UDK 176.7 Die Kunst und das Kriterium der Moral FRANC ZADRAVEC, SLOWENIEN POVZETEK UMETNOST IN MORALNI KRITERIJ Študija obravnava vprašanje o umetnosti morali in še vprašanje ali umetnosti ljudi in narode zbližuje, ali pa seje tudi razdor med njimi. Avtor upošteva mnenje sedemnajstih besednih umetnikov (Ivo Andrič, Boris Pahor, J. W. Goethe, J. B. Racine, N. V. Gogolj, Ivan Cankar, Oton Župančič, Prežihov Voranc, Ciril Kosmač, Miško Kranjec, Frangois Mauriac, J. P. Sartre, John Dos Passos, Henry James, Hans Eric Nossack, David H. Lawrence, George Orwell) in treh estetov (Josip Vidmar, Aleš Ušeničnik in Gydrgy Lukdcs). Vsi - razen Ušeničnika -pravijo, da ima umetnost avtonomno moralo oziroma je moralna sama po sebi, preizkusno merilo njene morale pa je razmerje do življenjske stvarnosti. Naj je Emile Zola bil še tak pozitivist in doktrinami naturalist, označuje njegova misel "Ker smo resnica smo morala ", temelj umetnostne morale. Umetnik je duhovni partizan, moralni izraz tega partizpnstva je estetsko dejanje, ki razkriva resnico življenjske in predmetne stvarnosti. Njegova zmožnost videti, slišati, razbirati in oblikovati ga obvezuje upodabljati resničnost, kakor jo vidijo njegove "oči". Bodi npr. epska/dramska oseba še tako obložena z zlom, se umetnik ne naslaja niti z ugrizi vesti niti ne sporoča, da božja milost odreši vsakogar, kdor se je zapletel v zlo, pa se skesa. Umetnik ni pooblaščenec nikogar, ne večne morale ne absolutnih resnic, odgovoren je samo življenju. Njegova osebna resnica o življenju je sicer omejena, ostaja pa nepreklicna moralna določnica umetnine, in kdor jo prekrši in se podredi moralnemu vzorcu zunaj sebe, estetsko uniči izdelek: kajti estetska in moralna igra besede sta v umetnosti neločljivi, Življenje in svet prevajata sinhrono, ločeni pa se srečujeta le v umetniškem ponaredku. Prav iz njunega soglasja in razglasja sledi, da ljudi in narode zbližuje le moralno avtonomna umetnost, razdira, razdvaja in ločuje pa jih tista, kije obremenjena z ideološkimi in moralnimi vzorci. Die radikalnationalen und sozioideologischen Zusammensetzungcn und die kon-fessionellen Gesetze behindern dcs ofteren des Schriftstellers Feder, weil sie kein Bildnis dariiber habcn wollen, wie sie die menschliche Personlichkeit und seine Frei-heit beeintrachtigen. Den Schriftsteller, der sich nur der erlebten Wirklichkeit un-terordnet, riiumt man als tendenzios ein, er wird abgestempelt als einer, der dem Volk, dem Staat oder aber der Konfession gefahrlich ist. Die Geschichte iiber den Schrifit-steller, welcher eine unerwiinschte Shakespearsche Anschauung hat, ist in der europaischen Kultur mindestens schon seit dem Dichter Ovid bekannt, sie wurde von Camus, Dostojewski und anderen Sehriftstellern weitergefiihrt, bis sie sich dann im XX. Jahrhundert vertausendfacht hat und heute vom Dichter der "Satansverse" Salman Rushdie fortgesetzt wird, der sich noch immer verstecken muB, als ware er ein Ver-brecher. Von Ovid bis Rushdie dauert dieser Kampf immer noch an, eine Auseinandersetzung zwischen der kiinstlerischen Moral, welche fur sich des Kunstlers schopferische Freiheit und seine Lebensauffassung fordert und zwischen ideologischer Dogmatik aller Art. Der zum Schweigen gezwungene oder aber verbannte Kiinstler wird so noch nicht zu einer Unperson werden, da ihm die schopferischen Moglichkeiten nur von der Natur weggenommen werden konnen. Die schicksalhaftestc Art des Hindernisses kommt von der eigentlichen Essenz der Kunst auf ihn zu. Ein ktinstlerisch immanentes Uindernis ist z.B. dieses: wenn der Schriftsteller bewuBt die Grenze des Asthetischen auf Rechnung des Ideologischen iiberquert, bleibt ihm meistens nur das Unasthetische, ein predigtartiges Wort, bleibt ihm vor allem die erklarende Moral. Eine Ausnahme konnte nur dann entstehen, sobald er in einem dramatischen volkischen Augenblick fiir die Freiheit des Einzelnen und des Volkes Partei ergreift, wenn er den Augenblick spiirt und erkennt, als "Freiheitswille / das Asthetische ist ein Imperativ"1, wenn er aus moralischem Denken dichtet, daB es besser ist nicht zu sein, als aber ein Sklave zu sein. Das andere immanente Uindernis ist die Tatsache, daB der Schriftsteller auf einem schwingendem Seil tanzt zwischen seiner und der ihm nahestehenden geistli-chenypsychischenymoralischen Wirklichkeit und zwischen seinen phantastischen Krea-turen, zwischen menschlicher Faktizitat und zwischen Fiktion, daB er sich immer wie-der in einer Priifung befindet, daB er diese Zweiheit entweder asthetisch wirkungsvoll vereinigt oder aber ihm bleiben die Elemente abgerissen, ja sogar abgetrennt. Die Schriftsteller machen sich bei dieser unausweichlichen Priifung manchmal Gedanken iiber den Sinn ihres Tuns, sowie sic auch ihre Arbeit als paradox erkennen, als cine Kraft ohne Kraft. Ja so mancher gibt geradeaus zu, daB er seinen geistigen und emp-findsamen Ozean nicht einmal bis zum Ende uberblicken und ihn ausdriicken kann, nicht einmal um zu sich selbst zu schreiben, geschweige denn zu seinem Nachsten. Neben diesen und jenen auBerlichen und inneren Uindernissen der Kunst offnet sich selber an sich die Frage iiber die Soziabilitat der Kunst, beziehungsweise die Frage, ob das Kunstwort auch eine ausgezeichnete ethische Gesinnungshandlung ist, die den einzelnen wie auch Volker verbindet oder es auch eine Handlung sein kann, welche sie vereinigt und die Gegensatze zwischen ihnen vergroBert. Bei der Festrede anlaBlich der Nobelpreisverleihung im Jahre 1961 hat Ivo An-drič die vereinigte Moral der Kunst mit der schriftstellerischen Verantwortung ver-bunden: "Jeder ist moralisch fiir das vcrantwortlich, was er crzahlt und jedem ist zu gewahren, daB er als heutiger Erziihler den Menschen seiner Zeit seine Geschichte erzahlt; ungeachtet des Themas und der Form, nur daB sie nicht mit Feindschaft ver-giftet ist und gediinstet mit donnernden Waffen und am besten mit Liebe und Breite und der Heiterkeit des freien Menschengeistes gefiihrt sein solite, weil der Erziihler und seine Arbeit keiner Sache dienen, auBer dem Menschen und der Menschlichkeit."2 Boris Pahor hat im Jahre 1964 in seinen "Deset žebljic" (Zehn Nagelchen) den 1 Tit Vidmar, In mcmoriam (Matej Bor). KL, Dclo Nr. 233,7. Oktober 1993. 2 Ivo Andrič, Gcschichte des Menschen, Roman, 239, Belgrad, 1975. Gedanken eingeflochten, welcher die Vereinigung der Wortkunst noch fraglicher macht und auf die Frage, ob die "Kunst die Volker vereinigt" folgendes geantwortet: "Ich wiirde sagen, daB die meisten Kraftlinien, die die Inhalte der Kunst sind, jene sind, die die Volker vereinigen. Sehnsucht nach Geltung. Kampf urns Uberleben. Gier. Neid. usw. usw."3 Bei diesen Erkenntnissen und Warnungen kann man sich zu Recht fragen, was ist die Moral der Kunst beziehungsweise, ist es moglich zu behaupten, daB auch die Kunst ihre eigene Moral hat, wenn schon die Schonheit selber nicht ist und nicht ihre einzige Moral sein kann; sich fragen, was ist iiberhaupt die Moral der Kunst, die nur dem Menschen und der Menschlichkeit dient. 1st das Kunstwerk erst dann moralisch, wenn sich der Kiinstler eben zum Beispiel nach der nationalen, sozial revolutionaren, nach der anschaulichen, konfessionellen oder sogar nach der staatlichen Moral richtet, kurzum, nach welcher systematischen moralischen Anschauung oder ist die ethische Gesinnung erst dann, wenn sich der Kiinstler nur nach dem personlichen, dem inneren moralischen Imperativ richtet, welcher den Namen Treue zu sich selbst tragt, die Treue des personlichen Erlebnisses selbst und das des Nachsten und die Treue der Wahrheit dieses Erlebnisses? Das Problem kann man noch auf diese Art erweitern: die Kunst war und wird immer eine Tatigkcit der "Intellektuellen" beziehungsweise der geistig Vordringenden bleiben, um nicht zu sagen, der geistig hoherentwickelten und noch der formgestalter-isch talentierten Menschen. Aber ist etwa schon deshalb auch die geistige und moral-ische Besinnung und das Gewissen des Menschen und der Menschheit verlaBlich, und dient es etwa schon deshalb der Menschheit, wie der Schriftsteller Ivo Andrič ihre moralische Wesenheit versteht? Oder ist es gerade wegen der intellektuellen Unterlage manchmal moralisch mangelhaft und sogar ein gefahrliches BewuBtsein und Gewissen? Und wenn sie nach ihrer allein durch Denken gewonnenen Natur doch noch nur der Wahrheit und der Menschheit verbunden ist: ist es dann etwa keine Kunst mehr, wenn sie national extremistisch, chauvinistisch oder aber wenn sie religios und gesellschaftlich ideologisch fantastisch ist? Kurzum, was gibt ihr die moralische Kraft, daB sie Einzelne und Volker vereinigt, und was nimmt sie ihr, das ist ein Problem, welchem ich bei zwei Themen das Geleit gebe: bei dem nationalen und dem weltanschaulichen. Der nationale Inhalt und die Moral der Kunst. Johann Wolfgang von Goethe sagte iiber die deutsche Literatur seiner und der vergangenen Zeit, daB es ihr an Tal-enten nicht fehle, es fehle ihr aber an "nationalem Inhalt".4Was dieser Inhalt sein solite hat er nicht gesagt, vielleicht hat er in ihr die kohiisive Kraft oder die inhaltliche Spezifik vermiBt, mit welcher sie sich von der franzosischen, englischen oder aber italienischen Literatur unterscheiden wiirde. Der Schriftsteller und Dichter Ivan Cankar hat auf der Grundlage der "Sagen und Erzahlungen iiber die Goijancer" von Trdina gefolgert, daB auch die slowenische Literatur einen gemeinsamen psycholo-gischen Boden, einen besonderen "nationalen Inhalt" besitzt, namlich die romantische Anschaulichkeit und das Gefiihlvolle oder ein gegensatzliches Gefiige der "Einfachheit und Unkompliziertheit, der klaren und kernigen Ausdrucksweise" sowie dere "Mitternachtsphantasien", zugleich aber gab er zu, daB gerade die beiden Dichter 3 Boris Pahor, Zchn Nagclchcn (Deset žeblic), Sonntagsverabredungen mit Zeitgenossen Delo 1964 Nr 168,20. Juni 1964. 4 Paul Feebler, Geschichte der deutschen Literatur, 7, Berlin 1941. Prešeren und Kette aus der "Volksseelc sangen".5 Es ist nicht notig uns zu beweisen, daB die Poesie von Prešeren und Kette und auch die von I. Cankar nicht aus der so beschriebenen Volksscele abstammen, nicht einmal aus der nationalen Seele iiber-haupt, sondera sie ist nur ihre eigene Projektion, auch alles jene, was die Kraft des Syntagma "nationalen Inhalts" kennzeichnet. Wenn aber iiber den "nationalen Inhalt" der literarischen Kunstwerke die schopferische Personlichkeit selbst entscheidet, kann man in jeder nationalen Literatur den-noch auch Besonderheiten antreffen, die im Gefiige der Weltliteratur fiir das Individu-elle eingeteilt wird. Und wenn es so ist: kann der Literat also trotz seiner Besonderheiten die Volker dennoch vereinigen beziehungsweise, womit kann er sie sich an-nahem und noch: kann er sie wegcn seiner Besonderheiten auch entfremden. Was ist z.B. in der slowenischen Literatur, die sichtlich national integrativ ist und die nation-ale Substanz starkt, was ist in ihr, was die Volker ehcr vereinigt als sie scheidet, wie ist ihre moralische Idee der Anniiherung (ungeachtet dessen, ob Europa diese Idee kennt oder nicht kennt)? Der nationale Inhalt der slowenischen Literatur von Valentin Vodnik iiber Prešeren, Jenko, Cankar, Župančič, Gradnik und Prežih bis zu der auslandischen der Nachkriegszeit, ist an die moralische Idee iiber den freien Menschen, iiber das Subjekt angelehnt, welcher das Recht hat und will frei zu leben und dieses Recht niemanden wegnimmt. Das Nationale ist nicht angriffsbereit, nimmt nicht das Eigentum des Nachbarn an, ehcr im Gegenteil -, den Volkern erkennt er aussagend, ja sogar hymnis-ch das Recht zur Freiheit zu. In der Literatur von Cankar z.B. ist die nationale Ladung klar wahrnehmbar. So verherrlicht Cankar im Roman "Kurent" (die Perchtengestalt) vom 1909 das slowenische Wort, jedoch verringert er nicht die Qualitat der andercn Sprachen, er verbeugt sich auch vor der moralischen Starke seines Volkcs, da das Volk der Weich-linge aus diesem geostrategischen Gebict schon langst verschwunden sci. In diesem Geistc wiinscht er lieber den Tod herbei, als daB er sich noch wciter den Nach-barvolkern unterwerfen solle: "LaB mich nicht erwarten o Herr, daB sich fremde Sprache iiber dieses Land ziehe! LaB mich nicht erwarten, daB er als Sklave einen sklavischen Tod fande! Gib ihm Kraft, daB er den Strick zerreiBt - wenn es sein muB das er stirbt soli er in Freiheit sterbcn!" Indessen er national unnachgiebig ist, bewirbt er sich in Wahrheit und vor allem um den freien Menschen, hintcr den Betonungen iiber die nationale Freiheit steht der moralische Grundsatz der subjektiven, personli-chen Freiheit. Wenn er entschieden hinter der Idee der personlichen und nationalen Freiheit steht, vergiBt er erst recht nicht, daB das Kunstwerk nur als asthetische Sache besteht und daB es nur moralisch ist, wenn es nicht seine existentielle, d.h. asthetische Bedingung bricht. Gerade im Roman Kurent betont er so die Untrennbarkeit der moralischen und asthetischen Bedingung des wirklichcn Kunstwerkes: "Harmonika (im Grunde Synonym fiir Lied, fiir Kunstwerk) ist keine Sprache, weiB nichts von Heuche-lei; das Lied ist kcin Wort, es liigt nicht!" Das wirkliche Kunstwerk ist also nicht Heuchelei, ist keine Liige, sondern ist immer zugleich eine asthetisch-moralische Handlung. Ein wirklichcs Kunstwerk mit der Idee der personlichen und nationalen Freiheit - also nicht mit der Idee "Feuer und Schwert" - ist moralisch, da es dem Leser des nachbarlichen und iiberhaupt des anderen Volkcs nicht seine Idcntitiit nimmt, sondern es vorher veredelt beziehungsweise ihm Bcsinnung und Raum der personlichen Freiheit vertieft, also dem Menschen und der Mcnschheit dient. 5 Ivan Cankar, Dragotin Kcttc. ZD XXIV. Ljubljana, 1975. Einige kleinere slowanische Volker haben die gleichen Betonungen in der nationalen literarischcn Thematik, haben also einen freiheitlichen Typ der Literatur. Zum Beispiel die Ukrainer, besonders Taras Ševčenko muBte wegen des Widerstandes gegen die Untertanigkeit und den Absolutismus, aber nicht weniger wegen seiner An-schauung iiber die "slowanische Briiderlichkeit", wegen "Kobzar" in die sibirische Verbannung. Seine Ansicht iiber die slowanische Wechselbeziehung traf auf den Wid-erstand der russischen slawophilen Messianisten, sie haBten ihn, weil er bei seiner ukrainischen sprachlichen Identitat ausharrte; auch der Ukrainer Schriftsteller Nikolai Wassiljewitsch Gogol, der in russischer Sprache schrieb, mochte ihn nicht. Sevčenko ist dem WeiBrussen Kanstancin M.Ckevič ahnlich - Jakub K61as, besonders in der Prosa "U zaleskoj hlušy" (In der Taubheit des Sommers) wo er die Tragik des Lehrers, der seine Landsleute in fremder Sprache, in russischer Sprache un-terrichten muB, beschreibt. Die nationale Schlaffheit der weiBrussischen Gelehrtheit aber zergliedert Kdlas kritisch in der prosaischen Trilogie "Na rostanjach". Wenn die Slowaken bis zum Jahre 1918 von den Ungarn entnationahsiert wur-den, so taten dies mit ihnen zwischen den Kriegen die Tschechen. Mit der Theorie, daB es nichts slowakisches gibt, sondern nur ein "ethnisches tschechoslowakisches Volk" wurde der slowakische Nationalismus nur bestarkt und fiihrte zu der Paradoxic, daB der IUinksche slowakische Parastaat im Jahre 1938 die dichterische Bliitezeit der slowakischen heimatlichen Lyrik brachte, daB z.B. die Sammlung "Virgilia" (1939) von Valentin Beniak beinahe ein Brevier des slowakischen Nationalismus wurde. Die nationale Idee kann sich aber in der Literatur auch deformieren, wird an-griffslustig, eroberungsfreudig, vergroBert das Ihre auf Rechnung des Fremden, protzt mit scheinbar glanzendem Stil an scheinbar barbarischem nachbarlichem Wort und ahnlichem. Wie eine iibertrieben Homogenisierte nach innen ist sie eigentlich unmor-alisch nach aussen, zu ihren Nachbarvolkern, zu anderen Ethnien allgemein. Ein aus-reichendes Beispiel ist der italienische Dichter D'Annunzio. Ivan Cankar hielt D'Annunzio fiir einen ausgezeichneten Artisten, nicht aber fur einen Kiinstler. Es ist eigentlich kein Dichter, wer der Welt die "Poesie des Stehlens" verkiindet, ist kein Kiinstler, wer ein Evangelist seines Namens ist, ist kein Kiinstler, wer "im Namen seines Volkes verkiindet, daB es ein (anderes) Volk bestehlen soil", seine Kunst "verdient die Liebe" nicht, weil sie nicht moralisch ist, weil er das "Stehlen besingt", das ausgeraubte nachbarliche Land. Cankar tat noch einen zweiten Schritt und glich die Moral des Dichters mit der nationalen Moral aus: "Jedes Volk sucht sich seinen Verklinder nach eigenem Bildnis und Wert aus."6 Im Jahre 1916 wiederholte er: D'Annunzio - Artist ja, "aber ein Kiinstler ist er fiir mich nicht", denn "ein Richter, der Geschichte und Ewigkeit macht, ist das Herz"7, nicht aber Artistik. Cankar steht in der Beurteilung der Dichtung des italienischen Dichters nicht alleine; daB "hinter einer groBen Wortgeschicklichkeit vielmals Gehaltlosigkeit und innere Leere steht", betonen auch andere.8 Genauso unmoralisch ist der Roman "Zwolf aus der Steiermark" von Rudolf Hans Bartsch, mit welchem Lojz Kraigher im Roman "Kontrollor Škrobar" (1913) po-lemisiert, unmoralisch, weil er das nordostliche Slowenien fiir ein schon seit jeher deutsches Gebiet halt. Diesem ahnelt der Karntner Erzahler Joseph Friedrich Perkonig, iiber welchen der Literaturgeschichtler Paul Fechter unter anderem folgendes sagt: "Perkonig schrieb den osterreichischen Kriegsroman "Mensch wie Du und ich" ... Das 6 Ivan Cankar, D'Annunzio, SN, 1915, IC, ZD XXIV. 7 Albert Širok, Bei Ivan Cankar, Kres 1921, IC, ZD XXIV. 8 Gero von Wilpeit. Lexikon der Weltlitcratur, Stuttgart, 1963. Osterreichische hat in seiner Mischung von Kraft und Klarheit eine eigene neue Auspragung bekommen ..." In dem Raum zwischen Alpen und Mazedonien hat sich nach dem Jahre 1918 eine zusammenschmelzende Theorie des "dreieinigen" jugoslawischen Volkes geltend gemacht, in dessen Namen Cankar aus den Lescbiichern herausgerissen wurde, Kosta Racin muBte seine Dichtersammlung in Zagreb herausgeben, Miroslav Krlež seine "Balladen von Petrice Kerempuh" in Slowenien, wegen der "Glembajer" hatte er sich wohl in Zagreb keinen Preis verdient. Recht destruktiv ist im literarisch-denkenden Raum von Dobrica Čosič das militante Motiv, daB das serbische Volk im Kampf ge-winnt, im Frieden aber verliert. Verwandt sind auch einige dichterische Aufschreie von Matija Bečkovič, Radovan Karadjid und ahnlichen. Kurzum, die Ausbriiche des irrationalen Nationalisms gebaren "Blut = und Bodenliteratur", welche die Volker trennt. Der Nationalismus kann auch in die Literaturwissenschaft einziehen, wie er sich z.B. in das Buch "Geschichte der deutschen Literatur" von Paul Fechter (Leipzig, 1941) eingeschlichen hat. Das Buch ist auf der These aufgebaut, daB nur jene Literatur moralisch ist, welche eine "Dichtung aus einem Erlebnis des Volkes und seiner Seele" ist, jede andere ist subjektivistisch, relativistisch und unmoralisch. Der Romanschrei-ber Friedrich von Gaggern, geboren in Mokricah, ist moralisch, weil er sich so richtig in das Alldeutsche eingliedert, in eine "Gesamtdeutschheit", "in die groBdeutsche Ge-meinschaft". Lehrreich wiirde es sein nachzusehen, ob sich der narziBtischc Nationalismus auch in der Literaturgeschichte der siidslawischen Volker niederschlug. Man konnte etwa so abschlieBen: Ein Kunstwerk mit nationalen Inhalt ist moralisch, wenn es auf der Idee des freien Menschen und freien Volkes beruht und wenn sich die moralische Bedingung mit der iisthctischen in iibereinstimmender Gcsamtheit deckt. Die Poesie aber, die personliche Freiheit auf eine zu groBe betonte nationale Idee aufbaut, ist nicht moralisch, da sie den Menschen auf Bemachtigungen des Fremden vorbereitet. Die "Poesie des Stehlens", welche der "liigende Mund" ausspricht (Syntagma von I.Cankar) ist nicht kiinstlerisch. Fiir das Kunstwerk mit einem nationalen Inhalt gilt das gleiche moralische MaB, wie auch fiir das Kunstwerk, welches nur iiber die individuelle, elementare menschliche Wirklichkeit spricht. Wahre kiinstlerisch Moral vereinigt die Volker, noch so glanzendes Wortgebilde des nationalistischen Geistes aber vertieft die Gegensatze unter ihnen noch starker. Die Wirklichkcit des Lcbens, die Weltanschauung und die kiiastlcrischc Moral. J.W.v.Goethe bezeichnct die Verhaltnissc zwischen der "Wirklichkeit" und der Moral der Kunst mit etwa den Worten: "Die Wirklichkeit soli Motive geben, dies, was sich ausdriicken soil, der wahre Kern; der Dichter macht aus diesem eine schone wie-derbelebende Schonheit." Und weiter: "Was ich nicht erlebt habe und was mich nicht brannte und mir zu schaffen machte, dies werde ich auch nicht aussagen und singen. Liebeslieder komponierte ich nur, wenn ich geliebt habe." Und noch: "Was ich hatte, was wirklich mein war, war die Fiihigkeit und Neigung zu sehen und zu horen und herauszulesen sowie das Gesehene und Gehorte zu beleben mit einigem Geiste und wiederzugeben mit Geschicklichkeit."9 Die Wirklichkeit gibt also Motive, zu beleben 9 Obersetzung aus der Abhandlung: Aleš Ušeničnik, Christentuin und Kunst; Čas 1929/1930. - Eckermann, Gesprache mit Goethe. I - III (Reclam). I 47, III 223, III 260. und zu singen, steht iiber dem, was du siehst, was dich brennt - das ist eine moral-isches Vorschrift, ist moralisches Gesetz der Handlung des Kiinstlers. Das er sich beim Schreiben nach seinen moralischen Grundsatzen und den Grundsatzen des Gesehenen, Gehortcn richtete, sagte auch Nikolai Wassiljewitsch Gogol mit folgenden Worten: "Des Schriftstellers Pflicht ist es nicht nur, daB er fiirs Vergniigen den Verstand ge-braucht, vielmehr auch die Seele."10 Und wie beurteilte Ivan Cankar das Verhaltnis zwischen der Moral der Kunst und der Realitat des Lebens? Im Jahre 1899 beschrieb er die Betrachtung der Natur durch seine Schriftstelleraugen in etwa so: "Meine Augen sind kein totes Gerat; meine Augen sind ein gehorsames Organ meiner Seele, - meiner Seele und ihrer Schonheit, ihres Mitfiihlens, ihrer Liebe und ihrer Feindschaft ..." (Epilog zu Vignette). Das Verhaltnis zwischen der Moral der Kunst und der Realitat des Daseins ist hier genau definiert. In seinem zentralen kiin-stlerischen Manifest, in den "WeiBen Chrysanthemcn" (1910) stellte er die subjektive Wahrheit oder die Wahrheit, welche aus dem Verhaltnis sehen/horen/ordnen heraus-geht, aus dem Verhaltnis zwischen Augen und Seele, noch entschiedener in den Mit-telpunkt jedes kiinstlerischen Aktes: "Tote die Wahrheit, die in dir ist - du totest sie nicht! ... die Kunst der Vortauschung geht mich nichts an! ... Stolz ist in meinem Hcrzen: trotz aller Doktrinen, Mahnungen, Vorwiirfe, trotz Belachelung, Beschimp-fung und Verleumdung hat mein ganzes Leben und Enden der hochsten Idee gedient: der Wahrheit! Was ich mit den Augen gesehen habe, mit dem Herzen und Verstand, habe ich niemals verleugnet; sowie ich nicht die goldenen Sterne des Himmels ableugnen wiirde. Die Wahrheit ist aber ein GefaB alles anderen: der Schonheit, der Freiheit, des ewigen Lebens. Solange ich der Wahrheit treu bin, bin mir selber treu; solange ich in ihrem Namen arbeite, wird meine Miihe Friichte tragen, wird nicht dah-inschwinden vom Friihling bis zum Herbst..." Das gleiche Verstehen des Vcrhaltnisses zwischen der Wahrheit und der Moral der Kunst beziehungsweise, zwischen der subjektiven Wahrheit und irgendeinem sys-tematischen moralischen Muster, welches das Kunstwerk nicht vertragt, ist auch im "Intermezzo" (1915) im Epos "Jeral" von Oton Župančič zu sehen. Der Dichter be-hauptet, daB den Schopfcr-Kiinstler nicht das "vaterliche Gewissen" beriihren soli, da er "gefiihllos ruhig" den "wcltlichen Tanz der Miicken" ansehcn muB und sich dabei nicht zu fragen hat "warum und wol'iir und bis wann all dies"; Wer schopferisch ist, mein Lieber, der spricht aus einem Sturm, mit Absicht, Moral und Gliick beschaftigt er sich nicht, er reiBt und bricht und schneidet und knetet den Stoff - was dann, wenn es ihm einmal zwischen den Fingem aufstohnt! Kiinstler behaupten also, daB iiber den wirklichen kiinstlerischen Akt die erlebte, mit Gefiihl und Verstand geordnete, mit Geist und Geschicklichkeit geformte person-liche Wahrheit iiber die Realitat des Lebens bestimmt. Aus diesem folgt, daB sie jede absolute Wahrheit ablehnen, jede systematische Anschauung auf das Leben und die Welt, da keiner die vollkommene Wahrheit iiber sie sichert. Und es folgt noch, daB die Kunst keinen moralischen Kodex auBerhalb des Kiinstlers hat beziehungsweise ihr Kodex ist der Kiinstler selbst. Die Moral der Kunst oder die Moral des Kunstwerks 10 Alexander Solschenizyn kehrt nach RuBland zuriiclc. Delo, 6. November 1993. - tJbersetzung aus der Zeitung Die Zeit. stammt also aus der Moral des eigentlichen Kiinstlers, nur sein moralischer KompaB gestaltet die kiinstlerische, asthetische Wahrheit sowie die moralische Wirkung dieser Wahrheit. Eine scharfe Gegensatzlichkeit zwischen I. Cankar und O. Župančič sowie zwischen den Einspriichen, die ihre Standpunkte betrafen, daB die Kunst ihre eigene Moral hat, war in den zwanzigeren Jahren der Ausgangspunkt fiir eine Auseinander-setzung iiber Moral und Kunst sowie iiber Weltanschauung und Kunst, wie sie zwischen Freidenkern und Katholiken entbrannte. Die Ersten behaupteten, daB das Syntagma der Moral der Kunst schon wegen des eigentlichen Bestehens der Kunst entschuldigt wird, die Anderen dagegen, daB sie moralisch nicht frei ist und das auch ihre Moral nur eine Ableitung der "hoheren" und "ewigen Moral" ist. Der Schriftsteller Josip Vidmar fragte einmal, "kennt irgendeiner wirklich die Wahrheit" und daB das wirkliche Kennenlernen der Wahrheit durch solche oder andere Weltanschauungen bedingt sei, vor allem aber fragte er, ob das Kunstwerk eine "kiinstlerische Modifikation der Weltanschauung" sei oder aber, ob sich die kiinstlerische "Geistigkeit storungsfrei nach ihren Gesetzen auslebe" und dann das Kunstwerk nur eine "Modifikation der tatsachlichen Menschheit" sei, nur mit ihr in kausaler Ver-bindung, aber iiberhaupt nicht in einer kausalen Verbindung mit einer systematischen Anschauung, noch weniger mit einer systematischen Moral. Vidmar akzentuierte auch, daB die menschliche Erkennung zwar beschriinkt sei, unvollkommen, jedoch sei sie nur eine Lossprechung der freien, wenn auch unvollkommenen personlichen Wahrheit iiber die Realitat des Lebens des hochsten moralischen Grundsatzes der Kunst.11 "Die Kunst sieht die Wahrheit in dem, was sie ist, Moral in jenem, was sie nach ihrem Urteil sein miiBte. Da aber die Wahrheit der Kunst die Wahrheit des Lebens ist, gewann die Kunst und wird weiter gewinnen, die diese schone Welt in alien ihren Tonungen des Lichtes und der Dunkelheit, die gottliche und die damonische Menschheit darstellt."12 Vidmar wies die geordnete Systeme des Denkens ganz zuriick, weil jedes die Kunstfreiheit beschrankt, jedes schiebt sich zwischen den Schopfer und das Leben, wie ihn dieser sieht, fiihlt, hort und ordnet, driingt sich zwischen die apriorische Ord-nung des Kiinstlers und zwischen die Wirklichkeit, die ihm Motive verleiht: das Chris-tentum ist im kausalem Sinn nicht vereinbar mit der Kunst, es muB nur neben der Kunst existieren, nicht aber als sein schopferisches Element. Was in den Arbeiten von Lew Nokolajewitsch Tolstoi und von Fjodor Michailowitsch Dostojewski mangelhaft ist, stammt aus "ihrer moralischen und ideologischen Uberbelastung", bei alledem ist aber ihre Kunst nicht christlich, "vielmehr Kunst trotz Christentum".13 Vidmars Fest-stellung deutet auch daraufhin, daB Ivan Pregelj als ein christlicher Kiinstler "kiinstlerisch verfehlt, weil moraUsch begrenzt ist, moralisch okkupiert und unfrei ... dogmatisch und moralisch gebunden".14 Zu diesem ist als Beweis zumindest noch der moralische und anschauungsartige Zerfall seines Protestanten, des "gottliebenden Jernej" hinzuzufiigen, da der Zerfall wegen der schriftstellerischen Oberzeugung zus-tande kommt, daB die slowenische katholische Seele das "Fremde" also die nich-katholische Seele nicht vertragen kann. Vidmars Beurteilung iiber die Pregeljsche Verfehlung forderte unmittelbar den Philosophie-Theologen Aleš Ušeničnik, zum Teil aber auch Anton Vodnik und Božo 11 Josip Vidmar, Kunst und Anschauung, Ljubljanski zvon, 1928. 12 Josip Vidmar, Kapitel ilbcr die Moral, Ljubljanski zvon, 1929 13 WieuntcrPunkt(ll). 14 Josip Vidmar, Ivan Pregelj, Štefan Golia und die Seinen. Ljubljanski zvon 1929. Vodušek heraus. Sie versuchten zu beweisen, daB die Kunst nur relativ frei sei und mit dem Christentum schon irgendwie verbunden, sogar mehr, daB ihr das Christentum als fundamental Grundlage dienen konne, weil es die "absolute Wahrheit" sei. Fiir Josip Vidmar erlaubte sich Ušeničnik auch eine zu leichte grundsatzliche Losung; daB er namlich als Freidenker schon von vornherein die christliche Rehgion und die Moral ablehne. Ušeničnik hat moglicherweise recht, wenn er behauptet "daB wir noch nicht liber eine Endphilosphie der Kunst verfiigen"15, zugleich aber zahlt er dennoch einige Teile der Kunst zum Endgiiltigen, zu ihrem Bestand. Ein solcher Bestand ist z.B. auch die kiinstlerische Inspiration, die eigentlich natiirhch ist, jedoch kommt sie "von oben", "von Gott". Solcherart ist auch die kiinstlerische Freiheit, die nicht wirklich in dem Sinn besteht, "daB man der Kunst keine Grenzen setzen soil, sondem in jenem Sinn, daB der Kiinstler in diesen Grenzen ohne jegliche Hindernisse nach den GesetzmaBig-keiten der Schonheit schopferisch tatig ist." DaB Ušeničnik mit dem Wort "Grenze" dabei vor allem an ethische Gebote dachte, sagte er erst in der Fortfiihrung. Der Kiinstler kann sich zwar freiheitlich "nach dem allgemeinmenschhch natiirlichen Glaubensbekenntnis und der Ethik richten, der christliche Kiinstler jedoch nach dem Christentum als dem hochstem Ausdruck der Ethik und der Rehgion." Der Kiinstler, der sich namlich ausschlieBlich nur nach dem allgemeinmenschhch natiirlichen Glaubensbekenntnis und der Ethik richtet - Ušeničnik auBert sich hier zu undeut-hch, was das sein soli, natiirliches Glaubensbekenntnis und Ethik - handelt begrenzt, weil sie vollstandig im Irrtum sind, das "Christentum hat (aber) die Ethik der zufalli-gen Ingredienzien und Tauschungen gereinigt", weil das "Christentum die Wahrheit ist und zwar in seiner Essenz eine absolute Wahrheit." Und da zugleich das "herrhche vollkommene des Lebens das Apriori des menschhchen Abbildes ist", kann der christliche Kiinstler "aus den tiefsten Tiefen des Lebens schopfen. Ja, er muB nur das wirk-liche aus der Vernunft durch logisches SchlieBen gewonnene Bild, das gottlich ist, von den ungotthchen Ingredienzien und Falschungen" unterscheiden konnen."16 Und noch: "Dem christhchen Kiinstler sind die ethischen Gebote und Verbote MuBvorschriften, daB er auch ethisch wirkhch ist, daB er das Gute als Gutes zeigt, das Bose als Boses ... Die Ethik schlieBt keinen Stoff aus, verbietet nur die Liige, daB namlich nicht das Schone als hiiBlich dargestellt wird."17 Das Christentum als reine/gesauberte Ethik und ihr hochster Ausdruck, das Christentum als die absolute Wahrheit, die iiber dem Menschen mit seinen Geboten und Verboten wacht, gibt dem Kiinstler noch eine Prioritat und iiberhaupt die Meister-schaft in der Kunst: es versichert ihm die hochstmogliche Freiheit, ja eben "geisthche Freiheit, wie sie das Christentum gibt, schiitzt sogar die kiinstlerische Freiheit, da sie den Kiinstler iiber die Sinnlichkeit heraushebt und somit auch schiitzt, daB er nicht sinnliche Berauschtheit mit Schonheit verwechselt."18 Und wenn das Christentum mit seiner absoluten Freiheit ihn vor den Gefahren der Verwechslung des Sinnlichen und des Schonen schiitzt sowie ihm auch die vollkommene Fiille des Lebens gibt, verbiirgt es ihm auch zugleich noch das Einleben in das Leben, die tiefsten Einsichten in die Fiille des Lebens, denn "Leichter ist das Einleben aus der Fiille des Lebens, welches den wirklichen christhchen Kiinstler erfiillt, als aus triibem Leben, das im Kiinstler ohne Moral vorhanden ist."19 15 Aleš Ušeničnik, Christentum und Kunst, Čas 1929/1930. 16 Wie untcrPunkt(15). 17 Aleš Ušeničnik, Ober die Freiheit in der Kunst, Čas 1928/1929. 18 Aleš Ušeničnik, Uber die Freiheit in der Kunst, Čas 1928/1929. 19 Aleš Ušeničnik, Obcr die Freiheit in der Kunst, Čas 1928/1929. Das Syntagma von Ušeničnik "Kiinstler ohne Moral" kann fiir den Kiinstlermen-schen, fiir seine Biographic auBerhalb der Kunst gelten; doch Ušeničnik iibertragt sie auch auf das kiinstlerische Erzeugnis "Kiinstler ohne Moral" und den Widerspruch zwischen dem "wirkhch christhchen Kiinstler" und zwischen dem "Kiinstler ohne Moral" radikalisiert er so: "Leichter ist die Welt aus den Hohen zu iiberblicken als aus den Niederungen! Deshalb behauptet F.Maritain, daB vollkommene Romane iiber das Leben nur ein Mystiker schreiben konne, da nur er bis zu den Tiefen den Menschen, die Welt und das Leben verstehen vermoge", (Art et Scolastique, 331). Er erganzt noch, daB F.M.Dostojewski zwar mit tiefer Erkenntnis und Einfiihlsamkeit die " Wut " aufgezeichnet habe, jedoch wiirde ein Kiinstler, der ein mystischer Seher sei, noch tiefer in die dunklen Abgriinde der menschlichen Seelcn bhcken."20 Das Syntagma "der tiefen Abgriinde der menschlichen Seele" ist aber sehr gefahrhch fiir die Ušeničnikschc These, daB die Sittlichkeit ein "natiirlicher Zustand der Seele" sei. Wenn also die Sittlichkeit namlich ein natiirlicher Zustand ist, dann sind ihre charakteristischen Attribute auch die Abgriinde der Seele. Das aber bedeutet, daB die Unstimmigkeiten, die Disharmonien in der Seele nicht nur "etwas sehr furcht-bares, unmoralisches, boses" verursachen, sondera Verkiindigungen auch aus ihrer aprioren, abgriindigen dunklen Substanz zu Tage fordem. Und noch ein Paradox aus der Sammlung von Ušeničnik: wenn die Sittlichkeit ein natiirlicher Zustand der Seele ist, dann macht sie kein gedankliches System vollkommener, denn die natiirliche Sittlichkeit kann rein gar nichts von Ingredienzien und Tauschungen reinigen, wie auch kein System den Umfang der Ingredienzien und Tauschungen vergroBeren kann. Noch ungeordneter wie dieser, besteht aber ein Gedankc von Ušeničnik, daB "Kiinstler ohne Moral" bestehen, die aus "triiben Leben" schopfen, ihrer und fremder. Hier gleicht sich Ušeničnik den "sanktflorianischen" (kleingeistig - kleinbiirgerhchen) Beurteilungsprinzipien des Kiinstlers an, daB namlich auch der Peter von I. Cankar "ein Kiinstler ohne Moral" sei, vor allem aber, das seine Kunst unmoralisch sei, weil sie sanktflorianische "triibe Leben" offenlege. Zuletzt faBt Ušeničnik scharf seinen axiomatischen Gedanken zusammen, namlich: "Der Mcnsch ist nicht absolut autonom, deshalb kann auch seine Freiheit nicht absolut sein. Dem Menschenkiinstler gebietet mit asthetischem Gesetz die Kunst, dem Kiinstlermenschen aber mit ethischem Gesetz Gott." Die auferlegte Moral bezieht sich nach Ušeničnik vor allem auf die kiinstlerische Behandlung des Sinnlichcn. Und genau das Betonen der Moral in Verbindung mit dem Sinnlichen ist der Grund, daB der christliche Kiinstler das Grauen durchlebt, die Angst, den Schaudcr, weil das Sinnliche von der Natur her kurz und wenig ist und er wird es anerkennen oder sich ihm entgegenstellen oder aber sich der kiinstlerischen Auseinandersetzung entsagen, wie es z.B. der franzosische Dramatiker Jean Baptist Racin tat oder aber Nikolai Wassiljewitsch Gogol, welcher in seinem religiosen Sch-wung den Grundsatz der untcndenzioscn Kunst zuriickwies, aber wegen seiner grundsatzlichcn kiinstlerischen Natur verzweifelte und den zweiten Teil der "Toten Seelen" verbrannte. Auch der christliche Dichter in Slowenicn ist sich manchmal der Gefahrhchkeit der Anschauung bewuBt und wie Jože Snoj erkennt er an, daB seine Religiosity in seinen Dichtungen manchmal zu stark "vom Aufstiindischen gegen die ideologischc Gewalt unterstiitzt wird und in Gefahr, daB auf Momente sogar eine Hal-tung aufgcbaut wird."21 20 Wie unter Punlct (17). 21 Jože Snoj, Aussprache der Dichter. Slovenec Nr. 245,31. Olctobcr 1993. Da er die Angst nicht loswurde Argernis zu erregen, litt Franfois Maurice sehr bei seinen Romanen und fragte sich dabei: "Wie soil ein treugesinnter Romanschrei-ber diesem Dilemma cntrinnen: soli er den Gegenstand seiner Beobachtungen verandern, das Leben falschen oder sich getrauen, Argernis und Beunruhigung in den zu Seelen verbreiten."22 Ihn bedriickte der Gegensatz zwischen moralischem Dogma und zwischen "dem Boden des sinnlichen Wohlbehagens" oder "den Diimonen, ohne die es nicht moglich ist ein Kunstwerk zu vollbringen", wie Andrč Gide es sagte, er irrte zwischen Dogma und innerem Befehl herum, daB er als Kiinstler nicht "das Leben verfalschen", den Ingredienzien und Tauschungen nicht ausweichen diirfe oder "den dunklen Abgriinden der Seele", wie es der neuerungssiichtige Ušeničnik sagen wtirde. Jaques Maritain schlug vergebens die erlosende Formel vor, welche Ušeničnik immer wiederholte, daB man sich namlich der moralischen Verzweiflung derart entziehen konne, indem man "die Quelle reinige", die dunklen Abgriinde reinige und so niemandem verargere. Stanko Leben meinte deshalb, daB die katholischen Romanschreiber bei all ihrer moralischen Vorsicht eine verdeckte Zweiheit begleite: auf der einen Seite das verzauberte Schildern und auf der anderen Seite etwas unerfreuliches, weil es nicht moglich sei zu sehen, "ob ihr Katholizismus eine Doktrin des Lebens ist oder aber nur eine einfache Stimmung."23 Ich fiige hinzu, daB der Standpunkt von Ušeničnik iiber die Wahrheit und die ewige Moral, iiber die nur das Christentum souveran beurteilen kann, mit der Enzyk-lika "Veritas splender" ubereinstimmt (1993), in der man lesen kann, daB es keine Freiheit ohne die Wahrheit gibt, iiber die Wahrheit kann aber nur die kirchliche Doktrin ein Urteil fallen. Wahrheit ist z.B., daB es nur "eine einzige Moral seit den Anbe-ginn der Welt gibt" und sie auch nicht von der Tendenz in der heutigen Theologie er-schiittert werden kann, die "die objektiven Normen der ethischen Gesinnung, giiltig fiir Menschen aller Zeiten, bestreitet" und "den unzerstorbaren Absolutismus der moralischen Werte" relativisiert beziehungsweise, den ethischen Relativismus aber auch den Subjektivismus anerkennt.24 Zu diesem ist hinzuzufiigen, daB so wie eine "einzige Moral" fiir das Christentum auch fiir die Kunst eine einzige Moral gilt, dies ist die kiinstlerische Moral oder die Loyalitat des Kiinstlers, die Wirklichkeit zu erleben und zu erleiden. DaB die kiinstlerische Moral nur die subjektive Wahrheit der Lebenswirklichkeit versichert - dariiber haben Cankar, Župančič, Vidmar und andere iiberzeugende Mit-sprecher in der slowenischen und der internationalen schriftstellerischen Gesellschaft, Kiinstler, die nur die Wirklichkeit des Lebens, wie sie sie erlebt und entdeckt haben, anerkannten und sich beim kiinstlerischen Akt iiber sie erhoben, sich nur nach dem eigenen "freien menschlichen Geist" richteten und sich alien auBerpersonlichen moralischen Vordrucken entgegensetzten. Prežihov Voranc dachte im Jahre 1945 z.B. etwa so iiber die moralische Essenz der Kunst: "Das Wesentliche in der Kunst liegt darin, daB sie sich nicht von der volk-stiimlichen Wirklichkeit entfernt, da etwas Ubematiirliches in der wirklichen Kunst nicht existiert." Und zusatzhch: "Dem tatsachlichen Kiinstler, der die Wahrheit schreibt, ist dieses (namlich "Amerika" in der Kunst zu suchen) nicht vonnoten." Die Ziigel irgendwelcher Moralitat, der nationalen, staathchen, kirchlichen ... wies er aber 22 Franfois Mauriac, Dicu ct Mammon, 164. Siche Stanko Lcbcn, Franjois Mauriac odcr die persSnlichen Probleme des katholischen Romanschreibers, Ljubljanski zvon 1929. 23 Wic unter Punlct (22). 24 Stane Ivane, Das geistliche Testament von Johannes Paul II., Dclo Nr. 232,6. Oktober 1993. mit folgenden Worten zuriick: "Die Kulturarbeiter lassen sich vcrstaatlichen, die Kultur und die Kunst aber lassen sich nicht verstaathchen", dabei ist ihm der Begriff "verstaathchen" le pars pro toto. Kurzum, die unbegrenzte Anerkennung der Lebenswirldichkeit zahlte er zu dem hochsten kiinstlerischen morahschen Gesetz, die verschiedenen ideologischen, staatlichen und iibematiirlichen MaBe und Haltungen aber zu den kiinstlerisch gefahrlichen "morahschen" Fremdkorpern.25 Und wie bcurteilen Boris Pahor, Ciril Kosmač und Miško Kraqjcc die Moral der Kunst? Europa verfiigt heute schon iiber eine ganze Bibliothek von erzahlender Prosa, die iiber geistige und korperliche Gewalt, wie sie von den nationalen, gesellschaftli-chen und konfessionellen Ideologien ausgeiibt wird, handelt. Die Autoren sind unmit-telbare "Zeugen" fast jeder erzahlt von Bedrohungen seiner Identitat. Die erzahler-ische Prosa ist ein Ausdruck des moralischen Imperativs, sie hat in dem imaginaren epischen Raum des Kunstwerkes jenen Teil zu schmelzen und zu erhalten, jenen Punkt der "personlichen" Geschichte, der ihr nicht erlaubt ist in die Vergesscnheit zu driicken, sondern ihn kiinstlerisch zu verkorpern und ihm mit der kiinstlerischen Katharsis die selbstandige urspriingliche Personlichkeit wiederzugeben. Ein solches ist auch z.B. der Roman "Nekropola" (1967) von Boris Pahor. Pahor ist sehr selbstkritisch, er zweifelt namlich, daB er die Wirklichkeit der Lager wenigstens in etwa mit seiner literarischen Gedachtniskraft erneuert hat, sie zu-mindest in den imaginaren Raum des Kunstwerkes eingesiedelt, obgleich gerade diese Belebung sein grundlegender moralischer Imperativ war. Er sagte, daB fiir eine kaum noch authentische Ubertragung der Erinnerungen in den Roman nicht nur die zeitliche Abriickung zweier Jahrzehnte schuldig sei, sondern die Tatsache, daB er ihn schon stark "angesteckt vom Leben" geschrieben habe und die neue Lebensenergie es ihm verhindcrt habe "das giiltige Wort iiber den toten Freund zu finden". Als erstpersonli-cher Erzahler fiihle er sich geradezu als "ein Halbherziger, wenn ich weit wcg von dort bin, aber in mir ist die entscheidende ehemalige dortige Stimmung." Kurzum, Pahor erkennt an, daB er nicht mehr das authentische Wort fiir "erniedrigende Knochen und erniedrigende Asche" widerrufen kann. liber die Tiefe der Wahrheit in seiner Erzahlung ist er entzweit als Mensch und als Kiinstler. Zwar stiirzt er als Mensch das Heraklitsche Axiom um und steigt noch einmal in den schwarzcn FluB, der sie weg-getragen hat, als Kiinstler muB er aber wenigstens ungefahr beschreiben, wie er ihn und andere in Wirklichkeit wegtrug. Pahors Zweifel iiber die Ubereinstimmung des Roman mit der Wirklichkeit des Lebens driickt die Besinnung iiber die Verantwortli-chkeit zu dem Erlebten, iiber ausgelittene und erkannte Wirklichkeit aus und iiber ihre asthetische Nichterneuerung, dieser Zweifel bedingt das Asthetische mit der Moral und das Moralische mit dem asthetischen MaBe. So mancher fragte sich, ob die damonische Entmenschlichung, wie sie geschah und noch immer in den modemen "Weinbergen des Todes" (B. Pahor) des zwanzig-sten Jahrhunderts vor sich geht, noch fiir einen Roman geeignet sei. Vor der Frage der Angemessenheit und Unangemessenhcit der Gestaltung eines ahnliches Themas fand sich auch Ciril Kosmač in dem Roman "die Ballade von der Trompetc und der Wolke" (1956). Der Erzahler Majcen bcschrcibt die Geschichte des Temnikars, spricht iiber 25 Prežihov Voranc, Zeitgenossische Aufgabcn der schon geistigen Literatur. Bericht iiher die Vereins-versarnrrilung der slowcnischen Schriftsteller, 8. Oktober 1945, Gesammlte Werke X. Ljubljana. seine Entscheidung, den Zutritt der WeiBgardisten zu der Berghohle, in weleher die verwundeten Partisanen Unterschlupf fanden, zu verhindern. Seine eingebildete und schon fast phantastische Abbildung iiber ihn unterbaut er, probiert er aus und er ver-gleieht die damalige Gesinnung von Temnikar, indem er mit einigen seiner Bekannten spricht, er richtet sich nach dem asthetischen Grundsatz "per realia ad realiora". Seine Erzahlung iiber die heldenhafte und tragische Haltung Temnikars, seine anschauliche Gestaltung der Stimme des Gewissens und der Verpflichtungen sowie die Stimme des Todes, wie sie sich dramatisch in dem Gewissen des Helden drangeln, schneidet sich letztlich in das Erleben der Mitsprecher so ein, daB einer dem balladenhaften unter-liegt und in den Freitod geht. Er unterliegt aber deshalb, weil gerade er den Unterschlupf voller Verwundeter, die vom Gegncr getotet werden sollen, verraten hat, jedo-ch fing Temnikar sie ab und stiirzte mit ihnen zusammen in den Abgrund. Der Roman versucht also die Vergesslichkeit von Temnikar zu retten, zugleich aber verursacht er des Verraters Selbstmord. Auch der andere Mitsprecher Majcens er-lebt Temnikars Abbild und das ganze Gefiige als etwas "Grauenhaftes", und fiigt noch an, der Kiinstler hatte es besser gemieden. Die Bemerkung Majcens erregt und man fragt sich, ob der Mensch wirklich im Namen des Menschen und fiir den Menschen auch das Entsetzliche tut, das von der Kunst nicht beriihrt werden solite: "Soil denn das Entsetzliche, was der Mensch im Namen des Menschen und auch wirklich an dem Menschen tut, nicht mehr erzahlt werden diirfen? Venichtet der Mensch und die Menschheit wirklich Dinge, die nicht mehr fiir die Schreibfeder angemessen sind? Hat sich auch Temnikar iiber diese Grenze begeben?" Kurzum, ist die existentielle Tragodie, in die der Mensch eingeklemmt und gefangcn ist, wirkhch so damonisch, daB die Kunst vor ihr sein fundamentales Axiom abraumen soil - da namlich die asthetische Projek-tion Wirklichkeit ist, soil sie also ihre starkste Waffe niederlegen - Shakespeares Spiegel? Ciril Kosmač legte ihn nicht nieder. Auch Miško Kranjec denkt iiber das Verhaltnis zwischen der Moral der Kunst und der Wirklichkeit des Lebens nach. Im Roman "Larchen iiber dem Tal" (1957) stellt er die kiinstlerische Moral und die der sogcnannten "kleinen Leute", "der iiber-fliissigen Menschen" gegcniiber, welche angeblich der Politik, der Kirche und auch der Kunst nicht bediirfen. Das Verhalten dieser Institutionen zum Menschen wiegt an dem Motiv, wie die uneheliche Arbeiterin-Mutter aus Verzweiflung ihr Kleines er-stickt, die Freundinnen aber helfen ihr, es in einem vorstadtischen Garten zu begraben. Der Erzahler fragt sich, wie es moglich ist, daB "die Romantik des Herzens" noch heutzutage ein Argernis ist und nicht einmal versichert, weder moralisch noch sozial. Und setzt fort: Politik und Kirche haben keinen "Schliissel" fiir das Leben aber auch "die Kunst kann es nicht bis in die letzten Tiefen" erreichen, da es ja "nur sehr wenig Farben hat, mit welchen es die ganze Wirklichkeit nicht ausfiihren kann". Trotzdem hat aber der Kiinstler noch am wenigstens das Recht vor der Wirklichkeit des Lebens davonzulaufen und nur die Trugbilder, die "Landschafiten, die nicht bestehen, den Menschen, den es nicht gibt und iiberhaupt die Welt, die nicht cxistiert zu malen und zu beschreiben", hat kein Recht das Ausgedachte zu beschreiben, wie "die hohere Vision des Menschen" und Vision "iiber den wirklichen, neuen wundervollen Menschen ist". Der Kiinstler kann und darf sich nicht vormachen, daB der Mensch etwas anderes ist, als das Wesen, das heute und hier lebt. Die Moral der Kunst bindet ihn, "ins Gesi-cht und ins Herz genau dieses Menschen zu blicken und ihm zu sagcn, wie er ist", er darf seiner nicht iiberdriissig werden und sich an seiner statt, liebcr "die weiBen Wolken am Himmel und die verlogene Traurigkeit ins Herz" rufen. Der Maler miiBte "Martha mit dem Kind malen, das es nicht gibt, nicht aber Minka - in den Kirsch-bliiten", vielmehr dort in der Stadt, auf den Gartenbeeten, bei der Hohle, von woher das Korperchen leuchtet...". Politik und Kirche sollen nur die Humanitat spielen, die Humanitat und die Moral der Kunst ist aber nur eine einzige, nicht unveranderlich und uneingebildet: ist ein subjektives-objektives Abbild des wirklichen Lebens. Zahlreiche slowenische Schriftsteller sind sich folglich dariiber einig, daB die Wirklichkeit des Lebens der einzige moralische Schiedsrichter des Kunsterzeugnisses ist. Jeder hat seinen eigenen personlichen Anteil am Schiedsgericht, hat seine eigene moralische Anschauung auf das Dasein und die Welt, ist moralisch leidenschafthch, wenn er sie gestaltet und beschreibt, er ist aber niemals morahsch iiberschwenglich im Sinn irgendeines verschliisselten Formulars. Und was sagen noch einige auslandische Schriftsteller iiber die Moral der Kunst? Henry James versichert, daB "das Unumgangliche (der Kiinstler) der morahschen Kraft gerade in dem ist, daB sie alles bis zum Ende untersuchen"26 und, daB sie solche Untersuchungen nicht fiirchten. Franfois Mauriac z.B. wollte und versuchte alles zu untersuchen und nichts zu verfalschen. Es scheint aber, daB er doch dem Grundsatz "bis zum Ende" auswich. Der Philosoph und Schriftsteller Jean Paul Sartre nahm ihm namlich iibel, daB er sich fiir einen Bevollmachtigten des Denksystems hielt und sich trotz des Wissens, daB er "bis zum Ende" gehen miisse, zu verantworthch gegeniiber dem System und zu wenig verantworthch gegeniiber sich selber verhielt. Deshalb schrieb Sartre sehr hart: "Herr Mauriac ist kein Schriftsteller. Warum? Warum er-reichte dieser ernste und achtsame Schriftsteller nicht sein Ziel? Mir scheint es, wegen der Siinde des Hochmuts. Wie die meisten unserer Schriftsteller, versuchte auch er die Tatsache zu vemachlassigen, daB die Relativitatstheorie vollkommen auf die Welt der Romane iibertragbar ist, daB in einem wirklichen Roman keinen Platz fiir einen bevollmachtigten Beobachter ist, so wie es ihn auch in der Welt von Einstein nicht gibt, und daB weder in dem System der Romane - noch im Physischen - ein Experiment existiert, welches zu registrieren ermoglicht, ob sich das System bewegt oder ob es ruht. Herr Mauriac stellte sich auf den ersten Platz. Er suchte sich das gottlich All-wissende und -machtige aus. Jedoch, der Mensch schreibt einen Roman deshalb, daB ihn die Menschen lesen. Vom Standpunkt der Herrgottes, der alles sieht, dringt Unbe-grenztheit in jedes Scheinbare ein; es gibt keinen Roman, keine Kunst, weil die Kunst iiberhaupt ohne das Scheinbare nicht lebendig sein kann, ohne Erscheinung. Der Herr-gott ist kein Kiinstler, Herr Mauriac ist es aber noch weniger."27 Der englische Schriftsteller David Herbert Lawrence lehnt jedes erzahlende Ver-fahren ab, welches das epische personliche moralische Formblatt auferlegt. Ein sol-ches Formblatt stort ihn bei Tolstoi, Dostojewski und Turgenjev und sollten ihre Per-soncn deshalb auch noch so auBerordcntliche Eigenschaftcn bcsitzcn, wirkt auf sic das aufgetragene moralische Formblatt "lebensfrcmd, widrig und veraltet".28 Einen Roman ohne moralische Voreingenommcnheiten fordert auch der amerikanische Schriftsteller John Dos Passos, weil "die beobachtende Objektivitat reine Parzipationen erfordert. Wenn er am Schreibtisch sitzt, muB der Men-sch/Kiinstler mit seinen Vorurteilen abrechnen."29 26 Henry James, Die Kunst des Romans, Roman, S. 52, Bclgrad 1975. 27 J.P. Sartre, Vcrsuchung der Verpflichtung, Roman, S. 371, Belgrad 1975. 28 D.H. Lawrence, Moralitat und Roman, Roman, S. 190, Belgrad 1975. 29 John Dos Passos, Wie entsteht ein Schreiber, Roman, S. 266, Belgrad 1975. Und wie steht der deutsche Existentialist Hans Eric Nossack zu dem vorange-henden "moralischen Formblatt"? Nach ihm solite der Schriftsteller "ein geistiger Freiheitskampfer" sein, welcher sich allem systematischen, dogmatischen ent-gegensetzt, wenn man ihn auch dabei als einen asozialen, anarchistischen oder sogar als einen Nihilisten abstempelt. Er wollte deshalb ein geistiger Freiheitskampfer sein, weil man den Menschen aus dem Menschen gerade mit Ideologien, Institutionen, mit gedanklichen Systemen, vertreibt.30 Und noch derEnglander Georg Orwell "Wenn ich anfange ein Buch zu schreiben, sag ich nicht, 'ich werde ein Kunstwerk schreiben'. Ich schreibe es namlich deshalb, weil eine Unwahrheit oder Liige besteht, die ich entschleiern muB; es besteht ein Phanomen, auf das ich unbedingt aufmerksam ma-chen muB und meine erste wirkliche Sorge ist, die Auseinandersetzungen herauszufor-dem ... meine Ziele im Ganzen sind also von hoher Gesinnung."31 Uber das unausweichliche gleichzeitige Spiel des asthetischen und moralischen im Kunstwerk spricht auch Gyorgy Lukšcs in der "Theorie des Romans" (1916). Dieser Philosoph sagt, daB die schriftstellerische Beengtheit vor allem aus der Tatsache stamme, daB sie ihren Helden mit Ironie iiberwuchern miisse, damit irgendeine wesen-tliche, bedeutungsvolle moralische Realitat erwiichse, z.B., daB alljegliche Suche vergeblich, jede Hoffnung (Don Quichote) umsonst sei. Der erziihlerische Blick auf die moralische Realitat wird zur Antriebskraft des Romans, der Blick allein ist aber nicht thematisiert, sondem bestatigt sich nur als eine abstrakte, romanschreiberische moralische Realitat. Wenn aber der schriftstellerische moralische Blick von seiner abstrakten Position hinuntersteigt und sich als ein denkendes Formblatt in die Erzahlung einmischt, wenn dieses Formblatt die Reise der epischen Person "terrorisiert", dann ist der Roman as-thetisch ohne Ausdruck und stellt kein Kunstwerk dar. Die Bedingung fiir das vo-llkommene ZusammenflieBen des Asthetischen und des Moralischen ist, daB sich der Erzahler nichteinmal um eine Haaresbreite von jener, auf alle Falle "subjektiven" Wirklichkeit entfemt, auf welcher das epische Subjekt lebt und fallt, reist und seine Reise beendet. Darum macht also erst das vollkommene, unstorbare ZusammenflieBen der beiden kiinstlerischen Bestandteile das moralische Formblatt, welches sonst die epische Person vernichten wiirde unmoglich und scheidet es aus.32 Aus den asthetischen Uberlegungen von Lukacs iiber die immanente kiinstlerische Moral folgt wieder ein logischer BeschluB, namlich daB das moralische Problem des Romans ebenso und zugleich auch sein asthetisches Problem ist, beziehungsweise, daB der Roman erst dann ein Kunstwerk darstellt, wenn sich das Asthetische und das Moralische in ihm restlos iiberdecken. 30 Hans Eric Nossack, Mcnsch in der heutigen Literatur, Prav tam, S. 305. 31 Georg Orwell, Warum schreibe ich. Prav Um S. 326. 32 Gyorgy I.ukžcs, Die Innere Romanform, Theorie des Romans, Sarajevo 1969.