UDK 830(436).09—29:929 Aichinger L ENTMATERIALISIERUNG UND FIKTIONALISIERUNG VON ZEIT, RAUM UND KORPERLICHKEIT — ILSE AICHINGERS HORSPIELE DER SPATPHASE Neva Šlibar-Hojker 1. Zur Rezeption der ~Werke Use Aichingers, zu ihren sprachlichen Invarianten tmd zur Gattung Horspiel Use Aichinger hat, nach einem verheifiungsvollen Start in der Gruppe 47 mit der beriihmt gewordenen Spiegelgeschichte (1948, NT 41) 1 und nach einer stilleren Phase m den sechziger Jahren, allgemeine Anerkennung gefunden, so dafi sie heute zu den eminentesten und preisgekrontesten 2 Dichtern der Gegenwart im osterreichischen und deutschsprachigen Kulturraum gezahlt wiird. Obwohl sich die Dichterin in ihren Werken an keinen spezifischen Kreis von Aufnehmenden wendet, da sie sich einer zuganglichen Alltagssprache be- dient und kaum Bildungsvoraussetzungen vom Leser fordert 3 , sind ihre Werke wegen ihrer schvveren Lesbarkeit keinem allzu breiten Leserpublikum be- kannt. 4 Das Paradoxon der beschrankten Verbreitung der Texte einerseits und ihrer etablierten Stellung in der osterreichischen Gegenwartsliteratur andrer- seits — zuganglichere unter ihren Texten gehoren zur Schullekture 5 — cha- rakterisiert die Rezeption ihrer Werke seitens der Literaturwissenschaft. Auf 1 vgl. Walter Jens, Deutsche Literatur der Gegemvart; Themen, Stile, Ten- denzen, Miinchen 1962 (1961), cf. S. 150. 2 Šeit 1952 wurde Use Aichinger mit mehr als fiinfzehn Preisen ausgezeich- net und geehrt. 3 Im Bereich des Wortschatzes fallt in erster Linie das Fehlen spezifisch fachsprachlicher Termini im ganzen Werk auf, wahrend der Gebrauch von fremd- sprachlichen Wortern und Wendungen, meist englischen und franzosischen, in den letztveroffentlichen Texten zunimmt. Auf die Vervvendung von Figurenna- men literarischer oder historischer Persbnlichkeiten wird zum Teil im Abschnitt liber das Horspiel »Nachmittag in Ostende« eingegangen; der Einsatz mehr oder weniger versteckter, jedoch eher seltener Zitate ebenso wie anderer Reminis- zenzen ist in den jeweiligen Kapiteln der Monographie iiber lise Aichinger nach- zulesen, der die vorliegende Studie entnommen ist. 4 vgl. z. B. Use Aichingers Prosastiick »Der Querbalken«, Vier Interpretations- versuche, Hrsg. Hellmuth Himmel, Sprachkunst, V (1974), 280—300, cf. S. 280. Alexander Hildebrandt, Zu Use Aichingers Gedichten, Literatur und Kritik, XV (1968), 161—167, cf. S. 161. Werner Eggers, Use Aichinger, in Deutsche Literatur seit 1945 in Einzeldar- stellungen, Hrsg. Dietrich Weber, Stuttgart 1970, 252—270, cf. S. 268. Uberdies wird in zahlreichen Pressenotizen darauf aufmerksam gemacht, z. B.: »Die Presse,« Wien, 10. 6. 1975: »Sie wird viel ausgezeichnet, aber zu wenig gelesen.« 3 Acta 33 die Arbeiten aus der Friihphase, den Roman und Erstling Die gioflere Hoff- nung (1947), zu dessen Niederschrift Use Aichinger durch das Erleben der Judenverfolgungen und der Kriegszeit angeregt wurde, das Horspiel Knopje (1953) und die im Bandchen Der Gefesselte (1953) erschienenen Kurz- geschichten wird immer vvieder hingevviesen 5 6 , die der Anzahl nach dariiber bei vveitem hiinausgehenden und in ihrer Struktur komplexeren Arbeiten der Spatphase hingegen 7 vverden sowohl vom Leserpublikum wie auch und vor allem von der Forschung zu wenig gewiirdigt. Die wenigen monographischen Untersuchungen 8 zum Werk Use Aichingers vvidmen sich einzelnen Gattungen oder untersuchen es von einem Aspekt aus; in der vorliegenden Studie, die Teil einer umfassenden Monographie 9 iiber das dichterische Gesamtvverk Use Aichingers ist, soli deshalb die in anderen Arbeiten nur ervvahnte Spe- zifilk der Aichingerschen Horspiele der Spatphase eingehender behandelt vverden. 5 Texte von Use Aichinger gibt es in sehr vielen Lesebiichern fiir hbhere Klassen, vvobei die friihen Erzahlungen bevorzugt vverden. Als Beispiel sei er- wahnt: Begegnungen, 4. Band fiir die 8. Klasse der AHS, Wien 1975 (1972), S. 250 »Spiegelgeschichte«. 6 vgl. z. B.: Die deutsche Literatur der Gegemvart, Aspekte und Tendenzen, Hrsg. Manfred Durzak, Stuttgart 1971, cf. S. 21, 134. R. Schlepper, Was ist wo interpretiert, Paderborn 1975, cf. S. 31/32. Eine gute, wenn auch nicht vollstandige Ubersicht iiber die Artikel und Arbeiten zum Werk Use Aichingers bieten: Internationale Bibliographie zur Geschichte der deutschen Literatur, Berlin 1972, Teil II/2, S. 679/680 (bis 1969). KLG — Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenvvartsliteratur, Hrsg. Heinz Ludvvig Arnold, Miinchen, erscheint seit 1978; Aichinger-Bibliographie (vor allem Zeitungsartikel): Stand 1. 9. 1981. 7 Zur Spatphase werden folgende Werke Use Aichingers gezahlt: — alle Gedichte, gesammelt erschienen in: Verschenkter Rat. Gedichte, Frankfurt/Main 1978. alle Dialoge, gesammelt erschienen in: Zu keiner Stunde, Frankfurt/Main 1957; Neuausgabe, um vier Dialoge erweitert: 1980. — die in der vorliegenden Arbeit untersuchten Horspiele. — alle Kurzprosatexte, mit Ausnahme der ersten zwolf Kurzgeschichten: »Das Plakat«, »Spiegelgeschichte«, »Der Hauslehrer«, »Engel in der Nacht«, »Mondgeschichte«, »Das Fenster-Theater«, »Rede unter dem Galgen«, »Die geoffne- te Order«, »Der Gefesselte«, »Seegeister«, »Wo ich wohne«, »Strafien und Platze«. Veroffentlicht wurde die Kurzprosa in verschiedenen Banden, gesammelt erschien sie in Nachricht vom Tag, Frankfurt/Main 1970; Neuausgabe mit Titel- geschichte: Meine Sprache und ich, Frankfurt/Main 1978, und Schlechte Wdrter, Frankfurt/Main 1976. 8 Dissertationen zum Werk Use Aichingers: Anna Polazzi,Dze Erzahlungen von Use Aichinger, Diss. masch. Milano 1965/66. Antje Friedrichs, Untersuchungen zur Prosa Use Aichingers, Diss. masch. Miinster 1970. Marianne Fleming, Use Aichinger: Die Sicht der Entfremdung-ein Versuch, die Symbolik ihres Werks von dessen Gesamtstruktur her zu erschliefien, Diss. Maryland, Xerox University Microfilms 1974. Carine Kleiber, Poetisation de la Realite et Recherche de la Surrealite: lOeuvre Complexe d’Use Aichinger, Diss. masch. Lille 1980. 1981 ist im Athenaum Verlag die bisher umfassendste Arbeit iiber das Gesamtvverk Use Aichingers publiziert worden: Dagmar C. G. Lorenz, Use Aichinger, Konigstein/Ts. 1981. Die vorliegende Studie ist fast zur Ganze der Monographie der Verfasserin, Das dichterische Werk lise Aichingers entnommen, die im Rahmen eines postdi- plomen Studiums an der Philosophischen Fakultat in Zagreb und unter der Men- torschaft von Prof. Zdenko Škreb verfafit wurde. Die Arbeit vvurde im Juni 1980 aogeschlossen und eingereicht. Ihren Aufbau bestimmt die Einteilung in eine 34 Die Rezeption der Werke Use Aichingers, also auch der Horspiele, setzt ein »neues« Verstandnis von Dichtung voraus, wie es sich allmahlich von Anfang dieses Jahrhunderts an parallel zu einer immer intensiver von der Sprachskepsis beherrsohten Literatur ********* 10 entwickelt hat. Es manifestiert sich in erster Linie in der Veranderung und der Erweiterung des Mimesis- und des Realismusbegriffs 11 zugunsten der Autonomie des Sprachlichen mit ab- nehmendem Realitatsbezug und in der Tendenz zu verschiedenartiger Aktivierung der Rolle des Aufnehmenden, die ein konstitutives Merkmal oft entgegengesetzter Strbmungen der Literatur der Nachkriegszeit und der Gegenwart darstellt. 12 Da der Hang zur Verratselung als Reflex einer als Friih- und eine Spatphase der dichterischen Produktion Use Aichingers; die einzelnen Texte wurden aufierdem im Rahmen ihrer Gattung behandelt, wie auch meist nach dem Grad der Hermetik und Alogik gegliedert. Bio- und bibliogra- phische Angaben sowie eine zusammenfassende Untersuchung zu den sprachlichen Invarianten der Stilkunst lise Aichingers sind den beiden Hauptteilen der Arbeit vorangestellt. Dem Textteil, der 285 maschingeschriebene. Seiten umfafit, folgen eingehendere Anmerkungen, die mit dem Literaturverzeichnis schliefien (135 Seiten). Im Streben nach einem mbglichst abgerundeten Bild der Horspiele und der Charakteristika des Werks Use Aichingers vvurden in den beiden ersten Abschnitten der vorliegenden Studie einige Untersuchungsergebnisse erganzt, zum Teil aus anderen Kapiteln iibernommen und komprimiert zusammengefafit. Diese verdichtete Darstellungsweise zu Beginn der Arbeit wie auch die Tatsache, dafi viele Daten unervvahnt bleiben mufiten, erschweren mbglicherweise die Aufnahme des vorliegenden Texts. Aufierdem mufi darauf hingevviesen werden, dafi das Kapitel iiber die Horspiele der Spatphase einen konstitutiven Bestandteil der Mono- graphie darstellt, d.h. zahlreiche Ergebnisse, die in den anderen Kapiteln erbr- tert werden, wurden darin nicht ervvahnt. Die daran anschliefienden Abschnitte sind wortlich aus der Arbeit ubernommen, nur an wenigen Stellen wurde raffend geandert. Die Anmerkungen mufiten hingegen aus Platzgriinden gekiirzt werden. 10 vgl. Helmut Heifienbiittel, Vber Literatur, Aufsatze, Miinchen 1970 (1966), cf. S. 216, 220. Hermann Keckeis, Das deutsche Horspiel 1923—1973, Frankfurt/Main, 1973, cf. S. 43—46. Hans Mayer, Zur aktuellen literarischen Situation, in: Die deutsche Literatur der Gegemvart, a. a. O., 63—65, cf. S. 66. Kaspar H. Spinner, Prosaanalysen, Literatur und Kritik, IX (1974), 608—621, cf. S. 619—620. Walter Weiss, Die Literatur der Texte und die Problematisierung der her- kbmmlichen Gattungen I, in: Gegenwartsliteratur, Zugdnge zu ihrem Verstandnis, Stuttgart 1973, 112—128, cf. S. 112. Walter Weiss, Zwischenbilanz, Osterreichische Beitrage zur Gegenwartslite- ratur, in: Zwischenbilanz, Eine Anthologie osterreichischer Gegenwartsliteratur, Hrsg. Walter Weiss und Sigrid Schmid, Salzburg 1976, 11—34, cf. S. 17. 11 vgl. Barbara Beutner, Die Bildsprache Franz Kafkas, Miinchen 1973, cf. S. 11 — Heifienbiittel, a. a. O., S. 218 — Spinner, a. a. O., S. 620. 12 Diese Tendenz ist nachweisbar an den verschiedensten literarischen Strb¬ mungen, von der dunklen Lyrik Paul Celans oder Ingeborg Bachmanns iiber die engagierte politisch-didaktische Lyrik Bert Brechts und seiner Nachfolger bis hin zur Konkreten Dichtung in den 60er Jahren. Vgl. Alfred Kelletat, Accessus zu Celans »Sprachgitter«, in: Vber Paul Čelan, Hrsg. Dietlind Meinecke, Frankfurt/Main 1970, 114—136, cf. S. 115. VVolfram Mauser, Ingeborg Bachmanns »Landnahme«, Sprachkunst I (1970), 191—206, cf. S. 199. Siegfried Streller, Nachvvort, in: Bert Brecht, Gedichte, Leipzig 1958, 131—141, cf. S. 133. Helmut Heifienbiittel, Vorwort zu »Worte sind Schatten«, 1969, zit. nach: Grenzverschiebung/Neue Tendenzen in der dt. Lit., Hrsg. Renate Matthaei, Koln 1972 (1970), cf. S. 172. Paul Pbrtner, Schallspiel Studien, Akzente XV (1969), 77—78, cf. S. 86. 3* 35 ratselhaft empfundenen Welt, Hermetik und Alogik die Dichtkunst lise Aichingers pragen und da die Hdrspieltexte einer verstandesmafiigen Auf- nahme durch den Leser Widerstand leisten, sich ihr Gefiihls- und Gedan- kengehalt folglich erst allmahlich, einem gutwillig aufmerksamen Leser eroffnet, ist eine aktive und schopferische Mitarbeit des Rezipienten unum- ganglich notwendig. Ein weiteres Merkmal der Sprachkunst lise Aichingers liegt darin, dali die Sprache in maximaler Ausdrucksvielfalt auftritt, als Bedeutungstrager mit und ohne Realitatsbezug, als Klang- und Lauttrager und als Assoziationstrager, so dafi innerhalb des Semantischen denotative und konnotative, wbrtliche und iibertragene, konkrete und abstrakte Be- deutungen in den einzelnen Sinneinheiten aktiviert vverden miissen, um einen Sinnzusammenhang herzustellen. Die Rolle des Interpreten ervveist sich hinsichtlich derart beschaffener Texte als doppelt fragvviirdig; aufier der allgemeinen Rezeptionsschwierigkeiten sieht er sich noch mit dem Problem konfrontiert, die Textaufnahme auf keine Lesart einzuengen, son- dern auf eine Vielfalt von Losungsmoglichkeiten hinzuvveisen. 13 Die Sprachkunst Use Aichingers 14 wird vom standig auftretenden Ge- gensatzpaar Homogenitat und Heterogenitat charakterisiert. Homogen ist ihre Dichtersprache mit Riicksicht auf die standig durchgehaltene Stillinie in Wortschatz, Satzbau und Stilmitteln; sie ist eine literarisierte Alltagssprache, gleichmahig distanziert von Pathos, Sentimentalitat und Satire. 15 Use Aichin¬ gers Kunst besteht in der vollendeten, polyvalenten 16 Handhabung und maxi- malen Ausniitzung einer relativ bescheidenen Anzahl von Ausdrucksmitteln und nicht in deren Anhaufung. Heterogen ist die Anordnung der Dichtungs- elemente durch ihre Disparatheit innerhalb des einzelnen Texts. Global ge- sehen nimmt gerade die Heterogenitat immer mehr uberhand und fiihrt zu einer allmahlichen Auflosung poetologischer und gattungsspezifischer Nor- men, jedoch wird sie vorvviegend als Stilmittel eingesetzt. 17 Deshalb ist eine Entwicklung im traditionellen Sinu in den Werken Use Aichingers nicht fesit- zustellen. Trotzdem erweist sich die Einteilung in eine Friih- und in eine Spatphase nicht nur aus arbeitstechnischen Griinden als niitzlich, sondern drangt sich wegen der Zasur auf, die um das Jahr 1954 bemerkenswert erscheint und die sich in einer, nach diesem Zeitpunkt einsetzenden, inten- 13 vgl. Walter Jens, Niichternheit und Prazision im Hvmnos, in: Vber Paul Čelan, a. a. O. 44—51, cf. S. 51. Hugo Friedrich, Die Struktur der modem Lyrik, Hamburg 1974 (1956), cf. S. 16. Karlheinz Stierle, Moglichkeiten des dunklen Stils in den Anfangen mo- derner Lyrik in Frankreich, in: Immanente Asthetik. Asthetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne. Kolloquium Koln 1964, Vorlagen und Verhandlungen, Hrsg. Wolfgang Iser, Miinchen 1966, 157—194, cf. S. 173. Mauser, a. a. O., S. 191. '* Das Kapitel »Sprachliche Invarianten von lise Aichingers Stilkunst« geht auf den Wortschatz, die Morphologie und die Syntax der Werke Use Aichingers ein und analysiert die verschiedenen stilistischen Verfahren, die die zunehmende Verfremdung in den Texten der Dichterin hervorrufen, wie auch den Eindruck von Alogik und Heterogenitat erwecken. 15 Ausnahme fiir Pathos: »Rede unter dem Galgen« (NT 61); und fiir Satire: »Mondgeschichte« (NT 49), »Gare Maritime« (SW 83). 16 Jurij M. Lotman, Die Struktur des kilnstlerischen Textes, Frankfurt/Main 1973, cf. S. 24, 99 u. a. 17 Im Jahre 1959 entstanden beispielsweise die dem Hermetikgrad sehr unterschiedlichen Gedichte »Mein Vater« (VR 19), »Kartenspiel« (VR 28) und »Wmteranfang« (VR 32). 36 siven Loslosung von jeglicher Konformitat mit ihren Zeitgenossen mani- festiert. Den gemeinsamen Nenner der Friihphase, des Romans, des Horspiels Kndpfe und der zwolf Prosatexte der Friihphase, bildet eine derartige Inte- grierung des Ungewohnlichen und Empirisch'—Normalen Abweichenden in den Alltag, daB dieser nicht an logischer Koharenz verliert. Seit 1954, mit dem Beginn der lyrischen Dichtung, setzt auch die Abkehr von der logisch- kausalen und empirischen Struktur ein; Zusammenhanglosigkeit, Sprunghaf- tigkeit, undeutbare Zusammensetzung verschiedener Bedeutungsfelder, Mo- saikhaftigkeit, die jedoch kein vollstandiges und einheitliches Bild enstehen Jafit, nehmen im Laufe der Jahre immer mehr zu. Die lyrisch rechtfertigbare Diskontinuitat in den Gedichten und die Einfiihrung einer literarischen Form, des Dialogs ******15** 18 , die eine unkoventionelle Behandlung des bedeutungsge- haltlichen Aspekts mit sich fiihrt, haben die spatere Horspielproduktion der Dichterin bedingt und ihren Charakter vorvveggenommen. 1959 bis 1962 wird das Horspiel Besuch im Pfarrhaus (A 7) 19 verfafit, von 1967 bis 1971 entstehen die Horspiele Nachmittag in Ostende (1967, A 35), Die Schwestern Jouet (1967, A 73), Auckland (1969, A 113) und Gare Maritime (1971, SW 83). Aufier des letztgenannten, das zusammen mit anderen Texten in der Sammlung Schlech- te Worter (1976) erscheint, werden sie im Band Auckland (1969) veroffent- licht. Zur gleichen Zeit, ungefahr von 1967 bis 1969, setzt sich in den west- lichbn deutschsprachigen Rundfunkstudios das sogenannte »Neue Horspiel« 20 21 durch. 1968 wird Ernst Jandls und Friederike Mayrockers Horspiel Fiinf Mann Menschen 11 mit dem Kriegsblindenpreis als erstes stereophones Hbr- spiel ausgezeichnet. Das Horspiel 22 hat im Vergleich zu seiner kurzen, an die Erfindung des “ Die Dialoge Use Aichingers unterscheiden sich sehr wesentlich von jenen klassischen seit der Antike verbreiteten »Erorterungen in Gesprachsform«, wie sie von Rudolf Hirzel [Der Dialog, Hildesheim 1963, (Leipzig 1895)] definiert wur- den. Im Kapitel iiber die Dialoge wird eine Abgrenzung der beiden Gattungs- formen versucht, wie auch auf Parallelen und Unterschiede zu ahnlichen szeni- schen Kurzformen hingewiesen. 15 In der vorliegenden Arbeit werden folgende Abkiirzungen fiir die Werke Use Aichingers eingesetzt: A — Auckland, Frankfurt/Main 1966, SW = Schlechte Wdrter, Frankfurt/Main 1976, VR Verschenkter Rat, Frankfurt/Main 1978, NT = Nachricht vom Tag. Erzahlungen, Frankfurt/Main 1970, K = Knopfe. Ein Horspiel, in: Horspiele, Frankfurt/Main 1961 (1953), ZkS — Zu keiner Stunde, Frankfurt/Main 1957. 20 Der Ausdruck »Neues Horspiel«, den Klaus Schbning in seinem Essay »Tendenzen im Neuen Horspiel« (in: Rundfunk und Fernsehen 17, 1969) gepragt b.atte, sekte sich als Bezeichnung fiir jenen Horspiel typus durch der sich bewul’t vom Hbrspieltyp der fiinfziger Jahre ab- und ihm vvidersetzt. — vgl. Keckeis, a. a. O., S. 21—26. 21 Im Jahr 1968 entstehen noch die folgenden Horspiele: Ludwig Harigs und Max Benses Der Monolog der Terry Jo, Ludwig Harigs Blumenstiick (das fu/lball- spiel wurde schon 1966 verfafit), Peter Handkes Horspiel 1 und Wolf Wondra- tscheks Zufdlle. Ein Jahr darauf entstanden die bekannten Horspiele: Franz Mons das gras wies wachst, Jiirgen Beckers Bilder, Hduser und Hausjreunde wie auch Wolf Wondratscheks Paul oder die Zerstorung eines Horbeispiels. 22 Zum Begriff vgl.: Egon Kurt Fischer, Das Horspiel, Form und Funktion, Stuttgart 1964, cf. S. 7ff. Haslinger, Bevorzugte Gattungen II: Das Horspiel, das Neue Horspiel, das Fernsehspiel, in: Gegemvartsliteratur, a. a. O., 94—111, cf. S. 96. Johann M. Kamps, Aspekte des Horspiels, in: Tendenzen der deutschen Li¬ teratur seit 1945, Hrsg. Thomas Koebner, Stuttgart 1971, cf. S. 488ff. Keckeis, a. a. O., S. 22. 37 technischen Mediums Rundfunk gebundenen Existenz, verhaltnismafiig rasch die Anerkennung dichterischer, kritischer und literaturgeschichtlicher Kreise als eigenwertige literarische Kunstform gefunden. 23 Die Beliebtheit des Hbr- spiels in der literarischen Produktion nach dem Zvveiten Weltkrieg spiegelt unter anderem — wie iibrigens das Erscheinen jeder neuen Kunstform oder radikalen Modifikation einer traditionellen — die Bestrebungen der jungen Autoren, der Fiille von neuen Gedanken, Gefiihlen, Forderungen und dem neuerwachten Verantwortungsbewufitsein eine angemessene, neue Gestalt zu verleihen, wider. Das Horspiel mit seinem noch relativ ungenutzten Moglich- keitspotential, seiner paradoxen Wirkungsweise, d.h. einerseits der Beein- flussung der Menschenmassen unabhangig von ihrer Sozial — und Bildungs- struktur, andrerseits der Wirkung auf das einzelne Individuum, das in seiner Innerlichkeit angesprochen werden solite 24 , hat einige der namhaftesten deut- schen Dichter und Schriftsteller veranlafit, sich eingehender mit dieser Gat- tung zu befassen 25 und eine Anzahl bleibender, wenn auch zuweilen von der Literaturkritik abgewerteter Kunstwerke zu schaffen 26 . Jiingere Autoren und Autorenkollektive sind in grbfierem Malte an den technischen Moglichkeiten der Produzier- und Reproduzierbarkeit von Sprache und Lauten, an der Stereo- phonie und an der synthetischen Lautverzerrung und - erzeugung interessiert, um damit Sprach- und Sprechmuster sichtbar zu machen, auf die Mani- pulation durch und mit Sprache hinzuweisen und die Aufmerksamkeit auf die Verbindung von Sprach- und Verhaltensmustern zu lenken, wobei 23 vgl. Gerhard Prager, Das Horspiel in sieben Kapiteln, Akzente III (1956), 514—523 (Die in diesem Aufsatz festgestellte Literaritat des Hbrspiels wird in der weiteren Entwicklung, im Neuen Horspiel, ebenfalls problematisch.) Haslinger, Das Horspiel..., a. a. O., S. 94: »Das Horspiel ist, verglichen mit anderen, eine relativ junge Literaturgattung mit eigenen Formen und Geset- zen.« Heinz Schwitzke, Einfuhrung, in: Reclams Horspielfiihrer, Stuttgart 1969, 5—20, cf. S. 8. Siegfried Hahnel, Der Funktionswandel der Worthandlung im Horspiel und der spezifische Charakter dieser Kunstform, Weimarer Beitrdge, XV (1969), 356— —416, cf. S. 356. 24 Schon zu Beginn der Horspielproduktion formulierten Hermann Pongs in seiner Arbeit Das Horspiel (Stuttgart 1930) und Richard Kolb (Das Horoskop des Horspiels, Berlin 1932) zwei extreme und entgegengesetzte Horspielkonzep- tionen, die sie aus der spezifischen Wirkung des Mediums ableiteten. Pongs glaubte, der Rundfunk sei fahig, ein Kollektiverlebnis zu schaffen und damit ein Gemeinschaftsgefiihl der Horerschaft zu erzeugen; auf der Seite der Autoren miisse das die Verbundenheit mit dem Publikum nach sich ziehen. Kolb hin- gegen begriindete seine Horspielkonzeption auf dem durch den Einzelempfang begriindeten individuellen Erlebnis jedes Hbrers. Als idealen Gegenstand der Darstellung im Horspiel bezeichnete er alles Immaterielle, Uberpersonliche und Seelische, wahrend die Darstellung des Realistischen abgelehnt wurde. Daraus entwickelte sich spater der Begriff der »Verinnerlichung«, der das Hauptmerk- mal des Hbrspiels der fiinfziger Jahre darstellt. — vgl. auch: Haslinger, Das Horspiel, a. a. O., S. 13. — Keckeis, a. a. O., S. 8—10. — Heinz Schwitzke, Das Horspiel, Dramaturgie und Geschichte, Kbln/Berlin 1963, S. 194ff. 25 vgl. Fischer, a. a. O., S. 7. — Haslinger, Das Horspiel, a. a. O., S. 96. Schwitzke, Horspielfiihrer, a. a. O., S. 8. 26 vgl. Hellmut Geifiner, Spiel mit Hbrern, Akzente, XVI (1969), 29—42, cf. S. Friedrich Knilli, Inventur des Neuen Hbrspiels, in: Neues Horspiel, Hrsg. Klaus Schbning, Frankfurt/Main 1970, 147—152, cf. S. 147. Klaus Schbning, Horspiel als vervvaltete Kunst, ebda., 248—266, cf. S. 256. Kamps, a. a. O., S. 493ff. 38 manche den Hauptakzent eher auf die spielerische Komponente, andere wiederum auf das sozialkritische Element setzen. Forscht man nach den Ursachen, die lise Aichinger zur Wahl der Gattung Horspiel veranlafit haben, stofit man unweigerlich auf die Erkenntnis, dafi alle von ihr eingesetzten Gattungen in irgendeiner Hinsicht »neu«, modern, unkonventionell gestaltet sind. Allen voran die originale Kunstform der Dia¬ loge, dann die Hdrspiele, danach die sich von den Schemata und Forderungen traditioneller Lyrik entfernenden Gedichte und schliefilich die kurzen Pro- satexte, die von kurzgeschichtartigen Gebilden bis zu »Prosagedichten« rei- chen. Dafi die Wahl einer neuen modernen Gattung nicht geniigt, um aus tradlitionellen Dicht- und Schreibmustem auszubrechen, bestatigt Use Aichin- gers Horspiel Kndpfe, das sich problemlos in die damalige literarische Pro- duktion einordnen lafit. 27 Die Eigenstandigkeit der spateren Hdrspiele Use Aichingers macht die Eingliederung in einen der zwei vorherrschenden Hbr- spieltypen der deutschen Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur unmdglich; sie diirfte gleichfalls ein Hauptgrund fiir die geringe Beach'tung und Reso- nanz dieser Hdrspiele sovvohl in Horerkreisen wie auch in der Fachliteratur sein. 28 2. Die Horspiehvelt Use Aichingers — Fiktionalisierung von Zeit, Raum und Korperlichkeit Die besondere Eignung des Hbrspiels fiir die Verwirklichung der dichte- rischen Absichten Use Aichingers folgt aus seiner Grundeigenschaft, der Re- duktion auf das vom Ohr Wahrnehmbare 29 , in letzter Konsequenz auf die menschliche Stimme. Auch sie ervveist sich als abstrahierbar, als unabhangig von ihrem menschlichen Trager und Ikarun seme Begrenzungen durch die korperlichen Gegebenheiten der Umwelt und der sozialen Herkunft abschiit- leln, sie gehbrt einem ambbenhaften, veranderlichen Wesen oder Ding an, dessen Existenz selbst fraglich ist, d.h. sich als mogliche Fiktion herausstellen kann. Eine ahnliche Wandlung kann den Kategorien Zeit und Raum zuteil werden, die neben der Kategorie Materie bzw. Korperlichkeit existenzbe- stimmend sind. Wie sich die Stimmentrager als Kunstgebilde erweisen, so vverden auch Zeit und Raum in Kunstkategorien vervvandelt 30 , indem sie von ihrer konkreten, wirklichkeitsbedingten Basis abgelbst werden. Ihre traditio- nelle Funktion in fiktiven Texten, und zwar die Schaffung einer Wirklioh- keitsillusion im mimetisch-realistischen Sinn, mufi in dieser Kunstwelt mo- 27 Dem Horspiel Kndpfe ist ein Kapitel der Monographie gewidmet, wo- rin besonders auf die fiir das Horspiel der fiinfziger Jahre typischen Merkmale hingewiesen wird. 28 vgl. Horspielftihrer, a. a. O., S. 32ff (1969 erschienen wie Auckland) — Eggers, a. a. O., S. 255, 257. — Hilde Haider-Pregler, Zur Entwicklung des oster- reichischen Hbrspiels seit 1945, in: Kindler’s Literaturgeschichte der Gegenwart: Die zeitgenossische Literatur Osterreichs, Hrsg. Hilde Spiel, Miinchen 1976, 647— 670, cf. S. 648—649. 29 vgl. Fischer, a. a. O., S. 10. — Hahnel, a. a. O. — Haslinger, Das Horspiel, a. a. O., S. 94. — Schwitzke, Horspielftihrer, a. a. O., S. 11. — Mira Dordevič (Hrsg.), Aspekti radija, Sarajevo 1968, cf. S. 6. 30 Einen ahnlichen Kunstcharakter der Figuren weist Martin Walser im Werk F. Kafkas nach. [Martin Walser, Beschreibung einer Form, Versuch iiber Franz Kafka, Miinchen 1968 (1961), S. 49.] 39 difiziert, wenn nicht aufgehoben vverden. Materie, Zeit und Raum verlieren ihre bestimmenden Rollen als Koordinaten einer Welt bzw. einer kiinstleri- schen Struktur, indem sie gleichwertig mit den anderen Textelementen als Fiktionsmaterial behandellt vverden. Dadurch erlangen sie paradoxerweise grofiere Selbstandigkeit, weil das Streben nach grofitmbglicher Glaubvviir- digkeit, die sie (traditionellenveise zu ervvecken berufen sind, wegen der Unabhangigkeit der Bedeutungsinhalte von vvirlichkeitsnachahmender Dar- stellung wegfallt. Dadurch verleihen sie den Texten Vieldimensionalitat und Vielschichtigkeit, die rationalen, kausal-logischen und naturgesetzlichen Be- stimmungen nicht unterliegt. Dah die Beziehungen der Elemente dieser Kunst- welt zueinander andere Gesetze befolgen als es die empirischen siind, oder, besser gesagt, solche, nach denen man die empirischen Erscheinungen und Ereignisse zu beurteilen und einzuordnen gevvdhnt ist, wie beispeilsvveise nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung, klingt nur konsequent. Das Verhaltnis der Kunstvvelt Use Aichingers zur empirischen Welt, das zunachst einfach durch die gegenseitige Entfemung und grundsatzliche Ver- schiedenheit charakterisiert zu sein scheint, tragt also viel komplexere und widerspruchlichere Ziige in sich. Seine Beurteilung hangt primar vom Bild bzw. der Auffassung ab, die man sich von der Wirklichkeit, genauer gesagt, von der Welt der Sachverhalte macht. In diesem Sinne lassen sich — so vvunderlich es auch zunachst klingen mag — der Darstellungsvveise Use Aichingers realistisch,e Absichten nicht absprechen, falls man unter dem Begriff Realismus als stiltypischem Terminus nicht nur die kiinstlerische Wiedergabe einer mit den Sinnesorganen und dem Bevvufitsein wahrnehmba- ren Wirklichkeit versteht, sondern man dariiber hinaus die Erforschung des Unbewufiten, das Vordringen in schwer beschreibbare und benennbare Zonen des Emotiven auf kiinstlerische Weise miteinschliefit. 31 Wenn man iiberdies annimmt, dafi das einzig mogliche vvirklichkeitsgetreue Bild der gegenvvar- tigen Lage der Welt und der menschlichen Situation darin Sinn- und Zu- sammenhanglosigkeit, Verwirrung, Chaos, Willkiir, Ohnmacht und Wider- spriichlichkeit reflektieren miisse, kann man dem Inkoharenten und Dispa- raten, wie es in den Horspielen und Werken lise Aichingers zum Ausdruck kommt, einen Sinn zuschreiben und seine Existenz rechtfertigen. Bestimmend fiir die Kunstvvelt, die dichterische Welt Use Aichingers, ist der AusschluB zahlreicher Lebens-, Wirklichkeits- und Wirkungsbereiche, der von der bewufiten, igewollten Einengung auf bestimmte sprachliche Bezirke bedingt ist. Da folglich auch die Behandlung bestimmter Themen- und Pro- blemkreise, die fiir die empirische Welt von eminenter Bedeutung sind, zum Teil oder ganz ausfallt, liegt die Darstellung vom Negativen her nahe, in Ubereinstimmung mit Friedrichs Thesen. 32 Am auffalligsten wirkt das Fehlen 31 vgl. Beutner, a. a. O., S. 11: »Auch das Problem der aufierdichterischen Wirklichkeit und die Frage der Mimesis erlangen dadurch einen neuen Akzent. Nicht das in der Dichtung Erstellte ist auf seine Wahrscheinlichkeit hin zu iiberpriifen, sondern das, was als Wirklichkeit verstanden wird. Die romantische Poesie soli das Undarstellbare, das Unendliche darstellen... Hier mufi sich ein Wirklichkeitsbegriff ergeben, der die Empirie sprengt. Dichtung schafft eine solche alles umfassende Wirklichkeit, eine Mimesis der Phantasie, aller Lebens- und Erlebnisbereiche schlechthin. In der Sprache, im dichterischen Kontext erhalt das alles ein anderes faktisches Sein.« 32 Friedrich, a. a. O., S. 19ff. 40 jeglicher gesellschaftlichen, sozialen und erotischen Problematik; 53 iiber die Welt der Arbeit, den alltaglichen Tagesablauf erhalt der Leser bzw. Hbrer kaum Auskunft. Im Grande entwirft Use Aichiinger ein geschichtsloses Bild der Welt. Den aufieren Charakteristiken tnach, dem Fehlen von Schilderung und Problemdarstellung der »modernen«, der gegenwartigen Welt, d.h. einer Welt, die durch ihren Grofistadtcharakter, ihre Errungenschaften auf allen Wirkungsbereichen, besonders dem der Technik, 'jedoch gleichzeitig durch ihr Bedrohtsein von seiten der Werbung, der Konsumgiiter und der Auto- matisierung des Lebens gekennzeichnet ist 33 34 , scheint die Welt Use Aichingers einer vergangenen Epoche anzugehbren 35 , keiner eindeutig historisch fixier- baren, was aus ihrem Kunstcharakter folgt. Es ist eine vorwiegend landliche und kleinstadtische Welt, der sentimentale Idylle jedoch vdllig fremd ist. Die linneren Merkmale dieser Welt, das verhaltene Grauen, die Bedrohung, die Besorgnis um das So-Sein der Welt und ihre Beziehungs- und Sinn- losigkeit, die Verunsicherung wie auch der Verfall sind es, die den Gegen- wartsbezug herstellen. Im Zusammenhang mit der dargestellten Welt stellt sich die Frage nach lihrer Funktion, die im Falle Use Aichingers nicht als Versuch geseli- schaftspolitischer Aufklarung des Menschen und direkter System- und Gesell- schaftsveranderung, beispielweise im Sinne Brechts, verstanden werden kann. Zum Ausdruck kommt darin »... der mehr oder weniger irrationale, mehr oder weniger elitare Protest gegen die Vervvissenschaftlichung, Okonomisierung des Le¬ bens mit ali ihren Folgen... Er lafit sich in verschiedenen Abwand- lungen von der Romantik iiber den Symbolismus und sein Konzept der reinen, absoluten Dichtung (poesie pure), iiber die Riickkehr zur Bildlichkeit der Sprache in der Lyrik der Moderne, mit Autoren wie George, Rilke, Traki, Benn, bis hin zum Surrealismus und zum Thea- ter des Absurden... verfolgen. Die Antvvort daraus ist sehr verschie- den gedeutetet und bewertet worden: als Flucht aus der Wirklichkeit mit ihren Zwangen und Forderungen (Eskapismus), wie auch als gesellschaftsrelevanter Protest und auf die Wirklichkeit bezogener, von ihr abgehobener Gegenentwurf, als Bewahrung des Moglichkeits- sinns und positiver Utopismus.« 36 Die Utopie der Hbrspiehvelt lise Aichingers ist insofern gesellschaftlich irrelevant, indem die Befreiung von Zeit und Raum und die Entmateria- lisierung, wie sie beispielsweise in G ar e Maritime zum Ausdruck kommt, empirisch nicht verwirklichbar ist. Bedeutsam gesellschaftskritisch und en- gagiert erweist sie sich hingegen sowohl in ihrem Beharren auf der Dar- stellung des Geschundenseins des Menschen und seiner Angste — aber 33 In der Aichingerschen Welt vvaltet die Liebe nur als Beziehung zum Bru- der, zum Kind und zur Familie, nicht als Band zwischen Mann und Frau, als zwischengeschlechtliche Liebe. Dadurch wird die Einsamkeit der Menschen und ihr Ubersehenvverden vom Nachsten intensiviert. 34 In den Hbrspielen der Spatphase lassen sich einige technische Termini nachweisen, die jedoch zumeist schon dem alltaglichen Wortschatz angehoren: z^B. Monteur (A 60), Kaliwerke, Salzlauge (A 75, 77), Heck, Enterhaken (A 119, 35 Darauf verweist auch der haufige Einsatz verschiedener Handvverke und Spiele, in erster Linie in den Gedichten und Kurzprosatexten, jedoch auch in den Dialogen, in geringerem Maš in den Hbrspielen. 36 Walter Weiss, Geschichtliche, gesellschaftlich-politisch-kulturelle Vorausset- zungen und Zusammenhange, in: Gegemvartsliteratur, a. a. O., 22—24, cf. S. 29. 41 auch seiner altesten Traum- und Wunschvorsitellung, der totalen Freiheit als Befreiung von jeglicher Beschrankung — wie auch in dem Aufzeigen und dem insistierenden Problematisieren von Beziehungsstrukturen, zvvischen- menschlichen und den untrennbar damit gekoppelten sprachlichen. Im Werk Use Aichingers, also auch in den Horspielen, miindet alles letzten Endes in der Sprache und in ihren Strukturen. 3. Verdinglichung in den K n d p f e n im Gegensatz zur Entmaterialisierung in den Horspielen der Spdtphase Um die sprachliche Gestaltung dieser Texte zum Teil aufzuklaren, er- scheint es ratsam, sich zeitweilig von der Problematik der einzelnen, jeder Erwartung zuwiderlaufenden Textstellen abzuwenden und eine iibersichtliche Zusammensohau zu versuchen. Da eine solche Analyse notwendigerweise nur mit Hilfe einer starken Simplifizierung der entsprechenden Horspielsitua- tionen durchgefiihrt werden kann, sei auf das komplexe Beziehungsnetz und das heterogene Nacheinander hiingewiesen, worim diese Situation einge- bettet ist, und das nicht wiedergegeben werden kann. Im Unterschied zu den Gedichten und Dialogen werden in den Horspielen bestimmte Motiv- kreise, rthemenartige Sinnfelder wiederholt, variiert und fortentwickelt, ob- wohl, mit Ausnahme der friihen Knopfe, keine jedem Hbrspiel eigene The- matik nachweisbar ist. In der Themaitik der Knopfe und den Aspekten, von denen sie in den weiteren Horspielen Use Aichingers beleuchtet werden, entsteht ein soheinbares Paradoxon: Ann und John wehren sich namlich gegen die Enthumanisierung zu kauflichen Warenobjekten und fiirchten die Aufgabe bzw. Zerstreuung oder Spaltung der Persbnlichkeit 37 , die spateren Horspiele haben hingegen die Entmaterialisierung der Figuren zum Ziel. Die Parteinahme der Dichterin liegt im Hbrspiel Knopfe eindeutig fest; sie unter- stiitzt den einsamen Kampf des Liebespaares Ann und John gegen die feindliche und gleichgiiltige Umwelt. Obwohl Use Aichinger in den spateren Horspielen, den Dialogen und den Prosatexten ilt t re Parteilichkeit zu verber- gen wei.B, lalšt die Wiederaufnahme dieses, auch von Ingeborg Bachmann in ihrem Horspiel Der gute Gott von Manhattan behandelten Motivs und die abschliefienden Repliken des Hbrspiels G ar e Maritime 3 * annehmen, dah sie 37 Die konkrete Verdinglichung des Menschen, der Verlust der Individua- litat und die Selbstdegradierung zu kauflichen Serienprodukten wird durch die Verwandlung der Menschen zu Knopfen symbolisch dargestellt. J8 JOE War ich gut Joan JOAN Als deine Gelenke brachen habe ich dich bewundert Du warst gut Und ich JOE Du warst sehr gut Auch als dein Kleid rifi JOAN Ich glaube Joe wir beide sind gut ruhig Wir sind sehr gut Im Freien Klappern von Holz oder Knochen das riaher kommt JOAN Meinst du dafi wir vorankommen JOE Mir klebt dein Auge zwischen drei von deinen Rippen JOAN Und ich habe eine Fetzen Drilch unter deiner Fufisohle JOE Dein Auge zwickt JOAN Und kommen wir voran JOE Es naftt mich Zwischen deinen Rippen hindurch trant es auf die meinen Doch Joan Ich glaube wir kommen voran (SIV 127) 42 auf Seiten von Joe und Joan steht, den zwei »Helden« dieses letzten Horspiels. Der Widerspruch lafit sich insofern beheben, wenn man isich vor Augen fiihrt, dafi Entmaterialisierung im Sinne lise Aichingers die Aufgabe der »materiellen Existenz« 39 , die Befreiung von den Beschrankungen bedeutet, die die Gebundenheit des Menschen an einen Korper darstellen. Die Ver- dinglichung ist folglich das genaue Gegenteil, es ist das Berauben von allen persbnlichkeitskonstituierenden und das Kbrperliche transzendierenden Werten, d.h. die Reduzierung auf das Rein-Physische. Der Vorgang der Ent¬ materialisierung wird nicht in allen dieser zweiten Phase angehbrenden Hbrspielen Use Aichingers thematisiert; wenn auch auf diesen Prozefi nicht ausdriicklich hingevviesen wird wie in Gare Maritime, in dem es auch den Grofiteil der »Handlung« darstellt, so lafit sich die materielle Gestalt detr Personen auch in den anderen Hbrspielen nie so recht ausmachen. Wie sich Zeit und Raum schon seit dem Besuch im Pfarrhaus als zeitvveise irrelevant erweisen, so verwandeln sich die Figuren nicht zu geistigen Wesen, zu Per¬ sonen mit reichem Innen- und karglichem Aufienleben, wie man sie im Hbrspiel der fiinfziger Jahre vorfindet 40 , sondern zu ambbenhaften, veran- derlichen, oft dinghaften, jedoch in ihrer Gestalt niemals ganz undifferenzier- ten Stimmen, die halbreale »Hbrraume« bevblkern. Sie unterscheiden sich auch grundlegend von den Stimmen des Neuen Horspiels, denn, mit den Worten Burghard Dedners: Die Personen des Horspiels werden reduziert auf Rollentrager — etwa Einsager, Frager und Gefragte in Handkes Hbrspielen — oder auf Stimmen, die beliebig mit Buchstaben benannt werden kbnnen. »Diese Stimmen«, so schreibt Jiirgen Becker zu seinem Hbrspiel HAU- SER (1969), »sind anonym und vervvechselbar in der Identitat«.. .41 Die Figuren Use Aichingers sind primar auch nur Stimmen, jedoch sind sie nicht anonym. Sie bleiben subjektgebunden, sind selbst Subjekte, wohl keine psychischen wie im Hbrspiel der fiinfziger Jahre, jedoch Subjekte mit vvechselnder Gestalt, eben keine »Sprecher von Zitaten« wie im Neuen Hbrspiel. 4. Besuch im Pfarrhaus: marchenhafte Figurendarstelhmg und Perspektivenvielfalt Die Art, wie die Figuren im Hbrspiel Besuch im Pfarrhaus gezeichnet werden, erinnert an das Marchen. Es besteht kein Zvveifel, dafi es sich bei allen Stimmen des Personenregisters noch um Menschen handelt; zu diesen werden natiirlich sowohl der sprechende Denkmalsoldat wie auch die vom Himmel gefallenen toten Flieger gezahlt. Die Flachigkeit der Men- schendarstellung, die Motivationslosigkeit ihres Wiinschens und Handelns, die Selbstverstandlichkeit, mit der Statuen und Tote sprechen und keine Verwunderung daruber aufkommen lassen, die Isolation der Figuren und schiliefilioh die Episodenhaftigkeit und Zusammenhanglosigkeit des Hand- 39 Heinz Schafroth, Die Dimensionen der Atemlosigkeit, in: SIV S. 133. 10 vgl. Schwitzke, Das Hbrspiel, a. a. O., S. 196. “ vgl. Burghard Dedner, Das Hbrspiel der fiinfziger Jahre und die Entvvick- lung des Sprechspiels seit 1965, in: Die deutsche Literatur der Gegemvart, a. a. O., 128—147, cf. S. 136—137. 43 lungsgesohehens, das alles sind Merkmale, die Max Liithi als fiir das Marchen charakteristisch anfiihrt. 42 Sie lassen sich gleichfalls auf das Horspiel Besuch im Pfarrhaus anwenden. Edn bedeutender Unterschied besteht jedoch darin, dafi die Marchenhelden vorwiegend handeln, wahrend diese Horspielfiguren sprechen, Uberlegungen anstellen, sich angstigen, rasonnieren und (meist rational unmotivierte) Gefiihlsregungen zeigen. Grundlegend und dem Wesen nach verschieden sind die Funktionen der beiden Gattungen: »Bei volliger Unkenntniis liber die vvirkenden Zusammenhange« 43 versichert das Marchen dem Menschen, dafi er in sinnvollen Zusammenhangen steht. Im Werk Use Aichingers wird folgerichtig der Eindruck eines Smngefiiges, einer Welt, in der alles in Ordnung ist, vermieden. Zusatzlich zu diesem marchenhaften Charakter der Horspielfiguren scheint die dargestellte Welt durch die kindlich-phantastische Sehweise der zwei Hauptpersonen, eben zvveier na- menloser Kinder, bestimmt zu sein. Kinder und Kindern Zugehoriges, ihre Spiele, vor allem aber ihre besondere, das Naturgesetzliche und Rationale mifiachtende Denk- und Sehweise nehmen in den Horspielen ebenso wie im Gesamtwerk lise Aichingers eine besonders bedeutende Stellung ein. Die beiden Kinder aus Besuch im Pfarrhaus erzahlen dem Pfarrer ihre Sonn- tagserlebnisse, wahrend er ihnen seine Besorgnis um das Schwarzwerden der Sonne kundtut, wogegen er mit Bienenstocken, Sand und einer blank- geputzten, ungeladenen Kanone gefeit zu sein hofft. Bekiimmert ist er auch wegen der wachsenden Zahl der W61fe, gegen die ihm die Kinder eine Hecke pflanzen (A 9, 11). Im Horspielverlauf nehmen Perspektivenvielfalt und -wechsel parallel zur Heterogenitat der Elemente immer mehr zu. Im Anfangsgesprach der Kinder mit dem Pfarrer und bei ihrem Besuch bei der Bootsverleiherin wird die ungewbhnliche Folge des Erzahlten (A 14), die sonderbare Motivierung der einzelnen Elemente (beispielsweise das surrealistisch anmutende Kroko¬ dil im Norden und das Vorhaben der Bootsverleiherin, es auf die Wiese zu legen, um auch im Juni ihren Augen etwas Griines zu bieten) und die Verschmelzung von Real- und Spielwelt, die zum Beispiel in der empirisch- unmoglichen Bitte der Bootsverleiherin, die Kinder mogen ihre Boote falten, zum Ausdruck kommt, zunachst von der kindlichen Perspektive bestimmt, aus der erzahlt wird. In den nachsten Sequenzen, im Dialog zvvischen dem fiisiiienten Soldaten, der als Denikmal in der Landschaft steht und sein Hemd verkehrt tragt, wie auch im Gesprach der vier toten Flieger gelangen Wirklichkeits- und Spielebenen zu volliger Verschmelzung. Im Abschnitt liber die radiophonischen Aspekte der Horspiele Use Aichingers wird genauer expliziert, wie verschiedene Zeitebenen, Horraume, Erzahlperspektive und Spielebenen bis zu vollkommener Integration ineinander geblendet werden. 44 Gegen Schlufi des Horspiels, beispielsweise im Gesprach Pfarrer-Lisbeth- Dame (A 27/28), steigert sich die Heterogenitat der Elemente bis zu einem solchen Ausmafi, dalš die Gesprache um ratselhafte Bezugsobjekte zu kreisen scheinen, die konsequent auch jede metaphorische Eindeutigkeit ausschlielšen. Nimmt man an, dali die gegen Ende zu anvvachsende und intensivierte Dis- paritat der Elemente im Horspiel eine durch die Sprachdynamik, d.h. die Max Liithi, Das europaische Volk.smarch.en, Form und Nesen, Bern/Mlin- chen, 1968 (1947), cf. S. 13ff, 56, 10, 38ff, 37 43 ebda., S. 86. 44 vgl. die Anmerkungen 66, 67, 68, 70, 71. 44 sprachjliche Haufung, wiedergegebene Spiegelung der Miidigkeit der Kinder, ist, die Schilderung etines Bewufitseinszustandcs, so ergibt sich der Hbrspiel- schlufi, das Einschlafen der Kinder (auf drei Wirklichkeits- und Spielebe- nen) 45 und damiit das Ende jeglicher Kommunikation, als logische Folge dieser psychischen und sprachlichen Bewegung. Im Gegensatz zum Horspiel- inneren, vvorin einzelne Abschnitte weder logisch noch asthetisch oder asso- ziativ motiviert scheinen, so dafi einige Abschnitte wie Marchenepisoden austauschbar anmuten, stehen alle Horspielschliisse, mit Ausnahme von Nachmittag in Ostende, abgerundet in einem gewissen logischen Zusammen hang mit dem Hbrspiel selbst, so die Auflosung der Fiktionswelt in Die Schwestern Jouet, das Ende des Friseurbesuchs in Auckland und das In- Den-Abfall-Wandern Joans und Joes in Gare Maritime. Das Thema der Verunsicherung und scheinbar grundlosen Angst, das schon in den Anfangssequenzen des Hbrspiels anklingt, wird auch vom Vier- ten Flieger geaufiert, der als einziger Namen und Lebenslauf besitzt und deshalb vom Himmel unerkannt zu bleiben fiirchtet, spater auch von Holger, der seinen mutlosen Kameraden grundlos erschlagt {A 17—27). Bedrohung durch anonyme Machte, existenzielle Angst, bricht in allen Horspielen zeit- weise hervor — sie ist irrational, vom Kontext nichit motivierbar, in ihrer Darstellung von den Besohreibungen psychoitischer Angstzustande durchaus verschieden; die Mittel, mit denen die Figuren dagegen ankampfen, bleiben ratselhaft. Man empfindet Angst, wenn auch in den Hintergrund gedrangt und manchmal vergesisen, als immer gegenwartig, oft als momentane Un- sicherheit der Figuren, die sich in Text und Intonation ausdruckt. Dieser Kreis verbindet alle fiinf Horspiele der Spatphase. Die vier Figuren Jason, Simplizius, Louisa und Beatrice im Horspiel Nachmittag in Ostende fiihlen sich von den ubrigen Kurgasten angegriffen und wehren sich mit »Reden« (A 61). Die von Rosalie erfundenen Lebewesen (Die Schwestern Jouet), allen voran der Kannibale Samson, stellen eine Gefahr fur ihre Schbpferin und ihre zwei Schvvestern dar, bis sie gleichzeitig zum Verschwinden gebracht werden (A 85, 112). Das letzte Hbrspiel (Gare Maritime) schildert die Bedro¬ hung Joes durch den BlockschlieBer Pedro, dann durch die Schulklasse im Museum, die Inspektoren und schliefilich durch den Museumswarter, der die zwei zu einer Art schabigen Puppen oder Marionetten gewordenen Helden kaputtschlagt und wegfegt. 5. Nachmittag in Ostende: Identitdtsundifferenziertheit als Vor- stufe zur Entmaterialisierung Wesenhafte Unsicherheit der Identitat, Austauschbarkeit und Wechsel- haftigkeit der kbrperlichen Erscheinung charakterisieren die vier Stimmen- des Hbrspiels Nachmittag in Ostende. Simplizius, eine der zwei mannlichen 45 Beim Erzahlrahmen beginnend verlaufen die drei Wirklichkeits- bzw. Spielebenen folgendermafien: — das Einschlafen der Kinder im Zimmer des Pfarrhauses »PFARRER Schlaft jetzt nicht ein, ihr Kinder!« (A 33). . — in der Erzahlung des Pfarrers bzw. der Kinder »ERSTES KIND So fielen wir in Schlaf.« (A 32). — das Einschlafen der Kinder auf den Dimen, das mit einer Riickblende vergegenwartigt wird: »Im Freien... ERSTES KIND immer schlafriger Ich hatte gerne noch etwas Krickett gespielt...« (A 32). 45 Stimmen, beschrieben als »einer ..der nich,t hierher gehbrt... Geschmeidig, biegsam, feucht, glatt, tut so ,als, ... Lang, geschmeidig, nafi, mit verbeulten Knien ...« (A 37), etwas spater als »Ein Held .. .« (A 38). »Simplizius, diesem Maultauscher, der immer ohne sich kommt, zum mindesten hierher...« (A 39) »Ein oder Geist...« (A 40) weht schliefilich, in den Regieanweisungen als hbrbarer »Windstofi« (A 44) angegeben, vor Jason her, um ihn mit Bea- trice Kalugha, der Kasinodame, bekanntzumachen. Jason, dessen abgerissenes Mantelfutter von Beatrice Kalugha angenaht werden soli, wird kaum cha- rakterisiert. Parallelen oder Ahnlichkeiten mit seinem Namensvetter aus der griechischen Sage vom Goldenen Vlies sind viel undeutlicher und vager als der Bezug Simplizius’ zur Romanfigur von Grimmelshausen. Immer wie- der, schon zu Anfang des Hbrspiels, wird auf die Verwandschaft der beiden Simplizius angespielt, jedoch auf Art Use Aichiingers, nur indirekt durch wiederholte Nennung und Weiterentwicklung bestimmter Assoziations- und Konnotationslkreise (A 38, 39, 41—42,)*’ Simplizius wird zuvveilen derart ent- materialisiert, dafi von ihm »Nur ein Abdruck in Samt« (A 50) iibrigbleibt. Jason ispielt die Rolle eines Fragers, Kommentators und Dialogpartners, der die anderen zum Reden bringt. Das Ungewbhnliche seiner Repliken und des gesamten Hdrspieiltexts liegt in der Alogik der Satz- und Gedankenverbind- ungen, die den Eindruck von zusammenhangloser Sprunghaftigkeit enveckt. Schon zu Anfang des Hbrspiels, in den zwei langeren Reden Jasons, vor allem in der zvveiten, wird dies sehr deutlich zum Ausdruck gebracht: JASON Jetzt ist er stili, aber ich lasse ihn nicht. Ich will es wissen. Was geschah dann? Wie war das mit den Pokalen oder war es Bleistiftstaub, und als die Morgendammerung heraufstieg, was geschah? Was habt ihr hinterher getrunken? War es Wein oder Mbrtel? Und wer hat die Epikuraer gelesen und wurde darin unterbrochen und bugsierte den Meineidigen hinaus und nahm ein Boot, nahm ein Boot? Hbren Sie? Oder war es eine Kinderuhr? Und schleuderte sie gegen die Haustiir? Tat ers, tat ers nicht? Aber ich sage ihnen, daran erkennen Sie sie, sie nehmen die Boote. Das ist eindeutig. Wenn Sie hbren ICH BLIES DIE FLOTE oder ICH FING MUCKEN oder ICH GING VON A NACH B, wissen Sie einiges. Wenn Sie aber hbren ICH NAHM EIN BOOT, dann vvissen Sie alles. (A 38). Trotz der genauen Angabe, Beatrice Kalugha sei Simplizius Bekannte, eme Kasinodame und »Eine Belgierin. Kennt zwei englische Dichter. Raumt manchmal auf.« (A 44) wird zwar nicht Beatrices menschlliche Gestalt, jedoch ihre reelle Existenz in Frage gestellt, d.h. die Mbglichkeit ihrer Fiktivitat angedeutet: SIMPLIZIUS grob Beatrice! Es hallt JASON Wann haben Sie sie erfunden? SIMPLIZIUS bissig An einem dreiundzwanzigsten Dezember gegen sechs, als ein Landwehrmann vor metnem Fenster auf und abging. Meinen Sie, ich erfinde? Ich bin nicht Sie (A 45). n Horspiel Gare Maritime kann man den Figurennamen Joan mit der »Betreierm« Jeanne d'Arc in Zusammenhang bringen. Ebenso mufi auf die Bedeu- tung des Famihennamens Jouet (Die Schwestern Jouet) hingewiesen werden, wobei sowohl die Nominal- wie auch die Verbalbedeutung (Spielzeug und spielen) in rrage kommt. Ahnliche Funktion wie die Figurennamen literarischer oder histo- rischer Provemenz tragen genaue Orts- und Zeitangaben: sie dienen nicht zur Onentierung sondern zur zusatzlichen Verratselung. 46 Die zweite weibliche Stimme, Louisa, erwahnt einige Male menschliche Verwandtschaftsverhaltnisse (A 50), lafit sich als Hilfskellnerin amverben (A 55) und doch ist sie durohaus fahig, ihre physische Form zu verandern: LOUISA atemholend Hier ziehe ich mich leicht hoch. Hier verlangere ich mich sogar, wenn es nicht anders geht. Und meine beriihmten Stirnknochen beginnen noch zu Vvachsen. JASON Noch starker, Louisa? Das Langliche war niemals deine Starke. (A 54). An gewisscn Stellen spricht sie von sich, als ware sie eine windartige Erscheinuing (A 51, 53, 55), was durch ihr kbrperloses Kommetn und Gehen bzw. Entschwinden (A 48, 61) noch bekraftigt wird, wahrend sie an anderer Stelle die Mbglichkeat einer Dingexistenz als Boot erwagt (A 40). Identitatsundifferenziertheit, die als Ausdruck einer totalen Negierung der traditiionellen Auffassung von Persbnlichkeit und Charakter anzusehen ist, resultiert einerseits aus einer allgemein menschlichen Unsicherheit an- gesichts der Undurchschaubarkeit und Relativitat des gegenvvartigen mensch¬ lichen Daseins und fiihrt andrerseits, als Vorstufe, zur erwiinschten Ent- materialisierung, die im Hbrspiel Nachmittag in Ostende durch den Einsatz von Motiven akzentuiert wird, die sich ispater in anderen Hdrspielen und Kurzprosatexten wiederholen. Als Beatrice Jajson von der Angewohnheit des Simplizius unterrichtet, nur dann auszuatmen »Sobald er Lust hat.« (A 48) wiid man an Joans Fahigkeit in Gare Maritime erinnert, das Atmen ganzlich zu unterlassen. Louisas Wunsch, gewisse Handarbeitsmuster zu vergessen, klingt im Gedicht Kartenspiel (VR 27) an. Die symbolische Bedeutung der einen wie der anderen Handlung ist trotz des bizarren Motivs so eindeutiig wie das Aufessen der Namen im Text Ajax (NT 187). Im Vergleich dazu tragt die Unauffindbarkeit der »wahren« Verkbrperung des »Tigers Jussuf« im gleichnamigen, 1952 entstandenen Hbrspiel Giinter Eichs den Charakter eines durchschaubaren Phantasiespiels. 47 47 Die Uberzeugung, dah in jedem Menschen ein »Tiger Jussuf« steckt, wird m ein kompliziertes Spiel transformiert, das vor allem die besondere Eignung des Motivs fiir den Rundfunk und die souverane Beherrschung radiophonischer Mittel in den Vordergrund hebt. Es wird also primat nicht der Identitatsverlust illustriert. Die Identitatslosigkeit der Figuren im Hbrspiel Ingeborg Bachmanns Der gute Gott von Manhattan wird in ihrem Symbolcharakter in das Svmbol- gefiige des Hbrspiels integriert, wobei es sich als dominierender Aspekt des Hbrspiels erweist. Die Verwendung sinnentleerter Redefloskeln und Konversa- tionsformeln, die Montagen schon vorgefertigten Sprachmaterials wie Reklame- spriichen, Teilen von Zeitungsnotizen, Schlagzeilen, paradigmatischen Grammatik- satzen, wie sie im Neuen Hbrspiel eingesetzt werden, verstehen sich in ihrer Identitatsnegierung als Protest gegen gesellschaftliche und politische Zustande, die sich in der Sprache aufiern, ein Kunstmittel, dessen sich Use Aichinger nicht bedient. Ahnlich lafit sie ihre Figuren in kein scheinbar endloses, absurd-banales Geplauder ausbrechen, so wie es Samuel Beckett und Harold Pinter haufig in ihren Stiicken tun. Trotz dieses Unterschieds lassen sich Parallelen zwischen den Werken der absurden Autoren und Use Aichingers ziehen. Samuel Becketts Hbr¬ spiel Words and Musič verdient gerade in diesem konkreten Zusammenhang ge- nannt zu werden, denn die Kbrperlichkeit seiner Stimmen gemahnt an die Figuren der Aichingerschen Horspiele. Zwei Bereiche vermischen sich darin bis zur Ununterscheidbarkeit: jener als Stimmen Joe und Bob (Worte und Musik) konkretisierte begriffliche und jener, der Beziige zur menschlichen Existenz- weise, Erlebniswelt und zu typischen Gefiihlsreaktionen herstelt. — vgl. Keckeis, a- a. O., S. 50. 47 6. Die Schw estern Jouet: totale Fiktion durch magische Verwortung Die allgemeine, alle Aspekte durchziehen.de Verunsicherung wird im Horspiel Die Schwestern Jouet noch um eine weitere Dimension erweitet. Die dichterische Welt wlrd namlich bewuEt als Fiktion dargestellt. Den drei Kategorien Raum, Zeit und Korper bzw. Existenz wird schon 'seit Nachmittag in Ostende ihre mimetische weltschdpferische Rolle entzogen, vvahrend eine cinheitliche Perspektive, herkommliche Motivationssysteme und der die verschiedenen Elemente in ein eindeutiges Sinnganzes zusammenfassende Handlungsfaden schon seit dem Horspiel Besuch im Pfarrhaus fehlen. Die Aufgabe des Handlungsfadens erfolgt in mehreren Stufen, beginnend bei Besuch im Pfarrhaus, fortgefiihrt iiber Die Schwestern Jouet und Gare Ma- ritime und endend bei Nachmittag in Ostende und Auckland, jenen beiden Horspielen, bei denen selbst der Ausdruck »Handlungsfragmente« unzutref- fend scheint. 48 Der Hinweis auf die Fiktivitat eines bestimmten Textes bzw. seiner dichte- rischen Welt fiindet in der neueren Literatur haufig Anwendung, weil sich dieses Kunstmittel besonders eignet, bestimmte bedriickende Aspekte der ontologischen Situation des gegemvartigen Menschen auszudriioken. 49 Der Darstellung einer Potenzierung von Ausweglosigkeit und Ohnmacht auf der einen Seite, einer Relativitat allen Seins und der Unmoglichkeit einer sicheren Wahrheitsfindung auf der anderen Seite und der Verbindung dieser beiden Problembereiche mit der Thematisierung der Verwobenheit sozialer Konflikt- situationen mit sprachlicher Ausdrucksweise wird unter den Funktionen der Fiktivitat der dichterischen Welt in der Nachkriegsliteratur der Vorzug gege- ben. Dieses Thema der Fiktivitat mit ihren Funktionen wird im Werk Frischs, Johnsons und Christa Wolfs eingesetzt 50 , es verbreitet sich vor allem bei zahlreichen Autoren, die einerseits Literatur als Kunst, ihre Gattungen, Kunst¬ mittel und Funktionen in Frage stellen, andrerseits das Sprachliche, in erster Linie die Sprachmechanismen und ihre sozialen Implikationen thematisieren. Zusatzlich zu dieser Grundauffassung, die im Werk Use Aiohingers eher immanent vorhanden ist als durch konkrete Textstellen belegbar 51 , nimmt das Gesohehen in ihrer fiktiven und sich ihrer Fiktivitat bewufiten Welt manchmal Spielcharakter an, die Figuren weisen die Denk- und Fiihlweise spielender Kinder auf, die sich einerseits eine Welt erschaffen (vgl. dazu den Kurzprosatext Das Bauen von Dorfern, NT 70) und sich deren Kunsit- lichkeit bevvufit bleiben, andrerseits von der aktiven Welt derart in Bann gezogen werden, dafi sie darin wie in einer wirklichen agieren. Typisch fiir 48 vgl. Fischer, a. a. O., S. 159. — Keckeis, a. a. O., S. 25, 65—73. 45 vgl. Gerhard F. Probst, die thematisierung der alteritat als hineinnahme rezeptionsasthetischer prinzipien in die erzahlstrategie — Illustriert an Uwe John¬ sons »Mutmafiungen liber Jakob«, Wirkendes Wort, XXIX (1979), 232—242, cf. S. 233ff. Haslinger, Verfahrensvveisen und Techniken im Erzahlen, in: Gegenwarts- literatur, a. a. O., 64—77, cf. S. 67ff. Spinner, a. a. O., S. 620. 50 vgl. Anmerkung 2 und: Wolf R. Marchand, Mein Leben sei Gantenbein, m: Uber Max Frisch, Frankurt/Main, 1971, 205—234, cf. S. 205ff. 51 Was Use Aichinger thematisiert, ist das Dichterische selbst, die Besin- nung auf Poetisierung und auf lyrisches Schaffen, wobei es sich nicht um die Darstellung des Schaffensvorganges handelt, sondern um den Ausdruck des Kunst- wollens der Dichterin. 48 die Darstellungsweise Use Aichingers ist der standige Perspektiven- und Dimensionswechsel zwischen diesen beiden Welten. Der Wirklichkeitsan- spruch des Fiktiven und der fiktive Charakter des Wirklichen, die als unzer- trennlich und gleichwertig nebeneinander gestellt vverden, ist ein Zug, der die Dichtung Use Aichingers mit der Literatur der Gegemvart verbindat. 52 Deutlich, veranschaulicht wird dies im Horspielschlufi der Schwestern Jouet, im tragiischen und unidramatischen Verschwinden der »erfundenen« Schwestern Josepha und Anna (A 112), das sowohl das Schbpfertum wie auch die reelle Existenz Rosalies bezweifeln lafit. Auf kindlich-naive Weise, philosophische Abstralktionen vermeidend, sym- bolisieren die drei Schwestern drei Menschentypen und Welthaltungen in ihrer Widerspruchlichkeit: Rosalie, der kreative, aus innerer Notwendigkeit schaffende Geist (A 78 ff), die Fragerin und Zweiflerin Josepha (A 77—78), Rosalies Gegenpol (A 99), die die Rucksichtslosigkeit Rosalies in der Aus- iibung ihrer Erfindungsgabe anprangert (A 75) und immer wieder auf die Gefahr deutet, die das Erfundene fiir den Erfinder und die iibrige Welt darstellen kann (A 85). Anna stellt das Verbindungsglied zwischen den beiden Extremen — dem kreativen und dem kritischen Pol, der synthctischen und analytischen Sicht — dar, jenen Menschentypus, der in seinem Wunsch, das Unvereinbare zu versbhnen, von jenen, die ausgepragte Eigenschaften und Meinungen besitzen, immer als mindervvertig abgetan wird — was nicht nur in der jungsten Schwester (A 92) zum Ausdruck kommt, sondern auch in der Diminutivform »Annchen« (A 95, 101). Von Rosalie, die sie bewundert (A 79), ignoriert, von Josepha wegen ihres absurden Varhabens kritisiert (A 79) und trotzdem standig die eine Schwester gegeniiber der anderen verteidigend, schatzt Anna sich selbst, ohne geheuchelte Bescheidenheit, und ih ( re Schwe- stern richtig ein: ANNA In einer Beleuchtung, die dem Wiistenrand nicht zusteht, an einer Kiiste ohne See, vor weggeschafften Tempelfassaden und nach einem Autobus unterwegs, der vielleicht schon gegangen ist, nehme ich mich doch besser aus als meine erleuchteten Schvvestem. ANNA Meine Her- und Wegschafferinnen. Die alles leichter erlernt haben als ich, das Markenkleben und den Walfischfang, mit vveifien Hiiten im Gischt untervvegs, begeistert, von den west- lichen Sprachen angeregt, die ich nie verstand, in Streitgespra- che verwickelt, die mir nichts bedeuteten. Hier bin ich mehr, hier kann ich hoflich sein, geneigt wie alle, die nicht mit- kommen, hier bin ich Anna (A 101—102). Rosalies Aktivitat wird vveder motiviert noch ist sie ziel- oder profit- gerichtet; die Griinde fiir den Anfang der Ausubung ihrer Erfindungsgabe sind unlogisch: Weil Josepha grofitat, weil die Sonne schien. (A 92). Sie gehbrt jener Menschenart an, die die Welt, wie sie ist, nicht ertragt, sondern sie standing verandert, sich selbst und den eigenen Wiinschen und 52 vgl. Spinner, a. a. O., S. 620. 4 Acta 49 Vorstellungen anpassen mufi, wahrend Josepha das Gegenteil vorzieht, eine WeHt ohne Auschmiickung: Aber merke dir eins, Rosalie, mir ist alles lieber ohne deine Erfin- dungen. So wie es ist. Auch die Beulenpest. (A 90). Sie weist durch ihre Fragen nicht nur auf die Sinnlosigkeit von Rosalies Erfinderei hin, sondern vor allem auf die Gefahr, die von den Folgen von Rosalies Uniiberlegtheit und Planlosigkeit zu ervvarten sind: JOSEPHA Fiir uns ware es jetzt gut, wenn wir Angst hatten. Angst, Angst, Angst, genug Angst und noch mehr Angst vor unserer Schwester und vor ihren Planen... JOSEPHA Was hast du mit uns vor, Rosa? Willst du Seilereien fiir Stričke am unteren Kiistenstreifen erfinden? Oder Webereien fiir Seiden- bander, die uns den Hals abschniiren sollen? Kanus, die nicht ausgelotet sind, fiir die beriihmten Spazierfahrten, ein Stickstoff- werk im Osten mit dem dazugehbrigen Westwind? Womit wirst du die allmachtige Natur noch bereichern? Mit zu lang gerate- nen Alligatoren, einer jungen Seuche unbekannter Herkunft? Willst du einer neuen Art der Flufiwirbel auf die Spriinge hel- fen? (A 86/87). Die erfundene Welt Rosalies ist ahnlich beschaffen wie die Figuren in den Aichingerschen Horspielen, Gestalten, die nur zeitweilig menschliche Ziige tragen und menschliche Beziehungen aufrechterhalten (A 91), sonst aber von disparatesten Elementen konstituiert werden, es ist eben diese Welt, in der dem Fiktiv-Erfundenen und dem Wirklich-Existenten gleiche Bedeutung zukommt, wie es Josepha und Anna in einer litaneiartigen Auf- zahlung gegen Horspielende behaupten: ANNA und Wir werden recht behalten. JOSEPHA Wir, die iiberfliissigen Botschafter, Mitglieder einer kiinstlichen Navy, ungebrannt, ungeschoren, Wir, die Abholerinnen und Marktgangerinnen, unerheitert von den aufgeplatzten Gedarmen, der niederen Arten, wir, die unerheblichen Anbauten an die Kindergarten der Sektierer, Rosetten, Abteilungen, Mortelstriche, wir erretteten Kleinen, die im Schalenberg das Ende suchten, aber keine Niisse ... ANNA und Wir Tempelfassaden aus Luft, JOSEPHA wir benannten und unbenannten Gesprachspartner, aufgelosten Autobushaltestellen, unbefragten Teile der zweiten John Donne-Ausgabe und so fort. Wir erfundenen Schwestern — (A 108/109). Sie list keine selbstandige Vorstellungswelt, in die man sich zuriickziehen komite; sie lafit kein abgerundetes BUd entstehen, denn lin den Durchblicken und Teilansichten, in denen Einzelheiten die Beschreibungen beherrschen, verschmilzt Empirisch-Vorstellbares mit Explizit-Fiktivem, das alle Natur- gesetze mifiachtet, und Empirisches, das zu Fiktivem erklart wird, wie bei- spielsvveise die Hafenstadt Cannes, die Rosalie fiir den kleinen, zukiinftigen Seemann Bergson Paul noch zu erschaffen vorhat (A 84). Die Zusammen- hanglosigkeit und Alogik der Elemente, aus denen diese Welt zusammen- 50 gesetzt ist, steht im Gegensatz zur scheinbaren Selbstverstandlichkeit des Geschehens, zum Zurechtfinden und zum guten Einvernehmen der Hbrspiel- figuren, also der drei Schwestern zueinander, die keine Kommimikations- schwierigkeiten zu haben scheinen; sie ist ein allgemeines Merkmal vieler Texte lise Aichingers. Das Hbrspiel Die Schwestern Jouet illustriert weiters die wechselseitige Abhiingigkeit und Beeinflussung des Sprachbildes und des Weltbildes, also von Sprache und Denken. 53 Der Spraohe wird darin eine an Magie grenzende Kraft verliehen, die Materie und Welten zu erschaffen und wieder wegzu- schaffen vermag: JOSEPHA Ich meine kaum sagt sie es, stapelt es sich schon auf... (A 75) ANNA Wenn wir sagen ANNA und JOSEPHA KOMM WIEDER! Im Freien, Brausen ROSALIE Wie? Ich verstehe dich jetzt nicht. Nein, falsch, falsch. Aber du mufit den dritten Fali nicht mehr finden. Keinen Ganserichen. Die See ist zuriickgekommen. Und meine Schwestern, meine Schwestern — Das Klirren von Samsons Schwertern Sie sind fort, Samson. (A 112). Sie wird befahigt, nicht nur Physisches entetehen zu lassen, sondern wird auch als Abwehrmittel eingesetzt. 54 Rosalie lafit den sie bedrohenden Kan- nibalen Samson schwierige Vogelnamen deklinieren (A 111). Die Fahigheit zur Materialisierung und Verlebendigung, die im Gegensatz zur Entmateriali- sierung der Figuren, des Raums und der Zeit steht, ist nicht nur eine Eigen- schaft der Sprache, sondern iiberhauipt alles Artifiizieill-Geschaffenen, wie es schon im Horspiel Besuch im Pfarrhaus in der Zweideutigkeit des Wortes »Sandmannchen« (A 31) 55 zum Ausdruck kommt. 7. Auckland: Parallelen und Unterschiede zum Neuen Horspiel Der Unterschied zwischen den Hdrspielen Use Aichingers und dem Neuen Horspiel lafit sich am besten am Horspiel Auckland ablesen, das dem Neuen Horspiel in mancher Hinsicht am nachsten steht, ohne die Eigenart der Dar- stellungsweise Use Aichingers aufzugeben. Das »Gesprach« der zwei Matrosen, jenes der St. Ouentin und jenes aus Frisco, und des Missionars, in dem ausschliefilich Erinnerungsfetzen aufscheinen, wird von Vau und We zerlegt, variiert, in Frage gestellt, vemeint, an anderer Stelle wieder aufgenommen und in einen neuen Kontext versetzt. Aus dem Personenverzeichnis erfahrt 53 Walter Weiss, Die Literatur der Texte und die Problematisierung der her- kommlichen Gattungen I, in: Gegenwartsliteratur, a. a. O., 112—128, cf. S. 112ff (Walter Weiss hebt in diesem Zusammenhang die Bedeutung Ludwig Wittgen- steins hervor.) 54 Schon Simplizius, Jason und Beatrice (Nachmittag in Ostende) verteidigen sich gegen die drangenden, aggressiven Gaste mit: SIMPLIZIUS ... Reden, reden! JASON Sie drangen uns ins Wasser. BEATRICE stammelnd, immer neue Satze beginnend.. . (A 61). 55 Aufier der Zeichnung im Sand bezeichnet es atich jenen Zwerg, der Kin- dern wunderbaren Sand am Abend in die Augen streut, um sie einzuschlafern und ihnen schbne Traume zu schenken. 4* 51 man, »Die niicht bezeichneten Teile des Textes werden von Vau und We abwechselnd geoprochen.« (A 113). Es fehlt jede Interpunktion, Satzanfange werden meist, jedoch nicht immer, mit Grofibuchstaben kenntlich ge- macht. Dieses Kunstmittels bedient sich Use Aichinger auch im letzten Horspiel Gare Maritime. Der Wechsel wird zwar durch neuen Zeilenan- fang und Grofibuchstaben gekennzeichnet, doch manchmal lafit sich die Zugehbrigheit zum Sprecher nicht fixieren, die Bedeutungseinheiten werden namlich, hin und wieder auf zwei Stimmen verteilt. 56 Elliptischer Satzbau beherrscht die Sprache des Horspiels: aufier umgangssprachlichen Auslassungen von Satzteilen, wie siie bei Fragen, Ver- neinungen, Ausrufen u. a. iiblich sind und solchen, die vom Kontext gerecht- fertigt erscheinen, weil sie sich auf eine kurz vorhergehende oder sofort nachfolgende Aussage beziehen, wenden zuvveilen nur einzelne Satzteiie wie- der aufgenommen und attributartig erweitert, manchmal Satze nicht be- endet, nach einigen Worten wieder fallengelassen, haufig bevor der Sinnkern des Satzes genannt wird: Ich bin ein Friseur Ausgebildeter Friseur Soli er voran Voraus Der Friseur soli voraus Friseure her Wo ist der aus Frisco Meldet sich nicht mehr Er stand vorhin neben mir erzahlte mir etvvas von irischen Fratres einer einge- rollten Flagge Ein kleiner schabiger Das war er Ein kleiner schabiger nichtsnutziger Vielleicht ein Ire Aus Frisco...« (A 115/116). Die daraus folgende Sinn- und Zusammenhanglosigkeit des Ausgesagten wird durch die ungew6hnlichen, unzusammenhangenden »Gesprachsstoffe« noch verstarkt. Der Matrose aus Frisco will scheinbar eine Geschichte uber ein aufzurollendes Fahnentuch zum Besten geben (A 117), wobei man uber ihren Wahrheitsgehalt oder ihjre Fiktivitat im Unklaren bleibt (A 127), er erwahnt dabei immer vvieder Thackeray (A 125) und Deckstiihle (A 119), der Matrose der St. Quentin scheint von seinem vergangenen Geburtstag (A 118), Bordwebereien (A 136) und einer Rothaarigen (A 128) vollkommen in An- spruch genommen, wahrend der Missionar, der im Unterschied zu den ande- ren Figuren meist in ganzen, verstandlichen Satzen spricht, jedoch der Vergangenheit anzugehoren scheint (einmal wird das Jahr 1853 erwahnt, A 125), Fragmentarisches uber das Leben in Missionsstationen erzahlt. Unter- brochen werden diese Erinnerungen vom Kind, einem Madchen, das unbe- dingt wellenreiten mbchte (A 125), zwischendurch jedoch einschlaft (A 143). Den kompositionellen Rahmen, eine formale Gliederung in Abschnitte und den AbschluB des Horspiels, besorgen ganz kurze Repliken zwischen einer “ MISSIONAR Mit den Ausnahmen die es iiberall gibt Prozentual Bruchteile Teilchen (A 129). 52 Frau, die beim Friseur unter der Trockenhaube sitzt, und Jose, dem Friseur. Durch Vaus und Wes Repliken, die sozusagen als »Publikum« dienen und veranschaulichen, wie das schon von den Erzahlern inkoharent geschil- derte Material durch Zuhorer »zerstreut«, weiter deformiert, assoziativ erganzt und mit Fremden gekoppelt wird, entsteht als mogliche Raum- vorstellung eine Hafenkneipe irgendvvo am Pazifik, am Pazifik deshalb, weil aufier des Horspieltitels Auckland immer wieder Frisco, eine Mis- sionsstrafie und Pfeilspitzen, also der Westen Nordamerikas, erwahnt wird. Die Projektion verschiedenster Zeitebenen auf einen artifiziellen Zeitpunkt, ein ahnliches Ineinanderschieben verschiedener Erscheinungsformen in eine Figur bzw. Stimme, berechtigt zur Annahme, daft der Raum also nicht als ein fixierter Schauplatz, sondern als ein aus verschiedenen zusammenge- setzter verstanden werden soli. Es ware also unangebracht, von Zeit- und Raumlosigkeit zu sprcch ( en, ahnlich wie die Hbrspielform Use Aichingers personal bleibt trotz der Entmaterialisierung der Figuren im Unterschied zui' apersonalen Form des Neuen Hbrspiels. 57 58 Der Gegensatz zum Neuen Horspiel wird ebenso offenbar in der Sprach- behandlung Use Aichingers: wahrend sie das Wort als Bedeutungstrager ver- steht, zwar in der Vielfalt der Bedeutungen auf allen Aspekten, vom klang- lichen bis zum symbolischen, setzt das Neue Horspiel das Wortmaterial autonom, d.h. in distanziert-sachlicher Haltung sollen typische Redemuster, Sprachkilischees, Sprachvorgange und Redewendungen ireproduziert werden, um einerseiits die Sprachmanipulation zu ideologischen und wintschaftlichen Zvvecken, andrerseits »eine sinnlos und leer gewordetne Sprachanwendung« 5S aufzudecken. Die »Reduktion auf die Variation eines Modells« 59 oder einiger weniger Verfahrenswedsen, die an vvissenschaftliche Bemiihungen grenzende Systematik, die in den verschiedenen Arten von Wiederholungen, Variationen, Wortkombinationen und Wortaustausch in den sogenannten Permutationen 60 , zum Vorschein kommt, unterscheidet sich grundlegend von der Darstellungs- kunst Use Aichingers, die verschiedene Kunstmittel amvendet, deren Wie- derholungen und Variationen an perseverierende Gedanken und nicht an grammatikalische tibungssatze erinnern, also Emotionales und Unbewulštes aktivieren und hervorbrechen lassen isollen. Deshalb auch immer wieder der personale Sprachgestus, der falsche Ubereinstimmung und Verstandlichkeit vorgaukelt. Wahrend die Neuen Horspiele, in bewufiter Nahe zur Konkreten Literatur stehend, vor allem als »Gegenstande zum geistigen Gebrauch ohne Sinnlichkeit, Sentimentalitat, Lyrismus und Dramatik« 61 verstanden werden wollen und sie die traditionelle symbolische Redeweise zu demaskieren wunschen, kommt es Use Aichinger auf die Verratselung der Symbolik und Metaphiorik an, also auf eine hermetische Ausdruckweise, die als Reaktion und Reflex einer unldsbar ratselhaften Daseinsauffassung zu gelten hat. Die Thematiserung des Sprachlichen geschieht also bei Use Aichinger implizit; thematisiert wird die Beziehungsstruktur, die die Sprache bedingt und charakterisiert, nicht die Sprachelemente oder das sprachliche System. 57 vgl. Dedner, a. a. O., S. 141. 58 Keckeis, a. a. O., S. 48. 55 Heifienbiittel, Uber Literatur, a. a. O., S. 11. “ vgl. Haslinger, Das Horspiel, a. a. O., S. 103—104. 61 Reinhard Dohl, Konkrete Literatur, in: Die deutsche Literatur der Gegen- wart, a. a. O., 257—284, cf. S. 259. 53 8. G ar e Maritime: T riumph der Entmaterialisierten Das Horspiel Gare Maritime bedeutet einen Hbhe- und Zielpunkt in der librspiclentvvicklung lise Aichingers. Obwohl es verfriiht ware, dem Horspiel Gare Maritime einen festen Platz und Stellenwert im Werk Use Aichingers einzuraumen, weil diese weitgehend von der weiteren dichterischen Pro- duktion abhangig sind, kann schon jetzt festgestellt werden, dafi die Dichterin damit einen eigenen Horspielstil mit bestimmten, wiiederkehrenden und isioh wefliterentwickelnden Charakteristiken geschaffen hat. Die Behandlung und die Rolle der Kategorien Zeit, Raum und Existenz bzw. Materie haben im Horspiel Gare Maritime feste Form angenommen. Das Problem der Iden- titat, d.h. der Vielfalt der Erscheinungsformen, wird in diesem Horspiel mit ausgesprochen symbolischen Ziigen ausgesitattet. Darin wiird der Weg Joans und Joes ins Museum dargestelllt: der abgeheuerte Steward oder Seemann Joe (SIV 90, 108), der schliefiliclt, zu einer Holz- oder Pappmache- figur einschrurnpft, mbchte von der Puppe Joan (SIV 84), die einmal Fre- gat ten mam seli (SIV 117) igenainnt, sonst alber haufig ails Kinder klapper (SIV 87) beschrieben wird, erfahren, wie man das Atmen verlemt (SIV 87 ff). Joan, auf die der Ausdruck Kinder- oder Knochenklapper nicht nur metaphoitiisch wegen ihrer Kleinheit und Diinnheit gemiinzt wi.rd, sondem buchistablich verstanden werden mufi, verfiigt iiber diese einfachste und zugleich kom- plizierteste aller Fahigkeiten, die die Befreiung von allen beengenden Bin- dungen bedeutet: JOE Ich babe Nautik gelernt aber von deinen Abstanden weifi man an keiner Fakultat etwas Nein das wissen sie nicht wie man das Atmen auslafit abhalt gering macht wie man die gemein- sten von allen Windstofien an die Wand spielt Da stehen sie mit ihren offenen Miindern und lehren aber meinst du einer hbrte auf zu atmen und lehrte weiter Keiner (SIV 102). Joan und Joe mbchte siich auch der Aufseher Joans, der Blockschl-iefier Pedro, anschlicfien. Im Museum werden Joan und Joe von einer Schul- klasse besichtigt (SIV 9 ff), von der kleinen Nancy bedroht (SIV 115), vom kleinen Edward liebgewonnen (SW 109), wahrend die Inspektoren absurde Hypothesen iiber die Herkunft und das Alter der beiden Figuren anstellen (SIV 114 ff). Neu und ungewohnt fiir die Darstellungsart Use Aichingers ilst der parodistische Ton, mit dem die beiden Inspektoren und ihre wissen- schafitliche Besorgtheit dargestellt werden, ebenso die naturaliistisch anmu- tende Charakterisierung der bdsartigen, trotzigen Nancy und des guten, ein- faltigen Edward. Als sich Joan und Joe am Ziel wahnen, werden beiide vom Museumsvvachter, fiir den sie nur Raumverschmutzung und Zerstdrung alter Symmetrien und Ordnungen bedeuten, bedenkenlos in den Eimer gekehrt (SIV 126). Der iiberraschende Schlufi, der Triumph der beiden iiber die Materie und die iibrige Welt (SIV 127), ilafit ihre entmaterialisierten Stimmen hbren, die an ein Vorankommen glauben. Das Thema der Entmaterialisierung erfiillt isioh und wiird idurch den paradox-folgerichtigen Schlufi abgerundet: Joe und Joan gelingt es, sich zu entmaterialisieren, indem sie sich vorher verdinglichen. Im Augenblick ihres Erfolgs werden sie auch als Dinge, Mu- seumsobjekte, zerstbrt, sodafi ihre Vemichtung gleichsam ihre Befreiung ist. Was von ihnen iibrigbleibt, ist nicht etwas Abstrakt—Geistiges, sondern konkret, ihre Stimmen, ihre vom Kdrperlichen befreite Individualitat. 54 Die allgemeine Verunsicherung, auch die des Rezipierenden, die alle Aspekte und Figuren pragt, kann durch den hoffnungsvollen Schlufi nicht aufgehoben werden. Zu allen schon angefiihrten sprachlichen Mitteln, die diese Unsicherheit hervorrufen oder verstarken sollen, miissen auch Wie- derholungen von bestimmten Wdrtern oder Syntagmen hinzugezahlt werden, wie die anfangliche, immer schneller gesprochene Infinitivkonstruktion »Zur Zeit der Kreuzziige zu Fufi/zu jemandem gehen« (SW 83), bei der die Alliteration nicht zu iibersehen ist. In ihrem Sinnbezug zum Kontext unge- klart, sofern man die iibliche Bedeutung der christlichen Ritterkriege fiir »Kreuzziige« annimmt, gewinnt dieses Nominalkompositum einen gevvissen Bezug, wenn man sich darunter »Atemziige aus der Kreuzgegend« vorstellt. Die Konstruktion wird spater von Joe und Joan wiederaufgenommen (SIV 84, 85, 95) und mit »Kreuzstrichen« (SIV 96), »drei Kreuzen« (SIV 97), »Schrift« (SIV 96) und »Kettenpanzer/Kettenhemd« (SW 96) in ein Wort- und Beziehungsfeld gestellt (Variation SIV 104). Eigenartige Vergleiche in Form irrealer Komparativsatze intensivieren den Eindruck von Fremdheit und poetisieren die dargestellte Welt auf eine bizarre Weise, indem sie abstraktere Bedeutungsfelder in den konkreten Kontext einbringen: PEDRO ... wie wenn ein Madchen Balthasar hiefi So hiefi sie (SIV 86). JOE Dafi nicht alles krachte als du sie durch die Gitter gezert hast Auf Pedros Schweigen Als ob es Winter ware sieht die aus... (SIV 86). JOE Sag deinem Joe wie oft du nicht atmest A mest Aus dir konnte man eine Menge hiibscher Kinderklappern machen Horst du Hdrst du Joan Ich kenn dich doch ich kenn dich von friiher Dringender Wenn du tauchst Joan wo holst du dann die Luft her Und wenn du nicht tauchst vvieviele Atemziige lafit du dann aus von denen die verlangt sind Ich mufi es wissen Ich will umschulen Joan klopft wieder Meinst du ich kenne deine hohlen Knie nicht wieder Als ob man auf unbedachte Verstecke stiefie Das geht durch die Seide Den Klang gibts nicht noch einmal aber einmal gibt es ihn Mit der Stim versuch ichs erst gar nicht Oder soli ichs mit der Štirn versuchen was meinst du Oder da wo deine Schlafen einsinken Du bist leicht zu erkennen Joan Jeden Knochen erkennt man bei dir daran dafi du ihr nicht liebtest nicht grofigezogen hast Kind dabei waren dir deine Kno¬ chen noch immer lieber als der Rest. (SIV 87). 9. Die radiophonischen Aspekte der Horspiele Use Aichingers Die Entwic(klung der Gattung Hbrspiel zu einer eigenwilligen und un- verwechselbaren Struktur vvird in hohem Mafie von den Veranderungen des radiophonischen Aspekts gepragt. Die allgemeine Tendenz der Hbrspielpro- duktion in den Nachkriegsjahren bemiiht sich um eine fortschreitende und z.unehmende Besinnung auf die spezifischen Eigenschaften, die der Rundfunk besitzt, sowie um ihre Aneignung, die in der virtuosen Beherrschung aller techinischen Moglichkeiten miindet. 62 Im Laufe der Jahre emanzipiert sich der Rundfunk durch Friedrich Knillis Konzeption vom »totalen Schallspiel« von seiner Vermittlerrolle eines asthetischen Erlebnisses zum komplizierten Instrument der Produktion von »Horspielereignissen«. 63 Die techinischen Aus- 62 vgl. Dedner, a. a. O., S. 136 — Aspekti radija, a. a. O., S. 10/11 — Haslin- ger, Das Horspiel, a. a. O., S. 94, 102—103 — Keckeis, a. a. O., S. 107—108 — Grofiteil der Aufsatze in: Neues Horspiel, a. a. O. “ vgl. Dedner, a. a. O., S. 136 — Keckeis, a. a. O., S. 90ff — Schonmg, Hor¬ spiel als vervvaltete Kunst, a. a. O., S. 260. 55 drucksmdglichkeiten, sei es in ihrer dramaturgisch-kompositionellen Funktion (Horspiel der fiinfziger Jahve), sei es wie sle idie Stereophonie, die unendliche Reproduzierbarkeit idurch das Tonband und die Erzeugung der verschiieden- sten natiiriichen und kunstlichen Laute und Gerausche bietet (Neues Hdr- spiel) 64 , werden in den Horspielen Use Aichingers zugunsten der sprachlichen Komponente aufgegeben. Von einer anfanglichen Handhabung formaler, d.h. vom Wortaspekt unabhangiger technischer Mittel wie sie die Blende, der Schnitt und die Sequenzen darstellen, verlagert sich der Schvverpunkt bei der Komposition der Hdrspiele ebenfalls auf das Wort, auf seine »Korper- lichkeit«. In den Knop fen wird die Blende, die »das Offnen und Schliefien be- stimmter akustischer Kontinuitaten« 65 bezeichnet und die Ubergange von einer Sequenz zur anderen markiert, die melisi mit Raum- und Zeitvvechsel verbunden sind — ahnlich wie im Film und auf der Biihne den Wechsel von Szene zu Szene —, in dieser einfachsten dramaturgischen Gliederungs- funktion eingesetzt und technisch mit Hilfe eines abgehobenen Akustik- wechsels deutlich gemacht. Im Besuch im Pfarrhaus hat die Blende eine viel kompliziertere Aufgabe zu bewaltigen, denn in den achtzehn Sequenzen, die das Horspiel konstituieren, werden in den zeitlich ablaufenden Erzahl- strom abwechselnd 66 langere Riickblenden der Vergegenwartigung des Gesche- hens bzw. des Gesprochenen eingeschaltet. 67 Die akustische Blende verbindet jeweills zwei Zeitebenen (Gegenwart: Vergangenheit) in der Zeitblende, zwei Horraume (geschlossener: offener Raum) in der Raumblende, zwei ver- schiedene Erzahlperspektiven und Spielebenen 68 in der Dimensions- und Aus- drucksblende, 69 deren konsequente Trennung immer wieder durch kommen- tierende Bemebkungen der Erzahler-Kinder untcrbunden wiird. 70 Auf rezep- tionsasthetischem Niveau bedeuten idiese Eingriffe in den Zeitverlauf, das Ineinanderschieben der Raume, die Distanz der Gestalten zum Geschehen, dafi die Wirklichkeitsillusion durchbrochen, das Dargestellte noch zusatzlich ver frcni det und der ganze Test von diesem Aspekt her als Fiktion konstituiert wird. 64 vgl. Werner Klippert, Elemente des Horspiels, Stuttgart 1977; Abschnitte iiber das Mikrophon (S. 15), das Tonband (S. 29), das Mischput (S. 37) und iiber Ton und ^ cr ^ usc ^ — Keckeis, a. a. O.; Stereophonie (S. 27) und Montage “ Schwitzke, Horspielfiihrer, a. a. O., S. 640. 66 Eine Ausnahme davon bildet die Sequenz 3 (A 10). 67 Jeweils die gleiche Anzahl von Sequenzen (9) entfallt auf den erzahleri- schen Rahmen und auf die Riickblenden, wobei die erste und die letzte Sequenz des Horspiels zum Rahmen gehoren. “ Die Verbindungen zwischen den einzelnen Strukturelementen in den bei- den Gruppen lassen sich schematisch folgendermafien darstellen: . dialogische, prateritale und indirekte Erzahlperspektive / Erzahlzeit / Spiel- zeit (Gegenwart) / geschlossener Raum zu: dialogischer, prasentischer, direkten Erzahlperspektive (bzw. Darstellung) / erzahlter Zeit / gespielter Zeit (Vergangenheit) / offenem Raum. ., Diesem Schema liegen die Ausfiihrungen der Dissertation von Mira Dorde- vic (Razvitak njemačke radio drame, Sarajevo 1974) zugrunde. 6 ’ s. Klippert, a. a. O., S. 39—40 (Typologie der Blenden). ° Wie Regisseure, die die Projektion einer Filmszene an beliebiger Stelle unterbrechen kbnnen, scheinen die Kinder durch ihre abrundenden Ausspriiche »Soweit« (A 13), »So wars« (A 16, 23) und durch ihre Kommentare bzw. ihr Emgreifen m die riickblendenden Sequenzen das »Spiel« und seinen Verlauf zu dingieren. 56 Der Blendvorgang mufi niicht notwendigerweise durch Akustikvvechsel kenntiich gemacht werden, sondern kann auch durch Wiiederholung eines Wortes oder Syntagmas geschehen. Eine Sequenz resummierend (z. B. A 13), eine andere vorwegnehmend (z. B. A 15, 23) bzw. auf eine Sequenz und den darin ausgedriickten Kontext zurtickvervveisend (z. B. A 14), als Leitmotiv fungierend 71 , iibernimmt die Wiederholung — vollkommen gleichlautend oder variierend — vielerlei Aufgaben, semantischc, emphatische, vor allem dra- maturgische und kompositionelle. Im Hinblick auf die vveitere Entvvicklung der Hbrspiele, in denen solche Vorgange in den gesprochenen Text verlagert werden, deren Kennzeichnung ansonsten der Blende obliegt (Zeit- und Schau- platzwechsel), wie siie im Besuch im Pfarrhaus durch die Wiederh01ung »horbar« gemacht werden, wirkt die Realisation der Blende durch Hinter- grundgerausche redundant. Ab dem Horspiel Nachmittag in Ostende stellt sich jede Einteilung der Horspiele in Sequenzen bzw. jedes Suchen nach blendartigen Vorgangen, die ihren Anfang oder Sohlufi markieren, als problematisch dar. Ein Hauptgrund dafiir liegt in der veranderten Behandlung der Zeit in den Horspielen: wahrend die Zeit in den Knopfen empirische Bedeutung hat und die einzelnen Sequenzen nicht nur chronologisch sondern auch kausal-logisch verkniipft werden, bahnt sich schon in Besuch im Pfarrhaus eine ungewohnliche Zeit- auffassung mit der Durchbrechung naturgesetzlicher Normen (sprechende Tote, Simultanblendung verschiedener Zeitebenen) an, obwohl die Zeitebenen Gegenvvart: Vergangenheit in dieser durch die Imagination modifizierten Alltagswelt zumeist deutlich und unverwechselbar voneinander getrennt werden. Im Horspiel Nachmittag in Ostende fallen Zeitebenen weg, denn das Geschehen verlauft in einem zeitlichen Kontinuum, in das sich Gesprachs- partner materialisieren, an die entweder nur gedacht wird (Louisa) oder die durch Nennung ihres Namens »heraufbeschvvoren« werden (Simplizius). Da Vergangenes und Zukiinftiges als Assoziationsimpuls dient und in den Gegemvartsstrom auf epische Weise, d.h. erzahlend durch die Figuren, inte- griert wird 72 , also dadurch jeden Zeitensprung unndtig macht, besteht kein Bedarf nach Blenden oder blendartigen Vorgangen. Eine Gliederung des Spielganzen liefie sich, — den Auftritten im Drama ahnlich — nur durch das Erscheinen und Verschwinden (Abtreten) der einzelnen Figuren, d.h. durch den Wechsel der Gesprachspartner durchfiihren. Diese Technik der seman- tisch abgerundeten, verhaltnismafiig selbstandingen Gesprache macht sich das Horspiel Die Schwestern Jouet zunutze, in dem drei langere fortlaufende Sequenzen einander folgen und mit einer Reihung von neunzehn kurzen Sequenzen schliefien, die semantisch eine Einheit bilden. In Nachmittag in Ostende und in Gare Maritime sind die Ubergange zwischen den einzelnen Gesprachspartnerkonstellationen semantisch und formell allzu fliefiend, um abgerundete Sequenzen sichtbar zu machen. Wahrend in Nachmittag in Ostende die Gesprachspartner einander ohne sichtliche Trennung oder evidenten tlbergang ablbsen und den einzelnen 71 Leitmotivartig wirkt die Wiederholung und ^oi^^hliefier« in § der ersten drei schliefien« bzw. des Nominalkompositums 101, 105, Hbrspielhalfte von Gare Maritime: A 83, 84, 85, 86, 107, 108, 110, 111. . , 8 41 54 un d Zukunftigem: A 42, 72 Integrierung von Vergangenem. z. B. A So, , 44 57 Gesprachsgruppen gleiche Bedeutung und Lange zugemessen wird, verfiigt Gare Maritime liber ein damimierendes Gesprach, inamlioh das zwischen Joan und Joe, das immer wieder durch kiiirzere und langere Gesprache unter- brochen wird. 73 Die Zcitindifferenz der Hbrspiele lise Aichingers uniterscheidet sich itn ihrer konsequenten Aufgabe des empirischen Zeitbegriffs von den Horspielen der fiinfziger Jahre dadurch, dafi in jenen Horspielen mit der Zeitkompo- nente eher igespielt wird, als dafi sie tatsachlich wegfiele. 74 Sie beziehen sich namlich, wie fiiktiv auch ilhre diichterische Welten sem mbgetn und sie diese Fiktiviitat dem Rezipierenden bewufit machen, letzten Endes auch in ihren irrealsten und phantastischsten Varianten auf MENSCHEN, ihre Welt und die Bedingtheiten ihres Seins. 75 Use Aichinger versucht sich und ihre Fi¬ guren, wie bereits deutlich wurde, davon loszulbsen; fiir Wesen, die nicht einmal in ihrer aulšeren Erscheinungsform festgelegt isimd — sie sind im iibrigen auch alterslos —, ist die Zeit von keiner Bedeutung, weil sie nicht durch Umwelt und Zeitumstande bedingt werden, ailso von ihr unabhangig existen semantisdhen Zeitgesetzlichkeiten fiigt und deshalb am meisten an die Kom- poisitionsart der Musik denken lafit. Gegiiedert und abgerundet wird es durch die jeweils ganz kurzen — nicht eingeblendeten und nicht eingescho- benen — Repliken der Frau und des Friseurs Jose, in seinem linearen, sehr einfachen Zeitablauf des Nacheinander, erreicht es eine ahnliche ase- mantische Wirkung wie manche Neuen Hbrspiele. Die Konzenitration auf das Wort, und das gleichzeitige Ausschalten des Techniischen in den Horspielen Use Aichingers, spiiegelt sich in der Art der 73 Das Gesprach Joan-Joe beginnt auf Seite SW 87 und wird mit Unterbre- chungen bis zum Schlufi SW 127 weitergefiihrt. Eingefiigt werden Gesprache mit Pedro (SW 88, 92, 110), mit drei Inspektoren (SW 95, 106, 111), jene der Lehrerin und der Kinder (SW 99, 114, 121) sowie das Selbstgesprach des Warters (SW 125). 74 In bezug auf das Horspiel der fiinfziger Jahre stellt K. E. Fischer fest: »Es wird also der Zeitbegriff aufgeweicht und im Bedarfsfall sogar eliminiert« (a. a. O., S. 236). Dabei bezieht er sich hauptsachlich auf das Aufgeben der histo- rischen und empirischen Komponente der Zeit, was aus der Verbindung der Zeitdimension mit der Tendenz zur »Verinnerlichung« dieses Horspieltyps her- vorgeht: »Was in der Zeit geschieht oder geschehen konnte, wird dadurch, dafi es aller raumzeitlicher Gebundenheit entriickt wird, zu einem raum- und zeit- losen innerseelischen Vorgang, den die Ausdrucksmittel Raumakustik, Sprache, Musik und Gerausch dem Hbrer erkennbar machen« (a. a. O., S. 236). Die Autoren der fiinfziger Jahre beherrschen diese menschenbewufitseinsorientierte Zeitkom- ponente souveran, denn sie raffen und dehnen sie durch Temposteigerung und -verlangsamung, wechseln Zeitebenen und mischen sie, seteen die Zeit als Symbol ein, verkniipfen Motive und Figuren aus vergangenen und mythischen Zeitperio- den mit Gegenwartigem, entwerfen Zukunftsbilder u. a. Vom dramaturgisch- technischen Aspekt konfrontieren sie die innere (psychologische) mit der auBeren (empirischen) Zeit, die Sendezeit mit der gespielten, die Zeit des Horers mit der von den Figuren erlebten Zeit. 75 vgl. Dedner, a. a. O., S. 132. 58 Regieanweisungen wieder, diie dem Regisseur bei der technischen Ausfiihrung der Hbrspielle Hilfe leisten sollen. 76 Im grofien und ganzen sind die Regieanweisungen der Aichingerschen Horspiele einheitlich und kbnnen deshalb auch zusammenfassend behandelt werden. Es lassen sich vier Arten unterscheiden: Regieanweisungen zur Bezeichnung von Raumlichkeiten, der Entfernung von der Schallquelle, bzw. vom Mikrophon, der Gerausche und der Intonation. Von den Effekten, die die Musik dem Horspiel als Handlungsbestandteil, als ein- und vveiter- leitendes Mit tel (musikalische Blende), als »gestasche« Musik und als Leiit- motiv bietet 77 * , macht Use Aichinger keinen Gebrauch. Nur ein einziges Mal wird sie in ihrer gebrauchlichsten Funkitiion der Hintergrundmusik eingesetzt (A 64). Die Visualisierung des Raums in einem rein akustischan Medium hat den Horspielautor von jeher vor ein schwieriges Problem gestellt. Von der einfaohsten Auffassung der realen Abstrahierung des Raums im ersten Horspiel A Comedy of Danger™, der Dunkelheit in einem Bergwerk, fiihrt die Auseinandersetzung mit dieser zu Anfang als Mangel empfundenen Eigenscl^aft des Mediums iiber die Sichtbarmachung des Raums mit Hilfe von komplizierten Gerauschkulissen, sogenannten Hbrbiihnen, bis zur Ein- sicht, dafi dieser Mangel als Vorteil genutzt werden miisse, denn wegen der Unbestimmtheit der Raumvorstellungen, die das Horspiel im Rezipie- renden durch Text und Gerauschkulisse auslbsen kbnne, miisse es raumlos sein. 79 Dieses letzte Stadium wird jedoch erst nach der Erfindung der Stereophonie erreicht; paradoxerweise fiihrt die Horbarmachung verschie- dener Schallquellen im Raum durch die Ouadrophonie nicht zur mbglichst realistischjen Wirkungserzielung, sondern zur freien Komposition verschie- dener Raumelemente wie sie das Neue Horspiel pflegt. 80 76 Als Elemente einer komplexen Struktur bedingen die Blendvorgange und Regieanweisungen einander. Sie stehen in engstem Zusammen iang handlung der empirischen Kategorien Zeit-Raum-Korperhchkeit imi P. • allmahliche Aufgeben der technischen Blende und die Art der R g f t „ esetz . reflektieren einerseits und bedingen andrerseits die Loslosung von allen festgese ten und eindeutigen Normen der literarischen Struktur, so dafi s g nen Alogik und Verratselung beizutragen schejnen. r„ ir >npn Zwei, in ihren Intentionen und ihrer Verwirklichung jersc ie Vertreter P des von Hbrspielautoren, namlich viele Autoren aus der DDR , , . h Termini Neuen Hbrspiels, bevveisen durch die Einbeziehung rundfu kpnnen SO ndern dafi sie die technischen Gegebenheiten des Mediums mcht- k x nne n. Im Ge- auszuniitzen wissen und in den semantischen Aspekt ein Tahre biihnenge- gensatz dazu bedient sich der Grofiteil der Autoren der fun g , Vorstellun- bundener und traditionsgemafier Ausdriicke, die haufig au P ahnlich gen bedingen, was der Natur des Rundfunks zuwld ® rl ^ uf V )i °Xieanweisungen wie das Buch, die visuelle Vorstellungskraft anregen ka • verhalten und Use Aichingers gehbren zu dieser Gruppe, jedoch smd si er ii c h auffallt. stilisiert, dafi diese antiradiophonische Komponente meh „ s 55 77 vgl. Fischer, a. a. O., S. 127-135, 135-139 - KHppert, a. a. O., S. 55. ^bS? Das Horspiel. a. a. O.. S. 4 ■ vgl. Heinz Hostnlg. Ertabrungen mit der ^‘““^“"phonie. ebda’ spiel, a. a. O., 129—133, — Franz Mon, bemerkungen zur st p —128, S. 126 — Keckeis, a. a. O., S. 28. 59 Obvvothl das absolute Fehlen von Raumvorstellungen im Horspiel der fiinfziger Jahre eine Seltenheit ist 81 , versuchten die Horspielautoren der Nachkriegsjahre, jeder auf seine Weise, jedoch mit einer im Nachhinein deutlich erkennbaren allgemeinen Tendenz, von realen Raumen abzusehen zugunsten von an die empirische Wiirklichkeit mehr oder vveniger gebundenen Phantasie- oder Symbolraumen. 82 Wo die Raumkomponente als Sinnbild be- handelt wird, macht sie einen volkvertigen, integrierten Bestandteil der Bedeutungsstruktur aus. So der geschlossene Eisenbahnwaggon im Traum I von Eichs Traumen 33 , die Mittelmeerinsel in den Zikaden Ingeborg Bach- manns, die Stockwerke im Hotel in Manhattan in ihrem Horspiel Der gute Gott von Manhattan 34 usw. Im Rahmen dieser Raumauffassung mufi auch das Horspiel Kndpfe gesehen werden. Die Raumbezeichnungen beschranken sioh in den weiteren Hdrspielen Use Aichingers auf diie Kennzeichnung offener und geschlossener Raume. Offene Raumakustik wird dabei niemals mit diesem techniischen Terminus, sondern durchwegs mit dem Ausdruck »Im Freien« 85 kenntlich gemacht, wahrend geschlossene Raumakustik durch kon- krete, jedoch weiters undifferenziierte Raume bezeichnet wird: »Im Zim- mer« 86 , »Im Kasino« (A 44, 66, 100). Eine Ausnahme davon bilden die zvvei Horspiele Gare Maritime und Auckland: das erstgenannte, weil darin die detaillierte Angabe »Museumsraum« (SIV 99) steht, das zweitgenannte, weil darin iiberhaupt keine Raumbezeichnungen angefiihrt werden, weder indirekt durch den gesprochenen Text noch durch Regieanweisungcn. Jene Aufier- ungen der Figuren, die sich auf die Schauplatze der Horspielhandlung beziehen, oder die eine Vorstellung von ihrem Aussehen oder der darin herrschenden Atmosphare hervorrufen konnen, fallen so unbestimmt und mehirdeutig aus, dafi nicht nur kein eindeutiges oder einheitliches Bild entstehen kann, sondern sich der Eindruck ergibt, jene raumvorstellungs- konstituierenden Elemente seien requisit- oder kulissenartig und wiirden sehr balld vom Horbild des Rezipierenden verschwinden. Diese abstrakten und artifiziellen Schauplatze stehen in deutlichem Gegensatz zu der Kon- kretheit der Entfernungsangaben und der raumgebundenen Gerausche. Offnen und Schliefien von Fenstem und Turen 87 , »Fensterklirren« (A 48), Schritte, die sich nahern und vvieder entfernen 88 , »Klirren, Sausen, Tiiren- schlagen« (A 61) scheinen Bewegungen der Figuren im Raumlosen, im luft- leeren Raum zu beschreiben, denn die Figuren selbst isind ja lin ihrer phy- sischen Existenz nicht auszumachen. Davon weichen Anna und Josepha im Horspiel Nachmittag in Ostende ab, fiir deren Gesprach gegen Hdrspiel- schlufi lise Aichinger die Bezeichnung »raumlos« einsetzt, wohl als Vor- !1 vgl. Fischer, a. a. O., S. 218. — Giinter Skopnik, Theater und Horspiel, Akzente I (1954), 523—530, cf. S. 528. 12 vgl. Fischer, a. a. O., S. 219. — Prager, a. a. O., S. 518. 83 Giinter Eich, Traurne, Frankfurt/Main 1962 (1958), cf. S. 146, 149. 84 Ingeborg Bachmann, Zikaden, Miinchen 1972, cf. S. 88/89. Kndpfe: H 50, 54, 56, 60, 63, 67, 71, 79. — Nachmittag in Ostende: A 37, 60, 70. — Besuch im Pfarrhaus: A 14, 15, 32. — Gare Maritime: SW 127. 31 32 Kn ° pf e H 52 ‘ ~ Besuch im Pfarrhaus: A 9, 10, 13, 15, 16, 19, 22, 27, 29, , ‘,K n °Pfe’ H ^8, 62, 70, 49 — Besuch im Pfarrhaus, A 10 — Nachmittag in Ostende, A 60, — Gare Maritime SW 124, 125, 127. J*. Knopfe H 49, 53. — Nachmittag in Ostende A 39. — Gare Maritime SIV 93, 101, 104, 110, 113, 117, 120, 124, 125. 60 vvegnahme ihres Verschwiindens und zur Rechtfertigung, dafi Rosalie auf deren Aussagen antwortet, obwohl sie raumlich getrennt sind. Regieanweisungen, die die Entfernung von der Schallquelle kenntlich machen — sie sind ubrigens nicht besonders haufig 89 —, haben die Aufgabe, die im Text genannte Bewegung der Figuren zur oder von der Schalilquelle weg horbar zu imaohen und erwecken dadurch die VoaisteHlung von Raumtiefe. Im Hbrspiel Auckland wird ihre Rolle insofern modifiziert, als bestimmte Repliken Vaus und Wes, die eine Menschengruppe vertreten, durch die Entfernung und die dadurch verminderte Hdrbarkeit rechtfertigt werden: von weiter hinten Ich verstehe hier so schlecht. (A 129) Stimmungschaffende Gerauschkulissen 90 , die in ihrer Illusionswirkung realistische, einheitliche Schauptatze voraussetzen, werden von Use Aichinger in den Knopfen und im Besuch im Pfarrhaus eingesetzt, spater volikommen aufgegeben. 91 In den Hbrspielen seit N achmittag in Ostende gewinnen menschliche Gerausche immer mehr die Oberh,and liber diejenigen, die von Gegenstanden istammen, obwohl diese auch im letzten Horspiel Gare Ma- ritime beibehalten werden, denn sie ffllustnieren eines der bedeutendsten Menkmale der Horspiele Use Aichingers: einerseits das Streben nach Ent- materialisierung und Abstrahierung bzw. Entfernung von Realistischem, andrerseitls die konkrete Existenz des Entmaiterialisierten, Fiktiven, das von diesen Gerauschen eben unterstrichen wiird. Die Bevorzugung bestimmter Gerausche in den einzelnen Hbrspielen, beispiefevvedise das Klirren und Sausen in Nachmittag in Ostende 92 , das Zungenschnalzen in Die Schwestern Jouet 93 , das Gelachter in Auckland 94 , lafit an leitmotivartigen Einsatz denken. Bei weitem den betrachtlichsten Anteil nehmen jene Regieanweisungen ein, die von Menschen hervorgerufene Lauteffekte angeben. 95 Auffallend ist auch idie Genauigkeit, mit der Gerausche und Intonationsanweisungen ge- geben werden, besonders in jenen Fallen, in denen sie mit irrealen Kompa- rativsatzen beschrieben werden: Dreimal Hdndeklatschen Als wilrde eins, zwei, drei gesagt (A 123), Klopft wieder Es klingt als ob er auf Holz klopfte (STK 87). Joans Knochen beginnen zu klappern Eine Art knbchernes Klavier- spiel (SIK 113). Es ist durchaus folgerichtig, dafi Use Aichinger grbfite Sorgfalt auf die Bezeichinung der Sprechweise legt, denn die Intonationsart tragt se- mantische Oualitaten in sich, wird also zum Bedeutungstrager. Nicht nur M Die ersten drei Horspiele je 6, die beiden letzten jevveils 11 und 9 Angaben. si © ' Klippert, a. a. O., S. 57. — Schvvitzke, Das Horspiel, a. a. O., S. 220. Besuch im Pfarrhaus A 13, 19. A 48, 51, 52, 53, 58, 61, 62. ” A 85, 87, 89, 105. 121 i-> a Ge ^ Chter: A 115 ' 116 ’ 121 > 122 < I40 > 141 > 151; kichernd: A 118; Lachen: A ’ Ji rJ 33 ’ 144 -‘ lacht: A 124, 152; lachend: A 148. A sn c Ha , ndekla tschen: A 21; 115, 117, 123, 127, 140; SIK 100, 119, Handereiben: A j‘? hnen: A 135; Schluchzen: A 136; Seufzen: A 47; 104; SIK 87, 99; Gahnen: • 124, 135, 137, 146; Zungenschnalzen: A 50; 85, 89, 105. 61 dem Umfang, sondern auch der Vielfalt und dem Nuancenreichtum 96 nach baut diese Gruippe von Effekten den Aspekt der Sprache zusatzHch aus, so dali das gesprochene Wort in seinem ganzen Funktions- und Bedeutungs- potential entfaltet wird und damit die Verwendung der Gattung Horspiel eine zusatzliche Rechtfertigung erlangt. Der thematischc rote Faden der Entmaterialisierung und Fiiktionalisier- ung von Zeit, Raum und Kdrperlichkeit durchzieht nicht nur die Hbrspiele der Spatphase, sondern tritt, in verschiedenen Varianten und Abstufungen, auch in einer Anzahl von Texten der Dichterin auf, vor allem in den Dialogen und Kurzprosatexten der Spatphase. Eine derartige stufenweise Intensivier- ung und Abrundung der Thematik, wie sie sich an den Hdrspielen abzeichnet, lafit sich in den anderen Gattungen der Dichterin freilich nicht nachweisen. Die Mdglichkeit einer Eingliederung in eine iibergeordnete Thematik erleich- tert und schafft oft Zugang zu zahlreichen ratselhaften Textstellen, aufier- dem kann damit der Einsatz bestimmter sprachlicher Verfahren und Stil- mittel rechtfertigt werden. Trotzdem bleibt in den Texten Use Aichingcrs, die Hbrspiele der Spatphase einschliefiend, ein betraohtlicher Anteil un- erhellt. Der Aufnehmende sieht sich immer vvieder mit der Aufgabe kon- frontiert, nach dem Was und Warum der Sinnenheiten und ihrer gegen- seitigen Abhangigkeit zu fragen und zu suchen. Fragen, die zu vviederholter Lekture und Beschaftigung mit dem Werk Use Aichingers herausfordem, seinen digenartigen Reiz ausmachen und zum eigensten Wesen ihrer Dichtung gehoren. 56 Das Horspiel Gare Maritime verfiigt iiber die grbfite Anzahl und Vielfalt an Intonations- (und Gerausch-) bezeichnungen; iiber siebzig verschiedene An- weisungen, die haufig wiederholt, insgesamt an die hundert Angaben ausmachen, geben hauptsachlich den Germiitszustand und die Lautstarke an, mit denen die einzelnen Repliken gesprochen werden miissen: z. B. leise SW 84, 104, 109, 113, 114, 125; — begierig SW 88; — wegwerfend SW 95; — freundlich eher abschliefiend SW 106; — verbliifft SW 119. 62