UDK 780.8:780.616.3/.4(430)»16/17« Dalibor Miklavčič Brilejeva 16 SI-1000 Ljubljana Freie Norddeutsche „Clavierstücke Pedaliter" zwischen Orgel und Saitenclavieren Severnonemške skladbe »Clavierstücke pedaliter« med orglami in pedalnimi strunskimi glasbili s tipkami Prejeto: 5. avgust 2011 Sprejeto: 9. september 2011 Ključne besede: pedaliter, severno nemška baročna glasba, idiom, strunska klaviaturna glasbila s pedalom, uglasitve orgel Izvleček Severnonamške baročne skladbe »pedaliter« ne predstavljajo nujno izključne orgelske glasbe. Razlike v strukturi med koralnimi in "svobodnimi" skladbami kažejo, da gre za dve ločeni zvrsti, pri čemer so koralne obdelave izrecna orgelska glasba, preludiji in tokate itd. pa pripadajo idiomu pedalnih čembalov in klavikordov. V izvajalsko prakso tega repertoarja to vnaša docela nove razmere. Received: 5th August 2011 Accepted: 9th September 2011 Keywords: pedaliter, northgerman baroque music, idiom, stringed keyboard instruments with pedal, organ tuning Abstract Baroque North German 'free keyboard music pedaliter' does not necessarily represent exclusive organ music. Structural differences between choral repertoire and pedaliter free works show them as two separate genres, choral works being genuine organ music, free works belonging rather to the idiom of clavichords or harpsichords with pedals. New parameters for the performance practice of this repertoire arise. Die norddeutsche freie pedaliter-Literatur wurde in letzten Jahren wiederholt und mehr als irgendein anderes barockes Tastenrepertoire im Hinblick auf ihre Funktionalität sowie instrumentale Zugehörigkeit diskutiert, ihre aufführungspraktischen Prämissen oft neu hinterfragt und kontradiktorisch beantwortet. Neue musikwissenschaftliche Erkenntnisse, einschließlich der Dokumentation und Restaurierungen norddeutscher Orgeln, kongruierten oft nicht mit der bisherigen Sicht dieses Repertoires, deren Wur- zeln im wesentlichen in der Ära der Bachrenaissance im 19. Jahrhundert liegen; dem heutigen praktischen Interpreten dieses Repertoires begegnet in Veröffentlichungen und Aussagen bedeutender Fachleute wie Beckmann, Vogel, Rampe, Ortgies, Koopman u.a. ein Reichtum an sehr verschiedenen Deutungen. Mit der vorliegenden Vorlesung im Rahmen unseres Symposiums wurde ein Versuch unternommen, mithilfe der Analysen des praktisch gesamten norddeutschen pedaliter-Repertoires und insbesondere mit deren statistischer Auswertung Beurteilungskriterien zu erstellen, die einer Klärung hinsichtlich der Aufführungsbedingungen und indirekt der Funktionalität dieser Musik dienlich sein könnten. Anfangs seien die im Text sowie in den Notenbeispielen oft verwendeten Abkürzungen erklärt: FPR = freies pedaliter-Repertoire ChPR = choralgebundenes pedaliter-Repertoire PSC = mit Pedal versehene Saitenclaviere MT = wenn nicht besonders erwähnt, ist damit reine 1/4 sc-Mitteltönigkeit bzw. mittel- tönig gemeint sc = syntonisches Komma TO = temperierungstypische Ornamente, die Imperfektion MT-fremder Töne kaschierend ILK = der inferiore Lautstärken- und Klarheitsgrad. Der Terminus bezieht sich im zweimanualigen ChPR auf die begleitende, leisere Klangfläche hinter der exponierteren, am gesonderten Manual vorgetragenen Solostimme. Notenbeispiele zu den in diesem Artikel besprochenen Situationen sind aus Platzgründen sämtlich unter http://www.dalibor-miklavcic.com/research abrufbar, dem Verlauf des Textes entsprechend gereiht und mit der Angabe der jeweiligen (mit asteriscus * versehenen) Textstelle gekennzeichnet (z. B. Seite 38, 3. Absatz: BWV 620, Takt 5). Der barocke Begriff „Clavier" schließt alle Tasteninstrumente ein und für die damalige Tastenmusik galt eine relative Beliebigkeit im Hinblick auf das für die Aufführung gewählte Instrument. Es könnte daher infrage gestellt werden, ob Analysen der Kompositionen im Hinblick auf Elemente des „saitenclavierigen" Idioms einerseits und desjenigen der Orgel andererseits überhaupt Früchte tragen mögen. Als Interpret wurde ich im Verlauf der Jahre jedoch auf Elemente des norddeutschen pedaliter-Repertoires aufmerksam, die explizit instrumental-idiomatischer Natur waren und entweder ausschließlich dem choralgebundenen pedaliter-Repertoire (ChPR) oder dem freien pedaliter-Repertoire (FPR) angehörten. So sind es wohl - um kurz vorauszugreifen - keine anderen als explizit instrumentalidiomatische Unterschiede, wenn beispielsweise kühne, rapide norddeutsche Pedaltriller und -tremoli ausschließlich im FPR zu finden waren, während andererseits explizit orgelidiomatische Züge wie etwa bis zu 13 Takte lange ununterbrochene Diskanttöne oder 2'-Registrieranweisungen im Pedal ausschließlich im ChPR existierten. Es geht hier ja keineswegs um gattungs-, form- oder kompositionsstilistische Unterschiede an sich, sondern um Spezifika des jeweiligen instrumentalen Idioms. Da die Analysen am annähernd gesamten Bestand der barocken norddeutschen pedaliter-Musik durchgeführt wurden, war es umso erstaunlicher zu beobachten, wie hier sämtliche Komponisten konsequent dieselben Regeln beachteten, obwohl uns diese aus keinem zeitgenössischen theoretischen Werk bekannt sind. Ich möchte in dieser Vorlesung folglich mit statistisch gefärbten Berichten über einzelne Ergebnisse der Analyse des Repertoires zeigen, daß FPR und ChPR in instrumentalidiomatischer Hinsicht doch, mehr als bislang angenommen, zwei verschiedene Gattungen darstellen, wobei die Genese des FPR mit idiomatischen Möglichkeiten der mit dem Pedal versehenen Saitenclaviere (PSC) äußerst eng zusammenhängt, während das Verständnis des ChPR als explizite, genuine Orgelmusik durch die Analysen noch zusätzlich bekräftigt wurde. Zunächst seien einige Quellen über die Rolle der barocken PSC genannt und kurz kommentiert: Die barocken PSC werden heute meist als häusliche Übungsvehikel zur technischen Vorbereitung der Orgelkompositionen verstanden; als die wichtigsten Gründe für das Üben im häuslichen Rahmen werden kalte Winter und begrenzte Übungsmöglichkeiten in den Kirchen sowie die Notwendigkeit eines oder mehreren Kalkanten für das Orgelüben genannt. Interessanterweise sprechen die historischen Quellen über diese Ursachen nicht und es scheint eine Selbstverständlichkeit gewesen zu sein, Kunst im häuslichen Milieu zu pflegen. Mit einigen Quellen sei hier die Denkweise der barocken Zeitgenossen kurz beleuchtet: „§598 Gut ists, wenn man das Pedal führt bis ins dl; denn zu Hause macht man solche Dinge öfters, als auf der Orgel, welche bis ins dl gesetzt sind."1 Adlung dokumentiert damit die Autonomie des häuslichen PSC-Spiels als künstlerische Tätigkeit, nicht als Vorübung zu einer Orgelaufführung; aus seiner Äußerung geht hervor, daß man die „Dinge" zu Hause macht, die nachher nicht in der Kirche gespielt werden. Die absolute Mehrheit zeitgenössischer Orgeln in Adlungs Umfeld war mit Pedalklaviaturen bis c1 versehen,2 wo der größte Teil der Werke Bachs, seiner Zeitgenossen und der in Mitteldeutschland geschätzten Norddeutschen nicht oder in stark bearbeiteten Versionen bzw. Transpositionen spielbar war. „Zu solchen Künsten bediente er sich zweyer Claviere und des Pedals, oder eines mit einem Pedal versehenen Doppelflügels. (...) Am liebsten spielte er auf dem Clavichord. (...) Er hielt daher das Clavichord für das beste Instrument zum Studiren, so wie überhaupt zur musikalischen Privatunterhaltung"3 Diese „musikalische Privatunterhaltung" und der private bzw. individuelle Kunstgenuss war für musizierende Menschen des Barockzeitalters einer der Grundsteine der Musikkultur. Das kann sogar heute wieder Jacob Adlung, Musica Mechanica Organoedi, Bd. 2, (Berlin, 1678; Kassel: Bärenreiter, Kassel&Basel, 1961), 159. So hat Gottfried Silbermann in seinem Leben keine einzige Orgel gebaut, deren Pedalumfang CD-c1 überschritten hätte, darunter sämtliche Großorgeln in Freiberg, Dresden und Zittau. Erst die posthum unter der Leitung Z. Hildebrandts 1755 fertiggestellte Orgel der Dresdener Hofkirche erhielt einen Pedalumfang CD-d1. Für die Aufführbarkeit des FPR Bachs und der in Mitteldeutschland geschätzten Norddeutschen stellt Silbermanns Pedalumfang freilich eine beträchtliche Einschränkung dar, zusätzlich wurde sein oft fest ans Hauptwerk gekoppeltes Pedal zur Schwierigkeit. In diesem Zusammenhang verdient unsere Beachtung die Tatsache, daß Bach als Orgelgutachter bei neugebauten Orgeln, z.B. derjenigen von Contius in der Marktkirche zu Halle 1716, im Abnahmeprotokoll den Pedalumfang CD-c1 keineswegs tadelte. Offenbar war er damit, ebenso wie sein Sohn W. Fr. Bach, der ab 1746 dort als Organist wirkte, einverstanden. Andererseits baute Silbermann neben ca. 20 Fortepianos etwa 100 Clavichorde, 100 Cembali (vgl. Christian Ahrens, "Orgel und instrument-Macher," Jahrbuch des SIMPK(Stuttgart u. Weimar: SIMPK, 2001), 261) - vermutlich einige davon mit Pedal sowie erweiterten Pedalumfängen. Das belegt eine äußerst wichtige Rolle der Saitenclaviere in seiner Werkstatt. Johann Nikolaus Forkel, ÜberJohann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke (Leipzig: Hoffmeister und Kühnel, 1802), 17. gut nachvollzogen werden, wo statt des Besuchs der öffentlichen Konzerträume täglich viele hundert Millionen Menschen zu Hause über youtube und andere Medien Musik konsumieren (und auch studieren), was vor Jahrhunderten analog eben mithilfe der häuslichen Instrumente geschah. Daß Bach am Clavichord am liebsten spielte, hängt laut Forkel mit dessen Möglichkeiten des nuancierten Vortrags zusammen, was sinngemäß auf die Generation eines Buxtehude ohne weiteres übertragbar ist, es doch von Mattheson wie folgt dargelegt wird: „ Will einer eine delicate Faust und reine Mannier hören, der führe seinen Candidaten zu einem sauberen Clavicordio; denn auff grossen, mit 3-4 Zügen oder Registern versehenen Clavicymbeln, werden dem Gehör viele Brouillerien echappieren, und schwerlich wird man die Manieren mit distinction vernehmen können." 4 „Die liebe Orgel hat noch keinen Musicum gemacht, allein dieMusicschon manchen Organisten (...) und hat man wol noch nie einen perfecten Clavicymbalisten und da-bey habilen Musicum so sehr auff der Orgel stümpern gehöret, als wohl manchen (...) Organisten am Clavire." 5. Mattheson hebt in beiden zitierten Quellen die gesteigerte Präzision und die spieltechnisch -interpretatorisch differenzierten Ansprüche hervor, die am Clavichord noch größer sind als am Cembalo, beide aber darin die Orgel übertreffen. Die Orgel ist klaviatur- und ansprachetechnisch generell weniger präzise als Saitenclaviere, als Klangquelle im Raum verteilt und dadurch rhythmisch weniger kontrollierbar sowie durch die generelle Schwergängigkeit des HW und des Pedals gegenüber PSC weniger zum Kultivieren des filigranen Spiels geeignet. Damit werden Saitenclaviere als nicht bloße Übungsinstrumente definiert, sondern als Mittel zum Ausüben einer gediegenen Stufe interpretatorischer und spieltechnischer Kultur: „[Jacques Duphly] spielt den Flügel [=Cembalo] allein, um, wie er sagt, nicht seine Hand durch die Orgel zu verderben"6 „Was an ihm auffällt, ist die Leichtigkeit seines Anschlages und eine gewisse Weiche, die, von Anmut unterstützt, den Charakter seiner Stücke in wundervoller Art wiedergibt"7 Diese Einstellung wird wiederholt bei Adlung angetroffen, der dazu das saitenclavie-rige Pedal als etwas völlig Alltägliches gar nicht näher zu beschreiben bereit ist: „Zum Lernen ist ein Clavicord das beste Clavier; ja auch zum Spielen, wenn jemand die Manieren nebst dem Affecte recht vorstellen will. (...)soll billig ein Clavichordien-Pedal daruntergestellt werden. (...)Eine Beschreibung davon herzusetzen ist nicht nötig, weil alle Kinder solch Instrument kennen."8 Adlungs lakonische Äußerung, daß „alle Kinder solch Instrument kennen", wird man gewiss cum grano salis hinnehmen; dennoch platziert er das Pedalclavichord dezidiert 4 Johann Mattheson, Das Neu-Eröffnete Orchestre (Hamburg: Benjamin Schillers Witwe, 1713), 265. Vgl dazu auch Ch. Ph. E. Bach, Ein Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen (Berlin, 1753), 9: "Das Clavichord ist also das Instrument, worauf man einen Clavieristen aufs genaueste zu beurtheilen fähig ist." 5 Mattheson, Das Neu-Eröffnete Orchestre, 261. 6 Friedrich Wilhelm Marpurg, "Nachricht von verschiedenen berühmten französischen Organisten und Clavieristen itziger Zeit," in Historisch-Kritische Beyträge zur Aufnahme der Musik, Bd. 1, St. 5 (Berlin, 1755), 448-465. 7 Vgl. Textbeilage zur CD: Glüxam, Wolfgang. Jacques Duphly, Pieces de clavecin. Wien: ORF Edition Alte Musik, 2000. (Zitiert wird Pierre-Louis Daquin, 1752.) 8 Jakob Adlung, Anleitung zu der musikalischen Gelahrtheit (Erfurt, 1758; Kassel: Bärenreiter, Kassel & Basel, 1953), 568. jenseits der spezialisierten Szene künftiger professionellen Organisten. In diesem Sinne wäre auch die Widmung „Allen Liebhabern deß Claviers wolmeinend mitgetheüet" im Titel der Anmuthigen Clavierübung (1699) des ein halbes Jahrhundert in Weißenfels tätigen Johann Krieger zu verstehen, die mit „einer aufs Pedal gerichteten Toccata" aufwartet (eigentlich mit zwei Toccaten pedaliter, in D- und C-Dur). Im 20. Jh. erkannten die Pioniere des PSC-Revivals nach einigen Jahrhunderten der Vergessenheit wieder, wie sehr sich die Beschäftigung mit dem Pedalcembalo im Sinne der manuellen und gestalterischen Fertigkeit stimulierend auf den Orgelspieler auswirkt: „We have made several recordings of the pedal-harpsichord, and differentperformers have all told us the same story: that practice on the pedal-harpsichord demands much moreprecision than the organ. If this is the case then baroque organists must have been pretty good!"9 Bei meinen Meisterkursen konnte ich seit Jahren beobachten, daß junge Organisten, die ohne Pedalclavichord oder Pedalcembalo üben, generell eine niedrigere Stufe der Anschlagskultur, technischer Lebendigkeit, oft auch der detaillierten musikalischen Vorstellungskraft aufweisen. Den starren Orgelton zwingt ein am nuancenreichen Pedalclavichord gereifter Spieler deutlich besser zur Kantabilität und intensiven, detailreichen Phrasierungseinheiten. Dazu kommt, daß eine Kompostiton an PSC (und im kammermusikalischen Milieu) automatisch um durchschnittlich 30% schneller genommen wird als an der Orgel. Die daraus resultierende gesteigerte Aufmerksamkeit, Genauigkeit sowie die größeren technischen Ansprüche führen zu einer emanzipierten, da an der Orgel gar nicht „nötigen" Perfektion und Freude der Kunstausübung. Adlung äußert sich zu klangästhetischen Eigenschaften des Pedalcembalos: „Wie nun das Clavicymbel schön lautet; so ist auch ein solch Pedal schön zu gebrauchen. Es braucht keiner besonderen Beschreibung." 10 und bezeichnet das riesige Pedalcembalo des Bach-Schülers J. C. Vogler in Weimar als „Das schönste Clavessin, und zugleich das schönste untergesetzte Clavicymbelpedal".11 Der Idee des Übens für Orgelaufführungen eher fern scheint weiterhin Adlungs Hinweis, der Jenaer Cousin J. S. Bachs, nämlich Joh. Nicolaus Bach „machte ehedessen zu seinen Lauttenwercken auch Pedale, welche eine ordentliche Theorbe im Klang präsentierten"}2 Hier ging es dezidiert um einen emanzipierten Genuss im Erobern neuer Klangwelten, nicht um das Üben der „Orgelmusik". Im Sinne der Kunstausübung äußert sich auch Mattheson. Zu den wichtigsten Schauplätzen für die Ausübung des im Theater beliebten fantastischen Styls rechnet er auch die Kirche und das häusliche Milieu: „...indem ihn nichts hindert, in der Kirche und den Zimmern sich hören zu lassen."13 Ernst Ludwig Gerber erinnert sich schließlich in seinem Historisch-Biographischen Lexicon der Tonkünstler: „.mein Vater [Heinrich Nicolaus Gerber, ein Orgelschüler Bachs und späterer PSC-Besitzer] rechnete unter seine seligsten Stunden, wo sich Bach, unter dem Vorwande, keine Lust zum Informiren zu haben, an eines seiner vortrefflichen http://www.baroquecds.com/25Web.html, Zugriff November 10, 2008. Adlung, Musica mechanica Organoedi, 161. Adlung, Anleitung zu der musikalischen Gelahrtheit, 556 (Anmerkung "m"). Adlung, Musica Mechanica Organoedi, 162. Johann Mattheson, Der vollkommene Capellmeister (Hamburg: Verlegts Christian Herold, 1739), 88. Instrumente setzte und so diese Stunden in Minuten verwandelte."14 Bach, der sich laut Forkel des Pedalclavichords und des Pedalcembalos regelmäßig bedient hat, hat als Gerbers Orgellehrer an häuslichen „vortrefflichen Instrumenten" dem Lehrling seine hohe Kunst demonstriert; das ist weit entfernt von der bislang oft unterstellten Funktion der PSC als bloßer Übungsvehikel für „Orgelmusik". Zu diesem nur partiellen Verständnis führte m. E. die im 19. Jh. wurzelnde, unbegründete Prämisse, bei FPR handele es sich um exklusive, genuine Orgelmusik. Um diese Prämisse zu rechtfertigen, existiert aber bis heute absolut keine verlässliche Quelle, vielmehr wurde das norddeutsche FPR seitens der Zeitgenossen stets „Clavier=stücke" „Clavier=Sachen"oder „Tabulaturstücke" genannt, was eben übergeordnete Begriffe für Tastenmusik im Allgemeinen sind. Dagegen definiert Philipp Spitta, einer der Begründer der Bach-Renaissance im 19. Jh., FPR bereits als „Orgelmusik". Gerade diejenige Dimension, die ein Pedalclavichord zu bieten imstande ist, vermisste Spitta dabei aber intuitiv: „...manchmal treffen wir bei Buxtehude Gestalten, welche nach Tonbeseelung ordentlich zu dürsten scheinen, obwohl es ganz unzweifelhaft ist, daß sie für das mechanische, todte Orgelmaterial bestimmt waren (...) Die Hinüberdeutungen auf ein ausdrucksfähigeres Instrument sind in diesen Stellen so stark, daß sie, auf unserm Pianoforte gespielt, wie für dasselbe geschrieben scheinen; man versuche es nur und wird sich überzeugen, daß es ganz unmöglich ist, den tiefen Gefühlsausdruck /.../ nicht durch Schattierungen des Vortrags wiederzugeben".15 Spitta bemängelte die starre Klanggebung der Orgel in Buxtehudes FPR, was nachher, im „objektiven" 20. Jh. freilich als romantisierend abgetan wurde; aber seine Intuition deutet m. E. gerade auf diejenigen Merkmale der pedaliter-„Clavierstücke", die sich an der Orgel tatsächlich weniger vorteilhaft behandeln lassen als an PSC - der heutige FPR-Interpret kann sich herausgefordert fühlen, in diesem Lichte das Repertoire neu zu entdecken. Bereits Michael Praetorius spricht nüchtern von der gestalterischen Begrenztheit der Orgel: „...Pfeiffwerck mit diesem Mangel behafft, daß sie nicht moderiert, noch die Stimmen zum lautten oder stillen Klang vnnd Sono gezwungen werden können (...) vnd ist unmüglich die Stimmen zu stärcken oder zu lindern; Welches aber einer mit dem Bogen auff der Geigen (...) thun kann."16 Wenn freie „Clavierstücke" pedaliter, im Gegensatz zur historischen Evidenz, als exklusive und genuine Orgelmusik aufgefasst werden, erobert sich im Bewusstsein des Interpreten diese Rigidität des Orgelklanges den Status eines quasi intendierten Bestandteiles dieser Musik, wodurch m. E. wesentliche Elemente dieses Repertoires am Interpreten vorbeigehen. Dem vorzubeugen, scheint mir im Lichte obiger Zitate einer der Hauptgründe dafür gewesen zu sein, warum im Barockzeitalter künftige Organisten offenbar stets an häuslichen Clavieren ausgebildet wurden. In der folgenden Tabelle wurde in den wesentlichsten Punkten der Unterschied zwischen dem spezifischen Idiom der Saitenclaviere bzw. demjenigen der Orgel festgehalten, worauf die identifizierbaren Entsprechungen in den Strukturen der Kompositionen besprochen werden. 14 Bach-Dokumente Bd. III (Kassel: Bärenreiter, 1984), 476. 15 Klaus Beckmann, Die Norddeutsche Schule; Teill I: Blütezeit und Verfall (Mainz: Verlag Schott, 2009), 303. 16 Michael Praetorius, Syntagma musicum; Bd. 2: De Organographia (Wolffenbüttel, 1619; Basel: Bärenreiter, 1958), 69. Das Idiom der Saitenclaviere mit Pedal im Vergleich mit der Orgel - spieltechnische und klangliche Eigenschaften im Vergleich PEDALSAITENCLAVIERE (= PSC) 1. Tondauer begrenzt, Töne verklingend, Diskantbereich wesentlich kurzlebiger als Bass, Tempowerte nicht beliebig nach unten dehnbar 2. Tonrepetitionen sind klanggenerierend, schnelles Spiel (insb. am Cembalo) ist „laut", langsames „leiser" - Tonrepetitionen sind präsenter als liegende Töne 3. Prompte Ansprache in allen Bereichen aller Klaviaturen (z. B. rapide Pedaltriller am Cembalo), Anriss- und Tangentengeräusche an Seiten rhythmisch markierend, Schnelligkeit der Ansprache unabhängig von der Klangfarbe des Registers 4. Stets ein (bei Clavichord wie durch den „Volume-Knopf" dehnbarer) Grundtypus der Klangfarbe und -dynamik. Pedal und Manual haben sehr verwandte Klangfarbe, annähernd bruchlos vom Diskant- bis zum Tiefstbereich. Pedal oft bloß angehängt und, auch wenn separater Pedalkorpus, ohne 4'-, 2'-Register 5. Kein Gebläse; der Winddynamik bzw. -stabilität muss keine Rechnung getragen werden 6. Instrumente der Cembalofamilie beliebig umstimmbar, Clavichorde teilweise; durch reversible Skordaturen scheinbar erweiterte Klaviaturumfänge insb. im Bass sofort realisierbar 7. Modernere Temperierungen und imperfekt temperierte Dreiklänge empirisch weit akzeptabler als an der Orgel, am Clavichord dazu mit der Spielweise manipulierbar; auch idiomatische Verwandschaft zu Instrumenten der Lautenfamilie, deren technische Grundlage auf der gleichschwebenden Stimmung beruht. Die an Kielklavieren einmal gelegte Temperierung spieltechnisch nicht beeinflussbar 8. Tiefe Klaviaturbereiche klanglich wesentlich schlanker, transparenter als an der Orgel; z. B. klingen am Pedalcembalo die 16'-Doppelpedalstellen dort noch transparent, wo an der bereits Orgel zu dick ist 9. Einmanualige Instrumente statistisch bei weitem überwiegend, 2 Man. seltener, 3 Man. seltenste Ausnahme; voll ausgebaute große Oktave bedeutet dagegen minimalen finanziellen Mehraufwand 10. PSC sind im Gegensatz zur Orgel räumlich fast punktuelle Klangquellen mit eher verwandten Klaviatureigenschaften und daher Spielweisen (vgl. Gerstenbergs Clavichord) an Man. I und II ORGEL 1. Tondauer unbegrenzt, Sopran- und Bassbereich diesbezüglich gleichwertig. Tempowerte nach unten unbegrenzt dehnbar 2. Tonrepetitionen unnötig zum Klanggenerieren, schnelles Spiel auch leise möglich & vice versa, liegende Töne prinzipiell klangergiebiger als schnelle Tonrepetitionen 3. Hohe Register und Klaviaturbereiche besitzen schnellere Ansprache als tiefe, insb. 16'- und 32'-Bereich, daher Grenzen für rhythmische Präzision und Tempowahl. Für einige Register träge Ansprache charakteristisch 4. Große Klangfarben-, Lautstärken- und Kombinationsvielfalt. Registertypen werden verschiedene Aufgaben zugeteilt. Klangfarben von ihrem Lautstärkenrang meist nicht trennbar. Pedal und Manual oft kontrastierend in Klangfarbe, manchmal des dynamischen Gleichgewichts wegen Kontrast unvermeidlich (z.B. HW labiales Fortissimo gestützt durch Pedalzunge 16' etc.) 5. Sensible Windstabilität von Registeranzahl, -typus und Struktur der Notentextes unmittelbar abhängig 6. Temporäre Umtemperierung extrem begrenzt, bis auf einige Zungenregister, z. B. im BW. Klaviaturerweiternde Skordaturen sehr begrenzt denkbar 7. Der anhaltende, stationäre Orgelton und seine Aliquotschichtungen über ca. 9 Oktaven sowie der sehr teiltonreiche Zungenklang: Moderne Temperierungen oder schlechte Akkorde greifen viel merklicher in die Klangqualität und Strahlkraft des Instruments ein. Eigenschaften der Temperierung extrem manipulierbar durch Registerwahl (Gedackt 8' mit Tremolo vs. Pleno) und mehrmanualiges Spiel (Solostimme + leisere, matte Begleitung) 8. Tiefe Klaviaturbereiche und Innenstimmen nicht bei jeder Registrierung klar hörbar, kompensierende Registerwahl zuweilen im Konflikt mit der übergeordneten Klangregie der Komposition 9. Drei Manuale im städtisch-hanseatischen Bereich Standard; tiefe Man.- u. Pedaltöne unverhältnismäßig teuer, auch Platzfrage (bereits existente Pedaltürme fassen die zusätzlichen Großpfeifen Cis, Es... nicht) 10. Orgeln sind räumlich sehr verschieden disponiert, Manuale spieltechnisch in der Regel voneinander grundverschieden (HW träge, BW filigran.) Kommentar zu der Tabelle im Hinblick auf die Eigenschaften des FPR und ChPL. Ad 1: Lange Diskanttöne, Klangbalance bei verklingenden Tönen. An Saitenclavieren verklingen die höchsten Töne deutlich schneller als diejenigen des Bassbereichs, deshalb kann man sehr lange Diskanttöne als eindeutig PSC-fremde Erscheinungen definieren. Der statistische Überblick über das gesamte norddeutsche Repertoire zeigt, daß ausgesprochen lange Diskanttöne ausschließlich in ChPL existieren (Weckmann und Reincken: Bis zu 13 Takte lange ununterbrochene Diskanttöne, in den Quellen „fehlen" dabei keine Bindebögen), während in FPR davon jede Spur fehlt und bereits bei wesentlich kürzeren Tondauern (BuxWV 148, Tt. 104-106, BuxWV 149 Tt. 141-144) die Bindebögen relativiert werden, d.h. ihnen in einigen Quellen Tonre-petitionen vorgezogen wurden im Sinne des Ratschlags Frescobaldis „per non lasciar uoto l'Istrumento".17 Diese verschiedenen Kompositionsweisen für ChPR und FPR sind keine norddeutsche Besonderheit, da bereits Frescobaldi in Fiori musicali, die ausdrücklich für die organistische liturgische Praxis bestimmt sind (vgl. die Vorrede des Autors), beispielsweise zwei Kyrie-Sätze mit über den ganzen Umfang der Komposition sich erstreckenden, ununterbrochenen Tönen des Soprans oder der Mittelstimme krönt, wogegen man nach dieser orgelidiomatischen Besonderheit in seinen Toccaten vergebens suchen wird. Und wenn er im Bass der Toccaten im Libro delle Toccate besonders lange Töne notiert (dabei „vergisst" er keine Bindebögen), werden diese explizit bezeichnet „per l'Organo". Auch im französischen Clavecin-Repertoire sind so lange Töne inexistent, freilich aber findet man sie in der expliziten Orgelmusik (etwa dem Point d'Orgue de Grignys). Die Nachlässigkeit im Schreiben der Ligaturen ist in (nord)deutschem FPR statistisch mit der Orgelmusik keines anderen Stilbereichs vergleichbar. Dies ist durch notationstechnische Umstände in der norddeutschen Tabulatur nicht erklärbar, zumal sich eine statistische Diskrepanz zwischen norddeutschem FPR und ChPR abzeichnet. Um nur ein Beispiel mit relativ vergleichbaren Überlieferungsumständen (der engste Kreis um J. S. Bach und seinen Bruder Joh. Chr. Bach) anzuführen: in ChPR Reinckens und Buxtehudes aus der Weimarer Tabulatur sind keine Anzeichen für „fehlende" Bindebögen erkennbar, während dem e-Moll-Präludium Bruhns' aus der Möllerschen Handschrift von praktisch allen Herausgebern des 20. Jh. beinahe 40 Bindebögen hinzugefügt wurden und die Bemerkung „tie lacking" die statistisch überwiegende unter den Bemerkungen in kritischen Berichten zur Belottis Gesamtausgabe Nuxtehudes FPR ist. Da dieselbe Möllersche Handschrift, die ein außerordentlich hohes Maß an Genauigkeit des Kopisten aufweist, auch Bruhns' - wohl unter identischen Überlieferungsumständen abgeschriebenes - Fragment des Präludiums in G-Dur birgt, wo aber alle vermutbaren Bindebögen penibel notiert sind, sehe ich auch die überlieferte Gestalt des e-Moll-Präludiums als die intendierte an und halte Tonrepetitionen statt Bindebögen für glaubwürdig. Aus meiner Praxis am Pedalcembalo kann ich berichten, daß diese Tonrepetitionen, z. B. im Pedal 17 Girolamo Frescobaldi, "Il secondo libro di Toccate, Facsimile," in Archivium musicum 4 (Firenze: Edizioni SPES, 1980), Vorrede. der ersten 17 Takte dieses Präludiums, am PSC absolut optimal verteilt sind im Hinblick auf eine schlüssige dynamische Gestaltung und Gestik. In der Confirmatio (2. Fuge) wird auch ein statistisches Gefälle vom Bass zum Sopran hin auffallend: kein Bogen „fehlt" im Bass, etwas mehrere in den Mittelstimmen der linken Hand, die meisten in den beiden Oberstimmen. Es ist schwer vorstellbar, daß ein genauer Kopist wie Bach ausgerechnet gegen den Sopran hin immer mehr Bögen „vergisst". Die überlieferte Gestalt ist an PSC eine optimale Lösung, schlüssig im Hinblick auf den klangarmen Diskant und das dadurch angeregte erneute Generieren des Klanges und Akzentuierung. Da PSC in Norddeutschland quantitativ eindeutig stärker vertreten waren als in irgendeiner Region Europas, die reichlich Tastenmusik lieferte, mutet es plausibel an, daß zuweilen Kompositionen der spezifischen Prägung entstehen konnten, die dem PSC-Idiom entsprach. So können wir den Anfang des Präludiums G-Dur LübWV9 in diesem Lichte wahrnehmen: Das am PSC verklingende Doppelpedal in Tt. 7-12 begleitet optimal das zunächst lebhafte (am PSC sehr laute) Geschehen im Manual, das sich zunehmend beruhigt und im T. 11 einstimmig wird, bevor es in eine Lautenimitation im T. 12 mündet. Dieselbe Idee scheint den Schlusstakten der Bachschen Fuge C-Dur BWV564 in derjenigen Abschrift, deren Orgelpunkt bis zum Schlussakkord im T. 141 liegen bleibt, zugrunde zu liegen.18 Beispiele für eine solche, an PSC verbesserte klangliche Balance, sind in FPR zahllos (etwa gehören auch die Doppelpedal-Schlusstakte in BuxWV139 dazu), während die Statistik zeigt, daß sie in ChPL, soweit registrierungsmäßig einschätzbar, nicht vorliegen, sondern umgekehrt das Verklingen des PSC-Klanges sich oft ganz kontraproduktiv auswirken würde, z. B. für die Kantabilität des solistischen Cantus planus. Ad 2: Klanggenerierender Anriss der Saiten; Tonrepetitionen, Ornamente, agogische Organisation Die sog. „Reperkussionsthemen" im Fugenmaterial des norddeutschen FPR bilden eines der typischsten, bekanntesten Merkmale des norddeutschen Stils. Statistisch überzeugend ist der Vergleich zwischen FPR und ChPR hinsichtlich der Anwendung dieser Reperkussionsmotivik, erstens in quantitativer Hinsicht: Reperkussionsthemen sind im FPR der oft angetroffene Regelfall und in ChPR so gut wie inexistent. Zweitens im Kontext der Lautstärke der Tonrepetitionen, gespielt an PSC: Die Reperkussionsthemen des FPR werden im polyphonen Gewebe der Fugen in aller Regel so kontrapunktiert, daß sie am PSC bestens heraushörbar sind und auch in den Mittelstimmen perfekt hervortreten (also mit langen Notenwerten der Kontrapunkte, gute Beispiele liefern etwa die 1. Fuge von BuxWV 148, dort insb. T. 37-49, oder LübWV 11, T. 71ff., 105ff.). An der Orgel tritt hier der unangenehme Effekt ein, daß die uninteressanten, bewusst schlicht gehaltenen Kontrapunktstimmen klanglich die Oberhand gewinnen, während das (an PSC hervorleuchtende) Thema vom Zuhörer hier kaum erkannt wird.19 Das Notenbeispiel dazu vgl. Ferdinand Klinda, Orgelregistrierung, 2. Verbesserte Auflage (Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1995), 169. Eine geniale Ausnahme bildet die 1.Fuge des großen e-Moll-Präludiums von Bruhns: Ein chromatisches, somit vorhersehbar verlaufendes und stets wahrnehmbares Thema wird mit einem obligaten reperkussiven Kontrapunkt vereint. Wenn dagegen die reperkussive Motivik im ChPR hie und da doch entdeckt wird, wie etwa in BuxWV 210 ab T. 14., aber wird man bemerken, daß hier Reperkussionsmotive den Kontrapunkt, nicht das Thema bilden, während der Cantus firmus in langen Notenwerten gut hervorleuchtet. Ähnlich lassen Tonrepetitionen in Bachs Erbarm dich mein, o Herre Gott BWV 721, den klanglichen Hintergrund eines Tremulanten imitierend, die Choralmelodie an der Orgel wunderbar hervortreten, während sie an Kielclavieren eine sehr kontraproduktive Wirkung hätten. Einen anderen als den instrumentalidiomatischen Grund für diesen statistischen Befund kann man kaum nennen; daher möchte ich die FPR-typischen Reperkussionsthemen als primär an Saitenclavieren und für diese generierte kompositorische Einfälle definieren. Ist es ein Zufall, daß Reperkussionsthe-men ausgerechnet in einer Region Europas entscheidend stilprägend wurden, wo das (Pedal-)clavichord so sehr verbreitet war? Das Prinzip des Klanggenerierens gilt nicht für Reperkussionsthemen allein, sondern wird an PSC überall dort wirksam, wo die Stimmen untereinander deutlich verschiedene Notenwerte aufweisen. So überzeugt an PSC im T. 98 des D-Dur-Präludiums BuxWV136 die Tirata samt ihrem an der Orgel nie gehörten „pantomimischen Triller" optimal. Dies hat einen bedeutenden Einfluss auf das Verständnis der agogischen Gestaltung dieser Stelle. Nicht minder zeigt sich u.a. das Exordium des großen e-Moll-Präludiums Bux-WV142 im besten Licht am PSC: Der an der Orgel wegen der Pedalstimme und rechter Hand eher „symbolische" Eintritt des Themas im Tenor des T. 2 sowie seine sehr eingeschränkte Wahrnehmbarkeit in T. 5 oder 15 (beide Male im Tenor) beeinträchtigen die empirisch erlebbare Struktur deutlich, während an PSC dasselbe thematische Material, im Vordergrund erklingend, dem Zuhörer einen völlig anderen Hörgenuss bereitet. Nach einer Parallele dieser Satzstruktur im gesamten ChPR werden wir vergeblich suchen. Ebenso entstand in den rund 200 Jahren der „norddeutschen Schule" offenbar kein ChPR, in dem wuchtige, vielstimmige Akkorde so wild repetiert würden wie am Ende der Confuntatio in Bruhns' großem e-Moll-Präludium (T.126 u. ff.). Solche repetierten Akkorde beschreiben zeitgenössische Lehrwerke als „Fortissimo"-Spielweise des Cembalos im Continuo, während sie zu Problemen mit dem Windsystem der norddeutschen Barockorgel führen. Ein wirkungsvolles Beispiel des „klanggenerierenden Repetierens" an PSC wäre schließlich der lange Triller im Tenor der Schlusstakte des Präludiums C-Dur BuxWV 136, der im Sinne einer trefflichen Schlusssteigerung an PSC optimal „glüht" und dessen empirische Wirkung an der Orgel verblasst. Auch in Beispielen wie dem einleitenden Pedalsolo zu Bachs Präludium c-Moll BWV 549 sind, am PSC vorgetragen, solche dynamik- bzw. akzentgenerierenden Verzierungen sehr überzeugend: Sie verstärken deutlich die betonten Höhepunkte des jeweiligen viertonigen Motivs (mit Mordenten versehene Viertelnoten) und rücken die an der Orgel meist fehlerhaft resultierenden Betonungen zurecht. Die durch den Anriss der Saite insb. an Kielclavieren etwas explosive Ansprache des Tones hat zur Folge, daß vielstimmige Akkorde unangenehm hart klingen, wohingegen dies an der Orgel eben nicht der Fall ist. An Saitenclavieren ist das Arpeggieren u.a. deshalb ein beliebtes aufführungspraktisches Mittel. Hier treffen wir wieder auf eine statistische Diskrepanz zwischen FPR und ChPR: In ersteren finden sich relativ oft Bezeichnungen oder graphische Zeichen für Arpeggio, etwa in BuxWV 151 (Präludium A-Dur in der Fassung der Möllerschen Handschrift) und 159 (Ciaccona c-Moll), im großen e-Moll Präludium Bruhns', in Bachs pedaliter-Präludium c-Moll »Harpeggiando« BWV 92120 und, mittels schräger Striche angedeutet, ebenso in Pachelbels Opus. Matthias Weckmann steigert die Expressivität der Schlusskadenz seiner Canzon III in c-Moll ebenfalls durch die Beiworte „adagio et Arp." Überraschend ist nun der statistische Unterschied zum gesamten ChPR, wo solche Bezeichnungen in keiner der erwähnten Formen existent sind. Obschon es wahr ist, daß im Rahmen der fast ausschließlich linearen Strukturen einer norddeutschen Choralfantasie solche Arpeggio-Bezeichnungen nicht zu erwarten sind, hätte dennoch die gesamte Welt des ChPR in der Zeitspanne von etwa 150 Jahren mindestens vereinzelte Beispiele liefern müssen, wenn FPR und ChPR demselben instrumentalidiomatischen Milieu entsprungen wären. Ad 3: Rapide Pedaltriller, -tremoli an PSC; PSC-Tempi & perkussive Ansprache Während kühne, rapide Pedaltriller und -tremoli in der 16'-Baßstimme ein bekanntes Merkmal des norddeutschen FPR darstellen,21 sind sie im norddeutschen ChPR dreier Jahrhunderte inexistent. Während die Pedalvirtuosität im FPR insgesamt eher in Richtung des schnellen Spiels kultiviert wurde (mit Pedalsoli wie etwa jenem zu Beginn des d-Moll-Präludiums Böhms vergleichbare ChPR-Strukturen wird man schwerlich finden), blieben die ChPR-Pedalstimmen vergleichsweise unterentwickelt bzw. steigert sich ihre gattungstypische Virtuosität, beispielsweise in der Generation Weckmanns, eher in Richtung der doppelstimmigen Spielweise. Eine klare Grenze zwischen den beiden Gattungen zeichnet sich gerade dort ab, wo die - meines Wissens einzigen - ChPR-Beispiele für Verzierungen im Pedal, nämlich im Te deum BuxWV218, anzutreffen sind: Ein bezeichnenderweise dem 8'-Klang geltender ausnotierter Mordent zu Beginn von Te Martyrium und ein Trillerzeichen auf einer Achtelnote in Tu devicto. Hierbei muss man freilich offen lassen, ob sie so bereits von Buxtehude gewollt wurden. Aus meiner Praxis am Pedalcembalo kann ich berichten, daß am PSC Niedts 1710 in Hamburg erschienenen Warnungen an norddeutsche Orgelspieler hinfällig werden:22 „(...) bey den zweygeschwänzten Noten das Pedal zu verschonen, weil sonsten nichts anderes, als ein verdrießliches Geklapper zu hören, und die sechszehnfüßige Stimmen nicht so deutlich ihren Ton von sich geben (...)". Die Statistik hinsichtlich der Pedaltriller lässt also PSC, an denen blitzschnell ansprechende, rhythmisch blendend präzise Pedaltöne eine angenehme Selbstverständlichkeit sind, als die primäre Heimat dieser kompositorischen Einfälle und ihrer Wirkung hinsichtlich des dynamischen Verlaufs erscheinen (der trommelartige Fortissimo-Effekt in Tt. 131-133 der Toccata BWV 566 bereitet z. B. beeindruckend den feierlichen Eintritt der 2. Fuge vor). 20 Zu dieser Gruppe seiner PSC-Werke könnte man auch die Aria Variata BWV 989 rechnen (vgl. Thema, T. 9), die Fassung im Andreas-Bach-Buch weist neben der Verzierungen zahlreiche Arpeggio-Zeichen auf. 21 Gute Beispiele finden sich u.a. in BuxWV 141, Toccaten BVW 566 und 564, LübWV9, Heydorns Fuge in g, weiters vermutlich mehrere Stellen bei Böhm, Bruhns, Peter Hasse d. J.... 22 Friedrich Erhard Niedt, Musikalische Handleitung, dritter und letzter Theil (Hamburg: Benjamin Schiller, 1710), 43. Als kein Zufall wäre folglich zu werten, wenn nicht einmal die größten Virtuosen der späten Generation wie etwa Bruhns oder Bach diese Kunst des Basstrillerspiels in den Pedalpart ihres ChPR integrierten - und davon fehlt wahrlich die geringste Spur. Unsere Aufmerksamkeit verdient die chronologische Dimension: Während Bachs Pedaltremoli in der jugendlichen Toccata BWV 566 und rapide Pedalpassagien in BWV 564 norddeutsche Muster fast übertreffen oder ihnen in BWV 549a nicht nachstehen (Tt. 1-8 und T. 45), fehlen sie in seinem späteren pedaliter-Opus. Hatte er seine „Virtuosität verloren" und war gerade noch einmal zu einem gravitätischen Erdbeben-Sondereffekt in der „dorischen" Fuge BWV 538, Tt. 178-184, fähig? Ich glaube eher, daß Bach zu einem bestimmten Zeitpunkt Abstand davon nahm, nach norddeutscher Manier exklusive PSC-Elemente in sein FPR einzuschließen, um forthin auf eine optimale Ambivalenz „PSC oder Orgel" bedacht zu sein, bzw. auf die explizite Orgelmäßigkeit. Das würden die Pedaltriller in der 4'-Lage des Schübler-Chorals BWV 650 bestätigen, die an der Orgel ja perfekt funktionieren. Ich glaube, daß sie im 16'- (oder gar 32')-Plenum im Barockzeitalter jedoch generell als ein Missbrauch der Orgel angesehen wurden. Dazu mag uns indirekt auch ein Vergleich mit der französischen Orgelkultur leiten: Dort waren die Pedalklaviaturen zwar ganz anders gebaut als in Deutschland, trotzdem aber wäre es, was die Beschaffenheit der Pedaltasten angeht, durchaus machbar, hin und wieder einige Mordente und Obernotentriller zu spielen. Daß davon wahrlich jede Spur fehlt, ist hier klarer zu sehen als in Deutschland, da Ornamente in der französischen Orgelmusik penibel notiert wurden, aber ausschließlich im Manualbereich zu finden sind. Sogar bei Autoren, deren Pedalgebrauch auf eine demonstrative Virtuosität hin verdächtig wird (Doppelpedal im Opus Marchands), fehlen Ornamente im Pedalpart gänzlich. Insgesamt sind sowohl im manualiter- als auch pedaliter-Bereich gewisse Erscheinungsformen der Verzierungen an PSC durchaus willkommener als an der Orgel, und auch erst am PSC wird ihr die Dynamik steuernder Ursprung beurteilbar. Wenn man das Inzipit bzw. das ganze Exordium des A-Dur Präludiums BuxWV 151 in der Fassung aus der Möllerschen Handschrift sowie die Praeambula LübWV 8 und 9 in F- und G-Dur spielt, wird das für jeden Zuhörer unmissverständlich erlebbar. Zwischen dem typischen Gebrauch der Ornamente im FPR und ChPR zeichnet sich ein weiterer, zwar mäßiger, immerhin aber bezeichnender statistischer Unterschied, ab: So werden etwa beim ChPR dort, wo sämtliche kompositorische Griffe darauf deuten, daß der MT-fremde Ton dis mit großer Vorsicht angewandt wurde, oft Ornamente angebracht, die ich im heutigen Vortrag temperierungsbedingte Ornamente (TO) nenne. Sie finden sich oft an diesem kompromittierten Ton dis selbst, um ihn zu schwächen.23 Das ist an der Orgel sinnvoll, könnte an PSC aber auch kontraproduktiv wirken. So finden sich denn in freien pedaliter-Präludien solche Beispiele fast nicht - bei auffällig fremden Tönen wie z. B. dem Ton as im C-Dur Präludium BuxWV 136, T. 53, wird lebhaft in der Gegenstimme getrillert, was dem PSC-Idiom entspräche: Der fremde Ton wird ohne Verzierung leiser gehalten und verklingt unauffälliger. 23 BuxWV 209, T. 17, BuxWV 191, T. 11 usw. Ad 4: Registrieranweisungen, solistische Pedalregister 4' und 2', Verhältnis Manual-Pedal, Klangregie durch die Spielweise Da im FPR des gesamten norddeutschen Stilbereichs die Registrieranweisungen zu konkreten Kompositionen absolut fehlen,24 während sie in ChPL sporadisch immerhin anzutreffen sind,25 ist auch hier ein Zusammenhang mit den Eigenschaften der PSC vermutbar, da diese letzteren im Prinzip ja keiner Registrierhinweise bedurften. In diesem Kontext verdient eine Erwähnung auch der statistische Befund, nach welchem innerhalb der norddeutschen (und Bachschen) ChPR neben einigen ausdrücklichen Anweisungen zum Gebrauch der Diskantregister im Pedal viele indirekte Hinweise vorliegen,26 während im FPR das Pedal stets als Bassklaviatur verwendet wird, was wiederum die einzige Option aller angehängten PSC-Pedale war. Diese beherrschten statistisch betrachtet gewiss die Szene, doch sehen wir, daß auch die riesigen Cembali mit einem eigenständigen Pedalkorpus (wie diejenigen von Hildebrandt und Vogler) nur tieferliegende Register besaßen Dadurch demonstrierten sie keinerlei Ambitionen des Nachahmens eines Cornetts 4' oder 2' im Pedal. So ist im FPR eine konsequent beobachtete PSC-idiomatische Schreibweise zu konstatieren. Der stets einheitliche Klangfarbentypus der PSC ist womöglich zu den Ursachen zu rechnen, warum sich so manche Übergänge zwischen den Abschnitten der freien Kompositionen gegen registriertechnische Eingriffe sträuben. Im d-Moll-Präludium LübWV11 wird beispielsweise der vieldiskutierte Übergang zur Fuge (T. 57) an PSC absolut unproblematisch, da die Dynamik automatisch durch die verringerte Anzahl der Saitenanrisse moderiert wird und der Sopran als die fünfte Stimme optimal heraushörbar ist, während aus dem umgekehrten Grund (Steigerung der Dynamik durch die eingeführten Sechzehntel-Notenwerte) sich auch der Übergang zum rhapsodischen Schlussteil ab T. 128 perfekt gestaltet. Überhaupt scheinen aus der PSC-Perspektive die seinerzeit von Wolfram Syre geäußerten Bedenken zu dieser und anderen norddeutschen Kompositionen27 weitgehend gegenstandslos zu sein, wobei die dadurch neu gewonnene Einschätzung ihres künstlerischen Wertes mitunter radikal zum Positiven hin korrigiert werden kann. Die einheitliche Klangfarbe aller PSC-Bereiche vom Diskant im Manual bis zur großen Oktave des Pedals kann auch Situationen erklären, wo wie im großen e-Moll-Präludium Bruhns' aus Gründen der dynamischen Steigerung plötzlich eine zweite Pedalstimme (Tt. 47-49) erscheint und sofort wieder verschwindet; ein struktureller Nonsens, solange die Klangfarbe des Pedals von derjenigen des Manuals differiert. 24 Sogar das einzige potentielle Beispiel LübWV 7 hinkt: Das Wort „scharff" stellt (zusammen mit „sanft" eine deutsche Entsprechung für italienische Dynamik-Angaben forte und piano, vgl. u.a. die Pelpliner Tabulaturen) eher eine Dynamikangabe dar; es ist mit einer Minuskel geschrieben, während Registernamen in mir bekannten Fällen fast immer mit Majuskeln beginnen. 25 Darüber hinaus wird auch in Quellen wie M. Hertels Orgelschlüssel (1666) bei Registrierratschlägen stets von ChPR die Rede, beispielsweise „Alle Schnarrwercke 16, 8 oder 4f. kommen dem Choral trefflich zu statten", ebenso bezieht sich Scheidts Tabu-latura nova, 3. Teil, exklusiv auf das Choralspiel und bringt konkrete Registrierratschläge wie: „Quintadehn oder Gedackt (...) Mixtur und Zimmel oder Super Octav, den Choral deutlich zu vernehmen." 26 Z. B. Nikolaus Hasse: Allein Gott in der Höh; Ewald Hinz: Allein zu dir, Herr Jesu Christ, in beiden Kompositionen ausdrücklich Cornett 2' im Pedal, im ChPR Weckmanns und Scheidts gibt es oft den Anlass dafür und Bach setzt für das Orgelbüchlein gewiss keine Orgel mit fis1 im Pedal voraus (vgl. BWV 608 In dulci jubilo), obwohl er erst in den Schübler-Chorälen explizit die 4'-Lage des Pedalregisters vorschreibt - was er in FPR nie tat. 27 W. Syre, "Unvollständig, unlogisch und unspielbar," Organ 2 (Mainz: Schott Verlag, 2001): 4ff. Am PSC gelingen Stellen dieses Einschlags jedenfalls automatisch perfekt auch z. B. Stimmencrescendo in Tt. 159-161 desselben Präludiums: Der Pedaleintritt stellt an PSC lediglich die „dritte Stimme" dar (übertonnt nicht wie eine Posaune 16' den Rest der Stimmen). Nicht selten im FPR erweist sich auch im Verlauf einer Komposition die einheitliche PSC-Klangfarbe ohne Registerwechsel dramaturgisch als überaus erfolgreich bzw. intendiert (bei norddeutschen Choralfantasien kann nur das drastische Gegenteil behauptet werden), die Dynamik resultiert organisch aus der kompositorischen Struktur und Spielweise, so z. B. in der Confuntatio des genannten Präludiums von Bruhns, bzw. überall dort, wo sich die Struktur in schneller Abfolge kaleidoskopisch verändert, wie etwa in BuxWV 139 nach der Fuge. Die ausgeklügelten Lösungen der Orgelregistrierung kann man hier m. E. als weniger überzeugend erleben als den PSC-Fokus auf verschiedene Spielweisen samt ihrer Eigendynamik. Gegenüber der klanglichen Gesamtregie und der ununterbrochenen Strömung des am PSC vorgetragenen bekannten Präludiums D- Dur BuxWV 139 oder C-Dur BuxWV 137 bezeichneten beispielsweise die meisten Zuhörer in meinen Konzerten die Orgelfassung als weniger glücklich. Ad 5: Orgelwind in FPR und ChPR Beispiele clavieristischer Exzessivität wie in den letzten Takten der Confuntatio in Bruhns' großem e-Moll-Präludium (ab T. 126) oder Bachs Toccata BWV 566 (ab T. 131) mit ihrer akkordischen Zehnstimmigkeit samt dem Pedaltremolo bleiben sogar im Rahmen des FPR fast singulär, während ChPR mit derartigen Strukturen bis weit ins 19. Jh. absolut inexistent ist. Es stellt sich die Frage, warum in einem ganzen Stilbereich bzw. einer gesamten Ära keine einzige choralgebundene pedaliter-Komposition entstehen konnte, die dem Balg vergleichbare Herausforderungen bereitet hätte. Der geschickte Umgang mit dem Orgelwind ist im norddeutschen Bereich von größerer Bedeutung als an mitteldeutschen Orgeln der Generation Bachs und bei einigen bedeutenden norddeutschen Choralarbeiten (z. B. von Weckmann) glaubt man, eine mit dem vorschnitgerschen Orgeltypus wunderbar kongruente spezifische Schreibweise, z. B. im vollen Werck, zu erkennen, die mit feinfühlig dosierten Schwankungen des Orgelwindes einen edel expressiven Ausdruck anstrebt. An demselben Instrumentarium machen die oben erwähnten FPR-Satzstrukturen keinen schlüssigen Eindruck, während sich der Interpret an PSC völlig sorglos der Klangfreude des Fortissimo hingibt und dabei eine ganz andere Kurve des dynamischen Verlaufs formt (BWV 566, T. 132 = Crescendo an PSC). Ad 6: Den Klaviaturumfang erweiternde Skordaturen und temporäre Stimmungsvarianten Die Verwendung der den Klaviaturumfang erweiternden Skordaturen an Saiten-clavieren ist literarisch nicht so zahlreich belegt wie die Kultur des barocken Spiels mit Skordatur auf der Violine28 und anderen Streich- bzw. Zupfinstrumenten. Pieter Dirksen zeigte in der Vorrede zu seiner Ausgabe der Tastenwerke Reinckens29 aber überzeugend, daß Reincken in allen seinen Cembalotoccaten tiefe chromatische Töne durch Skordatur der kurzen Oktave gewinnt und setzt sogar fort: „Das Vorkommen dieser Besonderheit in allen Toccaten Reinckens kann zudem als zusätzliches Argument zugunsten seiner Autorschaft der beiden ungesichert überlieferten Toccaten (...) gelten". 30 Wir beobachten dieselbe Skordaturpraxis regelmäßig noch bei Bach, der z. B. in seinem 5. Brandenburgischen Konzert zwar den Ton Kontra-H verlangt (1.Satz, T. 92), dafür aber C meidet; im Takt 125, wo das C hätte das einzige Mal auftreten sollen, schreibt Bach c° dazu und generiert somit die einzige vermeintlich zweistimmige Continuo-Stelle in der Komposition, er suggeriert damit wohl die spieltechnische Umsegelung des umgestimmten C.31 Auch die Inventio E-Dur BWV 777 oder die Sinfonia E-Dur BWV 792 können ihr H1 auf dieselbe Weise erhalten.32 Einem viel früheren Beispiel begegnen wir im Kreis der Bachfamilie bei Johann Christoph Bach, in dessen Aria Eberliniana (1690) ein Klaviaturumfang bis Kontra-B gar nicht zwingend ist, sondern ebenso gut eine Skordatur infrage käme. Hierfür ließen sich noch viele weitere Beispiele finden. Solche den Ambitus erweiternden Skordaturen sind eine Domäne der Saitenclaviere oder der Regale, nicht der Großorgel. Dies gilt noch mehr für die Erstellung temporärer, reversibler Temperierungsvarianten. Beides bestätigt uns Mattheson: „Es läßt sich mit Flügel=Stücken und Clavicordien viel leichter, als mit Orgeln, so weit bringen (...) und eine Saite läßt sich eher auf oder abziehen, als eine Pfeiffe giessen. Daß also bey jeder Gelegenheit mehr auf die besaiteten Grund=Instrumente gekünstelt werden mag".33 Bereits um 1600 ist in Italien die Praxis dokumentiert, modi ficti am Cembalo durch die Anpassung nur eines oder möglichst weniger Töne spielbar zu machen. So schlägt 1606 Giovanni Paolo Cima für die Transposition seines Ricercare auf alle Stufen vor, jeweils nur einzelne oder wenige Töne zu ändern, z. B. gis zum as.34 Was an der Orgel nur mit Subsemitonien und für wenige, ausgewählte Töne möglich ist, ist am Pedalcembalo in Sekundenschnelle und an jedem beliebigen der zwölf Töne der Oktave realisierbar. Um bei meinem Clavichord die Tangenten nicht zu oft zu verbiegen, machte ich mir zur Gewohnheit, wenn z. B. as statt gis erwünscht ist, die notwendige(n) Taste(n) mit eigens dafür angefertigten, umtemperierten Duplikaten auszutauschen, wofür keine zwei Minuten benötigt werden. 28 Unter den Tastenspielern im norddeutschen Raum war außer Bruhns auch Nikolaus Adam Strunck ein bewunderter Geigenspieler, der selbst Corelli mit seinem virtuosen Skordaturspiel faszinierte, vgl. J. G. Walther, Musikalisches Lexicon (Leipzig: Verlegts Wolfgang Deer, 1732). Schlagwort: Strunck, Nicolaus Adam. 29 Vgl. Pieter Dirksen, Vorwort zu Johann Adam Reincken, Sämtliche Orgelwerke (Breitkopf&Härtel, 2005), 5. 30 Ibid. 31 Der eigentliche Klaviaturumfang nur bis C könnte als ein zusätzlicher Hinweis verstanden werden, daß das infrage kommende Köthener Cembalo, wie in letzter Zeit öfter vermutet, mit einem 16'füßigem Manualregister versehen war; analog war z. B. das bei Adlung beschriebene Voglersche Cembalo mit 16' im Manual als C-, nicht F-Klaviaturtypus konzipiert. 32 Rampes Ansicht „Claviere mit einem Manualumfang bis H1 im Bass müssen Bach sowohl in Arnstadt als auch in Weimar und Köthen zur Verfügung gestanden haben" ist dadurch relativierbar. Freilich sind in manchen Cembalowerken Bachs eindeutig auch Klaviaturen mit tatsächlichen Tasten weit unterhalb des C unumgänglich. Vgl. Siegbert Rampe, "Kompositionen für Sai-tenclaviere mit obligatem Pedal unter JSBs Clavier- und Orgelwerken," Cöthener Bach-Hefte, Nr.8 (Köthen: Bachgedenkstätte Schloß Köthen, 1992), 171. 33 Vgl. Ibo Ortgies, Die Praxis der Orgelstimmung in Norddeutschland (...) (Göteborg: Göteborgs Universitet, 2004), 85. 34 Den Hinweis verdanke ich Chr. Stembridge. G. P. Cima: Partito de Ricercari/Canzoni allafrancese (Milano, 1606), ed., C. Rayner CEKM 20 (1969). Während die Verwendung von reversiblen, klaviaturerweiternden und die Temperierung manipulierenden Skordaturen im Zusammenhang mit dem manualiter-Repertoire bereits öfter identifiziert wurde, macht der vorliegende Vortrag sich dies im pedaliter-Bereich zur Aufgabe. Um mit berühmten Beispielen Bachs zu beginnen, begegnen wir in „der" Toccata BWV 565 einer sonderbaren Situation: die kurze Oktave im Manual reichte völlig aus, würde nicht ein Cis (T. 2) aus diesem Rahmen fallen, welches an PSC aus C leicht herstellbar ist. Diese an beinahe keiner zeitgenössischen Orgel spielbare Stelle ist an jedem PSC mit diesem höchst konservativen Klaviaturtypus also sofort realisierbar. Eine weitere berühmte Toccata Bachs, jene in C-Dur BWV 564, verwirrt in zwei voneinander völlig unabhängigen Abschriften (B14 und B 163) mit ihrem Manualton H1 den deutschen Forscher Dietrich Kilian.35 Dieser Ton ist freilich als Skordatur an PSC in Sekundenschnelle realisierbar. Mit ihrem wiederholt notwendigen Manualton d3, dem cembalesken Passagenwerk, rapiden Terztremoli im Pedal oder dem bis zum Schluss der Fuge ausgehaltenen Pedalton C in einer der Fassungen36 ist die Interpretation dieses Werkes am Pedalcembalo besonders naheliegend. In der Fantasie G-Dur BWV 572, die im Hinblick auf ihre Saitenclaviermäßigkeit bereits ausreichend diskutiert wurde,37 lässt sich der Pedalton H1 ebenso auf einer C-Klaviatur mittels Skordatur aus Cis herstellen (vgl. T. 185: cis° möglicherweise oktaviert wegen des umgestimmten Cis?). Wie Christian Ahrens bereits 1998 festhielt, muss man bei Situationen dieser Art „offenbar von einem verbreiteten Usus ausgehen (...) am Pedalcembalo (...) auszuführen".38 Oft habe ich z. B. an meinem Pedalcembalo Skordaturen vorgenommen, etwa reicht für die heute beliebte d-Moll-Fassung des Präludiums in fis-Moll von Buxtehude die gebrochene untere Oktave des Pedals völlig aus - mit Ausnahme eines B1 im T. 108. Diese Stelle muss für die Orgel umgearbeitet werden und nährt bei manchen Interpreten auch Zweifel an der „Authentizität" dieses Tuns, während am PSC dieser Ton in Sekundenschnelle aus C erhältlich wird. Solche Bassskordaturen sind in technischer Hinsicht weit unkomplizierter als im Diskant; ohne nennenswerte Schwierigkeiten wird für beide großen Präludien Bruhns' (in e und G) der Pedalton F behutsam sogar zum Cis „entspannt". Daß Interpretationen des FPR an PSC für den barocken Tastenspieler der tatsächliche Normalfall waren, belegt ja der bereits erwähnte Ratschlag Adlungs, den Pedalumfang häuslicher PSC größer als bei der Orgel zu halten: „§598 Gut ists, wenn man das Pedal führt bis ins dl; denn zu Hause macht man solche Dinge öfters, als auf der Orgel, welche bis ins dl gesetzt sind."39 Und Mattheson, wie bereits erwähnt, sagt uns, daß häusliche Instrumente insgesamt viel Raum für erfindungsreiche Ideen boten: „Daß also bey jeder Gelegenheit mehr auf die besaiteten Grund=Instrumente gekünstelt werden mag" 40 Was nun die temporären Temperierungsvarianten angeht, haben wir zahlreiche Beispiele im FPR der Generation Buxtehudes, für deren Aufführbarkeit bislang meist 35 Vgl. Christian Ahrens, "Zum Bau und zur Nutzung von 16'-Registern und von Pedalen bei Cembali und Clavichorden," Cöthener Bach-Hefte, Nr.8 (Köthen: Bachgedenkstätte Schloß Köthen, 1992), 69. 36 Vgl. Ferdinand Klinda, Orgelregistrierung, 2. verbesserte Auflage (Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1995), 169. 37 Vgl. u.a. den gesamten Beitrag von Siegbert Rampe, "Kompositionen für Saitenclaviere mit obligatem Pedal unter JSBs Clavier-und Orgelwerken," Cöthener Bach-Hefte, Nr.8 (Köthen: Bachgedenkstätte Schloß Köthen, 1992), insbesondere 169-171. 38 Ahrens, "Zum Bau und zur Nutzung", 69. 39 Adlung, Musica Mechanica Organoedi, 159. 40 Ortgies, Die Praxis der Orgelstimmung, 85. wohltemperierte Orgeln vorausgesetzt wurden, die jedoch an jedem im mitteltönigen Sinne gestimmten PSC durch die Anpassung eines einzigen Tons (oder weniger Töne) schnell realisierbar sind. Im Präludium F- Dur BuxWV 145 begegnen wir beispielsweise sowohl einem MT-typischen Tonvorrat wie auch der in der MT erwarteten Harmonik; plötzlich aber überraschen Stellen mit sehr exponiert angebrachten (nicht „versteckten") Quintakkorden As-Dur und f-Moll (Tt. 20,21) sowie kadenzielle Effekte mit dem fremden Ton as in Tt. 8 und 125. Gleichzeitig fehlt gänzlich der Ton gis, der als Leitton zur III. Stufe durchaus im Rahmen des Erwarteten läge. Das würde freilich ohne Bedeutung sein, wenn nicht die Gruppe der Kompositionen, deren as den Ton gis ausschließt, auffallend groß wäre und in statistischer Diskrepanz zu anderen enharmonischen Situationen stünde.41 Genauso auffallend ist, daß in denjenigen Kompositionen, in denen innerhalb derselben Komposition sowohl as als auch gis auftreten, das gis als ein ganz schlechter Ton behandelt wird. So beobachten wir im Präludium BuxWV 140 in d-Moll (wahrlich eine Tonart, in der man den Ton as kaum erwarten würde) eine, statistisch gesehen verblüffende, Seltenheit der Doppeldominante bzw. des Tones gis insgesamt.42 Er wird nur viermal verwendet (T. 6, 7, 36, 44 *), und dabei ausschließlich in so flüchtigen Situationen, in denen er im Hinblick auf seine Reinheit gar nicht empirisch beurteilbar ist. In Tt. 6 und 7 ist gis die jeweils unbetonteste, flüchtige Sechzehntelnote. Im T. 36 ist es die Auflösung des Vorhalts, eine verkürzte, äußerst unbetonte Achtelnote dieses Halbtakts, die nach der Dauer eines Sechzehntels bereits von der Dominantseptime im Alt verdeckt wird. Es überrascht nicht, daß die einzige lange Gis-Note im T. 44 als Tritonus über dem Orgelpunkt und innerhalb eines archaischen Akkords, auftritt. Wir haben im gesamten FPR Buxtehudes nur noch zwei weitere Beispiele der Doppelverwendung von gis und as. In Präludium g-Moll BuxWV 149 sind Abschnitte mit as überwiegend, während das (wegen der Skordatur verstimmt klingende?) gis ausschließlich als eine große Septime auf dem a-Orgelpunkt im T. 52 „camoufliert" wird und noch dazu mit einem TO der Gegenstimme (am PSC sind Ornamente sehr laut) sofort übertönt wird. Schließlich gibt es noch ein umgekehrtes Beispiel: Im Präludium C-Dur BuxWV 136 tritt gis als Normalfall viele Male auf, während in Tt. 53 das einzige as in einem „Durezze&Ligature"-Akkord angebracht und durch einen TO in der Gegenstimme abgemildert wird. Die Summe solcher Beispiele ebnet, weit mehr als jedes Beispiel alleine, der Annahme den Weg, daß es sich hier um keine „moderne Temperierung" sondern mindestens in den beiden ersten Fällen um temporäre Skordaturen handeln könnte, die eine exklusive Domäne der PSC sind. Andere Beispiele für die Simultanität der Töne gis und as haben wir im norddeutschen pedaliter-Repertoire der BuxtehudeZeit nicht (wohl aber immer wieder für dis-es, etwas seltener auch b-ais, his-c, eis-f, fisis-g...). Mit dieser Statistik vor Augen fällt es umso schwerer, an quintenzirkelschlie-ßend temperierte Orgeln zu glauben. Buxtehude, ein enger Freund Reinckens, dessen 41 Vgl. z. B. die analoge Doppelverwendung von dis-es in C-Dur-Werken Buxtehudes, Böhms und des jungen Bach ( BWV 531, 545); in Werken anderer Tonarten etwa BuxWV 142 usw. 42 Vgl. gis in BuxWV 155 und 161, LübWV11, P. Heydorns Fuga d-Moll u.a. Neigung zu Skordaturen bereits von Pieter Dirksen gezeigt werden konnte,43 zeigt sich in diesem Lichte womöglich als derjenige, der diese Praxis auch im Bereich des FPR nicht vermissen wollte. Ad 9: Einmanualige FPR-Schreibweise, obligate ChPR-Mehrmanualigkeit; standarisierte Klaviaturumfänge in FPR und ChPR Während wir im norddeutschen ChPR Weckmanns, Tunders, Reinckens, Buxtehudes, Lübecks, Böhms, Bruhns', Leydings..regelmäßig auf standarisierte schriftliche Angaben zur Manualverteilung (Werck, R(ück), Brust:, Org:, O[berwerk] usw.) stoßen und das lebhafte Wechseln zwischen den Manualen einen der Grundzüge norddeutscher Choralfantasien darstellt, fehlt im FPR jedes Anzeichen für diesen Standard. Diese weitere in der bereits langen Reihe der statistischen Diskrepanzen zwischen FPR und ChPR gab den Anstoß zur Prüfung eines weiteren Faktors, der simultanen Zweimanualigkeit. Darunter verstehe ich die für ChPR und Orgelintavolierungen charakteristische kompositorische Technik, bei welcher die vom Komponisten vorgeschriebenen spiel- und klangtechnischen Eigenschaften eine einmanualige Aufführung unmöglich machen (kontrastierende Registerfarben zweier sich kreuzender Stimmen bzw. einer Solostimme gegenüber der Begleitung; sich überkreuzende Hände). Die recht vaganten Solostimmen norddeutscher Choralfantasien nützen den Umfang einer Klaviatur oft voll aus, während die Begleitstimmen klanglich untergeordnet auf einem anderen Manual gespielt werden, z.B. in den Abschlusstakten Reinckens An Wasserflüßen Babylon. Matthaeus Hertel beschreibt das 1666 in seinem Orgelschlüßel„dass man nur allezeit dasjenige Clavir (...) darinnen der Choral oder sonst was sonderliches soll geführet werden, schärffer ziehe als die anderen".44 Solche ins Notenmaterial eingetragenen Anweisungen für die simultane Zwei- bzw. Mehrmanualigkeit 45 erweisen sich im ChPR als stil- und gattungstypisch, während sie im FPR aller oben genannten Komponisten vollends ignoriert werden. Da immerhin viele Dutzend FPR-Werke zahlreicher Komponisten in der Zeitspanne mehrerer Jahrzehnte des 17. und 18. Jh. vorliegen, ist diese Tatsache atemberaubend. Sie lässt sich m. E. fast nur damit in Verbindung bringen, daß laut Statistiken einmanualige Saitenclaviere (mit oder ohne Pedal) bei weitem die gängigsten waren und folglich das FPR als eine PSC-eigene Gattung diesen Standard konsequent respektierte.46 Dirksen, Johann Adam Reincken, 5. Vgl. Georg Schünemann, Matthaeus Hertels theoretische Schriften (Archiv für Musikwissenschaft, 1922; Repr. Hildesheim, 1964), 336-358. Im ChPR von Jakob Praetorius, Nikolaus Hasse und Ewald Hinz ging es tatsächlich um vorgeschriebene Dreimanualigkeit, in beiden letzten Fällen mit ausdrücklichen Anweisungen „O", „man", „Brust" und „R[ück]". Ausnahmen bestätigen erneut die Regel: Die Toccata admanuale dupelxvon Delphin Strunck ist sehr orgelidiomatisch gehalten und gleicht in Verwendung simultaner Zweimanualigkeit kompositionstechnisch seinen Choralwerken. Für das gesamte norddeutsche FPR wäre meines Wissens keine einzige Bezeichnung „Orgelstücke" seitens der Zeitgenossen nachweisbar (Mattheson, Werckmeister und Walther benützen die übergeordneten Termini Clavier- oder Tabulaturstücke, obwohl das Wort „Orgelstücke" durchaus bekannt war). Walther spricht in seinem Musicalischen Lexikon allerdings (und singulär) über Struncks Opus als von explizitem Orgelrepertoire: „Er hat viel Orgel-Stücke componiert und insonderheit die Orgel so wohl tractieret (...)". Er brachte diese Bezeichnung meines Wissens nie mit FPR Buxtehudes, Bruhns', Böhms u.a. in Verbindung. . Von diesen Autoren existiert insgesamt eine Komposition mit Angaben zum Wechsel der Klangflächen (Bruhns' kleines e-Moll-Präludium), 43 44 45 46 Das alles bedeutet, daß die ChPR-typische, zutiefst orgelidiomatische Schreibweise, beispielsweise kontrastierende Registerfarben für den Tenor- oder Alt-Cantus firmus einzusetzen, in freien Präludien, Toccaten und Ostinatowerken völlig ignoriert bzw. nie indiziert wurde, genauso die Bewegungsfreiheit der die Begleitung frei kreuzenden Solostimmen. Wie die Analyse des ChPR zeigt, gab die simultane Zweimanualigkeit aber norddeutschen Komponisten noch ein weiteres spezifisches kompositorisches Werkzeug in die Hand, das im FPR von den Komponisten ebenso nie indiziert wurde: Die klangliche Wirkung imperfekt klingender MT-fremderTöne (z. B. dis) im Orgelsatz wird bei simultaner Zweimanualigkeit entscheidend kontrollierbarer bzw. dosierbarer als bei der Einmanualigkeit. Beispielsweise ist in Buxtehudes ChPR diese Methode, statistisch gesehen, auffallend. Der stets mit besonderer Vorsicht eingeflochtene Ton dis47 wird entweder in ILK eingebettet, oder es gibt eine recht deutliche Distinktion zwischen seinem „schüchternen" Vorkommen in der Hauptstimme (rares Auftreten, kurze Notenwerte, leichte Taktzeit, TO usw.) und seiner freizügigeren Anwendung in der „Begleitkulisse" ILK. Das sehen wir in BuxWV 182, 183, 187, 191 (hier unterliegt auch ais derselben Behandlung), 192, 193, 197, 206, 208, 209, 220 etc. eindeutig. Für einen anderen MT-fremden Ton, as, liefert uns Buxtehudes Schüler Daniel Erich ein aussagekräftiges Beispiel mit seiner einzigen erhaltenen zweimanualigen Choralbearbeitung Allein zu dir, Herr Jesu Christ. In den in Lautstärke und Klarheit inferioren Stimmen Bass, Tenor und Alt tritt as insgesamt achtmal auf (punktierte oder normale Viertelnoten), während wir in der Solostimme einzig im T. 24 eine flüchtige as-Durchgangsachtelnote auf der leichtesten metrischen Position finden.48 Dieses orgelidiomatische Steuern der kompositorischen Mittel wird dem Interpreten zu einem wahren Genuss bei der Gestaltung des Affektgehalts im Hinblick auf die Choraltexte. So kann der Schmerz in Erichs zerknirschter Bearbeitung des Bußliedes, bei entsprechender Temperierung freilich, quasi stufenlos nach des Interpreten individuellem Empfinden des Choraltextes dosiert werden. In der Solostimme bedeuten harte Töne immer den gesteigert schmerzhaften Affekt (BuxWV 210, Tt. 172, 190 dis und ais auf den Text über Christi Leiden „gar theur hat er's erworben"), sind aber auch da registriertechnisch und mittels des Tremulanten sehr steuerbar. Hanseatische Stadtorgeln, an welchen bedeutende norddeutsche Organisten tätig waren, waren freilich stets mehrmanualige Instrumente, was sich an ChPR, nicht aber an den FPR-Strukturen wiederspiegelt; erst viel später emanzipieren Bachs Bearbeitungen der Konzerte Vivaldis, seine Dorische Toccata sowie die Triosonaten - diese wiederum laut Forkel für ein PSC bestimmt - die simultane Zweimanualigkeit innerhalb des FPR. Eine weitere Diskrepanz zwischen norddeutschem FPR und ChPR ergibt sich bei statistischem Auflisten der Kompositionen, die mit besonderen Pedalumfängen rechnen. Adlung49 plädiert für erweiterte PSC-Klaviaturen mit dem Argument „hier bezeichnender Weise ohne simultane Zweimanualigkeit; am Pedalclavichord bedürfen überdies die mit „Echo" bezeichneten Stellen in Tt. 17-38 ohnehin keines zweiten Manuals. 47 Meist im dissonanten verminderten Akkord oder als Bass des Sext- oder Quintsextakkordes, als flüchtiger rhythmischer Wert usw. 48 Auch in den beiden einzigen ChPR-Werken Buxtehudes, in denen der Ton as als MT-fremder Ton real vorkommt (BuxWV 185 und 201), findet er sich in der „verdeckten" Registrierung der Mittelstimmen auf kurzen unbetonten Notenwerten. (Warum in BuxWV 194, 195 kein „reales" MT-fremdes as an der Orgel vorkomen muß, siehe weiter unten). 49 Adlung, Anleitung zu der musikalischen Gelahrtheit, 556. kostet solches nicht so viel, wie bey der Orgel", was ganz besonders für die unterste Pedaloktav gilt, sowie „(...)denn zu Hause macht man solche Dinge öfters, als auf der Orgel"50 und dieser Tendenz entsprechend beobachten wir im norddeutschen Repertoire tatsächlich zwei verschieden typisierte Standards bezüglich der Pedalklaviaturen: Bruhns und Buxtehude verlangen zusammengerechnet in vier FPR-Kompositionen Cis für die Pedalstimme, nehmen davon aber Abstand im ChPR. Noch Bach verlangt Cis meines Wissens ein einziges Mal in seinem gesamten ChPR (Orgelbüchlein, BWV 620, später nicht mehr), aber mehrere Male im FPR (Pedal- und Manualbereich), wo er auch reale Pedaltöne e1, f1 (d.h. Tasten) verlangt, die im ChPR höchstens symbolisch notiert werden (sogar fis1 in BWV 608 und f1 in BWV 600), während sie selbstverständlich mit 4'-Registern gespielt werden. Diesen Unterschied kann man als zwei unabhängige Standards ansehen. Bei Bruhns sind sie z. B. insofern nachvollziehbar, als er in seiner Choralfantasie ein einziges Gis verlangt (völlig fakultativ, man führe an Pedalklaviaturen mit kurzer Oktav im T. 91 ruhig die Baßstimme über gis0 oder spiele die Subdominante) und den Leitton (Fis) zur Tonika bis zum allerletzten Takt vor dem Schlusston G ausspart, wo die Stimme ebenso oktaviert werden kann. Von einer solch umsichtigen ChPR-Setzweise (die für Geist, Erich, Hanff...nicht minder kennzeichnend ist) sind seine freien Werke sehr weit entfernt, was für Buxtehude auch gilt. Buxtehudes Standard des ChPR-Pedalumfangs ist dazu eindeutig nicht mit den kurzen Oktaven seiner Lübecker Dienstinstrumente vereinbar. In umgekehrter Richtung ignoriert Lübecks überliefertes ChPR mit konventionellem Pedalambitus den (luxuriösen) Klaviaturumfang der Nicolaiorgel in Hamburg. Zusammenfassend wird ersichtlich, daß es sich bei den verlangten Klaviaturumfängen noch am ehesten um konventionelle Standards zweier Gattungen handelt. Ad 7: Temperierungen der (P)SC und der Orgel - zwei Welten Zuerst sei mit folgender Übersicht der Praxisberichte, nicht theoretischer Schriften über Orgelstimmungen norddeutscher Orgelbauer (insbesondere Schnitger) eine Basis geschaffen, auf welcher das Ausmaß der an der Mitteltönigkeit zuweilen vorgenommenen Manipulationen diskutierbar werden soll: Hamburg - Georg Preus 1729: ". da alle unsere Orgeln alhier noch nach der alten Praetorianischen Arth gestimmet seyn, worinnen den noch viele Fehler stecken: so, daß man nicht aus allen Tonen spielen kan; wegen der sehr harten Tertien, als cis f. dis g. fis b. gis c. h dis item einiger kleiner Tertien, und einige Quinten"51 Norden - Hermannus Schmit 1688: „Daß das ds. im Accord meines Erachtens gegen dem c. in etwas zu viell schwebet, wogegen der Orgelmacher sich erbothen, wan sothane Meinung hinkünfftig von andren Organisten solte beijgepflichtet werden, solches zu endren." 52 50 Adlung, Musica Mechanica Organoedi, 159. 51 Vgl. Ortgies, Die Praxis der Orgelstimmung in Norddeutschland..., 73. Ibid., 38. 52 Zwolle - Abnahmebericht der Schnitgerorgel 1721: "Die Temperatur der ganzen Orgel betreffend finden wir, dass sie wohl passieren kann (doch wurde nicht auf die Weise gestimmt, auf welche man in Holland die Orgeln zu stimmen pflegt) weil die Terzen g-h und es-g etwas größer gestimmt wurden, um die Terz h-d# einigermaßen passabel zu machen."53 Andreas Werckmeister - Kurtzer Unterricht 1698: "...da ich doch in ihren Orgel=Wercken gefunden, daß die meisten Tertiae majores zu groß, und über sich schweben"54 "die meisten" = wahrscheinlich die Mehrheit der 8 guten MT- Terzen, d.h. mehr als 4 zu große Terzen Hamburg - Ahrend & Edskes, 20. Jh. ".Pfeifen, deren originale Tonlängen noch deutlich erkennbar waren, /.../ bei den Obertasten kleine Abweichungen von der reinen MT festzustellen."55 Harburg - Johann Hinrich Gloger 1710: "In der Music hatt man drey Genera, alß das Gens Diatonicum welches die breiten Claves, das Gens Gromaticum so die Semitonia, und den das Gens Enharmonicum, das die gebrochenen oder Subsemitonia anzeiget, Im ordinairen Clavir aber hatt man nur zwey Genera alß die beiden ersten, in welche das 3 te eingetheilet werden mus /.../ Hierüber sind nun unzehlig viele meinungen, der eine will es so der andere so haben, fragt man aber wie weit, wie hoch, wie tieff, wie viel, wie wenig, eine 6ta, 5ta, 4ta, 3tia e. c. gestimbt werden soll so ist niemand zuhause, ich möchte wünschen das ein mahl eine volgültige Approbirte und Cannonisirte Temperatur ans Tageslicht gebracht werden möchte /.../56 Die wichtige Erkenntnis für mich ist hier die Kongruenz zwischen den angeführten Quellen hinsichtlich der häufigsten und offenbar deutlichsten Manipulation an der MT: die Äusserung von Schmit 1688, diejenige der Orgelgutachter in Zwolle 1721 und die späteste von Preus 1729 sind synergetisch in der Erwähnung des manipulierten Tones dis, während Werckmeisters Zitat und der Befund von Ahrend&Edskes das Gesamtbild vervollständigen: von der Mitteltönigkeit ausgehend werden unregelmäßige und im Grunde nicht drastisch modifizierte Versionen abgeleitet, deren am öftesten und deutlichsten erwähnte Abweichung vom Standard eben der Ton dis ist.57 Glogers Reaktion auf die Kritik Vincent Lübecks beweist eindeutig, daß Varianten der Orgelstimmung jenseits der reinen sc-MT in dieser Zeit keineswegs unüblich waren. Leider sagt er nichts Konkretes, aber allem Anschein nach stimmten noch seine orgelbauenden Söhne unweit der MT.58 So könnte seine Stimmpraxis nur mit Mühe außerhalb des Bereichs der MT-Varianten angesiedelt werden und da Lübeck als Revisor völlig ablehnend reagierte, Gloger aber ein kompetenter Orgelbauer war, dürfte vermutet 53 Ortgies, Die Praxis der Orgelstimmung in Norddeutschland..., 137. 54 Befindlich in der Masnuskript-Kopie von: Andreas Werckmeister "Die nothwendigsten Anmerckungen und Regeln (...)", Aschersleben 1698, aufbewahrt in Yale University Library, LM 4982. 55 Cornelius H. Edskes, Über die Stimmtonhöhe und Temperatur der Arp Schnitger-Orgel von St. Jacobi in Hamburg; Publication in Honor of Cornelius H. Edskes (Göteborg University, Organ Art Center, 1996) 22, 23. 56 Ortgies, Die Praxis der Orgelstimmung in Norddeutschland... , 72, 73. 57 Da in immerhin vier der angeführten Quellen von Schnitger-Orgeln die Rede ist, besitzen wir Kenntnisse von wesentlichen Zügen seiner Temperierungspraxis in einer Zeitspanne von vier Jahrzehnten. 58 Vgl. Wolfram Syre, Vincent Lübeck; Leben und Werk, Bd. 205 (Frankfurt am Main: Peter Lang, 2000), 316. werden, daß seine Temperierung in Harburg eine ungewohnte, den konventionellen Ausdrucksmitteln des Choralspiels abträgliche war.59 Ich kommentiere nun die Quellen einzeln, beginnend mit Zwolle 1721: ZWOLLE - ORGELABNAHME 1721. Als modifiziert werden lediglich die Töne es und h genannt; beide seien vom g etwas weiter entfernt als bei dem MT-Standard üblich. Auf den ersten Blick entsteht der trügerische Eindruck, alle der restlichen zehn Töne seien unverändert geblieben, was ausgeschlossen ist. Das h, eine MT-Quint zum fis bildend, dürfte im Fall eines unverändert gebliebenen fis nämlich höchstens um etwa zwei Cent höher gestimmt worden sein, da sonst die Quint h-fis ruiniert gewesen wäre (bereits mit den genannten zwei Cent wurde sie enger als -1/3sc), und jeder Gutachter eine solche Quint problematisch genannt hätte. Empirisch wäre durch eine so geringe „Verbesserung" die Wolfsterz h-dis (427,5 Cent) aber absolut unverändert geblieben (eine wahrnehmbare Verbesserung bleibt gänzlich aus), ebenso wäre die Durterz g-h dadurch deutlich weniger auffällig verändert worden als die nun kritisch zu eng gewordene Quint h-fis, die von den Gutachtern aber unerwähnt blieb. Da die Terzen es-g und g-h von Gutachtern im selben Atemzug genannt wurden: „...die Terzen g-h und es-g etwas größer...", kann nicht angenommen werden, daß sie voneinander drastisch verschieden waren, obschon der Ton es etwas mehr Spielraum hat als das h. Durch solch winzige Modifikationen aber „die Terz h-dis einigermaßen passabel zu machen"60 ist keineswegs möglich. Folglich muss diese Quelle unausweichlich im Sinne einer ,verwässerten' MT verstanden werden und es müssen kleine, wohl unregelmäßige Nachjustierungen einiger benachbarter Quinttöne (zum h beispielsweise: fis, cis; zum es aber: b, f) miteinbezogen werden. Dadurch trifft einerseits Werckmeisters Definition aus Kurtzer Unterricht „daß die meisten Tertiae majores zu groß" in vollem Umfang zu, ebenso die Beobachtungen von Ahrend-Edskes „.bei den Obertasten kleine Abweichungen von der reinen MT...", ohne daß andererseits an eine auch nur halbwegs zirkulierende Stimmungsart zu denken wäre.61 Unsere Aufmerksamkeit verdient die Tatsache, daß mehrere Temperierungssysteme derselben Zeit und wahrscheinlich deutscher Provenienz einer äußerst verwandten Logik des „Verwässerns" der MT folgen, die von Werckmeisters zirkelschließenden Vorschlägen aber grundverschieden ist. Vorrangig für Saitenclaviere hat z. B. Gottfried (bzw. Godfrey) Keller, ein Zeitgenosse Schnitgers und Buxtehudes, als Deutscher in London wirkend und 1704 verstorben, eine solche Anweisung geliefert.62 Noch inter- 59 Daß für Orgelstimmung stets der Choral, nicht FPR ausshlaggebend war, bezeugt noch der von Adlung beschriebene Vorfall mit Neidhardt und J.N. Bach in Jena. Zitiert nach: Johan Norrback, A passable and good Temperament, Studies from the Departement of Musicology, No. 70 (Göteborg University, 2002), 33 60 Grob geschätzt könnte man als „einigermaßen passabel" einen Orientierungswert in der Nähe von 410 Cent nennen, was noch immer um ganze 24 Cent größer als eine MT-Terz wäre und auch noch größer als die pythagoräischen Terz. Um den genannten Wert 410 Cent zu erreichen, müsste man z. B. mindestens die MT-Quinten f-b-es sowie e-h zu reinen Quinten gestreckt haben. 61 Verwiesen sei noch auf den Vergleich der Formulierung der Gutachter,,...wurde nicht auf die Weise gestimmt, auf welche man in Holland die Orgeln zu stimmen pflegt" mit der etwas verblüfften Verteidigung des Orgelbauers (hier bezüglich der beanstandeten Stimmtonhöhe): „.in den bei uns gefertigten Orgeln ist nie eine andere Tonhöhe gefordert worden (...) als ,gut Chorton', und darauf wird alle Sonntage musizieret, mit allerlei unterschiedlichen Arten von Instrumenten ...", woraus der - nicht beweisbare - Eindruck entstehen könnte, daß Schnitger ohne genaue vorherige Absprache im Sinne seiner üblichen Maßstäbe für Tonhöhe und Temperierung gearbeitet hat. 62 Gottfried (in England: Godfrey) Keller, "Scale for Tuning the Harpsichord or Spinnet," in A Compleat Method for attaining to Play a Thorough Bass upon either Organ, Harpsichord, or Theorbo-lute (London: I. Walsh, I. Hare, & P. Randal, 1707), letzte essanter ist die Händel zugeschriebene Temperierungsanweisung aus den „Rules for tuning the HARPSICORD &c. by the CelebratedMr. HANDEL":63 Genau wie in Zwolle 1721 haben von den acht guten Durakkorden der strengen MT hier die Durterzen es-g und g-h am meisten von ihrer Reinheit eingebüßt, somit ist ein enges Verwandtschaftsverhältnis zu unseren oben angeführten Erscheinungsformen der verweichlichten MT zu konstatieren.64 NORDEN - SCHMIT 1688 Durch das in unserer Tabelle aus mehreren Quellen kongruent hervorgehende Tieferstimmen des Tones dis wird freilich die Mollterz c-es zunehmend dissonant. Mehr als vier Jahrzehnte vor Preus' Grundregeln von der Structur... hat Schmit bei der Abnahme der Schnitger-Orgel diese zu tiefe c-Mollterz beanstandet, ohne irgendeinen anderen Ton zu erwähnen. . Das ähnelt sehr der Knappheit der Formulierung in Zwolle, wo die Gutachter bloß die auffälligsten Manipulationen erwähnten, keineswegs alle Abweichungen von der theoretischen 1/4 sc-MT nannten. So erwähnte Schmit nicht, daß mindestens die Quint es-b keine MT-Quint war, ebenso die Durterz es-g wohl keine ganz reine Terz usw. Nun sind empirische Quantifizierungsversuche freilich rein spekulativ; trotzdem merkte ich in meiner mehrjährigen empirischen Praxis mit oft täglichen Temperierungsexperimenten, daß die Terz c-es nicht besonders störend wirkt, solange der Ton es nicht um mehr als zehn Cent tiefer wurde als bei MT, was annähernd einem halben sc entspricht oder mit anderen Worten: bis in der MT-Quintkette die Quint es-b nicht um ein Viertel sc größer als rein wird, oder eben zwei Quinten rein gestreckt werden (reine Quinten f-b-es) usw. HAMBURG - PREUS 1729 Die perfekten MT-Töne es und dis trennt eine Kluft von gut 41 Cent. Wollte man diese - rein theoretisch - halbieren, um zwei gleich schlechte Durterzen h-dis und es-g zu erhalten, so würden beide etwas über 406 Cent betragen - beinahe eine pythagoreische Terz (ca. 407,8 Cent). Hat Preus annähernd das gemeint mit beiden „sehr harten Tertien" h-dis und dis-g? An diesen extremen Ausgleich ist nicht zu glauben, denn die im Choralspiel recht oft verwendete Mollterz c-es erlaubt ein so dramatisch tiefes dis nicht. Daß Preus es-g eine harte Terz nennt, hängt vielleicht in erster Linie damit zusammen, daß sie die am allerstärksten manipulierte aller vorher „guten" MT-Terzen ist. Er nennt auch „item einiger kleiner Tertien, und einige Quinten" sehr harte Intervalle. Da es in Vgl: Jane Troy Johnson, "The Rules for 'Through Bass' and for Tuning Attributed to Handel," in Early Music, Vol. 17, No. 1 (Oxford University Press, 1989), 70-77. Quinten c-f-b-es müssen bei der sogen. „Händel-Stimmung" beinahe rein gestimmt werden, wodurch sich wie in Norden 1688 eine gespannte Mollterz c-es ergibt, die Quint c-g aber kann nur begrenzt tief sein, ähnlich wie h-fis: „this will in some measure bring down the sharpenes of the Third", also bleibt es-g viel zu groß. Die Terz c-e werde „considerably too sharp" gestimmt und die Quint e-h beinahe rein: So ergibt sich folglich eine deutlich übergroße G-Dur-Terz g-h. reiner MT nur eine falsche Quint gibt (gis-es), kann mit „einige Quinten" neben der zu großen Quint es-b z. B. auch die zu enge Quint h-fis (evtl. dazu noch fis-cis) gemeint werden, die entsteht, sobald man das h ein wenig höher gestimmt hat, um die Durterz h-dis (vgl. Zwolle) zu mildern - daher: „einige" harte Quinten. Da die Gutachter in Zwolle eine „etwas größer[e]" Terz es-g erwähnen, Preus aber eine „harte", könnte ein quantitativer, nicht jedoch prinzipieller Unterschied festgestellt werden, somit hätten einige der Hamburger Orgeln um 1729 vielleicht ein noch tieferes dis als die Zwoller Schnitger-Orgel; womit in Hamburg H-Dur etwas besser klänge, Es-Dur aber noch härter. Keine Spur war in diesen drei ausführlichsten Quellen jedoch von einer Absicht der deutlichen Verbesserung des Tones as. Da Preus neben dis-g eben alle üblichen MT-Wolfsterzen expliziter nennt, da Schmit nur das tiefe dis beanstandet und da schließlich die Gutachter in Zwolle nur die geschärften Durterzen dis-g-h erwähnen, müssen wir davon ausgehen, daß die besprochenen Modifikationen der MT sich in erster Linie auf die unmittelbar durch die Verrückungen von dis und h problematisch gewordenen Nachbarn in der Quintkette erstreckt haben werden. As-Dur blieb offenbar unter den schlechtesten Akkorden; seine Wolfsquint wurde jedoch durch das tiefer gewordene dis gemildert. Obschon man die von Preus beschriebene(n) Temperierungssituation(en) auf verschiedene Weisen zu quantifizieren versuchen könnte, setzt seine knappe, durchaus schlüssige Beschreibung unserer Fantasie auch Grenzen. Diese seien symbolisch mit dem folgenden, approximativen „Arbeitsprototypus" im Groben nachgezeichnet:65 es +1/8sc b rein f (fast) rein c -1/4sc g -1/4sc d -1/4sc a -1/4sc e rein h enger als -1/4sc fs enger als -1/4sc cs -1/8sc gs Selbstverständlich ist das ein Modell mit Approximativwerten zum Zweck der Veranschaulichung, während historisch wohl eine Pluralität herrschte und mit einer Bandbreite, beispielsweise der Milderungen des H-Dur-Akkordes, zu rechnen ist. Das ändert am Prinzip aber kaum was; die Hierarchie der Reinheit der Akkorde gestaltet sich wie folgt: Durakkorde: C, D, E, F, A weichen empirisch von MT nicht oder nicht wesentlich ab; G, B sind noch gut, um eine Spur weniger als die fünf erstgenannten; Es-Dur ist von allen einstigen guten MT-Akkorden bei weitem am schlechtesten. Von einstigen MT-Wolfsterzen wird dafür die H-Durterz zur erträglichsten (symbolischer Wert etwa um 411cent), gefolgt von quintenweise immer schlechter werdenden DurAkkorden Fis, Cis, As. Sowohl die Terz als auch die Quint von As-Dur sind jedoch etwas besser als in reiner MT. Mollakkorde: cis, d, e, a weichen empirisch von MT nicht sehr wesentlich ab; c-Moll wird von allen vormals guten MT-Mollakkorden am dissonantesten. Von vormals schlechten MT-Mollakkorden werden es, b, f, as besser (die letzteren zwei sind dennoch am wenigsten brauchbar), während h und fis unangenehm enge Quinten erhalten und daher schlechter werden. 66 65 Hier sei kurz auf eine vorteilhafte Eigenschaft dieser unregelmäßigen MT-Stimmungsvariante hingewiesen: Hier sind die Charaktere der Tonarten stärker differenziert und empirisch voneinander unterscheidbar als bei Werckmeister, dabei klingen Akkorde mit gestreckten (reinen und beinahe reinen) Quinten und langsam schwebenden Terzen (E-Dur, F-Dur) so gut wie reine MT-Akkorde. Der Grund dafür ist die gesteigerte Qualität der Quint bei relativ gut gebliebenen Terzen. 66 Erwähnenswert sind noch insbesondere zwei Septimen: es-des sowie b-as verlieren ihre aus der MT bekannte Härte. Die erste ist zwar wenig brauchbar, weil der Dominantseptakkord Es7 sich nach As-Dur oder -Moll auflösen würde. Die Septime b-as wird jedoch brauchbar und beliebt, wie wir später bei den Repertoirebeispielen sehen werden; so verwendet z. B. Bruhns in seiner Choralfantasie den Ton as vorzugsweise auf die unbetonteste Unterteilung der Taktzeit als harmonische Septime (bzw. Die entscheidende Erkenntnis wäre für mich: Die Analyse des gesamten ChPR Buxtehudes, Schieferdeckers, Lübecks, Hanffs, Erichs, Bruhns', Radecks u.a. zeigt, daß dieser Grundtypus bzw. -prinzip der manipulierten MT an den Orgeln völlig ausreicht, um das gesamte ChPL67 dieser Autoren nicht nur aufführen zu können, sondern offenbart sich bei Choralbearbeitungen in der Regel ein Zusammenhang zwischen ihrem verbalen Gehalt (Choraltext), der vom Komponisten gewählten harmonischen Sprache und dem spezifischen Behandlungskanon für außermitteltönige Töne. Dieser Zusammenhang ist m. E. der bedeutendste Vorteil der durch unseren „Prototypus" symbolisierten Stimmungsformen gegenüber den regelmäßigen Kommateilungen oder zirkelschließenden Stimmungen Werckmeisters. Einige Beispiele werden weiter unten angeführt. Wenn man dagegen davon ausgehen wollte, daß das in modernen Tonarten stehende FPR für damalige Orgeln bestimmt war,68 würde die Summe extremer FPR-Tonarten (bei Buxtehude etwa c, fis, E, A; bei Lübeck E und c) radikal moderne, jedenfalls zirkelschließende Orgeltemperierungen voraussetzen, für deren Existenz einerseits jegliche historische Evidenz fehlt, andererseits ist es auch nicht gut vorstellbar, daß die Komponisten ihr von der „Prototypus"-Logik beherrschtes ChPR samt der spezifischen Affektsprache mithilfe der MT-fremden Töne, dafür ohne weiteres zu opfern bereit gewesen wären. Z. B. wird in Buxtehudes gesamtem ChPR der Ton dis mit großer Vorsicht dosiert, während der Ton ais kaum in Erscheinung tritt und die aus FPR bekannten Töne eis, his sowie alle doppelten Vorzeichen völlig inexistent sind. In Lübecks Choralfantasie Ich ruf zu dir und der anonymen Bearbeitung Ach wir armen Sünder69 folgen wir einer verwandten Logik; dem traurigen Affekt beider Werke gemäß werden Töne dis und ais in typischer Weise kontrolliert eingesetzt. Hier erhebt sich die Frage, warum beide Komponisten in ihren E-Dur-Präludien (ebenso Bach in BWV 566) dagegen ausgerechnet heitere Affektens-sprache wählten und dabei dis, ais und andere MT-fremde Töne quasi uneingeschränkt verwendeten. Auch stellt sich die Frage, warum in einem halben Jahrhundert kein ChPR entstand, das die außermitteltönigen Akkorde quantitativ mindestens annähernd vergleichbar eingesetzt hätte wie im FPR. Wenn also Präludien in fis, c, E, A vorliegen, müsste ein vergleichbar avantgardistisches ChPR, z. B.mit sehr positivem Affektgehalt (Choraltext) in E- statt F-Dur, oder in der Art der sog. Arnstädter Choräle Bachs mit enhar-monischen Schritten, durchaus existieren. Doch noch Buxtehudes Nachfolger Joh. Chr. Schieferdecker verwendet in seinem 1710 niedergeschriebenen Magnificat die Töne dis und ais nach spezifischen „Prototypus"- "-Regeln.70 Daß Buxtehudes Nachfolger ChPR im „Prototypus"-Stil schrieb, während sein Vorgänger FPR für scheinbar gleichschwebende Orgelstimmung in fis-Moll komponierte, ist kein Einzelfall, sondern bei mehreren uns bekannten Paaren von Lehrer-Schüler bzw. Vorgänger- Nachfolger (etwa Bölsche und Leyding) zu beobachten. in der Melodie als Sekund) b-as. 67 Bezüglich BuxWV 194, 195 als Ausnahmen siehe weiter unten. 68 Klaus Beckmann, Die Norddeutsche Schule; TeilI: Blütezeit und Verfall (Mainz: Verlag Schott, 2009), 312- 313. 69 Handschrift "Hamburg ND VI 2360c," wohl aus Lübecks Schülerkreis. 70 Ais wird kaum zugelassen (ausschließlich kurze Dauer auf der allerleichtesten Achtelnote des Taktes, niemals als Quintakord), dis wird etwas weniger camoufliert (auf die betonnte Taktzeit ausschließlich sehr kurz; die einzige längere betonnte Note kommt bezeichnender Weise als Tritonus im T. 26 vor), anfangs wird der Ton dis, in Tt. 3 und 4, ausschließlich in übermäßigen und verminderten Akkorden eingesetzt usw. Noch in der Schlußkadenz im T. 59 wird er bis zur allerletzten, unbetonten Achtelnote ausgespart. Diese Kluft zwischen dem Ton- bzw. Tonartenvorrat des FPR und andererseits des ChPR zeigt m. E. mit Klarheit, daß norddeutsche Orgeltemperierungen mit denjenigen der Saitenclaviere nicht gleichzusetzen sind und beide Welten einen nur indirekten Einfluss aufeinander ausübten. In Frankreich um 1650 ist dieser Sachverhalt nie problematisiert worden: Louis Couperin (gestorben 1661) hinterließ Cembalowerke in modernsten Tonarten fis, c, h, A, während das Orgelrepertoire dieser Zeit rein mitteltönig ist und noch ein halbes Jahrhundert später de Grigny in der Hauptstadt Paris sein Livre d'Orgue drucken lässt, welches nur vorsichtig dosierte Abweichungen von der Mitteltönigkeit aufweist.71 Als eine norddeutsche Parallele Couperins bald nach der Mitte des 17. Jh. wären manualiter-Kompositionen von Matthias Weckmann anzusehen,72 die mit ihren franzö-sisierend avantgardistischen Molltonarten h-, c- und e- vielerlei Töne verwenden, die in zeitgenössischen Orgelwerken nicht vorkommen (beispielsweise eis und ais). Offenbar wurde hier das ausländische saitenclavierige Temperierungsidiom assimiliert - ohne daß ChPL Weckmanns, Tunders und ihrer Zeitgenossen davon profitiert hätten. Wenn Buxtehude und Bruhns in ihren großen pedaliter-Präludien in e (BuxWV 142 und aus der Möllerschen Handschrift) mit praktisch identischem Tonvorrat operieren wie eine Generation früher im manualiter-Bereich Weckmann, Froberger, Erben und L. Couperin,73 braucht es dazu wahrlich keines Werckmeisters. Es scheint aber problematisch, das FPR mit seiner Summe MT-fremder Tonarten noch als genuine, exklusive Orgelmusik zu definieren. Neben den bereits besprochenen Diskrepanzen der instrumental-idiomatischer Kategorie wurden nun auch die temperierungsmäßigen identifiziert. Die Frage wäre dann, ob das kostbare polyphone kompositorische Material der freien „Clavierstücke pedaliter" von einigen (vielleicht in der Improvisiation weniger erfahrenen) Zeitgenossen auf den Orgeln dennoch in einer Form verwertet bzw. spielbar gemacht werden konnte. Harald Vogel wiederrief zwar 2010 seine „Vermutungen zu Transpositionen in den Orgelwerken", 74 doch liefern die historischen Quellen eine derart klare Evidenz über die Bedeutung der Transpositionskenntnise für Tastenspieler des 17. und 18. Jh.,75 daß wir noch einmal daran denken wollen: Der oben genannte norddeutsche „Prototypus" der erweiterten MT stellt ein nützliches Werkzeug dar, um 71 Die Verwendung der außermitteltönigen Töne ist auf dis und as beschränkt (eine Stelle mit des1, bezeichnenderweise registriert mit Cromorne, wofür man diesen einzigen Ton der kurzbechrigen Zunge schnell anpassen kann, wenn man will) und geschieht nach spezifischen Regeln zur Milderung ihrer Imperfektion. 72 Davidsson vermutet in seiner Ausgabe der freien Orgelwerke Weckmanns in der Bemerkung „Tasto" und „Tasti" in der Toccata in e die Verwendung der Pedalklaviatur. Mein Vorschlag wäre, daß diese Bemerkungen die Stellen markieren, wo statt der kurzen die gebrochene Unteroktave nötig wird; und zwar zum ersten Mal im Rahmen der mutmasslichen Sammlung (wohl nach Frobergschem Vorbild disponiert, vgl. Siegbert Rampe, Vorwort, IX zu Weckmann, Matthias. Sämtliche freie Orgel- und Clavierwerke. Revidierte Auflage, Bärenreiter, 1999. 73 In Italien ist es aber z. B. Storace, der in seinem Druck 1664 ebenfalls eine außermitteltönige Vielfalt demonstriert, wozu Töne eis, ais, dis, as gehören. Die spezifische Art, wie diese angebracht werden, lässt viel eher an eine modifiziert mitteltönige Temperierung denken, vielleicht eine dem französischen Ordinaire verwandte, als an zahlreiche Subsemitonien. 74 Vogel, Harald: Vincent Lübeck, Sämtliche Orgelwerke, Edition Breitkopf 8824, (Wiesbaden, 2010), 100. 75 Diese ist von der Forschung bereits ausreichend beschrieben worden, so daß hier nur auf die im Beitrag von Dr. Ibo Ortgies im vorliegenden Almanach zitierten historischen Quellen verwiesen sei. Ein Beispiel verdient es, gesondert erwähnt zu weren, da es sich um Johann Wilhelm Häßler, einen Orgelschüler und Neffen von Kittel handelt und die Transpositionspraxis im Bachschen Umfeld wenige Jahre nach 1750 dokumentiert, sowie die Ansprüche anläßlich einer Organistenwahl: „Das Stück, wozu ich den Generalbaß vom Blatt eine kleine Terze tiefer spielen mußte, war in E-Dur gesetzt (...) Hätte ich da nun nicht (...) die beim Trans- und Supponieren höchstnötige Kenntnis (...) so warf ich zuverläßig in den ersten Takten der Fuge um. Noch größer war meine Freude, da ich obligate Orgelstücke (...) transponieren konnte." in: Jürgen Trinkewitz, Historisches Cembalospiel (Stuttgart: Carus Verlag, 2009), 24. etwaige Transpositionsverfahren zwischen modernen und konservativen Temperie-rungsumständen im FPR zu identifizieren: Das Präludium fis-Moll BuxWV146 zeigt sowohl in der Tonikaposition d-Moll wie auch in g-Moll restlos Prototypus-charakteristische Züge. In d-Moll zeigt sich die Komposition als dem MT-Rahmen zugehörig, nicht allerdings in dem freien Teil „con discretione". * Dort werden MT-fremde Töne dis und ais sehr behutsam eingeflochten: zunächst dis im Bass eines übermäßigen Akkordes und mit einem mildernden TO in der Gegenstimme (T.79), dann unter denselben Bedingungen im Alt eines Sekundakkordes (T. 85) und zuletzt eines Septakkordes, also nie ohne Tritonus (geminderte empirische Beurteilbar-keit der Durterz h-dis). Für den (nach dem „Prototypus" noch dissonanteren) Ton ais wurden noch strengere Verhaltensregeln eingehalten, indem dieser Ton nur ein einziges Mal vorkommen darf (T.87) und zwar einstimmig im Bass, bevor ein vernebelnder, übermäßiger Quintakkord mit bewegter Sopranstimme als sicherer Ohrenschutz eingesetzt wird. Das ais wurde erst eingesetzt, nachdem das mildere dis bereits eingeführt wurde; dieser Reihenfolge werden wir in den folgenden Beispielen immer wieder begegnen; umgekehrte Fälle sind ganz selten. Auf der Tonikaposition g-Moll indessen haben wir, wiederum ausschließlich im rhapsodischen freien Teil,* mit dem MT-fremden Ton as zu tun (T.89 als kurzer, dissonanter Neapolitanischer Sextakkord) sowie in der sehr ausgedehnten plagalen Schlusskadenz (ab T.111), damit durchaus dem Schlussteil der Choralfantasie von Bruhns ähnlich, d.h. ausschließlich in flüchtigen Sechszehnteln und auf leichtesten, am kürzesten artikulierten metrischen Positionen (ausnahmslos zweites oder viertes Sechzehntel). Daß eine originale Komposition in fis-Moll, vermeintlich zum Demonstrieren der Möglichkeiten der gleichstufigen Orgelstimmung entstanden,76 rein zufällig in zwei anderen Tonikapositionen mit der „Prototypus"-Logik so genau übereinstimmt, scheint unmöglich. Vielmehr handelt es sich um eine Komposition, die in ihren Prototypus-typischen Tonikapositionen d- und g-Moll mit MT-fremden Tönen drastisch schüchterner umgeht als etwa BuxWV 142 (laut „Prototypus" ist e-Moll hier die originale Tonikaposition), was sich nicht zuletzt auf unsere Überlegungen bezüglich ihrer Entstehungszeit auswirken kann. Die Toccata in F-Dur BuxWV 156 behandelt in der uns bekannten Fassung den Ton cis in bezug auf seine harmonischen und metrischen Positionen nach dem Verwendungskanon für dis - interessanterweise wieder ausschließlich in freien Teilen. Das so streng eingegrenzte Vorkommen des Leittons zur wichtigsten Tonikaparallele d-Moll wäre wahrlich unnötig; dazu ist gis sogar inexistent (vgl. aber das regelmäßige Vorkommen des analogen Tones dis in C-Dur-FPR usw.). In G-Dur * werden aus cis und gis nämlich Töne dis und ais - wieder einmal zeigt die Statistik auch das erwartete Gefälle zwischen beiden Tönen: Dis ist selten und sehr vorsichtig eingeflochten, ais kommt nicht vor. Andererseits weckt unsere Aufmerksamkeit in der F-Dur-Fassung der einzige MT-fremde, (wie eine „Inselgruppe" erscheinend, also nur in Tt. 83-88 vorkommende) Ton as, der in G-Dur zum b wird und somit den MT-Rahmen nicht mehr überschreitet. Die Fassung in G-Dur bietet dem gewandten Interpreten keinerlei wirkliche Probleme mit den Klaviaturumfängen. 76 Wie die Fussnote 68: Beckmann glaubt noch 2009 in seiner Chronologie der Werke Buxtehudes: „1700-1705, gleichstufig" und „...daß Buxtehudes fis-Moll-Praeludium in seinen letzten Lebensjahren, möglicherweise zwischen 1700 und 1705, entstanden Im Präludium C-Dur BuxWV 136 wird cis77 wieder ohne Ausnahme entsprechend dem strengen Verwendungskanon für dis behandelt. Das weckt freilich alle Aufmerksamkeit, gehörte cis sonst doch seit Jahrhunderten europaweit zu den am meisten und uneingeschränkt eingesetzten Leittönen z. B. in jeder „Primi-Toni-Komposition" und bildete den Abschlussakkord aller zeitgenössischen Stücke in der Tonika a oder A usw. Wie erwartet, kommen cis und gis in BuxWV 136 zunächst nur in freien Teilen vor, bevor sie dann im Schlussteil der Fuge sparsam dosiert werden, genauso in der dritten Fuge (Tt. 71,72,81,82 usw.). In der Tonikaposition C-Dur kommt cis (= dis in D-Dur) mehr als ein Dutzend Mal vor, wogegen gis (= ais in D-Dur ) * nur flüchtig auftritt - chronologisch betrachtet wie immer erst nachdem das cis (= dis in D-Dur) * bereits eingeführt wurde, harmonisch gesehen is ais nie ohne Tritonus im Akkord anwesend. Das Präludium in d-Moll BuxWV140 zeigt in e-Moll * wieder alle Eigenschaften der Prototypus-Kompositionsweise; Buxtehude bringt das dis mit allen erwarteten Einschränkungen; ais wird (obwohl Leitton der Doppeldominante) entsprechend fast gemieden und ausschließlich in empirisch kaum wahrnehmbare Situationen eingeflochten. Der Klaviaturumfang der d-Moll-Version geht oben bis b2, in e-Moll aber bis c3 im T. 17.78 Das Präludium E-Dur BuxWV 141 wird in der Tonikaposition C-Dur bekanntlich auch an MT-Instrumenten spielbar, wobei nicht übersehen werden kann, daß vom Komponisten die Klaviaturumfänge tatsächlich auch für diese Fassung berechnet wurden (vgl. die nie überschrittene gebrochene Oktave im Pedal) und es sich also kaum um eine zufällige Position handelt. Beinahe amüsant aber ist, daß die Tonikaposition D-Dur mit ihren - wieder in freien Teilen angebrachten und restlos spezifisch eingesetzten MT-fremden Tönen dis, ais und einem flüchtigen eis (Presto, T. 67, letztes Viertel) eindeutig dem Prototypus entspricht. * Dasselbe gilt für die quantitativen Verhältnisse zwischen diesen drei Tönen (das Gefällte dis-ais-eis). An dieser Stelle sei vorausgreifend noch ein einleuchtendes Beispiel aus Buxtehudes ChPR, wo der Verdacht auf Transpositionen äußerst selten ist, erwähnt: Ich dank dir, lieber Herre, BuxWV 194.79 Die Komposition geht auf Tonika G80 (statt der überlieferten Version in F mit dem MT-fremden as) sehr klar mit dem (einzigen) MT-fremden Ton dis um. * Dieser wird ausgerechnet für die Textstelle „mit Finsternis umfangen, dazu in großer Not" eingeführt und zwar nach allen Regeln des „Prototypus": Als eine kurze Achtelnote auf der unbetonten metrischen Position, d.h. als Auflösung des synkopierten Vorhalts. Das einzige Mal im T. 61 im Wert einer Viertelnote auftretend, bildet dieser MT- Interessant ist, daß hier bei einer anderen Tonika als in der vorhin besprochenen Toccata BuxWV 156, dennoch derselbe Ton cis nach den für dis geltenden Bedingungen behandelt wird. Das bezeugt die absolute, nicht aber tonalitätsbedingte Charakteristik der MT-fremden Akkorde mit Tönen dis, ais, eis, die im „Prototypus" alle gemildert temperiert wurden. Im T. 96 der e-Moll. Version gäbe es auch ein d3, aber die Stimmen Sopran und Alt können problemlos umgetauscht wer- Ebenso BuxWV 195. Beide Werke unterscheiden sich von dem Rest des ChPR Buxtehudes auffallend dadurch, daß einzig sie den MT-fremden Ton as emanzipieren. Beide sind (wie FPR) ohne simultane Zweimanualigkeit spielbar. Bei BuxWV 195 wäre auch der Gedanke an Subsemitonien as-gis verlockend (nur as0 und as1 werden gebraucht, der dankbar-positive Inhalt des Choraltextes kongruiert mit den meisten bekannten Temperierungen, außer der gleichschwebenden, zu schlecht mit der Verwendung des Tones as). Weitere Anzeichen für G-Dur als Originaltonika: Manualumfang bis c3; Pedaltaste As nicht mehr notwendig; dazu im T. 99, letztes Viertel, die plagale Schlußkadenz als Quintakkord realisierbar, nicht als Sextakkord (im norddeutschen ChPR ganz sin-gulär; evtl. eine Verlegenheitslösung angesichts der nicht gegebenen Pedaltaste B1, vielleicht deshalb auch auf eine Achtelnote reduziert?). 79 fremde Ton aber -höchst bezeichnend- einen dissonanten übermäßigen Quintakkord, dazu mit einem TO in der Gegenstimme. Sobald der Choraltext zum dankbaren Inhalt „daraus bin ich entgangen, halfst du mir, Herre Gott' schaltet, verschwindet das dis. Hier erschließt sich uns wunderbar das Kapitel der Choraltextdeutung im ChPR, das leider den allzu engen Rahmen des heutigen Vortrags sprengen würde. Zahlreiche Werke des ChPR Buxtehudes, Lübecks, Erichs, Bruhns', Hanffs und ihrer Zeitgenossen erstrahlen, durch die „Prototypus-Brille" betrachtet, in einem faszinierenden Lichte. Um zum nach norddeutschen Mustern komponiertem FPR des jungen Bachs zu wechseln: Wir begegnen in der Toccata E-Dur BWV 566 der nunmehr erwarteten Situation. In der überlieferten Tonikaposition C-Dur kehrte das Stück zahm in den MT-Rahmen zurück, wenn nicht, und zwar wieder ausschließlich im freien Teil Exordium, erwartungsgemäß dis und, in Kongruenz mit der sonstigen Statistik, erst darauffolgend ais, vorkämen. Das dis wird anfangs als Basston des verminderten Sektakkordes eingeführt, nachher sukzessive bis zu einem Quintakkord gesteigert (in sehr vielen Beispielen können wir genau dieser unauffälligen „Steigerung des Übels" folgen, wie bei BuxWV 146 oder Schieferdeckers Magnificat bereits gesehen). Ais kommt erwartungsgemäß seltener, nämlich zweimal vor, harmonisch gesehen nur als Bass des dissonanten verminderten Septakkordes (T.17) und als große Septime über dem Orgelpunkt (T.18), bewusst beide Male empirisch nicht genau beurteilbar im Hinblick auf den Reinheitsgrad des Tones.81 In einem weiteren Bachschen Präludium und Fuge in doppelter Überlieferung in c- und d-Moll, BWV 549 und 549a, treffen wir in der d-Moll-Variante auf ein dis,82 erwartungsgemäß wieder im „freien Teil", nämlich dem Präludium, als eine große Septime über dem Orgelpunkt e, also sehr gemildert wahrnehmbar, während der Tonvorrat der Fuge im MT-Rahmen verbleibt. Vincent Lübecks FPR birgt ebenfalls zahlreiche Beispiele der vom Komponisten offenbar bewusst berechneten, multiplen Tonikapositionen. Erwähnt sei das Präludium LübWV 6 in c-Moll. Neben der oft diskutierten d-Moll-Variante mit ausschließlichem MT-Tonvorrat zeigt sich diejenige in e-Moll für unseren, die MT erweiternden „Prototy-pus", typisch. * Wieder sei auf statistisch beweisbare Faktoren wie die Reihenfolge des Auftretens der Töne dis und erst danach ais hingewiesen, sowie die typische harmonische Behandlung: Dis tritt öfter und in diesem Stück zuweilen auch in (im flüchtigen Maximalwert Achtelnote) Dur-Quintakkorden auf; ais indes genießt diese Freiheit nie und tritt zunächst im Bass des verminderten Septakkordes auf (T. 26), dann als ein einstimmiger Ton (T. 40), dem ein Tritonus hinzugefügt wird usw.83 Mithilfe unserer Erkenntnisse über den modifizierten Ton dis kann auch das berühmte Präludium in g-Moll BuxWV 149 untersucht werden: Die Tonikaposition a-Moll respektiert restlos den Verwendungskanon für den Ton dis. Besonders interessant: 81 Ein fakultatives dis (kurze Auflösung des Vorhalts im T. 167 auf dem unbetontesten Achtel des Taktes; ebenso könnte dort d gespielt werden) bestätigt als Ausnahme die Regel: In freien Teilen ja, in den Fugen nicht. 82 In diesem Stil ist die erhöhte I. Stufe in Moll wahrlich eine Seltenheit, vgl. das gesamte norddeutsche FPR in Moll-Toniken; das beweist wieder einmal die absolute, d.h. tonalitätsunabhängig charakteristische Behandlung des MT-fremden Tones dis. 83 Nebenbei: da Preus 1729, also zu Lebzeiten Lübecks, die Hamburger Terz es-g „sehr hart" nennt (nicht nur „etwas größer" wie die Gutachter in Zwolle acht Jahre zuvor), wird H-Dur dadurch als verhältnismäßig weniger dissonant definiert. Die gegenüber dem gesamten ChPR Buxtehudes ein wenig gesteigerte Akzeptantz des Tones dis in der vom „zerknirschten" Affekt beherschten Choralfanstie LübWV13 (sowie in der ebenso traurigen anonymen Choralbearbeitung Ach wir armen Sünder, vermutlich aus seinem Schülerkreis, Hs. Hamburg ND VI 2360c) scheint dieser Logik zu entsprechen. Die Verzierungen zu Beginn der Fuge (Tt. 26 und 32)84 entpuppen sich als TO, da sie auf beiden genannten Stellen simultan mit beiden allerersten dis-Tönen auftreten. * Sie werden in der Gegenstimme, nicht am imperfekten Ton dis gebraucht, was an PSC noch erfolgreicher den MT-fremden Ton kaschiert als an der Orgel. Andere MT-fremde Töne werden in dieser a-Moll-Fassung gemieden, bis uns im T. 126 ein Mollseptakkord auf dem Grundton f begegnet. Dem „Prototypus" entsprechend wurde die Charakteristik dieses Akkordes im Vergleich zur reinen MT sehr gemildert85 und somit als eine klug dosierte Härte erlebbar. Die a-Moll-Position des BuxWV 149 respektiert, wie bislang alle Beispiele, die Reihenfolge des Auftretens der MT-fremden Töne (dis zuerst) sowie den Manualumfang bis c3 und bietet dem Pedalspiel keinerlei Probleme, wenn man zur manualiter-Auffassung des continuoartigen Allegro-Allabreve-Teiles bereit ist86 und im T. 119 das 32'-Register zieht.87 Während der a-Moll-Position von BuxWV149 eine äußerst „höfliche" Behandlung des Tones dis eigen war, stimmt diese einen Schritt in der Quintkette tiefer, also auf der e-Moll-Tonika,88 mit dem typischen Idiom bekannter e-Moll-Kompositionen wie BuxWV142 oder Bruhns' großes e-Moll-Präludium praktisch überein. Außer dem Ton dis betritt nun auch ais die Bühne, beide unterliegen, statistisch betrachtet, den erwarteten „Prototypus"-Regeln * für Verwendung MT-fremder Töne, das typische statistische „Gefälle" dis-ais kann beobachtet werden usw. Durch die „Prototypus"-Brille betrachtet, sind alle drei Kompositionen explizite Früchte der Beschäftigung mit dem spezifischen Idiom der Tonalität e-Moll; eine komparative Studie aller dreien Stücke würde freilich einen eigenständigen Vortragstermin füllen. Beispiele dieses Einschlags sind für das FPR norddeutscher Komponisten allgemein kennzeichnend und stellen m. E. ein stiltypisches Merkmal dar. Wie der Leser bereits bemerkt haben wird, fallen auch die Klaviaturumfänge in den Kontext des von norddeutschen Komponisten auf multiple Tonikapositionen vorberechneten FPR. Es wäre aus statistischer Sicht sonst schier unmöglich, daß ihre Werke - meist entweder mit der sog. gebrochenen oder sogar kurzen Bassoktav rechnend - beinahe immer in verschiedenen Positionen funktionierten. Wie kann es z. B. erklärbar sein, daß LübWV 6 in Toniken c, d, e stets den Pedalumfang C-d1 und die gebrochene Oktav respektiert, gleichfalls im Zur italienisch-süddeutschen Praxis, nur zu Beginn der Komposition oder des Abschnitts Ornamente zu notieren vgl. Candida Felici, "Venetian-Style ornamentation in the books of the Turin organ tabulature," in The Organ Yearbook 2005, edit. Peter Williams (Laaber: Laaber-Verlag, 2005), 95-108. Seine Grundquint f-c ist rein oder fast rein, die Septime f-es wesentlich kleiner als in MT (und differiert somit von der gleichschwebenden um den Approximativwert von ca. drei Cent), die Mollterz f-as ist um sieben bis acht Cent perfekter geworden, insbesondere aber ist die MT-Wolfsquint as-es nun deutlich gemildert, der symbolische Wert der Milderung wäre knapp 20 Verglichen mit lebhaften Allegro-Tempi in der Allabreve-Taktart des annähernd zeitgenössischen Opernrepertoires und der italienischen Tasten- sowie Ensemblemusik wäre das m. E. ohnehin die sympathischere Lösung Da für die hanseatische Großorgel die 32'-Basis im Pedal (= Bass) und die 16'-Basis des HW (Tenor, Alt, Sopran) stiltypisch und kennzeichnend sind, könnte man diese Stelle als explizit orgelidiomatisch auffassen, wobei man für PSC mit voll ausgebauter Großoktav in realer Tonhöhe notieren musste (zur Notation der realen Tonhöhe vgl. u.a. BWV 608 mit vermeintlichem fis1 im Pedal, des Weiteren BWV 600 usw.). Die Bedenken Michael Belottis (Die freien Orgelwerke Dieterich Buxtehudes, Europäische Hochschulschriften, Verlag Peter Lang, 2. Aufl. 1997, Seite 255) könnten dadurch als ein Teilaspekt im Rahmen der breiteren Gesamtheit wahrnehmbar sein. Unmittelbar vor dem problematischen Themeneintritt im Pedal im T. 119 schrumpft der kompositorische Satz - eine einzigartige Situation in dieser Fuge - auf Einstimmigkeit; für die linke Hand ergibt sich eine zum Ziehen des 32'-Registers ausreichende Pause in der Dauer einer Taktzeit im 2/3-Takt. Die e-Moll-Fassung ist, ähnlich wie diejenige in a-Moll, im Hinblick auf den Manualumfang generell problemlos, in beiden aber zeigt sich der contiuoartige Allegro-Allabreve-Abschnitt gewissermaßen als ein vielleicht eigens für die g-Moll-Fassung komponierter Implantat. In e-Moll muss das Es (Dis) im Pedal zur Verfügung stehen. 34 85 56 Manual nie aus dem Rahmen gerät? Dasselbe gilt für LübWV 7 (E-, D-, C-Dur), LübWV 8 (F-, E-, D-, C-Dur) und selbst für das mit dem großen Pedalsolo beginnende LübWV 10, das auf jeder Position zwischen C- und F-Dur spielbar ist.89 So möchte ich das norddeutsch-barocke FPR grundsätzlich und im deutlichen Unterschied zum ChPR als in vielen Fällen eigens zum Transponieren konzipierte, die pädagogische Dimension nicht leugnende und vorrangig für das PSC-Idiom maßgeschneiderte „Transponierware" definieren, was dem künstlerischen Wert dieses Repertoires und den Ambitionen heutiger Interpreten freilich nicht den geringsten Abbruch tut. Allerdings wird das Suchen nach der einzig wahren „Originalgestalt" bzw. „Originaltonart" oft gegenstandslos, da meist multiple Tonikapositionen explizit vorbestimmt zu sein scheinen, wobei die Prototypus-Fassungen als eine Art verschiebbare Matrix zu nennen wären. Auf dieser Basis könnte auch eine Erklärung für den stets gering gehaltenen Mo-dulationsradius90 dieser Kompositionen zuwege kommen: Ähnlich dem Ausarbeiten des doppelten oder dreifachen Kontrapunktes muss der Komponist in transponierbar konzipierten Stücken gewisse Töne und Situationen meiden, um die Polyvalenz zu sichern. Im Fall von BuxWV 146 und LübWV 7 sind die Toniken d und g sowie C und D also für den „Prototypus" vorberechnet. Die „wilden" rücksichtslosen Transpositionen (e- und fis-Moll für BuxWV 146, E-Dur für LübWV 7) aber sind nur mittels einer zirkelschließenden Stimmung und wohl nur in der Domäne der PSC realisierbar. Wie die Analysen zeigen, finden sich die MT-fremden Töne in entsprechenden, durch den „Prototypus" entdeckten Tonikapositionen meist außerhalb der Fugenteile. Das lässt norddeutsche Präludien - ungeachtet ihres hohen künstlerischen Wertes -auch als praxisnahe Patchworks erscheinen, deren Teile (nicht aber die Gesamtheit) auf konservativen MT-Instrumenten auf mehreren beliebigen Toniken spielbar sind, wodurch ihr hochkarätiges polyphones Fugenmaterial vielfältig verwertbar wird. Eines der deutlichsten Beispiele für diese beabsichtigte Distinktion zwischen dem MT-Fugenmaterial und den wilden, beliebigen freien Teilen liefert das Präludium D-Dur des als Lübecker Jacobiorganist gestorbenen Georg Saxer. In den freien Teilen lassen die völlig „schamlos" (d. h. weitab von jeglichen „Prototyp-Regeln") exponierten Töne his, ais, eis, dis am ehesten an eine gleichschwebende Situation denken. Die fast 70 Takte lange Fuge meidet indes konsequent jegliche MT-fremden Töne insb. dort auffallend, wo sie sich in temporären Toniken e- und fis-Moll bewegt (vgl. Tt. 107-112).* Das Temperierungs-Patchwork ist hier besonders auffällig, keineswegs aber singulär. Derselben Patchwork-Logik können wir durch den vorwiegenden Teil des FPR Saxers berühmterer Kollegen folgen, darunter neben bereits erwähnten BuxVW 137, 136 (in Tonika D), 139 (MT-Fuge mit interpolierter „Insel" Tt. 45- 49 mit his, eis, ais, dis), 140 89 Vgl. im T. 97 der Fuge die fehlerhafte Anomalie der Stimmführung im Bass und Tenor: Eine Verlegenheitslösung, die in E- und F-Dur unnötig ist; ähnlich die singulär große Entfernung Alt-Sopran, T. 109. Auch Brunckhorsts e-Moll-Präludium und Fuge sind z. B. in d und g gleichermaßen MT-typisch und konform mit dem Standard der Klaviaturumfänge (lediglich T. 59 der g-Moll-Fassung verlangt im Bass eine - wiederum problemlose - Oktavtransposition des Fugenthemas bzw. manualiter-Ausführung). 90 Auch das kühnste Beispiel des erweiterten Modulationsradius in Buxtehudes FPR (und somit seinem gesamten Tasten-Oeuvre), das Präludium e-Moll BuxWV 142, bewegt sich harmonisch eindeutig innerhalb der Prototypus-Grenzen. Sämtliche seiner MT-fremden Töne (nur dis, ais, dazu höchst marginal vorkommend eis) und die daraus gebildeten Akkorde samt ihrer Verhaltensweisen sind u.a. aus Weckmanns e-Moll-Manualiter-Werken, längst bekannt und somit absolut konventionell. (in e-Moll *), 141 (in D-Dur *), 156, 145, 146 etc., weiters in Böhms Präludium und Fuge C-Dur, Bachs BWV 566 (auf der Tonika C-Dur) u.v.a. Der Gedanke, daß die Fugen quasi zufällig, im Sinne des „stile antico" eine derart engere Anlehnung an die MT aufweisen als die freien Zwischenteile, greift vom statistischen Standpunkt her gesehen, also zu kurz: Es geht um ein gewolltes Beachten der MT-Grenzen, einen absichtlich minimierten Modulationsradius und somit um eine gesteigerte Applizierbarkeit an den konservativ gestimmten Instrumenten, insbesondere Orgeln. Vielleicht wird das noch deutlicher bei einer anderen Form dieses Patchwork-Konzeptes, die mit dem MT-fremden Ton as zusammenhängt. Der statistische Überblick über das norddeutsche FPR legt einen entscheidenen Unterschied zwischen as einerseits und dis andererseits bloß. Während dis in Tonarten e-Moll, a-Moll usw. in aller Regel im Grunde flächendeckend vorkommt (d.h. verstreut von Anfang bis Ende der Komposition) und in anderen Tonarten als der allererste eingeführte MT-fremde Ton fast ausschließlich in freien Teilen erscheint, sind für das Auftreten des Tones as „Inselgruppen" gegen Ende der g-Moll-Fugen * besonders typisch, aber auch im FPR anderer Tonarten wie in BuxWV 140, 145, 156 usw. (in diesen ausschließlich außerhalb der Fugenteile, in BuxWV140 in d-Moll ein höchst fremder Ton!). Dies mindert keineswegs die Verwunderung darüber, warum gerade freie Kompositionen in g-Moll so oft mit as-Abschnitten angereichert wurden. Im deutlichen Gegensatz zur Verhaltensweise des Tones dis, wird as im FPR oft recht exponiert angebracht (z. B. auf der betonten Taktzeit als Grundstellung des Quintakkords As-Dur oder f-Moll, vgl. BuxWV 145, 149, Brunckhorsts/Bruhns' Präludium in g-Moll * usw.), während aber der gesamte Rest der Komposition den MT-Rahmen nirgends überschreitet.91 Solche „as-Inselgruppen" fehlen unerwarteterweise in keiner überlieferten FPR-Komposition in g-Moll Buxtehudes, Böhms, Heydorns, Brunckhorsts92 und des jungen Bach (Frühfassung BWV535a, hier die Fuge). Wieder im Unterschied zum obligaten Leitton dis in e-Moll usw. werden as-Abschnitte (oder nur Töne) quasi fakultativ verwendet, d.h. meist herausschneidbar, „umsegelbar".93 Wenn man von zirkelschließenden Temperierungstendenzen ausgehen wollte, wäre eine solche Schreibweise geradezu widersinnig.94 Warum wird as im FPR „inselweise" und dort aber „mutiger" als dis angebracht? Warum erst als eine Art Extension der Fuge, nachdem diese bereits gut durchgeführt wurde?95 Diese Logik ist bei dis inexistent und der Grund für diesen Sachverhalt ist m. E. darin zu suchen, daß der Ton as an norddeutschen Orgeln ohne Subsemitonien, im Gegensatz zum dis, nie wirklich Die einzige nennenswerte Ausnahme: ein Moll-Septakkord in BuxWV149, T. 126. Von manchen Forschern auch Bruhns zugeschrieben. Dieser Unterschied ist noch so spät wie in Lübecks Clavierübung 1728 deutlich zu beobachten. Hat derselbe Komponist davor wirklich „originale Orgelwerke" in c-Moll und E-Dur geschaffen (die auf anderen Toniken wiederum MT oder Prototypus-typisch sind)? Eine Bestimmung für Orgeln mit Subsemitonien as/gis halte ich für ganz unwahrscheinlich, gehören doch alle genannten Komponisten einer Zeit an, in der Subsemitonien aus der Mode waren. Dann wäre auch eher zu erwarten, daß ihre Vorgänger aus der Blütezeit der Subsemitonien wie Tunder, J. Praetorius, Weckmann. solche as-„Inseln" in ihr FPR einfügten. Kühne enharmonische Situationen wie in J. Praetorius' 3. Versus aus dem Vater unser (as, gis, dis, es innerhalb desselben Taktes) hätten dagegen, wenn Subsemitonien in den Generationen Buxtehude - Böhm - junger Bach denn eine Rolle gespielt hätten, höchstens häufiger werden müssen als in der 1. Hälfte des 17. Jh., was ebenfalls nicht zutrifft. Die Verwendung der Pedaltaste As in Buxtehudes pedaliter-Opus spräche ebenso gegen Subsemitonien (seine Dienstorgeln verfügten nicht einmal über Fis und Gis). Vgl. BuxWV 148, 149, 150, sowie: Kerala Snyder, Dieterich Buxtehude (Kassel: Bärenreiter Verlag Kassel, 2007), 296. (zu BuxWV 149) 91 94 existent war. Das würde erklären, warum dieser Ton so gerne gerade in g-Moll (oder d-Moll bzw. F-Dur), wo er keinen vitalen Bestandteil der konkreten Tonalität darstellt, als eine quasi fakultative Extension angebracht wurde, was an PSC durch das Umstimmen eines einzigen Tones pro Oktave realisierbar ist. Das wird durch das statistische Ergebnis bestätigt: Zeitgleich mit dem mutigen, aber quasi fakultativen Gebrauch des Tones as sind im norddeutschen FPR Toniken extrem rar, bei denen as einen vitalen Bestandteil darstellen müsste (Es-Dur, f-Moll, Des-Dur...), d.h. sie sind auf c-Moll beschränkt und selbst hier, wie wir gezeigt haben, stets eine - wohl für PSC gedachte - Transposition des „Prototypus".96 Um vorauszugreifen: Verglichen mit der eben beschriebenen Anwendungsweise des Tones as in FPR zeigt die Statistik im norddeutschen ChPR ein ganz anderes Gesicht. Hier wird as nie als eine „fakultative Appendix" am Ende der Abschnitte zugefügt, sondern (die Subsemitonien-Manier von J.Praetorius, Scheidemann...freilich ausschließend) kann überall vorkommen und wird als ein sehr „schlechter" MT-fremder Ton behandelt: Reincken, Buxtehudes Schüler Bruhns, Erich und noch J.G. Walther sowie Bach in seinem Orgelbüchlein verwenden die Akkorde As-Dur und f-Moll in aller Regel in ChPL mit schmerzhaftem verbalen Inhalt, die entsprechenden Mittel zur kontrollierten Dosierung einsetzend.97 Vom statistischen Standpunkt wird man den „Appendix"-Ton as in norddeutschen freien g-Moll-Stücken auch als unverhältnismäßig oft vorkommend bezeichnen, denn analoge Töne (die erniedrigte II. Stufe) sind in anderen Tonarten seltener: es in d-Moll, f in e-Moll, und b in a-Moll. Deshalb wäre evtl. wieder zu überlegen, ob PSC nicht das primäre Mittel für Aufführung dieser beliebten MT-fremden Zutat sind. Einem besonderen Fall der as-„Insel" begegnen wir in Bachs g-Moll-Fuge BWV542/2 (Takte 71-89, neben as wird auch des eingeführt). Unser approximativer„Prototypus" für erweiterte MT norddeutscher Orgeln erlaubt uns, diese Komposition in einem neuen Lichte zu sehen: Bis zum T. 71 und ab dem T. 89 finden wir keinen einzigen Ton außerhalb des MT-Rahmens (obschon die Weise, wie Septakkorde verwendet werden, eine perfekte -sc-MT als ideale Grundlage weniger plausibel erscheinen lässt). Im kurzen Abschnitt in den Takten 71-89 werden plötzlich mit MT-fremden Tönen as und des die wildesten Akkorde sehr auffällig angebracht (lange Tondauer, betonte Taktzeit): As-Dur, Des-Dur, f-Moll, b-Moll. Man darf vermuten, daß es sich um eine Extension der ursprünglichen Fassung handelt (T. 90, 1. oder 3.Viertel, oder T. 89, 3. Viertel, knüpft an T. 70 praktisch perfekt an *). Nun ist es interessant, den harmonischen Duktus dieser Komposition durch die Brille des „Prototypus" zu analysieren: Wir wissen, daß von allen guten -sc-MT-Akkorden des b-Bereichs bei der Umstimmung auf den „Prototypus" gerade c-Moll und Es-Dur am drastischsten an Qualität verlieren. Die Statistik zeigt, daß in der vermutlichen ursprünglichen Fassung von BWV 542/2 96 Von Leyding ist in demselben Sinne ein Präludium in Es überliefert, das in C * und G "eindeutig dem „Prototypus" entspricht und in F-Dur MT wird. Somit wäre die Position Es-Dur wieder als eine in die Domäne der PSC gehörende Parallele des BuxWV 146 oder LübWV 7, also als eine „wilde Transposition", auffassbar. Tt. 99, 100 und 109 der G-Dur-Fassung liefern dabei treffende Beispiele, wie leicht die Anpassung an die Klaviaturumfänge - ähnlich den überlieferten Manipulationen an der Pedalstimme in BWV 566, Tt. 127 bis 129 - durch Oktavtransposition oder Stimmentausch geschehen kann. 97 ILK, kurze Dauer, unbetonte metrische Positionen, harmonisch bei vielen Autoren vorzugsweise als Septime b-as, die im „Prototypus" um ca. 12-15 Cent weiter als in reiner MT ist, und somit der gleichschwebenden empirisch nahe. Darüber weiter unten mehr. reine Quintakkorde der Subdominante c-Moll (= Grundstellung ohne Tritonus a-es bzw. sixte ajoutée) und der Tonikaparallele Es-Dur penibel ausgespart werden: Der -unglaublich! - erste Quintakkord Es-Dur steht in T. 61, c-Moll in T. 70.98 Im interpolierten, harmonisch wilden Passus kommen dagegen ohne Bedenken zahlreiche Quintakkorde Es und c von gut erkennbarer Dauer vor (Viertelnoten). Diese statistische Diskrepanz spräche für eine zirkelschließende Situation der verlängerten Fassung, während die ausschließlich in der Nähe der Nahtstellen (Tt. 70, 89) vorkommenden c-Moll-Akkorde der „alten" Fassung als eine Steigerung der Spannung erlebt werden können. Es überrascht nicht, daß auch der interpolierte Teil von einer analogen Dramatik der harmonischen Schritte zwischen den Quintakkorden As, Des, f, b beherrscht wird, diesmal in einer zirkelschließenden Logik, bevor der harmonische Duktus ab T. 91 wieder in den MT-Rahmen findet.99 Die kurze, wohl ursprüngliche Fassung der Fuge BWV542/2 könnte man anhand ihrer Kongruenz mit dem „Prototypus" in den Zusammenhang mit dem Probespiel Bachs für die im Jahr 1720 frei gewordene Organistenstelle der Jakobikirche in Hamburg bringen. Abschließend verdient unsere Aufmerksamkeit in diesem Kontext, daß dieses patchworkmäßige Zerfallen des FPR auf MT-Abschnitte und modernere freie Teile bei den Norddeutschen in aller Regel einhergeht mit dem Auftreten exklusiver PSC-idioma-tischen Elemente, also solchen, die niemals im gesamten Zeitraum der norddeutschen Schule in ChPR auftraten. Pedaltriller im FPR finden sich nur in freien Abschnitten,100 ebenso die für den Orgelwind recht problematische (unter Ad 5 besprochene) Vollgriffigkeit usw. Bei jungem Bach wird dieses Prinzip auch noch nach der Zweiteilung der Form auf Preäludium und Fuge beibehalten: In BWV 549a sind Pedaltriller ausschließlich im Präludium sowie dem toccatischen Teil nach der Fuge (T. 45) anwesend. Das erweckt den Eindruck, daß freie pedaliter-Kompositionen in ihrer Gesamtheit eher für PSC bestimmte, mit freien Teilen zwischen den Fugen „angereicherte" Arrangements sind, deren wertvolles Fugenmaterial jedoch offenbar auf eine maximale Verwendungsflexibilität ausgelegt wurde. Das wäre denn auch in Kongruenz mit der allgemein praktizierten „Selbstbedienungs"-Tendenz der Tastenspieler dieser Jahrhunderte, worüber uns zahlreiche Quellen unterrichten.101 Eine interessante Parallele bietet Bruhns' Nun komm der Heiden Heiland; die ersten flüchtigen c-Moll-Quintakkorde von sehr kurzer Dauer treten erst in Tt. 74, 75 auf, der überhaupt einzige Akkord längerer Dauer folgt im T. 104 sowie in der lebhaften plagalen Schlusskadenz. Diese Schreibweise als Zufall zu interpretieren scheint mir unmöglich. Analogen harmonischen Spannungs-Crescendi mittels Töne dis, aus, eis, as usw. begegnen wir im Bereich der erweiterten MT oft - sie gehen in anderen Temperierungsmilieus leider weitgehend verloren. Vom gesamten norddeutschen Pedaliter-Repertoire zeigt dies in knappster, konzentriertester Form wohl das Fragment in D-Dur von Bruhns: Innerhalb weniger Takte erleben wir einen harmonischen Crescendo-Decrescendo-Bogen, der im MT-Rahmen beginnt, erst im T. 8 das erste dis als Auflösung eines Vorhalts einflicht, ab T. 12 häufen sich die härteren Töne eis und ais, im T. 17 lockert das allerletzte dis die harmonische Spannung, um innerhalb des MT-Rahmens bis zum Schluss im T. 28 zu verbleiben. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang eine Ausnahme von dieser Regel. Im Präludium g-Moll BuxWV 150, T. 36 * erscheint ein langer kadenzieller Pedaltriller mitten in der Fuge und stellt eine Art „Warnzeichen" dar: der Kadenz folgt (T. 38) ein an MT-Instrumenten nicht spielbarer as&des-Abschnitt, womit die Patchwork-Logik erneut bestätigt zu sein scheint. Vorworte des Scipione Giovanni um 1650 und davor Frescobaldis (Toccaten, Fiori Musicali) sind hierfür besonders explizit zu nennen, in Deutschland aber ist etwa Krebs' verkürzte Fassung der Toccata BWV540 bezeichnend, im Bereich der norddeutschen pedaliter-Werke könnten Schaumkells Abschriften der Werke Scheidemanns genannt werden, oder vielleicht die von H. Keller, Beckmann, Syre und Rampe bereits erörterten Andreaskreuze in Walthers Exemplaren der LübWV11 und 15. Bislang als Kopiermarken oder Registrieranweisungen diskutiert, könnten diese Andreaskreuze m. E. als Zeichen verstanden werden, an welchen Stellen anzuknüpfen ist, wenn die Kompositionen beliebig verkürzt oder auch verlängert werden sollen. 99 ChPR UND „PROTOTYPUS" Für den „Prototypus" als eine MT-Variante ist eine quintweise fortschreitende Verschlechterung der MT-fremden Dur-Akkorde des Kreuzbereichs charakteristisch: H (am wenigsten schlecht), Fis (schlechter), Cis (noch schlechter), Gis (=As, am schlechtesten, die Wolfsquint jedoch abgemildert). Diese Eigenschaft wiedespiegelt sich in dem quantitativen sowie qualitativen Sinne eindeutig in der Verwendung der MT-fremden Töne innerhalb des norddeutschen ChPR seit Buxtehude. In Buxtehudes ChPR kommt, wie bereits oben aufgelistet, fast nur dis vor, ais ist quantitativ ganz marginal; eis, his sowie doppelte Vorzeichen kommen nicht vor (in FPR jedoch regelmäßig).102 Hanffs überliefertes ChPR verwendet, den selben „Prototypus"-Regeln entsprechend, oft dis, aber ein einziges, mit TO versehenes ais und keine anderen MT-fremden Töne. Lübeck gestaltet seine dem Choraltext dienende Affektensprache in LübWV 13 sehr beeindruckend mit dem erwarteten quantitativen und qualitativen Gefälle dis-ais-eis (dis quantitativ vorherrschend, harmonisch insgesamt am „mutigsten" eingesetzt; ais seltener und nach vorwiegend strengeren harmonisch-melodischen Bedingungen; eis ausschließlich in ILK des T. 155). Mit dem Schlussakkord E-Dur, im Prototypus einem der besten Akkorde überhaupt, entsteht eine den Choraltext wunderbar unterstützende, verklärte Atmosphäre. Bruhns behandelt in seiner einzigen überlieferten Choralfantasie den Ton as ebenso dem Prototypus entsprechend, harmonisch gesehen als eine dominantische Septime und stets als unbetonte, kurze Notenwerte. Diese Septime (b-as) wurde im Prototypus -wie bereits erwähnt- zu einer sehr brauchbaren Septime. Ausgespart bis zur erweiterten Schlusskadenz wird as dagegen in der Rolle der merklich gespannteren Mollterz f-as (ab T. 135). Hier wird dieser abgemilderte MT-fremde Ton mit je einer flüchtigen Sechszehntelnote pro Takt (auf der unbetonten 2. oder 4. Viertelnote) extrem sparsam dosiert. Der Affekt der Sehnsucht nach dem Erlöser wird dadurch sehr überzeugend dargestellt.103 Ein weiterer Komponist der Buxtehude-Schule, Daniel Erich, verwendet in zwei seiner dreien erhaltenen ChPR-Werke dis und ais in der Prototypus-typischer Weise. In der Bearbeitung des Bussliedes Allein zu dir, Herr Jesu Christ wechselt er ebenso Prototypus-typisch zum as-Bereich und erzeugt dadurch äußerst effektvoll die dem Text angemessene reuevolle Atmosphäre. Der Ton as wird stets ILK-gebunden angewandt, bis auf ein einziges Mal (dort als die bereits bekannte dominantische Septime b-as). Nun wird bei einem konkreten Werk kaum je beweisbar, ob es denn „für reine MT oder nicht" gedacht war, beispielsweise für Buxtehudes BWV 210, Tt. 168, 172, 179,190 mit exponierten Tönen dis und ais (der schmerzvolle Choraltext über das Leiden Christi). Aber die Statistik lehrt uns, daß es kein Zufall ist, wenn von Komponisten dieses Stilbereiches nicht wahllos beliebige MT-fremde Töne verwendet wurden, sondern die ausgewählten Töne dis, ais, eis, die nach bestimmten Verhaltensregeln auftreten. In 102 BuxWV 194 * und 195 sind transponiert überlifertert, as ist nur in BuxWV 185 und 201 wirklich anwesend, und zwar Prototypus-typisch. 103 Bereits oben erwähnt wurde das Aussparen des (im Prototypus gespannten) c-Moll-Quintakkordes. Diese reine Subdominante (ohne Tritonus es-a, der die Imperfektion der Mollterz empirisch weniger beurteilbar macht) erscheint flüchtig erst in Tt. 74, 75, eigentlich aber erst im T. 104. diesem Sinne würde ich BuxWV 210 lieber im Kontext des Prototypus als der reinen MT betrachten: So wirkt der dargestellte Schmerz in den erwähnten Takten 168 u. ff. nicht brutal, sondern veredelt, die Güte des aus Liebe zu den Menschen leidenden Gottes trefflich darstellend. Auch am Beispiel des BuxWV 194 wurde unter Ad 7 gezeigt, wie mithilfe des „Prototypus" der Zusammenhang zwischen den kompositorischen Mitteln und dem Affekt der Choraltexte * nachvollziehbar wird. Zu einer Überraschung während der Forschung kam es, als die Analysen und Statistiken Bachs Orgelbüchlein eindeutig als einer Prototypus-Form zugehörig definierten104. Um einige Nuancen freilich weiterentwickelt als Zwolle 1721, könnte diese Prototypus-Form etwa zwischen Preus 1729 und die sogen. Händel-Stimmung anzusiedeln sein. Den Rahmen des Vortrags beachtend sei hier nur erwähnt, daß die Verhaltensweisen der MT-fremden Töne dis, ais, eis, as, des. in quantitativer sowie qualitativer Hinsicht statistisch eindeutig sind,105 ebenso die Wahl der Tonikapositionen samt ihrer vorkommenden Akkorde: Die Tonalitäten Es-Dur und f-Moll (im Prototypus beide sehr schlecht106) bleiben z.B. ausschließlich den allertraurigsten Chorälen vorbehalten und sleten.107 Die Deutung des verbalen Inhalts der Choraltexte stimmt perfekt mit den gewählten harmonischen Mitteln überein. 108 Vor diesem Hintergrund könnte es als verständlich angesehen werden, daß der junge Bach in seinen Orgelwerken keine wirkliche Parallele zu Buxtehudes pedaliter-Präludium fis-Moll schuf, wogegen freilich im manualiter-Bereich z. B. die relativ frühe Cembalotoccata in fis-Moll BWV 910 vorliegt. In der Tat entspricht sein FPR noch in der Weimarer Zeit dem eben erwähnten Stadium des Prototypus109 aus dem Orgelbüchlein, das symbolisch etwa folgendermaßen veranschaulicht werden könnte: es rein b rein f rein c -1/4sc g -1/5sc d-1/5sc a -1/8sc e rein h -1/4sc fs -1/4sc cs -1/4sc gs ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK Alle obigen Punkte des Vortrags zusammenfassend könnte man sagen, daß sich seit der Mitte des 17. Jh. die Gattungen FPR und ChPR in instrumentalidiomatischer 104 BWV 601 scheint jedoch eine Ausnahme zu bilden; seine harmonische sprache erscheint weniger erwartet 105 So wird z.B. in BWV 608 * zwar eis verwendet, aber stets ILK-gebunden (c.f. im Pedal!), als die kürzesten, unbetonten Rhyt-muswerte in dissonanten Akkorden mit Tritonus; ais ist erwartungsgemäß insofern um eine Spur »emanzipierter«, als er zwar unter denselben Bedingungen, aber auf der 1. Taktzeit stehen darf. 106 Für die frühe Partita BWV 766 in f-Moll trotz dem dankbar-positiven Choraltextinhalt wäre das geradezu ein zusätzliches Indiz für ihre vorwiegende Zugehörigkeit dem PSC-Bereich. 107 Es-Dur erscheint im Orgelbüchlein (ebenso im ChPR J. G. Walthers ) nur ein einziges mal: O Mensch, bewein BWV 622 (Walther aber: Erbarm dich mein, o Herre Gott), mit der Subdominante As-Dur nur für den Affektgehalt des tiefsten Schmerzes brauchbar. Und Tonika f-Moll: Ich ruf zu dir BWV 639, auch Fragment O Traurigkeit, o Hertzeleid BWV Anh. 200, vgl. auch das ChPR J. G. Walthers. 108 Z. B. ist in BWV 640, In dich hab ich gehoffet, Herr, beim Text »daß ich nicht zuschanden werd«« die deutlich stärkste Konzentration der Töne eis, ais und dis feststellbar, während der Text »in deiner Treu, mein Gotte« von allen MT-fremden Tönen zuerst nur dis zuläßt und daraufhin mit dem im Prototypus sehr guten E-Dur-Akkord endet. 109 Bachs Praeludien und Fugen wie etwa BWV 551, 545, 546, 532, 533, 548, 541, 536, 564 u.a. gehören mit ihrem konsequenten Verwendungskanon für Töne dis, ais, eis, as, des etc. sämtlich der Bandbreite des Temperierungsidioms verwässerter MT-Formen an. Unnötig zu sagen ist, daß mit diesem Temperierungsidiom der Affektgehalt der Kompositionen (beispielsweise eines „Passions"-Präludiums c-Moll BWV 546 mit seinen gespannten Harmonien c-Moll, f-Moll.) hervorragend unterstützt wird. Hinsicht voneinander abzugrenzen begannen und somit eine gewisse Emanzipation im Sinne der Zugehörigkeit zu ihren spezifischen Instrumentarien demonstrierten. Durch zahlreiche, seitens der Komponisten respektierte „Eintrittsverbote" für gewisse instrumental-idiomatische Elemente wurde die Eigenständigkeit beider Gattungen gewährleistet. Dadurch erklärt sich vollständig die Absenz der Pedaltriller, moderner Tonikapositionen, vollstimmig knallender Akkorde usw. im ChPR, andererseits im FPR das Fehlen jeglicher Orgelregistrierungen, der simultanen Zweimanualigkeit oder etwa des solistischen Gebrauchs der 2'-Pedalregister. Vielleicht konnte durch obige Ausführungen auch plausibel gemacht werden, daß die Funktionalität des FPR, auch jenseits einer Aufführung an den Orgeln, vollständig erklärbar sei. Sie besteht aus Summe mehrerer Interessen: - künstlerische Kommunikation zwischen den Musikern - Musizieren im häuslichen Milieu mit seinen zahlreichen Erscheinungsformen „privater Musikgesellschaften" - künstlerisch höchst stimulierendes spieltechnisches Studienmaterial künftiger Tastenspieler (Sowohl Manual als auch Pedal sind an PSC präziser und strenger als an der Orgel im Hinblick auf Nuancen des Toucher, des Rhythmus, der Ornamente und Affekte.) - lebenslange Auseinandersetzung mit dem Tonsatz, der Kunst der gezielten Erregung bestimmter Affekte und besonders mit der Polyphonie, deren Früchte später in die (improvisierende) Orgeltätigkeit sowie in Ensemblekompositionen einfließen. Ebenso lebenslange und an den Umkreis weitergegebene Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Stilmitteln wie modernsten, an der Orgel nicht realisierbaren Tonarten, sowie mit der Transposition - hochkarätiges Material für beliebige, jedoch kaum „integrale" Verwendung an Orgeln anstatt eigener Improvisationen (noch Bachs Cembalotoccaten und WTK wurden in diesem Kontext erwiesenermaßen an der Orgel verwertet) - eine Form der „public relations" gegenüber den in aller Regel über (P)SC verfügenden Liebhabern. Die gedruckten Tastenwerke der Zeitgenossen Buxtehudes, etwa Reinckens Galante Orgelstücke,110 Lübecks Clavierübung, Kriegers Anmuthige Cla-vierübung... dokumentieren diese Ambitionen hinreichend. Rückblickend könnte man fragen, ob die klangliche Ästhetik des neobarocken Zeitalters nicht allzu subjektiv von der Idee geprägt war, eine ideale Orgel ausgerechnet für das freie Repertoire zu schaffen. Mit ihren schrillen Aliquotstimmen und Plena, der starren Windversorgung und grundtonlosem „polyphonen" Zungenklang scheint dieses Zeitalter seiner unbewussten Sehnsucht nach einer für die Orgel utopischen klanglichen Transparenz des PSC-Typus nachgegeben zu haben. Vielleicht wäre es anders gekommen, wenn auf das ChPR mit seiner unglaublichen Vielfalt und Poetik der Soloregistrierungen, Echowirkungen und des zuweilen hypnotisch tiefen, warmen Ausdrucks des grundtöni-gen Prinzipal- sowie Zungenklangs fokussiert worden wäre. Doch bereits seit dem 19. Jh. galt das allgemeine Interesse derart eindeutig dem FPR, daß noch in heutiger Zeit Pier Damiano Peretti feststellen musste, wie sehr freie Stücke „in der Gunst der Organisten 110 Vgl. Pieter Dirksen, Johann Adam Reincken,..., 3. nach wie vor weit vor den großangelegten choralgebundenen Stücken angesiedelt sind. Letztere sind de facto exklusives Spezialterrain einiger „ Spezialisten" und erscheinen selbst in Prüfungsprogrammen eher selten"}11 Sehr bezeichnend für die Genese dieses Sachverhalts ist die Einschätzung des ChPR Buxtehudes in Spittas Bach-Monogaphie: „Es war sehr gegen den Vortheil des Meisters, daß von den wenigen seiner Compositionen (...) die meisten grade Choräle sind. Hierdurch bekommt man von seiner Bedeutung ganz schiefe, oft ungünstige Vorstellung. Seine Stärke ruht (...) vor allem in der reinen, durch keine poetische Idee beeinflußten Instrumentalmusik."112 oder „Buxtehude, an tiefer Erfassung des Chorals und an ruhiger Schönheit Pachelbel weit nachstehend (...)"113 sowie „Buxtehude (...) der größte Romantiker. Von seinen Chorälen einmal abgesehen, gibt es sehr wenige Stücke von ihm, in welchen dieser Zug nicht hervorträte."114 Anhand einiger überaus erfolgreicher Projekte der letzten Zeit im Sinne der Restaurierung und Rekonstruktion historischer norddeutscher Barockorgeln und der daraus resultierenden musikalischen Erlebnissen sowie der ChPR-Diskographie mit hervorragenden Interpreten, bestehen beste Hoffnungen, daß dem umfangreichen norddeutschen choralgebundenen Oeuvre im vollen Umfang die gebührende Präsenz in der heutigen Orgelkultur und -pädagogik gesichert wird. Zugleich wartet auf die Interpreten und auf die begabten „Intsrumentenmacher" eine wunderbare künstlerische Herausforderung: Norddeutschen freien Meisterwerken, neben Aufführungen an den Orgeln, ihre Urheimat an Saitenclavieren mit Pedal wieder zu schenken. Povzete k Severno nemški baročni repertoar za glasbila s tipkami in pedalno klaviaturo ne predstavlja nujno izključne orgelske glasbe, kot so mislili od 19. stoletja naprej. Baročni sodobniki teh skladb niso izrecno imenovali »orgelska glasba«, marveč so bili v rabi krovni izrazi kot »Clavierstucke«, »Claviersa-chen«, »Tabulaturstucke« itd. Mnogi baročni viri opisujejo strunska glasbila s pedalno klaviaturo kot samoumeven del takratne glasbene kulture, zato se zdi umevanje teh glasbil kot zgolj »vadbeno orodje« za organiste preozko. Številne razlike v strukturi med koralnimi in »svobodnimi« skladbami kažejo, da gre za dve ločeni zvrsti, pri čemer se koralne obdelave izrecno prilegajo hanzeatskim zgodovinskim orglam, medtem ko preludiji in tokate itd. docela pripadajo idiomu pedalnih čembalov in klavikordov. Analize celotnega severnonemškega repertoarja pedaliter so vključevale kategorije kot: kompatibilnost skladb z uglasitvami orgel, obsegi klaviatur in orgelskim zračnim sistemom, idiomatske primerjave med polifonijo oz. nasploh strukturo glasbenega stavka v »svobodnih« in koralnih skladbah. Številni elementi se nikoli ne pojavljajo v obeh zvrsteh hkrati, marveč dosledno pripadajo le eni (npr. pedalni trilčki v svobodnem repertoarju ali do 13 taktov dolgi diskantni toni v koralnem). Iz tega vidika dveh ločenih zvrsti je bilo osvetljeno tudi vprašanje uglasitev. Omenjena dognanja vnašajo v izvajalsko prakso tega repertoarja docela nove razmere in kaže se potreba po rekonstrukciji izumrlih pedalnih glasbil s tipkami. To bo omogočalo oz. vodilo v nadaljnje, tako umetniško kot znanstveno, poglobljeno odkrivanje tega novega področja. 111 Pier Damiano Peretti, "'...mit Lust und Liebe Singen' Dieterich Buxtehudes 'Choralfantasien' - ein aufführungspraktischer Exkurs," Organ 3 (2007): 18. 112 Vgl. Beckmann, Die Norddeutsche Schule..., 302, 303. 113 Ibid. 114 Ibid.