171 Matej Šetinc: DAS POLITISCHE IN SAMA MAANIS ROMAN ŽIŽEK IN TEHERAN Matej Šetinc UDK 821.112.2(436).09-31Maani S. Fakultät für Sozialwissenschaften, DOI: 10.4312/vestnik.15.171-188 Universität in Ljubljana Izvirni znanstveni članek Slowenien matej.setinc@fdv.uni-lj.si DAS POLITISCHE IN SAMA MAANIS ROMAN ŽIŽEK IN TEHERAN 1 EINLEITUNG „ Auch die literarischsten seiner literarischen Texte“[…] „Würden sich wie Essays lesen Wie politische Essays, umso politischer Je näher die Revolution heranrückte.” (Maani 2021: 162) Das ist ein Zitat aus dem neuesten Roman Žižek in Teheran von Sama Maani, des in Wien lebenden Arztes, Psychiaters, Psychoanalytikers und Schriftstellers. Der Roman ist eine ca. 600-seitige Religions- und Gesellschaftssatire über eine seltsame Revolution, die sich im Land „Teheran” ereignet. Hier werden ein fiktives islamisches Regime und ein Männerglaube durch die Verbreitung einer Schrift, die einen revolutionären Mutterkult einführt und wundersam auch eine körperliche Verweiblichung auslöst, zum Einstürzen gebracht. Eine zweite Kulturrevolution nach der Revolution von 1979 ist am Entstehen. „Sama Maani ist mit diesem in der Art eines Epos in Verszeilen geschriebenen Ro- man etwas Einzigartiges gelungen, eine neue Form alternativer Geschichtsschreibung”, schreibt Walter Fanta (2021). Es ist aber auch eine aus psychoanalytischen Schlussfol- gerungen und zeitkritisch gewonnenen Voraussetzungen konsequent weitergeführte, vi- sionäre Vorwegnahme der Frauenrevolution, die sich in Iran ein gutes Jahr nach dem Erscheinen des Romans tatsächlich ereignete. Maanis Republik Teheran ist ein vom Iran, aber nicht nur davon inspiriertes fiktives Land. Teheran ist nicht nur Synekdoche für Iran, sondern für alle historischen oder gegenwärtigen Diktaturen der Welt. Die Handlung des Romans läuft oft auf einmal in Graz weiter. Fiktive Länder tragen Städtenamen wie Wien oder Chicago. Die Satire im Text ist drastisch, anscheinend nach dem Motto, je schlimmer die realen Gesellschaftsverhältnisse, desto größer die Distanz, die durch Satire aufgestellt werden muss, soll der Text den Druck der Realität ertragen. Vestnik_za_tuje_jezike_2023_FINAL.indd 171 Vestnik_za_tuje_jezike_2023_FINAL.indd 171 8. 12. 2023 10:10:07 8. 12. 2023 10:10:07 172 VESTNIK ZA TUJE JEZIKE/JOURNAL FOR FOREIGN LANGUAGES Dazu meint Fanta: „Die Verhältnisse in der Islamischen Republik Teheran – gemeint ist der heutige Iran, zurückreichend bis in die 1970er-Jahre – dermaßen ins Lächerliche zu ziehen, das ist bisher noch niemandem gelungen. Die satirische Kritik an der ausster- benden Spezies bärtiger Männermacht reicht viel tiefer in eine subkutane Schicht, es ist ein Schlag unter die Gürtellinie unverschämter Verlogenheit religiöser Doktrin und doo- fer Rhetorik religiös verbrämter politischer Ideologie mit den Mitteln psychoanalytischer Poesie”(Fanta 2021). Sama Maani führt Monty Python als Inspiration für den Plot seines Romans an. Eine geheimnisvolle Schrift taucht auf, die plötzlich im Teheran zu kursieren beginnt und auf magische Weise zur Geschlechtsverwandlung führt. Er meint, dass die Wirkung des Tex- tes ähnlich der des „Killing Joke“ von Monty Python sei, „nur, dass die Menschen nicht vor Lachen sterben, sondern dass im Roman für den Text empfängliche Männer nach der Lektüre das Gefühl haben, sich in eine Frau zu verwandeln, auch körperlich” (OE1 2021). Auch im Roman wird „The Funniest Joke in the World“ angeführt (Maani 2021: 384). Einer der Protagonisten erklärt: „Du kapierst auch gar nichts, sagt Danesch Diese Schrift hat die gleiche tödliche Wirkung Auf den Glauben der Islamischen und auf ihr Regime Wie The Funniest Joke in the World auf die deutschen Soldaten Im Krieg.”(Maa- ni 2021: 384) Wir wollen uns in dieser Abhandlung die Frage stellen, wie das Politische in Sama Maanis Roman Žižek in Teheran erzählt wird und wie das im Rahmen seiner spezifischen Poetik funktioniert. Kategorisch müssen wir dabei im Voraus zwischen dem Politischen und der Politik bzw. dem Politikbetrieb unterscheiden. Das Politische und wir wollen uns nur damit befassen –, verstehen wir nach Pierre Rosanvallon als „Modalität der Existenz des gemeinsamen Lebens als auch eine Form kollektiven Handelns”. (Machart 2010:13) Es „heißt von allem sprechen, was ein Gemeinwesen jenseits unmittelbarer par- teilicher Konkurrenz um die Ausübung von Macht, tagtäglichen Regierungshandels und des gewöhnlichen Lebens der Institutionen konstituiert”(Neuhaus, Nover 2019: 6) Das Politische als Modalität nicht nur des Gemeinschaftslebens, sondern auch der Literatur beschränkt sich unserer Meinung nach im literarischen Raum nicht auf die mimetische Abbildung der empirischen, textexternen Realität, sondern entwickelt eine eigene Funk- tionalität. Diese beeinflusst im Prozess der Rezeption die Rückbesinnung und das Selbst- verständnis des Lesers als zoon politikon. Er kann sich durch Partizipation am Rezep- tionsprozess als soziales, gesellschaftliches Wesen erkennen und zum konstituierenden Teil des Miteinandersprechendseins werden. Nach Bachtin wird die Anerkennung der Beziehung zum Anderen zum konstitutiven Moment seines in der Welt seins, das in zwei Bedeutungen desselben Wortes als Ereignis sobytie oder Mit-Sein so-bytie verstanden Vestnik_za_tuje_jezike_2023_FINAL.indd 172 Vestnik_za_tuje_jezike_2023_FINAL.indd 172 8. 12. 2023 10:10:07 8. 12. 2023 10:10:07 173 Matej Šetinc: DAS POLITISCHE IN SAMA MAANIS ROMAN ŽIŽEK IN TEHERAN werden kann (Shchyttsova 2003:331). Die Frage, die wir uns stellen, ist: Wie kommt das Erscheinen des Seins als Ereignis im Mit-Sein mit anderen zustande in der romaninternen Welt des Romans Žižek in Teheran? Einen etwas anderen Blickwinkel auf den Raum des Mit-Seins finden wir bei Han- nah Arendt (Neuhaus/Nover 2019:7). Sie versteht den Menschen als ein im Grunde a- politisches Wesen, das Politische entsteht Zwischen-den-Menschen erst durch das Han- deln. Diesen Raum, in dem sich Antagonismen austragen, nennt sie Erscheinungsraum. Fraglich ist aber, ob man tatsächlich bestimmen kann, wann das Mit-Sein bzw. Ereignis des Seins ins Handeln übergeht. Wann und wie beginnt das Austragen des Politischen im Erscheinungsraum, das Sama Maani in seinem Roman kreierte. Wie erscheint der Raum der Diskussion und Subjektivierung im Roman. Existiert er und wie? Welche Rolle spielt dabei die Rezeption? 2 DAS SUBVERSIVE ALS MITTEL DES POLITISCHEN Wie funktionieren traditionelle Kategorien des Politischen in einem postmodern-modernen Roman wie Žižek in Teheran? Eine der traditionellsten davon war schon immer das Subver- sive. Maanis Text ist subversiv in vielerlei Hinsicht, am augenscheinlichsten vielleicht in formaler Hinsicht. Wir haben schon erwähnt, dass er in Form eines Versepos geschrieben ist, was am Ende des Romans auch begründet wird. Die Auswahl der Form hat keinen aus - schließlich ästhetischen Grund, wie man annehmen könnte, sondern enthält implizit Gesell- schaftskritik. Wie die Romanfigur Žižek erklärt, tötet in der Kultur der Teheraner psycho - analytisch gesehen nicht der Sohn den Vater, sondern umgekehrt der Vater den Sohn, das Traditionelle besiegt das Neue, das Libido der Teheraner (Perser) bleibt deswegen lyrisch: „ […] und es wundert mich nicht, Wenn ein Romancier der Sprache Teherans Einen Roman als Versepos schreiben würde” […] (Maani 2021:616) Der Autor erklärt nicht seinen Romanhelden, sondern umgekehrt, er lässt sich und sein Vorgehen vom Romanhelden Žižek interpretieren. Einheitliche Identitäten gibt es auch nicht. Wir haben zwei Icherzähler mit einer wei- teren dritten Erzählposition, diese bekommen dann noch mehrere weitere Erzählstimmen hinzu, die stellvertretend und sich abwechselnd den Erzählstrom aufnehmen und weiter- führen. Die Position des Icherzählers weist eine heteromorphe Identität bzw. Nicht-Iden- tität des Subjektes mit sich selbst auf. Man kann also weder den Erzähler noch den Zeit- raum einheitlich bestimmen. Wer den Text spricht, wo und wann, bleibt offen. Dasselbe überträgt sich dann auf die herrschenden Machtstrukturen in der Republik Teheran, so wie sie dargestellt werden. Auch der Romantext, wenn man den Text auch als Träger Vestnik_za_tuje_jezike_2023_FINAL.indd 173 Vestnik_za_tuje_jezike_2023_FINAL.indd 173 8. 12. 2023 10:10:07 8. 12. 2023 10:10:07 174 VESTNIK ZA TUJE JEZIKE/JOURNAL FOR FOREIGN LANGUAGES der Macht verstehen will, besitzt in diesem Sinne absichtlich keine geschlossene Ganz- heit. In diesem Sinne ist die Form des Versepos zweifach subversiv, der Text sollte zwar als in Versform geschriebener Text aufgefasst werden im Unterschied zu traditionellen Romanen, ist aber eigentlich in Prosaform verfasst und nur in Flattersatz gestellt. Das Versartige vermittelt erstens die Form des Flattersatzes, die spezifische Struktur der frei assoziierenden Rede innerhalb der Psychoanalyse und auch einige Verse, die als harm- lose, nicht reflektierte, quasi unbewusste Reimereien eingebracht werden, dabei sind sie sehr bedeutungsvoll, wie z. B.: „Santiago oder Karthago Chinesentum oder Christentum Abendrot oder Atemnot Ackermann oder Ariman Ariman?” (Maani 2021:8) Diese Verse am Anfang des Romans können als Ansage gelesen werden, dass wir es mit “dunklen Mächten” zu tun haben werden. Denn das, was aus dem Unbewussten heraus- fällt, wenn man daran rüttelt, ist Ariman, der Herr des Bösen im Zoroastrismus. Für den ganzen Text gilt es, dass es sehr schwierig ist, irgendeinen Sachverhalt zu finden, der nicht in irgendeiner Weise, sei es formell oder inhaltlich, gespalten wäre. Auf der Spitze des Berges beim Führer der Republik des Islamischen Teheran, erreicht die Spaltung dann auch den dramatischen Höhepunkt was wir später sehen werden. Subversiver und vernichtend kritischer gegenüber einer totalitären Religions- oder Staatsmacht kann man politische Kritik kaum äußern. Das eram Anfang angeführte Zitat, dass sich auch die literarischsten seiner literari- schen Texte wie politische Essays lesen würden, sind Worte einer der zentralen Roman- figuren Kardan. Er tritt mit vielen Namen auf, wie hier ersichtlich ist: „Der Übersetzer respektive Kardan respektive Der Elektrische […] Hingerichtet von den Islamischen” (Maani 2021:154) 1 Kardan ist zugleich eine Kultfigur aus der Filmwelt der Siebzigerjahre und der wich- tigste politische Häftling, um den die Erzählung des Romans kreist. Aber auch hier ist 1 Der Elektrische wird er genannt als Anspielung auf den elektrischen Stuhl. Genaueres über die Hinrichtung Kardans erfahren wir nicht, dafür wird aber eine längere, ironische Passage aus einem Internetforum eingeschoben, wo es um Fragen über den elektrischen Stuhl geht, und ein Bericht über die erste erfolglose Hinrichtungserfahrung von Willie Francis – dem Teenager, der in den USA zweimal hingerichtet wurde, weil er das erste Mal überlebte. Nicht zu übersehen dabei ist die Verknüpfung von Teheran und Chicago. Tertium Comparationis wird auch das Regime von Chicago (USA) als ein s.g. Mörderregime dargestellt. Vestnik_za_tuje_jezike_2023_FINAL.indd 174 Vestnik_za_tuje_jezike_2023_FINAL.indd 174 8. 12. 2023 10:10:07 8. 12. 2023 10:10:07 175 Matej Šetinc: DAS POLITISCHE IN SAMA MAANIS ROMAN ŽIŽEK IN TEHERAN etwas verkehrt, denn es ist kein Wunder, dass sich die Titel seiner drei Romane als Titel politischer Essays lesen würden, sie heißen nämlich: Gott ist Mitglied der NSDAP, Die Übersetzung der Schule der Gottlosigkeit, Wir alle sind Fritzl. Die umstürzlerischste von all seinen Schriften jedoch ist die Übersetzung der s. g. Schrift. Es handelt sich um einen Text, der ursprünglich in deutscher Sprache verfasst und von Kardan ins Persische übertragen wurde, wo er eine Revolution auslöst. Alles im Zusammenhang mit diesem Roman ist politisch. Es ist gar nicht möglich, ihn anders zu lesen als mit einem unaufhörlichen Strom von politischen Projektionen, noch zu - sätzlich und besonders seit dem Aufstand, der dem Tod von Mahsa Amini folgte. Es beginnt eigentlich schon mit dem Titel. Was anderes kann man denn erwarten, als etwas Politisches bei dem Titel Žižek in Teheran? Žižek als fiktionale literarische Figur ist zwar genauso wenig mit dem empirisch realen Menschen Slavoj Žižek gleichzusetzen wie Teheran, Graz oder Berlin nicht mit Iran, Österreich oder Deutschland gleichzusetzen sind. Semifiktiv würde Sama Maani sagen. Dazu ist Žižek im Roman kein eigentlicher Held der Erzählung, son - dern er erscheint – tritt aus dem Flugzeug – wie ein postmoderner Deus ex Machina erst im Epilog. Er kommt angeblich auf Einladung in den Teheran, um an einer Klimakonferenz teilzunehmen, wird im Fernsehen interviewt und macht eine erklärende psychoanalytische Zusammenfassung der s. g. zweiten Revolution, die durch die Schrift hervorgerufen wurde. Außer der vielen disparaten Erzählerstimmen komplizieren die Textlandschaft ganz viele eingeschobene Metatexte und Zitate, manchmal YouTube Titel, Wikipedia- oder Zei- tungsartikel, Abschnitte aus Internettforen. Sie bringen zusätzliche Erklärungen und ha- ben einen verfremdenden Effekt, weil sie verhindern, dass ein geschlossener fiktionaler Rahmen entstehen könnte. Eine der amüsantesten solcher Passagen ist der Abschnitt über das Erste Teheraner Heimorgelorchester. Ein Teheraner Heimorgelorchester gibt es natür- lich nicht, dafür aber ein Erstes Wiener Heimorgelorchester. Nur wenn der Leser darauf kommt, es auf YouTube aufzusuchen, wird ihm die ganze Ironie dieser Passage bewusst, mehr noch, ohne zu erkennen, dass es sich hier um einen Verweis auf einen Sachverhalt außerhalb des Romans handelt, dass man hier etwas googeln sollte, dass ein Teil des Textes außerhalb des Romans liegt, wird die Rezeption etwas vermissen, hier im Besonderen den intendierten Bezug Teherans auf Wien bzw. des Irans auf Österreich. Die Unüberschaubar- keit und Komplexität der literarischen Landschaft und die Verworrenheit der Antagonis- men im Roman sind vielleicht der strukturell mimetischste Aspekt bei der Übertragung des Politischen aus der empirischen in die literarische Realität. 2.1 Die Schrift als Ereignis Es gibt einige Motive im Roman, bei denen sich die Verfahrensweise des Literarisch- Politischen in Maanis Poetik besonders gut erklären lässt. Ein solches Motiv ist die s. g. Schrift. Es geht um ein quasi mystisches Buch mit magischer Wirkung. Maani baut die Vestnik_za_tuje_jezike_2023_FINAL.indd 175 Vestnik_za_tuje_jezike_2023_FINAL.indd 175 8. 12. 2023 10:10:07 8. 12. 2023 10:10:07 176 VESTNIK ZA TUJE JEZIKE/JOURNAL FOR FOREIGN LANGUAGES körperliche Verwandlung des Führers in eine Frau durch das Wirken der Schrift und die Offenbarung dieser Verwandlung als Klimax des Romans vor allem mithilfe seines Pan- optikums gespaltener literarischer Figuren auf. Eine davon ist der Führer selbst, genannt M1, gespalten zuerst deswegen, weil er einen Bruder oder ein Alter Ego mit den Namen M2 hat. M2 trägt auch das Pseudonym Nehru und er durchläuft im Laufe der Erzählung, die auch seine Psychoanalyse ist, eine Verwandlung: „Die Schrift verwandelt den Nehru In ein zuckendes, zackendes Weib” (Maani 2021: 200) Zugleich erinnert sein Erscheinen immer mehr auch an Gandhi, den Begründer des gewaltfreien Widerstands. (Maani 2021: 212) Die Gretchenfrage und ihr Dialog mit Faust wird zitiert und parodistisch paraphrasiert (Maani 2021: 203 ff.) und anschließend wird zur Erklärung des mystischen Leuchtens in den sich verwandelnden Personen auf Büchners Lenz und auf Hegel verwiesen: „Die Gesichter der Kinder, der alten Weiber, der Mädchen Werden nicht von außen beleuchtet Sondern sie leuchten Von innen nach außen, wie Hegel Sich die Beziehung zwischen Erscheinung und Wesen Vorgestellt haben mag im Kapitel Kraft und Verstand, Erscheinung und übersinnliche Welt Der Phänomenologie des Geistes Die Beziehung zwischen Erscheinung und Wesen Oder Das Erscheinen des Wesens” (Maani 2021:213) Dieser mystisch-idealistische Höhenflug wird vom Icherzähler, der Arzt ist, vom Himmel geholt und als eine Krankheit, nämlich Ikterus, interpretiert. Es ist ein europäi- scher Diskurs, dass hier stattfindet, ein Rationalisierungsversuch auf dem Hintergrund der europäischen Kulturgeschichte und ironischerweise findet es statt an der Spitze des Mullah-Regimes im Teheran. Die Schrift selbst, es sollte sich, wie schon gesagt, um die Übersetzung eines alten Ma - nuskripts aus der deutschen Sprache handeln, ist eigentlich ein Zitat aus dem merkwürdigen Buch von Paul Schreber mit dem Titel Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, 1903 ver- öffentlicht. Bekannt geworden ist Schrebers Buch deswegen, weil Sigmund Freud eine Ab - handlung darüber mit dem Titel Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiogra- phisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia Paranoides) schrieb. Sama Maani hat hier Teile aus Schrebers autobiografischen Aufzeichnungen in seinen Roman inkorporiert. Vestnik_za_tuje_jezike_2023_FINAL.indd 176 Vestnik_za_tuje_jezike_2023_FINAL.indd 176 8. 12. 2023 10:10:07 8. 12. 2023 10:10:07 177 Matej Šetinc: DAS POLITISCHE IN SAMA MAANIS ROMAN ŽIŽEK IN TEHERAN Dr. jur. Daniel Paul Schreber war sächsischer Senatspräsident, der 1903 ein auto- biografisches Buch über den Verlauf seiner Nervenkrankheit veröffentlichte. Interessant ist das Buch vor allem deshalb, weil Schreber in einer gebildeten, pseudowissenschaftli- chen Sprache einen Vorgang schildert, der zuerst eine tagebuchartige Schilderung seines Wahnprozesses ist und zugleich die Erfindung einer persönlichen, esoterischen Religion. Sama Maani sagt dazu in einem Interview über Paul Schreber: „ […] das, was mich inte- ressiert, fasziniert ist, dass er eigentlich eine Privatreligion gründet […]. Diese Privatreli- gion hat dann aber „dieselbe Struktur wie alle möglichen Theologien, Religionen […] in dieser Fiktion sprengt dann diese Privatreligion des Daniel Paul Schreber den Islam oder die islamische Ideologie der Islamischen in der Republik Teheran. […] Im Roman wird dieser Wahn quasi von den oppositionellen Gruppen verwendet oder instrumentalisiert in gewisser Weise, um den herrschenden religiösen Wahn abzuschaffen.” (Maani/Pfahler) Schrebers Text ist im Kontext des Žižek in Teheran umso interessanter, als das ge- samte Regime der Republik Teheran wie ein wahnhafter fantastisch-grotesker Albtraum dargestellt wird. Nun werden im Roman ganze Passagen des Textes von Schreber einge- schoben, gelesen von verschiedenen Erzählern, die ineinander verschmelzen, wie z. B. in folgendem Abschnitt, in dem der Icherzähler, der Psychoanalytiker, den vom Übersetzer Kardan verfassten Text auswendig rezitiert, als sei dieser ein Hirngespinst beider, oder als seien er und der Übersetzer ein und dieselbe Person: „In dieser Zeit traten die Zeichen der Verweiblichung an meinem Körper so stark hervor, dass ich mich der Erkenntnis des immanen- ten Zieles, auf welches die ganze Entwicklung hinstrebte, nicht länger entzie- hen konnte. In den unmittelbar vorausgegangenen Nächten wäre es vielleicht […] zu einer wirklichen Einziehung des männlichen Geschlechtsteils gekom- men; so nahe war das betreffende Wunder der Vollendung. Jedenfalls war die Seelenwollust so stark geworden, dass ich selbst zunächst am Arm und an den Händen, später an den Beinen am Busen am Gesäß und an allen anderen Kör- perteilen den Eindruck des weiblichen Körpers empfing. […] nunmehr wurde mir unzweifelhaft bewußt, daß die Weltordnung, die Entmannung gebieterisch verlange, mochte sie mir persönlich zusagen oder nicht, und daß mir daher aus Vernunft- gründen gar nichts Anderes übrig bleibe, als mich mit dem Gedanken einer Verwandlung in ein Weib zu befreunden. Als weitere Folge der Entmannung konnte natürlich nur die Befruchtung durch göttliche Strahlen zum Zwecke der Erschaffung neuer Menschen in Betracht kommen.” (Maani 2021:372) Vestnik_za_tuje_jezike_2023_FINAL.indd 177 Vestnik_za_tuje_jezike_2023_FINAL.indd 177 8. 12. 2023 10:10:07 8. 12. 2023 10:10:07 178 VESTNIK ZA TUJE JEZIKE/JOURNAL FOR FOREIGN LANGUAGES Das ist ein Abschnitt aus der geheimnisvollen Übersetzung der Schrift, die in der Republik Teheran kursiert. Wie es sich für heutige Zeit gehört, ereignet sich dann das eigentliche Wunder der Verwandlung durch die Schrift nicht etwa in geheimer Kommunion mit dem Göttlichen, sondern vor laufenden Kameras und Augen der gesamten teheranischen Öffentlichkeit im Fernsehen. M2, dem Führer der Republik der Islamischen Teheran und anderen Gäs- ten wird in einer Fernsehsendung vom Kriminalpsychoanalytiker, eigentlich dem Leiter eines von vielen Geheimdiensten der Republik der Islamischen Teheran aus der Schrift vorgelesen, um zu zeigen, wie absurd das ganze sei, besonders vom Standpunkt einer unanfechtbaren Männerreligion. Der Kriminalpsychoanalytiker schließt seine Argumen- tation mit einer für ihn nur rhetorischen Frage: „Ob eine Islamische Republik Teheran Auch nur einen einzigen Tag mit einer Frau als Führerin Wird Bestand haben können?”(Maani 2021:575) Unerwartet springt der Führer M2 plötzlich theatralisch empor, reißt sich die Amma- ma, das Kopftuch des Klerus vom Kopf: „Dann passiert es, LeserIn, daß die Haare Sich auf einmal vermehren Wie die weiland Brotvermehrung Als strömten aus dem Führer seiner Kopfhaut […] Wie die Massen bei Revolutionen aus Häusern Aus allen Poren die Haare Und erfüllten die Straßen und Plätze der Stadt Dem Führer sein Haar fällt (Eine Kaskade ist es nicht, LeserIn, ein Wasserfall vielmehr) Und die Masse umgibt den Körper Des Auferstehenden, überraschend Großen.” (Maani 2021:577) Der Führer M2 erweist sich sozusagen als trojanisches Pferd mitten in der Festung der Islamischen, die odysseische List, das Unerwartete in der Geschlossenheit des Män- nerglaubens, ist eben die Verwandlung, die „Verweiberung” des Gottes selbst, das ist der Umsturz. Die Wiederermächtigung des Führers als Frau, begleitet durch das Wachsen der Haare, kann man auch als das entgegengesetzte Ereignis zu Samsons Entmachtung sehen. Das ist der Höhepunkt des Romans, das eigentliche Ereignis, das auch eine funda- mentale Veränderung des Mit-Seins bringt. Die in der Schrift erwartete Geburt eines neu- en Menschengeschlechts erweist sich am Ende doch als Utopie bzw. als Wahn aus, denn Vestnik_za_tuje_jezike_2023_FINAL.indd 178 Vestnik_za_tuje_jezike_2023_FINAL.indd 178 8. 12. 2023 10:10:07 8. 12. 2023 10:10:07 179 Matej Šetinc: DAS POLITISCHE IN SAMA MAANIS ROMAN ŽIŽEK IN TEHERAN dazu kommt es nicht. Das Regime der Islamischen Teheran mit einer Frau als Führerin hat in der Tat nicht einmal einen Tag Bestand. Der Führer, verwandelt in Mutter der Nati- on, wird von der hysterischen Menschenmenge seiner AnhängerInnen in Stücke gerissen. Die Erzählung ändert dann die Perspektive und berichtet von Fernsehnachrichten über Demonstrationen von Mutterkultanhängern im Teheran, suggestiv genannt ZTF, das ist Zweiter Kanal des Teheraner Fernsehens. Das Phänomen der Revolution wird als s. g. MPI - mass psychogenic illness bezeichnet. Dazu erfahren wir mehr aus einem ein- geschobenen englischen Text. Berichtet wird von einer eigenartigen massenhaften Lach- epidemie in Tansania im Jahre 1962, außerdem von weiteren ähnlichen Vorfällen wie der Straßburger Tanzwut von 1618 und ähnlichen Erscheinungen aus Europa des 16. Jahr- hunderts. (Maani 2021: 367 ff.) Es wird erklärt, dass das MPI in Tansania nach der Be- freiung des Landes von der britischen Herrschaft erfolgte, zu diesen Tanzwutereignissen kam es nach langen Hunger- und Pestjahren, also als Reaktion auf langjährige Repression oder Katastrophen. Die Ironie liegt darin, dass das Fernsehen versucht, das Regime der Islamischen zu verteidigen und die Mutterkultrevolution als Irrsinn herabzusetzen, dabei erreicht sie aber nur, dass auch die islamische Revolution von 1979 unter dieselbe Kate- gorie einer Massenpsychose fällt. Sama Maani inszeniert die zweite Mutterkultrevolution als Wiederholung der Ge- schichte, also der ersten Revolution als Farce 2 . Die erste Revolution aus dem Jahre 1979, die eigentlich eine Demokratische sein sollte, rüttelte quasi Ariman aus den Urgründen des kollektiven Unterbewusstseins. Aus demokratischen Ansätzen ist das Gegenteil ent- sprungen, ein Mörderregime: „Wir haben, sagt also der Führer der Revolution Respektive sind ein Mörderregime ” (Maani 2021:444) Maani verfährt im Roman Žižek in Teheran ähnlich wie auch in seiner Erzählung Der Heiligenscheinorgasmus. Er nimmt ein Motiv des göttlichen Wunders, das gläubige Menschen für real halten, versetzt es aus der Glaubenslehre in die literarische Realität und baut darauf seine surreale Literaturlandschaft auf. Dies bringt einen sehr wirkungs- vollen Verfremdungseffekt hervor. In diesem Fall, wo es keinen Unterschied zwischen der religiösen und weltlichen Gewalt gibt, trifft es beide. Das Problem des Politischen in der realistischen Literatur war immer, dass es schwie- rig ist, das Politische von der Politik auseinanderzuhalten. Das Abgleiten ins Sentimen- tale, Pathetische oder in den Agitprop und Kitsch geschieht schnell, da es an Distanz fehlt und die Kunst für Politik instrumentalisiert wird. Durch Sama Maanis Verfahren wird die literarische Subjektivität dekonstruiert, genau so wie die Geschlossenheit seiner 2 Vergleiche: Žižek in Teheran -– Autorenlesung von Sama Maani und Gespräch mit Robert Pfaller; https://www. youtube.com/watch?v=z7xQhKDjxTc&t=941s Vestnik_za_tuje_jezike_2023_FINAL.indd 179 Vestnik_za_tuje_jezike_2023_FINAL.indd 179 8. 12. 2023 10:10:07 8. 12. 2023 10:10:07 180 VESTNIK ZA TUJE JEZIKE/JOURNAL FOR FOREIGN LANGUAGES literarischen Realität und das beginnt den Zustand von Machtstrukturen der empirischen Realität strukturell widerzuspiegeln. Die Wirksamkeit, die Macht, die der Text dadurch ausübt, hat ganz im postmodernen Sinn keine einzelnen Träger, Helden im traditionellen Sinne, sondern ist im Zwischenraum daheim. Das ist das Unheimliche. In diesem Sinne funktioniert das Politische in der Literatur generell umso besser, je mehr es fluide Funk- tionalität ist und nicht ein fester (Gemein)Platz. 2.2 Baha’i Eine der besten Stellen, wo man beobachten kann, wie Maani das Politische aufarbeitet und das Abgründigste im Kontext des empirisch realen Iran literarisiert, ist ein großer Abschnitt des Romans, in dem er sich den Baha’i zuwendet 3 . Eingeführt wird das Thema anscheinend beiläufig und spielerisch: „Baha’i (Erinnert ich weiß, LeserIn An Bahia, Tahiti, Hawaii Aber Schluß mit lustig Baha’i zu sein in Teheran Ist alles andere als lustig) Baha’i ist eine Glaubensgemeinschaft Welche die Islamischen hassen Wie die Pest (Näheres siehe Wikipedia oder lies Bücher) […]” (Maani 2021:400) Die Erzählung über das Schicksal einer Gruppe von sieben Baha’i, denen ein Pro- zess gemacht wird und das entsprechende Baha’i-Video im ZTF, im Zweiten Kanal des Teheraner Fernsehen gesendet wird, zieht sich durch den Roman und erzählt von ihrer Festnahme bis zur Hinrichtung und anschließender fantastischer Wiederbelebung durch ein s. g. „Biokosmismus”-Programm. Es wird behauptet, das Video darüber könne ab- gerufen werden unter dem Link: https://www.youtube.com/watch?v=Hli83N1xt2c Wenn der Leser sich die Mühe gibt, die Verknüpfung einzutippen, findet er überra - schenderweise kein Video aus Iran, sondern ein Video mit dem Titel Geheime Reichssache – die Angeklagten des 20. Juli 1944 vor dem Volksgerichtshof. Gefilmt wurden die Pro - zesse gegen die Beteiligten und Mitwisser des Attentates auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944. Auftraggeber war der Reichspropagandaminister Goebbels. Es hat sich aber herausgestellt, 3 Maani stammt selber aus einer Baha’i Familie, die noch rechtzeitig emigrierte. Vestnik_za_tuje_jezike_2023_FINAL.indd 180 Vestnik_za_tuje_jezike_2023_FINAL.indd 180 8. 12. 2023 10:10:07 8. 12. 2023 10:10:07 181 Matej Šetinc: DAS POLITISCHE IN SAMA MAANIS ROMAN ŽIŽEK IN TEHERAN dass die Aufnahmen nicht den Propagandazwecken dienen konnten, da die Angeklagten standfest zu ihrer Sache standen, deswegen wurden sie zur „Geheimen Reichssache” er- klärt. Der Vergleich zwischen dem Naziregime und dem Regime des Islamischen Teheran ist klar, der Einbruch der Dokumentaraufnahmen in die literarische Welt so krass, dass es wirklich Schluss mit lustig ist. Das Verbrechen an den Baha’i wird im Roman als Quint - essenz der Hölle des Regimes geschildert und eine Stelle, an der das System beginnt zu bröckeln, denn der Führer M1, nicht sein alter Ego M2, der sich in eine Frau verwandelt, wird verrückt, weil er anscheinend die Verbrechen nicht mehr verkraften kann: „Immer hat er O wei gesagt O wei! O wei! Die Baha’i Gesagt.” (Maani 2021: 490) Die anschließende Wiederbelebung mittels eines fantastischen Reanimierungs- prozesses, die auch im Fernsehen übertragen wird, gehört dann weiter in das Pandä- monium von Irrgestalten dieser verzerrten Realität. Ein anderes solches Beispiel ist das Habitat-gefängnis. 2.3 Habitat-Gefängnis Es geht um die literarische Paraphrase eines bekannten kommunistischen Konzeptes. Sama Maani und Robert Pfahler besprechen das im oben erwähnten Gespräch, hierzulan- de war das Teil der politischen Doktrin und bekannt aus dem Schulunterricht. Das poli- tische System des Sozialismus wurde als ein Gebäude erklärt, also nichts natürlich Ge- gebenes, sondern vom Menschen Erschaffenes. Der notwendige Antrieb des Fortschritts war die Diktatur des Proletariats, notwendig so lange, bis ein perfekter Zustand einer ausgewogenen gesellschaftlichen Gerechtigkeit erreicht werden würde, der als idealer anzustrebender Bewusstseinszustand bezeichnet wurde. Dann würde die Diktatur des Proletariats aufhören und das Gebäude der Machtausübung würde sich selbst dekonstru- ieren, d. h. aufhören zu existieren. Auf diesem Model konzipiert Maani das “Habitat-Gefängnis” (Maani 2021: 110) im Roman. Maani beginnt in diesem Fall die ironische Distanz, das Gefälle zur Empirie aufzubauen, indem er zuerst den Architekten des Gefängnisses einleitet. Das ist der Vater eines der Erzähler, des Gefängnisarztes, der als Inspiration für sein Gefängnis für glück- liche Menschen die Architektur eines israelischen Architekten, nämlich Moshe Safdie anführt, was schon an und für sich absolut ironisch ist. Noch mehr aber, wenn man die Safdie-Architektur, die auch heute noch weitergeführt wird, hier konkret bezogen auf das Habitat 67 Projekt aus Montréal, Québec mit dem berüchtigten Evin Gefängnis für Vestnik_za_tuje_jezike_2023_FINAL.indd 181 Vestnik_za_tuje_jezike_2023_FINAL.indd 181 8. 12. 2023 10:10:07 8. 12. 2023 10:10:07 182 VESTNIK ZA TUJE JEZIKE/JOURNAL FOR FOREIGN LANGUAGES politische Häftlinge in Teheran in Verbindung setzt. Erwähnen müssen wir hier aber auch die erste Stellungnahme, die Žižek, als er im Epilog auftritt, macht und die ausgerechnet die Verbindung der Kunst und Politik thematisiert: „Als Marxist, sagt Žižek, bin ich natürlich überzeugt, Daß Architektur immer auf gesellschaftliche Widersprüche Reagiert.” (Maani 2021: 579) Ganz in diesem Sinne zeichnet das Konzept des Habitat-Gefängnises die Kompensa- tion des gesellschaftlichen Misstandes in der Republik Teheran. Der Architekt baute sein Gefängnis programmatisch: „Ich bin ein politischer Architekt! Sagte Vater Mein Gefängnis ist ein Gefängnis für glückliche Menschen! Kann ein Gebäude glücklich machen? In meinem Gefängnis kann es keine politischen Häftlinge geben! Mein Gefängnis steht im Widerspruch zu jedem Regime!” (Maani 2021:580) Im Widerspruch zum ideologischen Konzept einer fortschrittlichen Architektur läuft aber im Habitat-Gefängnis das Folterprogram ungehindert weiter. Das perfide Muster dieser Gegensätzlichkeit kennen wir aus Parolen verschiedener Diktaturen wie z. B. Ar- beit macht frei, Kulturrevolution etc. Hier wird jedoch nicht nur Architektur zur Folter, sondern auch Malerei, was ein eingeschobener “Zeitungsartikel” erklärt: „The Guardian Vom 27. Januar 2012 Foltern mit moderner Kunst Eine Teheraner Kunsthistorikerin har die wahrscheinlich erste Anwendung der modernen Kunst als Foltermethode aufgedeckt. Kandinsky, Klee, Itten, Bunuel und Dali lieferten die Inspiration für eine Reihe von Gefängniszellen, die im Teheran der Jahre 1979 bis 1981 gebaut wurden. Sie waren das Werk des Architekten und Malers Ashkan Namwar, dem Erfin- der der psychotechnischen Folter.” (Maani 2021:129) Vestnik_za_tuje_jezike_2023_FINAL.indd 182 Vestnik_za_tuje_jezike_2023_FINAL.indd 182 8. 12. 2023 10:10:07 8. 12. 2023 10:10:07 183 Matej Šetinc: DAS POLITISCHE IN SAMA MAANIS ROMAN ŽIŽEK IN TEHERAN Sama Maani hebt immer hervor, dass man keine direkte Übertragung zwischen Fak- ten aus der empirischen Realität und deren Fiktionalisierung machen kann. Indirekt ist aber doch der Bezug auf das Foltern mit Musik in Guantanamo hergestellt worden und unausweichlich ein Vergleich zwischen „Teheran” und „Chicago” stellvertretend für bei- de Länder in denen sich diese Städte befinden. Die Demontage des Gefängnisses ganz im Sinne der kommunistischen Doktrin wird inzwischen weitererklärt. Das Gefängnis ist ein: „Work in progress Konzipiert als veränderliches Gebäude […] Der Tod des Gefängnisgebäudes bedeutet die Freiheit Seiner Bewohner. […] Im Lauf der Jahre Würde es immer mehr Fenster geben, immer größere Das nannte er Aufklärung […] (Maani 2021:130) Das Gefängnis würde sich mit der Zeit in eine Wohnanlage für Gefangene verwan- deln und letztendlich würde es abgerissen werden. Aber inzwischen wird das Gefängnis noch weiter ausgebaut, es wurden “Baumhauszellen” errichtet, was an die Architektur des Habitat 67 Projekts erinnert und außerdem auf die s. g. Schubladenzellen, mittels Elektromotor ausfahrbare Balkone oder Balkonkäfige. Allerlei fantastische Einfälle ver- wandeln das Gefängnisprojekt in ein architektonisches Kuriosum und Meisterwerk und eine immer größere Sublimierung dessen, was das Evin Gefängnis war und ist. Hier kön- nen wir uns noch einmal fragen, wie das Zwischenräumliche in einem postmodernen literarischen Text entsteht, wie das Literarisch-Politische funktioniert? Sama Maani setzt ständig diverse Metatexte aus anderen Quellen in seinen Roman ein, manchmal auch aus Wikipedia. Der Rezipient wird aufgefordert nachzuschlagen, den Romantext durch andere Lektüre auszuweiten, zu kontextualisieren, sich einzulassen und Stellung zu beziehen, bleibt also nicht im Bereich des Erhabenen. 2.4 Die Verweiblichung des Männer-Gottes Eine direkte Übertragung des Literarisch-Politischen auf die empirische Realität ist zu vermeiden, sagt auch Sebastian Kugler: „Gewarnt sei also davor, Themen, Motive und realhistorische Ereignisse, die im Roman Vestnik_za_tuje_jezike_2023_FINAL.indd 183 Vestnik_za_tuje_jezike_2023_FINAL.indd 183 8. 12. 2023 10:10:07 8. 12. 2023 10:10:07 184 VESTNIK ZA TUJE JEZIKE/JOURNAL FOR FOREIGN LANGUAGES vorkommen, allzu unvermittelt mit der außerliterarischen Welt kurzzuschließen und im Buch nur einen mehr oder weniger allegorischen Kommentar zur aktuellen politischen Situation im Iran zu lesen.” (Kugler 2022) Das kann aber auch nicht passieren, da die literarische Realität zu stark dekonstruiert ist, nicht nur durch Form, sondern auch durch fantastische und groteske Elemente. Der Leser kann gar nicht in die Versuchung kommen, eine allegorische Auslegung zu wagen, um so mehr aber wird er auch durch Verfolgung von Querreferenzen zur Sinnkonstruk- tion eingeladen. Mit Satire und Elementen des Fantastischen wird die unfassbare Schrecklichkeit der politischen Realität viel wirksamer gezeigt, als es eine realistische Deskription zu tun vermöchte. Es geht um die Perspektive. Um für ein so unfassbares, irrationales und monströses Regime eine literarische Form zu finden, braucht es Mittel in entsprechender Größenordnung. Das fantastische Ereignis der Verwandlung einschließlich der wunder- samen Vermehrung der Haare, die all die Straßen und Plätze füllen, die Verweiblichung des Männer-Gottes der Islamischen, zeigt uns rückblickend das gesamte Ausmaß des zu lösenden Problems. Wie wir schon erwähnt haben, werden alle literarischen Subjekte in Maanis poetischem Verfahren dekonstruiert, gespalten. Dementsprechend tritt auch der Führer der Republik Teheran in einer fragmentarischen und verdoppelten Form auf, seinen Namen kennen wir nicht, er wird nur M genannt. Es bleibt dem Leser überlassen, ob er frei assoziieren will und sich fragt, was denn in diesem Kontext alles hineinpassen könnte, vom Namen des islamischen Propheten und des verwandelten Führers: „Mutter O Mutter Es gibt keinen Gott Außer Mutter” (Maani 2021: 386) Maani als Urvater des Textes und der Urhorde der darin auftretenden Charaktere kommt auch noch dazu, M als Mazda, Gott des alten persischen Glaubens Mazdaismus? Und nicht einmal M tritt auf in einer geschlossenen Form, denn eigentlich sind es zwei Brüder, M1 und M2, wie schon oben erklärt. Die Macht –- auch ein M -– ist gespalten. Der Mutterkult sollte mit magischer Befruchtung durch Gottesstrahlen eine neue Generation von Übermenschen hervorbringen, es kommt aber nicht dazu, weil sich zeigt, dass die fanatischen Anhänger des Kultes in ihrem religiösen Wahn M2 als Objekt der Verehrung in Stücke zerreißen. Wir sehen, was aus dem tiefsten Urgrund des Menschen kommt, ist Zerstörung. Diese Passage wird dann vom literarischen Žižek zur Freuds The- orie der Urhorde weitergeführt, die im Roman auch früher schon in den Raum gestellt wird mit der Forderung, die Islamischen der Republik Teheran sollten aus ihrer s. g. Schamkultur in die westliche Schuldkultur herauswachsen, wozu sie nicht imstande sind, da die persische Urhorde keinen Urvatermord verübte und dadurch nicht in den erblichen Vestnik_za_tuje_jezike_2023_FINAL.indd 184 Vestnik_za_tuje_jezike_2023_FINAL.indd 184 8. 12. 2023 10:10:07 8. 12. 2023 10:10:07 185 Matej Šetinc: DAS POLITISCHE IN SAMA MAANIS ROMAN ŽIŽEK IN TEHERAN und dauerhaften Zustand der Reue und Schuldgefühle versetzt wurde. Nun, das Zerreißen der Mutter bzw. M2 in seiner „verweiberten“ Form könnte doch als etwas Ähnliches, als ein Urmuttermord aufgefasst werden. Folglich wird im Roman darüber berichtet, dass die mumifizierte Leiche des Vaters des Kaisers aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts plötz- lich aufgetaucht ist. Man hat eine Reliquie gefunden, es scheint eine Andeutung darauf zu sein, dass das „Monsterregime, das der Phantasie eines schlechten Fantasy-Autors ent- sprungen sein könnte” (Maani 2021: 619), zu Ende ist und die Republik Teheran wieder auf dem Weg zur Restauration des Kaisertums ist. 3 FAZIT Dass Sama Maani LeserIn mit Binnen-I eingeführt hat, an den/die sich der Erzähler immer wieder wendet, hat wichtige Gründe. Die literarischen Personen mögen in ihrer Subjektivität äußerst reduziert sein, fragmentarisch, dekonstruiert und die LeserIn ist auf dieser Ebene auch eine von ihnen, aber wie wir gesehen haben, führt die Funktiona - lität des Literarisch-Politischen darüber hinaus und realisiert den Bezug zurück auf die empirisch-realen RezipientInnen. Das Zwischenräumliche, in dem das Im-Gespräch- sein realisiert wird, kommt nicht nur innerhalb des literarischen Raumes zustande, son- dern eher im Gespräch mit dem Leser, der dadurch in die Lage versetzt wird, sich als zoon politicon zu erkennen. Im Roman sind alle Personen in ihrer reduzierten Form Teile des zu analysierenden Phänomens des Islamischen genauso wie aller anderen Erscheinungsformen desselben Prinzips. Die Welt, der Kosmos des Romans ist ein ge- brochenes, der Rezipient ist durch das unausweichliche Verstehen-wollen gezwungen, Ordnung in die gespaltene „Psyche“ dieser Welt einzubringen, zu erschaffen. Das ist eine Handlung. Der Leser tritt in den Dialog mit dem Text, in den Raum des Mitein - andersprechendseins. Der Roman wird zum Anderen, das eigentliche Ereignis, in dem sich das Sein zeigt, entsteht im Erscheinungsraum zwischen dem Text als etwas uns mehrstimmig und mehrdeutig Ansprechendem und uns. Der Leser nimmt teil durch Anwendung seiner politischen Modalität in der Stellungnahme zum Gelesenen. Mehr als Deutung, Interpretation wird das Lesen ein Zu-Ende-Schreiben. Ein Akt des Poli- tischen aus dem Raum des Ästhetischen. Was die Schrift, jetzt nicht mehr Schrebers, sondern Maanis Roman über die Welt der Republik Teheran vermittelt, ist eigentlich ein Trauma, es vermittelt ein Bild eines gesellschaftlichen Wahnsinns. Durch das Le- sen, die gesamte Kontextualisierung, das Ordnen, Rationalisieren, Querverbindungen- Herstellen und natürlich auch durch all das Amüsante im Text, beginnt für den Leser, könnten wir ironisierend sagen, etwas Ähnliches wie bei Paul Schreber, als er sein Buch schrieb, nämlich der Anfang eines Heilungsprozesses. Vestnik_za_tuje_jezike_2023_FINAL.indd 185 Vestnik_za_tuje_jezike_2023_FINAL.indd 185 8. 12. 2023 10:10:07 8. 12. 2023 10:10:07 186 VESTNIK ZA TUJE JEZIKE/JOURNAL FOR FOREIGN LANGUAGES BIBLIOGRAPHIE Primiärliteratur: MAANI, Sama (2021) Žižek in Teheran. Klagenfurt: Drava Verlag. Internetadressen: FANTA, Walter (2021) Sama Maanis „Žižek in Teheran“: Furcht vor der Verwe- iblichung Gottes. Der Standard, 19. Juli 2021. https://www.derstandard.at/sto- ry/2000128235781/sama-Maanis-Žižek-in-teheran-furcht-vor-der-verweiblichung- -gottes (30. Mai 2023). KUGLER, Sebastjan (2022) Sama Maani (2021): Žižek in Teheran. Journal für Psycho- analyse 63. https://www.psychoanalyse-journal.ch/article/view/jfp.63.14 (30. Mai 2023). MAANI, Sama/Robert PFAHLER (2021) Žižek in Teheran - Autorenlesung von Sama Maani und Gespräch mit Robert Pfaller. YouTube, 10. Dezember 2021. https://www. youtube.com/watch?v=z7xQhKDjxTc&t=941s (30. Mai 2023). OE1 (2021) Sama Maanis „Zizek in Teheran”. 3. Mai 2021. https://oe1.orf.at/artikel/ 683073/Sama-Maanis-Žižek-in-Teheran (30. Mai 2023). SHCHYTTSOV A, Tatjana (2003) Die Beziehung zum Anderen in Martin Heideggers „Sein und Zeit“ und in der Ereignisphilosophie Michail Bachtins. Phänomenologi- sche Forschungen 2003, 331–339. http://www.jstor.org/stable/24360679 (30. Mai 2023). SOLMAZ, Kahraman (2016) Das Politische bei Arendt. HannahArendt.Net 8(1). https:// doi.org/10.57773/hanet.v8i1.349 (30. Mai 2023). Monographien: MOUFFE, Chantal (2007) Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion. Fran- kfurt am Main: Suhrkamp. NEUHAUS, Stefan/Immanuel NOVER (2019) Das Politische in der Literatur der Ge- genwart. Berlin/Boston: De Gruyter. MACHART, Oliver (2010) Die Politische Differenz. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Vestnik_za_tuje_jezike_2023_FINAL.indd 186 Vestnik_za_tuje_jezike_2023_FINAL.indd 186 8. 12. 2023 10:10:07 8. 12. 2023 10:10:07 187 Matej Šetinc: DAS POLITISCHE IN SAMA MAANIS ROMAN ŽIŽEK IN TEHERAN POVZETEK POLITIČNO V ROMANU SAMA MAANIJA ŽIŽEK IN TEHERAN V članku Politično v romanu “Žižek In Teheran” Sama Maanija si zastavljamo vprašanje, na ka- kšen način vstopa fenomen političnega v poetiko Maanijevega romana, kakšno vlogo pri tem igra- jo satira, subverzivnost in forma tega postmoderno-modernega besedila? Ali se (lahko) politično znotraj takšnega literarnega dela obrača nazaj k recipientu in seže nazaj k izvenliterarni realnosti, ne da bi pri tem literaturo spremenila v agitprop? Pri tem bomo opazovali, ali so zastopani bistveni elementi, ki človeka vzpostavljajo kot politično bitje: prostor so-biti, prostor delovanja med ljudmi (Arendt) oziroma po Bahtinu dogodek so-bitja (sobytie). Izkaže se, da so vsi protagonisti kot subjekti reducirani, razcepljeni, jasnih identitet ni, pripo- ved je fragmentirana. Veliko je vrinjenih in dodanih metatekstov, ki dodatno rušijo enotnost časa in prostora. Za sestavni del besedila je treba vzeti tudi video posnetke, ki so navedeni v romanu. Prav tako ni mogoče Teherana, kot se imenuje dežela v romanu, poistovetiti samo z Iranom. V njem prepoznavamo druge države in zgodovinske poteze njihovih diktatur. Ravno dekonstrukcija realnosti in odmik od realizma omogočata literariziranje političnega brez bojazni, da bi bilo mogoče roman brati enoznačno kot alegorični opis realnosti v Iranu. Pripovedovalec se obrača k bralcu in vzpostavlja dialog z njim. Tako postaja recipient, torej realni bralec, tisti drugi, prostor dialoga med njima pa politično funkcionalen, saj z vzpostavljanjem smisla in logičnim sestavljanjem pripovedi bralec kot nagovorjeni vstopi in sodeluje v prostoru sobiti, kjer zavzema stališča. Branje postane dejanje političnega iz prostora estetskega. Ker pa roman pripoveduje o eni največjih možnih travm človeštva in je zapisan tudi kot neke vrste poetična psihoanliza, je proces recepcije in konstruiranje smisla tega besedila tudi neke vrste zdravljenje, kakor je tudi nakazano v zaključku romana. Ključne besede: politično v literaturi, prostor so-biti, prostor delovanja med ljudmi, dekonstrukci- ja realnosti, konstrukcija smisla, branje kot dejanje političnega, poetična psihoanaliza ABSTRACT THE POLITICAL IN SAM MAANI’S NOVEL ŽIŽEK AND TEHRAN In the article “The Political in Sam Maani’s Novel Žižek in Tehran” we examine how the political enters into the poetics of Maani’s novel. We are particularly interested in the roles played by the satire, subversiveness and form of this postmodern-modern text. Can the political within such a lit- erary work turn back to the recipient and reach back to the extra-literary reality without turning lit- erature into agitprop? Our aim is to observe whether the essential elements that establish a human as a political being, the field of “being-with” (Mit-sein) or of action in the space of “being-with” (Mit-sein), or, according to Bakhtin, the event of co-being (sobytie), are present in the novel. Vestnik_za_tuje_jezike_2023_FINAL.indd 187 Vestnik_za_tuje_jezike_2023_FINAL.indd 187 8. 12. 2023 10:10:07 8. 12. 2023 10:10:07 188 VESTNIK ZA TUJE JEZIKE/JOURNAL FOR FOREIGN LANGUAGES Our study shows that all the protagonists as subjects are reduced, or split, there are no clear identities, and the narrative is fragmented. Many metatexts in the form of parentheses or additions further disrupt the unity of time and space. The video clips mentioned in the novel should also be considered as an integral part of the text. Furthermore, Tehran, which is the name given to the country in the novel, should not be understood as simply referring to Iran. In the novel Teheran bears the characteristics of other countries and the historical traits of their dictatorships. It is pre- cisely the deconstruction of reality and the departure from realism that make it possible to literarize the political without fearing that the novel can be read as a univocal allegorical description of reality in Iran. The narrator turns to the reader and establishes a dialogue with him. In this way the recipient, i.e. the real reader, becomes the other and the field of dialogue between them becomes politically functional, since by establishing meaning and by logically constructing the narrative the reader enters as the addressed in the field of “being with” and participates by taking positions. Reading becomes an act of the political from the space of the aesthetic. However, since the novel is about one of the greatest possible traumas of humanity and is also written as a kind of poetic psychoanalysis, the process of reception and the construction of meaning of this text is at the same time a kind of healing, as is also implied in the novel’s conclusion. Keywords: the political in literature, the space of “being-with” (Mit-sein), the space of action be- tween people, deconstruction of reality, construction of meaning, reading as the act of the political, poetic psychoanalysis Vestnik_za_tuje_jezike_2023_FINAL.indd 188 Vestnik_za_tuje_jezike_2023_FINAL.indd 188 8. 12. 2023 10:10:07 8. 12. 2023 10:10:07