gcburts-, Militär- und Beamten-Aristokratie, welche sich um den Huf gruppieren und dem Monarchen persönlich bekannt sind. Sie werden noch heute in bevorzugten Lehranstalten ausgebildet, zu denen andern jungen Leuten der Eintritt verschlossen bleibt, beginnen ihren Dienst gleich in den Ministerien oder in höheren Provinzial-Vcrwaltnngsämteru und bleiben auch im lctzteu Falle in beständigem Kontalt mit den maßgebenden und einflußreichen Kreisen der Residenz. Sie macheu in der Regel äußerst schnell Karriere und man sieht sie bald in angesehenen, hochbesoldeten Ämtern. Die Beamten der zweiten Kategorie rekrutieren sich aus Familien, die dem Hofe und der höheren Residenzgesellfchaft fern stehen und unbekannt sind. Sie erwerben sich ihre Ausbildung auf dem mühevolleren, langwierigeren Wege der Gymnasien und Universitäten, nehmen die unteren Stellungen in der M«,er, Russlanb. II. b — 66 — Veamtcnhierarchie ein und steigen nur bei sehr hervorragender Begabung und Leistungsfähigkeit über dieses Niveau hinaus. Zu den beiden geschilderten Beamtensphären lommt in Russland noch eine dritte, wie wir sehen werden, bedeutsame, die ich die Beamten der Routine nennen möchte. Sie treten ohne jede höhere Berufsbildung, gewöhnlich nur mit einer guten Handschrift ausgestattet, als Schreiber in den Dienst, wissen sich aber häufig ihren Vorgesetzten durch Findigkeit, Anstelligteit und Gcschäftskcnntnis sehr nützlich, zuweilen unentbehrlich, zu machen und avancieren dann auch wol als Lohn sür rechtmäßig und unrechtmäßig geleistete Dienste um einige Stufen auf der Leiter des Beamtentums. Der Krebsschaden in der russischen Staatsverwaltung, dem man heute mit der ganzen Energie des guten Willens entgegenarbeitet, ist die Verschwendung der Arbeitstraft. Die Geschäfte, für die man in Deutschland einen einzigen Beamten anstellt, der sie zu allgemeiner Zufriedenheit erledigt, werden in Rufs-land durchschnittlich unter vier bis fünf Personen verteilt, die noch eine ganze Schaar von Schreibern und Dienstlcuten aus dem Nnter-ofsiziersftande im Gefolge haben. Arbeitet so die Staatsmaschinc mil einem Beamteustand, der fünfmal so groh, als notwendig ist, so crgicbt sich als nächste Folge, um das Budget nicht allzusehr zu belasten, eine entsprechende Reduktion der Gehalte, die im Verhältnis zur einheimischen Teuerung und im Vergleich zum Auslande, beispiellos niedrig sind. Daraus resultiert dann weiter, daß der Beamte von seinem Salair häufig nicht leben, geschweige denn standesgemäß existieren kann und das Endergebnis ist Unredlichkeit deu Kassen des Staates, Bestechlichkeit dem Publikum gegenüber. Eine wolthuendc Erscheinung ist es, daß man diese durch Kraftverschwendung hervorgerufene Corruption neuerdings an der Wurzel angreift und sie mit Feuer und Schwert auszurotten strebt. Verminderung der Bcamtenstcllen und Erhöhung der Gehalte sind die richtigen Prinzipien, von denen man aus- — 67 — geht, unnachsichtige Strafe jeder Unredlichkeit das Schreckmittel, mit dem man dem veralteten Übel begegnet. Aber man darf sich nicht darüber wundern und die russische Regierung tadeln, wenn die Misbräuche, die Jahrhunderte gedauert haben, nicht in wenigen Jahren ausgerottet sind. Uns begegnen noch heute in allen civilisterten Staaten der Welt Defraudationen und Bestechungen. Treten dergleichen Vergehen in Russland häufiger und in größerem Maßstabe auf, als im Westen Europas, so ist das nicht erstaunlich. Giebt es doch keinen einzigen Staat im westlichen Europa, in welchem man die Hauptstadt, das Centrum der Administration, der Rechtspflege und Controlle nicht in 24 Stunden erreichen könnte. Nun ist aber schon das europäische Russland größer als alle Stuaten West' europas zusammen, zu einer Fahrt vom Amur nach St. Petersburg braucht man 2 bis 3 Monate. Giebt es Misbräuche in allen Staaten Europas, in denen durch die geringen Entfernungen die Controlle so leicht gemacht ist, um wie viel nachsichtiger muß man chre Existenz in Russland beurteilen, dcsscn ungeheure Ausdehnung der Überwachung oft unbesiegbare Hindernisse in den Weg legt. Wo ist der Staat, der die Ehrlichkeit aller seiner Vcamtcn verbürgen möchte, wenn ihnen die Gelegenheit so häufig und so lockend entgegenträte, als im Reiche des Zaren. Wo ist der Staat, der dafür einstehen möchte, daß der Beamte, der einer Bestechung mit 50 Mark siegreich widerstanden hat, cbeu so ehrlich bleiben wird, wenn ihm 20000 geboten werden? Gelegenheit macht Diebe. Je weniger Versuchung der Staat seinen Beamten zur Unredlichkeit bietet, desto besser. Dic russische Regierung ist eifrig bemüht, jene verlockenden Umstände zu vermindern, dazu aber braucht es der Zeit, in Nussland, bei seiner enormen Größe, mehr als anderswo. Man hat behaupten wollen, die Unredlichkeit, die Bestechlichkeit liege im russischen Nationalcharakter. Das ist ein Irrtum. In den Vereinigten Staaten Nordamerikas wird die Bestechung b* — 68 — in einem Maße ausgeübt, gegen das die Gepflogenheit in Russland fast unerheblich erscheint und die Amerikaner sind die Nachkommen von Ansiedlern aus fast allen europäischen Staaten mit Ausnahme Nnsslands. Die Unehrlichkcit liegt also nicht speziell im Charakter des russischen Beamten. Iliaco« intra inuro» psoeatui- 6t 6xtrg.! Unredliche Menschen giebt es überall, in allen Staaten der Welt. Die Schwierigkeit der Controlle, der Überwachung, macht in Nussland die bestechlichen, unehrlichen Beamten sicherer und dadurch unverschämter als anderswo, die Naturanlage ist überall dieselbe. Übrigens giebt es in Nussland eine Art von Bestechung, die keineswegs als Unchrlichkeit angesehen wird. Es sind das die Douceurs, welche die Beamten vom Publikum für geleistete Dienste erhalten. Will man von einer officicllen Person etwas coulant, exakt und schnell erledigt haben, so zahlt man eben dem Manne, der voin Staate unzureichend besoldet wird, ein Sümmchen, das im Verhältnis zu seiner Gefälligkeit und Dienstfertigkcit steht. Die Beamten nennen das ihre „sündlosen Einnahmen", die sich bei gewissen Funktionären, z. B. bei der Polizei, zu einem ganz anständigen Jahreseinkommen konsolidieren. So bringen z. B. sämtliche Hausbesitzer eines Stadtviertels dem Polizei-Aufseher desselben zu Neujahr ihre Gaben dar und erreichen dadurch, daß sie nicht chitaniert werden und daß der Beamte bei passender Gelegenheit auch etwas mehr thut, als seine verfluchte Schnldigkeit. Kaiser Nikolai sah einst beim Sftazicrgangc den Polizei-Aufseher des ersten Adnnralitätsstadt» teils, in welchem das Wmtcrpalais liegt, in trefflicher Equipage mit den herrlichsten Nennern bespannt, vorüberfahrm. Der Zar winkt und der Beamte steht sofort, die Houueurs machend, vor ihm. „Wieviel Gehalt bekommst du?" fragt der Kaiser. Der Beamte nauntc eine ganz unbedeutende Summe. „Wie hoch beläuft sich dein Einkommen?" — Eine sehr große Summe war die Antwort. „Wer giebt dir das Geld? „Die Hausbesitzer meines Stadtteils senden mir zu Neujahr und zu Ostern Ge- — 69 — schenke von beträchtlicher Höhe." „So," sagte der Kaiser, „davon habe ich ja nichts gewußt und habe dir als Hausbesitzer im ersten Admiralitätsstadttcil das übliche Geschenk vorenthalten. Ich werde das nachholen müssen." Und der glückliche Polizciauf-seher empfing andern Tags vom Kaiser ein bedeutendes Geldgeschenk. Die Grenze zwischen den sündlosen und sündigen Einnahmen ist freilich eine sehr zarte, die sich in vielen Fällcn kaum erkennen läßt. Bei den Bestechungen in Nussland pflegen nicht selten die Frauen eine hervorragende Nolle zu spielen, wie überhaupt dort das weibliche Geschlecht von einem fast unberechenbaren Einfluß ist. Die russische Frau ist vor ihren Schwestern besonders reich begabt. Sie ist in der Regel schön von Antlitz und Gestalt, besitzt die Kunst der Toilette in vollkommenster Weise, ist geschmackvoll, sein, elegant, voll Phantasie nnd Leidenschaft, geistreich, redselig und unterhaltend. In der Regel gründlicher gebildet, als der Mann, denkt sie scharfer, sieht klarer und ist ausdauernder, verläßlicher, und haushälterischer, als der Gatte. Dabei pflegt sie sehr leichtlebig zu seiu, namentlich in Betreff galanter Abenteuer; sie ist kokett und intriguant nnd wird von Vorurteilen nnd Bedenken, selbst von religiösen nud sittlichen, wenig beirrt. Nimmt man dazu den Charakter des Mannes mit seinen Leidenschaften, seinem Hange zur Sinnlichkeit und Schwelgerei, so ist die weitreichende Machtsphäre der Frau in Nussland wolbegreiflich. Im Protektions- und Vestcchungs-wesen fällt ihr die erste Rolle zu und in den Skandalprozessen der letzten Zeit, bei denen es sich um Untcrschleife und Bestechlichkeit in höchst bedeutenden Summen handelte, waren Frauen die tzauptattricen, häufig sogar die bewegenden Ursachen. Das »Oiierolisx 1a femms!" findet nirgends seine Bethätigung in so ausgedehnter Weise, als in Rnssland. Die Verschwendung der Arbeitskraft, welche ich soeben besprochen, hat noch den zweiten, schwer ins Gewicht fallenden, Nachteil im Gefolge, daß keinem Beamten ein genügendes Nrbeits- — 70 — quantum zuerteilt ist. Mangelhaft beschäftigt, langweilt er sich in der Behörde, liest französische Ehebruchsromane, die er in seinem Aktenbündel mit sich sührt, schwatzt mit den ebenso wenig in Anspruch genommenen Kollegen und verschwindet unzählige mal im Corridor, um eine Cigarette nach der andern zu rauchen. Kommt dann wirklich einmal eine Arbeit, die Kopf und Hand einige Zeit in Anspruch nehmen würde, so fehlt ihm Übung und Lust und er schiebt sie, wenn es geht, einem andern zu. Dieser macht es selbstverständlich ebenso und so wandert manche Angelegenheit Wochen, Monate, um nicht zu sagen Jahre, in den BeHürden von einem zum andern, ohne erledigt zu werden. Statt daß also die Staatsmaschine bei ihrem Überfluß an Kräften äußerst schnell funktionierte, arbeitet sie höchst langsam und träge und häuft Berge unerledigter Aktenstücke an. Die letzte Folge ist dann wieder, daß der Privatmann, welcher seine Angelegenheiten nicht trainiert und verschleppt haben wiN, zur Bestechung seine Zuflucht nehmen muß, um dieselben zu fördern. Auch in Bezug auf Äußerlichkeiten hat sich vieles im rufsischen Beamtentum geändert. Noch unter Kaiser Nikolai erschien der höhere Beamte in seiner Behörde unfehlbar in der vorgeschriebenen Uniform mit sämtlichen ihm verliehenen Dekorationen, Haar und Bart nach Vorschrift verschnitten. Unter Alexander II. wurden die betreffenden Verordnungen zwar nicht formell aufgehoben, aber der Kaiser sprach sich vernehmlich darüber ans, baß ihm an dergleichen äußeren Formen nichts liege. Das ließen sich die Angestellten, besonders der Residenz, nicht vergebens gesagt sein. Mit dem Verschwinden des Unisormsfracks wuchsen die Bärte und alle Angestellten von Rang erschienen in ihren Geschäftsräumen, mit Ausnahme feierlicher Gelegenheiten — in bequemer Civilkleidung, ohne irgend ein Zeichen ihres Ranges und ihrer Stellung. Dabei ist jedoch ihre Toilette stets sorgfältig und elegant, ihr Auftreten, selbst bei einer gewissen inneren Ieere, sicher und selbstbewußt. Daß der Beamte häufig nach — 71 — oben devot, nach unten befehlshaberisch, mitunter tyrannisch ist, kann ich nicht als eine Spezialität Russlands betrachten; ich habe es überall nicht anders gefunden. Den grüßten Gegensatz zu dem eleganten, fcingcschliffenen höheren Würdenträger bildet die oben aufgeführte dritte Kategorie der Staatsdiener, die Schreiber und Kanzlisten. Sie erscheinen in der Regel im abgetragenen, fadenscheinigen Uniformsfrack, die Wäsche weit entfernt, tadellos zu sein, die Fußbekleidung nicht ohne Wunden, das echte Beamten-Proletariat, lind doch sind diese Schreiber lange Zeit hindurch die eigentlichen Arbeiter in den Behörden gewesen, alle anderen verließen sich auf sie. Sie wußten alles, was in der Behörde vorging, lanntcn den Geschäftsgang auf das Genauste, selbstverständlich besser als ihr Chef, der sie in allen Angelegenheiten um Nat und Auskunft angehen mußte. So waren sie von ungeheuerem Einfluß und sozusagen die ostensiblen Handhaben des Vestechungswesens. Das Nichtsthun in den russischen Staatsbehörden wird durch ihre Einrichtung ganz besonders begünstigt. Während man im Westen Europas denBeamten, wo es nur irgend thunlich ist, separate Bureaus anweist, damit sie sich nicht gegenseitig bei der Arbeit stören, findet in Nussland gerade das Entgegengesetzte statt. In große« Sälen, deren Thüren offen stehen, sitzen, die Angestellten au langen Tafeln. Jeder Tisch hat seine bestimmte Zahl von Arbeitern mit einem Tischvorsteher an der Spitze. Da werden mm die Geschäfte fabrikmäßig betrieben, wobei einer den andern hindert. Es wird mehr geklatscht als gethan, jeder einzelne wird von den andern beobachtet, belauscht, die Wahrung des Amtsgeheimnisses wird zur Unmöglichkeit. Die allgemeine Dienstzeit des russischen Beamten beträgt 35 Jahre, nach Verlauf welcher Frist er seine Pension beanspruchen oder — mit besonderer Genehmigung der Regierung — seinen Dienst fortsetzen kann. Die Pensionen betragen in der Regel den vollen Gehalt, den der Angestellte bezogen hat, mit Abzug der __ 7« __ Tisch- und Quartiergelder, die eine nicht unbeträchtliche Summe ausmachen. Das Lehrfach haben die russischen Gesetzgeber stets als einen ebenso angreifenden wie nutzenbringenden Beruf angesehen und demgemäß die Dienstzeit der Lehrenden aller Kategorien auf 25 Jahre beschränkt, nach welchem Zeitraum sie ihren ganzen Gehalt als Pension beziehen. Dienen sie weiter, so erhalten sie alle sünf Jahre eine Zulage von 25 Prozent des früheren Bezugs. Nach 20jähriger Thätigkeit im Lehrfach, 25jährigcr in allen übrigen Zweigen des Staatsdienstes, kann der Beamte seinen Abschied nehmen und erhält die Hälfte der festgesetzten Pension. Stirbt der Beamte, welcher seinen Ruhegehalt erdient hat, so bekommt dessen Wittwe die Hälfte der Pension bis zu ihrem Tode. Hat er Kinder hinterlassen, so beziehen diese die andere Hälfte bis zur Volljährigkeit des jüngsten. Außer Rangerhöhungen, Orden und Geldbelohnungen, mit denen man überall dem Staate geleistete nützliche Dienste vergilt, hat Nussland noch eine besondere Art materieller Anerkennung für Militär und Civil - die sogenante Arrende. Sie besteht darin, daß dem höheren Offizier oder Beamten ein dem Fiskus gehöriges Stück Land, nicht selten ein wolangebautcs Gut, auf eine Reihe von Jahren verliehen wird, wahrend welcher Zeit er die Einkünfte jenes Grundbesitzes genießt. Ich habe das russische Beamtentum mit wenigen Zügen gezeichnet, wie es noch vor Kurzem war, wie es heute noch teilweise beschaffen ist. Meine Schilderung galt dem allgemeinen Charakter, nicht den einzelnen Individualitäten und ich hebe es noch besonders hervor, daß im russischen Veamtenstande die Zahl der tüchtigen, fleißigen, strebsamen, durch und durch charaktervollen Männer täglich wächst. Die angeerbten Übelständc zu beseitigen, waren die Bemühungen der Herrscher nicht ausreichend. Als die öffentliche Meinung in Nussland erwachte und zu Worte kam, begannen dieselben allmählich sich zu vermindern. Dieser Zeitpunkt fällt zusammen mit den ersten Regierungsjahren Alexander II., der - 73 - moralischen Morgenröte Russlands. Hartnäckige, eingewurzelte Gebrechen verschwanden im Nu. Sic sind später bald hier, bald dort wieder aufgetaucht, aber durchaus nicht in ihrer früheren Stärke und Ausdehnung. Durch Vergrößerung der unzureichenden Gehalte ist eine fühlbare Besserung eingetreten und zwar namentlich in den Regicrungsinstitutwnen, in welchen die Bestechlichkeit Staat und Private am meisten schädigt, in der Justiz und Finanzvcrwaltung. Von der Stellung, die Kaiser Alexander III, den Misbräuchcn im Bcamtcnstandc gegenüber eingenommen hat, ist bereits im 1. Th. (S. »»5 ff.) die Ncdc gewesen. Feind jeder Unredlichkeit, keinerlei Verführung zugänglich, die Tugenden des einfachen Bürgers mit dem idealen Pflichtbewußtsein des Herrschers vereinigend, von der Heiligkeit seiner Mission durchdrungen, bis zum Extrem sparsam mit dem Vermögen des Staates, erscheint Alexander III. als der geeignetste Monarch, um die alten Krebsschäden in der russischen Beamtenwelt mit Stumpf und Stiel auszurotten. 6. Die Uangklassen. Seit Peter dem Großen ist die gesannntc Militair- und Beamten-Hierarchie in vierzehn Rangklassen eingeteilt, deren jede ihre besondere Benennung führt. Prinzipiell muß der in den Reichsdicnst Eintretende mit der nntcrstcn Klasse beginnen, gleichviel welche Stellung er sonst in der Gesellschaft einnimmt. Nur die wissenschaftliche Bildung durchbricht das Normalprinzip und die vier gelehrten Grade der russischen Universitäten (graduierter Student, Kandidat, Magister, Doktor) berechtigen zum Eintritt je in eine verhältnismäßig höhere Nangklasse (Tschin). Der Inhaber eines Ranges (Tschinöwnik) muß auf jeder Stufe eine bestimmte Zeit verbleiben; Auszeichnung im Dienst kann letztere abkürzen. Jedem Tschin entspricht eine Neihe von Ämtern, denen sein Träger vorstehen kann; das Amt, das einen höheren Rang erfordert, kann der Träger eines niedrigeren Tschins nicht erhalten. Der Wille des Kaisers ist an diese Be- — 74 — schränkungen nicht gebunden. Wie in Deutschland die als Auszeichnung verliehenen Titel (Hofrath, Gehcimrath und dgl.) kein Amt bedeuten, so bezeichnet der russische Tschiu, der freilich ungleich mehr Rechte gewährt als jene, keinerlei Amt, sondern nur eine Rangstufe in der Beamtenwclt des Reichs. Jeder militärischen Charge entspricht ein Civilrang, der mit der ersteren an Rechten und Ansehn völlig gleich steht. Nur die Geistlichkeit rangiert nicht in den vierzehn Klassen uud hat ihre Stufenleiter fnr sich. Ich gebe hier die Rangtlassen für Civil und Militair, wie sie seit Peter dem Großen bestehen, nur die beiden eingeklammerten sind im Laufe der Zeit eingegangen: Civil Militär Marine 1 Reichskanzler. Generalfeldmarschall General-Admiral 2 Wirkl. Geh. Rath. General en onel Admiral 3 Geh. Rath. Generallieutenant Vize-Admiral Wirtl. Staatsrath Generalmajor Kuntre-Ndmiral b Staatsrath (Brigadier). — 6 Kollegienrath Oberst Kapitain I. Ranges Hofrath Oberstlieutenant Kapitain ll. Ranges 8 Kollegienassessor Major Kapitain-Lieutenant 9 Titulärrath. / Kapitain > Rittmeister Lieutenant l0 Kollegiensekretär »Stabskapitain XStabsrlttmcistcl' — 11 (Schiffssetretär) — 12 Gouvernementssekretär Lieutenant Mitschmau(Midshiftmatt) 13 Senatsregistrator Unterlieutcncmt — 14 Kollegienregistrator / Fähnrich ^ Kornet — Die Klassen 1. und 2. haben den Titel: Hohe Excellenz, -3. nnd 4.: Excellenz, — 5.: Hochgeboren, - 6. bis 8.: Hoch-wulgcboren, - !). - 14,: Wolgebon'U. — 75 — Die Rangtabelle mit ihrer völligen Gleichstellung der Offizierschargcn und der Civilämter hatte ohne Zweifel ihr Gutes und zwar nicht allein für die Zeiten ihrer Entstehung. Sie hat aber auch große Nachteile für die Staatsverwaltung im Gefolge. Da für eine gewisfc amtliche Stellung nur der entsprechende Rang befähigte, fo kam man dahin, von jeder Specialausbildung zu abstrahieren und die Beamten ohne Weiteres aus dem einen Vcrwaltungszwcig in den andern herüber zu nehmen, gcmz abgesehen davon, ob fie auch die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten mitbrachten. Dieselbe Persönlichkeit war heute Finanzbcamter, morgen vielleicht Richter, um übermorgen Diplomat zu werden. Ja, man ging unter den früheren Regierungen noch viel weiter. Da jedem Civilrang eine Militair-charge entsprach, machte man den Offizier heute zum Beamten, um ihn vielleicht morgen wieder Offizier werden zu lassen, gleichviel ob er Talent und Ausbildung für den einen oder den andern Beruf besaß oder nicht. Die Klassenordnung führte zur vollständigen Misachtung des modernen Princips der Arbeitsteilung und der Specialbildung. Ein anderer großer Nachteil der Rangklassen beruht darin, daß der unfähige und unwissende Beamte, wenn er sich nichts Außergewöhnliches zu Schulden kommen läßt, doch mit der uötigcn Geduld allmählich die hierarchische Leiter emporklimmt und zu Stellungen gelangt, denen er keineswegs gewachsen ist. Erst in neuester Zeit ist in diesen Verhältnissen eine Besserung eingetreten; der Cultus des Tschin ist erschüttert und seine Tage sind gezählt. Die Zeit ist nicht mehr fern, wo man es aufgeben wird, für das Amt eine gewisse Klasscnnummcr zu fordern, wo Talent und Leistungsfähigkeit allein als entscheidende Momente gelten werden. Ja, wenn die jüngst verbreiteten Gerüchte auf Wahrheit beruhen, ist nicht allein eine Commission zur Reform der Rangtlasscn niedergesetzt, dieselbe hat auch bereits ihr Projekt dem Reichsrath unterbreitet. Nach diesem Entwurf follen die elf unteren Rangklassen künftig wegfallen, die Träger der- — 7ss — Fig. 17. Höherer Ciuilbeamtei in Gala. selben fortan nur die Bezeichnung ihres Amtes führen und die Besetzung der Stellen nicht mehr vom Range abhängig sein. — 77 — Fig. 18. Die Gleichstellung des Beamtenrangcs mit den Militärchargen hat bei der wichtigen Rolle, welche der Armee in allen modernen Staaten zugeteilt ist, in Russland dahin geführt, daß der Beamte häufig mit dem seinem Tschin entsprechenden Militärrang bezeichnet wird. So passiert es wol einem wirklichen Staatsrath, daß er „Civil-General" genannt wird oder einem Hofrath, daß Ulan ihn als Oberstlieutenant anredet. Alle Beamten in Nussland tragen im Dienst Uniform, dle aus einem kurzen Rock oder Frack mit Metalltnöpfen besteht, welche entweder den Reichsadler, oder ein anderes Emblem oder beim Prouin-zialbeamten das Gou-vcrnementswappcn tragen. Die Gala-Uniform hat ungefähr den Schnitt des deutschen Waffenrockes mit mehr oder weniger reich in Gold oder Silber gestickten Kragen und Ärmclaufschlägen. Zu ihr gehören Degen und dreieckiger Hut. Je nach dem Vcrwaltungsrcssort ist dic Farbe der Uniform verfchieden. Das Ministerium des Auswärtigen hat Schwarz, der öffentliche Unterricht Blau, alle — 78 — übrigen Grün mit verschiedenen Nüancierungen. Die Beamten des Hofes tragen zwischen der gewöhnlichen Dienstuniform (Vizmundir - Vizemnform) und dem reich gestickten Galakleide (Fig. 1) noch eine mittlere, gallonierte Tracht, die im gewöhnlichen Hofdienst angelegt wird. (Fig. 1^.) 7. Gelmrts- und Vcrdienstadel. Der russische Adel (Dworjänstwo), den ein bekannter russischer Schriftsteller „die erbliche Klasse der Kultur" nannte, ist eine ganz eigentümliche Institution, welcher nichts Ähnliches im westlichen Europa entspricht. Er ist eigentlich nie etwas anderes gewesen, als „die Summe der Männer im Staatsdienst" und hat sich, da der Eintritt in denselben jederzeit und jedermann offen stand, bei ununterbrochenem Zufluß aus andern Ständen frei von jeder Ausschließlichkcit und jedem Kastengeist gehalten. Eingeborene Familien von altem, edlen Blut hat es von jeher nur sehr wenige in Russland gegeben. Diejenigen, welche sich bis heute erhalten haben, stammen von den Nachkommen Njüriks und einigen alten Voj^rengeschlechtcrn ab. Die Bojaren waren übrigens nichts anderes, als ein Dienstadel, der seine Würden und Vorrechte von der Gnade des Zaren empfing. Mit der Einführung der Rangklafsen wurde ein neuer Adel geschaffen. Jedem Offizier der Armee und jedem Civilbcamteu im Masscnrang kam jetzt der erbliche Adel zu. Das dauerte das achtzehnte Jahrhundert hindurch und in das neunzehnte hinein bis zum Ende der Regierung Alexander I. Man hatte eingesehen, daß der Zutritt zum Adel zu leicht gemacht war, daß die allzu verschwenderisch erteilte Auszeichnung ihren Werth verloren hatte, daß die Masse des Adels allzugewaltig heranwuchs. Man fand nun den Ausweg in der Creirung einer — 7ft — zwiefachen Art des Adels, des erblichen, der auf die Nachkommenschaft überging, und des persönlichen, welcher sich nicht vom Vater auf den Sohn übertrug. Um der raschen Zunahme des Erbadels zu steuern, wurde der Rang, mit welchem die Erlangung desselben verknüpft war, unter Alexander I. und Nikolai allmählich erhöht, so daß derselbe heute nur den vier ersten Klassen zugänglich ist, wenn er nicht durch die Gnade des Kaisers oder den Besitz gewisser Ordensklassen verliehen wird. Die niederen Beamtengrade haben nur den persönlichen Adel. Ein Unterschied zwischen altem und jungem Geburtsund Verdicnstadel existiert in Russland nicht. Das Institut der Rangklassen und des mit ihnen verknüpften Dienstadels wird so in dem absolut-monarchischen Russland zu einer vollkommen demokratischen Ginrichtung, wie sie kein anderer monarchischer Kulturstaat aufzuweisen hat. Während die Hofchargen überall von den Souveränen nur den ältesten Feudal-Geschlechtern verliehen werden, besetzt man dieselben in Russland häufig mit dem Verdicnstadel von gestern, dessen Erlangung jedem begabten, tüchtigen Offizier und Beamten offen steht. Ich kannte einen Kammerherrn des kaiserl. Hofes, dessen Vater als Hauslehrer aus Deutschland ins Reich gekommen war. Die Skubelew und MiljMn. die wir heute in der nächsten Umgebung des Thrones finden, waren vor wenigen Generationen noch einfache Aürgers-und Bauersleute. Die Vorrechte, die der Adel früher den andern Ständen gegenüber besaß, sind mit der Zeit hinfällig geworden. Die Befreiung von körperlichen Strafen wurde durch Alexander II. auf die übrigen Schichten der Nation ausgedehnt, die Befreiung vom Militärdienst hat mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht aufgehört und die Exemtiou von der Kopfsteuer wird mit der bevorstehenden Beseitigung dieser Art von Abgabe gleichfalls ihren Gegenstand verlieren. Das bedeutendste Privilegium des Adels, das Recht Landgüter mit Leibeigenen besitzen zu dürfen, hat mit der Aufhebung der Leibeigenschaft sein Ende — 80 - erreicht. Ein einziges von allen früheren Vorrechten ist dem Adel noch geblieben: eine gewisse Erleichterung des Eintritts in den Staatsdienst und ein verhältnismäßig rascheres Vorrücken in den Nangklassen. Damit steht dann in Verbindung, daß gewisse Bildnngs- und Erziehungs-Anstalten den Kindern des Adels reserviert sind. Aus dem System der Nangklassen und des Dienstadels, besonders aus der Leichtigkeit der Erwerbung des Erbadels im vorigen und am Anfange dieses Jahrhunderts, erklärt sich die kolossale Massenhaftigkeit der Edelleute im russischen Reich uud das verhältnismäßig geringe Maß von Ansehen, Wolstand und Bildung unter denselben. Man zählt im europäischen Russland etwa 600000 erbliche und 250000 persönliche Adlige. Die Folge davon ist, daß man sie auf allen Stufen des gesellschaftlichen Organismus, in allen Berufsarten und Geschäften und nicht minder in einem zahlreichen Proletariat findet. Man muß eben bei der Beurteilung der russischen Gesellschaft seine westeuropäischen Anschauungen und Vorurteile daheim lassen. Wenn deutsche Männer von Geist und Bildung Berichte über die nihilistischen Umtriebe lasen und in denselben die Verschwörer als „Edelleute" und „dem Adel augehörige" verzeichnet fanden, habe ich nicht selten den Ausruf des Entsetzens gehört: „Und die Mehrzahl gehört der Aristokratie an!" — Da reicht eben unser deutscher Begriff von Aristokratie nicht aus und die Sache ist durchaus nicht so schlimm, wie sie dem Nichtrusscn erscheint. Davon werden sich hoffentlich die Leser dieses Abschnitts überzeugt haben. Beiläufig sei hier erwähnt, daß eiue mit dem Familiennamen verbundene Bezeichnung des Adels in Russland nicht existiert. Wenn Russen im Auslande ihrem Namen ein „von" oder «äß" vorsetzen, so ist das eine Konzession, welche den westeuropäischen Vorurteilen gemacht wird. Der einzige alte Unterschied zwischen adligen und bürgerlichen Namen ruht anderswo. Man redet in Russland niemand mit seinem Familiennamen an, — 81 — sondern stets mit dem Vornamen, welchem man den Vornamen des Vaters hinzufügt. Einen Herrn Wladimir Lapschin und seine Schwester Prasskuwja, deren Vater Peter hieß, werde ich also nicht anders anreden, als: Wladimir, Sohn des Peter und: Prasskowja, Tochter des Peter. Zur Bezeichnung jener Patro-nymica hat man nun in Rnssland von Alters her zwei verschiedene Arten von Endsilben: die einen (owitsch oder ewitsch, owna oder cwna) kommen dem Adel, die andern (ow oder ew, owa oder cwa) dem Nichtadcl zu. Ist also Herr Lapschin ein Edelmann, so nenne ich ihn Wladimir Petwwitsch, seine Schwester Prasskuwja Petrowna, gehört er nicht zum Adel, so wird er Wladimir Pctrüw, seine Schwester Prasskowja Pcw',wa angeredet. Hieraus erklärt sich auch das Vorhandensein so vieler Famliennamen auf owitsch, ewitsch, ow und ew. Es giebt in Russland nur einen einzigen nationalen Adels -titel, es ist das Prädikat Knjas (sprich Knäs) -- Fürst, welches die Nachkommen des Herrscherhauses beibehielten, anch nachdem ihre Teilfürstentümcr längst mit Moskau vereinigt waren. Alle übrigen Würden und Auszeichnungen, auch der BojMenrang, waren lebenslänglich und wurden von dem Zaren verliehen. Außer den von Rjürit abstammenden Fürstenhäusern, giebt es aber in Russland noch eine ganze Reihe anderer, welche entweder diesen Titel erst in neuerer Zeit erhielten (Mßnschtschikow, Ssuwürow, Lieven u. s. w.) oder denen als vornehmen talarischen^ mordwinischen, kaukasischen u. s. w. Familien, ihre angestammte nationale Würde in das russische tnjas übersetzt wurde. Das hat denn die Existenz einer ganzen Anzahl fürstlicher Familien zur Folge, deren Rang weder durch eine historische Vergangenheit noch durch beträchtliche Güter der Gegenwart gestützt wird. Als Nussland in nähere Beziehungen zum Westen trat und sich Landstriche unterwarf, die lange unter deutschem Einfluß gestanden hatten, nahm es anch die dem abendländischen Lehnswesen entsprossenen Adelsbezeichnungen an, indem es die entsprechenden Titel vom Auslande entlehnte. So giebt es seit Meyer, Russland. II. 6 — 82 — Peter dem Grüßen in Russland auch Grafen und Barone, jedoch in ziemlich geringer Anzahl; die Mehrzahl der letzteren gehört der Finanzwelt an. Durch kaiserliche Ernennung sind ungefähr fünfzehn Fürsten, etwas mehr Barone und hundert Grafen kreirt worden, von den letzteren einige zwanzig durch Alexander II. III. Kirche und Geistlichkeit. Die Geistlichkeit bildet in der russischen Gesellschaft eine für sich abgeschlossene, eigenartige Sphäre, die zwar ihre Elemente in die übrigen Bevölkerungsschichten abgicbt — es treten viele Söhne von Geistlichen in den Staatsdienst — die aber aus ihnen keinen Zuwachs empfängt. Der geistliche Stand erfetzt sich aus sich selbst. Die gesammte Geistlichkeit wird vom Staat besoldet, ist frei von Abgaben, steht in geistlichen Dingen unter der Gerichtsbarkeit ihrer eigenen Oberen und in allen sonstigen Rechtsange-lcgenheiten unter dem weltlichen Gericht. Sie zerfällt in die schwarze und die weiße. Die erste, nach der Farbe ihrer Kleidung so genannt, ist die Klostergeistlichkeit, zum Cölibat und beständigem Fasten verpflichtet; aus ihr allein werden die höheren Stellen des Klerus besetzt. Die Weltgeistlichkeit wird im Gegensatz zu den Mönchen die weiße genannt, obwol sie, wenn auch keine schwarze, doch immer dunkelfarbige Gewänder trägt. Der Weltgeistliche oder Pope muß sich verheirathen, sobald er sein Amt antritt, doch ist ihm, einmal Wittwer geworden, die zweite Ehe untersagt. Die Rangordnung der russischen Geistlichen ist folgende: _ UI _ Klostergeistlichc. ,3Z s 1. Metropolit. ZZ^ 2. Erzbischof. KI^I. Mschof. 4. Archimandrit (Abt). 5. Igümen (Prior). Weltgeistlichc. «. Prütu-Iöwi (Oberpriester). 7. Iöröi (Priesicr). 8. PrawdMon. 9. Diakon. Klasse 1 und 2 haben den Titel „Hohe Eminenz", 3 „Eminenz", 4 6 „Hochehrwnrden", ? „Ehrwürden". Der Diakon assistiert dem Priester bei der Verrichtung seiner Amtshandlungen, die Lampadarim, Psalten oder Cmttorcn. Anagnosten oder Leetoren haben verschiedene äußere Formalitäten zu verrichten, wie das Anzünden der Kerzen vor den Heiligenbildern, das Aufstellen des Pultes vor dem Geistlichen, das Lesen der Perikopcn u. s. w. Die Vertreter dieser untergeordneten Dienstämter empfangen, wie die Diakonen, eine Art kirchlicher keine pricstcrlichc Weihe. Außer ihnen giebt es noch Kustoden, Glöckner und andere niedere Kirchendiener, welche zur Ausübung ihrer Funktionen keiucrlci besonderer Weihe bedürfen. 1. Die Weltgeistlichkeit. Die Weltgeistlichcn, Popen, die sich aus den Popcnsöhnen rekrutieren, werden ausschließlich in den Pricstcrschulcn und Seminarien herangebildet und erzogen. Die russischen Universitäten haben keine theologische Fakultät; ein einziger orthodoxer Priester lehrt an denselben Theologie und Philosophie vom Standpunkte der griechischen Kirche für die Studenten aller Fachwissenschaften. Die theologischen Bildungsanstalten sind durchweg scholastisch organisiert und geben keinerlei Raum und Gelegenheit für eine freiere Geistesbildung. Die vier geistlichen Lehrbezirke St. Petersburg, Kijew, Moskau und Kasün, zählen s* — 84 — 50 Seminarien mit etwa 1500, und vier theologische Akademien mit ungefähr 500 Zöglingen. Bei Beurteilung des russischen Geistlichen muß die Richtung in Anschlag gebracht werden, welche Jahrhunderte hindurch den Klerus, wie die Laien beherrscht hat, die tief eingewurzelte Gewohnheit, der ceremonicllm Seite der Religion eine übergroße Wichtigkeit beizulegen. Der einfache Mensch ist in der ganzen Welt von jeher geneigt gewesen, die Religion als eine Kette geheimnisvoller Gebräuche anzusehen, denen eine magische Kraft inucwohut. Die strenge Beobachtung dieser Gebräuche wehrt dem Übel und fördert das Heil in diesem und jenem Leben. Der Russe von gewöhnlichem Schlag — und man glaubt nicht, wie weit hinauf dieser reicht — lebt und stirbt in diesem Glauben und die Geistlichkeit hat noch wenig gethan, um demselben entgegenzutreten und der Moral vor der kirchlichen Magie Geltung zu verschaffen. Deshalb sind in Russlaud noch heute Dinge möglich, wie wir ihnen nur in abgelegenen Gegenden Italiens und Spaniens, in Landstrichen des borniertesten Katholizismus bcgcgneu mögen. Während meines Aufenthalts in St. Petersburg wurde ein junger Attache der österreichischen Votschaft beraubt und ermordet. Der Thäter, ein im Hause beschäftigter juugcr Bursche, wurde entdeckt und legte ein umfassendes Geständnis ab. Ehe er den Schauplatz seines Verbrechens betrat, war er in die Kirche gegangen und hatte sein Vorhaben dem Schutze der Hciligcu empfohlen. — Ein Räuber hatte einen Reisenden getötet und geplündert, sich aber nicht entschließen können, ein im Wagen aufgefundenes Stück gekochtes Fleisch zu essen, da es grade in der Fastenzeit war. Das sind extreme, aber charakteristische Fälle, welche die Geistcsrichtung kennzeichnen, die allgemein im russischen Volle vorwaltet. Man erwartet vom russischen Pfarrer — den seine Beichtkinder allgemein mit der Bezeichnung „Mtjuschka" (Väterchen) anreden — nichts weiter, als daß er das Gebrauchtum der Kirche mit Anstand uud Würde verrichte und er begnügt sich - 85 — damit, das zu leisten, was man vou ihm verlangt. Thut er das, ohne allzugroße Ansprüche an den Geldbeutel seiner Pfarrkinder, so ist man mit ihm zufrieden. Selten nur predigt und crmahut er: moralischen Einfluß auf scinc Beichtkinder besitzt er in den wenigsten Fälleu und strebt auch uicht dauach, solchen zu erlangeu. Hat der junge Geistliche scinc dürftige Ausbildung in Seminar und Akademie bceudigt. so sucht ihm der Bischof eine Frau. Es ist das ciu wichtiger Teil fewer Hirtcnpflichteu. Der Bischof ist der natürliche Beschützer der Wittwen und Waisen seiner Diözese, besonders aber seiner Geistlichen. Vermögen können die letzteren, bei ihren beschränkten ökonomischen Verhalt nissen, nicht hinterlassen, durch Arbeit töuuen ihre Hinterbliebenen das Dasein auf ihren Dörfcru unmöglich fristen, so muß denn gesorgt werden, daß ein junger Pfarrer eine der Töchter heirathct, bei dem dann, so weit es nöthig ist, die Familie, die Schwiegermutter eingeschlossen, untergebracht wird. Da ist es denn immer am besten, daß die Ehe geschlossen wird, ehe der alte Pfarrer das Zeitliche gesegnet hat. Er kann dann mit dem angenehmen Bewußtsein sterben, daß für die Zukunft der Seinen gesorgt ist. Auch muß die Sache in Ordnung gebracht sein, ehe der junge Mann die Weihen empfängt, da nach den Regeln der orthodoxen Kirche die tzeirath nicht nach der Priesterweihe stattfinden darf. Früher waren die Wcltgcistlicheu in Betreff ihres Lebensunterhalts auf den Ertrag des kleinen zur Kirche gehörigen Feld-komplexes und auf dcu Zehnten angewiesen, den sie von den Em-gepfarrtcn erhoben. Seit 18I __. behandeln. Alle übrigen sind für die Erbauung oder den religiösen Unterricht bestimmt. Doch haben einige hochstehende Prälaten auch tüchtige kirchengeschichtliche Schriften verfaßt. Die klösterliche Weihe kann kein Mann vor dem dreißigsten, keine Frau uor dem vierzigsten Jahre empfangen. Kein persönliches Verhältnis, keine Verpflichtung darf sie in der Welt binden, nicht die Ehe, Schulden oder eine gerichtliche Klage. Wollen zwei Gatten zugleich der Welt entsagen, dürfen kcine minderjährigen Kinder vorhanden fein. Der Mönch, wcl cher das Kloster verläßt, kann seine frühere weltliche Stellung, Amt, Ehren und Würden nicht zurückfordern; crkchrtindcnStand zurück, dem er von Geburt angehörte. Er darf nicht wieder Erzprich« im Ornat. M 0M Staatsdienst — 93 — treten und vor Ablauf von 7 Jahren weder einc der Hauptstädte noch das Gouvernement bewohnen, in welchem sich das Kloster befindet, das cr verließ. Kein Mönch darf Immobilien besitzeu oder Handelsgeschäfte fur seine Person betreiben. Zwischen der weißen und der schwarzen Geistlichkeit, d. h. zwischen den Pfarrgcistlichen und den Mönchen besteht eine gewisse feindselige Stimmung. Der Pope betrachtet es als ciue unverdiente Härte, daß ihm beinahe alle schweren Pflichten und keine der Ehren seines Standes zufallen. Die Mönche dagegen blicken auf die Parochialgeiftlichkcit wie auf einc Art halbgeist-lichcr Kaste herab und finden es in der Ordnung, daß dieselbe ihren Vorgesetzten ohne Murren gehorche. Vci den Klöstern selbst werde ich noch Ausführlicheres über das Leben ihrer Infasfen zu berichten haben. 3. Die Kirchen. Gerade weil die russische Kirche ihr Hauvtmumcnt in den äußeren Ritus, in die Ceremonie verlegt, hat sie bei dem ein' fachen Manne ans das Tiefste Wurzel gefaßt; die große Masse des Volks steht fcft auf kirchlichem Boden und es kommt ihr kaum in den Sinn, daß es anders sein könnte. Bei geringem Verständnis für verwickelte religiöse Satzuugeu, hält der russische Bauer felsenfest an seinem Glauben und seine Andacht ist die inbrünstigste. Die Religion ist ihm noch ein heiliger Schatz voll Weihe, Trost uud Erhcbuug. Da ist ihm denn die gesegnete Stätte, wo cr zu Gott, dem Heiland, der Jungfrau Maria und der großen Zahl feiner Heiligen betet, in Wahrheit ein Gegenstand innigster Verehrung, und eine Kirche zu erbauen oder zu ihrer Errichtung beizutragen ist ihm ein Wert höchsten religiösen Verdienstes. Daher die enorme Zahl gottcsdicnstlicher Gebäude in Russland, die, wenn man die Kirchen in Palästen, Ncgicrungsinstitutcn und Privathäuseru mitzählt, wol die Mitte zwischen 33 uud 34 tausend erreicht. Daher bcgcguct mau auch so häufig im Lande einfachen Leuten, in der Regel von Fig. 24. Sammlei.für den Nau einer Kirche. — 95 - vorgerückteren Jahren, welche das kolossale Reich von einen« Ende bis zum andern durchwandern, taufende von Rubeln in einzelnen Kopeken sammelnd, die sie am Schluß ihres jahrelangen Bittganges getreulich dem Bischof oder Kloster abliefern, welche die Absicht, ein neues Gotteshaus zu bauen, vor der Gemeinde kundgaben. Unübertrefflich schildert diese einfachen, gottestreueu Leute einer der ersten russischen Novellisten*): „Es zieht im heiligen Russland ein Bauer von Ort zu Ort; er ist weder jung noch alt, still, freundlich und wolwollend. Er denkt viel und spricht wenig. Seine Füße haben tansendc von Wersten durchwandert, seine Augen taufende von Menschen und Hunderte von Städten gesehen, er hat vieles gelernt und erfahren, aber, was er weiß, behalt er für sich. Im Frost des heiligen Dreikönigsfestes wie in der Maihitze und in der herbstlichen nassen Kälte, immer geht er im einfachen Kaftän, es ist ihm darin weder heiß noch kalt. Er trägt keine Mütze, nur im Winter bindet er sich ein Tuch um den Kopf. In den Händen hält er ein Buch, auf das ein Kreuz gedruckt ist; einst war es von Gold. aber das Gold ist längst verschwunden. Regen und Schneegestöber haben es abgespült, wie sie aus dem unbedeckten Kopfe alle menschlichen und sündhaften Gedanken fortgespült und fortgetragen haben. (Fig. 24.) Dieser Mann geht in der Welt umher und dient dem Herrn; er sammelt Geld zum Bau einer Kirche. Er geht mit dem Gelde allein durch Nacht und Sturm, durch die Wälder und auf den abgelegenen Wegen zwischen den Dörfern. Räuber und Mörder stürzen auf ihn zu, rühren ihn aber nicht an. Er hat kein Brod bei sich, giebt auch vom Gottesgcldc nichts aus und ist doch immer satt. Wenn er durch die kleinen Dörfer zu den Armen geht, sammelt er mehr; wenn er nach Moskau, Kljew und den anderen großen Städten kommt, sammelt er weniger. In den Hütten reicht man ihm Brod, in den Häusern giebt man ihm Geld, aber von Gutshöfen und Schlössern *) Graf Ssaliaft in: „Die Hütte auf Hühnelfüheu." - 96 — wird er oft fortgewicscn .... Und mehr als einen Gottcs-tempcl hat dieser Mann im heiligen Nussland errichtet. Wie ist sein Name? Auf den Namen kommt es nicht an ... Es giebt solcher viele . . . Gott helfe ihnen!" Die ältesten russischen Kirchen waren von Holz erbant, das Fig. 25. Alte hölzonie Kirche. geeignetste Material für das rauhe Klima der nördlichen Gegenden. Ihrer haben sich nur wenige erhalten, die meisten fielen den häufigen Feucrsbrimsten zur Beute. Wo sie aber seit Jahrhunderten stehen geblieben, erinnern sie auffallend an die alten — 97 — skandinavischen Holztirchcn, deren cine im 12. Jahrhundert erbaut, aus der Gegend von Drontheim in Norwegen, durch den Kunstsinn Friedrich Wilhelm IV. von Preußen erhalten und in das schlesische Ricsengebirge versetzt wurde. Unsere Leser erhalten in Fig. 25 die graphische Darstellung ciucr solchen alten hölzernen Kirche, die sich im Gouvernement Olänez außerordentlich gut erhalten hat. Die wenigen alten steinernen Kirchen, welche jetzt noch existieren, wurden am Ende des Mittelnltcrs gebaut. Man nahm dabei die Sophieutirche in Konstantinopel zum Muster, nur waren die Kopien sehr klein und des Klimas wegen mit sehr dicken Mauern versehen. Über dem Dach erheben sich fünf Kuppeln, die größere in der Mitte, um welche die vier kleinern ein regelmäßiges Quadrat bilden. Auf jeder Kuppel ragt ein hohes vergoldetes griechisches Kreuz, das sich von dem römischen durch die schräg stehende FMctste unterscheidet, und in der Regel auf einem Halbmonde steht. Die Kreuze sind mit Ketten behängen und durch diese an die Kuppel befestigt. (Vgl. Bd. I, Fig. 5.) Die Kuppeln sind von außen entweder mit einer lebhaften Farbe angestrichen oder ganz vergoldet oder versilbert. Die nenercu Kircheu sind sämmtlich iu dem sogenannten russisch-byzantinischen Stile erbaut, zeigen aber durchweg die quadratische Form mit einer großen Kuppel in der Mitte und vier kleineren an den Enden, Die hauptsächlichste Zugabe der neueren Zeit besteht iu zahlreichen Säulenreihen, die an den Por talen uud unter den Kuppeln angebracht werden. Kirchenuhren gehören zu den seltensten Ausnahmen; Knp-Pcln und Thürme werden erst an neueren Vautcu zum Aushängen der Glocken verwaudt. Sonst diente zu diesem Zwecke nach dem Muster der alten Basiliken ein von der Kirche gesonderter Glockenthurm, der Kolok'Unik, dem italienischen Campanile entsprechend. Bei ländlichen Kirchen ersetzt denselben ein einfaches Balkengerüst, auch wol ein starker, weitästiger Baum. Die umfangreicheren russischen Gotteshäuser haben ganze Massen von Glocken, Meyer, Nnsslaüd. II. ? — 98 — V3n den größten, ticfklingcnden bis zu dcm kleinsten schreiend hellen Geläute. Die russische Glocke selbst ist unbeweglich befestigt und wird mit einem schwebend angebundenen Hammer angeschlagen. Der Glöckner hält die Stricke, durch welche die Glockenhämmer in Bewegung gesetzt werden, in seinen Händen, so daß er die verschiedenen Glocken wie die Töne eines Instrumentes erklingen lassen kann. Dieselben sind der Mehrzahl nach wulklingend und gut abgestimmt, sonst würde der furchtbare mnsikalische Lärm, der auf ihucn an Festtagen verübt wird, kaum zu ertragen sein. Bald tönt eine einzelne tiefe Glocke ill langsam abgemessenen Schlägen, dann mischen sich mehrere mittlere Stimmen hinein, zuletzt erhebt sich ein wahres Schellen-gcklirr in entsetzlich schnellem Tcmpu, das mit den andern ein sinnverwirrendes Getöse hervorbringt, bis plötzlich eine Paust eintritt, die dann wieder von einzelnen tiefen Tönen unterbrochen wird. Der Regel nach muß jede russische Kirche in ihrer Längenausdehnung die Linie von Westen nach Osten einhalten. Der Hauftteingang liegt auf der Nbcndscite, das Allerheiligste im Morgen. Das Innere zerfällt nach der angegebenen Richtung in vier Teile: die Vorhalle mit dem Taufbecken, das Schiff mit dem großen Ambon (Traftcza) oder dem Agaftentisch, jetzt die Wcihctafel für die Mönche, dem um einige Stufen erhöhten Chor (Kliros), auf welchem sich die Sänger (früher auch die vornehmeren Gemeindegliedcr) befinden und dcm Allerheiligstcn mit dem Altar, dem Nüsttisch und der Vorrathskammer. Der Chor ist von dcm Allcrheiligsten durch eine rcichgcschmückte Gitterwand geschieden, die auf der dcm Schiff zugewandten Seite mit einer großen Anzahl von Heiligenbildern bedeckt ist nnd daher die Bildcrwand, der Ikonostüs (Eukonostasis) genannt wird. Auch die Wände der Gotteshäuser sind mit reichem Bilderschmuck versehen. Statuen heiliger Personen aufzustellen, gestattet die morgcnländischc Kirche nicht, erlaubt jedoch Reliefs und Mosaiken. Vom Chore aus führen drei Thüren des Ikonostüs in das Allcrheiligstc: die mittlere königliche oder heilige Pforte, die — W - nördliche und die südliche. Durch die königliche Thür darf nur der Oberpriester schreiten, sie ist gewöulich geschlossen, öffnet sich auch während des Gottesdienstes nur einigemal, steht aber in der Osterwoche sieben Tage und sieben Nächte hindurch uffeu. Durch die Scitenthürcn darf jeder Mann, Priester oder ^aie, das Allcrheiligste betreten; nur den Frauen — mit Ausnahme der Nonnen — ist es uutcrsagt. Der mehr oder weniger reich geschmückte Altar steht in der Mitte des Allcrheiligsten, der königlichen Pforte gegenüber. Auf demselben liegen ein großes Evangelium, ein silbernes Kreuz, aber ohne den Erlöser, da die griechische Kirche teiuc Skulpturen duldet; und zwischen beiden die Hostie, die jedoch nicht, wie bei >den Katholiken in einer Monstranz aufbewahrt wird. Häufig ist der Behälter derselben ein kleiner aus Metall gebildeter Berg mit Engeln besetzt. In einer Hole desselben steht ein klciuer silberner Sarg, welcher die Hostie umschließt. Dieser Hostienschrein ist die erhabenste Stelle des Allcrheiligsten, wie dieses der wichtigste Teil der ganzen Kirche; um ihn konzentriert sich so zu sagen das ganze Leben des Gottesdienstes. Das Innere der reicheren Kirchen stralt in kostbarem Schmuck. Überall prangen Gold und Silber, welche den Glanz von Hunderten von Wachskerzen widerspiegeln, die während des Gottesdienstes in kuustoolleu Kandelabern brennen. Die Heiligenbilder sind in Nahmen von Edelmetallen gefaßt, welche wie die Gewänder der dargestellten Personen mit Perlen und kostbaren Steinen inkrustiert siud. In dem Schiff, dem Raum für die Gemeinde, befinden sich weder Kirchcnstühlc, noch Sitze, noch irgendwelche Absonderungen. Alles steht während des Gottesdienstes untereinander, der Bettler neben dem Fürsteu, in wahr haft christlicher Gleichheit vor Gott, zuweilen kniet die ganze Gemeinde. Die Kirchensprache ist die altslavische, in welcher sowol die Bibelübersetzung wie die sehr umfaugreichc Agende abgefaßt ist. Für das Volk fast unverständlich, ist sie an den Gymnasien ot,- ?* — 100 — ligatorischer Unterrichtsgegcnstand. Nur die Predigt, wo einc solche stattfindet, wird in russischer Sprache gehalten. Sie bildet keinen wesentlichen Bestandteil des Gottesdienstes und siel in früherer Zeit ganz weg. Auch heute wird nur selten gepredigt und die meisten Kirchen haben keine Kanzel. Orgel uud andere musitalische Instrumente sind vom orthodoxen Nitus untersagt. Die musikalische Führung des Gottes-dieustcs übernimmt der Sängcrchor, welcher auf der rechten Seite des Kliros postiert ist. In den kleineren Kirchen rekrutiert man die Sänger, so gut es geht, aus der Gemeinde; in den Kathedralen der großen Städte besteht der Chor aus berufsmäßig ausgebildeten ausgezeichneten Stimmen, Die Kirchensänger des kaiserlichen Hofes, des Alcxander-N6wski-Klosters sind berühmt und kein Fremder, der Russland besucht, versäumt es, sich den hohen Genuß zu verschaffen, den eigentümlichen, charakteristischen russische« Kirchcngcsang, wie er von Lwow, Bortnjänski, Bachmütjew u. a. teils überarbeitet, teils neu komponiert wurde, von diesen ganz vorzüglichen Kirchen-Chören zu hören. Die herrliche Fülle dieser schönen Menschenstimmen dringt mächtiger und feierlicher an die Gewölbe des Gotteshauses, als die gewaltigste Orgel; die Gemeinde singt nicht mit. Die Liturgie der russischen Messe zerfällt in drei Teile: die Vorbereitung durch Gebet und Vibellesen nebst der Zubereitung des Brodes uud des Weines, die Wandlung der letzteren und die Kommunion selbst mit dem Schlußgcbct. Ist die Gemeinde im Schiff der Kirche versammelt und die rechte Zeit gekommen, so tritt zuförderst ein Dmkon aus der Seitcnthür des Ikonostas und stellt sich vor die verschlossenen königlichen Pforten, das Gesicht der Gemeinde zugewendet. Mit der Linken ergreift er ein langes, breites, goldgesticktes Band, das ihm über die Schulter herabhängt, an dein einen Ende, hebt es hoch empor und ruft, daß der Gottesdienst im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes beginne. Nach dieser Eröffnung verkündigt er in derselben malerischen Stellung, — 101 — im Namen welcher Personen man jetzt das Brod zur Begehnng der heiligen Handlung schneide. Unterdessen gießt der Priester, unsichtbar hinter dem Ikonostas, ans dem Msttischc den Wein in den Becher, zerschneidet das Brod in kleine Stückchen und schüttet es auf einen silbernen Teller. Nun wird das Evangelium aus der Ncbcnthür hervorgetragen. Der Dinkon von einigen Subdiickonen (Djatschuks) gefolgt, hält es hoch empör, küßt es und legt es auf den Pult nieder, das vor den königlichen Thüren steht. Der Geistliche erscheint und liest das Evangelium, wobei er von den Sängern häufig mit den Worten: Gospodi pomilui (Herr, erbarme dich) unterbrochen wird. Während dessen ist der Oberpriester am Altar hinter der Vilderwand geheimnisvoll mit allerlei Znrüstungcn beschäftigt. Durch die königlichen Thüren, die, von durchbrochener Arbeit, nur mit einem halbdnrchsichtigen Schleier bedeckt sind, erblickt man ihn. Das Evangelium ist gelesen und ein vom Sängcrchor angestimmter Psalm verkündet den Beginn der Wandlung. Die königlichen Thüren öffnen sich und das glänzende Innere des Allerheiligstcn mit dem geschmückten Altar wird sichtbar. Ill demselben Augenblick tritt die gesammtc Priestcrschaft der Kirche in feierlichem Zuge aus der Seitcnthür. Voran ein Djatsch6k mit brennender Kerze, ihm folgt der Obcrpriester den silbernen Weinbecher in der Hand, hinter ihm ein anderer Geistlicher den silbernen Brotteller auf dem Kopfe; sodann die übrigen. Sie bleiben vor den königlichen Pforten stehen, wo ein Gebet für dcu Kaiser und dessen Familie gesprochen wird. Nun treten sie durch die mittlere Thüre in das Allerhciligste zurück, setzen singend Brod und Wem ans den Altar und der Oberpriester kniet betend an demselben nieder. Einem abermaligen Zuruf des Dikkons an die Gemeinde, außerhalb des Allcrhcilig-sten, folgt ein eigentümliches Gebet desselben. Unter dem einfallenden Psalmengesang des Chores tritt er nun zu dem Priester am Altar und bittet den Herrn, Brod und Wein zu segnen. — 102 — Inzwischen haben sich die königlichen Pforten geschlossen. Jetzt wird das Vrot zum Wein in den Becher geschüttet und der Moment der Wandlung ist da. Sämmtliche Priester fallen vor dem Altar auf die Erde, die Gemeinde bekreuzigt sich in lebhafter Bewegung, viele fallen auf die Knie und küssen den Boden. Alle Glucken der Kirche ertönen gleichzeitig und verkünden den Vorgang nach anßcn, damit er auch dort durch ein Gebet gefeiert werde. Die königlichen Pforten öffnen sich von neuem und die Austeilung des heiligen Abendmals, als Schlußhandlung, beginnt. Nach einer Ansprache des Oberpriesters treten die Kommunikanten, einer nach dem andern hinzu, fallen dabei dreimal auf die Knie und empfangen das Abendmal, indem sie die Hände anf der Brust kreuzen. Das in den Wein getauchte Brod, zu dem noch warmes Wasser hinzugefügt wurde, wird mit einem kleinen silbernen Löffel aus dem Becher geschöpft und so gereicht, Nach dem Empfange desselben küßt der Kommunikant den Becher. Nun folgen noch, teils gesungen, teils gesprochen, Gebete und cm abermaliges Lesen der Bibel. Dann spricht der Ober-Priester den Abschicdssegen, die königlichen Pforten schließen sich, die Säuger intonieren einen neuen Psalm und die Gemeinde entfernt sich, indem sie sich bekreuzigt. Der Kultus der orthodoxen russischen Kirche mit seinen kostbar ausgestatteten, von unzähligen funkelnden Juwelen übersäcten Altären, Kirchcugeräthen und Heiligenbildern, mit den mysteriösen, gewaltigen, kunstvoll durchbrochenen und reich ciselierten königlichen Pforten, hinter denen der Oberpriester in tiefem Baß feme Gebete singt, während die Hünengestalt des TAkons mit lang herabwallcndcm Haar in reichem Kirchengewande vor der Altarpforte mit prächtiger Stimme antwortet; der Chor, voll süßen Wollauts, alles das hat etwas außerordentlich Stimmungsvolles und Poetisches. Der ganze Gottesdienst athmet Würde und Anmuth. — 103 — 4. Die Klöster. Man unterscheidet in Russland zwei Rangstufen unter den Klöstern. Die vornehmsten und bedeutendsten heißen Läwra (Laura), die übrigen Monastyr (Monasterium). Die Bezeichnung Läwra kommt aus dem Griechischen ^«^«) und bcdentet zunächst Straße, Stadtviertel. Sie wird in den ältesten Zeiten der orientalischen Kirche den Klöstern beigelegt, welche aus einem Kranze von Einsiedeleien bestanden, die einen inneren Raum vollständig umschlossen, später heißen so die Klöster überhaupt als rings eingefriedigte Orte. Ihrer Bedeutung nach bilden die russischen Lawren folgende Reihe: 1. das Hölcnkloster des heil. Antonius in Kljew, auf das ich noch zurückkomme und das ganz besonders die große wundertätige heilige Lawra^) genannt wird. 2. Das Drcifaltigkeitslloster des heil. Sscrgsi (Trüizkaja Lü.wra), 64 Kilometer von Moskau. 3. Das Kloster des heil. Alexander Mwsky (Nöwskaja Läwra) in St. Petersburg. 4. Das Kloster zu Maria Himmelfahrt (Usvenskaja Lä.wra) auf dem Potschajcw-schen Berge im Kreise Krcmenez des Gouvernements Wolynien. -- Auch das Tschüdow-Kloster in Moskau wird in alten Urkunden Lä.wra genannt, heute aber nicht dieser Kategorie zugezählt. Die Einkünfte, von denen die russischen Klöster erhalten werden, rühren her von sog. Avpertinentien, direkten Geldsub-sidien der Regierung, Geschenken aus dem Volke, von Micthzins aus Häusern, Speichern. Kellern u. s. w., welche dcu Klöstern gehören und den Zinsen ihrer Kapitalien. *) Cin ergötzliches Beispiel, wie sich dic Unwissenheit über Nussland breit macht, giebt Hr. Wilh. Goldbaum in seinem Buche „Entlegene Kulturen", Berlin 1877, herausgegeben von dem Verein für Deutsche Literatur (!). Der Verfasser hält die heilige Laura (Lawra) von Kijcw für eine verstorbene, schöne, heilige Frau, er sagt von einem Mädchen, sie sei tausendmal schöner, als dic heilige Laura von Kijew, spricht von den Gebeinen und der M'ottcnNrche der hciligcu Laura u, s. w. l.S .)l, ?^, 75 ) — 104 — Unter den Aftpertinentien versteht man die Seen, Mühlen Wiesen, Wälder u. s. w. der Klöster, die zu ihrem Unterhalt uon der Negierung angewiesen wnrden. Spezielle Untersuchungen ergeben, daß noch hentc den Klöstern etwa eine Million Dess-jatinen (9596 Quadratkilometer) Land gehört. An baarem Gelde erhalten sie vom Staate 408 749 Rubel. Die Einkünfte von den Kirchgängcrn nnd Wallfahrern hängen natürlich uon der Zahl derselben ab und sind deshalb bedeutenden Schwankungen unterworfen. Die großen Klöster in Kijcw und Moskau werden jährlich wol von 300 000 Gläubigen besucht, welche dort ihre Andacht verrichten. Unter den Einnahmen von diesen steht in erster Linie der Erlös von den Wachslichtern, welche die Betenden vom Kloster kanfcn und den von ihnen verehrten Heiligen weihen, indem sie dieselben vor den Bildern jener aufstellen und anzünden. Diese Wachslichtgcldcr betragen in den großen Klöstern zwischen 20-und 40000 Nubcl. Hierher gehören ferner die Heiligenbilder, Medaillons, welche nm den Hals getragen werden, Rosenkränze u. drgl., die in besonderen Verkaufsbuden (Läwka) der Klöster den Wallfahrern feilgeboten werden (Fig. 26). Weiterhin das im Klingelbeutel und in den ausgestellten Büchsen gesammelte Geld; das Kloster Ssolowezk im Gouv. Ar^ change! entnahm diesen Büchsen im Verlauf eines Jahres gcgcu W0i!0 Rubel. Einen nicht unbeträchtlichen Posten bilden sodann die Einnahmen von den bestellten Dank- nnd Bitt-Gottes-dienstcn. Endlich gehören in diese Kategorie die Hostien- und Proskomidien-Gelder. Fast keiner der Wallfahrer verläßt die Kirche, ohne sich eine Hostie gekauft und sie mit Beifügung einer Gcldmünze dem Priester bei der Proskomidic (dem Zerschneiden des Brodes zum Abendmahl, bei welchem der Namen Lebender oder Verstorbener fürbittend gedacht wird) übergeben zu haben. Die Geldgeschenke und freiwilligen Spenden frommer Geber sind gleichfalls hierher zu rechnen. Nußer diesen Einkünften, welche den Klöstern so zu sagen innerhalb ihrer Mauern zufließen, giebt es auch noch solche, die WVnch im Vcrtaufsladcn des Ssolowüztisch«, Klosters, sie aus verschiedenen Wegen von außen beziehen. Hierher gehören zuerst die von den Klöstern an den Landstraßen, in Städten und Dörfern, gebauten und unterhaltenen Kapellen. Das Gebet- — 106 — Häuschen Uni Kaujhof iGustiunoi-Dwor) zu St. Petersburg, welches dem Gusslizkischen Kloster gehört, soll im Jahre circa 120^0 Rubel einnehmen. In zweiter Reihe kommen hicr die kirchlichen Prozessionen mit Heiligenbildern in Betracht, die oft Fiq. 2?. tagelang dauern, Entfer- nungen von w bis 1.00 Mo-mctcr zurücklegen und in allen Dörfern und Weilern vor den Heiligenbildern gegen Entgelt Gottesdienst abhalten. Manche Klöster sollen auf diesem Wcgc jährlich bis 15 000 Rubel eiunchmen. Endlich sind hier noch die Kollekten-Gelder zu nennen. Sämmtliche Klöster Pflegen durch ganz Rusfland ihre Kollektensammler zu entsenden, welche bei allen frommen Christen milde Gaben entgegenzunehmen befugt sind. Nach allen Richtungen dnrchst^ii^! diese Klosterbrüder und Klosterschwc-stern das Reich von Dorf zu Dorf, von Hütte zu Hütte. In der Hand halten sie einen mit schwarzem Sloff überzogenen viereckigen Sammclteller, der mit zwei in Kreuzform aufgeklebten Silbcrbortcn „geweiht" ist. lFig 27.) Bei den sammelnden Nonnen schauen zuweilen recht hübsche, frische Gesichter aus dem langen schwarzen Kopftuch hervor. Dic Nächte briugen sie in den Hütten der Bauern zu und pilgern — 107 — weiter und weiter, bis sic ihr Bettelzug mit dcu eingeheimsten Gaben, für welche sie überall mit einem „Gott bezahlt es" vergelten, in das heimische Kloster zurückführt. Übrigens ist der Betrag dieser Kollekte geringer, als man denken möchte. Eine bcdeuteudc Einnahme für die Klöster ist das Sterben der Menschen. Zunächst besitzen sie große Friedhöfe, deren Plätze von den Gläubigen für die ewige Ruhe sehr gesucht und theuer bezahlt werden. Das Alexander-Newski-Kloster in St. Petersburg z. B. nimmt für Gräber, je nach der Lage, bis zu 500 Rubel, dazu kommen die Kosten der Beerdigung selbst, die in der ersten Abteilung jenes Klosters 1000 Nubel betragen. Ferner knüpfen sich daran die Einkünfte für Trauerliturgien, Seelenmessen u. dgl. Bei allen Klöstern findet man größere oder kleinere Gasthäuser und Hospize, in welchen die Wallfahrer Aufnahme finden. Die ersteren sind für die wolhabcndcn Klassen bestimmt, die letzteren für arme Leute. Von den Gasthäusern sind manche so elegant und komfortabel eingerichtet, daß sie den größten Petersburger 5) otels an die Seite gestellt werden können. Dort existieren dann auch feste Preise für die Zimmer. Bei weniger gut eingerichteten zahlt man nach Belieben. Die Einnahmen der Klöster auf diesem Gebiet erstrecken sich von circa 400 bis 24000 Nubcl. Nehmen wir zu allem Aufgeführten noch die Einnahmen aus dem Vcrmicthen von Speichern, Häusern u. dgl., welche z. B. bei dem Nowski-Klostcr in St. Petersburg sehr bedeutend sind, nnd die Renten der deponierten Kapitalien, so ergiebt sich für die 485 russischen Klöster eine beiläufige Einnahme von neun Millionen Rubel. Dabei besitzen sie unermeßlich große Schätze an Metallen und Edelsteinen, die nur annähernd zu taxieren zu den Unmöglichkeiten gehört. Die Schatzkammern des Moskauer Hauptklosters und des IÄnc Menge Betender lag auf den Stufen des prachtvollen Grabmals. Aus dem Gottes^ haus traten wir hinaus anf die Terrasse des Klosters und ein Anblick von unbeschreiblicher Schönheit bot sich dem naturdurstigen Auge dar. Zu unsern Füßen im Abendgold schimmernd der glänzende See, eingeengt in riesige Granübccken und Kauäle, die zahllosen wildbewachsenen Inseln mit hellfarbigen Laubbänmcn und dunklem Nadelholz, durchsäet mit Kirchen, Kapellen lind den Hütten der Anachoretcn. Langtielige Boote kreuzen vou Eiland zu Eiland. Schaareu wilden Geflügels fliegen und schwimmen dazwischen, ein wunderbares Paradies der Nuhe und des Friedens -—- nntcr dem 6ii. Grad nördlicher Breite. Den Mckweg nahmen wir durch den Klostergarten voll herrlicher Blumen und köstlicher Früchte. Vater Griguri, der Klostergärtner, empfing uus, ein stcinaltcr Mönch mit langem weißem Haar. Der Frieden der Seele stand in deutlicher Schrift auf dem gebräunten Antlitz des Greises, dessen Leben ruhig Meyer, Rufslanb. II. 3 — 114 — dahin geflossen war zwischen frommen Gebet und dein Umgang mit der ewig jungen Natur. Er pflückte uns herrliche Beeren, wie sie nur der hohe Norden zu erzeugen vermag und geleitete uns auf den Weg zur freundlichen Herberge. Kaum hatte der helle Sonnenschein uns vom Lager gelockt, so erschien auch schon Vater Feottist, unser erster Führer und Geleitsmann, mit trefflichem Thee und lockerem Weißbrot. Zucker und Butter lieferte die eigene Reiseküche uud so war unser Früh-mal wolbestellt. Dann gings auf die Wanderung durch Kirchen, Wohnungen und Wilthschaftsgebäude. Überall die größte Ordnung, die peinlichste Sauberkeit. Mehr als die eintönige Pracht der Tempel, als das Deutmalzur Erinnerung an den Besuch des Kaisers Alexander I., als die Schatzkammer mit ihren edelsteinbesäeten Priester^ ornatcn, Meßbüchern nnd Altargcfäßen, mehr noch als die Bibliothek, die viele seltene Kirchenbücher, aber keine Handschriften enthält, zog mich das Haus der Werkstätten an, in dessen weiten Räumen alle Handwerke von den frommen Vätern getrieben werden, welche zur Befriedigung der bescheidenen Lebensbedürfnisse unserer gastfreundlichen Mönche dienen. Während Mühle und Brot-bäckerci sich im Hanptgebändc neben der Küche befinden, ist hier die Tischlerei, Schuhmacherwerkstatt. Weberei, das Atelier der Klosterschneider, die Schmiede, die Schlosserei und eine Menge anderer Gewerbe in einem wahren Prachtgebäudc und seinen, acht Etagen übereinander bildenden, in den Felsen gehauenen gewölbten Kellern einquartiert. Nun gings zum Ufer hinab. Ein Laugboot mit fechs rudernden Mönchen erwartete uns. Vater Feokttst setzte sich ans Stener, wir stiegen ein, unter dem Tattschlag der Riemen wirbelten funkelnde Diamanten in die Luft und hinein gings in die wunderbare Zauberwelt der Fclseninseln. Das Wasser glatt wie ein Spiegel und durchsichtig klar. Ein Felskoloß nach dem andern, jeder Vorsprung mit goldgrünem Laub, mit blauschwarzcn Tannen geschmückt, schiebt sich vor und scheint den Kanal zu schließen, bis sich zur Seite eine neue Bucht öffnet, die uns weiter führt. — 115 — Bei jeder Wcudung des Bootes cm neues Bild. Neben uns schwimmen ruhig wilde Enden, unbekannt mit der Tücke der Menschen; über unsern Häuptern zieht eine Schaar von Kranichen. Jetzt wird die Gegend wilder und dunkler, die Felsen höher;eiu Wildbach rauscht von der Waud herab, zwischen den Bäumen schimmert die Wohnung eines Anachoreten. Sie steht verwaist und harrt auf einen neuen Insassen; der asketische Mönch, der dort sieben Jahre einsam und schweigend zugebracht, ist kürzlich gestorben. Das Boot nähert sich einer kleinen lieblichen Insel. Auf der Höhe ragt das griechische Kreuz. Unter dunkeln Bäumen schimmert ein Kirchendach, nicht weit davou ein stattliches Haus. Wir landen. Es ist der „Schkit" des heiligen Nikolai des Wunderthätcrs, den wir betretet,. Unter „Schklt" — das Wort stammt vielleicht alts dein Altnordischen und hängt mit „scheiden" znsammen — versteht mau eine gesonderte Abteilung des Klosters, deren Mönche freiwillig nach einer strengeren Observanz leben, Sie schweigen stets, leben nur von Vegctabilien und Wasser und ihre Kirche ist zu keiner Stunde des Tages oder der Nacht ohne eine bestimmte Anzahl Betender, bei welchem frommen Dienst sich die Mönche stündlich ablösen. Unser Bestich beschränkte sich selbstverständlich auf stummes Schauen. Das Nohnhans enthält helle, reinliche Zellen und ein größeres Zimmer für den Igümcn, der sich zuweilen für einige Zeit in den Schktt zurückzieht. Solcher Niederlassungen strenger Obscrvanz hat Walaäm vier. Außer dem Schktt des heiligen Nikolai, der eine Werst (Kilometer) vom Hauptkloster entfernt ist, den bedeutend größeren „Aller Heiligen" auf zwei Werst Entfcrnnng, den Schkit des Alexander Swirsti, Werst vom Kloster und endlich den Johannes des Täufers, vier sieben Werst von der Hauvtinsel gelegen. Über Felsgeröll und durch Fichtenwald gelangten wir znm Ufer und Vater Feoktlst steuerte uns auf einer andern hcrrlichcu Wasserstraße zwischen andern Inselgruppen hindurch zum Kloster zurück. 8* — 116 — Ringsum neue Bilder, neue Reize dieser wunderbaren, jungfräulichen Natur. Auf den Inseln Walaäms donnert kein Schuß, kein Jäger darf dcm Wilde Fallen stellen. Das Kloster gestattet feine Jagd in seinem Bereich, kein warmblütiges Tier darf getötet werden. Am Ufer der Felscneilande grast ruhig und sicher das riesige Elen, spielt die Häsin unbesorgt mit ihren Jungen und der Fuchs sieht bedächtig auf die oorübcrfahrendcn Mouche herab. Im Winter kommen zuweilen aus Finlands Urwäldern Wölfe und Bäreu über das Eis. Da hören denn wol die Väter im uahen Walde das dumpfe Geheul, das heisere Bellen und der kluge Fuchs sucht Schutz und Nahruug bei den betenden Menschen, Mit gleichmäßigem Nuderschlage durchkreuzen wir den wundersamen Archipel uud landen wieder auf der Hauptiusel. Es ist Mittagszeit. Wir folgen der Einladung des Vater Igiuuen nud nehmen Teil am gemeinschaftlichen Mal der Mönche nnd Pilger. Unser treuer Führer geleitet uus durch die gewölbten Gänge des Klostcrgebäudcs in das Refektorium. Ein großer, huchgewölbtcr weißgetünchter Raum iu der Furm eines länglichen Rechtecks' sein einziger Schmuck einige Heiligenbilder. Drei gedeckte Tafeln in der ^ängcausdchnuug aufgestellt und parallel laufcud, füllen den größtcu Teil des Saales, Der mittlere Tisch ist etwas kürzer als die beiden andern; an seinem Kopfende steht eine Art Katheder. Diese mittlere Tafel ist für die vornehmen Gäste bestimmt, die rechts vom Katheder für die Mönche, die links für dic Pilger aus dem Volke. Fast alle Plätze sind schon besetzt. Tie Uuterhaltuug findet, so weit möglich und nöthig, nur durch Blicke und Zeichen statt. Während des Males im Refektorium darf nur eine einzige Person sprechen: der Mönch, der jetzt das Katheder einnimmt und mit lauter Stimme erst ein Gebet, dann Psalmen liest, in welchem frommen Geschäft er sich während der Dauer des Males tciucn Augenblick unterbricht. Die Tafeln sind mit glänzend weißem Linnen gedeckt. Vor jedem Platze befinden sich einige Teller übereinander geschichtet, cin Messer und — 117 — cm Löffel. Gabeln werden als unnützer Luxus betrachtet und finden sich nur auf dem mittleren Tifche. Auf der rechten Seite jedes Gedeckes liegt ein schönes großes Wcißbrod, auf der linken eine mehr als faustgroße Fischpastete (Pirog). Hinter den Tellern steht ein Becher aus Metall. In der Mitte der Tafel, zwischen großen mit Kwaß gefüllten Krugen sind die Bestandteile der kalten russischen Fischsuppe (Batwlnja), wol geordnet: mehrere Arten gesalzener Fische, Lauch, Kräuter, Gurken, Essig, den Kwaß nicht zu vergessen. Ein einzelner Glockenschlag ertönt — das Zeichen zum Anfang des Males. Der Psalmcnleser beginnt sein Gebet, alles lauscht still und andächtig. Er spricht das Amen, jedermann bekreuzigt sich, die Psalmen und die Malzeit werden in Angriff genommen. Man bereitet sich selbst seine Batwinja nach Gewohnheit und Geschmack und läßt sich del, trefflichen Pirug dazu schmecken. Die kräftige Stimme des Psalmenlesenden Mönches übertönt das leise Geräusch der Löffel und Messer. Genau fünfzehn Minnten sind vergangen, da tönt abermals cm einzelner Glockenschlag. Eine Scitenthür öffnet sich, eine lange Reihe dienender Brüder, einer hinter dem andern, tritt ruhigen, gemessenen Schrittes ein; in wenigen Augenblicken haben sie die Tafeln abgeräumt und mit den Speisen des zweiten Ganges besetzt. Derselbe besteht aus den köstlichsten Fischen, gekocht, gebraten, geschmort — warm, kalt — kurz in mannigfaltigster Art der Zubereitung mit allerlei Gemüse und Salat. Abermals nach einer Viertelstunde wiederholt sich das Glockenzeichen mit der Erscheinung der dienenden Brüder. Es wird abgeräumt, ein Dankgebet gesprochen; alles verneigt sich und schlägt das Kreuz. Das Mal ist vorüber. Wir schlendern unserer Wohnung zu, um nach den Anstrengungen des Morgens, die Mittagszeit in Ruhe zu verbringen. Da kreuzt unsern Pfad ein ziemlich verwittert aussehender Mönch und redet uns an: „Gnädige Herren, Ihr seid aus Petersburg 5 wollt Ihr einem armen Manne einen Liebesdienst erweisen?" — „Recht gern!" — „Sucht mein Weib auf — 118 — und meine Kinder, bringt ihnen meinen Grnß und sagt, daß ich lebe und gesund bin." — „Ihr seid Mönch und habt Weib und Kinder?" — „ich bin kein Mönch, ich bin Pope, von der geistlichen Obrigkeit auf sechs Jahre ins Kloster geschickt." — „Auf sechs Jahre! Das ist hart — und weshalb, mein Vater?" — „Wegen Trunksucht!" erwiederte der Bedauernswürdige, eine Thräne rollte über sein mageres, bleiches Antlitz; er nannte uns die Wohnuug sciucs verlassenen Weibes und ging. Als wir uns zu nencn Exkursionen auf den Weg machen wollten, erfüllte ein feiner Vratengeruch die gewölbten Gänge des gastlichen Hauses. Wir äußerten gegen Vater Feoktlst unser Erstaunen über diese fremdartige Erschcinnug und er führte uns durch einige Korridors zum Urquell des Aroms. Es war eine große, prachtvolle, helle Küche mit drei oder vier Herden. An dem ciucu stand ein sehr weltlicher Koch ill dem bekannten weißen Kostüm, eifrig beschäftigt. „Wenn wir unsern Gästen nur Fastcnspcise vorsetzen können — erklärte unser Geleitsmann - so sollenihncndoch wenigstens Mittel und Gelegenheit nichtfehlen, nach ihrer Weise zu leben. Wer sich also nur die Dienerschaft uud die nöthigen Vorräthe mitbringt, kann hier nach Herzens-Inst kochen und braten lassen, wie es ihm gefällt." Am andern Morgen in der Frühe mahnte die Schiffsglocke der Iariza zum Abschied. Wir besnchten den ehrwürdigen Prior, um für die genossene Gastfreundschaft unsern Dank abzustatten. Unser Entzücken über das herrliche Inselkloster machte ihm die größte Freude und er ladet uns zu baldiger Wiederholung der Pilgerfahrt ein. Der Sitte gemäß verneigen wir uns tief und wollen ihm, wie alle Reisegenossen, die Hand küssen. Er ließ das nicht zu, legte jedem von uns segnend die Hände anfs Haupt und küßte uns auf die Stirn. Von ganzem Herzen dankbaren Abschied nahmen wir von Vater Fcoktlst, der uus mit emaillierten Bildern der Heiligen Ssergm und G6rman beschenkte. Der Prior mit sämmtlichen Mönchen begleitete uns zum Landungsplatz. Unter der Segenspendung des Vaters TamMin — 119 — löste sich der Dampfer vom Ufer und rauschte an den Felsen vorüber. Mit wehmütigem Entzücken blicken wir zum letztenmal an den steilen Granitwänden empor. Hoch oben auf der Terrasse steht der ehrwürdige Igümen mit seinem Gefolge und winkt nochmals Segen und Abschiedsgruß über das Schiff und die es heimwärts trägt. Entblößten Hauptes danken wir. Der Dampfer zieht seine Furche durch den Spiegel des Sees. Sehnsüchtig wendet sich das Auge nochmals zurück uach der wunderbaren Insel. Noch einen Gruß hinauf iu das Waldesdunkel zur Wohnuug des Eremiten — der Felsen mit der leuchtenden Kapelle verschwindet, der Ton des Glöckchens verhallt, Walaä,m ist den Blicken entschwunden. — Das Hölenkloster in Kijew ist der Centralpunkt dieser heiligen Stadt, zu welcher die Wallfahrer aus der weitesten Ferne hcrbcipilgern, um an dieser ehrwürdigsten Stätte der russischen Kirche ihr Gebet zu verrichten. Auf deu Höhen am rechten Ufer des Dnjcpr unter andern Klöstern nnd Kathedralen, erhebt sich das Hulenklustcr auf einem Berge, der gegcu den Strom zll schroff abfällt. Es besteht aus vier Abteilungen, der eigentlichen Läwra, dem Krankenkloster, dem Kloster der nahen und dein Kloster der entfernten Holen. Gegründet wurde das Heiligtum - wie berichtet wird — von dem ehrwürdigen Anton aus der Stadt Ljubetsch, der auf dem Berge Athos zum Mönch geweiht worden und bei seiner Rückkehr nach Russland (1013) an dem Orte des heuttgeu Klosters eine Hole fand, welche von den Warägern ausgegraben war. Später soll er eine zweite Hole gefunden und in beiden lange Zeit asketifch gelebt haben. Sein Ruf verbreitete sich im Lande uud seine Hole verwandelte sich in ein Kloster mit zahlreichen Grotten unter und stattlichen Gebäuden über der Erde, das oft Zerstört und geplündert, immer aber wieder glänzender als vorher aufgebaut wurde. Jetzt sind seine Kirchen und Gebände. mit Ausnahme des Abhangs zmu Flusse nnd der Südseite, die sich in Gärten verliert, durch — l20 — Befestigungen geschützt, die im Jahre 1716 uon Peter dem Großen angelegt wurden. (Fig. 29.) Schreitet man durch das mit Heiligenbildern geschmückte Klostcrthor, so erblickt man innerhalb des Gebäudes die kleinen Zellen der Mönche, vor denen sorgsam gepflegte Sträucher und Blumenbeete cincu gar freundlichen Eindruck machen. Ein breites Trottoir aus Hausteinen fuhrt in die Kathedrale, welche nach einem alten dort befindlichen Muttergottesbilde den Nameu „Mariä-Himmelfahrt" trägt. Gegen Südw.'st erhebt sich der gewaltige, wundervolle, aus vier Stockwerken bestehende Gluckcn-thurm. Ein langer bedeckter Gang führt am Berge hinab nach der Stelle, wo die Kirche zur Kreuzerhöhung steht, durch die mau zu den Holen gelangt. Beim Eingänge in dieselben erhält man von dem geleitenden Mönche eine geweihte brennende Wachskerze und durch ein eisernes Gittertor betritt man das Reich des Todcs. Die Luft ist schwer und drückend. Hier und dort sind die glatten Sandstcinwä'nde von dem Nauch der Lichter geschwärzt, was aber kaum bemerkbar ist in dem Glänze der zahllosen Kerzen, zwischen denen in Gold und Silber altslawische Inschriften schimmern. Eine ungeheure Meuge von Pilgern füllt die unterirdischen Gänge; von den Kapellen her erschallen die harmonischen Töne des Kirchengcsangcs. Aus den Zellen ringsumher starren dnn Wanderer die unverwcsten Leichname der Heiligen entgegen — alles hier verkündet die Vergänglichkeit des Irdischen und die Schauer des Todcs. Noch jetzt soll es oftfermuthigc fromme Gemüther geben, die einmal in diese Gräberhallen lncdcrgcstiegen, nicht mehr an des Tages Licht zurückkehren und den Nest ihres Lebens hier in Buße und Gebet verbringen. Die unterirdischen Gänge ähneln den Strecken und Stollen der Bergwerke, sind etwa 7 Fuß hoch und 4 bis 5 Fuß breit. In labyrinthischen Windungen ziehen sich die beiden Abteilungen derselben mehr als eine halbe Stunde lang in den Felsen und Fig, Z9. Das Hülenklofter;u Kijeiu. — 122 - bilden eine Art weiten Kreis, so daß man, nachdem die drei unterirdischen Kirchen passiert sind, beim Ende der Wanderung wieder zur Eingangspforte zurückkehrt. Alle 20 bis 50 Schritte ist in den Gallericn rechts oder links eine Nische angebracht, mit einem aus dem anstehenden Gebirg herausgearbeiteten Stein--sarg. Es sind die Grabstätten der alten Einsiedler, welche sämmtlich als Heilige verehrt werden. Die Körper verwesen in diesem Grottcnbau nicht; sie trocknen nur zusammen. Alle liegen offen in Mönchsgcwändern ausgestreckt in ihren Steinsärgen. Über jeden ist eine bunte Decke von Sammet oder Seide, prächtig in Gold gestickt, ausgebreitet. Der Klostcrführer Pflegt dieselbe hier nnd dort zu entfernen, um dem Pilger den Anblick der unver-westen Leichname zu gönnen. Einer der Heiligen hatte sich lebendig bis an den Hals in die Erde eingrabcn lassen, so daß nur der Kopf hervorragte und ist so gestorben. Hin und wieder sind neben den Gängen tlcine Zellen in den Fels cingchauen. Sie sind von mönchischen Einsiedlern bewohnt gewesen, die diesen traurigen Aufenthalt nicht mehr verließen, mit niemand sprachen nnd sich durch kleine fenstcrartigc Öffnungen die kärgliche Nahrung reichen ließen. Die Zelle, welche der Stifter des Hölenklosters, der heilige Anton, bewohnte nnd die ans Sandstein hcrans-gemeißelte Bank, auf welcher er zu sitzen pflegte, wenn er die Brüder belehrte, werden gezeigt. Über der Grabhöle des berühmten russischen Chronisten Nestor (1066 — ca. N46), der seit seinein siebzehnten Jahre ein Insasse des Hölenklosters war, befindet sich eine Metalltafel mit Inschrift. An verschiedenen Stellen sind in den Felsen Schädel eingelassen, welche ein Öl ansschwitzcn, das als kostbares Salböl zn hohem Preise abgelassen und versendet wird. Auch freistehende Schädel werden gezeigt, welche diesen Chrisam (russisch Mhro) ausschwitzen. Ob die Waräger, ob die Mönche oder die Natur die meisten dieser unterirdischen Gänge und Holen gebildet, läßt sich ohne genaue geognostische Untersuchung, die schwerlich statthaft wäre, nicht entscheiden. Das letztere ist wol das wahrscheinlichste uud - 123 — die jetzt vorhandenen unterirdischen Räume sind ans Natur-hölen, wie die Muggeudorfer m Bayern, die Baumanns- und Vielshüle am Harz, entstanden. Sie würden sonst — ohne die Hilfsmittel des muderncn Bergbaues — bei jenen ersten mittelalterlichen Bewohnern eine ans Unmögliche grenzende Arbeitskraft nnd Ausdauer voraussetzen. Das Ssolowvzkischc Kloster liegt unter dem 65. Grad nördlicher Breite im weißen Meere am Eingänge der On^ga-Vai. Die Gründer desselben, die Mönche Ssawati, German nnd Sossima, kamen aus dem Süden und hatten längere Zeit am Ufer des Bjclosero, auf der Insel Wala^m und am Flusse Wyg zugebracht. Von einem eigentümlichen Dränge nach Norden getrieben, ließen sie sich endlich aus der Ssolow^zkischen Insel nieder. Im Jahre 1429 erhob sich zwölf Werst von dem Orte, wo jetzt das Hauptklostcr steht, die erste Einsiedelei jener frommen Väter, welche das Mönchslcbcn in diese nördlich gelegenen Gegenden verpflanzten. Das Kloster gelangte bald zu einer erfreulichen Blüthe und erwarb auch auf dein Fcstlandc Grundbesitz. Besondere Verdienste um dasselbe crward sich um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts der Abt Filipp, welcher sich der besondern Gunst des Zaren Iwan IV. crfrcnte. Dieser schenkte dem Kloster eine Anzahl Dörfer, Fischereien und Salzsiedereien und legte damit den Grund zu dem wachsenden Reichtnm desselben. Mit außcrordcnilichcm organisatorischem Talent begabt, verwerthete Filipp eine Menge von Arbeitskräften für die Niederlassung, machte die umgebende Natur dienstbar und produktiv und sammelte bedeutende Kapitalien. Er führte die Ncnntier-zucht ein, gründete auf einer kleinen Nebcninscl Mukssalma eine Milchwirtschaft, welcbe heute noch prospcricrt, baute Mühlen, legte ausgezeichnete Wege an und konstruierte ein großartiges Netz von Wasserstraßen, welche die Verbindung zwischen 52 der ,M) Scecn herstellte, die sich anf der Hauptinsel bcfindru. Hierdurch wurde die Fischerei in hervorragender Weise gefördert. Asses in allem organisierte er auf der Inselgruppe einen groß- — 124 — Fig. 30. artigen Haushalt, dcr ebenso klug crsomu'n. wie umsichtig geleitet, überall von der persönlichen Anteilnahme des verständigen Oberhirten Zeugnis gab. Wie manches andere Kloster Russlands erhielt das Ssolo- Das Nsolowöztische Kloster roin Meere gcsehcn. — 125 — wszkische strategische Bedeutung. Im Jahre 1578 schenkte Zar Iwan IV. dem Mönchshausc Kanoucn und man umgab es mit Fcstungswällcn, weil man nicht ohne Gruud einen Angriff der Schweden auf die neue Ansiedelung befürchtete. Dieser Angriff erfolgte 1611 und wurde abgewiesen. Einige Jahrzehnte später hatten sich hervorragende Sektierer in das Kloster zurückgezogen, die Mönche für ihre Ansichten gewonnen und boten, hinter den wolbefestigtcn Wällen, der Staatskirche und der Staatsgewalt Trotz. Die Belagerung währte mehrere Jahre und 1676 nahmen die Truppen des Zaren die mönchische Festung ein. Nicht ganz zwei Jahrhunderte später wurde die Insel abermals der Schau-Platz kriegerischer Ereignisse. Während des Krymkrieges, am 18. Juni 1854, erschienen englische Kriegsschiffe vor dem Kloster, bombardierten dasselbe, ohne erheblichen Schaden anzurichten, nnd mußten es anfgcbcn, die Übergabe der Insel zu erzwingen. Die stattlichen Bauten des Hauptklostcrs, von denen unscre Fig. 30 eine Übersicht giebt, stammen im Wesentlichen ans der Zeit von 1582 — 1594. Ein Mönch Trifän entwarf den Plan zu diesem wolkonstruierten System von Kirchen und Kapellen, Wirtschaftsgebäuden und Schutzmancrn. Das ganze inacht den Eindruck großer Ordnung und Sauberkeit. Das Ssolowözkische Kloster ist eine Welt im Kleinen. Hier finden sich Ackerbau, Fischerei, Industrie, Handel, und alles in gewaltigem Maßstabe. Die großen gewerblichen Anstalten der Insel werden durch bedeutende Etablissements auf dem Festlande ergänzt. Der Verkehr zwischen der ersteren und den verschiedenen Punkten des letzteren ist ein sehr lebhafter nnd wird dnrch Fahrzeuge vermittelt, welche ans den Werften des Klosters gebaut wurden. Zu den Mehl- und Walkmühlen, den Gerbereien, der großen Sägemühle und anderen industriellen Instituten wird überall die Wasserkraft in gefchickter Weise benutzt. Das Klima ist durch die Einwirkung des Golfstroms milder als sonst in diesen Breitegradcn vorkommt lind die Blumen- nnd Gemüsegärten des Klosters sind in Folge dessen in prächtigem Staude. — 126 - Im Kemschen Kreise (auf dem Festlande) besitzt das Kloster Eiscnbergwerke und Hütten und im Winter, wo es wenig odcr keine Pilger auf der Insel giebt, wird in den Schmiedcwcrkstättcn derselben eine großartige Thätigkeit entfaltet, um das gewonnene Eisen zn verarbeiten. Eine ansehnliche Schlcifanstalt hält alles Werkzeug in Ordnung. Fischerei und Gemüsezucht liefert den Lebensunterhalt für die Mönche und Pilger und doch ist das Kloster noch im Stande, Fische zu einem jährlichen Betrage von 50 000 Rubel zu exportieren. Das weiße Meer birgt einen solchen Reichtum lebender Bewohner, daß oft durch einen einzigen Zug 6000 Pfund Fische gefangen werden. Die Produkte der Gerberei ergeben gleichfalls einen jährlichen Ertrag von 50 000 Rubel. Bei der Einrichtung aller gewerblichen Anstalten sind die neuesten Fortschritte der Technik berücksichtigt. Alles, was die Insel hervorbringt, wird verwerthet, so wird Pech erzeugt und Terpentin gewonnen. Die Milchwirthschaft anf dem Eiland Mnkssalma, das durch einen zwei Kilometer langen Damm mit der Hauptinsel vcrbuudcn ist, wird in großartigster Weise betrieben. Zweihundert Kühe voll der sogenannten Kolmogörischcn Rasse, welche durch Peter den Großen in den hohen Norden eingeführt wurde, weiden anf den fetten Wiesen. Die größte Ordnung und Sauberkeit herrscht bei der Vereitung der Milchprodukte. Überall auf der Insel treten uns Unternehmungslust, Fleiß und Geschick entgegen. Außer den genannten industriellen Anstalten bcsitzt dasKlostcr nochZiegcleicn,Schreiner-.Schuhmachcr-nnd Schneiderwerkstätten, eine Goldstickerei, eine Lithographie und ein photographischcs Atelier. Die Mönche finden sich in jede Veschästignng, in jeden Beruf, dessen man bedarf. Sie sind Gärtner, Fischer, Ackerbauer, Kaufleute, Schiffskapitäne, Architekten - alles, was man will. Die Hauptquclle des Wolstandes für das Kloster sind natürlich die in jedem Jahre herbeiströmenden zahlreichen Pilgcr-scharen. Sie bringen zu dcm geschenkten Kapital uoch die unentgeltliche Arbeitskraft, denu die meisten halteu es für eine Fig. 31. Vater Iohnmi, Kavitmn des Dampfcis Nadushda. - 128 - Ehrensache, während ihres Vcrweilcns auf der Insel in den Werkstätten des Klosters thätig zu sein. Die großartigen Docks, der Niesendamm zur Insel Mukssalma, sie sind Ergebnisse dieser unbezahlten Arbeit der Pilger. In mancher Beziehung scheint das Institut sehr liberal zu sein, so werden die Wallfahrer auf den beiden Dampfern dcr Insel „Wera" (Glaube) uud „Nadäshda" (Hoffnung) kostenfrei hin uud zurückbcfördcrt, aber diese, wie die Auslagen fiir Beköstigung und Verpflegung, bringen sich von dm 15 000 Pilgern des Jahres durch die freiwillige Arbeit und die Geschenke derselbe»! reichlich wieder ein. Iu dem Verkaufsladcu werden sehr werthlose Dinge den Pilgern thencr verkauft. So kostet z. B. eine ganz ordinäre Abbildung des englischen Bombardements anderthalb Nnbcl. Rechnet man dazu die Einnahmen, die in allen Klöstern vorzukommen Pflegen und die ich oben aufgezählt, so ergeben sich fiir das Ssolow6zkischc Mönchshaus Einkünfte im Belanf von 203 000 Rubelu. Die Ausgaben sind verhältnismäßig unbedeutend, da vor allem der Unterhalt der etwa 500 Mönche, welche die stäudigc Gcvölteruug des Klostero bilden, fast ganz durch die selbstproduzicrten Natnralicn gedeckt wird. So bcdcutcud die wirthschaftlichcn Leistungen dcr ssolow^z-lischcn Mönche sind, so wenig geschieht von ihucu auf geistigem Gebiete. Bei chrcn industriellen linteruehmuugcn haben sie die neuen Erfindungen und Verbesserungen Westeuropas zu verwerthen gewußt. Sie habcu Dampfer, die auf dcr Insel gebaut wurden, einen sogar, die Nadüshda, dessen Maschinen man im Kloster augefertigt hat. Diesen Dampfer kommandierte noch am Ende dcr siebziger Jahre ein secknndiger Mönch, Vater Johann, dcr früher als Laie dcr Marine angehört und weite Reisen gemacht hatte, mit den Lehren der modernen Nautik aber lwUkommcn vertraut war (Fig. 31). Dagegen zeigt sich auf cmdnu geistigen Gevveten auch nicht die geringste Stre^auMt. Dcr Unterricht in der Klosterschule beschränkt sich auf die elementarsten geistlichen Dinge; von weltlichen Disziplinen ist nicht Flg. Zs. Nonnenkloster >,Ten'ltschi) in Moskau. Alo^>r, Nussland, II. — 130 — die Redc. Die ärztliche Sorge für die Klosterbcwuhuer ist einem ehemaligen Fcldschcer anvertraut. Mit ihrer reichen Bibliothek und Handschriftensammlung wußten die Mönche nichts anzufangen, sie ging an die Universität von Kas^n über. Von literarischer und wissenschaftlicher Thätigkeit ist hier keine Redc. In früherer Zeit diente das ssolow^zkische Kloster als Verbannungsort und Gefängnis für politifch verdächtige Personen, Freigeister, Sektierer, auch für hervorragende Verbrecher. Die Zahl der Internierten soll fetzt sehr unbedeutend sein. Zum Schlüsse dieser Schilderungen russischer Klöster mögen unsere Leser uoch das Vild eines Nonnenklosters empfangen, des sogenannten Iungfraucnklosters (Dewitschi) am Iung-frauenfelde in Moskau (Fig. 32). Von diesem weiten Platze, auf dem fetzt Volksfeste gefeiert werden, erzählt die Sage, er habe feinen Namen zur Zeit des tatarischen Joches durch die jährlich dort stattgefundene Ausstellung russischer Jungfrauen erhalten, von denen die schönsten als Tribut für die Chane ausgewählt wurden. Das Kloster ist im Jahre 1525 von dem Zaren Wassili Iwänowitsch erbaut worden. Hier hatte Peter der Große seine herrschsüchtigc Schwester Sophie als Nonne einkleiden lassen, von hier aus spann sie neue Intriguen, hetzte die Strjckzen zum Ausstände und Peter ließ die Rädelsführer unmittelbar vor dem Fenster der Schwester aufknüpfen. Das Kloster hat Mauern mit Schießscharten und mächtigen Thürmen, schließt mehrere Kirchen und einen schöuen Glockcnthurm rin nnd besitzt einen großen Friedhof. 5. Keligiöse Feste nnd Gebräuche. Manche Feier der russischen Kirche, manche Gebräuche derselben weichen in so hervorragender Weise von den Riten anderer christlicher Konfessionen ab, daß eine Skizzierung derselben hier am Platze erscheint. Zunächst ist die Wasserweihe ooer das Iordansfest eine eigentümlich russische kirchliche Cercmomc, die in St. Petersburg durch die — 181 — Teilnahme der kaiserlichen Familie an Bedeutung gewinnt und ein besonders scstliches Gepräge erhält. Die Feier findet am 6. Januar, dem Drcikönigs- oder Epiphaniasfestc statt und ist eine pietätvolle Erinnerung an die Taufe des Erlösers. An derselben nimmt in allen Ortschaften des Reichs die gesammte Geistlichkeit Teil, die von den Pfarrkindcrn gefolgt, mit Kreuzen und Fahnen, unter dem Gesänge von Iubelhymnen, zum Ufer Fig. 33. Dio Was,Vvwcihe (Iordausfcst) in St. PcteiÄ'urg. des nächsten Flusses wandert, den man als Jordan annimmt und dessen Gewässer unter Gebeten und Ceremonien, vor allem durch die dreimalige Eintanchnng des heiligen Kreuzes geweiht werden. In der nordischen Residenz erhält diese Feier überdies noch einen kriegerischen Glanz, indem die Fahnen und Standarten des Heeres in einzelnen Repräsentanten dnrch Vcsprcngung mit dem eben geweihten Wasser gesegnet werden. Hier lst der Schauplatz die Newa und zwar jene von den glänzendsten Baulichkeiten eingerahmte stelle am Schloßquai gegenüber der großen kaiserlichen Anfahrt des Wintcrpalastcs. Dort ist anf dem breiten Strome, der um diese Ieit seine meterdicke Eisdecke trägt, ein geschmackvoller Pavillon __ 1H2 __ in der Form cincs Tempels erbaut.'^) Breite, bequeme Treppen, mit rothenl Tilch belegt, führen zu demselben hinauf, einc Gallcrie nmgicl't ihn anf allen Seiten. Er ist anf das reichste mit kirchlichen Emblemen geschmückt, anf seiner Spitze ragt das glänzende griechische Krenz. Innerhalb des Tempels führen Stufen bis zur Eisrindc des Flusses, in welche einc geräumige Öffnung den Zugang zu dem fließenden Wasser ermöglicht. Von der Pforte des Winterftalais bis zu den Treppen des Pavillons ist ein Brcttcrboden gelegt, der mit reichen Teppichen bedeckt ist. Vor dem eigentlichen Festakte der Wasscrweihe findet in den Sälen des Winterpalastes eine große militärische Parade der Truppenteile statt, deren Fahnen die neue Weihe empfangen sollen. Hierauf folgt ein liturgischer Gottesdienst in der Kirche des Schlosses, an welchem die gcsammte kaiserliche Familie mit allen znm Feste Geladenen teilnimmt und der von dem Metropoliten von St. Petersburg und Nowgorod celcbriert zu werden pflegt. Alle Würdenträger des Staates, die Vertreter fremder Regierungen, die hoffähigen Kavaliere, sowie die Offiziere der im St. Petersburger Militärbezirk garinsonierenden Regimenter und Marincabteillmgcn wohnen der Feier bei. Schon viele Stunden vor dem Beginn des Festaktes sammelt sich eine nach Tausenden zählende Menschenmenge auf beiden Ufern der Newa und der Schloßbrücke. Jeden Augenblick vergrößert sich die kompakte Menschenmasse durch nen hinzukommende, dichtgedrängte Scharen. Der unmittelbar vor dem Winterpalais liegende Teil des Newaquais ist, nm den Zugang zum Fest-tempcl frei zu halten, von berittener Gensdarmerie abgesperrt. Gewöhnlich Pnnkt 1 Uhr öffnen sich die Thore des Palastes nnd die feierliche Prozession schreitet alls denselben dem Orte der heiligen Handlung zu. Den Zug eröffnet der Stadthaupt-mann, dann folgen die Kirchensänger des Hofes in ihren von *) Unsere kleine aber schr sorgsam cmssieführle Zeichnung Fig. 33 giebl ein tn'M'3 Bild des Schauplatzes und der Ceremonie. — 133 - Gold- und Silberbrokat blitzenden Fcstgcwändcrn, nach ihncn die Mitglieder der heiligen Synod, sowie die höhere Geistlichkeit des Hofes nnd der Residenz in prachtvollem Ornat mit den Kirchenfahnen, Krenzcn, Heiligenbildern und kostbaren Kirchengcfäßen und endlich die Fahnen und Standarten des Heeres, ihre Träger und deren Assistenten in glänzender Parade-Uniform. Dem Militär schließen sich die Hofchargcn an nach der vom Ceremonial vorgeschriebenen Reihenfolge in ihrer kostbarsten goldstrotzcndcn Galauniform. Ein wundersamer, zauberhafter Anblick, dieser Zug von fabelhafter Pracht unter dem klaren Winterhimmel mit dem Hintergründe unabsehbarer Schnee- und Eismassen. Die Kirchen- nnd Militarfahncn werden anf der Gallcrie des Tempels in vorgeschriebener Ordnnng grnftpiert, alle bei der Handlung beteiligten Personen haben ihre Plätze eingenommen — da tritt aus der Pforte seines Hauses der Zar in großer Gcncrals-Nniform ohne Mantel, gefolgt von seinen Söhnen nnd allen männlichen Mitgliedern des taiferlichen Hauses. Sie schreiten zum Tempel hinüber und die Ceremonie beginnt. In dem Augenblick, wo das Kreuz ins Wasser getaucht und der Segen gesprochen wird, zischt eine Rakete zum blauen Himmel empor. Sie giebt der auf dem Walle der Peter-Paulsfestung und dem Börsenplatze postierten Artillerie das Signal nnd nun öffnen die Geschütze ihren ehernen Mund zu einem Salnt von IM Schüssen. Die Stimme ihres Donners dröhnt den erschütternden Takt zu dem feierlichen Choral, der gleichzeitig von sämmtlichen Militärmnsikorps intoniert wird. Die Wirkung dieses Moments ist eine großartige und gewaltige. Die Kaiscriu iu der kleidsamen russischen Tracht, umgeben von sämmtlichen Großfürstinnen, wohnt der Feier an den Fenstern des Wintcrpalais bei nnd wird nach Beendigung derselben von dem Volke mit begeistertem Zuruf begrüßt. Auch dem diplomatischen Corps wird nicht zugcmuthet, sich der häufig hochgradigen Kälte auszusetzen nnd ist dasselbe ebenfalls an den Fenstern des Zarenschlosscs placiert. Sinkt die Temperatur — 134 — untcr das gewohnte Maß, so wird auch den betheiligten Offizieren und Mannschaften gestattet, die Mäntel anzulegen. Ein solennes Mahl versammelt die geladenen Gäste nach dem Festakt in den Räumen des Palastes. Das geweihte Wasser des Stromes, mit dem nun anch die Fahnen besprengt sind, wird jetzt von Alt und Jung eifrig geschöpft und jedes Haus sucht seineu Teil davon zu bekommen. In manchen Gegenden Russlands, wo ein größeres Kreuz il, den Fluß herabgelassen wird, sncht das Volk, wenn es dazu kommen kann, das Wasser aufzufangen, welches von dem herausgezogenen Kreuze herabläuft. Es wird für besonders heilig und glückbringend gehalten. Bisweilen entkleidet sich auch der eine oder andere und spriugt in die Wuhne, um in dem heiligen Wasser zu baden, und ist ein neugeborenes Kind in der Nähe, so bringt man es herbei nm es in dem eisigen Wasser zu taufen, wobei es dreimal völlig untergetaucht wird und nach der Ceremonie wie ein gekochter Krebs aussieht. Die Fasten spielen im Leben des Nüssen, namentlich des gemeinen Mannes, der sich streng an die Vorschriften seiner Kirche bindet, eine bedeutende Rolle. Derselbe fastet 7 Wochen vor Ostern, 3 Wochen und 4 Tage in den Pctripauli- und Apostel-Fasten, 15 Tage (vom 1.-15. Aug.) in den Maricnfasten, 40 Tage vor Weihnachten nnd außerdem jeden Mittwoch und Freitag. So genießt der Baner nnd Arbeiter, der ohnedies auf kärgliche Nahruug angewiesen ist, gegen 200 Tage im Jahre nur ulangelhaft uährendc Speise. Denn nicht nur den Fleischgenuß verbietet die griechische Kirche iu den Fasten, suudcrn auch Milch, Eier, Butter — mit einem Wort alles, was vom warmblütigen Thiere kommt, bis ans den Zucker, weil derselbe mit thierischem Blute gereinigt wird. In den sogenannten großen Fasten vor Ostern ist sogar Mittwochs uud Freitags der Genuß vou Fischen untersagt, an denen Nusslaud einen unerschöpflichen Reichthum besitzt nnd die mit dem Pflanzenöl in Verbindung dem Körper feinen nothwendigen Stickstoffgehalt zufuhren. Eine — 135 — beliebte Fastenspeise bilden auch die in Russland sehr häufig vorkommenden, wolschmcckcnden Pilze, die im Sommer steißig gesammelt eingesalzen oder auf Fäden gereiht an der Luft getrocknet werden. Aus diesen gedörrten Pilzen bereitet man m den Winterfasten einc sehr schmackhafte Suppe. Den großen Fasten, als den Hauptfastcn im Jahre, welche die sieben Wochen vor Ostern einschließen, wird die höchste Be-dcutuug beigelegt. Ihnen voraus geht eine Art Halbfasten, die sogenannte Butterwoche (russ. mässlcniza von mäfslo, die Butter, griechisch tyrophagos, also eigentlich Käscwochc), in welcher kein Fleisch gegessen werden darf, aber noch Milchspeisen und Eier. Es ist die Woche Sexagcsima, die dem Aschermittwoch vorausgeht und vertritt in jeder Beziehung den abendländischen Carne-val. Durch Schmaus und allerlei Spiel bereitet sich das Volt auf die Entbehrungen der kommenden sieben Wochen. Einc allgemein geschätzte Speise, die während der Mässleniza auf keinem russischen Tische fehlen darf, sind die sogenannten Mini (plur. von blin, der Pfannkuchen) eine Art Hefenpfannkuchcn mit starker Beimischung von Vuchweizenmehl, die mit Kaviar und Butter genossen auch jeden nichtrussischcn Gaumen behagen. Unter der Rubrik der Volksbelustigungen werde ich den russischen Carneval eingehend zu schildern versucheu. Am Mittwoch der vierten Fastcnwoche Mttfastcn) findet einc besondere Feier in den Kirchen statt. Das Kreuz wird vom Altar, aus dem Allcrheiligsten, in die Mitte der Kirche getragen, reich mit Blumen geschmückt und bleibt dort die ganze Woche. Während derselben erzeigen die Pfarrkinder dem heiligen Symbol ihre Verehrung, küssen das Kreuz und werden vom Priester auf der Stirn mit Oel gesalbt. Ostern ist der Angelpunkt alles kirchlichen Lebens in Nuss^ land. Ist Weihnachten ein specifisch deutsches, so kann man Ostern als das vorzugsweise rnsische Kirchenfest bezeichnen. Alles kirchliche Denken des Russen concentricrt sich in der Vorbereitung auf den Aufcrstehuugstag oder in der Nückcrinncrung au denselben. — 136 — Es ist die Grenzmarkc dcs eisigen nordischcli Winters, cm Hauch des nahenden Frühlings zittert dnrch die Welt nnd das Menschen-Herz, das im Norden die Last und Schwere der kalten Jahreszeit doppelt empfindet. Sie feiern die Auferstehung des Herrn, Denn sie sind selber auferstanden .... Schon mit dem Palmsonntag beginnt in Nussland die Oster-feier. Man bringt den Kindern Geschenke und schmückt das Haus und die Heiligenbilder mit sogenannten Palmen, frisch abgeschnittenen Weidcnrnthen mit den daran hängenden Vlüthen-tätzchen. Für alle diese Bedürfnisse sorgt in den großen Städten der „Palmenmarkt", eine Art kleinere Messe, die vor dem Palmsonntag an belebten Plätzen abgehalten wird und gewöhnlich von Spaziergängern jeden Alters, Käufern, hauptsächlich aber von Kindern wimmelt. Da werden Näschereien jeder Art feil geboten, Spielzeug, gefüllte Luftballons von Gummi und große Massen von Blumentöpfen mit künstlichen Papierblumen; vor allem aber jene Weidcnruthenbündcl, die ihren Namen W^rba (der Weidcnzweig) auf den Markt, auf die Zeit desselben, sowie auf jede Art künstlicher Osterpalmen ausgedehnt haben. Ihre nächste Bestimmung erfüllt die Wsrba am Morgen des Palmsonntags. Wer in der Familie zuerst aufsteht, gewöhnlich die Mutter, ergreift dieselbe, schleicht sich zu den Betten der Schlafenden nnd weckt sie unter Scherzen mit fanftcn Nnthenstreichen, dazu wird das Verschen gesungen: „Dic Ruthe schlägt, Schlägt bis zu Thränru, Nicht ich schlage, Die Ruthe schlagt." Diese Exekution soll namentlich diejenigen treffen, welche die Frühmesse verschlafen haben. Hat die W6rba ihre Arbeit als Zuchtmcisteriu verrichtet, wird sie hinter die .Heiligenbilder gesteckt, auch wohl ins Wasser gestellt, bis sie als ersten Frühlingsgruß Blätter treibt. Häufig sind diese Osterpalmcn noch — 137 — mit cincm Engelskopf aus Wachs mit goldenen Flügeln geziert, den man Cherubimtschik (kleiner Cherub) nennt. Am Gründonnerstag findet in der ersten Kirche dcr Stadt oder im Kloster (in St, Petersburg in dcr Isaakskathedrale oder in der Nswskaja Läwra) die Fußwaschung statt. Der höchste Geistliche des Orts verrichtet dieselbe an zwölf andern Priestern, von denen wiederum der nächst höhere den Apostel Petrus darstellt, der sich gegen die Waschung sträubt, sie aber endlich geschehen läßt. Dcr Erzftricstcr, welcher dic Handlung des Heilands verrichtet, legt sein bischöfliches Gewand ab uud bleibt im einfachen Talare. In goldener oder silberner Schale wird ihm das Wasser gereicht, er benetzt jedem der Zwölf den entblößten rechten Fuß und trocknet ihn mit einem langen Lciutnchc ab, das ihm kreuzweise um den Leib geschlungen ist. Während dieses Vorganges wird von einem andern Geistlichen die entsprechende Stelle dcr Leidensgeschichte gelesen. In der Charwochc unterläßt dcr fromme Nussc (die Kinder vom siebenten Jahre an) niemals zum Abendmahl zu gehen. Die Vorbereitung für dasselbe, die im strengsten Fasten nnd dreimaligen Kirchenbesuch an jedem Tage besteht, wird mit dem Worte Gow6nie (Verehrnng) bezeichnet. Am Charfreitag geht kr zur Beichte, die Communion findet am Sonntage statt. Am Charfreitag wird der Leichnam Christi symbolisch inmitten der Kirche ausgestellt. Vom Moment dcr Grablegung bis zur Auferstehung unterbleibt jedes Glockengeläute. Die Gläubigen verabschiede» sich von dem gekreuzigten Erlöser so zu sagen an seinem 'Paradcbette, wie man von den sterblichen Nesten eines geliebten Verstorbenen vor der Beerdigung Abschied nimmt. Am Morgen ist kein Gottesdienst; man errichtet in der Kirche das Grab des Erlösers, ^lu Nachmittag wird das Symbol des Heilands, eine Leinwand unt dem Bilde der Grablegung aus dem Allerhciligstcn von rmem Priester auf dem Hanpte in das Schiff der Kirche getragen und dort auf dem Katafalk niedergelegt, der wie die Kirche mit schwarzem Stoffe behängt ist. Nun strömt die Menge — 138 — herbei, betet kniend am Lager des Todten und küßt die Stellen im Bilde, wo Hände und Füße sich befinden. Am Sonnabend wird das Grab entfernt. Ein feierlicher Gottesdienst mit Abendmahl wird gehalten, wobei die königlichen Pforten des Aller-heiligsten sich öffnen, um die ganze Osterwoche hindurch nicht mehr geschlossen zu werden. Während dieses Gottesdienstes schon wechseln die Priester, welche die ganze Charwoche hindurch in schwarzen Trauergewändern fungierten, ihre Kleider, der Bischof zuerst, und erscheinen in weißen, goldfunkelnden Ornaten. Während der Nacht beginnt der eigentliche Ostergottesdienst. Kurz vor ! ^ Uhr verläßt der größte Teil der versammelten Geistlichkeit mit allen Fahnen, Bannern und Bildern die Kirche und umschreitet dieselbe, gefolgt von der gauzen Gemeinde, alle mit brennenden Wachskerzen, in feierlicher Prozession, gleichsam den Heiland suchend, wie Maria und Magdalcna, da sie das Grab leer gefunden hatten (Fig. 34 Mittelbild links). Dem Zuge voran wird ein Brod getragen, auf welchem die Auferstehung abgebildet ist. Dasselbe wird am nächsten Sonnabend verteilt. Unmittelbar vor 1^ Uhr betreten Priester und Gemeinde wieder den innern Naum des Gotteshauses. Der erste Schlag der Mitternacht hallt vom Thurm, ein Kanonenschuß dröhnt durch die stillen Straßen und alle Glocken der weiten Stadt beginnen gleichzeitig ihren schallenden Gesang. Die vom Kreuzgang in die Kirche zurückkehrenden Geistlichen und Laien werden von dem erhöhten Chor her aus priesterlichem Munde mit dem Nufc empfangen: „Christ ist erstanden," und die Kircheusänger intonieren den gewaltigen Gesang: „Christ ist erstanden — auferstanden von den Todten!"' In demselben Augeublick ist auch das Gotteshaus taghell erleuchtet. Alle Kronleuchter, Kaudelabcr und Lampen und die unzähligen Wachskerzen in den Händen der Kircheugänger haben sich wie mit einem Zauberschlage entbindet und alle Tempel stralcn in Fenstern, Kuppeln und Thürmen von blendender Lichtfülle. Nun beginnt die Auferstehnngsliturgic, in welcher der fungierende Priester wiederholt der Gemeinde zujubelt: Mg. 34. Ostern ill St. Pck^vlil'li. — 140 — Christoß wosskrsß! (Christ ist erstanden) und die Gemeinde antwortet: Wolstinno wosskrG! (er ist in Wahrheit auferstanden). Inzwischen hat sich außerhalb der Kirche auf ihren Stufen cinc unabsehbare Menschenmenge versammelt und gelagert. Sie sind gekommen, um die Speisen, mit denen man sich nach der langen Entbehrung „entfastet", segneu zu lassen. Jeder hat einen Teller vor sich mit den drei unumgäuglichen Osterspeisen: den hart gekochten Eiern, dem blumcngeschmückten Kulttsch, einem feinen Osterbrod aus Weizenmehl, und der P^ss'cha, einer abgestumpften Pyramide aus gekäster Milch (Kasematte, Quark) mit Zucker und Ei bereitet, auf deren vier Langseiteu das russische Kreuz aus Rosinen gesteckt ist (Fig. 34, oberes Bild links). Jeder hält eine brennende Wachskerze in der Hand oder hat sie neben seinem Teller befestigt. Diese taufende uud aber taufende von Kerzen, welche die Nacht zum hellen Tage machen, ein wogend Flammenmeer, der bunte Blumenschmuck der Kulitschl, das Hin-und Hcrwogon der harrenden Menge, dieses festliche Leben und Treiben mitten in der Nacht, sie bilden eiu wundersames zauberisches Schauspiel, dessen Eindruck unvergeßlich bleibt. Nach Beendigung des nächtlichen Ostergottcsdienstes tritt der erste Geistliche der Kirche, von einem Sub-Di^kon gefolgt nntcr die auf den Stufen harrende Menge und besprengt die ausgestellten Entfaslungsspeiscn mit Weihwasser, Der Djatschok Pflegt dabei als Kirchcnzchntcn von jedem Teller ein Ei zu nehmen (Fig. 34, oberes Bild rechts). Jeder begicbt sich nun nach Hause, um sich mit deu Seinen an langeutbehrtcr Speise und Trank zu erquicken. Die Fasten sind gelöst. Sobald der Kanonenschuß deu Momeut der Auferstehung verkündet hat und die Glocken zur Festfreude auklingen, beglückwünscht sich in ganz Russland alles, was den orthodoxen Glauben bekennt, wie man sich bei uns etwa zum neuen Jahre gratuliert. Erblickt man sich nach diesem Augenblick zum ersteu mal - - und das gilt bis zum Himmclfahrtstagc — so werden die Glückwünsche mit Christös; wosskrG uud Wolstinno wosstwß — 141 — ausgetauscht und ihnen folgt — wenigstens bei dem Volke — cin drcinmiigcr Kuß. Auch bei Hofe ist das Osterfest eine religiöse Feier von höchster Bedeutung. Die wichtigsten staatlichen und persönlichen Beförderungen und Belohnungen streut die kaiserliche Hand zu diesem Tage aus und werden die Patente, Dekorationen und Geschenke schon am Vorabend den Glücklichen zngcsandt. Um 11 Uhr kündet Festung den Personen, welchen Rang nnd Stcllnng den Eintritt in den Palast gestatten, daß es Zeit ist, sich dort zu versammeln. Die riesigen Säle füllen sich mit den verschiedenen Chargen des Hofes, den Würdenträgern des Reichs, der Generalität, dem Offizierkorfts und den zum Hofstaat gehörigen Damen. Um N^,., Uhr donnert ein zweiter Kanonenschuß. Die Gäste des Kaisers sind jetzt vollzählig erschienen nnd die Ccremonienmeister bemühen sich nnter der versammelten Menge eine gewisse Ordnung zu schaffen. Alles ist in großer Aufregung, weniger über die bevorstehenden kirchlichen Vorgänge als in Folge der stattgehabten Befördcrnngcn und Belohnungen, die das Hauvtthema der Unterhaltung bilden. Manche der Avancierten und Dekorierten sind darauf bedacht gewesen, sich möglichst bald in der neuen Würde zu zeigen nud haben die Abzeichen derselben mit in das Palais genommen, um sie im geeigneten Augenblick anzulegen. Um Mitternacht ertöut das dritte Kanoucusignal und unter dem Vortritt der Hofchargen naht sich der kaiserliche Zug aus den inneren Gemächern. Der Zar in Gencralsnuiform führt die Kaiserin, welche in prachtvollster Toilette, gewöhnlich von weißem Stoff und Silberbrotat, die Schleppe von Pagcu getragen, erscheint. Die gcsammtc kaiserliche Familie folgt. Der Hof bcgiebt sich in die Palaiskirchc und wohnt dort der Oster-frühmesse bei, die in der Regel bis 2'/. Uhr Morgeus dauert. In derselben Ordnung begicbt sich sodanu das kaiserliche Cortege — 142 — in die inneren Gemächer zurück, wo das übliche Entfaswngs-frühstück stattfindet. Nach de>u Gottesdienst empfangen Kaiser nnd Kaiserin die Glückwünsche aller Anwesenden bis herab zu den Unteroffizieren und der Wache von der Compagnie der Palastgrcuadicre. Alle tauschen mit dem Zaren den Ostcrgruß uud .Nuß und küssen ocr Zarin die Hand. Am folgenden Morgen ist großer Empfang, bei welchem die Offiziere der Regimenter, deren Chef die Kaiserin ist, der erlauchten Frau herrliche Vlumenbouauets in Eiform überreichen. Alle Gratulanten lüsscn der Kaiserin die Hand und erhalten von ihr ein Ci. Auch die Gemeinde-Ältesten der Dorfschaften des St. Petersburger Gonvcrucments hat der jetzige Kaiser am Ostermorgen empfangen uud Ostergrus'» und Kuß mit ihnen ausgetauscht. Tritt der Zar an diesem Tage zuerst aus seinem Zimmer, so grüßt und küßt er auch den vor demselben stehenden Wachtposten. Mau erzählt sich vom Kaiser Nikolai, daß derselbe am iDstermorgeu sein Gemach verlassend, dem vor demselben befindlichen Posteil zurief: „Christ ist erstauden!" Statt der üblichen Antwort sagte der präsentierende Soldat: „das ist nicht wahr!" der Kaiser glaubt, er habe sich verhört und wiederholt den Ostcrgruß; der Soldat erwiedert von Neuem mit seiner Negation. „Mensch — sagt der Zar — bist du toll?" „Nein Majestät," — antwortet der Mann — „ich bin Tatar (Muhammedaucr)". Zar Nikolai lachte nnd gab den Befehl, die Wache am Ostermurgen küuftig nach ihrer Religion zu fragen, ehe man sie vor sein Zimmer postiere. Kehrt der Nüsse — arm oder reich — Nachts von, Ostcr-gottesdicnst zurück, so findet er daheim den Ostertisch gedeckt, um sich sofort durch reichlichen Genuß der in den Fasten vcr« pöntcn Spcifcn für jene traurige Zeit zu entschädigen. Kulitsch, Pass'cha und Eier dürfen auch im dürftigsten Hause nicht fehlen. Bei wolhabcnderen kommt ein ^amm, alls frischer Butter geformt und ein stattlicher gekochter Schinken hinzu (Fig. 34, oberes Bild links). Die fromme Sitte stellt auch das Heiligen^ — 143 — bild, mit der Wcrba geschmückt, ein brennendes Lämpchm vor demselben, auf dcn Tisch des nächtlichen Mahls. Der Reiche fühlt das Bedürfnis des Entfastcns weniger, da er c5 über-hanpt mit dem Fasten nicht allzu strenge zu nehmen pflegt. Am Ostersonntag entwickelt sich ein ungeheures, sinnverwirrendes Leben und Treiben ans den Straßen. Überall jubelnde, lachende Menschen, überall klingt der Osterngruß: Christ6ß wosskrG, schallen Küsse, werden gefärbte Eier ausgetauscht. Alle Welt macht Verwandten, Bekannten und Vorgesetzten formelle Gratulationsvisiten wie am Ncujahrstage. Die Glückwün-schcndcn aus der dienenden Klasse, ja auch die Subalternbcamtcn gewisser Regionen erhalten bei dieser Gelegenheit Geldgeschenke. Diese dürfen auch bei dem Dienstpersonal in dcn Häusern nicht ausbleiben, wo man zu verkehren Pflegt. Die Portiers der hohen Würdenträger haben ihren reichsten Erntetag: ihre Ostereiunahme Pflegt nach taufenden von Rubelu zu zählen. Alle Equipagen der Stadt sind in Bewegung und jagen noch schneller als zu gewöhnlicher Zeit. Überall blitzt und glitzert es von Civil- und Militär-Uniformel,, Sternen und Bändern. Selbstverständlich sieht man auch an kciucm andern Tage so viel Betrunkene und es ist ein wahres Glück, das; der Russe im Rausch stets gutmüthig und freundlich bleibt. Alle Volkslustbarkeiten der Bntterwoche beginnen aus«? Neue mit der einzigen Veränderung, daß die Eisberge, nothgcdrungcn der Wärmezu nähme wegen, sich in sogenannte russische Schaukeln verwandelt haben. Auch diese sollen einem späteren Abschnitt vorbehalten bleiben. Alle diese Vergnügungen dauern die ganze Osterwuchc hindurch, die mit der MMeniza die Besonderheit teilt, acht Tage zu zählen, da der Sonntag der folgenden Woche ihnen zugeschlagen wird. Eine Art der Belustigung hat die Ostcrwoche vor der M-lssleniza voraus, die Spiele mit den Ostereiern, das Eierschlagen nnd Eicrrollen. Das erstere ist auch in Deutschland Zu Hause. Die beiden Spieler schlagen zuerst die spitzen Enden ihrer Eier zusammen, dann dic stumpfen. Wer das Ei des — 144 — Gegners zerschlägt, ist Sieger und erhält das zerschlagene Ei. Bei dem Rollen der Eier von einer schief gestellten Rinne herab (Fig. 34, unten) tummt es darauf an, die früher ausgerollten Eier mit den nachgesendeten zu treffen, welche auf diese Weise gewonnen werden. Der Ostercierverbrauch der Stadt St. Petersburg beziffert sich auf zehn Millionen. Für ganz Russland ist derselbe nicht berechnet. Nimmt man aber an, daß von den hundert Millionen der Bevölkerung des Reichs nur fünfzig Millionen je zehn Eier zu Ostern consumicren, so crgiebt das schon die stattliche Zahl von 500 Millionen Eiern, die Nussland zur Osterzeit gebraucht. Das Todtenfest, die Feier des Gedächtnisses der Verstorbenen, das einigermaßen an den katholischen Allerseclentag erinnert, hat in Russland eine eigentümliche Färbung, die an die ältesten heidnischen Gebräuche erinnert. Dasselbe wird im Sommer begangen und sieht »nan alsdann zahllose Schaareu von hoch und uiedrig, arm und reich, hinaus zu den Gräbern ihrer Lieben Pilgern, um deren ?ludentcn zu fcicru. Nun will cs aber die rnssichc Sitte, im Gegensatz zu den römisch-katholischen Gewohnheiten, daß die Lebenden an der Gruft der Abgeschiedenen ein Mahl einnehmen, bei welchem der Ssamowär, die russische Theemaschine, oft in riesigen Dimensionen, ihre beliebten Dienste leistet und die Kutj^, eine Speise aus Reis mit Honig oder Zucker und Milch gekocht und mit Rosinen in Kreuzesform belegt, nicht fehlen darf ^). Da sieht man denn wohl innerhalb der Vergitterung einer Familien-Grabstätte den hohen Militär mit den Seinigen auf zierlichen Tischchen servierte auserlesene Erfrischungen einnehmen, während in nächster Nähe Leute alls dem Volke in einzelnen Gruppen um ein ausgebreitetes sauberes Tischtuch gelagert, sich mit dem trefflichen russischen Wcizenbrodc und heißem Thee begnügen (Fig. Z5). Leider fehlt cs bis in die neueste Zeit hinein, bei diesen Todtcnfesten nicht an den brutalsten Excessen, welche den religiösen Gebrauch herabwürdigen ") Auch bcl PcgrNbl'.lsM und Tod!enmess«,'i» wird Kutj^, nellossrn. - 145 — 6. Die religiösen Sekten. ". dcr Rassel. Das religiöse Scttircrtum ist cine höchst eigen tiimlichc und auffallende Erscheinung ull russischen Volks-^bcn, um so mchr, als cs ohuc icde Eiuwirkliug dos Auslandes Meyer, Russlnnb. II. 10 ssiss. Z5. — 146 — entstanden, sich volltommcu selbständig entwickelt hat. Seine, Bcdcntung entspricht seinem Umfange — man schätzt heute die Zahl der Dissidenten ans 14 Millionen, und sie ist noch immer im Wachsen begriffen, trotz des Fortschritts der Kultur, der auf das Settcnwcscn ohne dämmenden Einfluß blieb. So ist dasselbe für den russischen Staat noch heute von nicht zn unterschätzender Wichtigkeit, bleibt aber sür das Ausland vollkommen unverständlich, wenn man nicht auf seine Entstehung zurückgeht. Die Ursachen, welche den Rasstul, d. i. die Kirchenspaltung, das Schisma, in Russland hervorriefen, liegen um Jahrhunderte zurück, wirken aber noch immer fort. Ich will versuchen, sie in aller Kürze darzulegen. Zur Zeit, als die religiösen Schriften und Nitnalbücher durch Abschreiben vervielfältigt wnrden, bildete der rnssische Klerus neben einigen tüchtigen Gelehrten, eine sehr unwissende Gesammtheit. Wo viele nicht verstanden, was sie ablasen, viele nicht, was sie abschrieben, tonnte die Kontrolle der Copicn eiuc nnr sehr unvollkommene sein. Dieselbe wurde um so mehr vernachlässigt, als der Werth der Manuskripte in dem Verhältnis; stieg, je weniger Corrcktnren oder Rasuren sich in denselben vorfanden. So häuften sich in den Handschriften Fehler auf Fehler und weder Priester noch Gemeinde ahnten, daß in ihuen Dinge vorkamen, welche die Lehre ihrer Kirche verkümmerten und entstellten. Einzelnen Gebildeten nnd Scharfsichtigen entgingen die Divergenzen nicht und Zar Wassili Iwänowitsch (1505-153^) sah sich veranlaßt, durch Collationicrung Abhülfe zu schaffen. Hierzu wurde ihm ein gelehrter Mönch vmu Berge Athos empfohlen, der in der russischen Kirchengeschichtc als Makssim der Grieche bekannt ist. Er fand einen wahren Angiasstall von fehlerhaften Handschriften, das korrigieren dancrtc jahrelang, reizte und erbitterte den Klerus, dem seine Uuwisscnheit zu un-verholen vorgerückt wurde, kurz, man intriguicrtc gegen Maksslm — 147 — so lauge, bis er als „Vcrderber dcr Kirchcutcxte" verurteilt uud in ein Kloster verwiesen wurde. Auch Iwan der Schreckliche berief 1551 ein Concil zur Revision dcr Neligionsbücher. Dasselbe ging uuverrichtcter Sache auseinander. Keinen besseren Erfolg hatte die Absicht des Zaren, durch Drucklegung der Kirchcnschriften einen richtigen und einheitlichen Text für ganz Nussland herzustellen. Man benutzte dabei fehlerhafte Manuskripte, welche die Irrthümer weiter vererbten und die von Entstellungen wimmelnden Drucke trugen trotzdem seit 1596 anstandslos die Formel: „mit dem Segendes Patriarchen gedruckt." Der erste Zar aus dem Hause Nom-Wow ließ 1l;i7 durch den Archimandrit Dionissi die Texte aufs Neue revidieren, gegen den jedoch ein so heftiger Sturm der Opposition losbrach, daß selbst der Herrscher ihn nicht zu schützen vermochte. Er wurde eingekerkert und nur dnrch die energische Intervention des Patriarchen von Jerusalem aus Ketten und Gefängniß befreit. Damit war dcr Textkorrcctur fürs erste ein Ziel gesetzt. Inzwischen hatten die byzantinischen Patriarchen im rnssi-schcn Ritual manches für unkirchlich erklärt; auch aus Jerusalem erfolgten Mahnungen. Da beschloß dcr gewaltigste und hervorragendste der rnssischen Patriarchen, Nikon, unter dem Zaren Nlex«>i Michailowitsch, die Verbesserung der Kirchenbücher um jeden Preis durchzusetzen. Trotz haarsträubender Intriguen des ihm untergebenen Klerus hatte er bald eine Menge llbclstände und Unordnungen in der Kirchenpraxis abgestellt. Dcr Zar war gauz ans dcr Scite seines ,^irchenobcrhaupts und berief 1654 ein Konzil nach Moskau. Die ältesteu Manuskripte wurden ans Byzanz uud vom Berge Athus nach Russland gebracht und verglichen. Sämmtliche Patriarchen uud Metropoliten der morgenländischcn Kirche außerhalb Nusslands unterstützten den thatkräftigen Nikon, dcr sich einer halsstarrigen nnd hinterlistigen Opposition gegenüber befand. Zwei neue.Mrchenvcrsammlungen (1l»55 und U'»56) bestimmten ausdrücklich, daß man sich nach den alten zuverlässigen Originalien zu richten habe. Trotzdem 10* — 148 — traten Nikons Gegner immer dreister und heftiger für die alten korrumpierten Formen ein. Der Streit betraf leere Äußerlichkeiten: das Bekreuzigen mit zwei oder drei Fingern, die Schreibung des Namens Jesus, die zwei oder dreimalige Wiederholung des Hallciuja u. dgl. m. Die Opponenten Nitons stützten sich auf die korrumpierten Schriften, die sie den revidierten gegenüber die „alten", sich selbst „Altgläubige" (Sstarow6rzy) uannten. Sie hatten die unwissende niedere Geistlichkeit aus ihrer Seite, von welcher der Patriarch jetzt einen gewissen Grad von Bildung verlangte; diese wiederum beeinflußte die große Masse des Volks. Durch den offenen Ungehorsam vieler Priester aufs Äußerste gereizt, verfügte Nikon gegen sie die strengsten Strafen. Sein ausgeprägtes Selbstbewußtsein hatte ihm anch die Bojaren widerwillig gemacht. Nlle diese Feinde thaten das ihrige, den hochbcdentendcn Mann beim Zaren anzuschwär^ zcn, dessen friedfertige, milde Natnr ohnehin die Härte des ErzPriesters nicht gerne sah. So hatte der Patriarch von allen Seiten Anfeindung. Schmähung, Verletzung zu crtrageu, ohne daß die Schuldigen die verdiente Strafe getroffen hätte. Da faßte er, erfüllt von Ekel und gerechtem Unwillen, deu Entschluß, die Patriarchcnwürde niederzulegen und führte denselben, trotz der Abmahnung wolmeincndcr Freunde, ans. Nikon zog sich in ein .Kloster zurück (10. Juli 165k) und räumte den Geguern das Feld, die seine Abwesenheit mit nn-gezügeltcr Freiheit benutzten und gegen ihn und seine Reformen den Vernichtungskrieg führten. Der zunehmenden kirchlichen Koufnsiou gegenüber berief der Zar die ökumenischen Patriarchen der griechischen Kirche zu einem großen Konzil nach Moskau (Dezember lül^). Dasselbe sollte ein cntschcidcudcs Urteil fällen sowul über die Neformcu wie über das Verhalten Nikons. Die ersten wurden rückhalts-los gebilligt, das letztere verurteilt. Alle, welche die Verbcsse rnngcn Nikons nicht annehmen wollten, wurden exkommuniziert, er selbst aber, weil cr seinen Patriarchcnsitz verlassen, nud ans — 1/l9 — andern miitder wichtigen Gründen, abgesetzt und zum einfachen Mönch degradiert. Vierzehn Jahre wnrde er gefangen gehalten und starb, als ihm der Nachfolger des Zaren die Freiheit gab. Am 13. Mai 166? hatte das große Konzil sein Urteil gefällt und damit war die Spaltnng in der russischen Kirche vollendete Thatsache geworden. Die Nation zerfiel jetzt in Anhänger und Gegner der Nlkonschen Reformen. Cchon früher hatte es religiöse Sekten in Russland gegeben, aber keine vwl erheblicher Bedeutung. Diejenigen Dissidenten aber, welche ans der Opposition gegen die Verbesserung der Kirchcuschriftcn hervorgingen, wurden zu einem Elemente, das für die inneren Verhältnisse des Reichs überaus wichtig werden sollte. Nach der Exkommunikation der sogenannten „Altgläubigen" forderten die leidenschaftlichsten Opponenten den Staat geflissentlich heraus. Sie wollten das Martyrtum erzwingen, um dadurch, wie sie meinten, „den Antichrist zu überwinden". Durch Seeneu wildesten Trotzes, die sich in Moskau abspielten, sollte der Staat zu Repressalien genöthigt werden. Die strengsten Strafen ließen die Widersetzlichen geduldig über sich ergehen. Auch das Ssolowüzkischc Kloster, jener berühmte Wallfahrtsort, den ich ausführlich geschildert, ließ sich bis zu flagranter Empörung fortreißen. Man beging den Fehler, die widerspenstigsten Opponenten zur Strafe in jenes Kloster zu schicken, das von vornherein den Nikonschen Reformen abgeneigt war. Die Verbannten wiegelten die eingesessenen Mönche auf. Als ihnen mit der Einsetzung eines neuen Archimandrite!! und Exekution gedroht wurde, brach der Aufruhr ans. Von der siebenjährigen Belagerung des Klosters habe ich bereits gesprochen; es fiel schließlich durch Verrath. Die furchtbarsten Strafgerichte, welche über die Abtrünnigen verhängt wurden, minderten die Zahl der Settirer nicht im mindesten. Der Priester Awaküm (Habatul), einer der eingefleischtesten Gegner Nikons, wurde mit drei seiner Genossen verbrannt. Ein anderer Führer der Altgläubigen, Niltta, mit dem Beinamen — 150 — Pllssiosswjilt (Lügcuhciligcr), der in Vcrl'induug mit dem Fürsten Chowünsti 1<)82 dic Strjcl6zcn zum Aufruhr verleitete, wurde enthauptet. Dasselbe Schicksal traf dic l5howanslis, Vater und Sohn. Viele andern wurden hingerichtet oder verbannt. Der NasM blieb bestehen in voller Stärke nnd Ausdehnung. Das Starow^rzentum beruhte auf dem Beharren bei der alten Gewohnheit, im Gegensatz zur Reform. So war es selbstverständlich, daß die Rasstülniti (Dissidenten) gegen die Neuerungen , welche nachmals die westeuropäische Cultur ins Land brachte — wic das Schccren des Bartes, das Tabalrauchen, theatralische Vorstcllungeu u. s. w. —, sich durchaus abwehrend verhielten. Gleichzeitig wuchs der Trieb zum Separatismus ins Ungeheuerliche. Jeder kleinste M'inungsunterschicd, jede unbedeutende Wendung uud Deutung auf die man früher nicht verfallen war, trieb immer wieder zu neuen Spaltungen in derselben Gemeinschaft, so das; der Nasstö! allmählich zu einer völlig unübersehbaren Zersplitterung der Ansichten führte. Alle russischen Sekten aufzuzählen, die seit 20l) Jahren entstanden, alle Unterschiede ihrer kehren zn verzeichnen, würde für sich ein vielbändiges Werk erfordern. Ich beschränke mich auf das Hervorragendste. Schon frühzeitig hatten viele Scktircr angenommen, das; seit dem großen Konzil von 1tt<)6 der Antichrist in Nusslaud herrsche. Unter der Regierung Peter des Großen gewann diese Überzeugung an Umfang und Stärke. Man hielt ihn für den Fürsten der Hölle und seine wichtigsten Maßnahmen für Fallstricke des Satans. So geschah ec^ mit dem neuen Zensus, der Revision, mit dem neuen Titel Kaiser, der mit der ominösen Zahl s>l><> in der Offenbarung Iohamns in Verbindung gebracht wurde. Der Paß mit dcm kaiserlichen Wappen war das Siegel des Antichrist. Der Befehl, den Bart zn rasieren, war ein Versuch, das Ebenbild Gottes zu entstellen. Die Veränderung im Kaleuder, durch welche der NeujalMtag vom September auf — 151 — den Januar verlegt wurde, hieß die „Einführnng der Jahre des Satans". Von den geistreichen Beweisgründen für diese Thesen hier nnr einen: die Welt könne nicht im Januar erschaffen sein, wie der neue Kalender anzudeuten schien, weil zn dieser Jahreszeit die Äpfel nicht reif sind nnd die Verführung Evas und Adams nicht hätte stattfinden können. Man unterließ scit der Zeit des großen Reformators unter den Sekten, welche jener Anschauung huldigten, das Gebet für den Kaiser; das hat aber, wie man erkennt, mit politischen Strömungen nicht das Geringste zu thun. Die Priester der griechisch-russischcu Kirche werden durch Chirotunic, d. h. durch Handauflegung geweiht, die durch einen Bischof stattzufinden hat. In dieser Weise soll die Übertragung des heiligen Priestcramtes seit den apostolischen Zeiten von Generation auf Generation stattgefunden haben. Da nun der einzige Bischof, der sich zu den Altgläubigen schlug, gestorben war nnd bald nach ihm auch die Priester, die er geweiht, die Dissidenten aber die ganze russische Kirche als unter der Herrschaft des Antichrist stehend betrachteten — so war für sie nie-mand vorhanden, der Geistliche für sie weihen konnte. Nuu entstand bei den Scktirern ein wesentlich verschiedenes Verhalten der Staatskirche gegenüber. Die einen entschlossen sich, die Heiligkeit der Priesterweihe in der orthodoxen Kirche, und damit die Priester derselben als solche, anzuerkennen — sie werden die pricsterlichen Sekten (Pop^wzy) genannt; die andern verzichteten auf die Möglichkeit, Geistliche zu erhalten, da ihrer Ansicht nach niemand vorhanden war, der sie weihen konnte — es sind die Priester losen Sekten (Bcspoftowzy). I>. Die pricstcrlofen Sekten. Unter ihnen waren eine Zeit lang von hervorragender Bcdentuug die Pomürzy (die an dem Meere wohnenden). Sie tauften die Eintretenden aufs Neue. Jeder Angehörige hatte das Recht, zn tanfen und Beichte zu höreu. Die vou orthodoxen Priestern geweihte Ehe wurde nicht anerkannt. Der Selbstmord durch — 152 — Verbrennen, „die Feuertaufe", wnrdc als gottgefällig gepriesen. Sie beteten für deu Zar, aber mit Ablehnung des Kaisertitels. Diese Sekte gründete, namentlich nntcr Daniel Wikülin (daher seine Anhänger mich Danicliten genannt werden) ausgedehnte klösterliche Ansiedelungen zwischen dem Ouöga-See und dem weißen Meere, besonders am Flusse Wyg, die Wygorüzia. Als ein Mönch, namens Filipp, der der Sekte angehörte, mit den übrigen in Streit gerieth, sonderte er sich von ihnen nnd bildete mit seinen Anhängern den neuen Bund der Fillvpowzy (Filivvoncn). Fanatischer als die Mntter-sekte lehnen sie das Gebet flir den Zaren völlig ab und gestatten selbst die Aufnahme der Pomürzy nur uach crueutcr Taufe. Die Selbstverbrennung steht bei ihnen in hohen Ohren. Als eine Untersuchung über die Sekte vcrhäugt wurdc. verbrannte sich Fillpp mit 38 Genossen. Das russische Volk nennt sie Soshign-teli (Vcrbrcuner). Es soll eine Abart der Filipponen gegeben haben, dic Würgcrscktc, welche annahm, das; die Seligkeit nur denen zu tcil werde, welche eines gewaltsamen Todes sterben. Ihre Anhänger sollen alle tödlich erkrankten, nicht selten auch Kinder, erwürgt haben; die letzteren, nm sic unverdorben dem Himmel zn weihen. Keinen Zusammenhang mit ihnen haben dic Kavit<>wzy (Kavitonen), ubwol sie auch die „Feuertaufe" für sehr verdienstlich halten. Sic spenden das Abendmal durch Verteilung von Rosinen. Die Sekte wnrdc von einem der Vorkämpfer des Dissidcntentums gegen Nikon gestiftet, ist also älter, als die beiden genannten. Ain vcrbrcitctsteu und hervorragendsten unter den priesterloscn ist die Sekte der Fcdusssjewszy (Thcodosianer). Sie entstand im Stadtgebiet von Nüwgorod und crhiclt ihren Namen von dem bedeutendsten ihrer Anhänger FcdoM (Thcodosius). Die Scttc verwirft das Pricstcrtmn und alle Sakramente und erkennt die russischen Staatsgesetzc nur bedingungsweise als bindend an. Von Andersgläubigen bereitete Speisen miifscn erst gereinigt werden, ehe ein Scktcngenoß sie genießen darf. Im allgemeinen — 153 — von strengen Sitten, verhalten sie sich sehr milde gegcu die Verletzungen des sechsten Gebots. Die Fedoss6jcwzy verbreiteten sich rasch über eine große Zahl rnssischer Provinzen und setzten sich auch ill Österreich, Preußen nnd Polen fest. Als arbeitsame und nüchterne Leute gelangten viele von ihnen zu großem Wolstand. In Moskau erstand ihnen eilt Oberhaupt, welches der Sekte einen gewaltigen Aufschwung gab und die verschiedenen Gemeinden zu einen: großen Ganzen vereinigte. Es war IljiV Alexvjcwitsch KowlM, der 1771, als die Pest in Moskan wüthete, auf Kosten der Genossenschaft ein Hospital für Pestkranke nebst Quarantainc nnd Kirchhof einrichtete, und dafür von der Regierung gewisse Vergünstigungen erlangte. So entstand das Gravitations-Ccntrnm der Thcodosianer in Moskau, der sog. „Friedhof von PrcobraslMZk", cin Kloster mit Versorgnngs-häusern aller Art. Unter Kaiser Nikolai wnrdc die Sette als staatswidriger Bund betrachtet nnd die Privilegien des Friedhufs von Preobrashonsk aufgehoben, der von nun au der Nc-gieruugs-Koutrollc uuterlag. Trotzdem ist die Sette in Russlaud noch immer zahlreich und weitverbreitet. Die Sträuuiki (Wanderer, Pilger) oder Vegunl) (Täuflinge, Flüchtlinge) erscheinen gefährlicher als die vorhergehenden. Gründer der Sekte war ein Deserteur, Icwfimi (Euphcmius), dcr sich längere Zeit bei verschiedenen Dissidentcngruppen herumgetrieben hatte und da er bei ihueu nicht zn Ansehen gelangte, cinc neue Ncligionsgescllschaft stiftete. Die Grundanschammg seiner Anhänger besteht darin, daß sie sich in beständiger Flncht vor dem Antichrist befinden. Sie brechen jede Beziehung zn Staat und Kirche ab, vernichten ihre Persoualdokumentc, nehmen andere Namen au und leben als Vagabunden. Sie verwerfen die Ehc° Männer nnd Francn leben zuchtlos bei einander. Auch eine Art Kummnnismus ist bei ihnen Gebranch. Neben den wirklichen Wanderern und Flüchtlingen gehören zur Sekte auch eine Art von Laienbrüdern, welche iu ihren bürgerlichen Beziehungen verbleiben und den Mitgliedern erste»: Ranges, — 154 — wenn sic verfolgt werden, Unterstand nnd Hülfe gewähren. Sic dürfen sogar, des Scheines wegen, zu Beichte lind Abendmahl gehen. Die Chlysty (Geißler, Flagellanten) bezeichnen sich selbst als „Leute Gottes", „betende Schwestern und Brüder" und dergleichen mehr. Sie sollen sich ursprünglich Christ6wschtschina (Christussektc! genannt haben, der Voltsmund, heißt es, habe diese Bezeichnung zutreffend m Ehlyst6wschtschina (Gcißlcrbund) verwandelt. Wenig zahlreich, hat die Sekte ihre Anhänger in den verschiedensten Ständen. Sie hat eine ziemlich strenge Hierarchie, deren oberste Würdenträger „Christus", „Mutter Gottes" und „Prophet" genannt werden. Eine CHWen-Gemeinschaft heißt „Schiff". Die Entstehung der Sekte fällt in die Negicrungszeit des Zaren Alexm Michallowitsch (ltt45-1676). Nach der eigenen Tradition dcr Geißler wäre damals Gott in der Baucrngcmcindc Sstarodüb ^Guuv. Wladimir, Krcis Almrom) auf einem feurigen Wagen herabgestiegcn, um in Gestalt des Dauitl Filipvowitsch Russland zu erleuchten, Einige Zeit früher wäre in einem andern Dorfe von einem hundertjährigen Elternvaarc Iw^n Timof^ewitsch Ss>'»sslow geboren, welchen sie als den ersten Ehristus ihrer Lehre bezeichnen. Daniil Filivpowitsch, als Inkarnation Gottes, gab seinen Anhängern zwölf Gebote. Sein Schüler Ssüsslow soll zu Tode gemartert und wieder auferstanden sein. Die religiöfc Basis der ChlystH bilden direkte Offenbarungen. die sie vom Himmel zu empfangen glauben. In eigentümlichen Anzüge versammeln sie sich zu sogenannten Andachten, in denen sie besondere Lieder singen und sich dann stundenlang unter Selbstgcißelung uud andern Kastcinngcn im Kreise drehen. Zustände äußerster Nervenüberreizung und EMse entstehen daraus, in denen die Propheten ihre Visionen als Offenbarungen Gottes verkünden. Dabei werden auch die Sinne in höchstem Grade gereizt und wüste Orgien beschließen die Andachten oder folgen ihnen trotz strenger Ent — 155 — Haltsamkcits-Vorschriftcn. Abcr allcs, was in und nach don Versammlungen geschieht, wird geduldet und dabei über die letzteren das tiefste Geheimnis bewahrt. Daß sie mit einem Zustande grenzenloser körperlicher und geistiger Ermattung, häufig mit Bewußtlosigkeit, enden, ist begreiflich. Die „Christus", Gottesmütter und Propheten der Geißler stehen bei ihnen im größten Ansehen; ihnen wird unbedingter Gehorsam geleistet. Manche ihrer „Himmelsköniginnen" legen sich auch den Titel „Großfürstin" bei. Die Sskopzy (Sk<'»pzen, Selbstversiümmlcr, Kastraten, Sing. sstop^z) sind in mancher Beziehung mit den Chlysten verwandt und aus denselben hervorgegangen. Auch sie haben ihre irdischen Gottesverkörperungen, ihre Gottesmutter und Propheten, ihre aufregenden Andachten. Der wesentliche Unterschied aber besteht darin, daß die Stüvzen in entstellender Auslegung von Eu. Matth. 19, 12 beim Eintritt in die Genossenschaft von den Angehörigen derselben verstümmelt wcrdeu. Dergleichen Kastraten ans religiösem Wahnsinn mag es früher schon in 'liussland gegeben haben, das Auftreten dcr eigentlichen Sk<)pzcn-sette aber datiert von der Person des Kondräti Sseliw-Inow, dcr um 1770 in den Gouvernements Or<'l, Tula und Tambuw sein Wesen trieb. Als Mitglied dcr Gcißlergcnossenschaft that er stch hervor und wurde bei einer Andachtsübung des Schiffes von zwei alten Weibern, der Himmelskönigin Akulma Iwänowna, ciner dein Kloster cntlaufcncn Nonne, und dcr Prophetin Anna Nomlinowna im Taumel dcr Exstasc als die wahre Menschwerdung Gottes nnd als Retter vor dem Antichrist proklamiert. Jetzt trat er selbständig anf und entfaltete cine bedeutende Wirksamkeit bis die Behörden aufmerksam wurden und ihn nach Sibirien schickten. Vorher hatte er mit seiner Gottesmutter Akulma auch seinen Vorlänfer, seinen Johannes den Täufer, allsfindig gemacht, einen Bauer Alexander Ilv-lnowitsch Schi low, welcher gewaltig für ihn agierte. Nebenbei gab sich der ver-kölpcrte Stopzeilgott anch noch für dcn Kaiser Peter III. ans — 15tt — mid die Akullna Iwiinowna identifizierte sich nnt der verstorbenen Kaiserin Elisabeth. Zar Panl lies; den verbannten Sseliwiuww znrncklehren uud sprach selbst mit ihm. Als sich der Kastratenhciland jedoch als Peter III. geberdctc und den Kaiser als seinen Sohn anredete, sandte man ihn ins Irrenhaus, wo er bis zum Tode Pauls blieb. Alexander I. ließ ihn iu eine Versurgungsanstalt bringen. Hier zettelte er jedoch neuen Unfug an und man verwies ihll in ein Kloster, wo er 1832, wie man sagt, 112 Jahre alt, starb. Die Skopzen, uutcr denen es mancherlei Schattierungen giebt, sind im allgemeinen wolhabend, manche sehr reich. Geldbelohnungen, Aussicht anf Vesitz, werden von ihnen häufig als Bekehrungsmittel angewandt. Die Stellen der Offcnbaruug Iohannis 7, 4 und 14, 3 u. 4 beziehen sie auf sich und erwar-den das goldene Zeitalter, sobald ihre Zahl in Rnssland die in der Apokalypse erwähnten 144000 erreicht hat. Die Napolc>''wtschini oder Montanen, welche cigcntüm-licherwcisc einen mystischen Knltus mit der Pcrsou Napoleons I. treiben, siud gleichfalls ciue von den Chlysü) abgezweigte Sekten-Varietät, welche nm 1820 zuerst auftauchte. Sie hat übrigens mit dem Franzosenium nichts zu schaffen, nur daß der sagenhafte Napoleon bei ihren Mitgliedern, vermöge einer eigentümlichen Idccnvcrwirruug, als Inkarnation Gottes gilt, ganz wic Daniü Fillppowitsch bei den Flagellanten und Sscliwl'mow bei den Sk()ftzcn. Die Sekte soll wenig Verbreitung gefunden haben. Die Pryguny oder S st a tuny ^Springer, Hüpfer), eine andere Abzweigung der Gcißlcr, datieren ihre Entstehung gleichfalls aus dem Aufang der zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts. Iu ihren Andachtsübungen versammeln sie sich in Wäldern oder abgelegenen Scheuneu uud ihr Gottesdienst besteht in gewaltigen Sprüngen und Gliederverrenkuugen, die sie mit unartikulierten Lantcn begleiten. Sie hüpfen stets paarweise, ein Mann mit — 157 — ciner Fran, Hand in Hand, bis sic vor Ermüdung niedersinken. Die weiter folgenden Scenen entziehen sich der Bcschrcibnng. Die Sekte scheint wenig verbreitet zn sein. Im Jahre 1867 wurde den Mitgliedern der Springersekte in Verdunst (Gonv. Taurien) der Prozeß gemacht und ihnen systematisch betriebener Kindermord nachgewiesen. Nnch sie wollten, wie die Würger, die reinen Wesen unbefleckt der Gottheit znführcn. Sie wnrden nach Sibirien und den Kankasns verwiesen. Gleichwol haben sich dort bis auf den heutigen Tag einige Springer-Familien erhalten, die ihre Andachtsübnngen verrichten und deren Prophetinnen sich in den Dorfstraßen sehen lassen in schwarzem Ssa-raf-w mit weißem, schleierartigem Überwurf. L. Die priesterlichen Sekten (Popuwzy) erkennen, trotz ihrer dissentiercnden Haltnng der orthodoxen Kirche gegenüber, die staatskirchliche Priesterweihe als solche an nnd wählen ihre Geistlichen aus der Zahl der von orthodoxen Bischöfen geweihten, sobald diese zn ihnen übertreten und nach den „alten Büchern" zu amtieren sich verpflichten. Aus dieser ihrer Grnndanschauung folgt, daß die prieftcrlichen Sekten nicht, wie die priesterlosen, den Drang haben, sich endlos zn zersplittern und zwischen ihnen und ihren Abarten kein so starker Antagonismus besteht, als bei den Bespopuwzy. Die ältesten priesterlichen Genossenschaften lassen sich in drei Grnppcn sondern: «. Die Gruppe vom Kershen^z, so genannt nach einem Flüßchm im Gonv. Mshni Nowgorod, an welchem sich gleich nach dem Entstehen der gros;cn Kirchenspaltung eine Anzahl 'lltglänbiger niederließen. Sie hatte in jener Zeit eine besondre Dentung der Dreieinigkeit nnd zählte den Sohn Gottes uicht zu derselben, gab aber später diesen Lchrpnntt auf. /^. Die Grnvpc des Mönchs Hiob, welche letzterer um 1W7 im Lande der donifchen Kosaken am Flüßchcn Tfchira gründete. Abzweigungen verbreiteten sich bis zum kaspischen Meer und den Missen Knbün, T.nck und Ur-ll. 7. Die Gruppe von Wetka, einer Insel im Flüsse Sosh, — 158 — der sich in don Dnjepr ergießt. Die Gegend war früher polnisch nnd diente 1667 aus Russland flüchtenden Sektircrgcmeinden als Zuflucht. Dicse vermehrten sich bald auf 40000 Mitglieder lind bildeten eine Art Mittelpunkt für die pricsterlichcn Altgläubigen. Unter Katharina N. wurde ein großer Teil derselben zur Rückkehr nach Russland genöthigt und ihuen gestattet, ihre Heiligtümer nach Sstarodäb «Gouv. Tschcrnigow) mitzu-nehmcn, das nun zum Centrum der Sektirer wurde. Nus dieser dritten Gruppe bildeten sich vor wie nach ihrer Übersiedelung neue Abarten, wie die Diakoniten, welche das am Sosh präparierte Salböl nicht annahmen, weil kein Bischof bei seiner Bc-rcitnng zugegen gewesen, dieAnhängcr des Icpif:1ni(C'pivha-ncs), eines cntlaufencn Mönchs, der sich mit gefälschten Dokumenten die Bischofswürde zulegte, die Genossenschaft von Tschernobyl, welche an das baldige Ende der Welt glanbte, das Paßwcsen bekämpfte, den Eid untersagte und, wie die Katholiken, das Kreuz nur mit dem Gekreuzigten daran (als (Iriu'ifix) verehrte. Eine andere von Starodüb sich ablösende Genossenschaft nennt sich nach dem Priester Fjodor Ssüsslow lnicht zu verwechseln mit dem Ss,,fslow der Flagellanten) und nimmt es bei ihren Priestern sehr genau mit der Kontinuität der Chiro-touic. Manche priestcrliche Sektircr verlangten von ihren Geistlichen nicht blos die Lossaguug von den Nüouscheu Formen, sondern auch eine neue Salbung. Sie werden Pcrcinnsllnzy (die von nenem Salbenden) genannt. Viele pricstcrlichc Sekten haben seit 1771 ein Centrum in Moskau, den Fricdhuf von Rog/»sh, welcher für sie dieselbe Bedeutung hat, wie der Fricdhof von PreobraslMsk für die Theodosianer. Selbstverständlich war es den priesterlichcn Dissidenten vor allem darum zu thun. eine bischöfliche Autorität an ihre Spitze zu stellen, um die nothwendige Anzahl von geweihten Geistlichen erlangen zu tonnen. Da die Sache in Russland unmöglich war, richtete man sein Augenmerk auf die im Auslande angesiedelte» — I.W — Altgläubigen und gelaugte eudlich iu dcr Blilowina zum Ziele. Der vom Patriarcheu zu Koustautiuopcl abgesetzte Bischof von Vosnieu, Ambrosius, stellte sich den Dissidenten zur Verfügung, oer Friedhof vou Nogosh gewährte die erforderlichen Mittel >md mit Bewilligung dcr österreichischen Negierung hielt im Jahre 1^4<> Ambrosius iu Vjelakrinitza (l<'<>nt!lna M-l), einer 3ticderlassuug Altgläubiger in dcr Bukowina, seinen Einzug als Bischof dcr ftriesterlichen Starowürzeu. Vjelatriuitza ward seitdem zum Metropolitans^ dcrsclbcu und wurden hier Geistliche jeden Ranges, auch Bischöfe geweiht. Bei dcr Errichtung dieses Bischofssitzes hatte die poluischc Emigration, Tschaikowski (Sadik Pascha) au dcr Spitze, die Hand im Spiel. Sie beabsichtigte durch jene Schöpfung iu Vjclakriuitza einen >>eerd russlaudfcindlichcr Tenden,zeu zu gründen. Ihre Umtriebe bliebeu dcr russischen Regierung nicht verborgen. Zwar ^erwie^ mall auf die Vorstellung dcr letzteren Ambrosius nach ^lelllfriuitza, Stcycrmark und entfernte die fremden Mönche aus dem Kloster von doch wurde dabei in dcr Sache nichts geändert und die Verhältnisse blieben unter eiucm neuen Metropoliten iu ^cr Bukowina dieselben. Nnssland versagte selbstverständlich der in Bjclalrinitza geweihten Hierarchie seine Anerkennung lind das allein schon gab dcn heimischen Altgläubigen zu deuten. Die Anträge dcr ^migrierten russischen Revolutionäre (VatViuiu, Hertzeu und Genossen), den Metropolitans,!) der Dissidenten nach London zu "erlegen, wurden von letzteren mit Protest zurückgewiesen. Dcr Muischc Aufstand brach ans und erregte das russische Nationalgefühl auf das lebhafteste; auch die Pricsterlichen Altglänbigcn snhltcu sich veranlaßt, in einer Loyalitätsadressc ihre Treue für bc»s Vaterland und ihre Ergebenheit sür den Zaren laut zu bekennen. Bald daran? erschien ein Ruudschrciben der Sekte, iu welchem bei strengem festhalten an den alten Ritualieu. das Verhältnis zur rnssischen Staatskirchc in versöhnlichem Sinne dargestellt, den Gcfühlcn der Loyalität neucr Ausdruck — NiO — verliehen und gegen die Atheisten in Londolt auf das energischste vorgegangen wurde. Me diese Kundgebungen brachten einen beträchtlichen Teil der pricstcrlichcn Altgläubigen zum Anschluß an das Icdino-werzentum, dessen Entstehung und Charakteristik hier folge. Eine Anzahl Altgläubiger in Moskau reichte im Iahrc 1890 dem dortigen Metropoliten Platon eine Schrift ciu, in welcher sie das Verdammungsurtcil der orthodoxen Staats-tirche über eine Anzahl alter Ritnalien aufzuheben baten und sich bereit erklärten, von der Staatskirchc geweihte Priester nach jenen alten Nitnalicn bei sich amtieren zu lasseu. Sie sprachen noch manche andere Bitten aus, z. V. daß man ihren kirchlichen Akten öffentliche Gültigkeit zuerkenne und gaben genügende Bürgschaft für ihre Loyalität. — Der Metropolit, ein billig und vernünftig denkender Mann, fand das Gesuch sehr berücksichtigungswcrth uud beförderte dasselbe, mit seinen Randbemerkungen, an den Kaiser. Er fügte hinzn, eine Richtung, welche sich in dieser Weise der Staatskirche anschließe, könne man nicht mehr als Nasst^l bezeichnen. Auch der Name „Altgläubige" sei unpassend, da es in der orthodoxen Kirche keine Neuerungen gegeben habe. Er schlug vor, dcu Starow^rzen, von welchen das Gcsnch ausging, künftig einen Namen zu geben, welcher ihre Vereinigung mit der orthodoxen Kirche ausdrücke, wie z. B. Sojcdin,^nzy s^ekeuuer der Vereinigung) oder Iedinow6rzy ^Glaubensgenossen), Kaiser Paul bestätigte sämtliche Anträge des Metropoliten Plat.m uud durch NÜls vom 27. Oktob. 1800 wurdc das Gesuch jeucr Altgläubigen gewährt uud dieselbcu als ^ediuowürzy gesetzlich anerkannt. So ist denn diese Genossenschaft dem alten Gebrauchtum treu gcbliebcu, übt dasselbe aber nicht nntcr Anflehnnng gegen die orthodoxe rnfsischc Kirche, sondern mit deren Genehmigung aus, wird nicht mehr als Dissidenteutum betrachtet und ihre Priester werden von der Staatstn'che approbiert. Sstaroobrj:ldzy sAltritualisten) werden diejenigen Priester- lichen Altglänbigcn genannt, welche sich vom Iediuon>i'rzeutllin feru hielteu, bei ihren alteu Viichcru und Ceremonien beharren und der russischen Staatskirchc gegenüber sich ablehnend verhalten. ä. Mystische und rationalistische Sekten. Dieser Nnbrik gehören eine Anzahl religiöser Genossenschaften an, welche uicht, wie die vorhergehenden, auf den RasM zurückzuführen sind, bei denen es sich nicht um Textfälschuugen und Auslegung gewisser Vibelstcllen handelt, die sich ihren Glauben und die Deutung der heiligen Schrift sozusagen ^ >»!-im-i coustruicrt haben uud bald eine mystische, bald eiue rationalistische Nichtuug, bald eine soudcrbare Kombination von beiden einschlagen uud endlich auch teilweise evangelischeu Strömungen gefolgt sind. Ich bcginue unt einer Setle, welche bereits in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts die Aufmerksamkeit auf sich zog, deu Duchobnrzcn (Streiter des Geistes). Hauptsächlich iu Südrusslaud verbreitet, faud ihre Lehre auch iu Kankasien, Finland, Moskau, Kaluga, sogar auch in Irkutsk und Kamtschatka Anhänger. Von Kennern wird das Duchob<'>rzcutum als ein Gemisch von eigeucu Ausichteu, Quäkcrtum uud Mystizismns unt Anlehnnng au ciuzelue Lehrcu der Chlysty und Wiedertänfer bezeichnet. Den Gottcsbcgriff fassen die Duchobnrzeu Pauthcistisch ^uf. Sie läuguen das jenseitige Leben, an dessen Stelle sie die Vcvsehung der Seele allf eiue audere Welt oder in eiucu "nderu Körper auuehiueu. Das inuerc Licht, aus dem sie ihre Offenbaruugcu schöpfeu, stelleu sie der Bibel gleich. Sic verwerfen die Lehre vou der Dreieiuigleit uud der Gottheit Christi, erkenncl» der äus;ercu Kirche sanuut Pricstcru, Gottesdienst und Sakrameuteu nur geriugcn Werth zu und lcisteu weder Eid noch Kriegsdielist. — Ähnliche Lehren sollen schou früher in Rnsslaud existiert haben; die eigentliche Entwickelung des Duchob«'.rzentums datiert von dem Baner Silw-m Kol^suikow, d^r in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts im Goiw. — 162 — IekaterinosslÄvfcinWeseu trieb. Den bedeutendsten Einfluß auf die Sekte übte ein verabschiedeter Unteroffizier SsawM Kapüstin am Ende des vorigen lind am Anfang des jetzigen Jahrhunderts. Er full sich über feine Anhänger eine dcsftotifchc Gewalt angemaßt haben und wird mit Johann von Leydcn verglichen, Unter Katharina N. nnd Pan! 1. zeigten sich die Duchoburzen öfters renitent gegen die Staatsgewalt; noch im Jahre 1807 trat ein Fall offenbarer Widcrspänstigkeit zu Tage. Seit 1817 wird ihnen im Militärdienst der Eid erlassen und man verwendet sie vorzugsweise im Sanitätsdienst oder als Militärhandwcrker. Man lobt sie als mäßig, reinlich und arbeitsam. Die Molok-iuen (Milchesser — vom Volke so benannt, weil sie in der Fastenzeit, im Gegensatz zur orthodoxen Kirche, Milch genießen,) werden vielfach als ein Zweig der Duchob.'»rzcu-sekte betrachtet und Ssumv>u Ukl^jiu gilt als Urheber ihrer Absonderung. Andere dagegen halten die MoloÜ'men für die ältere Genossenschaft und verweifcn auf verschiedene rcligiöfe Sekten des 14., 15. uud 1l>. Jahrhunderts, welche die sichtbare Kirche und die Sakramente bekämpften, die Fasten nnd andere kirchliche Gebräuche verwarfen und eine bald mystische, bald rationalistische Auslegung der Bibel lchrtcu. Wie die Sache sich auch verhalten mag, jedenfalls scheint die Verbrüderung der Moloüweu sich erst am Ende des vorigen Jahrhunderts in ihrer heutigen Gestalt gezeigt zu haben. Sie stellt die heilige Schrift sehr hoch, betrachtet sie als Grundlage jeder moralischen Vervollkommnung, legt sie aber in besonderer Weise aus. Sie verwirft alle Kou-zilien und glaubt das Urchristentum zu besitzen. Sich selbst bezeichnen die Molok-Weu als wahrhast geistliche Christen, während alle andern ihnen als weltliche gelten. Ihren Ältesten und Lehrern wird keineswegs eine große Autorität zucrkauut — jeder kaun die Bibel auf seme Art auslegen. Man hat ihre Lehre den: Presbyterianismus verglichen, uur daß sie sich noch zum Unterschiede von demselben in einem halbflüssigeu Zustand befinde nnd ihr das klare, lugische System fehle. — 163 — Unter dm Moloküncn giebt cs eine ganze Neihc verschiedener Schattierungen, die um so schwieriger aufzuzählen uud zu charakterisieren sind, als täglich neue sich bilden und weiter entwickeln. Im Jahre 1880 zeigte sich in ihrer Mitte eine besonders lebhafte religiöse Gahrnng, die zunächst zur Spaltung der am Don augesiedelten Anhänger der Sekte führte. Einer der hervorragendsten Lehrer der Gemeinschaft hatte in St. Pctcrsbnrg gelebt nud sich dort mit der Lehre Mschkows, von welcher später die Nede sein wird, bekannt gemacht. In die Heimat zurückgekehrt bildete er eine besondere Gemeinde, die sich „evangelische Christen" nannte. Ein anderer Presbyter derselben Gemeinschaft trennte sich im Jahre 1862 von seinen bisherigen Glaubensgenossen nnd gründete, nnter dem Einftnß der benachbarten Mcnnomtcn, eine nene Vaptistengemeinde, die indes in Bezug auf einzelne Lehrmcinnngcn sich von den Mennoniten sowol wie von den eigentlichen Baptisten unterscheidet. Molo-künen giebt cs in den Gouvernements Tamlww, Wladimir, Ssmwwa, SslMtow, Astrachan, am Don, in der Krym, am Kaukasus und in Sibirien. Überall gelten sie als ordentliche, mäßige und arbeitsame Lotte. Anch eine socialistische Sekte ging in den zwanziger Jahren ans der Mitte der Molok-men hervor, die Obschtschije sKommnnistcn). Il)r Gründer Popnw ordnete an, daß jede Gemeinde eine kommunistische Eiilheit mit 12 Aposteln an der Spitze bilden sollte, denen die Verwaltnng alles Besitzes zn übergeben wäre. Er selbst behandelte seine Anhänger als brutaler Despot. Selbstverständlich dauerte die Sache nicht lange und man kehrte zu den anfgegebenen Eigcntnmsbegriffen zurück. Nur in Kankasieu soll es noch einige Obschtschije geben, uon denen es jedoch nicht bekannt ist, ob sie noch de! der Gütergemeinschaft geblieben sind. Die Ssnbntniki (Sabbatlente) stehen in ihrer Lehre den Moloü'men ncche, feiern jedoch den Sonnabend statt des Sonntags nud haben außerdem manche altestmnenlarische Sähe als - 164 — bindend angenommen. Sie stammen wahrscheinlich von einer jndaisicreudcn Sekte her, die im 15. Jahrhundert von einem Karaite»! gestiftet wurde. Eine Sckle, bei welcher das rationalistische Element ganz in den Vordergrund tritt, sind die Schalovuty, deren Namen ein Scheltwort ist, das ihnen derVolksmuud beigelegt hat und sich etwa „närrische Käuze" übersetzen läsit. Sie selbst nennen sich Mahrhaft geistigcChristeu", oder auch „Brüder des geistigen Lcbcus". Die Sekte findet sich in den Gouvernements EhcrsM, Tanricn, Poltüwa, Ickaterinossluw, ClMow, Knrsk, Woronesh, Njaftn, Tamb«w, Stawrop^»l, am Don, Kub-'m und T^ref. Gründer der Genossenschaft war wiedcrnm ein Bauer, Awwaknm Kophlow, dcu iu deu zwauzigcr Iahreu religiöse Zweifel auf die Wanderung trieben, um Leute verschiedenen Glaubcus kennen zu lerucu und der bei der Rückkehr seine eigene Lehre euustrniert hatte. Nach der Meinnng der Schalopüten sind Vernunft und Gewissen die beiden Fnudamentalqnellen religiösen Erkennens und Lebens. Die Bibel hat bei ihnen keine bedingungslose Autorität und wird nur in soweit geschätzt, als sie ihre Anschannngcn zu bestätigen scheint. Alles was vom Inhalt der heiligen Schrift die Vernunft nicht zu begreifen vermag, fassen sie bildlich anf. Christus ist ihnen nnr ein gottbegnadeter Mensch, seine Wunder leugnen sie. Der heilige Geist ist die in jedem gottbcgnadeteu Menschen lebende göttliche Lehre. Sintflut uud Weltnntergaug deuten sie allegorisch. Die Sakramente verwerfen fic als uu-nbthig. Die meisteu Schalotten — denn anch nnter ihnen giebt es verschiedene Abarten haben keinen Gottesdienst, keine Priester, keine Gotteshäuser: „Nicht die Balken schaffen die Kirche — sagen sie - sondern das Herz!" Jeder kann Gottes Wort lehren ohne besondere Unterweisung, der Mensch brancht keinen Vermittler zwischen ihm nnd Gott. Einmal wöchentlich versammeln sie sich zum gemeinsamen Lesen des Evangeliums, wobei sie durch geistliche Lieder die Seele erheben. — 165 - Die Schalupnteu ^ fast ausnahmslos Bauern — siud außerordentlich fleißig; Arbeit gilt ihncn als das vornehulstc Gebot der Neligiou und Moral. Da die Arndcrlichtcit dcr Meuschcn cius ihrer Hanptaxiomc ist, bearbeiten sic ihre Felder gemeinsam uud tcileu den Erirag. Sic helfen bereitwillig nicht uur dcn Glaubensgenossen, kein Notleidender wird abgewiesen und wäre er selbst cm Feind des Einzelnen oder der Genossenschaft. Im häuslichen Leben herrschen Friede und Eintracht. Die kirchliche Ehe verwerfen sie; nur dcr Vund, der auf Liede beruht, ist ihncn heilig. Da im bäucrlicheu Lcbeu auch jetzt uoch Zwangschcn nicht selten sind, kommt es vor, daß ein Schalopüt mit dcr kirchlich angetrauten Frau ein Hauswesen unterhält, dabei aber mit einem audcru Weibe einen unkirchlichcu Buud eingeht, welche er seine Frau im Geiste (duchuwniza), seine wahre Frau nennt. Dasselbe Verhältniß bestel/t dann zwischen ocr kirchlich angetrauten Frau und einem anderu Maune. Selbstverständlich kommen solche Ehen fast nur bei denen uor, welche früher andern religiösen Gemeinschaften angehörten nud als satten zur Sekte übertraten. Untereinander hcirathcn dic geborenen Schalopätcu nur aus Neigung. Im Ganzen genommen zeichnen sie sich aus durch Arbeitsamkeit, Nüchternheit und ernsten sittlichen Geist. DieNemoljak> lNichtbcter)uudWo sdych^nzy(Seufzenden) Nnd wenig voneinander unterschieden. Sie zersetzen alle Symbole, verflüchtigen dcn Inhalt dcr heiligen Schrift und bekämpfen die sichtbaren Zeichen dcr Andacht. Die Ältesten dcr Nemoljaki stehen bei ihren Genossen in um so größerer Achtung, je geschickter sie die Bibel in dcr bci ihncn beliebten Nichtnug zu verdrehen im Staude sind. Sie unterschcideu vier Weltaltcr: deu Frühling dcr Wclt — von dcr Schöpfung bis Moses; den Sommer — von Moses bis Christus; den Hcrbst ~ von Christus bis 1M6; und dcn Winter von 1606 an. Die Njcnüschi (Nicht - unseren) oder MoltsclMniki ^Schweigenden) gehen bis zur völligen Negationder heiligen Schrift, — 16<1 — der Nnsterbluhkeit, der Existenz Gottes und jeder Religion iiberhaupt. Die Sekte soll im Gouvernement SscwUow don einem ehcinaligcn Theodosiancr gestiftet sein. Die Schweigenden werden sie vom Volte genannt, weil sie mit ihrer Lehre in ostensibler Weise geheim thun. Über die Nj^towzy oder Njötschiki (Nein-Sager), eine gleichfalls mystisch-negierende Sekte, ist wenig Sicheres bekannt. Manche ihrer Lehren, wie sie gerüchtweise mitgeteilt werden, klingen, als hätten die Scktirer, einfache russische Banern, Sätze ans Schopenhauers oder v. Hartmanns Schriften aufgeschnappt. Ubcr eine Abart derselben, die Shiwyje Potoiniti (die Lebend-verstorbenen) erfahren wir etwas mehr, aber auch nur Verworrenes, Dem biblischen Satze: „Gott rnhtc am siebenten Tage u. s. w." geben sie eine halb mystische, halb dcistischc Nuslcgnng. Die Ausbreitung des Bösen iu der Welt halten sie nur deshalb für möglich, weil der siebente Tag, der Nnhetag Gottes, noch fortdauere. Die Kraft des Gebets wollen sie erst dauu zugeben, wenn der achte Schöpfungstag angebrochen ist. Diesen herbeizuführen sei die Aufgabe der Menschen. Das Leben auf Erden betrachten sie als Strafe, die Gcbnrt c>nes Kindes als Unglück Den Namen Christi erwähnen sie oft nnd verweisen auf seiu Beispiel; für die Erlösung durch deu Heiland fehlt ihnen jedes Verständnis. Eins ihrer Eektenhäuptcr sprach von einem „für die Seele heilsamen Bnche" einer „gotteswolgcfälligcn Fran", das er gelesen, als er noch in der Welt lebte. Er nannte es „Eonsucla oder die gute Nathgebcrin", man vermuthet in demselben eine rnssischc Übersetzung des Nomanes Consuelo von Georges Sand. Ein anderes Werk, ans das sich derselbe berief hieß das „Bltch Cotta." Man erkennt ans diesen spärlichen Notizen, anf welche Art manche Sekten in Nusslaud entstehen. Offenbar hatte eiu Spaßvogel den grübelnden Phantasten mit den Büchern „Consncla" — 167 - und „Cotta" mystificiert und dieser schleunigst auf Grundlage derselben eine Scttc geschaffen. Dic Stundistcn. Es ist keinem Zweifel unterworfen, daß die erste Anregung zur Bildung dieser Sekte, su wie ihr Name von den deutschen Kolonien am User des schwarzen Meeres stammt. Johannes Bonekcmpcr aus dem Wupperthal wurde 1824 Pastor der reformierten Gemeinde in der Kolonie Rohrbach, etwa 60 Kilometer von Odessa. Unter seinen meist aus der Pfalz und Würtemberg eiugcwaudcrtcn Kolouisteu fand cr dcu altwürtcmbcrgischcn Gebrauch des „Stuudcnhalteus", den cr sorgfältig pflegte. Männer nnd Franeu kamen Abends, gewöhnlich im Schnlsaal zusammen, sangen emen Choral, ein Baner hielt das Gebet, ein Stück der heil. Schrift wurde verlesen nud über dessen Inhalt in freier Nedc gesprochen. 1867 folgte der Sohn, Karl Vonekempcr, dem Vater im Amte, der alte Gebrauch dauerte fort und der junge Pastor, der Landessprache mächtig, trat auch mit dcu umwohnenden Russen iu aMigeu Verkehr, unter ihnen mit einem schlichten frommen Bauer aus dem Gouv. Mjew, der als Tagelöhner nach dem Süden gekommen war. Er war Zeuge des „Stundenhaltens", das ihm erklärt wnrde, lernte lesen, lernte die Bibel kennen und kehrte mit deu empfangenen Eindrücken in die Heimat zurück. An dcu langen Winterabenden versammelte cr die Nachbarn, las ihnen aus der heil. Schrift vor und erklärte das Gelesene. Das waren die Anfänge der russischen Stuudisten-Sekte, welche den Namen von jenem deutschen Kolonisten-Brauch beibehielt. Später haben offenbar die russischen rationalistischen Religionsgenossenschaften mit ihren Lehren einen bestimmenden Einfluß auf die geistige Entwickelung der Stundistengemeiuden ausgeübt, die sich dergestalt von ihrem Ursprung weit entfernten. In verhältuißmnßig kurzer Zeit verbreitete fich die neue Settc über eine große Anzahl Gouvernements des südlichen lind südwestlichen Nusslands nnd soll bereits im Norden Anhänger gefunden haben. Auch die Stnndisten befinden sich in Opposition gegen die bestehende Ordnung des kirchlichen nnd gesellschaftlichen — lin — Lebens. Sic lehren die Gleichheit aller Vc'enfchen und fordern eine umfassende Bethätigung der Bruderliebe. Grund und Boden, Wasser, Vieh u. s. w. wollen sie nicht als Persönliches Cigentnm gelteu lassen und möchten diese Dinge in Gemcüide- oder Gc-nossenschastsbcsitz verwandeln. Ursftriinglich wollten sie auch keine Negicrnngsgcwalt über sich erkennen, doch scheinen sie davon zurückgekommen Zn sein. Ihre Streitigkeiten schlichten sie untereinander. Sie haben weder Kirchen noch Vcthäuscr und versammeln sich in Bauernstuben. Ihre Velesenheit in der Bibel ist außerordentlich groß, dicAnslcgungdcrselbeu einseitig-tendenziös. Den Sakramenten gestehen sie einen lediglich symbolischen Charakter zu; die Taufe wird nur an Erwachsenen vollzogen. So scheinen auch baptistische Anschauungen ihren Weg in die Sekte gefunden zn haben. Zum Schlüsse will ich eine Erscheinung unserer Tage in der russischen Kirche nicht unerwähnt lassen, welche ich die Plischkowsshe Vcwcgnng nennen möchte. Ich bezeichne daunt, nach der am meisten in den Vordergrund tretenden Persönlichkeit, die Bestrebungen von Laienpredigern, welche vor-zngsweise den höheren Gesellschaftskreisen angehören, in missionarischer Nichtnng, um iu alleu Schichteu des Voltes das christliche Ncligionsbewnßtsein zu weckeu nnd zn beleben. Der Ausgangspunkt dieser Bewegung war der Aufenthalt des bekannten englischen Laicnprcdigers Lord Radstock in Et. Petersburg während der Passiouszcit des Jahres 1^74. Von iluu zur Cinkehr nud Umkehr angeregt, trat der reichbegüterte frühere Gardeoffizier Wassili Aler/mdrowitsch Püschkow mit allem was er war und hatte, mit seinem ganzen Hanse, in den Dienst Christi. Um ihn scharte sich eine beträchtliche Zahl Gesinnnngsgenossen. Sie pflegten die Vcrwnndeten im Kriege und trösteten sie mit dem Worte des Herrn; die gleiche Thätigkeit widmeten sie den Bewohnern der Gefängnisse. In Fabriken, Fuhrmannsherbergeu, wo nur ein Zusammenlanf des Voltes zu erwarten war, predigte P-Ischkow lind hatle die einfache, schlichte Form gefuuden, nm — 1s>9 — sciucn Zlihörcrli die Hcilswahrheiten des Evangeliums verständlich zu macheu. Am Solintag Abend versammelte er das Volt zur Andacht iu seincm Hause, in den Prunkgemächern, die sonst nur die Elite der russischen Gesellschaft gcschcu. Überall wurde er von seiueu Gesinnungsgenossen, Männern und Frauen, welche Namen der ältesten russischen Aristokratie tragen, auf das thatkräftigste unterstützt. Die Landeskirche konnte diese Strömung nicht unbemerkt an sich vorüberziehen lassen. Päschkow wurde aufgefordert, dem Rektor der geistlichen Akademie seinen religiösen Entwickelungsgang zn schildern. Es geschah. Der Rektor beantwortete Päschkows Schreiben in würdigster Weise von seinem Standpunkte. Beide Schriftstücke sind veröffentlicht. In dem letzten Negicrungsjahrc Alexander II. hatte die Staatsgewalt Grund gcnng, aufregende Volksanhänfnngen, wenn anch zum edelsten Zwecke veranstaltet, nicht zn gestatten. Die Versammlungen ül den geräumigen Sälen Mschkows wnrdcn im Frühjahr l88() untersagt nnd der Hausherr bcdcntct, seine Heimat für einige Zeit zu verlassen. Im Herbst kehrte er zurück, aber die öffentlichen Audachtsübungen unterblieben fortan. Die Licbcsthätigkcit jener Gleichgestimmten dancrt fort. Das Verhalten der Regierung den religiösen Sekten gegenüber war zn verschiedenen Zeiten ein verschiedenes und hat sich natürlicher Weise uach der größeren oder geringeren Staatsund Moralgefährlichkeit derselben gerichtet. Daß der Staat Men oic Scktircr weniger tolerant war, als gegen die sogenannten ausländischen Bekenntnisse (Katholizismus, Protestautismus, Islam n. s. w.) läßt sich erklären. Bei der Einverleibung von Gebieten mit fremdem Glauben mußte der Begriff der russischen Staatsangehörigkeit von dem Begriff der unbedingten Zugehörigkeit zur orthodoxen Kirche getrennt werden. Der Staat überflügelte die Kirche in der Ausbreitung seiner Grenzen. War man somit duldsam gegeu die augestammte Nicht-lMgehörigkeit zur Staatskirchc, so uahm man es um so — 170 — strenger mit dem Abfall von derselben. Aber auch diese Anschauung wurdc mit dcr Zeit aufgegeben und gab einer milderen Bcnrtcilung des Scltenwesens Nanm. Alexander ll. erließ am 19. Febr. 1874 eine Verordnung, welche für alle Neligions-genossenschaften, die keine, oder keine staatlich anerkannten, Priester besitzen, weltliche Civilstandsregistcr einführte. So ist denn den Scktirern, welche sich mit 5>cm Priestertum der Staatslirchc nicht aussöhnen zu können meinen, ein gesetzlicher Familienstand gesichert. Allerdings findet dcr Nkäs nur auf solche Sekten seine Anwendung, welche daK Institut der Ehe nicht negieren. Die Zahl dcr russischen Scktircr läßt sich aus mancherlei Gründen schwer bestimmen. Mau schätzt sie annähernd auf 13 bis 14 Millionen. Dabei ist die Menge dcr Sekten in fortwährender Zunahme begriffen, aber überall, mo neue religiöse Genossenschaften entstehen, zeigen sie in ihren Glaubensmeimmgen die größte Verschiedenheit. Man ersieht daraus, daß in Russland eine Bewegung des religiösen Denkens in einer bestimmten Nichtnng nicht vorhanden ist, daß sich aber das Bedürfniß cincs regeren religiösen Lebens allgemein fühlbar macht. Dies Bedürfnis nach geistiger Belebung des religiösen Dascins machen sich die Propagandisten der verschiedenen Sekten zn Nutze. Or-kennt die Geistlichkeit der orthodoxen Kirche ihren wahren Vorteil, so wird sie mit allen Kräften danach streben, jenes Bedürfnis nach einem regeren, geistigeren religiösen Leben von sich ans zu befriedigen. Damit gewänne sie eine Waffe gegen die Ausbreitung des NasMl nnd dcr Ketzerei, die an Wirksamkeit alle weltliche Gesetzgebung weit hinter sich lassen würde. - 171 — IV. Die Dlation und ihre Stände. Bei oberflächlicher Anschauung crscheiut die russische Nation in eiuc Anzahl scharf von einander geschiedener gesellschaftlicher Gruppen geteilt- bei genauerer Betrachtung verlieren die Grenzlinien an ihrer Bestimmtheit und die Stände zeigen vielfache Übergänge des einen in den andern. Die Grundlage des früheren gesellschaftlichen Organismus war die Leibeigenschaft; dnrch ihre Aufhebung mnßte derselbe in allen scincu Fugen erschüttert uud verschoben werden, Die alte Einteilung der Stände besteht zwar noch vor dcm Gesetz nnd änßerlich' im wirklichen Leben wnrdc sie vielfach verändert, die Unterschiede abgeschwächt. Mit vollem Recht kann man die Reformen der letzten Jahrzehnte dahin charakterisieren, daß sie die Vorrechte sowol wie die Lasten der verschiedenen Volksklassen allmählich verminderten, nm Rechte nnd Pflichten gleichmäßiger auf alle Schichten der Nation zu verteilen. Ein starker Band der umfangreichen russischen Gesetzsammlung handelt von den Ständen. Da'? Gesetz unterscheidet vier Hanvttlassen der Bevölkerung: den Adel, die Geistlichkeit, die Städter und die Landbewohner, eine Einteilung, die sich, wie bei vielen anderen Nationen, auf historischer Grundlage entwickelt hat. In dem von Peter dcm Großen geordneten Staate hatte jede Volksklassc ihre bestimmte Thätigkcitssvhäre; der Edelmann den Staatsdienst, die Geistlichkeit den Gottesdienst, der Städter Handel und Gewerbe, der Bauer die Landwirtschaft. Diese Klassen, die noch heute viel mehr dnrch Sitte nnd Erzichnng, als dnrch das Gesetz von einander geschieden sind, waren niemals geschlossene Kasten. Sie bestanden nur im Interesse des Thrones nnd Staates nnd dnrch dieselbe»,. Die Autorität, welche sie — 172 — geschaffen, konnte mich dm Unterthan, nach !hrem Ermesseu, ans der einen Kategorie in die andere verschon. Kein Stand besaß politische Rechte, deshalb hat es auch nie in Nnssland eine Spur jenes Hasses der einen Bcvöltcrungsschicht gegen die andere gegeben, der in Westeuropa so häufig zu Tage trat. Die Gerechtsame und Privilegien, welche den verschiedenen Gruppcu der Bevölkerung vom Herrscher verliehen wurden, waren rein persönlichen Charakters. Man unterschied vor Allem die privilegierten von den mchtprivilcgicrtcn Ständen. Die ersteren waren vom Militärdienst, der Kopfsteuer und der Körperstrafe befreit nnd bestanden aus dem Adel, der Geistlichkeit uud deu obcrsteu Schichteu der städtischen Bevölkerung; der Nest der Nation in Stadt und Land bildete die nichtprivilcgiertcn Klassen. Während die bevorrechteten Stände in andern Ländern durch eine gewisse Einheit der Interessen und der Kultur, auch wol der Abstammuug verbunden waren, finden wir in Nusslaud von diesem Verhältnis keine Spur. Adel und Geistlichkeit blieben einander fremd. Der Adel suchte uicht, wic im Westen Europas, für seine jiingcren Söhne die hohen kirchlichen Wurden, da das Erbrecht alle männlichen Nachkommen des Edelmanns gleich stellte uud die hohen Priesterämter nur von Klostergcistlichcn besetzt werden konnten. Die Geistlichkeit dagegen blieb ein geschlossener Stand, weil der Eintritt in dieselbe von anderen Bcvöltcrunasgrupveu nicht gesucht wurde und die Sühne der Popen die einzigen Bewerber um die Ämter der Väter blieben. Der Klerns bcharrtc bei den alten Sitten uud Gebräuchen des Volks, der Adel beugte sich nach kurzem Widerstände der Kultur Westcnropas und empfing vou dort Ideeu, Lebensweise, Tracht nnd Gebräuche, Ebensowenig Zusammenhang gab es zwischen dem Adel und den privilegierten Städtebcwohncrn, welche sich erst in neuerer Zeit vou den Sitten und Gewohnheiten wie vou der Bildung des Volkes trennten. So bliebeu die stäudischcu Gruppeu der Bevölkerung voil einander geschieden und warcu auch iu sich selbst durch kein geistiges Band, durch keine Solidarität der Interessen vertmipft. — 173 — Mit Necht konnte gesagt werden, Nufsland habe Edelleute und Bürger, aber kcineu Adel und kein Bürgertum. Zu den Eigentümlichkeiten der gesellschaftlichen Ordnung des russischen Lebens gehört ferner, daß die vier Stände des Reichs noch in einzelne Unterkategorien zerfielen, die sich nicht selten iu wenig sympathischer Weise gegenüber standen. So unterscheidet der Adel die erblichen von den persönlichen Edelleuten, die Geistlichkeit die schwarze von der weißeu, in dcu Städten treuucn sich die Großkanfleutc und Ehrenbürger vou den Kleinbürgern und Haudwerkeru nnd selbst unter dem Landvolk gab es eiueu wesentlichen Unterschied zwifcheu den Leibeigenen der Krone und der Privatleute. Alle diese Unterabteilungen hatten ihre verschicdcucu Rechte nnd Pflichten, sie haben noch hente nicht dieselbe Kultur, dieselben Interessen. Der Staatsdienst, der unter Peter dem Großeu dem Adel als Zwaug auferlegt wurde, hat denselben von seiner natürlichen Basis, dem Grundbesitz, getrennt. In der Armee nnd der Verwaltung des Reiches erwarben die Edcllcntc Nang nnd Bedeutung und der bessere Teil wnrde in den Hauptstädten festgehalten, während die Güter besoldeten Verwaltern anvertraut wurdeu. Ieuer Zwaugsdienst wnrdc zwar unter Peter III. aufgehoben, aber noch immer sucht der Adel mit Vorliebe die Stelleu in der Armee nnd Verwaltnng. Der weniger Bemittelte bcharrt dann im Staatsdienst nnd sucht die oberen Sprossen der hierarchischen Leiter zu erklimmen. Die reichen Großgrundbesitzer Pflegen in der Mehrheit ihre Staatsämter, ihre Offizierschargen in der Garde nach kurzer Zeit niederzulegen, und ihr Dafeiu in unabhängiger Ruhe dem Verguügeu, dem Studium, meist wol einem geschäftigen Mnßiggauge, selten der Verwaltung ihrer Güter, zu widmeu. Diese Klasse des reichen rnssischcn Adels unterscheidet sich wenig von der hohen Aristokratie anderer Länder, Sie spricht vielleicht ein besseres französisch, produziert gewandtere Tänzer und Causenrs, ist liebenswürdiger und vorurteilsfreier im Umgänge uud spricht fließend noch über eiue größere Anzahl — 174 — voll Dingen, von denen sie noch weniger versteht, als ihre westeuropäischen Stcmdcsgcnossen. Diese Kategorie des Adels kann bei ihren; allgemein westeuropäischen Charakter ebensowenig der Gegenstand einer besonderen Schildcrnng sein, wie der Edelmann als Offizier oder Beamter, der sich in keiner Weise von seinen Dienstgeuossen unterscheidet. Ich werde mich daher im Folgenden mir mit dem adeligen Gutsherrn, dcm Landcdclmann, der seinen Grundbesitz selbst vorwaltet, zn beschäftigen haben. Es giebt in Nnfsland eine eigentümliche Klasse von Landbewohnern, welche, namentlich zur Zeit der Leibeigenschaft, sich vvn den Banern stark unterschieden und in ihrer sueialcn Stellung gewissermaßen den Übergang von den letzteren zum Landadel bildeten. Es sind das die sogenannten Einhöfler (<)änoä>v6iv.y), die ihren Namen davon tragen, daß sie nur einen einzigen Hof, eine einzige Fenerstcllc, ein Gütchen besitzen. Sie waren stets freie Leute, die ihr Land als volles persönliches und erbliches Eigentum besaßen. Ihr Ursprung ist dnnkcl, die meisten halten sich für verarmte, ihrer Rechte vcrlnstig gegangene Edelleute; andere stammeu von Soldaten, die für geleistete Dienste mit Landbesitz belohnt wurden. Nach Vilcmng, Vermögen und soeialer Stellung, nach Lebensweise und Sitte unterscheiden sie sich in nichts vom großrussischen Banern und bedürfen deshalb gleichfalls keiner gesonderte»! Charakteristik. Die Stadtbevölkerung zerfällt nach der staatlichen Einteilung in die beiden Hauptgrnpven der Großhändler einerseits und der Kleinhändler und Handwerker andererseits. Die Kaufleute werden je nach den Geschäften, die sie betreiben und den Abgaben, die sie zahlen, in verschiedene „Gilden" eingeteilt. Dic beiden ersten Gilden repräsentieren den Großhandel. Sie gehören zu dcn privilegierten Massen nnd besitzen die Rechte des Persönlichen Adels. Kaiser Nikolai creirte für dieselben den Stand der erblichen und pcrsöulicheu Ehrenbürger, eine Bezeichnung, die seit Aufhcbnng der Kovfstener und Körperstrafe nnd Einführung der allgemeinen Wehrpflicht ihre Vedentung verloren hat. — 175 -^ Dor russische Großtanfmann hat sich, wie drr Aristokrat, don Sitten und Gewohnheiten seiner Voreltern entfremdet. Er strebt dem Adel nach und verehrt die französische Mode. Sein Hütel ist mit dem Luxns und Comfort Westeuropas verschwenderisch ausgestattet. Er spricht französisch, reist ins Ausland, hält sich vorzugsweise gern m Paris auf nnd verkehrt auch wol in den Salons des höheren Adels. Auch er bleibt von den folgenden Schilderungen ausgeschlossen. Der russische Kleinhändler, der Kup^z im engeren Sinne, ist den vaterländischen Traditionen und der Nationaltracht treu geblieben, er ist konservativ in Sitten nnd Gewohnheiten, bleibt bei der alten Lebensweise; orthodox, oder altgläubig, beobachtet er gewissenhaft Fasten uud Feiertage, unterscheidet sich von dem Bauer hänsig nur durch sciucu Reichthum, den er meist seiner Schlauheit, seltener großartigen Handelsoperationen verdankt. Ihn haben wir näher zu betrachten. Der Haudwcrkcr und Kleingewcrbtreibcnde ist nichte anderes als der Mnshik (Bauer) der Städte. Abgesehen von Wohnung und Beschäftigung unterscheidet er sich ill Leben, Sitten und Gewohnheiten nicht von seinen Brüdern auf dein Lande. So bleibt uns deun zu ciugehcndcr Charakteristik von den Ständen des russischen Volkes nur der Landcdclmann, der i,lnp^z nnd der Bauer. 1. Der i'andedclmann. Unter den russischen Landcdcllentcu sind alle Stnfen des Notstandes nnd der Armut vertreten, sie bilden eine mannich-faltige Skala von dem Besitzer vieler Millionen, der sich mit allen Ansgebnrteu eines überfeinerten Lnxns unigiebt, bis zn dem armen, unwissenden, in dürftigem Gewände cinhergcheudcn Eigentümer weniger Hufen Landes, die ihm kümmerlich des Lebens Nuthdnrft gewähren. Fürstliche Vermögen sind nicht selten ihren Inhabern dnrch die Finger gerollt nnd die Nachkommen erwerben ihr Brod in den bescheidensten Stellungen. — 176 — Euormc Güterkomplexe, don größerer Ausdehnung al^ mauche deutsche Nundcsstaatcn. sind zersplittert in einzelne Dmfer und Höfe unter einer beträchtlichen Zahl von neuen Besitzern. Nicht immer haben Verschwendung und Prachtliebc die Verminderung der russischen Latifundien herbeigeführt; auch das Erbrecht des russischen Adels hat hier als zerkleinernder Fad or gewirkt. Die Güter des Vaters werden zu gleichen Teilen an die erbenden Söhne verteilt, den Töchtern fällt unr ein unbedeutender Pflichtteil der Hinterlassenschaft zu. Nicht allein, das; durch diese Einrichtung die großen Liegenschaften in vcrhältnißmäßig kurzer Frist in Miuimalteile zerstückelt werden, auch das Gleichgewicht der Güter, die gegenseitige Stellung der Familien wird dabei häufig iu empfindlicher Weise gestört, sobald, bei sonst gleichen Vermögcnsucrhältnisscn, iu dem einen Hause die Zahl der Söhuc, im andern die Zahl der Töchter vorwiegt. Um dem Übel zn begegnen hat man das fremdländische Institut der Majorate in Nnssland eingeführt. Seltsamer Weise war es Peter der Große, dieser demokratischste der russischen Zaren, welcher die aristokratische Einrichtung der Fideicommisse im Lande heimisch zn machcu versuchte, wol um scineu Staaten einen reichen nnd civilisierteu Stand zn sichern. Dabei wnrden alle liegenden Güter des Adels zu Majoraten gemacht, die au einen einzigen Erben übergehen mußten nnd zugleich eil, Majoratsrecht nach dcm Prinzip der von Peter beliebten Thrunfolge-orduuug geschaffen. Der Valcr bestimmte den Majoratserbeu uuter seinen ^tmdern nach freier Wahl. Dies Gesetz wurde nach kurzer Geltnng im Jahre 17^0 aufgehoben, die frühere gleiche Teilung nnter dcn Söhncn wiedcr eingefiihrt, nnd wo nene Majorate gestiftet wnrdcii, mußten sie nach der Ordnuug der Primo-geuitur vererbt werden. Die Zahl der seitdem gegründeten russischeu ^ideicommisse ist cme sehr geriugc geblieben. Das Institut widersprich! offenbar dcn Traditionen, Sitten nud Neigungen der Nation. Die Aushebmtg der Leibeigenschaft hat eine beträchtliche — 17? — Anzahl von Gutsbesitzern zn Grunde gerichtet. Dies Schicksal ereilte vor allem diejenigen, deren Liegenschaften bereits start verschuldet waren und nach Abtretung des Bauerlandcs, den Gläubigern keine genügende Sicherheit mehr boten; diejenigen ferner, welchen es an den nothwendigen Kenntnissen gebrach, um ihr Besitzthum selbst bewirthschaften zu können; endlich solche, welche zumeist von den Abgaben und Leistungen ihrer Bauern existiert hatten. Vielen Landedelleuten wurde durch die Befreiung der Leibeigenen der Aufenthalt auf ihren Gütern verleidet. Um die Leibeigenen besser überwachen zu können, erbaute man in früheren Zeiten die Herrenhäuser in unmittelbarer Nähe der Dürfer. So ist denn jetzt der Gutsherr, wenn er sich nicht eine neue Wohnung beschaffen will, der nächste Nachbar seiner ehemaligen Untergebenen. Das ist für ihn eine unbehagliche Situation; er fühlt sich sozusagen am cigeuen Herde nicht mehr daheim. Dazu bot die Leibeigenschaft eine Menge Vorteile und Bequemlichkeiten, die sich gar nicht in Gelde abschätzen lassen. Mit dem Frohn-dienst der Bauern ließ sich das Gut viel einfacher ausnutzen, als mit bezahlter freier Arbeit. Jetzt wurde der Gutsherr genöthigt, was er sollst nicht zn thun pflegte, seine Geschäfte selbst in die Hand zu nehmen, Knechte und Tagelöhner zu dingen, das Gut gegen einen Ernteantcil mit seinen früheren Unterthanen gemeinschaftlich zu bearbeiten oder dasselbe zu verpachten — lauter Dinge, die ihre Schwierigkeiten haben in einem Lande, wo jeder Bauer sein Stück Gemeindcactcr besitzt und Pächter wie Kapitalien zn den Seltenheiten gehören. Andererseits wnrden die Güter durch die Emancipation der Leibeigenen leichter verkäuflich. Während sie nach der früheren Ordnung nur von Edelmann zu Edelmann übergehen durften, kann sie der Eigentümer jetzt an jeden beliebigen abtreten. Und das geschieht denn auch in ausgedehntem Maße. Der adelige Grundbesitz vermindert sich von Jahr zu Jahr. Im Norden geht derselbe vorzugsweise in die Hände der Stadtbewohner, im Mi'y^r, Nxsjlmid. II. 12 — 178 — Süden und Südwestcn in die Hände dcr Juden über. Dic letzteren besaßen 1869 im Gouvernement Poltäwa 6)cr, '!>!>jsl,nid. 41. 1» — 194 — Zimmer aufgeschlossen und man hat in demselben zu warte», bis die der Umgebung entsprechende Toilette angelegt ist. Frauen und Töchter sieht man selten bei solchen Gelegenheiten, wenn man nicht sehr intim ist. Die Kaufleute halten noch im allgemeinen an der Nbschlicßnng des weiblichen Geschlechts, wie sie vor Peter dem Großen unter den höheren Ständen Nnsslands Gebrauch war. Einen Lnxus gestattet sich der modern angelassene russische Kaufmann auch im gcwönlichcn Leben: den Besitz vortrefflicher Pferde und schöner Geschirre, während seine Equipagen einfach aber sehr leicht und praktisch gebant sind. Der überladene moderne Plitz und ein Meer von Brillanten ersetzen bei dem schönen Geschlecht jene Liebhaberei des starken. Diese Frauen sind ohne jede Spur von Bildnng, ohne Sinn fiir geistigen Genuß oder geistige Bcschäftignng. Die vernünftigeren bekümmern sich um den Haushalt, die große Mehrheit verbringt den Tag mit Nichtsthun, Besuchen bei Freundinnen, in Kirchen, .Klöstern und Vadstnbcn, mit Thcctrmken und dem Verspeisen von Süßigkeiten aller Art. Die jungen Mädchen wachsen auf ohne die heitercu Freudeu geselligen Umgangs. Die Heirathcn werden als kaufmännische Geschäfte betrachtet, die Töchter als Waare, deren Preis von der Mitgift bestimmt wird und die mau losschlägt, sobald der Bewerber ein Äquivalent an Reichtum uder Rang und Stellung bietet. Lassen die Eltern den Kindern eine Erziehung geben, die sie über die eigene Sphäre erhebt, so öffnet sich zwischen ihnen eine unüberbrückbare Kluft. Die Gemülhlichteit des Beisammenseins verschwindet. Die Gewohnheiten lind Neigungen des Vaters verletzen den Sohn nnd die des Sohnes gereichen dein Vater zum Ärgernis, Am schlimmsten sind dabei die Fälle, wo die Erziehung Hauslehrern nud Gouvernanten gänzlich überlassen wird, die nicht selten gnte Triebe ersticken und schädliche Ten-denzeu fördern. Um vieles besser ist der iu letzter Zeit üblich -^ 195 — gewordene Brauch, die Kinder zur Erziehung ins Ausland zu senden. Sic kehren dann allerdings viel gebildeter heiln, als ihre Morn, sind aber auch um so vicl weniger tauglich, uach alter Art Geld znsanmieuznscharrcli. Sic suchen dauu uicht seltcli ihre Laufbahu auf andern Gebieten und der Kanfmanns-stand verliert so fortwährend eine beträchtliche Zahl der wertvollen Elemente, die ihn zu heben berufen wären. Denn die große Mehrzahl der russischen Kaufleute aus der geschilderten Klasse besitzt nicht die Anfangsgrnndc der Bildung. Viele können weder lesen noch schreiben; sie nüissen ihre Buchführung im Kopfe haben uder dieselbe in sclbstcrfnndenen und uur dem Erfinder verständlichen Zeichen und Bildern niederlegen, die mitunter sehr sinnreich find. Andere lesen mit einiger Schwierigkeit, können anch ihren Namen schreiben nnd mit Hilfe der sehr praktischen nationalen Rechenmaschine, SchtsclMy (spr. Schtschoty) genannt, die anf dem Prinzip des römischen Abams beruht, die einfachsten tanfmännischcn Berechnungen ausführen. Wenige nur haben es bis zur regelmäßigen Buchführung gebracht nnd noch kleiner ist die Zahl derer, welche für gebildete Menschen gelten können. Doch auch ill dieser Beziehung zeigt sich in Russland bereits das Anbrechen einer ncncn Acra. Mit der Unwissenheit wird denn auch der eingewurzelte Aberglaube ans dein Kaufmannsstande verschwinden, von dem, wahrscheinlich noch hente, in einem der belebtesten Stadtteile St. Petersburgs ein sichtbares Dentmal zn schancn ist. Dort hatte einer der reichsten russischen Kauflentc ein enormes Terrain angekauft und ans demselben ein riesiges sechsstöckiges Gebände mit stolzen Knvveln nnd Zinnen aufführen lassen, das zu einer Mnster-Badcanstalt bestimmt war. Der Van war fertig und man cr-wartetetäglich die Eröffnnngdes lllxuriösenDaiilpfbades. Aber Jahre vergingen. Die Eröffnung fand nicht statt, das ungeheure Gcbändc stand nnbenntzt, das kolossale verbaute Kapital lag brach. Nud die Ursache diefer seltsamen Handlungsweise des geschäftserfahrenen Erösns war keine vernünftigere als daß eine Zigeunerin ihm 13* — 196 — gcwcissagt hatte, in dem Moment der Eröffnung seiner grandiosen Anstalt werde er zn seinen Vätern versammelt werden. Wahrscheinlich war die treffliche Sibylle von einem Konkurrenten des Unternehmers inspiriert. Eine andere böse Eigenschaft des russischen Kaufmanns wird vielfach gerügt und beklagt: seine im Lande selbst fast sprüchwörtlich gewordene Unredlichkeit. Es wäre nicht gerecht, hier ein absolut verdammendes Urteil zu fällen, ohne die betrügerischen Manipulationen des Kup«z mit den üblichen Kniffen seiner Standesgenossen im westlichen Europa zu vergleichen. Gewiß läßt sich der russische Kaufmann häufig eine Menge von Handlungen zu Schulden kommen, welche vom Standpunkt geschäftlicher Moral die Bezeichnung „unredlich" und „betrügerisch" verdienen. Ich habe darüber bereits im ersten Teil bei der Charakteristik des Großrussen gesprochen. Aber man darf nicht vergessen, daß der russische Kleinhandel sich noch in dem Entwickelungsstadium befindet, wo er sich von dem ursprünglichsten Zustande erst losmachen muß, der die Begriffe von festen Preisen und emem bestimmten mäßigen Gewinn nicht kennt. Man darf nicht außer Acht lassen, daß die übliche Unredlichkeit des Nüssen auf uns einen so abschreckenden nnd widerlichen Eindruck macht, weil ihre Art und Weise viel ursprünglicher, naiver und ungeschickter ist. als die von unsern Handeltreibenden gepflogene Praxis. Kunstgriffe beim Wiegen und Messen, das Einschmuggeln verdorbener Waare unter die gute, Dinge die in Nusslaud nicht ungewönlich sind, bringen uns gewaltig auf und doch treten uns in Westeuropa die scharfsinnigsten und verschmitztesten, oft freilich nur dem gewiegten Sachkenner bemerkbaren Verfälschungen der täglichen Nahrungsmittel und der gebräuchlichste» Waareu auf Schritt uud Tritt eutgegcn, vou Amerika gar nicht zu reden, wo Fälschung und Contrefaktion beinahe als gesetzlich berechtigt angeschen werden. Bei einiger Aufmerksamkeit nud Sachkenntnis; fällt e5 nicht schwer, den Betrug des russischen Kaufmanns zu entdecken, dcr nicht verfehlen wird, sich demüthig — 19? — lächelnd schuldig zu bekennen und den Schaden zu ersetzen. Der westeuropäische und amerikanische Wein-, Vier-, Butter-, Mehl-, Zucker-, Wurst- und Gcwebcfälschcr wird nur im chemischen Laboratorium entlarvt nnd verfällt im günstigsten Falle dem Erimiualgericht. Ich dächte, wir hätten wenig Ursache, auf die kindischen Schliche des russischen Händlers mit moralischem Stolze herabzusehen. Ich habe von dem Hange des russischen Kaufmanns zu ostensibler Großthuerei gesprochen, wie er sich kundgiebt in seinen Prachtwohmmgen mit ihren luxuriösen Einrichtungen, in verschwenderischen Festen, im Putz und Edclsteinschmuck der Frauen. Er zeigt sich wol auch in fürstlichen Geschenken an Kirchen, Klöster und Wolthätigkcitsanstalten. Bei alledcm aber hat diese Großthuerei vor ähnlichen Erscheinungen in andern Ländern etwas voraus: der russische Kaufmann will nie etwas anderes scheinen, als er wirklich ist. Weder in seinem Äußern noch in seinen Manieren macht er auch nur den Versuch, den Vornehmen zu spielen, wie es ihm niemals beifällt, Zutritt in Kreise erlangen zu wollen, die gesellschaftlich über ihm stehen. Dieser Vorzug läßt sein Benehmen stets einfach und ungezwungen erscheinen und giebt ihm nicht selten eine gewisse ruhige Würde, die ihm wol ansteht. Es ist eine bekannte Thatsache, daß er bei seinen opulenten Gastmählern gern möglichst viel Excellenzen der Militär- und Veamtcnwelt mit möglichst viel Grandcordons und Sternen sieht; doch ist dies nur ein Aufputz seiner Bankets wie der Stcrljad, die Erdbeeren im Winter, die seltenen Weine. Es liegt ihm fern, mit jencn vornehmen Persönlichkeiten in ein näheres Verhältniß treten zu wollen oder auch nur von denselben wieder eingeladen zu werden. Das wissen jene Gäste von Distinction sehr wol und haben ihrerseits gute Gründe, dem Gastgebot Folge zu leisten. Sie gewähren dem Kaufmannc die Genugthuung, Leute von hohem Range zu bewirthen und dadurch die Achtung, die er uuter Seinesgleichen genießt, zu erhöhen nnd erlangen für die Ehre, die sie erweisen, ein gewisses Recht — 198 — auf die Kasse des freigebigen Kaufmanns, das in der Regel für Beiträge zu gemeinnützigen nnd wolthätigcn Zwecken in Anspruch genommen wird. Daß Offiziere oder Beamte sich zn eigenem Vorteil als Tischdckoration vcrmiethen, kann wol ill tiefer liegenden Schichten vorkommen, gehört aber anch dort nnr zn den seltenen Nnsnahmcn. Bei solchen Gelegenheiten handelt es sich stets nm Personen, welche sichtbare Zeichen kaiserlicher Gnnst tragen; vor dem Ge-bnrtsadcl ohne Rang lind Stellung hat der russische Kaufmann weing Respekt. Cs ist denn auch natürlich, daß der Kupüz selbst jene Zeichen kaiserlicher Gunst zn erlangen strebt und die größten Anstrengnngen macht, nm mit einer der kleinen Dekorationen beglückt zu werden, welche man den Kaufleuten verleiht. Das gewöhnliche Mittel zum Zwecke ist eine reiche Spende sür wol-thätigc Anstalten. Dem russischen Handel in den größeren Städten, vor allem in den Residenzen eigentümlich, ist die Koneentrierung desselben an gewissen Punkten, nach dem Prinzip des orientalischen Vas-irs, der offenbar zn dieser Einrichtung den Anlaß gegeben hat. Große Gebä'ndekomple^c enthalten nach den Straßen zn gedeckte Hallen, den altdentfchen Lauben ähnlich, hinter diesen Kaltfladen neben Kaufladen. Sind dieselben hauptsächlich dazu bestimmt, einen Stadtteil mit allen nothwendigen Lebensbedürfnissen zu versorgen und befinden sich neben den Gebäuden a»ch noch Vuden-reihcn und Verkanfsständc auf offener Straße, so nennt man sie „Markt" nnd giebt ihneu ein bezeichnendes Beiwort, wie man in St. Petersburg einen litauischen, eiuen rnnden, einen Andreas-Markt u. s. w. hat. Sind jene Vcrkaufshallen aber allen möglichen Waaren bestimmt, wie sie nicht nnr das Bedürfniß des Tages, sondern alle Ansprüche des Comforts und des Luxus für Tracht, Putz, Hanscinrichtnng n. dgl. m. begehren können, so heißen sie „Hof", d. i. Kaufhof. Selbstverständlich sind die Grenzen nicht scharf gezogen nnd mancherlei Waren sind sowol auf den Märkten wic in den Kanfhöfen ausgestellt. Der glän- — 199 — zendsle und vornehmste Basar St. Petersburgs ist der Gosttuy-Dwor iKanfhof für Gäste, d. h. fremde Kaufleute, dic ursprünglich hier ihre Waaren feil boten). An der glänzendsten Straße der Hauptstadt, dem Nl'wski Prospekt gelegen, w.ist er eine Unzahl brillanter Magazine auf, welche die ausgesuchtesten Erzeugrisse Enropas und Asiens vor den Nugen der Käufer ausbreiten. Neben den neuesten Produkten der Berliner, Pariser nnd Londoner Industrie schillern hier die herrlichen Seidenstoffe, Teppiche und Decken des Orients, die Silbcrarbeiteu des Kaukasus, dic kostbaren Waffen der Türkei. Syriens nud Arabiens. Alle Kaufleute, welche mit denselben Gegenständen handeln, haben ihre Läden neben einander — für den Käufer außerordentlich angenehm und bequem. Dieser Kaufhof feierte im Jahre l8«5 das hundertjährige Jubiläum seiner jetzigen Gestalt. Zum äußeren Gedächtniß des Zeitabschnitts hat man die am Mwski ProspM liegende Frout iu prachtvoller Weise umgebaut. Nicht weit von dem Gostiny-Dwor befindet sich ein Kaufhof zweiten Ranges, der Apräxin-Dwor, wo so ziemlich dieselben Gegenstände zu haben sind, wie bei dem Nachbar, nur alles beträchtlich dilliger, freilich auch um so viel weniger gnt. Hier nnd auf den Märkten findet man noch den alten russischen Brauch der „Locker" und „Schreier", der auf dem große»! Kanfhof längst als unwürdig und ordinär abgeschafft wurde. Diese „Locker" uud „Schreier" sind eine Specks von Commis, die deu gauzeu Tag vor deu Magazinen ihrer Prinzipale herumlungern, um durch alle möglichen nnd unmöglichen Mittel Käufer herbeizulocken. Sobald irgend eine harmlose Persönlichkeit sich dem Bereiche eines solchen „Lockers" nähert, stürzt er anf dieselbe los wie ein Raubvogel auf seine Beute nnd überschüttet sie mit einem unendlichen Redeschwall, der alle in dem Laden befindlichen oder auch nicht befindlichen Dinge aufzählt. Ist der Köcher geleert nud der erste Angriff blieb wirkungslos, so nimmt der „Schreier" auch wol seine Zuflucht znr sanften Gewalt. Er ergreift deu Arm des Passanten nnd sucht il)U mit zärtlicher Driuglichtcit in das Magazin herein zu — ZN0 ^ lootscn. Bei Leuten aus dem Volke verliert denn anch wol diese Handgreiflichkeit ihren milden Charakter; sie werden einfach beim Kragen genommen und in den Laden geschleppt, wobei sich nicht selten ein Wettkampf zwischen zwei benachbarten „Schreiern" erhebt, der das nach beiden Seiten gezerrte Opfer zn zerreißen droht. Die Regierung tritt selbstverständlich diesem Unwesen entgegen. Sie hat die strengsten Verordnungen erlassen, die Friedensrichter haben schon manchen Delinquenten hart bestraft, aber noch immer steht der nationale Brauch in voller Blüthe, wenn anch die gewaltsamen Attaken allmählich nachlassen. Die „Locker" und Händler des Andreas-Marktes auf Wassili-Ostrow, wo die Mannschaften der ausländischen Schiffe ihre Bedürfnisse einzukaufen pflegen, haben sich durch diesen Verkehr einen bewunderungswürdigen Schatz von Sprachkenntnisfen angeeignet und reden mit jedem Käufer ohne Anstoß die Sprache seines Landes. Da ist es denn oft sehr komisch, wenn der „Locker", der in dem Vorübergehenden sofort den Fremden erkannt hat, alle üblichen europäischen Sprachen durchprobiert, um sich ihm verständlich zn machen. Ich hörte selbst einmal einem solchen redegewandten Verführer zn, der, als er es mit Englisch, Französisch, Holländisch, Spanisch und Italienisch versucht hatte, endlich zu der Vermuthung gelangt war, der Passant sei ein Deutscher. Es war wirtlich ein deutscher Handluerksbnrsche. Da rief ihm denn der Russe zu: „Eh! komm hier! kauf! komm Landsmann!" Der Wanderer ging ungerührt vorüber. Aber dcr Locker wollte ihn noch nicht fahren lassen und schrie hinter ihm her: „Komm, bleib hier, hör', Meier! " Er war offenbar der Ansicht, anf den Namen Meier müfsc jeder Dcutfchc hören. 3. Der Kaucr. Die eigentliche Bezeichnung des Bauern als Ackcrsmann heißt im Russischen Krest'junin sfem. Krest'jknka), die gewönlichc dagegen Mushik, die einen etwas verächtlichen Beigeschmack hat und deren Femininum höchst selten gebraucht wird. Sie bedeutet — 201 — „kleiner Mann". „Kleine Leute", auch „Halblcutc" wurden im alten Nussland die Ackerbauer genannt, im Gegensatz zu den Kriegern, den Mannen oder Vulllcutcu, denen gegenüber sie eine untergeordnete, misachtctc Stellung einnahmen. Bis vor drei Jahrhunderten erfreute sich der russische Bauer vollkommeuer Freiheit und Freizügigkeit, deren Verlust er dem Übermaß des nationalen Wandertriebes verdankt. Bei der Charakteristik des Großrussen ist von seinem unversiegbare!! Drang in die Ferne und seiner geringen Neigung zur stationären Beschäftigung mit dem Ackerbau die Nede gewesen. Haben doch diesen Hang zum Nomadeuleben drei Jahrhunderte der Fesselung an die Scholle nicht auslöschen können. Die Einführung der Leibeigenschaft war nichts anderes, als eine Zwaugsmaß-rcgel der Negierung gegen das abenteuernde Umherschweifen des kräftigsten, zur ruhigen Arbeit bestimmten, Teils der Bevölkerung. Im Jahre 1593, unter Feodor, dem Sohne IMn des Schrecklichen, wurde deu Bauern die Freizügigkeit genommen und diese ursprünglich provisorische Verordnung ist der Ursprung der Leibeigenschaft. An die Scholle gebuuden, verlor der Mujhit allmählich ein bürgerliches Necht nach dem andern uud gericth in eine Abhängigkeit, die der Gesetzgeber offenbar weder vorausgesehen noch gewollt hatte: er wurde zur Sache, zum Eigentum des Gutsherru. Eine so furchtbare, unkontrollierte Macht, wie sie der Grundbesitzer über deu Vaueru erlangte, konnte ohue Mißbrauch nicht ausgeübt wcrdcu; ebensowenig wie eine Menschenklasse lange unter einem solchen Drucke leben tonnte, ohne ihren verderblichen Einfluß moralisch uud materiell auf das Schwerste zu emvfiuden. So wirkte dic Leibeigenschaft demoralisierend auf den Edelmann wie auf dcu Mushlk; moralische Stumpfheit und geistiger Schlaf waren ihre Folgen bei Herreu wie Knecht, sie war das gewaltige Hinderniß jedes materiellen und moralischen Fortschritts der Nation und mußte fallen, als die Morgen- — 202 — rothe geistigen Erwachens unter Alexander li. fiir Nnffland anbrach. Die Freiheit dcr Leibeigenen, die ein kaiserlicher Nküs am 1v. Februar l861 proklamierte, fand etwa die Hälfte des Bauernstandes bereits emanäpiert. Von den drei Massen der Landleute, den Reichs- oder Kronsbaucrn, die auf den Staatsdomänen ansässig sind, den Apanage-Bauern, welche den Gütern der kaiserlichen Familie angehören. nnd den Privat-Bancrn, den Leibeigenen der Edelleute, waren die ersten beiden schon läugere Zeit so gut wie frei. Der einzige Nest der Leibeigenschaft, dcr ihnen geblieben, war dcr Mangel dcr Freizügigkeit. Von nun an war auch dieser beseitigt, alle Bauern traten in gleiche Lebcns-bedingungcn ein, dcr russische Mushlt war ein freier Menfch. Eine sozialpolitische Maßregel von so ungeheuerer Tragweite mußte selbstverständlich den größten Schwierigkeiten begegnen. Mit der Freiheit mußte der Bauer ein genügend Stück Land erhalten, um seine Familie ernähren zu können, ein Stück Land, wie er es bisher als Eigcntnm doö Gutsherrn für sich bearbeitet hatte. Nun galt es, dem Besitzenden möglichst wenig zu nehmen und dem Empfangenden möglichst reichlich zu geben. Gab man den Bauern zu viel, so schädigte man den Stand des Gutsbesitzers, der vorzugsweise Bildung nnd Kapital besaß und so ziemlich allein den Fortschritt verbürgte. Gab man den Bauern so viel Land, daß sie nicht mehr nöthig hatten für den Gutsherrn zu arbeiten, so verlor dieser neben seinem Besitz mich die nothwendigen Arbeitskräfte nnd war rniniert. Gab man den ehemaligen Leibeigenen zn wenig, fo wurdeu sie zu Tagelöhnern gemacht, die zwar frei waren, sich aber in einer schlimmeren Lage befanden, als vorher, wo der Herr ihnen gegenüber feine bestimmten Verpflichtungen hatte. Das Gesetz gab nun dem Mushik das Haus mit dem dazu gehörigen Gehägc (Ussndba, Gartenlaud) als Eigentum und dazu so viel Land, als er bis dahin für sich bearbeitet hatte. Das letztere aber mußte von dein Gutsbesitzer gelanst oder dnrch Persönliche Leistungen ub- — 203 — gelüst werden. Für die Freigebuug der Leute selbst erhielt der Gutsherr keinerlei Entschädigung. Alle Leibcigeneil, die irgend einen» Erwerb nachgingen und dem Seigneur eine bestimmte Abgabe (Obr^k) zahlten, so wie die gesamnttc Hansdienerschaft war nach Ablauf von zwei Jahren bedingnngslos frei. Die Mehrheit der Gebildeten in Nussland ist geneigt, die Art und Weise, wie die Emancipation ins Werk gesetzt wurde, so wie die ans derselben henwrgegangenc Lage der Bauern wie der Gutsherrn im ungünstigsten Lichte darzustellen. In der That hat die Frcigebuug dor Leibeigenen weder in sozialer noch iu moralischer Beziehung alle die Veränderungen hervorgerufen, welche mau von ihr gehofft und gefürchtet hatte und es steht fest, daß der Edelmann wie der Bauer mit der Ausführuug der Maßregel gleich uuznfriedeu ist. Bei dem ersteren ist diese Anschauung natürlich nnd im menschlichen Eharaktcr begründet. Der Gutsbesitzer war der Teil, welcher bei der Ncugestaltuug der Dinge nur Opfer zu bringeu hatte und die Mehrzahl brachte diesclbcu uicht mit großherzigem Glcichnmt. Anders, sollte man denken, müsse es mit deu Freigelassenen sein, um nnd für welche die ganze Umgestaltung ins Leben gerufen wurde. Ihre Unzufriedenheit sullte sich auf schwerwiegende Gründe zurückführen lassen, die man am besten von ihnen selbst erführe. Aber der russische Bauer ist, wie sein Standesgenosse iu andern Ländern, argwöhnisch und mistrauisch, wenn man ihn ausfragen will. Vor der Wahrheit hat er, wie ich später ausführlicher erörtern werde, sehr wenig Nespckt. Bei allen Fragen über seine Lage vermuthet er einen geheimen, ihn bedrohenden Zweck und er ist absichtlich in scineu Antwortcu so unbestimmt, wie möglich. Ja, wenn er ganz vertrauensvoll und harmlos ist, giebt er diejenige Auskunft, oou Welcher er glaubt, sie könne dem Fragenden angenehm nnd erwünscht sein. Der Hanfttgrund aber, daß mau von dcm Bancr über die Veränderung seiuer Lage nichts bestimmtes erfahrt, liegt wol darin, daß er selbst von den Verhältnissen keine klare An- — 204 — schauung hat. Es ist in der That fiir den ungebildeten nicht leicht, das Dcbct lind Credit der neueu ökonomischen Situation sicher aufzustellen und eine richtige Bilanz zu ziehen, außer in solchen Fällen, wo der Gutsherr seine Gewalt in auffallender Weise misbraucht hatte. Die Geldzahlungen und Steuern drücken den freien Landmann heute oft schwerer, als der Frohndienst zur Zeit der Leibeigenschaft. Vielen unbestimmten Verpflichtungen des früheren Verhältnisses standen eben so viele unbestimmte Vergünstigungen gegenüber. Der Leibeigene weidete sein Vieh auf herrschaftlichem Boden, cr erhielt Brenn- und Nutzholz, bcl Verlusten an Vieh nicht selten eine Knh, ein Pferd, in Hunger-jähren Unterstützung. Alles das hat aufgehört; mit mancherlei Leistungen sind viele Vorteile entschwunden. Der Gutsherr, das „Väterchen" von ehedem, zu welchem man in jeder Noth seine Zuflucht nahm, ist jetzt ein Fremder geworden, der zu den gewaltigen Opfern die er gebracht, nicht neue bringen kann und will. Alles muß jetzt baar und blank bezahlt werden uud wenn kein Geld vorhanden, ist der Dorfwnchercr die einzige Zuflucht, der unter 20 bis W Prozent Zinsen nichts hergiebt. Wenn da der Bauer die Vorteile und Nachteile seiner jetzigen Lage gegeneinander abwägen soll, so ist das wirklich eine schwierige Zu-mutuug fiir ihn uud die Antwort, die er zu geben Pflegt: „Was soll ich sagen? Es ist besser nnd schlechter geworden!" ist in den meisten Fällen aufrichtig gemeint nnd zutreffend. Hat sich die ökonomische Lage der Bauern gehoben, so gc-schah es fürs erste nnr um ein geringes lind es ist eine wol-aufzuwerfcnde Frage, warum die Aufhebung der Leibeigenschaft bisher nicht die wolthätigen Folgen gehabt hat, die jcder wol-dcnkcnde von dieser Maßregel erwartete. Jedenfalls ist diese Frage leichter aufzustellen als zn beantworten. Die Verhältnisse, wie sie vorliegen, sind das Produkt sehr mannichfaltiger Ursachen, deren Wurzelu in vielen Fällen in längstvergangenen Zeiten liegen. Radikale und schnell wirtende Mittel zur Herbeiführung eines neuen Zustandes giebt es nicht. Die Haupt- — 205 — fache ist, daß der Bauernstand für seine nenc Stcllnng erzogen und herangebildet werden mnß ilnd daß es in Nussland noch an den erziehenden und bildenden Faktoren selbst fchlt. Sehr treffend hat man das russische Volk, von dem der Bauernstand acht Zehntel ausmacht, mit einem Riesen verglichen, der Jahrhunderte lang gefesselt war und weder seine Kraft noch seinen Genius äußern konnte. Seine Bande sind jetzt gelöst, aber so lange Zeit von Ketten belastet, hat er das Bewußtsein seiner Kraft verloren und den freien Gebrauch seiner Glieder noch nicht wieder gewonnen. Erst nach vielen Jahren der Freiheit wird dieses Volk sich selbst erkennen nnd dann erst zeigen, was die Znkunft von ihm erwarten kann. Die Aufhebung der Leibeigenschaft in Nussland, so plötzlich und unvorbereitet, wie sie stattfand, war ein gewaltiges Ereignis;, eine tiefgreifende Revolution des ganzen Voltslebens. In wenigen Jahrzehnten, Augenblicken im Leben der Menschheit, darf man ihre Früchte nicht erwarten. Das nächste Jahrhundert wird sie zeitigen. Gegenwärtig befindet sich der russische Bauer in einem Ilbergangssladinm. Er hat die Fehler der Leibeigenschaft noch nicht abgelegt nnd bereits manche Fehler der Freiheit angenommen. Noch fehlt ihm das Gefiihl persönlicher Würde wie das Bewußtsein moralischer Verantwortlichkeit. Seine nencn Rechte hat cr sich trefflich gemerkt, von seinen neuen Pflichten mag er nichts Wissen. Die Vorstellung, die er sich von der Freiheit gemacht, hat nichts geniein mit der Achtung vor geschlossenen Verträgen Mld seine Naivetät in dieser Beziehung ist der wundeste Fleck des nenen Verhältnisses zwischen ihin und dem Gntshcrrn. Eine der schlimmstcn Folgen der Emanzipation ist die augenfällige Steigerung der großrussischen Trägheit. Früher von der ^utshcrrschaft genöthigt, fiir seinen eigenen Vorteil zn arbeite», thut der Bauer jetzt fast ausnahmslos nur da^, wozu er von dos Leibes Nolhdurft gezwungen wird nnd das ist bei seiner beispiellosen <>'enügsamkeit wenig genng. So haben sich mit dem — W6 — Aushören des Zwanges zur Arbeit die Wirthschaften verschlech-tert, der Viehstaud hat abgenommen nnd die Steuerkraft ist gesunken. Eill zweiter Mangel, an dcm die Ballernwirtschaften kranken, fällt nicht dcn Besitzern zur Last. (5s ist der Umstand, daß das den Bauern als Eigentum zugewiesene Landstück in der That zu klein ist, nm eine größere Familie von demselben zn ernähren. Besonders ungünstig wird ihre Lage dadurch, daß ihnen zumeist nur Äcker, aber keine oder mindestens unzureichende Weiden zugewiesen wurden. Infolge dessen ist der Mnshik genöthigt, nach allen Richtungen Erwerb zn suchen, wenn er nicht darbeu will. Von einem andern eigentümlichen Verhältniß, daß das Land uicht Eigentum des Einzelneu, sondern Besitz der (Gemeinde geworden, die es unter die einzelnen Hofbesitzer nnr zur Nntz-nießnng auf bestimmte Zeit vcrttilt (Mir), wird später die Nedc sein. Die Thatsache, daß das den Vanern zugewiesene Land seiner Quantität nach dieselben uubcfriedigt ließ, ist möglicherweise der Keim, alls dem noch manches Uuhei! erwachsen dürfte, so wcuig Groll soust die Leibeigenschaft zwischen Gutsherrn nnd ehemaligen Untergebenen zurückgelassen hat. Die Zucrtcilnng der Landes hat das Verlangen des Mushlk nach demselben eher gereizt als gestillt. Er hält das Vcfrciungswerk nicht für vollendet und hofft von der Znkunft eine neue nmfasseudcrc Dotierung mit Grundbesitz. Vor der Befreiung lebten die Bauerufamilicn, so groß, wie sie sein mochten, als patriarchalische Einheiten. Die verhcirathcten Söhne mit Frauen und Kindern blieben znmeist im Hanse uutcr der Herrschaft d^s Familicuhaufttcs, die ihrerseits wieder in der Antorität des (^ntshcrrn ihre Stütze fand. So viel Hände als erforderlich waren, betrieben den Ackerbau nnd leisteten die Frohnarbcit. Die überflüssigen männlichen Familiengcnossen suchten als Handarbeiter, Händler, Dienstboten u. dgl. Erwerb in der Fremde, blieben aber immer im Zusammenhang mit der Familie. Ihr Verdienst floß in die gemeinschaftliche Kasse; dci' — 207 — Besitz war allen gemeinsam: eine Arbeitsgenossenschaft ans kom munistischer Grundlage. Nach der Emancipation lösten sich diese großen Familien auf. Jeder vcrhcirathctc Sohn suchte mm Hofbesitzer auf eigene Hand zu werden nnd wirthschaftete mit dem zucrteilten Lande, so gut es ging. Dieser Wechsel hat zweifellos nachteilig auf den Wolstand der Bauern eingewirkt, wenn er auch das Familienleben, die Häuslichkeit, die Moral gefördert hat. Denn da^ ganze Zusammenleben so vieler, oft heterogener Elemente uuter einem Dache, eine Anzahl von Schwiegertöchter!: mit einer Schwiegermutter, führte meistens zu Zwist, Zank und verschiedenen sittlichen Unznträglichkeiten. Andererseits hat die Auflösnng der großen Familien den alten Wandertrieb wieder geweckt, den die Einführung der Leibeigenschaft bekämpfen sollte und der sich nnn in so ausgedehntem Maße zeigt, daß die Ne gicrnug durch nene Bestimmungen demselben Rechnung tragen mußte. So viele Schattenseiten, wirkliche, zeitweilige und eingebildete, die Emancipation der rnssischen Bauern anfznweiscn scheint, eins steht fest: das Gesetz vom 19. Fcbrnar il^I verwirklichte drei große Prinzipien, welche wir als die Entwickcluugsgrund-lagen des modernen Volkslebens anerkennen müssen. Durch Abschaffung der Leibeigenschaft proklamierte es die persönliche Freiheit, es gewährte der freigewordenen ländlichen Bevölkerung die Selbstverwaltung nnd statuierte die Ablösung des in der Nutznießung des Vanern aber im Besitz des Gutsherrn befindlichen Landes. Hat die Aufhebung der Leibeigenschaft bisher nicht alles geboten, was die Ungeduld des Menschenfreundes von ihr erwartete, fo können ihre fcgcnsreichen Folgen nicht ausbleiben und lassen sich auch bereits hier uud dort erkeuncn. Diese sind: wirthschaftlicher Fortschritt dnrch Förderung der Produktion, durch die Freiheit der Arbeit, dnrch die Conknrrenz: moralischer Fortschritt dnrch die Wecknng des Voltsbewußtseins und das Gefühl der Verantwortlichkeit; endlich sozialer Fortschritt durch — 208 — Beseitigung der patriarchialischcn Gepflogenheiten zu Gunsten dor Selbstbestimmung des freien Individuums. Dem aufmerksamen Beobachter werden auch äußere Anzeichen des Fortschritts in der rufsifchen Vaueruwelt nicht entgehen. In den Dörfern erblickt man hier und dort neue Häuser und alte, die forgfältig repariert wurden, manche sogar mit den Schildern der Versicherungsgesellschaften. Die Felder sind besser eingehegt, die Höfe vergrößert. Die Pferde sind nicht selten beschlagen, die Wagenräder mit eisernen Reifen verschen. In den Häusern hat der Kienspan, das frühere Bclenchtungsmatcrial, dem Talglicht weichen müssen. Männer und Frauen gchcu besser gekleidet, suchen sich zu unterrichten, wissen, daß sie unter dem Schutze des Gesetzes stehen. Vci der Landwirtschaft werden bessere und vollkommnerc Gcräthe angewendet. Auch an Beweisen erwachten Selbstbewußtseins fehlt es nicht. An dem Vllffct einer Eisenbahnstation im Innern gericth ein General in Uniform mit dem Kellner, einem ehemaligen Leibeigenen, der ihn nicht schnell genug bediente, in Wortwechsel. „Siehst dn nicht, daß ich General bin?" schrie ihn der militärische Würdenträger an. „Das sehe ich wol — cntgcgnote der Anfwärter; — aber heutzutage ist ein General nicht mehr, als jeder andere Mensch." — Früher wäre es ihm für diese Autwort schlimm ergangen, ;cht hatte er die Lacher aus seiner Seite. Dergleichen Änderungen, die übrigens stets mit einem gewissen Anstand, mit Ailihc und Höflichkeit gesprochen wurden, circnlieren in beträchtlicher Zahl, Eins ist vor allem nicht außer Acht zn lassen und spricht laut genug fiir Mnshtt und Edelmann: das Verhältniß zwischen Bauer und Gutsherrn ist nach der Emancipation ein vortreffliches. Der Bauer ist mislmuisch, er ist auch undankbar, das hat er in Nnsslaiid zu Geuiige den liberalen Landcdelleuten bewiesen, aber troh alledcm haben scme Beziehuugeu zum Glits-bcsitzcr sowol im öffentlichen, wie im Privatleben den Charakter ciner gewissen Herzlichkeit bewahrt. In den Laudschaftsocrsmmn-lungcn, weit entfernt ihren früheren Herren Opposition zu — 209 — machen, folgen die Bauern in der Regel ihrer Leitung. Alle Spekulationen der Anarchisten auf den wechfclfcitigen Haß der Stände sind an der guten Gesinnung des russischen Bauern gescheitert. Nussland hat eine große soziale Revolution durchgemacht und muß unter den Übeln leiden, welche jede Übergangszeit begleiten. Aber nach der durchgreifenden lind im Ganzen erfolgreichen Weise, in welcher das Problem der Emancipation gelöst wurde, darf man hoffen, daß die noch vorhandenen agrarischen Schwierigkeiten gleichfalls eine befriedigende Erledigung finden werden. — Wenn ich es nun versuche, eine Charakteristik des Mushik zu skizzieren, so muß ich auf zwei ergänzende Abschnitte verweisen. Bei der Schilderung des großrussischen Volksstammes wurden bereits eine Menge Eigentümlichkeiten erwähnt, die dem Bauer vor allem zukommen, dessen Stand einen so ungeheuren Prozentsatz der Bevölkerung bildet. Später aber werde ich noch besonders auf die Nationalfehler und Nationaltugenden des Russen aufmerksam machen, wobei abermals der Baner in den Vordergrund zu treten hat. Der Charakter des russischen Landmannes vereinigt die auffallendsten Gegensätze. Der Kampf mit der kargen Natur des Nordlandes erzeugt in ihm eine eigentümliche Mischung von Gutmüthigkeit und Gefühllosigkeit. Er kennt den Schmerz und ist deshalb mitleidig. Gastfreiheit, Wolthätigteit und Familien« sinn entwachsen bei ihm der tiefen Überzeugung von der Hülfsbedürftigkeit aller gegenüber den Unbilden der strengen Natur. Wird er aber gereizt und zum Streit herausgefordert, so zeigt er sich häufig gefühllos und grausam. An den harten Kampf mit der unerbittlichen Natur gewöhnt, wird er leicht unbeugsam und unerbittlich, wie sie. Erweist man ihm Gutes, so freut er sich wie ein Kind; tränkt man ihn, so äußert er seinen Schmerz, und doch ist er Meyer, Nufsllmb. II. 14 — 210 — weder dankbar noch rachsüchtig; leichtlebig, an jähen Wechsel gewöhnt, hat cr Wollhat und Mishandluug oft schon nach Stunden vergessen. Dcr Verwalter eines Gutes, ein Nichtrusse, brachte einen Bauer wegen eines ernsten Vergehens vor das Dorfgericht, das ihm zwanzig Peitschenhiebe zuerkannte. Geduldig litt er die Strafe und kehrte in seine Hütte zurück. Am folgenden Morgen wünschte er den Verwalter zu frechen, dcr Klagen und Beschwerden weacn des vollzogenen Urteils erwartete: Statt dessen kam er, um dem jagdfrohen Herrn anzuzeigen, daß er auf dem Heimwege die Spur eines Bären gefunden, die cr ihm zeigen wolle. Der Verwalter, der seine Leute kanute, nahm keinen Anstand, dein Manne, der Tags zuvor auf seine Veranlassung durchgepeitscht wurde, in die Einsamkeit des Waldes zu folgen. Dcr Bär wurde erlegt; an Rache hatte der Baner nicht gedacht. Daß der Mushit auch heute noch die Körperstrafe nicht allzu hoch anschlägt und lieber eine Tracht Prügel nimmt, als Geldbuße zahlt, hat seine Gründe. Zunächst ist er durch die Leideigenschaft an die schimpfliche Züchtigung gewöhnt und noch nicht fo weit vorgeschritten, das Entehrende in derselben zu begreifen. Sodann ist die Knute, jenes barbarische Schrcckbild, das man sonst als unzertrennlich vom Russen annahm, längst beseitigt und die Pcitschcnstrafe keine sehr schmerzhafte. Nach Empfang ihrer zwanzig Streiche gehen die Leute ruhig nach Hause. Endlich darf der Bauer gegenwärtig nur von Seinesgleichen zur Körperstrafe verurteilt werden, was den Charakter derselben stir ihn wesentlich verändert. Die Armut der Natur hat dem Nüssen den Trieb zur Geselligkeit gegeben, Ihm cutspringen die zahllosen Genossenschaften, zu denen die Arbeiter jeder Art sich vereinigen. Einiges ausführliche übcr dicfelben folgt später. Dcr Mushlk ist gesund und stark. Bei dem harten Leben und dcm täglichen Kampf ums Dasei» crlicgcu die schwachen — 21! — frühzeitig. Während dcr strengsten Kälte gehen dic Kinder beständig aus und ein, ans der erstickenden Atmosphäre dcr Hütte in die eisige Wintcrlnft; sie härten sich ab oder sterben. Dcr Tod soll nach statistischen Erhebungen Zwei Drittel der Vancrn-kinder unter einem Jahre hinwegraffen. Was übrig bleibt ist gefeit. Die in jedem klimatischen Wechsel gestählte Gesundheit macht das Bancrnvoll resolut und zu jedem körperlichen Wag-niß entschlossen. Im vorigen Jahre Passiertc es in dcr Nähe von St. Petersburg auf einem Gute, daß dcr jungen Magd, welche aus einer Wuhne im Else des benachbarten Teiches Wasser zu holen Pflegte, dcr Eimer entglitt und in dcr Tiefe versank. Sofort schob sie ihren Handschlittcn über das Eisloch, entledigte sich sämmtlicher Kleidungsstücke lind mit der cincn Hand sich am Schlitten festhaltend, sprang sie ins Wasser. Dic Oeffnung war so enge, daß ihr schlanker Körper von den scharfen Eiskanten verletzt wurde. Es gelang ihr, den Eimer zu fassen und schlammgefüllt über die Eisdecke zu bringen. Da kein Tuch zum Abtrocknen bei der Hand war, hielt sie es für das beste, ihre Kleider wieder überzuwerfen und sich uach Hause zu begeben. Am folgenden Tage klagte sic übcr Zahuschmcrzen, erfreut sich aber sonst noch hcute einer guten, dauerhaften Gesundheit. Mit dcr Intelligenz und Gcschicklichlcit des Grohrussen habe ich mich im ersten Teil eingehend beschäftigt. Er ist geistig vortrefflich beanlagt, lernt schnell und besitzt hervorragendes Sprachtalent, Witz und Anstclligkcit. An Gründlichkeit läßt er cs meistens fehlen. Wenn man die in der That vorhandene grobe Unwissenheit des russischen Bauern tadelt, so fällt die Schuld auf diejenigen, deren Eigentum er gcwcsen. In deu Ackerbaudistritten findet man scltcn cineu Mnshik, dcr gcläufig fesen und schreibcu kann; in dcn Indnstric- nnd Fabrilbezirken ist das Verhältniß etwas günstiger. Auffallender Weise bemühen sich diejenigen, welche lesen und schreiben können, ihr Wissen zu verbergen und zn verleugnen, wahrscheinlich wcil sie dic Eifcr- !4* — 212 — sucht ihrer Genossen auf einen Vorzug kennen, dcr möglicherweise zur Waffe gegen dieselben werden könnte. Dcr russische Bauer ist überaus höflich. Man grüßt sich gegenseitig mit einer Annmth, welche jedem Edelmann zur Zierde gereichen dürfte. Wahrscheinlich hat er den würdevollen, vom besten Geschmack diktierten und eingeübten Bewegungen der Geistlichen die edle Form abgesehen. Seine Herzensgute veranlaßt ihn, der Rede stets einen wolthuendcn, jedes Stachels entbehrenden Ausdruck zu geben. An Genügsamkeit sucht der Mushik seines Gleichen in der Welt. Hat er bei seiner höchst kärglichen Nahrung, ans die ich zurückkomme, ein Dach überm Kopfe, ein starkes Weib, Feuerung im Winter und zuweilen ein Glas Branntwein, so ist er zufrieden wie ein König. Leider ist bei ihm. wie bei seinen Collegen in heißen Klimatcn, die Frugalität zugleich eine Stütze der Trägheit. So genügt die Arbeit von zwei bis drei Tagen nicht selten, um ihn in den Stand zu setzcu, während der ganzen übrigen Woche die Hände in den Schoß zu legen. Daß das Familienleben des russischen Bauern nach Anf-hebung der Leibeigenschaft eine andere Gestalt angenommen hat, wurde bereits erwähnt. Bis dahin wohnten oft drei Generationen in einer Haushaltung zufammen unter dcr Leitung und Autorität des Großvaters, welcher ChosDn (spr. Chasäin), Wirth, in manchen Gegenden auch Bolschäk (dcr Große) ge-nannt wurde. Wo er fehlte, trat dcr älteste seiner Söhue an die Stelle. Alles Eigentum war gemeinschaftlich und vererbte sich auf sämmtliche Köpfe, die es gemeinsam erarbeitet hatten. Die Stellnng der Fraucu ist noch heute eine untergeordnete. Das Familicnhaupt wählt für den mannbaren Jüngling das Weib, für das Mädchen den Gatten, und stößt selten auf Widerspruch. An Mitgift erhält die Braut nur so viel, als die männlichen Verwandten ihr schenken. Das Tagewerk des russischen Landmanncs verläuft in regelmäßiger Einförmigkeit. Während des kurzen Sommers __ »13 __ nimmt der Ackerbau alle Hände in Anspruch, bei dem man sich gleichwol nicht allzusehr anstrengt, denn schwere Arbeit ist nun einmal nicht feine Sache. Nach der Erntezeit verläßt ein großer Teil der männlichen Bevölkerung die Heimat, um in der Ferne Erwerb zu suchen. Die Zurückgebliebenen, wenn sie nicht irgend einen Zweig der Hausindustrie betreiben können, haben im Winter wenig zu thun und verliegen die Stunden der Muße auf dem Ofen. Sonst wird während der kalten Jahreszeit Holz geschlagen und an Ort und Stelle gebracht, um es im Frühjahr, wenn der Eispanzer der Ströme gebrochen ist, auf den Wasserstraßen weiter zu flößen. Auch wird die vortreffliche Schlittenbahn benutzt, um für Kaufleute, Gutsherren und Fabriken allerlei Frachten zu führen. Für den weiblichen Teil der Dorfbcwohncrschaft ist der Winter eine geschäftige Zeit; die für den Hanshalt erforderliche Leinwand muß gesponnen und gewebt werden. In vielen Dörfern des Nordens wird die Einförmigkeit der Winterabende durch die sogenannte Vesfjeda (Versammlung, Unterhaltung) erleichtert, die vollkommen dem Begriff der Spinnstnben entspricht, wie sie vor Zeiten in Deutschland üblich waren. Au manchen Orten versammeln sich um Sonnenuntergang drei verschiedene BcMdi, die cine für Kinder, die zweite für jüngere Leute, die dritte für das gesetzte Alter. In der ersten arbeiten und unterhalten sich die Kinder unter der Aufsicht einer alten Frau, welche den Kicn-span putzt und auf Ordnung sieht. Die kleinen Mädchen spinnen Flachs mit der Spindel, die Knaben flechten rohe Bastschuhe oder Körbe. In der zweiten und dritten Vcssjüda wird gleichfalls gearbeitet; in der zweiten viel geschäkert und geneckt, nicht immer in der zartesten Weise, in der dritten die Angelegenheiten und Chronik des Dorfes besprochen; in allen dreien aber bildet der Gesang einen Hauptfaktor der Unterhaltung, der natürlich bei den jungen Mädchen und Burschen am besten ausfällt. Der gemeinschaftliche Grundbesitz der großrussischen Bauern bcdmgt das Zllsammenwohnm in großem Dörfern, die durch- Russisches 3°rf. ^vy,. ?>^, Fig. 39. Russisches BauernhauZ, — 216 — weg eine lange breite Straße bilden, an deren beiden Seiten die hölzernen Gebäude liegen. Die Häuser stehen nahe bei einander, berühren sich jedoch nicht. Auf eine regelmäßige Straßcnflucht wird kein Werth gelegt, die Wohnungen bilden oft Winkel mit dem Dorfwege, dem sie gewöhnlich die Giebelseite zukehren. (Fig. 36). Die Lage des Wohnhauses, der Wirthschaftsräume und des Gartengchcges ist bei den russischen Bauernhöfen selbstverständlich mancherlei Variationen unierworfcn. Das Wohnhaus wird ohne Fundament aus übereinander gelegten starken Baumstämmen errichtet, deren Fugen man mit Werg oder Moos verstopft. Nicht selten wird allerlei architektonischer Schmuck angebracht: ein Balkon, geschnitzte Dachgiebel, Fenstersimse, Gallerien, bemalte Fensterläden u. dgl. (Fig. 39.) Im Innern trennt der in der Mitte liegende Hausflur stets die beiden Wohnräume, die Winterwohnung von der Sommerwohnung. Beide müssen wol früher gesonderte Gebäude gewesen sein; denn der Russe hat nur ein einziges Wort für das Haus des Mushlt und seine beiden Wohnzimmer (Isbii). Da die Ställe bei hohen Kältegraden keinen genügenden Schutz bieten, wird das junge Vieh im Winter nicht selten in die Stube genommen. Die Zimmer liegen ein paar Meter über dem Erdboden, der Zwischenraum dient als Vorraths-kammcr und Geflügelstall. Die Holzhäuser siud warm und trocken und gewähren hinreichende Deckung gegen jede Unbill des Wetters. In der Winter-Isbii spielt die Hauptrolle der riesige, fast bis zur Decke reichende aus Backsteinen aufgemauerte uud weiß-gctüuchte Heiz-, Back- und Kochofen, der allgemeine Wolthäter während der kalten Jahreszeit. Der Platz auf ihm ist eine beliebte Schlafstelle, ein gesuchter Ruhe- und Erholungsort. Von der oberen Kante des Ofens bis zur gegenüberliegenden Wand, nicht weit von der Zimmerdecke ist ein sechs bis acht Fuß breiter offener Hängeboden angebracht, die sogenannte Paläta (Zelt), welche einem beträchtlichen Teil der Familie als Schlafstätte dient, ein Lieblingsplatz der Jugend. Bettstellen, aufgemachte Bcttcu, wie sie sonst in Gcbranch sind, gehören im — 217 — russischen Baucrnhaus zu dm Seltenheiten. Schafspelze, Kleider, Filzdccken und kleine Kissen sind das übliche Bettzeug. Im übrigen Pflegt die Isb^ mit einigen langen an den Wänden be- Fig. 40. Hittft),l, festigten Holzbäukeu. schweren tanncnen Tischen uud zuweilen anch mit rohen Stühlen möbliert zu sein; ein massiuer Kasten birgt die wcrthvollcren Besitztümer der Familie. — 218 — Wie in keinem Hause eines rechtgläubigen Nnsscll darf auch in der Isbu des Mushik das Heiligenbild nicht fehlen.' In der Ncgcl steht dasselbe auf einem dreieckigen Brettchen hoch oben im Winkel, der Thür gegenüber, damit jeder Eintretende dasselbe sogleich erblickt und sich bekreuzigend vor ihm verneigt. Die gewöhnlichen Heiligenbilder sind in Oelfarben auf Holz gemalt. Ein Lä'mvchen hängt vor ihnen von der Decke nieder, das wenigstens am Vorabend von Sonn- und Festtagen angezündet wird. Wo es fehlt, vertritt ein Wachslichtchcn seine Stelle. Zur Anlage von Gärten mit schattigen Ruheplätzen und Blumenschmuck hat sich der großrussische Bauer — im Gegensatz zum Kleinrussen — noch nicht verstiegen. Selbst Obstbäume und Beereusträucher kultiviert er nur in den seltensten Fällen auf dem GeHäge, das doch sein ständiges Eigentum bleibt. In seinem Garten baut er Kohl, Zwiebeln, Gurken, Kartoffeln nnd Nettich — anderer Gemüse bedarf er nicht. Die einzige Blume, die er zu ziehen pflegt, ist die Sonnenblume und auch diese wird nicht um ihrer Schönheit willen angepflanzt, sondern der Samcnternc wegen, die von Jung und Alt in der russischen Vauernwelt als Delikatesse geschätzt werden. Die Kleidnng des großrussischen Banern, von dem Fig. 40 einen typischen Kopf darstellt, ist je nach den Gegenden verschieden; besonders variirt die Tracht der Frauen. Allen gemeinsam ist das grellfarbige Hemd, das über die weiten Hosen niedcrhängt und im heißen Sommer jede andere rockartigc Bekleidung ersetzt. Die Beinkleider werden in den bis zum Knie reichenden weiten Stiefeln getragen. An Stelle der letzteren werden auch wol Tuchstücke um Füße und Waden gewickelt, die von den Schnüren eines Bundschuhs festgehalten werden. In ärmeren Gegenden hat man sandalenartige Schuhe von Birkenbast mit ledernen Sohlen. Im Winter schützen Stiefel von dickem Filz oder Pelz den Fuß. Über dem Hemde trägt der Bauer den Kaft^u, eine Art Nock mit Brustklappen, der über der Hüfte durch einen bunten Shawl odcr einen ledernen Gürtel Fig. 4,. — 219 — geschlossen wird. Im Winter vertanscht der Mushik dcn Kasten nlit einem kurzen Schafpelz, dem Tulüp, der ohne Überzug mit der Wolle nach innen getragen wird und häufig an Brust nnd Ärmeln mit allerlei Stickerei verziert ift. Das Haar des Mannes wird in der Mitte gescheitelt; die vcrbreitetste Kopfbedecknug ist ein niedriger schwarzer Filzhnt, dcn man im Winter dnrch die Pelzmütze ersetzt. Die Toilette der kalten Jahreszeit wird durch Handschuhe, in der Regel Fäustlinge, vervollständigt. Das charakteristische Kleidungsstück des weiblichen Geschlechts (Fig. 41) ist , der Ssarafän, ein , bnnter Rock mit > Schulterbändern oder mit einem schmalen Leibchen, das nur bis über dcn Busen reicht. Dazu wird ein kurzes Oberkleid getragen oder das mit Pelz verbrämte Jäckchen, der Seelenwärmer. Im Winter tragen M„«m m WmlcrwM. die Frauen Pelze, dcncn der Männer eutsprecheud, nur länger. Die Kopfbedeckung der Francn wechselt am mcistcu nach der Landschaft, wie der Lcscr an den großrussische« Typen des erstell Teils bemerkt hat. Als festliche Tracht wird an vielen Orten — 220 — der Kokoschnik getragen, eine Art Diadem von mehr oder weniger wertvollem Stoff, mit Tressen besetzt, auch wol mit Perlen und Flittern gestickt. Bei den Mädchen umrahmt er nur die Stirn, während das Haar in langen Flechten nach hinten herabfällt, bei den Frauen bedeckt er die aufgenestelten Zöpfe. Für gewöhnlich tragen die letzteren ein glatt anliegendes Kopftuch, welches den hinteren Teil des Hauptes verhüllt. Der Kokoschnik ist in den Städten für die Ammen vom Lande typisch geworden, bei Hofe bildet er einen wesentlichen Bestandteil der Nationaltracht. In der Einfachheit seiner Nahrung bekundet sich vor allem die große Genügsamkeit des russischen Bauern. Sie besteht hauptsächlich iu Schwarzbrod von ungcbeuteltem Mehl, frischen oder gesäuerten Kohl, Hülsenfrüchtcn, Zwiebeln, Gurken, Pilzen und gesalzenen Fischen. Fleisch ist eine Festmahlspeise und wird meist nur geräuchert der Kohlsuppe hinzugefügt. Diese Kohlsuppe (Schtschi) spielt eine große Rolle bei den Mahlzeiten des Mushlk. Sie wird je nach der Jahreszeit von frischem »der Sauerkraut bereitet und wie es die Gelegenheit bietet durch geräuchertes Fleisch, sauren Nahm oder Milch schmackhafter gemacht. Ein gut zubereiteter Schtschi^) ist ein Gericht, das auch dem verfeinerten westeuropäischen Gaumen mundet. Der Bauer, der als Arbeiter in der Stadt lebt, und dem auf seinem Bau- oder Zimmerplatz die Gelegenheit zum Kochen fehlt, begnügt sich mit einer einfacheren Suppe. Er gießt Kwass in ein Gefäß, schneidet Zwiebellauch und brockt Brod hinein und löffelt die Speise aus, als ob sie ein Göttermahl wäre. Die in Nnssland wachsende kleine, rundliche Gurke wird von den Bauern sehr hoch geschätzt und entweder ganz roh oder nur sehr wenig gesalzen als große Delikatesse verspeist. Ans Buchweizen-, Gersten- oder Hirsen-Grütze Mscha) wird ein ständiges Wintergericht bereitet. Ein Topf wird mit den Körnern gefüllt, Wasser und Salz hinzu- ") Das Wott ist cMtttlich ein Femininum, wird abcr von dcn Tculschen ill Rusjland iulincr männlich gckanchl. __ 2Z1 __ gethan und das Ganze in den Ofen gestellt, wo es zu einer granitartigen Masse zusammenbackt. So kommt es auf den Tisch und der wolhabende läßt, um ein besonderes leckeres Mahl zu haben, ein Stück Butter auf der heißen Speise schmelzen. Die beliebteste Festtagsspeise ist der Pirug, eine Art Pastete. Eine Hülle von Teig wird mit Fleisch, Fisch, Grütze, gelben Rüben oder gehacktem Kohl gefüllt und in Fett gebacken; der Fasten-Pirog enthält gewöhnlich Pilze und mnß in Oel gebacken sein. An Schwämmen hat Russland einen enormen Reichtum verschiedener Varietäten, die Uon den Vauerweibern und Kindern fleißig gesucht und zu trefflichen Speisen verarbeitet werden: im Sommer frisch, im Winter getrocknet oder gesalzen. Von echt nationalen Speisen, die der Bauer sehr einfach und naturwüchsig bereitet, die aber anch in verfeinerter Gestalt auf den Tisch des Reichen kommen, will ich noch erwähnen: Äorschtsch, eine aus rothen Rüben und Fleisch bereitete Suppe, in welche auch wol Kohlblätter gethan werden; Botwinja, eine kalte Suppe aus gesalzenem Fisch, Gurken, Zwiebellauch, geschnittenen rothen Rüben ?c. und Kwass bereitet; Akrüschka, gleichfalls ein kaltes Gericht, das sich von der Votwlnja nur durch seinen Hauptbestandteil, fein geschnittene Fleischstückchen, unterscheidet und säuerlicher als jene hergestellt wird. Der mehrfach erwähnte Kwass, ein säuerliches Halbbier, ist das verbreitetstc Getränk in Russland. Er ist, wenn gut bereitet, kühlend, durststillend und wolschmeckend; wird aber offenbar nach sehr verschiedenen Recepten gemacht: bald aus Roggenmehl und Malz, bald aus Kleie und Mehl, bald aus Schwarzbrod und Aepfeln, die man im Wasser gährcn läßt; verschiedene Zuthaten erhöhen dann den Geschmack der unschuldigen Flüssigkeit. Ein edleres, feineres Getränk, aber dem Kwass verwandt, ist der Kisslyja Schtschi (saure Suppe); er ist säuerlich und moussierend. Der Gebrauch des Thees (Tschai) nimmt unter der Arbeiterbevölkcrnng der Städte immer mehr zu und beginnt dem Branntwein Konkurrenz zn machen. In der That giebt — 222 es keil! besseres belebenderes Getränk ill Kälte und Hitze als guter rationell zubereiteter Thee, den in Nussland jedermann aus Gläsern trinkt. Auch auf dem Lande bürgert sich der Thee allmählich ein und man ist oft überrascht, in Vanernhöfen, wo es fast an den nothwendigsten Gerathen und Bequemlichkeiten fehlt, den blanken Ssamuwür von Kupfer oder Messing, — die russische Fig. ^'. Nussisch^s Dampsbnd, treffliche Theemaschine — zu finden. Für den armen Arbeiter der Städte bieten im Winter die Straßcnucikäufcr ein heißes Theesurrogat feil, den Sbstcn, der aus Wasser, Honig und Lorbeerblättern oder Salbei gekocht wird. Einen höchst schädlichen Einfluß ans den Mushik übt der Genuß des Branntweins aus. Starke, spirituüse Getränke haben ja im hohen Norden ihre volleVerechtigung. Wein wächst ausschließlich — 2Z3 — im äußersten Süden Nusslmids und Vier wird unr in einigen grüßen Städten erträglich und zu mäßigem Preise gebraut. Aber der Mushik trinkt den Branntwein hmifig genug, nicht um sich zu erwärmen und seine Lebensgeister zu erhöhen, sondern in der offenen Absicht, sich so schnell und so gründlich wie möglich zu berauschen. Dabei wird der Branntwein durch Hin« zufügnng scharfer Stoffe »loch schädlicher gemacht und ruiniert die Gesundheit des Landvolks ganzer Provinzen. Es kaun diese Wurzel unendlich vieler Übel nicht sorgsam genug ausgerottet werden. Ich habe darüber später noch zu verhandeln. Daß dem gemeinen Manne in Nussland der Vorwurf der Unreinlichkcit in gewissem Sinne mit Unrecht gemacht wird, habe ich Th. 1. S. 110 bereits ausgeführt. Freilich erzeugt das enge Beieinanderlebcn in der heißen Isbä während des langen Winters, die warme Kleidung und namentlich der unvermeidliche Schafpelz mancherlei lebendigen und todten Schmutz, — dafür wird aber einmal wöchentlich eine so gründliche Reinigung vorgenommen» wie sie sonst bei keinem Volke in der Welt üblich ist. Die Stätte und das Mittel dieser Purifikation ist das russische Dampfbad. (Fig. 42). Es spielt im Leben des russischen Bauern eine höchst wichtige Nolle, ja es hat sogar eine gewisse, religiöse Bedeutung; denn kein echt- und rechtgläubiger Bauer würde es wagen, eine Kirche zu betreten, ohne sich am Tage vorher durch das nationale Bad Physisch nnd moralisch gesäubert und ein reines Hen d angelegt zu haben. Viele Dörfer haben ein öffentliches oder Gemcindcbad, in andern hat jedes Haus seine innerhalb oder außerhalb liegende Badcstubc. Diese siud selbstverständlich sehr primitiver Natur. In einem engen Raume, der häufig halb unter der Erde liegt, befindet sich eine Art Backofen mit Steinen gefüllt, die durch ein starkes Feuer glühend gemacht werden. Indem man Wasser auf dieselben gießt, entwickelt sich ein heißer Dampf, dcsfen Temperatur oft bis zum Unerträglichen steigt. Hier befinden sich nun stufenförmige Lager übereinander, auf denen der Badende — 224 — hingestreckt schwitzt. Je höher um so siedender ist die Atmosphäre. Mit Bündeln von frischen Birkenreisern peitschen sich dann die Schwitzenden den ganzen Körper, bis sie, rot wie die Krebse, sich mit kaltem Wasser bcgietzen oder auch ins Freie laufen, um sich im Schnee zu wälzen. Da hat denn allerdings ein russisches Sprichwort Nccht, welches sagt: „Was dem Nüssen gesund ist, bringt dem Deutschen den Tod." Die Dampfbäder in den Städten sind selbstverständlich feiner und bequemer eingerichtet, aber sie enthalten sämmtlich Abteilungen zu den billigsten Preisen für einfache Arbeiter, neben den luxuriös ausgestatteten Reihen von Kabinetten für den reichen Badcschwelger. Überall sind Ankleidezimmer, Waschraum und Schwitzlagcr in besonderen Gemächern etabliert und der gleichfalls uacktc Badedicner (B-Mschtschik) verrichtet gegen einen kleinen Entgelt am Badenden die ganze Prozedur des Begießens mit heißem, lauen und kalten Wasser, des Peitschens mit dem Birkcnbesen, des Waschens mit weichem Birkenbast und Seife, so wie des Knetcus, Reibens, Drückens und Ziehens, das den Genuß und die Wirkung des russischen Dampfbades erst vollständig macht. Man empfindet nach demselben ein unendlich woltuendes Gefühl und wer einmal das nationale Bad in Nussland versucht hat, entbehrt dasselbe später nicht gern. Das russische Volk hat sich von Alters her durch seine Liebe zum Gesang ausgezeichnet. Im Gesänge spricht es seine Freude, seinen Schmerz aus. Das Lied begleitet seine Arbeit, seine Nuhc, vor allem aber jeden festlichen Moment des Lebens. Es erinnert durch seme sanften, melancholischen, etwas gedehnten und einförmigen Melodien an die endlosen, ununterbrochenen Ebenen seiner Heimat; durch den oft plötzlich eintretenden Übergang zu wilder, zügelloser Lust an den Charakter des Volkes. Auch dem Magyar und dem Zigeuner, welche die unabsehbare Pußta bewohnen, sind jene schroffen Sprünge im Gesänge aus süßer Schwermut in berauschende wilde Tanzweisen eigen und scheinen denselben Emwirknngcn ihre Entstehung zu verdanken. Eine — 225 — andere Eigentümlichkeit der russischen Volksweise, das Austlingen-lassen des Struphenendes, des Refrains, in langgezogenen hohen Tönen, habe ich bei den uenetianischen Gondolieri wiedergefunden Fig. «. DorfnmsikllNt. und ist hier vielleicht das uferlose Meer die Mutter derselben Einflüsse und Empfindungen, wie dort die Ebene. Wie überall ist das tägliche Volkslied, das bei der Arbeit, am tzerde, an Winterabenden, in der Sommerruhe und bei frohen Festen gesungen wird, lyrischen Inhalts. Aber der Großrusse hat auch Mcycl, Nnsslnnd. II. l5 — 226 — einen reichen Schatz epischer Volksdichtungen (Vhlina), welche von besonders begabten Rhapsoden (Stasltel) gesungen werden. Der Gesang, welcher die Dorfbewohner in den Stunden der Muße, bei Festlichkeiten oder an den Winterabenden zu den Spinnstuben vereinigt, wird nicht selten auf cinfachcu Instrumenten begleitet. Die üblichsten nationalen Musikgcräthe der Nusseu sind: die Balalaika (Fig. 43), eine Art Zither oder Mandoline mit zwei bis drei Saitcn, die Güssli, eine horizontal liegende Harfe, deren Saiten mit den Fingern gespielt werden; der Gnd^k, eine Geige mit drei Saiten, und die Wolynka, welche anf den bekannten Dudelsack herauskommt. Der Tanz des russischen Bauern, den er leidenschaftlich liebt und mit viel Anmuth, Leichtigkeit, Gewandtheit nnd großer Kraft auszuführen Pflegt, entspricht durchaus dein Gesänge. Er beginnt in der Negel mit einem ^näanw ing,6«w8o in lang samen. gemessenen Bewegungen, knrzcn Schritten nnd graziösen Portcbras, nm dann plötzlich mit den wildesten, leidenschaftlichsten und gewaltsamsten Sprüngen und den künstlichsten Gliedcr-verrcnknngen in ein ausgelassenes 8e^ei'/u i'nri««« überzugehen. Bemerkenswert!) ist, daß die Frcmen, mögen sie nun einen Solotanz ausführen oder mit den Männern paarweise antreten, nie an jenem unbändigen Gcbahrcn teilnehmen, sondern immer in gemessener Weise, mit anmnthigcr Haltuug des Oberkörpers und der Arme, zuweilen auch mit einer die ganze Gestalt ergreifenden zitternden Bcwegnng, ihren Part ausführen, während der männliche Genosse sie mit den ausgelassensten Sätzen umspringt. Die beliebtesten Voltstänze sind der Treftäk und KasatscPk. Der Chorownd (Neigen) ist eine Verbindnng vou Gesang nnd Tanz. Die Dorfjngeud bildet einen großen Kreis, eine Nonde nach der Terminologie des modernen Tanzes, nnd bewegt sich nach dem Takte des von allen gesungenen Chorliedcs. Ein überaus reiches Thema zu eingehender Schilderung bieten die Bauern, welche des Erwerbs wegen in die Städte gezogen sind. Ich kann hier dasselbe nur flüchtig berühren. Wie — 227 — Fig, 44. erwähnt, verlassen die jüngeren Leute vielfach ihre Heimat, überlassen Haus und Hof der Fürsorge ihrer Familie und wandern in die Städte, um dort als Handwerker, Fabrikarbeiter, Tagelöhner, Diener, Kellner oder im Kleinhandel Verdienst zu suchen. Viele ziehen nach der Erntezeit in die Fremde und kehren zur Früh-jahrsarbcit zurück, andere bleiben ganz und gar in den Orten, wo sie ein gutes Einkommen gefunden und besuchen ihre Familien nur gelegentlich in langen Zwi-schenräumcn. Selten geben sie die Verbindung mit dem heimatlichen Dorfe auf; Weib und' Kinder lassen sie zu Hause und mancher in den Residenzen wohlhabend gewordene bleibt Mitglied der Dorfgemeinde und zahlt seinen Steucranteil ohne irgend einen Vorteil davon zu genießet,. 15* - 228 — Fig., 45. Die meisten Provinzen haben eine Arbeits-Spezialität, in welcher ihre Bewohner besonders geschickt und deshalb in den Städten gesucht sind. Su versorgt IaroMw die kleinen Wirthschaften mit Kellnern, Kosstrom-i liefert Zimmcrleute und Ofen-baner, andere Gonvernemcnts Kiltscher, wieder andere Maurer und Glaser n. s. w. Bei Gelegenheit des Geselligkeitstriebes, der dem Mnshik inncwohnt, habe ich angedeutet, daß derselbe die Arbeiter zu ganz trefflich eingerichteten Gewerbegenossenschaften vereinigt. Flößer, die an ihre Arbeit gehen, Holzschläger, die sich in den Wald aufmachen, Fischer und Pelzjägcr, die auf den Fang ziehen, Kanal-und Eisen bahn arbcitcr, alle bilden, ehe sie ans Werk gehen, eine Erwerbs-Gesell-schaft, Artsl genannt, mit regelmäßigen Versammlnn-gen, einem gewählten Oberhaupt, dem Sst:'rro)stll, nnd gemeinschaftlicher Kasse. Die Genossenschaft bestimmt den Teil der Arbeit, den jeder zu übernehmen, den Teil des Lohnes, den er der Gescllschaftskasse abzuliefern hat. Kost und Wohnung wird aus der letzteren bestrittcn. In den größeren Städten giebt es Artele mit komplicierter Organisation, großen Kapitalien und weittragender Bedeutung, indem die Genossenschaft für jedes ihrer Mitglieder solidarisch haftet. Unterdwürnil, __ 225) __ Die hervorragendsten nnter diesen Vereinen sind wol die St. Petersburger und Moskauer Vörsen-Artele, welche die Kassen-boten, Markthelfer, Packer, Zähler, Magazinciufseher n. s. w. Fig. 46. ^odowüÄ (Wasscrtt'lMv). der Kaufmannschaft beider Nesidclizcn umfassen. Bei diesen Leuten, die fast stündlich der Versuchung ausgesetzt sind. kommen Unredlichkeiten selten oder nie vor. Der Bankier, der Kaufmann — 230 Fig. 47. kann vollkommen ruhig sein, die Artcl steht für jedes ihrer Mitglieder ein. Selbstverständlich werden diese auf das sorgfältigste ausgewähltund streng überwacht. Die russische Artcl ist eine Einrichtung, die dcm Westen Europas zur Nachahmung bestens empfohlen werden kann. Außer den verschiedenartigsten Handwerken und industriellen Beschäftigungen sehen wir dcn Mu^hll in der Stadt am häufigsten in drei Berufsarten: als Dw6rmk, Isw'')-schtschik und Nasim-schtschik. Der Dw^rnik oder Hauswächter ist eine sehr wichtige Person in den großen Peters-bnrgcr und Moskauer Häusern, in denen viele Hunderte von Menschen beisammen wohnen. Er ist der Polizeioffiziant des Hauses, sorgt für das Ein- und Ansschrliben der Pässe und Aufenthaltsschciuc im Viertelsamt, hat Haus, Hof und Straße sauber zu halten und besorgt den Transport des Brennholzes Herrschaftlicher Kutscher. — 231 — uud des Wassers in dic Kiichcu dcr Wuhnuugcn: cine Fülle von Geschäften, die in sehr großen Gebäuden von einer entsprechenden Anzahl Personen verrichtet werden. An ihrer Spitze steht der Oberdwürnik (Fig. 44), der in unmittelbare Berührung mit den Bewohnern tritt und demgemäß unter den von dcr Knltnr beleckten Individnen ansgesncht wird. Seine nächsten Subalternen sind die Unterdwurniki (Fig. 45), welche die gröberen Arbeiten verrichten, des Nachts vor dem Hanse Wache halten, auch am Tage den Eingang behüten und alle Fragen nach den Ein-wohnern des Hanses beantworten. Hat das dichtbevölkerte Gebäude noch keine Wasserleitung, so wird auch wol ein besonderer Träger für Holz und Wasser, dcr Wodonx>s (Fig. 46), angestellt. Ist der Bauer von stattlicher Figur, weiß er gut mit Pferden umzugehen und versteht das Fahren aus dem Fundament, so findet er leicht ein Unterkommen als herrschaftlicher Kutscher. (Fig. 47.) Er hat dann nicht übermäßig viel zu thun, muß jedoch sorgsam, gewissenhaft und vor allem wetterhart sein. Der weniger glückliche Pferdcbändiger wird Iswuschtschik, d. i. Kutscher eines Miethfuhrwcrks. Es giebt in dcr Welt kein gutmüthigeres, freundlicheres, zuvorkommenderes und schwatzhafteres Wesen, als solch einen Iswoschtschik, nur muß man, bei dem Nichtvurhandcnsein einer gesetzlichen Taxe, sür jede Fahrt erst um den Preis handeln. Er fordert in der Regel recht viel, ist aber mit wenigem zufriedcu und für ein kleines Trinkgeld äußerst dankbar. Läßt man sich in eine Unterhaltung nut ihm ein, so erfährt mau sofort alle seine Lebcnsumstände. Der Rasnoschtschik (Umhcrträger, Hausierer) ist in den Residenzen überall anzutreffen. Auf allen Straßen und Gaffen, Plätzen und Höfen, in allen Umgebungen der Stadt hört man ihn vom Morgen bis zum Abend seine Waaren ausrufen und preisen. Gegenstände dieses Kleinhandels sind alle uubcdcutcudereu Bedürfnifse der Haushaltungeu, besonders aber Nahrnugsmittel. Am zahlreichsten findet man diese Rasnöschtschiki in dcr Nähe der Kauf-Höfe und Märkte. Die dort häufenden Kaufleute und ihre Ge^ Fig. 48. 3traHentypeu nuZ St. Petersburg. — 333 - hülfen können sich nämlich keine Speisen bereiten, da das Fcucranzündcn in den Läden untersagt ist; so halten sie denn ihre Hauptmahlzeit erst Abends, wenn das Geschäft geschlossen ist. Im Laufe des Tages aber trinken sie Thee und kaufen dazu von den Umherträgern, was ihrem Geschmacke entspricht. Auch der gcwönliche Arbeiter, der auf den Straßen zn speisen pflegt, entnimmt von ihnen seine einfache Kost. Im Winter im Schafspelz, im Sommer im bunten Hemde, wandert der Ras-nuschtschik, gewöulich noch ein junger Bursche, sein Tragbrett auf dem Kopf oder einen Korb mit den Verkaufsartikcln vor der Brust, durch die Ladenrcihen und Straßen. Der eine bietet gesalzene oder geräucherte Fische feil, ein anderer Obst, andere harte Eier, Salzgurken, eingemachte Pilze, kleine Pirogl mit verschiedenem Füllsel, Weißbrod, Sbiten, Kwass, Limonade u. f. w. Die heißen Getränke werden in Ssamow^ren oder Krugen transportiert, die mit dicken Handtüchern umwickelt sind, die Verkäufer von Gefrorenem tragen ihre Eiskübel anf dem Kopfe. Fig. 48 giebt eine ganze Sammlung von NaZn<")schtschik-Typen, die der Leser im Verzeichnis; der Abbildungen einzeln aufgeführt findet. Die Aussichten in die Zukunft für den russischen Bauernstand sind entschieden günstig. Eine Bevöltcrungsschicht, die achtzig Millionen zählt, hat dringenden Ansprnch auf die aufmerksamste Fürsorge der Regierung und das hat die letztere wol erkannt. Nussland hat Übcrflnß an unkultiviertem Land uud mit dem Opfer einiger Milliarden vermag man den Land-leutcn gründlich aufzuhelfen und dadurch die sozialen Verhältnisse des Reiches zu festigen. Hat die russische Regierung diese achtzig Millionen guter, tüchtiger, harmloser und genügsamer Menschen zu treuen Frcnnden, so kann sie mit größter Ruhe und Sicherheit an dem Werke der Reformen fortarbeiten. Uegister. Aoelsbezeichuung 80. Adelstitel 81. Allgemeine Wehrpflicht 43. Altgläubige 48. Amtsbezirk 40. Anwn, heiliger 1l9. Apanage-Bauern 202. Arrende ?2. Art«l 528. Asiatisches Departement 35. Bauer 200. Baucrnhaus 216. Bauerngemeinde 40. Befreiung der Leibeigenen 1?6. Beguny 153. Vespopowzy 151. VeMda 213, Bestechlichkeit 66. Bezirle (Kreise) 39. Bittschriften-Kommission 27. Bjelakrimtza 59. Blim 135. Bojaren 78. Vutterwoche 135. Charfreitag 137. Chlysty 154. Civilbeamte 64. Communisten 163. Convui des Kaisers 3. Dampfbad 223. Danieliten 152. Departements der Reichs-Institutionen 29,31,33. Dirigierender Senat 30. Dörfer 213. Dorfältester 40. Dritte Abteilung 2?. Dshigitowka 59. Duch'ob6rzen 161. Duma »9. Tworjlmsnvo ?8. Dlv^rnik 230. Ehrenbürger 174. Einhofler 174. Empfangstage der Minister 32.' Fasten 134. Fedoss''jewzy 152. Filippowzy 152. Flotte «2. Freiwillige Flotte 65, Fußwcischnng 137. Geburtsadel 78. Geistlichkeit 82. Gemeindeverband 40. Generalgouvernements 3?. Generalgouverneur 38. Gottesdienst 100. Gouvernements 36. Gouverneur 38. Gmlwwltaja Palltta 12, 25. Groszarundbesitzer 173. Großhändler 175. Handwerker 175. Hecresstärte 45.' Heiliger Synod 32. Heroldsmeister 31. Hölenklofter in Kjjew 49. ! Irreguläre Truppen 5ü. !Islul2l6 !Isprü,wmk 39, ^ Iswoschtschit 231. lIordansfest 130. ^ Iedinowürzy 160. l Kaiser, dcr 1. Kanzlei des Kaisers 27. ^ Kapit'»wzy 152. Kaufhöfe t98. Kaufmann 190. Kirchen 93. kleiduug des Volks 218. ! Rleiuhändkr 175. i Möster 103. Klostergeistlichtcit 82. , Kluste: Walamu 108. ! Körperstrafe 210. Konscil der Ministerien 33. Kosaken 58. Kreise (Vezirte) 39. Krönung 2, 19. z Kro'nnngsbanketi, öffent-! liches'25. ! Krönungseinzug 3. Krönungstag 11. Krönungsvorabcud 10. Kronsbauern 202. Kupuz 175. ! Landedclmaun 175. ^ Landyeer 41. ^Landesverteidigung I. ! Liturgie l00. Märkte 198. Majorate 176. , Malssim, der Grieche 146. 235 MMcniza 135. Militärbelleidung 50. Militärbewaffnuna. 52. Mniister-Eomitk 29. M,nisierien 32. Mir 40, MolMnen 162. MoltschÄnN 165. Montanen 156. Mushik 175. Mystische Sekten 161. Nagmka 59. Nahrung des Volkes 220. Napoleowtschini 156. Nationaltanz 226. Ncmoljaki 165. Nestor 122. Man 147. Njenäschi 165. NMowzy 166, Odrük 203. Öbschtschije 163. Odnodw6rzy 174. Offiziere 64. Osterfeier 135. Palmenmarkt 136. Pawls onntag 136. Paschkowschc Bewegung 17«. Percinasä,nzy 58. Pomürzy 151. Pope «2. Popowzy 151. Priesterlichc Sekten 151. Priesterlose Sekten 151. Privatbauern 202. Provinzilllvcrwaltung 36. Prygnny 156. Rangklasfen 73. Rasnäschtschik 231. Rllsstöl 145. Rationalistische Sekten 161. Neichsbaucrn 202. Reichs-Institutionen 28. Reichskanzlei 29. Reichsrath 28. Reichssekretär 29. Religiöse Feste 130. Relicziunsgebräuche 130. Rüstkammer 12, 25. Salbung des Kaifers 21. Salz und Brod 25. Schalopnty 164. Schüschka 52. Schkit 115. Sekten 145. Selbstherrscher 1. Sclbstuerftmmnlcr 155. Shiwyjc Potoiniki 166. SkakunY 156. Sskopzy 155. Ssolowözlisches Kloster 123, Sstarowäczy 148. Ssub6tniki 163. Staatsverwaltung 1. Stadtamt 39. Stadtocuölkcnmg 174. Stadthaupt 39. Stadtverordnete 39. Städteordnung 39. Stände der Nation 171. St. Andreas-Saal des Kremls 12. Sstaroobrj^dzy 160. SMrosta 40. Sstarschiwi. 40. Sftrünniki 153. Stundisten 167. Thcodosianer 152. Thronfolger 2. Thronsaa'l 12. Todtenfest 144. Torpedos 64. Tschiu ?3 Tschinunuüt 73. llftr^iwa 39. üssädba 202. Verdienstadel 78. Verhältnis der Stände 171. Verkündigung des Krönungstages 8. Vizego'uverncnr 38. Vizmundir 78. Voltsgesang 224. Wahlversammlung, städtische 39. Wasserweihe 120. Weltacistlichkeit 82. W