m 0785 0785 D R JOSEPH MANTUANI: BEETHOVEN UND KLINGER’S BEETHOVEN- STATUE. WIEN. GEROLD & CO. 1902 . 0785 Photograpliie-Verlag von E. A. Seemann in Leipzig. BEETHOVEN UND $V- MAX KLINGER S BEETHOVENSTATUE. o o o EINE STUDIE VON D R JOSEPH MANTUANI. WIEN. VERLAG VON GEROLD & CO. 1902 . ALLE RECHTE VORBEHALTEN. Druck von Cliristoph Reifler’s Sohne, Wien. a naa— rei Jahre sind verflossen, seit man sich in Wien uber ein grosses Werk Max Klinger’s «hiiben und driiben* ereifert und mit einer geradezu gewaltthatigen Vehemenz contradic- torische Gegensatze der Parteiansichten verfochten hat. Ein solcher Ansichtenkampf ist ja angesichts so subjectiv em- pfundener Kunstwerke, wie es die Klinger’s sind, im Grunde genommen natiirlich und unausweichlich; aber nur zu leicht gerathen die Parteien in Einseitigkeiten, und dann gibt es nur noch ein Rechts und ein Links, die Kunstangelegenheit wird blosse Parteifrage — das Streitobject aber bleibt hiebei schon fein in der Mitte, so ziemlich unberiihrt. Es handelt sich nur mehr darum, den Gegner blosszustellen, nicht das Object richtig zu beurtheilen. Nun hat Klinger dur eh die Ausstellung seines neuesten plastischen Kunstwerkes »Beethoven* den Wienern neuerdings Anlass gegeben, uber ihn und seine Kunst zu reden und zu urtheilen. Eine so schone Gelegenheit, unschuldige und bosartige Artikel zu schreiben, harmlose und boshafte Witze zu machen, liessen sich diese auch nicht entgehen — das ist doch selbst- verstandlich. Was konnte man nicht Alles zu horen und zu lesen bekommen! Nur haben alle diese Enunciationen so ziemlich die Odeurs der Parteirichtungen, wenn nicht gar jene der Parteileithammel an sich. Vielleicht verlohnt es sich doch auch der Miihe, den Versuch zu machen, das durch Autopsie ge- wonnene Pro und Contra ehrlich gegeneinander abzuwagen und zwischen Rechts und Links einmal das «juste milieu* — den goldenen Mittelweg aufzusuchen. Aprioristische, sei es aufgeschwatzte, sei es selbstthatig geschaffene und begriindete Abneigungen gegen eine stiirmende Kunstrichtung miissen x* 4 aber vor Eintritt in den Verhandlungssaal im Reservedepot ab- gelegt werden, sonst konnten sie mit der ehrlichen Objectivitat durchgehen. Fiir uns Wiener Einwohner complicirt sich aber diese neueste »Klinger-Angelegenheit« nicht unwesentlich dadurch, dass sie nicht eine Kunstfrage schlechthin, sondern eine «Wiener Kunstangelegenheit® ist. Hiedurch fordert sie ein weit grosseres und weit intensiveres Interesse innerhalb unserer Metropole, als es sonst der Fali ware, wenn das Kunstwerk nicht in unserer Mitte ausgestellt und dazu zuerst offentlich ausgestellt worden ware. Es ist keine Einzelfrage, die hier zur Behandlung kommt, sondern ein Complex von solchen. Um die Uebersicht nicht zu verlieren, werden wir uns diese Menge etwas gliedern miissen. Wir wollen zunachst das Kunst \verk als solches be- trachten und dann auf die iibrigen, damit verkniipften Einzel- fragen naher eingehen: auf das Object der Darstellung und dessen Wesen, dann auf den thatigen Kiinstler und schliesslich die Reciprocitat der beiden letzten Factoren ins Auge fassen. I. Max Klinger’s »Beethoven® ist das Product einer sub- jectiven, aber gewaltigen Kiinstlerseele. Kein iiber Nacht ent- standenes, aus einer kiinstlerischen Regung oder nach einem e in z ig en, machtigen Gedanken in Folge einer einmaligen, in- spirirten Intuition fertiggewordenes Werk. Schon im Jahre 1887 fasste der Kiinstler den Plan, ein Beethoven-Monument zu schaffen; heuer, 15 Jahre nach jenem ersten Entschlusse, steht es fertig da. Im ganzen Grossen ist die urspriingliche Con- ception wohl geblieben, in den Einzelheiten aber haben die dazwischenliegenden 15 Jahre merklich daran gebessert, um- gearbeitet, gelautert. So ist endlich das Werk geworden, das wir nun in unserer Mitte haben und geniessen konnen. Der Eindruck ist unleugbar bedeutend; wir sehen einen machtigen Stimmungsaccord von Material, Form und — was nicht leicht hoch genug angeschlagen werden kann — Farbe. Unwillkiirlich setzt sich diese Stimmung in asthetische Em- findungen um, etwa so, wie wenn wir eine Partitur auf dem Papiere lesen und geistig die Harmonien horen, welche die 5 Zeichen festhalten, und so das Tonwerk geniessen. Klinger hat Marmor, Onyx, Elfenbein, Halbedelsteine und Bronze zu einem kunstlerischen Ganzen wunderbar vereinigt. Dass die Polychromie des Kunstwerkes nicht erst durch eine Auftragung oder Beizung, sondern durch die materialeigene Naturfarbigkeit der einzelnen Bestandtheile hergestellt ist, darin liegt ein nicht genug zu wiirdigender Vorzug vor den meistenmodernenWerken statuarischer Kunst und kiindigt sich vielleicht das Morgen- roth einer besseren, der classischen Zeit naher stehenden Kunst an, als es in den letzten drei Jahrhunderten der Fali war. Einzelne Versuche der Renaissance ausgenommen, wird ein plastisches Werk von einer solchen polychromen Pracht nicht nachzuweisen sein. Ja, man kann behaupten, dass Klinger mit diesem Werke seine Zeit und sich selbst iiberwunden und iibertroffen hat; seine Ansicht iiber die Farbigkeit der Kunst- werke, besonders der plastischen, hat er ja in seiner Schrift »Malerei und Zeichnung« niedergelegt; zumeist nach diesen Principien hat er auch seinen »Beethoven« gebildet, der in der «Salome» und in der «Kassandra« bahnbrechende Vor- lauferinnen hat. Sein Entwurf aber ist farbenreicher; er hatte kaum etwas Deteriores gethan, wenn er auch bei der Aus- fiihrung dabei geblieben ware. Weiters muss betont werden, dass Klinger bei diesem seinem Werke gedacht, und zwar vi el gedacht hat. So sehr sich seine Kunst auf dem Gebiete der Phantasiebethatigung sonst auch tummeln mag, beim «Beethoven» hat die reine Verstandesthatigkeit oft laut mitgesprochen. Der Beschauer hat vollauf zu thun, die Gedanken, Formen, Farben und das Wesen der Einzelheiten behufs kunstlerischen und asthetischen Geniessens unter einen Gesichtswinkel zu bringen. Auch darf nicht ausser Acht gelassen werden, dass Klinger eine Viel- seitigkeit auf dem Gebiete der materiellen Technik bekundet, die jedem, der sich auch fiir diese so wesentliche Seite an seiner Kunst interessirt und ihr nicht ganz verstandnisslos gegeniibersteht, hohe Achtung abringen muss. Weisser Marmor von isogenem Calcitkorn, Onyxmarmor aus verschiedenhaltigen Sinterlagen, dunkelpurpurner, dichter und glimmerdurch- wachsener sowie schwarzgriiner Marmor mit weissen Adern, Bronze und Elfenbein, Alles ist Gegenstand seiner technischen Behandlung; Meissel und Feile, Modellirstecken und Ciselir- 6 eisen fiihrt er mit gleicher Gewandtheit. Eine solche Summe von kiinstlerischer Arbeit muss einen gewaltigen Eindruck machen und kann wohl nur Fernstehenden verborgen bleiben. Als Grundlage fiir die Darstellung ist ein dunkler, braun- violetter Block von unregelmassigen Formen — eine Wolke oder eine Felsenstufe darstellend — gewahlt. Auf dieser massigen Unterlage ruht gewichtig und breit ein Thron- sessel von wuchtiger, wenngleich nicht ganz abgeklarter Tektonik. Die Riickwand und die Sesselwangen reichen als geschlossene Flachen bis an den Boden hinab. Die Stiitzen am tektonischen Geriiste bilden an den beiden Kanten, wo die Riickwand und die Seitentheile sich aneinanderschliessen — wohl nur zur Maskirung des Grates — Palmenstamme, wahrend die Vorderstiitzen als derbe Pferdevorderbeine gebildet er- scheinen. Der obere, zum Aufstiitzen der Arme bestimmte Theil der Armlehne ist polirt. Die Ruckwand ist um ihre Verticalachse leicht nach einwarts gebogen, innen starker concav als aussen convex. Dadurch erhalt der Sitz ein gewaltiges, den Bedarf eines Menschenkorpers weit iiber- steigendes Belegvolumen, offenbar berechnet, die sitzende Gestalt in klaren Contouren erscheinen zu lassen. Die sonst glatte Innenflache der Riicklehne schliesst ein farbenprachtiger Fries mit einem vorwiegend blauen Grunde am oberen Rande ab. Von dieser tieffarbigen Flache heben sich iiberaus wirk- sam drei Engels- oder Puttikopfchen aus Elfenbein ab. Die beiden Vorderecken der Riicklehne sind mit je einem ge- fliigelten Engelskopfchen maskirt; doch sind nur die Kopfchen aus Elfenbein, die Fliigel dagegen aus Bronze. Auf der Aussenflache der Riicklehne hat Klinger, einer- seits als kiinstlerisch belebenden Schmuck, andererseits vielleicht als allegorisirende Symbolik, eine zweitheilige Darstellung an- gebracht. Der obere, etwa drei Siebentel der Hohendimension beanspruchende Theil enthalt die Kreuzigung Christi. Die Gruppe ist aus der Mitte etwas nach links (vom Beschauer) geriickt. Auf einem T-formigen Kreuze hangt angenagelt der Heiland, und zwar in der Klinger eigenthiimlichen Auffassung, ganz nackt, auf einem in denKreuzesstamm eingekeilten Pflocke reitend; die Fiisse sind nicht an die Vorderflache, sondern seitvvarts des Balkens iiber einer Fussstutze angenagelt. Diese Darstellung ist en face gegeben, wahrend jene der 7 beiden Schacher in starken perspectivischen Verkiirzungen Stellung erhielten, weil sie Christo gegeniiber in einer Drehung von 45° aufgestellt gedacht sind. Zwischen Christus und dem zu seiner Rechten gekreuzigten Schacher steht eine gebeugte Frauengestalt, offenbar die Gottesmutter, weil sie nur Christo zugekehrt ist. Zwischen dem Kreuze des Erlosers und jenem des Schachers zu seiner Linken kauert eine zweite Frauengestalt auf dem Boden und blickt zum sterbenden Verbrecher hinan. Es kann wohl kaum eine andere Frau als Maria Magdalena gemeint sein. Auf der Flache darunter — im Raume im Vorder- grunde zu denken — steht in kraftiger Modellirung gebildet Venus, auf einer Muschel, die eine mannliche Meeresgottheit iiber den Wogen emporhalt. Ihre Geberde ist Verwunderung, wenn nicht Entsetzen; beide Arme sind gehoben, die offenen Handflachen dem Beschauer zugewendet. Zu ihrer Rechten ist eine zweite nackte Frauengestalt sichtbar, halb aus den Wellen auftauchend oder eigentlich in denselben kniend; sie blickt, die Hande vor dem Antlitz gehoben, zu dem sich iiber odervor ihr abspielendenVorgange. Von der Kreuzigungs- gruppe her aber stiirmt ein jugendlicher Mann in antiker Tracht herbei und deutet mit einer energischen Gebietergeste auf die Venus. Diese mannliche Gestalt — gemeint ist der heilige Johannes — stellt auch die Verbindung zwischen der oberen und der unteren Gruppe her. Auf der rechten Sesselwange ist in kraftigem Basrelief der Siindenfall in der gewohnlichen biblischen Auffassung, doch mit manchem Zuge subjectiver Natur dargestellt. — Die linke Seite enthalt, ebenfalls im Basrelief, Tantalus, der nach den entweichenden Fruchten greift, wahrend sich neben ihm eine Danaide bemiiht, in eine Siebschale Wasser zu schopfen. Auf dem obersten Rande der Riicklehne endlich erblicken wir fiinf liegende Menschengestalten: einen Mann und eine Frau mit einem Kinde und ein weiteres Menschenpaar ohne das Kind. Diese letztgenannten Gestalten sind klein und verlieren sich angesichts der anderen Dimensionen. Auf diesem Prunkthrone nun sitzt “Beethoven«. Der Oberkorper ist leicht, fast elegant und salonmassig nach vorn geneigt; die' Oberarme an den Korper gedruckt, die Unter- 8 arme auf den Schenkeln liegend, die Fauste geballt. Das rechte Bein ist uber das linke geschlagen, die Fiisse mit Sandalen bekleidet. Der Korper ist nackt; nur uber die Beine ist eine Dečke geworfen, \velche die Unterbeine und die ganze Vorderseite des Sessels bedeckt. Sie ist kiinstlerisch und technisch mustergiltig, aus einem einzigen Blocke des gelb bis braun gestreiften Onyxmarmors gehauen. Vor dem sitzenden und weltentruckt in die Ferne blickenden Meister klammert sich an den Unterbau ein Adler, die Schwingen im Entfalten begriffen und zu Beethoven hinanblickend, als harrte er seiner Weisungen. Die Einzelheiten an diesem Werke, wie z. B. die Engels- kopfchen, die Reliefs, der Adler, die Dečke, sind kiinstlerisch wahrhaft edel und gross empfunden, technisch glanzend be- handelt. Ihr Verhaltnis zur Gesammtheit bleibt freilich immer discutabel; man wird Einwendungen, wie z.B. dassBeethoven’s Korper viel zu hart ist in seiner Wirkung, dass sich die an der Lehne angebrachten Engelskopfchen zu sehr vordrangen, dass der Glanz der polirten Armlehnen und das hervortretende Blau des ornamentalen Streifens eine ausgeglichene Wirkung nicht eben begunstigen, dass der Adler zu Beethoven’s Fiissen auch eine andere Aufstellung vertragen hatte u. a. m. immer- hin ruhig anhoren und erwagen konnen. Der Gesammtein- druck ist aber gewiss ein bedeutender, stimmungsvoller, kunst- gemasser. Der Charakter der Monumentalitat liegt uber dem Werke; wir schauen das Zeugnis fur ein urtiefes kiinstlerisches Wollen und ein hochbedeutendes Konnen, fur eine respect- fordernde Innerlichkeit des Kunstlers; es birgt eine ernste, feierliche und pompose Pracht sowie einen Reichthum an Einzelheiten, wie nicht bald ein anderes modernes, uns bekannt- gewordenes Werk. Davon, glaube ich, hat sich ein jeder iiber- zeugt, der das Kunstwerk gesehen, es vorurtheilslos be- trachtet und nur der seelentiefen Sprache der Kunst gelauscht hat. Selbst der Laie muss die Empfindung haben, dass er in diesem Falle einem nicht gewohnlichen Kunstwerke gegen- iibersteht. Aber damit allein ist es keineswegs gethan. Klinger hat nicht ein Kunstwerk schlechtweg geschaffen, sondern ein ganz besonderes, specifisches. Er stellte sich die grosse Auf- gabe, Beethoven, den bisher unerreichten, gigantischen 9 Meister der Tone, durch seine Darstellung zu verherrlichen. Eine wirklich grosse Aufgabe, des grossten Kiinstlers wurdig. Um nun Klinger’s Kunstwerk auch von dieser specifischen Seite beurtheilen zu konnen, ist es vor Allem erforderlich, dass wir versuchen, Beethoven’s Wesen zu erfassen. II. Beethoven ist im katholischen Rheinlande einer alten Musikerfamilie entsprossen; sein Grossvater sowohl wie sein Vater waren kurfurstlich Kolnische Hofsanger. Dieser Umstand ist kraftiger zu betonen, als es die Nothwendigkeit auf den ersten Blick zu fordern scheint; denn wer weiss nicht, welch’ einen nachhaltigen Einfluss auf das Denken, Fiihlen und Sich- geben die ceremoniose Etiquette der kleinen Hofe auf die Bediensteten ausiibt! Mit dem ersten Athemzuge in die Mitte solcher Verhalt- nisse und in eine musikalische Umgebung versetzt, die seine naturliche, zum grossen Theil als Erbgut mitgebrachte musi¬ kalische Begabung zur friihen Entfaltung brachte, musste der kleine Ludwig auch schon seit seinem zartesten Kindes- alter Musik lernen. Hauptsachlich wurde er zur Uebung des Spieles auf Instrumenten, besonders auf dem Claviere, ange- halten und musste sich bald ein bedeutendes Mass musik- technischer Fahigkeiten erwerben. Ludwigs Vater scheint ein recht typischer Musikant gewesen zu sein. Ohne hervor- ragendes Konnen versah er den Dienst regelmassig und pflegte seine dienstlich trocken gelegte Kehle pflichteifrigst wieder in den Stand zu setzen; nur wurden diese Re- staurationsbemiihungen mitunter etwas ausgedehnt, was fiir den Geldbeutel nicht ohne Folgen blieb. Zwar suchte Ludwigs Mutter, eine stille, fromme Frau von nicht unbedeutender Gemuthsinnerlichkeit, den unwirthschaftlichen Passionen des Familienoberhauptes durch ihre Arbeit und sparsames Walten im Hauswesen dem immer drohenden Unglucke so viel wie moglich zu steuern, wurde aber zuletzt schwermuthig in Folge des ununterbrochenen psychischen Druckes, erkrankte und starb, als Ludwig Beethoven im 1$. Lebensjahre stand. /y. Auch der Vater Ludwigs sah die Reformbediirftigkeit seiner okonomischen Lage ganz gut ein, ohne jedoch mit einer 10 Reform bei sich selbst zu beginnen. Er kam dagegen auf den Einfall, nach Muster Mozart’s, dessen Jugendgeschichte ja da- mals noch in aller Leute Gedachtnisse lebendig erhalten war, auch aus Ludwig ein «Wunderkind» zu machen, oder, wie er sich selber etwas realistischer ausdriickte, aus den Talenten seines Sohnes »einen eintraglichen Artikel* zu schaffen. Ludwig war also ausersehen worden, den trunkbediirftigen Vater und die Geschwister zu erhalten. Auf dieses Ziel nun steuerte der gestrenge Papa mit einer rucksichtslosen Energie und einer bedauernswerthen Einseitigkeit los. Als im Jahre 1773 — Ludwig war damals drei Jahre alt — der Grossvater starb, wurden im Hause Beethoven’s die Verhaltnisse sehr durftige. Der erste Unterricht scheint schon nach dem zuriickgelegten vierten Lebensjahre durch den Vater begonnen worden zu sein, bis spater den achtjahrigen Knaben der OboistPfeiffer, den neunjahrigen der Hoforganist van den Eeden und den zehnjahrigen Neefe in den Unterricht nahm. Seit er fremde Lehrer hatte, wurde er trotz seiner Thranen gezwungen, seine taglich vorgeschriebenen Uebungen zu absolviren. Und diese taglichen Pensa waren sehr gross, ohne padagogischen Takt, ohne Verstandnis zugemessen. Am schlimmsten ging es Ludwig wohl unter Pfeiffer; dieser war Beethoven’s Wohnungs- und Kostgenosse und pflegte dem Vater bei seinen feuchten Sitzungen treu zur Seite zu sein. Wenn dadurch die Lehrstunden ausfielen, wurde der arme Ludwig, wenn die beiden Manner spat nach Hause gekommen waren, aus dem Schlaf geruttelt, aus dem Bette zum Clavier geholt und musste bis an den Morgen daran sitzen und lernen. Musste schon diese rauhe und ungerechte, jedes pada¬ gogischen Sinnes entbehrende Methode des Vaters auf Ludwig psychisch und physisch nachhaltig ungiinstig wirken, so hatte sie noch ein zweites grosses Uebel, das Ludwig sein Leben lang nicht mehr los wurde, im Gefolge: die verstandnisslos verur- sachte, ja nachgerade gewissenlose Vernachlassigung der all- gemeinen Bildung. Ludwig verliess die Schule noch vor Beginn seines drei- zehnten Lebensjahres; und gerade diese Schulbesuchszeit ist iiberburdet und in den Hintergrund gedriickt durch seine Musikubungen; die Schulgegenstande waren Nebensache. Daher kommt es denn, dass Beethoven nureine ausserst durftige 11 Bildung oder besser gesagt ein armliches Alltagswissen in das Leben mitbrachte. Er hatte Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt; die Anfangsgriinde der lateinischen Sprache sind nicht sehr tief gesessen, und selbst die Nachhilfe Zambona’s kann kaum viel daran gebessert haben. Der Umstand, dass er unter dem letzteren Cicero’s Briefe in sechs Wochen nach Beginn des Unterrichtes schon lesen konnte, deutet so ziemlich klar auf einen wenig padagogischen Vorgang, vielleicht sogar auf eine Charlatanerie hin, vorausgesetzt, dass die Mittheilung auf Wahrheit beruht. Sicher aber ist es, dass ihm die Gebrechen der iiberaus mangelhaften Schulbildung sein Leben lang an- hafteten: mangelhafte Orthographie, Ungelenkigkeit im Aus- druck, Unwissenheit in der Interpunction, Verstandnisslosigkeit den Formen gegeniiber, Stiimperhaftigkeit im Rechnen. Selbst das Einmaleins bereitete ihm ernste Schwierigkeiten, wofiir sich ein recht heiteres aber auch schlagend beweisendes Beispiel auf der ersten Seite der Coriolan-Ouverture findet, woselbst die einfache arithmetische Aufgabe 24.13 = 312, eine Rechnung, die jedes die hoheren Volksschulclassen be- suchende Kind auswendig fertig bringt, so gelost ist, dass der grosse Meister 13 mal 24 untereinanderschrieb und dann addirte! Diese Liicken wurden spater allerdings vielfach durch den Umgang mit Gebildeten und durch — freilich nur zu oft riihrend kritiklose — Lectiire der zeitgenossischen Literatur theilweise ausgefiillt; ganz wett machen konnte er aber den Schaden niemals, da ja jeder feste Grund mangelte. Ein ahnlicher Fali liegt ja auch wieder bei Anton Bruckner vor, nur hatte dieser seinen kleinen Horizont an allgemeiner Bildung besser abgerundet. Diesen entschieden vorhandenen Fehler sucht man bei Beethoven in Abrede zu stellen oder ihn doch moglichst zu vermindern. Mit Unrecht, wie ich glaube. Seiner wahren Grosse als Musiker wird auch das offene Eingestandnis eines solchen Mangels gar keinen Eintrag thun. Jedes wirklich existirende korperliche Wesen hat doch seine Licht- und Schattenseiten; ohne dieselben existirte es ja nicht. Ob der Musiker Beethoven nicht noch hoher steigt in unserer Achtung, wenn wir ihn ganz zu erfassen suchen und auch seine Schattenseiten gelten lassen? 12 Es erubrigt noch, auch die positive Seite in Beethoven’s eigenthiimlicher Geistesbildung in einigen Ziigen darzulegen. Beethoven ist so sehr Kind seiner Zeit, wie nicht bald ein anderer der grossen Geisfcer; eine Ausnahme macht bei ihm seine Kunst, mit der er mindestens einem Saculum vorangeeilt war. Zur Zeit, als Beethoven’s Geist bereits selbstthatig und aufnahmsfahig geworden war, ereigneten sich in Bonn Dinge, die ihren Eindruck auf ihn kaum verfehlen konnten. Zunachst war es der von so wohlthatigen Einfliissen auf die Stadt begleitete Regierungsantritt des Kurfiirsten Max Joseph, Erzherzogs von Oesterreich, und darnach die zwei Jahre spater (1786) erfolgte Eroffnung der Bonner Universitat, ein Act, der mit ungeheurem Pompe begangen wurde. Durch diese Eroffnungsfeierlichkeiten wurde den Bonnern die Be- deutung der Wissenschaft und der hohen geistigen Bildung etwas naher gebracht, und Beethoven, damals fast 16 Jahre alt, mag wohl, gleich Gerhard Kiigelgen, vor der — ihm mangelnden — geistigen Bildung Respect bekommen haben. Die ganze Zeit stand damals unter dem Zeichen der Freisinnigkeit, der sogenannten «Aufklarung». Maria Theresias jiingster Sohn huldigte ihr ebenso wie sein grosser Bruder JosefIL, dem er iibrigens auch hinsichtlich der politischen Maximen besonders nahe stand. Der Kurfiirst las selbst die besten Schriftsteller der jiingeren Nationen, war der frei- sinnigen philosophischen Richtung zugethan und hemmte die an der Universitat angestellten Professoren in ihrer freisinnigen literarischen Thatigkeit nicht. Er liess sich nicht einmal dadurch beirren, dass die Schriften einiger unter ihnen officiell auf den Index kamen. Das sind alles Thatsachen, die an Beethoven umsoweniger spurlos voriibergehen konnten, als er ja nicht nur der Sohn eines Hofangestellten, sondern seit 1785 auch selbst als Organist zum Hofstaate des Kurfiirsten gehorte. Die Vielseitigkeit der geistigen Interessen musste sich im fruhreifen Ludwig regen, weil er ja uberall von so vielerlei reden horen musste. Wir alle wissen ja, mit welch’ einer unausrottbaren Macht die Jugendeindrucke haften bleiben und wie schwer es oft ist, anerzogene Ansichten, wenn sie sich als nicht stichhaltig erweisen, abzulegen oder nur zu modificiren. In der Jugend hat eben das Gemiith noch sehr viel mitzusprechen, wovon der kiihle Verstand, die strenge Logik nicht viel wissen wollen. Und nun nehme man Beethoven her, mit seiner urgrundtiefen Innerlichkeit, mit seinem schon von Kindesbeinen auf so verschlossenen Wesen, in dem sich aussere Eindriicke wie in einem Dep6t aufspeicherten, und man wird eine Ahnung bekommen von seiner geistigen Disposition und der hiedurch inaugurirten Lebensauffassung. Wenn sich Beethoven’s Jugendeindriicke von Bonn logisch und consequent weiterentwickelt hatten, wer weiss, was daraus geworden ware. Aber das war nicht der Fali. Gerade damals, als die selbstthatige Entfaltung und Weiterbildung der Grund- satze nach den empfangenen Eindriicken beginnen solite, verlor Beethoven den letzten Halt seines Gemiithes durch den 1787 erfolgten Tod seiner Mutter, an der er in aufrichtiger und hingebender Liebe hing. Elatte er schon vorher in seiner Familie keinen Halt und kein Verstandnis gefunden, ausser bei der Mutter, so war er nunmehr ganz vereinsamt. Das Ungeregelte seiner Erziehung machte sich mit aller brutalen Gewalt geltend, es mangelte ihm an Kraft, an Selbstvertrauen, an Selbstbeherrschung — die er iibrigens nie wieder erlangte — und vor Allem ein von trostendem Glauben getragenes Gemuth, das er sich spater ersehnte. Etwa seit demselben Jahre, in dem er seine Mutter verlor, verkehrte Beethoven im Hause der Familie v. Breuning, zunachst wahrscheinlich als Clavierlehrer. Die Frau von Breuning vertrat bei ihm die Mutterstelle und wurde ihm eine einflussreiche Beratherin. Hier legte Beethoven auch den Grund zu der ihm so nothigen Nachholung einiger Partien der Geistesbildung. In Breuning’s Hause verkehrte er wie ein Kind der Familie und nahm theil an der anregenden Conver- sation, wodurch er etwas in die Geistesstromungen der Zeit und in die damals moderne Literatur eingefuhrt wurde. Aller- dings geschah dies ohne jede Systematik, und was er gesprachs- weise gewann, blieb keineswegs fest sitzen, weil ja kein Grund vorhanden war. Aber der Gesichtskreis erweiterte sich ihm doch auch auf diesem Gebiete. In Deutschland war damals eine geistig riihrige Zeit, wenn man auch nicht gerade behaupten kann, dass der Hohe- punkt erreicht wurde. In der Philosophie und der Welt- anschauung war die ernste Richtung von Leibniz und Wolff 14 der damals besonders von Frankreich aus durch Voltaire und Rousseau beeinflussten deutschen «Aufklarung» gewichen. Alle gebildetenStande wurden von derselben ergrifFen; auch im Hause v. Breuning beschaftigte man sich mit diesen Fragen, welche auch an Beethoven nicht spurlos voriibergingen. Unter der Anfiihrerschaft von Reinmarus (Abhandlungen iiber die vornehmsten Wahrheiten der natiirlichen Religion, 1764), Bahrdt (System der Moraltheologie und viele andereSchriften), Mendelssohn (besonders durch seinen «Phadon»), Platner, Garve, Lessing (Nathan der Weise, Ueber die Erziehung des Menschengeschlechtes) und Herder eroberte sich die Auf- klarung r asch den Boden, weil sie als p o p u 1 a r p h i 1 o s o p h i s c h e r Eklekticismus erschien. In der von Ch. F. Nicolai im Jahre 1765 begonnenen und bis zum Jahre 1792 fortgefiihrten, mit dem 107. Bande eingestellten ersten Serie der »Allgemeinen deutschen Bibliothek« wurden diese Aufklarungsgrundsatze allgemein zuganglich gemacht und mundgerecht zugeschnitten dargeboten. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Beethoven etwas von dieser Bibliothek kannte und dass er diese Kenntnis dem Hause v. Breuning, sicher aber seiner Vaterstadt ver-^ dankt. Wahllos schloss er sich der damals modernen Richtung an. Derjenige Vermittler des Zeitgeistes, der das Denken und Streben, den Willen und die Anschauungen Beethoven’s auf allen Geistesgebieten ganz und gar beherrschte, war aber Herder; das Um und Auf von Beethoven’s Wesen und An¬ schauungen sind die von Herder ausgesprochenen philo- sophischen Grundsatze; auch finden sich zwischen den beiden noch andere Beriihrungspunkte. So galten z. B. materielle Geniisse Herder sowohl \vie Beethoven gar nichts. Beide sind Naturfreunde, ja Naturschwarmer, um nicht zu sagen Ver- gotterer; auch bei Beethoven trifft das Wort, das Jean Paul von Herder sagte, «unter Blumen und Baumen war er so genesen gliicklichi., vollinhaltlich zu. Auch Herder liebte die Musik leidenschaftlich, «unaussprechlich», wie Jean Paul sagt. Die religiosen Anschauungen Beethoven’s sind dieselben, die Herder lehrt. Religion ist Sache des Gemiithes, wo es keine Lehrmeinungen geben kann, schreibt Herder; Beethoven kleidet diese Meinung in die lapidare Form: "Religion und Generalbass sind fiir sich abgeschlossene Dinge, iiber die man nicht weiter disputiren soll», freilich in seiner Auffassung. 15 A Herder will, der Mensch erkenne Gott als Vater, sich selbst als sein lebendiges Organ; er sei Mensch unter Menschen und wirke dem gleich, der die Regel der Menschheit gegriindet hat. Die Gottesverehrung, behauptet er, sei ein Unding, weil Gott einer Verehrung gar nicht bediirfe und sie auch nicht fordere. Dass Beethoven in religiosen Fragen nach diesen Grundsatzen gehandelt hat, beweisen seine Briefe, seine ge- legentlichen Ausspriiche und sein Leben. Wie es mit der Missa solemnis steht, werden wir noch erortern. — Beethoven’s »Heiligenstadter Testament« enthalt mehr als einen Beweis dafiir, dass er ganz und gar in den Grundsatzen Herder’s lebte. Man halte sich nur die dort ausgesprochenen Ansichten vor Augen und vergleiche dasjenige, was Beethoven von sich selbst sagt, mit den Ideen und Lehren, die Herder in seinem Hauptwerke «Ideen zur Philosophie der Geschichte der Mensch¬ heit« ausgesprochen hat; man wird keinen Augenblick im Un- klaren bleiben iiber die geistigen Beziehungen Beethoven’s zu Herder. Dieser behauptet z. B., dass der einzige Daseinszweck des Menschen sei, sich geistig zu vervollkommnen und Humanitat zu uben; jener spricht im genannten Testamente vom »zarten Gefiihl des Wohlwollens», bedauert, dass er auf Erholung in menschlicher Gesellschaft, auf »feinere Unter- redungen, wechselseitige Ergiessungen« verzichten muss; er ruft die »Gottheit« zum Zeugen, dass in seinem Inneren «Menschenliebe und Neigung zum Wohlthun drin hausen«, und beweist das iibrigens auch durch seine letztwilligen Verfiigungen. Es sind das nicht die einzigen, aber vielleicht die markantesten Stellen, die deutlich darthun, wie nahe Beethoven Herder verwandt ist. Solcher Zusammen- stellungen liessen sich noch viele herstellen, fiir unseren Zweck diirfte das Gebotene geniigen. Es ist nicht ausser Acht zu lassen, dass Herder’s Werk »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« gerade in jenen Jahren erschien, in welche Beethoven’s geistige Entwicklung und der grossere Theil seines Verkehres im Hause v. Breuning’s fallt, d. i. in die Zeit von 1784—1791, also noch ganz in seine Bonner Jahre. Es lasst sich nicht nachweisen, dass vom genannten Zirkel eine Anregung zum Studium Herder’s an Beethoven ausging, es ist aber sehr wahrscheinlich. 16 Beethoven’s Bonner Zeit war so recht im Zeichen der Aufklarung, damals noch durch keine tragischen Ereignisse iiberschattet; die Geister suchten nur greifbare, materielle Wirklichkeit, alles Uebersinnliche wurde iibergangen. In religioser, besonders aber in confessioneller Beziehung war die Jugendzeit Beethoven’s in ihrem innersten Wesen In- differentismus. Mit diesen Eindriicken wuchs der Meister auf; jenes wenige, was er in religioser Hinsicht von seiner Mutter anerzogen erhielt, wurde mehr als reichlich aufgewogen durch die modernen Anschauungen und durch die Philosophie Herder’s. Dieser war ja der Vertreter des im Sinne der deutschen Aufklarung zugeschnittenen englisch-franzosischen Deismus, hielt immer noch am innersten Kern der christlichen Anschauungen fest und nahm die Existenz eines personlichen Gottes an. Auch Beethoven war davon asthetisch iiber- zeugt, seine Vorstellungen aber konnen durchaus keine sehr klaren gewesen sein, wie die von ihm wiederholt gebrauchten Ausdriicke: Gliick, Ungliick, Schicksal, Parzen, Hoffnung, Vorsehung, Gottheit, Gotter, aber auch Gott, Herr, Himmel, deutlich beweisen. Dass es sich bei seinen religiosen Anschauungen nur um eine rein asthetische und fast meta- phorische Auffassung handelt, beweist die Nebeneinander- stellung wesentlich verschiedener Begriffe und historischer Per- sonen. So z. B. unterfertigt er einen Brief an Erzherzog Cardinal Rudolf: «Dero in Christo und Apollo...®; oder er ruft aus: »Sokrate s und Jesus waren mir Muster® in schwerer Zeit. Nichtsdestoweniger aber stand Beethoven der ausseren Form der Gottesverehrung iiberhaupt und der katholischen Liturgie ganz gleichgiltig gegeniiber. Dieser Umstand ist hinsichtlich seiner liturgischen Werke, speciell der Composition seiner Missa solemnis, von Bedeutung. Ebenso wie in Bezug auf die Weltanschauung und die Religion ist Herder auch zum grossen Theile der geistige Leiter und Lehrer Beethoven’s auf dem Gebiete der Literatur. Dieser Einfluss Herder’s und seine vielfaltige Anregung, die er auf unseren Meister geiibt, lasst sich aus Beethoven’s Arbeiten und aus dessen nachweisbarer Lecture darthun. Herder hat in seinen »Kritischen Waldern» (1769) Homer’s Dichtungen besprochen und uberaus giinstig beleuchtet. Eine treffliche Uebersetzung von Voss erschien 1781. Dadurch 17 wurde der »gottliche Homeros« auch fiir Beethoven zUganglich und wirklich finden wir in seinem Besitze die Ilias und die Odyssee; besonders beschaftigte ihn die letztere. Seit Macpherson seine, fiir altkeltische Originallieder des Barden Ossian erklarten Bearbeitungen schottischer Volks- lieder (1760) veroffentlichte, beschaftigte sich die literarische Welt lebhaft damit, und bereits 1768—1769 erschien eine von Denis besorgte Uebersetzung derselben. Herder war es, 1 der in seinen fliegenden Blattem «Von deutscher Art und Kunst« in dem 1773 veroffentlichten Aufsatz, »Ossian und die Lieder alter Volker«, das deutsche Publicum auf diese Dichtungen noch besonders aufmerksam machte. Und siehe da — Beethoven liest die Lieder Ossian’s, Dichtungen, die ihm sonst doch wirklich ferne gelegen waren. In denselben Blattern machte Herder (ebenfalls 1773) seine Landsleute mit dem Wesen und der Welt Shakespeare’s naher bekannt; Beethoven las die Dramen des grossen Briten in deutscher Uebersetzung. Doch nicht genug an dem; er las sie, wie aus seinem Nachlasse hervorgeht, in der Uebersetzung Eschenburg’s, eines Literaten, dessen Uebersetzungsgeschick Herder besonders riihmte und hervorhob. Von der Schlegel’schen Uebersetzung wollte Beethoven zuerst nichts wissen — und Herder zieht in Nicolai’s Allgemeiner deutschen Bibliothek die Eschenburg’sche Uebersetzung der Schlegel’schen vor! Beethoven’s Urtheil iiber die beiden Uebersetzungen entsprang durchaus nicht einer Vergleichung und der daraus gewonnenen Ueberzeugung, wie Schindler meint, sondern er folgt einfach der Ansicht Herder’s. Sein Lieblingsdichter war zuerst Klopstock, dessen Auftreten Herder als den Anfang der wirklichen Poesie, die Wiederherstellung des lyrischen Gesanges etc. feiert. Ausser- dem sei aber auch auf Beethoven’s Lehrer, Chr, G. Neefe hingewiesen, der bereits 1776 eine Sammlung von 13 Oden Klopstock’s (eigentlich nur 12, die letzte ist von Denis) mit Melodien herausgegeben hatte und sie 1785 als «sehr vermehrte und verbesserte Ausgabe«, enthaltend 14 Gesange, neu publi- cirte. Derselbe componirte auch mehrere Dichtungen Herder’s. Durch die beriihmte Ausgabe der Volkslieder, die Herder 1778/1779 veranstaltete, wurde Beethoven besonders auf die englischen, schottischen, irischen und walisischen Lieder hin- 2 18 gewiesen, und das Lob Ossian’s und Shakespeare’s veranlasste ihn, sich intimer mit dieser Poesie zu beschaftigen, weil er bei ihr dieselbe Bedeutung voraussetzte, wie sie jenen beiden beigelegt wurde. Ich erinnere nur noch kurz an die iibrigen alten und neueren Schriftsteller, mit denen sich Herder in seinen Schriften beschaftigt: Aristoteles, Horaz, Ovid, Pindar, Plato, Sophokles, Euripides, Plutarch etc., dann Gleim, Rammler, Kleist, Lessing, Novalis, Hagedorn, Goethe, Schiller; endlich die anderen hervorragenden Personlichkeiten, die im Leben Beethoven’s eine Rolle spielten: Joseph II., Haydn, Mozart, Handel, Gluck — und man wird den ungeheueren Einfluss Herder’s auf Beethoven begreifen und verstehen, dass man hier mit intimen Studien einsetzen muss, um Meister Ludwig halbwegs verstehen zu lernen. Zu alledem fuge man nun noch den von Herder ausgesprochenen Grundsatz, dass ein wahres Genie der Regel nicht bediirfe! Wie musste ein solches Wort, ausgesprochen von einem Manne von der Be¬ deutung und dem Ansehen Herder’s auf Beethoven wirken! Auf den Mann des souveranen Gefiihles, des unbeugsamen Willens, des trotzigen Geistes, auf den Freidenker mit demo- kratischer Substruction, dem das Gefiihl der abhangigen und damals modernen Grund\vachterunterthanigkeit ganz und gar fremd war, auf den Musiker, der auf der Suche nach imma- nenten Schaffensgesetzen fiir sein Kunstgebiet begriffen war und neue Gesetze aus dem Wesen der Sache erschliessen wollte, bei dem der unglaublich hohe Grad genialer Intuition in der That fast jedes Anerziehen der Formel und Sichanhalten an gegebene Regeln uberfliissig erscheinen liess, freilich, ohne dass seine Zeit es merken konnte! Ein so klar und lapidar ausgesprochener Gedanke musste fiir Beethoven, den Sturmer und Dranger auf musikkunstlerischem Gebiete, wie eine Erlosung aus dumpfer Unklarheit sein, aus welcher er sich herauszuringen bemiihte, und musste seiner innerlich verschlossenen Seelenkraft den letzten Anstoss verleihen, eruptiv hervorzubrechen und sich' zu neuem Schaffen zu concentriren. Doch wir sind mit Beethoven’s Beziehungen zu seiner Zeit mit dieser Skizze des Verhaltnisses zu Herder noch nicht fertig. Ohne sie erschopfen zu wollen, mussen wir doch noch einige Einfliisse notiren. 19 Ausser Herder und jenen Geistern, welche dieser citirte, konnten die grossen Ereignisse und Tagesfragen an Beethoven nicht unbeachtet dahinrollen. Wie begeisterte sich damals die gebildete Welt an den Schopfungen der Hainbiindler Voss, Holty, Claudius, Burger, Tiedge und jenen der Romantiker Novalis, Bruder Schlegel und Tieck! Auch ihre Zeitgenossen, Platen, v. Collin, Matthisson und Seume, dann die Classiker Goethe und Schiller beherrschten die Gemiither. Alle finden wir auch bei Beethoven; mit ali en beschaftigt er sich, aus allen erhalt er niitzliche und fruchtbare Anregungen. Selbst untergeordnete Geister, wie z. B. Meisl, Bernard, Stephanie, Seyfried, Rupprecht, sind ihm mitunter Quellen fur ton- dichterische Gedanken. Wenn Beethoven auch gesteht, dass er zuerst an Klopstock sich begeistert hat, diesen aber Goethe spater todtgemacht habe; wenn er auch einmal ausdrucklich sagt, dass er, wenn er uberhaupt lese, nur Goethe lese, wird diese Behauptung doch angesichts der gleich zu erwahnenden Thatsachen, nur cum grano salis aufzunehmen sein. Neben Dichtungen von wirklich hohem Schwunge kommen auch solche von recht mittelmassigem Werte vor, wie z. B. die schone Schusterin u. a.; es sind Lieder, die zwischen 1787 und 1825 entstanden sind. Mit Goethe befasste sich Beethoven erst seit etwa 1810 eingehender. Besonders zu betonen ist, dass die Romantiker Beethoven ebenso mitgerissen haben, wie sie andere, weit weniger bedeutende Geister mitnahmen. Was stiirmte also nicht Alles auf unseren Meister los Welche Fiille von Zeitstromungen in rascher Aufeinanderfolge musste er an sich voriiberbrausen sehen, welch’ zahllose Eindriicke musste er empfangen und wie viel musste in seinem empfanglichen Gemiithe von selbst sitzen bleiben! Und Beethoven stand allen diesen kaleidoskopartigen Wechsel- fallen in Folge seiner unausgeglichenen Jugenderziehung voll- kommen kritik- und hilflos gegenuber; eine Sonderung der Eindriicke hat er nicht versucht, hatte sie aber auch nicht durchzufiihren vermocht. Ganz anders aber verhalt es sich mit der Tonkunst. Wie schon oben bemerkt, war Beethoven seit dem ersten Athem- zuge in musikalischer Umgebung und ist schon im zarten Kindesalter gezwungen worden, sich mit Musik praktisch zu beschaftigen. Abgesehen von seiner natiirlichen Begabung, 2 * 20 musste durch die erwahnten Umstande allein eine gewisse Disposition, Musik horen und aufnehmen zu konnen, geschaffen werden. So lange der kleine Beethoven nur widerwillig und unter Thranen Musik trieb, diirfte seine Apperceptionsfahigkeit kaum viel gewonnen haben, wenigstens unter des Vaters strenger und rauher Leitung nicht. Kaum bedeutender. wird der F. infl nss Pfeiffer’s gewesen sein; mit vanden Eeden’s Unterweisung diirfte aber der Grund fiir seine selbststandige Richtung gelegt worden sein. Neefe, der Nachfolger van den Eeden’s, muss als Lehrer Beethoven’s jedenfalls eine tiichtige musikalische und technische Grundlage vorgefunden haben, auf die er bauen konnte. Dass Beethoven diesem Manne sehr viel verdankt und dass er sich seines massgebenden und fordernden Einflusses voli bewusst war, beweisen ja seine eigenen Worte in einem Briefe vom Jahre 1793, den er an Neefe schrieb: «Ich danke Ihnen fiir Ihren Rath, den Sie mir sehr oft bei dem Weiterkommen in meiner gottlichen Kunst ertheilten. Werde ich einst ein grosser Mann, so haben auch Sie Theil daran.»_Jedenfalls erhielt Beethoven — wenn auch erst aus vierter Hand, aber doch noch schul- und prin- cipientreu — die Kunst des grossen J. S. Bach von Neefe iibermittelt; dieser war ja ein Schiller J. A. Hiller’s in Leipzig, Hiller aber lernte Musik bei Homilius, einem unmittelbaren Schiller Bach’s. Das grosste Lob, das Neefe seinem Schiller Beethoven im Jahre 1783 zu spenden im Stande ist, liegt darin, dass er grosstentheils das wohltemperirte Clavier spielt. Das also war die Grundlage von Beethoven’s Kunst, die aber noch vielfach ausgestaltet wurde durch die mannig- fachen Anregungen, die Beethoven als Mitglied der kurfiirst- lichen Capelle von seinen Vorgesetzten und Collegen erhielt: Lucchesi, Mattioli, Reicha, Ries, Simrock, Romberg. Alle haben einen Einfluss auf ihn ausgeubt. Doch keiner wurde bestimmend genug, um ihn in eine gewisse Richtung zu drangen. Ausserdem waren es die Werke der grossen Meister Handel, Mozart und Haydn, welche neben Bach den Unter- bau bildeten. Von einem dieser Meister wollte nun Beethoven die geheimen Schaffensgesetze erlernen. Aber bei Mozart kam es iiber einige Lectionen nicht hinaus, und als Beethoven sich dem Studium widmen konnte (1792), war der Meister schon todt. 21 °Sie erhalten Mozart’s Geist aus Haydn’s Handen,» schrieb 1792 Graf Waldstein an Beethoven. Dieser ging nach Wien, um Mozart’s Kunst bei Haydn zu erlernen, und was man er- wartete und hoffte, war, dass er ein zweiter Wolfgang Ama- deus werden wurde, das hochste Ziel, das einem Sterblichen auf dem Felde der Musik gesteckt werden konnte. Ob nun * Vater Haydn den padagogischen Takt, sein Wissen und sein technisches Konnen auch Anderen zu ubermitteln, iiberhaupt nicht besass, oder ob er nur Beethoven gegenuber den richtigen Modus nicht finden konnte, mag dahingestelltbleiben; Thatsache ist, dass Beethoven von Haydn nicht viel profitiren konnte in dieser Hinsicht und dass er ohne Vorwissen Haydn’s seine Studien eigentlich bei dem in diirftigen Verhaltnissen lebenden Schenck machte. Indessen erstreckten sich diese Unter- weisungen, wenn nicht ausschliesslich, so doch zum allergrossten Theile nur auf die Systematik der Harmonielehre, welche Beethoven spater durch das Studium des Contrapunktes und derFuge bei Albrechtsberger erganzte. Doch wasBeethoven suchte, das fand er nicht; wahrend Haydn noch nach Fux’ Gradus ad Parnassum unterrichtete, verwarf Albrechtsberger die sogenannten «Kirchentone» als altes Geriimpel. Die wider- sprechenden Ansichten verschiedener Harmoniker, von denen jeder die seinige vertheidigte ohne sie als die ausschliesslich richtige behaupten zu konnen, das musste in Beethoven’s Gefiihl denn doch die Empfindung zeitigen, dass es noch Gesetze geben miisse, die noch nicht entdeckt sind. Aus- gestattet mit einer musikalischen Begabung, wie sich eine solche die Natur nicht einmal jedes Saculum abgeizen lasst, durchtrankt von der Musik in allen Formen, versehen mit einem Riesenschatz musikalischen Materiales, das er sich durch fortgesetzte Uebung und unermiidlichen Fleiss aufgespeichert hat in seinem Inneren, concentrirt in seinem Fiihlen und Denken, ausgeriistet mit einem eisernen Willen, machte er sich auf die Entdeckungsreise nach diesen Gesetzen. Und so ward er, suchend und findend, verknupfend und losend, und wo das nicht gehen wollte, wohl auch selbstherrlich Baufalliges beseitigend und Neues schaffend, derjenige Pfadfinder, der grosse Beethoven, der unerreichte Tonschopfer, dem es in der Ueberzahl der Falle gelang, sein ganzes subjectives “Ich» in die Tonwerke zu versenken. 22 Ausserdem ist zum Verstandniss seines Wesens noch die iiberaus vollkommen ausgebildete Receptivitat fur die Aussenwelt und deren Eindriicke, sowie die Fahigkeit, sich in andere Charaktere hineinzufinden, wenn es galt, sich kiinstlerisch mit ihnen zu assimiliren, in Riicksicht zu ziehen. Von der Stimmung des Augenblickes wurde Beethoven immer beherrscht, ganz besonders bei seinen kiinstlerischen Arbeiten; er hat gleiches Verstandniss fur das Schone und Sanfte sowie fur das Gewaltige in freier Gottesnatur, und die Regungen der Frauenseele lassen ihn keineswegs unbeeinflusst. Ist es da zu wundern, wenn die Verschiedenheit in seinen "VVerken eine lange Scala von merklich abgetonten Abstufungen aufweist? Nun summire man die Einzelposten dieser Skizze seines Entwicklungsganges und seines — soweit davon bei Beethoven die Rede sein kann — abgeschlossenen Inneren als Mensch und als Kiinstler! Da steht vor uns ein in jeder Hinsicht subjectiver Charakter, mit ungeniigender literarischer und allgemeiner Bildung, mit immer einseitigen, seiner Individualitat entsprechenden, oder besser, zusagenden politischen, religiosen und socialen Anschauungen, die er sich aus seinem Haupt- gewahrsmann Herder zurechtgemacht, mit triiben, ja schmerz- lichen Erinnerungen an seine Jugendzeit, in Folge dessen schon von vorneherein in sich gekehrt, unfahig, das Weh, das er im Busen tragt, ohne recht zu wissen, woher es eigentlich stammt, durch Mittheilsamkeit an Freunde oder in einer wohl- thatigen Thrane abzuleiten, gequalt vom Bewusstsein der sich immer steigernden Schwerhorigkeit und von einer dunklen Ahnung, dass sie zu einer existenzbedrohlichen Katastrophe fuhren konnte, bevor seine Kiinstlermission erfiillt werden wiirde. Dadurch reizbar geworden und im Bewusstsein seiner Vollkraft als schaffender Tonkiinstler, stiirmt er mit stahlemem Willen auf sein Ziel los; seine Natur wird leidenschaftlich, vulcanisch, eruptiv; jede Geistesregung durchfahrt den ganzen Korper und zieht denselben in die Mitleidenschaft: zum Segen der Kunst, fiir die Umgebung mitunter peinlich, fur ihn selbst oft von triiben Folgen. Er ist einsam, ohne ein liebendes Herz, das seine Gemiithstiefe ausfiillen wiirde, ihn ganz und gar verstiinde, wie er verstanden werden miisste, dagegen eine Welt von Verehrern und Bewunderern, die seine Kunst fordern 23 und sein berechtigtes Selbstbewusstsein ihm erhalten. In seinen Werken erklimmt die Classicitat der Formenschonheit, der Formlogik und der Ausdrucksfahigkeit ungeahnte Hohen, ist aber dabei natiirlich; oft muhselig gefunden, nie ergriibelt. Seine Muse tritt aber der Welt in vielfacher Beziehung ver- hiillt entgegen und arbeitet, besonders in seiner letzten Periode, fast mochte ich sagen mit metaphysischen Tonvorstellungen in Combinationen und Complicationen, an deren Losung sich die moderne Zeit mit ihren Mitteln versuchen mag. Das nun ist Beethoven — in schwachen Umrissen, un- zusammenhangend, unzureichend markirt — ein Vulcan, der mehrere Titanenkrafte in sich birgt, mogen sie auch nicht gleich- massig ausgebildet und zur Thatigkeit gelangt sein. Eine \viirdige, schwierige, aber auch lockende Aufgabe, diese Natur bildkiinstlerisch so zu darzustellen, dass die erwahnten Cha- raktereigenthiimlichkeiten erfasst und unter einem Gesichts- punkte verstandlich erscheinen, eine Aufgabe, die Klinger’s vollkommen wiirdig ist. III. Dem Menschen und dem Kiinstler Beethoven steht nun der Mensch und der Kiinstler Klinger gegenuber. Der erstere abgeschlossen, historisch, der letztere in voller Entwicklung, eine bedeutende Tagesfrage. Naturgemass lasst sich liber Klinger nicht so viel sagen wie iiber Beethoven; er ist in steigernder Entfaltung; manches bei ihm ist gewesen, manches ist Angelegenheit der Zukunft, wie wir hoffen. Der nunmehr 45jahrige Kiinstler ist ein Leipziger, ein Kind der poesieiosen, niichternen Biicherstadt, einer Statte rastlosen Hastens, physischer und maschineller Arbeit und rauchender Schlote, ein Stammling von «Klein-Paris». Als Wiegengabe erhielt er das werthvolle Geschenk materieller Un- abhangigkeit. Eine von der brutalen Alltaglichkeit unberiihrte Kindheit an der Seite fiirsorglicher Eltern, eine ausgeglichene Erziehung, moderne Bildung, gesellschaftliche Beziehungen hatte Klinger vor Beethoven voraus. Aber nicht nur das; sein Vater hatte selbst kiinstlerische Neigungen und Lieb- habereien und vererbte die ersteren auch auf den Sohn. Von 24 Kindheit auf beschaftigte sich Klinger mit Zeichnen, wodurch sich sein friihzeitig rege gewordener Formensinn documentirte. Die Schule vermittelte ihm die Grundlage classischer Bildung und classischer Anschauungen und Empfindungen. Da er aus seinen Talenten keinen »eintraglichen Artikel« zu machen gezwungen war, ergriff er, nachdem er als 16jahriger Jungi ing die Mittelschule verlassen hatte, das Studium seiner Neigung auf der Kunstschule zu Karlsruhe, ohne jedoch lange dort zu bleiben. Mit seinem Lehrer Gussow zog er schon 1875 nach Berlin zur Fortsetzung seiner Studien auf die Kunstakademie. Aber Gussow konnte ihn nicht mehr befriedigen; 1879 verliess er dessen Atelier und beschaftigte sich mehr mit dem Radiren. Die Berliner Studienjahre festigten bei Klinger jedenfalls das kiinstlerische Konnen, obschon sie ihm kaum das bieten konnten, was er, ein tief empfindender, von Idealen begeisterter junger Mann, von ihnen erwarten mochte. Aber der Aufenthalt in der Metropole des Deutschen Reiches gab ihm Festigkeit und Durchbildung seines Charakters und liess unter der An- regung von gleichbegeisterten jungen Leuten manche Maxime reifen, manchen Grundsatz fiir das Leben festigen. Seit dem Jahre 1879 wanderte Klinger ziemlich unruhig umher, sich einen Wohnort suchend, der seinen kiinstlerischen Bestrebungen entsprache. Im Jahre 1879 ubersiedelte er nach Brussel, 1880 nach Miinchen und wollte, wenn ich eine Stelle der Georg Hirth’schen »Aphorismen« recht verstehe, von da nach Wien ziehen. Es heisst dort: «Max Klinger, Du willst nach Wien gehen? Zeuch hin, vieledler Meister, aber hiite Dich vor den schonen Wienerinnen, diesen schmiegsamsten und geschmachsten Deutschinnen, und mehr noch vor jenen ,deutschen' Mannern an der mittleren Donau ...» etc. Klinger kam nicht, um in Wien standigen Aufenthalt zu nehmen und hat sich hoffentlich von dieser Apostrophe Hirth’s nicht be- irren lassen, sondern ist hoheren Riicksichten gefolgt, wenn er 1881 seine Schritte wieder nach Berlin lenkte, wo er bis 1883 blieb. Von da zog er nach Pariš (1883—1886), von dort wieder nach Berlin zuriick (1887—1888), um schliesslich noch in das gelobte Land der Kunst, nach Italien zu ziehen, wo er nur dem Studium der italienischen Meister lebte. Nun hat er in seiner Vaterstadt festen Fuss gefasst, wo er seine nicht gewohnlichen Talente entfaltet. — 25 Klinger ist eine iiberaus empfindsame, receptive Natur, ohne jedoch unter die Botmassigkeit jener Vorbilder zu ge- langen, die ihn gerade anregen. Neben Thoma und Bocklin ist er einer der hervorragendsten, wenn nicht der bedeutendste Ver- treter der «plantastischen» Kunst. Seine Hauptmacht liegt in der decorativen Richtung. Beim Festlegen seiner Ideenfiille kommt er selten zu voller Ausgestaltung einer einzelnen Composition oder bleibt auch dann, wenn er an einem kiinstlerisch ab- gerundeten Gedanken langere Zeit festhalt, um ihn zu be- arbeiten, seinen Principien nicht immer treu. Die Durchbildung der Form lasst er ofter bleiben — ganz im Gegensatze zu Beethoven. Manches davon mag wohl auch auf Rechnung der seinerzeitigen «verkehrten Lehrmethode» der Berliner Kunstakademie zu setzen sein, wird aber hoffentlich nach und nach schwinden. Wie Beethoven setzt sich auch Klinger im Bereiche seiner Kunst uber manche festgelegte Form und abgeniitzte Formel hinweg und setzt Selbstgefundenes an deren Stelle. Ueberdies ist Klinger auch vielseitig, wie kaum ein Kiinstler unserer Zeit. Er ist Maler, Radirer, Bildhauer, Schriftsteller, Musiker. Auf dem Gebiete der darstellenden Kunst diirften ihm nur Geyger und Stauffer am nachsten kommen. Angesichts dieser Thatsachen liegt die Versuchung wahrhaftig nahe, Klinger mit dem gewaltigen Michelangelo zu vergleichen. Jeder Vergleich hinkt ja bekanntlich; aber wenn wir die Vielseitigkeit beriicksichtigen, ist das tertium compara- tionis wirklich gefunden. Und doch muss man sofort wieder ausrufen: Leider! Leider ist der Michelangelo unserer Zeit Max Klinger! Aber die Zeit haben wir nicht gemacht, und Klinger ebensowenig. Einer der Verglichenen bleibt ja doch immer grosser, und in diesem Falle bleibt es halt Michel¬ angelo, schon deshalb, weil er eine grossere, gewaltigere Zeit fiir sich voraus hat. Die religiosen Anschauungen Klinger’s, die bei seinen Werken mitunter eine ganz bedeutende Rolle spielen und den asthetischen und formalen Inhalt seiner Kunstschopfungen beeinflussen, wenn nicht geradezu bestimmen, kenne ich nicht. Sie diirften aber uber ein gewisses Mass von asthetisch- kiinstlerischer Auffassung kaum hinausgehen. Die Grundlage bildet zweifelsohne der moderne protestantische Rationalis- mus. Selbst dann, wenn die Anregung von irgend einer anderen 26 Seite kommt, wie z. B. von italienischen Quattrocentisten und Cinquecentisten, spricht dieser bei der Anlage der Kunst- schopfungen Klinger’s gewaltig mit, beispielsweise bei der «Pieta» und bei der «Kreuzigung». Zwischen Klinger und Beethoven Hessen sich sogar mehrere Beziehungen positiver Natur feststellen. Beide sind in ihrem Empfinden und Auffassen subjectiv, beide gehorchen dem ihnen innewohnenden Gesetze weit mehr, als der hergebrachten Norm und Art; beide sind auf der Suche nach neuen Kunstmitteln und leiten dieselben aus dem Wesen ihres Kunstzweiges ab; beide verfugen iiber eine respect- fordernde Gedankentiefe und halten vielfach zah an dem einmal gefassten Plane und beide streben auch Classicitat der Form an; beide konnen aus dem anscheinend Gering- fugigen grosse kiinstlerische Gedanken schopfen. Nach alledem ist man wohl zur Erwartung berechtigt, dass Klinger den grossen Menschen, aber noch grosseren Kunstler allseitig erfasst und ihn auch so dargestellt habe; es war ja eine seiner Bestrebungen, seiner Bildung, seines kunstlerischen Wollens und Konnens wiirdige Aufgabe. IV. In dieser Hinsicht mochte man es bedauern, dass Klinger nicht auch in Wien sich niedergelassen hatte, um die ineinandergreifenden Potenzen an Ort und Stelle zu studiren, die Beethoven zu dem gemacht haben, was er ist; und was er heute der Kunstwelt ist, das ist er bei uns in Wien geworden. Klinger mit seiner modernen Erziehung ist natiirlich ein kritischer Geist, ein Rationalist, als Kunstler ein phantastischer Realist. Die Philosophie des Kampfes um das Dasein ist ihm nur von aussen her bekannt, und jene Verhaltnisse und Thatsachen, aus denen er sie lernt, haben fiir ihn naturgemass immer eine Potenz kunstlerischen Inhaltes. Er ist der Gross- stadtmensch, gewohnt, alle Anforderungen des modernen gesellschaftlichen Lebens, wenn es sein soli, zu erfullen. Von Jugend auf mit allen Hilfsmitteln geistiger und materieller Art, die uns dieses vielfach erzwungene, vielfach aber auch als natiirliche Consequenz sich ergebende moderne Stadtleben 27 fristen helfen, vertraut, — wie es z. B. die Strassenbahnen, Postverkehr, die Eisenbahnen, das heutige Vereinswesen, die staatlichen und stadtischen Einrichtungen, die Politik mit ihren Anregungen, Aufregungen und Depressionen, der Geldverkehr und tausend andere Dinge sind — bildet er zur Zeit Beethoven’s einen Gegensatz, aus dessen Kernmaximen er nicht heraus- kann. Diese Dinge, die dem Menschen anerzogen und bei ihm zu Fleisch und Blut werden, kann doch keine Bildung, so umfassend und intensiv sie sein mag, paralysiren. Nur die Phantasie vermag uns liber diese Hohen der Erziehungs- resultate noch bis zu einer bestimmten Grenze hinwegheben. Und Klinger ist »Phantasiekiinstler*. Lasst uns sehen, welche Resultante sich bei seinem »Beethoven® aus den beiden wirkenden Kraften: der modernen Bildung und der Phantasie ergeben hat. Klinger ist, wie schon vorher angedeutet, auch Musiker. Beethoven’s Tonschopfungen, die er selbst reproducirte oder in den beriihmten Gewandhaus-Concerten interpretiren horte und denen er so manche Stunde der idealsten Erhebung ver- dankt, mussten in seiner Seele eine nicht gewohnliche Ver- ehrung fiir den Tonfiirsten zeitigen. Ein Kiinstler, der dem anderen in Bewunderung gegeniibersteht — wahrhaft ideal schon! Doch Klinger ist, wie fiir sich selbst, so auch fiir andere subjectiv. Er hat den Gedanken gefasst, Beethoven in einem Kunstwerke zu verherrlichen — er war damals BO Jahre alt — und entwarf sich auch eine plastische Skizze. Der Grund- zug derselben ist auch in der Ausfiihrung geblieben. Dieser Beethoven ist nun aus den Tonen nach der ganz individuellen Klinger’schen Auffassung derselben heraus- construirt. Fiir Klinger ist ja dagegen nichts einzuwenden; aber wenn man das kunstconsumirende Publicum, fiir welches ja Klinger nach seiner eigeneit Enunciation ausschliesslich arbeitet (Malerei und Zeichnung, 1895, S. 54), in Beriick- sichtigung zieht, dann beginnen sich doch erwagende und priifende Gedanken dariiber zu formen, ob diese Auffassung dem grosseren Theile des Publicums gelaufig, annehmbar, moglich sei. Wenn es gilt, Beethoven nur aus seinen Tonwerken herauszubilden, dann ist das Werk verfriiht. Diese eine Auf¬ fassung muss nothwendig auf ebensoviel gegentheilige und 28 abweichende Auffassungen, auf ebensoviel Widerspruche und Correcturen gefasst sein, als selbststandig urtheilende Be- schauer das Kunstwerk und den Hauptgegenstand der Dar- stellung betrachten. Beethoven ist noch nicht erforscht, noch nicht erkannt; die griindliche Beethoven-Forschung ist eine Aufgabe des XX. Jahrhunderts. Es geniigt nicht, mit auf- gepulverten Dithyramben um sich zu werfen, verschleierte Vergleiche zu ziehen, moglichst haarstraubende Deutungen zu versuchen, selbstherrlich Anschauungen zu dictiren. Ernste, griindliche und fachgemasse Arbeit wird uns erst iiber die Grundziige mancher Tonwerke Beethoven’s aufklaren, von \velchen wir heute nicht einmal das wissen, ob sie pro- grammatische oder absolute Musik, oder beide Arten und in welcher Zusammensetzung enthalten. Bei solchen Grossen ist eine gut begriindete Dogmatisirung der Erklarungen nicht nur wiinschenswert, sondern geradezu nothwendig. Klinger hat es verschmaht, einen durchgeistigten Durch- schnitts-Beethoven, d. h. ein Bild desselben zu schaffen, das den Brennpunkt aller bisher versuchten kiinstlerischen Auf¬ fassungen seiner Aeusserlichkeit und seiner Innerlichkeit entsprochen hatte. Er hat sich mit einer aus den Ton- schopfungen abgeleiteten Idealgestalt versucht. Die natiirliche Folge dessen war, dass der Mensch Beethoven sowie sein geistiger Theil, der nicht die Tonwelt bedeutet, verloren gehen mussten. Klinger hat somit nur einen Theil Beethoven’s dargestellt, und auch diesen in der subtil subjectiven eigenen Auffassung, so dass nicht einmal die Tonwelt in ihrer Reci- procitat und der sich daraus ergebenden objectiven Charak- teristik berucksichtigt erscheint. Die Scala von Beethoven’s Tonplastik ist unterdriickt, es erscheint nur das «potissi- mum», aber ohne die richtige Grosse. Die kurze, aber mar- kante Skizze, welche Grillparzer in divinatorischer Ahnung in der Leichenrede niederschrieb, gilt heute vielleicht mehr als am Grabe Beethoven’s: «Vom Girren der Taube bis zum Rollen des Donners, von der spitzfindigsten Verwebung eigen- sinniger Kunstmittel bis zu dem furchtbaren Punkte, wo das Gebildete iibergeht in eine regellose Willkiir streitender Natur- gewalten, Alles hat er durchmessen, Alles erfasst. Der nach ihm kommt, wird nicht fortsetzen, er wird anfangen miissen; denn sein Vorganger horte nur auf, wo die Kunst aufliort.* 29 Mit diesem wirklich riesenhaften Geistesgehalt ist nun Beethoven auch dem genialen Klinger iiber den Kopf ge- wachsen; er hat den Mann, »Dem ein Gott in die Seele gegossen Einen Tropfen der Ewigkeit», noch viel zu einseitig, zu endlich, zu zeitlich gefasst. Gegen die Darstellung nach einer subjectiven Auffassung ist zwar nichts einzuwenden; wenn es sich um ein Kunstwerk als solches handelt, schon gar nicht. Bei Klinger vielleicht noch weniger, als bei anderen Kiinstlern; denn der Grundzug seiner Kunst ist subjective Phantastik. Aber bei Beethoven ist denn die Sache doch noch ein wenig anders. Zunachst gehort Beethoven nicht nur Klinger allein, nicht nur Wien, nicht Bonn, nicht Deutschland und unserer Zeit allein, er gehort allen Landen, aller Welt, allen Menschen, der Zukunft — er ist im besten Sinne des Wortes universal, international, bleibend. Und da Klinger — in wirklich hoher Auffassung seiner Mission — nur fiir das Publicum schafft, muss er in solchen Fallen auch mit ihm und mit seinen Rechten rechnen. Die Menschen und die Zukunft werden auch im Werke Klinger’s keineswegs dessen subjectiv em- pfundene Charakteristik einer von den Toneindriicken ab- geleiteten Idealgestalt des Tonkiinstlers suchen, sondern sie werden den Tonheros, den Menschen, das Kind seiner Zeit schauen wollen. Denn das Kunstwerk ist nicht nur fiir den Augenblick geschaffen, sondern — was ja Klinger wohl selbst am meisten wiinschen muss — fiir die Zukunft bestimmt. Diese wird aber nicht nur das Kunstwerk als solches gelten lassen — es ware das gegen alle Empirik — sondern sie wird in dem- selben auch Beethoven in seiner Aeusserlichkeit, in seinem Culturmilieu schauen wollen. Auch wir suchen ja, wenn wir uns iiber einzelne Personlichkeiten, grossere Gruppen der- selben oder iiber die Cultur bestimmter Zeiten belehren und uns in die Verhaltnisse hineinfinden wollen, nach Vorbildern, die der Wirklichkeit entnommen sind, um uns mit ihrer Hilfe in das Wesen, in das Milieu zu versenken. Welch treffliche Dienste leistet uns da nicht der naive aber realistisch wahre mittelalterliche Anachronismus! Wenn das Mittelalter und noch ein ganz bedeutender Abschnitt der Renaissance histo- rische Stoffe anachronistisch behandelten, so haben sie ge- 30 schichtliche Scenen freilich unrichtig dargestellt; aber die Zeit, in welcher die Darstellung entstand, ist verlasslich wieder- gegeben. Jene Zeiten und deren Kiinstler hatten hiefiir aber einen ausreichenden psychischen Grund: sie waren mit dem Dargestellten geistig so innig verwachsen, dass sie dasselbe bei jeder Wiederholung gleichsam miterlebten, wie unsere Kinder die Marchen, die sie eben lesen, ja auch miterleben. Und dieser Grund macht sich auch fiir uns geltend: wir wollen Beethoven sehen, mit ihm leben, mit ihm seine Zeit und das- jenige, was in ihr an unserem Meister Zeitliches war, mit- geniessen, wir wollen ihn, den grossen Tonschopfer, von An- gesicht zu Angesicht sehen, um uns in sein Wesen besser hineinzufinden. Hier geniigt nicht das Kunstwerk als solches, es ist nicht einerlei, ob der Dargestellte Endymion oder Beethoven ist, wir wollen, da uns Klinger sagt: »Das ist Beethoven«, diesen auch wirklich sehen, nicht ein Kunstwerk, das unseren Beethoven bedeutet. Diese Forderung wird die Zukunft noch entschiedener stellen; je weiter sich die Zeiten voneinander entfernen, desto grosser ist das Bediirfniss nach verlasslich realistischen Fassungen solcher Darstellungen, weil sie der neueren Zeit als Fernrohr dienen, durch welches sie die Vergangenheit schaut. Nun ist Klinger bei seinem »Beethoven« weder historisch noch anachronistisch zu Werke gegangen; das Letztere ware allerdings seiner nicht wiirdig gewesen. Dieser Mangel an historischer Realistik tritt ganz be- sonders in Wien, wo Beethoven eben der grosse Beethoven geworden ist, zu Tage. Das Bild, das uns Klinger geschaffen, scheint Beethoven sein zu sollen — aber wenn man sich in diese Ziige vertieft, dann beginnt man aber auch schon zu vergleichen und nachzudenken, bei welcher der uns bekannten Personlichkeiten wir schon diese Formen gesehen haben. Der Kopf sieht einem protestantischen Pastor, in dessen Profil der Kinnpartie so etwas Gustav-Mahlerartiges hinein- kam, am ahnlichsten. Beethoven’s Nase, die Benedict so trefflich als «viereckig, wie die eines Lowen«, geschildert hat ist von Klinger in eine hochriickige gegen alle historische Ueberlieferung gleich an der Wurzel schmal, wenn auch kraftig ansetzende und am ganzen Riicken gleich breit verlaufende umgedichtet worden. Die Oberlippe ist flach abgefallen, als ob Beethoven einen zahnlosen Oberkiefer hatte, wahrend es 31 doch bekannt ist, dass Beethoven’s Zahne schief gestellt waren, die Oberlippe also gewolbt sein musste. Verleugnet sind ferner die Kinnbackenknochen in ihrer derben Starke, unterdriickt die »Muschelfalten« auf dem breitenKinn in ihrer charakteristischen Gestaltung. Wir vermissen die von der Bettina Arnim als »himmlisch«, vom Maler Mahler aber weniger poetisch, «wie eine Kugel« geschilderte Štirne; sie verlauft in den Gesichts- dimensionen nach allen Seiten. Die Gestah des Korpers ist fast gracil mit einem Beigedanken an Decrepiditat hingestellt; von den untersetzten Proportionen des historischen Beethoven ist nichts zu sehen. So liessen sich noch eine Menge histo- risch festgelegter Einzelheiten von Beethoven’s Aeusserem angeben, die wir am Bildwerke Klinger’s vergebens suchen, sie aber in unserer Seele tragen und mit der Vorstellung »Beethoven« unzertrennlich vereinigen. Es ware keine zu grosse Schwierigkeit, und selbst des in Material dichtenden Klinger vollkommen wiirdig gewesen, wenn er es versucht hatte, aus den iiber ein halbes Hundert zahlenden, zu Lebzeiten Beethoven’s angefertigten Portrats einen »Durch- schnitts-Beethoven« herzustellen — aber natiirlich nicht durch Verleugnen, sondern durch Aufnahmh und positive Ver- arbeitung der in jenen Bildnissen aufgespeicherten Einzelheiten. Ebenso wie die Bilder konnten dann die verschiedenen Beschreibungen von des Tonkiinstlers Erscheinung, die von ihm nahestehenden Zeitgenossen herriihren, liber manchen Zweifel hinweghelfen. Diese beiden Hilfsmittel waren ja leicht zu haben, da sie ja vom Beethoven-Forscher Theodor v. Frimmel, der als Mediciner, Kiinstler, Kunsthistoriker und Musiker zu- gleich ein Urtheil liber solche Dinge so competent abgeben kann, wie kaum ein Anderer, in seinem »Neue Beethoveniana« betitelten Buche zusammengestellt sind. Auch in diesem Falle, wenn man die historische Treue wahrt, ist es fiir einen Kiinstler immer noch moglich, dem Kunstwerke seine In- dividualitat aufzupragen. Alle Kiinstler, die bisher fiir den Continent Beethoven-Statuen geschaffen haben, bewiesen das. Welch ein Unterschied zwischen der kiinstlerischen Auffassung Franz Klein’s und Schaller’s, zwischen jener Dietrich’s und Fernkorn’s! Wie hat sich Hahnel und wie Zumbusch den Tontitanen gedacht! — Und doch — man findet trotz der verschiedenen Grundfassung Beethoven immer wieder, in 32 immer anderer Detailbeleuchtung, wenn uns diese auch, be- sonders in den ersten Biisten, mit ihrem kiinstlerischen Gehalt nicht ganz zu befriedigen vermag. In neuester Zeit ist man dem Wesen Beethoven’s naher- getreten und als erster Versuch ist die Statue von Francesco Jerace zu nennen. Mag auch das Kunstwerk nicht ganz ent- sprechen, aber es ist jedenfalls gross im Wurfe, deutlich in seiner kiinstlerischen Didaktik, klar in seinen Vergleichen und Anti- thesen. Scharf und concis hat es Gius. Mantica umrissen mit den Worten: »Beethoven, che si agrappa ad una roccia alpestre, sul mare sonante, e transumanato e convulso, come agitato dal nume, cerca strappare alla Natura le sue mille mirabili voci: e tutto un mondo vastissimo, eletto, vivente della vita piena e varia, che ha saputo transfondergli l’alta coscienza di un artista sincero e possente.» Ob Jerace’s originelle Idee irgendwie anregend war fur Rodin’s Victor Hugo-Statue, vrage ich ebensowenig zu entscheiden wie die mogliche Frage, ob die geballte Faust der linken Hand an seiner Beethoven-Statue mit der Klinger’schen Ausfuhrung nicht in einem ferneren Grade der Verwandtschaft steht. Freilich findet Klinger Vertheidiger genug, die einfach vor dem Fali als einem gegebenen stehen bleiben und die eben angefiihrten Desiderata einfach dadurch aus der Welt zu schaffen suchen, dass sie einwenden: Klinger wollte ja nicht den «gewohnlichen» Beethoven, sondem er wollte dessen Geist mit der Maske des Meistefs darstellen. Moglich — aber — weder glaublich noch gelungen. Die Maske hat ja Beethoven’s charakteristische Zuge nicht! So fehlt uns Beethoven, auf den es schliesslich doch ankommt, dennoch. Und dann be- handelt Klinger beispielsweise die Kreuzigung angeblich «historisch» richtig. Wie erklaren jene Deuter diese kiinst- lerische Incongruenz? Einmal ideal-allegorisch, dann — und dies gerade bei Nebensachlichkeiten — historisch-kritisch? Nein. Und was solite dieser Geist auf dem Throne, der die Fauste ballt und gespannt den Tonen in der Ferne lauscht? Ein Geist producirt aus sich selbst. Oder soli es ein Heros, d. h. ein verklarter Mensch sein? Dann brauchen wir wieder vor Allem die Ziige dieses bestimmten, verklarten Menschen. Ausserdem hat die Korperbildung nichts Heroisches; und dasjenige, was an Beethoven’s Geist heroisch gross war, was 33 wir in dessen Werken als solches empfinden, vorab die Macht der Eroica, die Gewalt der neunten Symphonie, die gloriose Grosse der Missa solemnis — das Alles fehlt, das ist unsichtbar; das Gewaltige vermisst man. Um uns den Geist Beethoven’s als solchen und allumfassend nahezu- bringen, gibt es kein anderes Mittel, als die Vorfiihrung seiner Werke; nur aus diesen spricht der Geist in seiner charakteristischen Grosse! Dann allerdings ware unter diesen Bedingungen kein Denkmal moglich, und die bildende Kunst ware beziiglich dieses Zweiges ganz ausgeschaltet, wenn man dieses einzig richtige Princip generalisirte. Denn der bilden- den Kunst steht nun einmal nur die Formenwelt als Ausdrucks- mittel zur Verfiigung — daher eben »darstellende Kunst® — womit sie physisch auf unser physisches Auge wirkt. Will der Kiinstler ganz bestimmte Vorstellungen von festgelegten Dingen und Wesen in uns hervorrufen, dann muss er nothwendig mit solchen Formen arbeiten, die unser Auge zwingen, ein ent- sprechendes Bild in der Seele zu vermitteln; denn das Auge abstrahirt nie. Und ist einmal durch das physische Bild dem geistigen »prajudicirt®, dann ist es aus mit der richtigen Vor- stellung, wenn die vermittelnden Formen im Material mit den zu erzeugenden geistigen Vorstellungen incongruent sind. Wie verschieden kann und muss der Ausdruck an der Statue Beethoven’s gedeutet und empfunden werden! Nichts, gar nichts von dem, was fur Beethoven allein charakteristisch ist, wovon seine ganze Riesengrosse abhangt, ist am Kunstwerk zu finden: es fehlt jede Andeutung des specifisch Musi- kalischen. Denke man sich nur die Figur mit moderner Kleidung angethan, da hatte man einen Herrn vor sich, der in einem Salon sitzt und einer spannenden Intriguengeschichte lauscht, oder einen Theaterbesucher, der mit voller Spannung der dramatischen Entwicklung folgt. Und belassen wir ihn so, unbekleidet wie er ist, da kann man sich ebensogut einen griibelnden Philosophen vorstellen, der iiber ein wichtiges »Problema® grubelt, wie einen Intriguanten, der Racheplane schmiedet. Das rein Musikalische, die Domane des Gehorsinns, kann durch die Formen, die durch das Auge wirken, nicht vermittelt werden, es sei denn mittelbar, durch Andeutungen von Vorgangen und Gegenstanden, mit denen sich die Musik in unseren Vorstellungen nothwendig verbindet. 3 34 Die Mangel scheint Klinger empfunden zu haben und brachte deshalb an den Flachen des Thrones symbolisirende Dar- stellungen in Basrelief an. Aber was haben diese mit Beethoven zu schaffen? Die Quintessenz derselben sind — bei aller Viel- deutigkeit der Einzelheiten sowie ihrer reciproken Beziehungen — doch die beiden Begriffe von Heidenthum und Christen- thum, die sich in Beethoven verkorpert hatten und als deren Ausdruck einerseits die neunte Symphonie, andererseits die Missa solemnis anzusehen waren. Ich habe mich oben mit Beethoven’s Werdegang eingehender beschaftigt, um seine Seele dem objectiven Verstandnisse naherzubringen. Daraus geht aber hervor, dass weder das Christenthum noch das Heidenthum irgendwie Wurzeln gefasst hatte, sondern dass die Anregungen und die Begeisterung von ausseren Einfliissen oder von asthetischen Erwagungen, unberechenbar, meist von einem gnadenreichen Augenblicke ausgingen. Mitunter sind es auch ganz menschliche Beweggriinde gewesen, die zu manchem Werke, wie z. B. zur Missa solemnis, die Anregung gaben. Dieses Werk verdankt zumindest ebensoviel von seinem Entstehungsgrund der Riicksicht auf den hohen Patron Beethoven’s, Erzherzog Cardinal Rudolf, wie den pompos- prachtigen und mystisch-logischen Cultformen des katholischen Pontificalamtes. Und — wie war es doch mit J. S. Bach’s hoher Messe? Dazu braucht keine Culturanschauung das Wesen eines Kiinstlers zu durchdringen — weder das Heiden¬ thum noch das Christenthum. Gehen aber diese beiden Cultur- anschauungen nicht iiber das asthetische Empfinden hinaus, dann gehoren sie nicht zum Wesen Beethoven’s, obschon sie fiir sein Schaffen ausreichen. Aber nehmen wir einmal die Reliefs wie sie sind. Auf der Riickwand die Kreuzigung, darunter die Schaumgeborene entsetzt, neben ihr eine Gestalt der antiken Welt, die kaum eine bestimmte Deutung zulasst. Die ganze Darstellung hangt mit Klinger’s «Christus im 01ymp» in so engen Beziehungen, dass ich nicht anstehe, mir von dorther die Erklarung zu holen. Meiner Ansicht nach wollte Klinger sagen: Durch die Kreuzigung ist die alte Welt (Venus) untergegangen, eine neue (neben der Venus emportauchende Frauengestalt, die mit jener auf der rechten Seite am Rahmen des genannten Gemaldes fast Alles gemein hat) erstand. Derjenige, der auf dieses Factum hinweist und die kiinstlerische Vermitt- 35 lung der beiden Theile iibernimmt, ist der heilige Johannes. Bei dieser Gelegenheit will ich nur noch das eine beriihren, dass die Kreuzigungsscene, ein fiir Millionen heiliges Sujet, durch diese kiinstlerische Behandlung etwas Brutales, ja Abstossendes und asthetisch entschieden Minderwerthiges erhielt. Selbst dann, wenn es sich wirklich nachweisen liesse, dass diese Art der Kreuzigung, bei welcher der Gekreuzigte auf einen hori¬ zontal in den Kreuzesstamm eingerammten Pfiock rittlings gesetzt worden ware, bei den Alten entweder allgemein ge- brauchlich gewesen sei oder dass sie bei Christus speciell Anwendung gefunden habe, hatte der Kiinstler die grause Wahrheit umsomehr mindern konnen, als er ja einen ent- sprechenden, aus der kiinstlerischen Tradition abgeleiteten Usus fiir sich gehabt hatte. Aber er ist gerade hier den radical-rationalistischen, zugleich aber auch ergebnisslosen Darlegungen Hermann Fulda’s gefolgt. Das Buch ist zweifelsohne interessant und hat in die Kritik wohl manche Anregung gebracht; aber Fulda ver- schweigt manches, was schon langst besprochen und bekannt war. Was den Pfiock betrifft, so ist fiir denselben eine ein- zige Originalstelle, jene bei Justin, im Dialog mit Tryphon (Capitel 91) beizubringen, also in einem — von Paul Schumann, dem neuesten Deuter Klinger’s perhorrescirten — Kirchen- schriftsteller des II. Jahrhunderts (ca. 100—165 n. Chr.). Alle an- deren, von Irenaeus und Tertullian angezogenen Stellen gehen auf jene Justin’s zuriick. Bei dieser nun kommt es auf die Ueber- setzung, respective Auffassung eines einzigen Wortes an. Die Stelle heisst: «Kai zb iv pisat;) OT]yvd[xsvov, d>? žepa? zai aoro e£eyov sativ, sep’ m STto yrjv>')zo.i o l aza upoiijisvot. Kal pisTOrai d)? žepa? zaž ao to aov roče allv.c zepaat aovsa)(epiattap,evov zal ze7t7]Yp,švov». Die Rede ist also von einem hervorstehenden, in der Mitte des Kreuzes angebrachten Theile, von vrelchem die Gekreuzigten gestiitzt \verden. Es handelt sich um die Auffassung des «ev pioijin und um die Uebersetzung des Wortes «eJiv/o!jvTau>. Das letztere heisst worauf getragen werden, dann reiten, fahren. Man hat seit Scaliger, vielfach unter Widerspruch, die zvreite Bedeutung gewahlt, aber sicher ohne ausreichenden Grund. Ein Zeitgenosse Justin’s, der Eklektiker Lukian (circa 125—180 n. Chr.), bietet fiir das Verstandniss des Ausdruckes eine markante, noch nicht herangezogene Stelle im 27. Capitel 3 * 36 seiner Schrift iiber den Tanz, indem er den Schauspieler in einer Tragodie schildert als «žv&p(oiro<;, hifidzcnz 6<|>y]XoT? erco/oo- [isvo?», als einen Menschen, der auf hohen Sohlen (Kothurn) steht. Da kann man denn doch um Alles in der Welt das IrcopofJisvos nicht mit «reitend» oder «sitzend» iibersetzen! Daraus aber geht hervor, dass zu Lukian’s und Justin’s Zeit die An- wendung von iTra^so^a'. in der Bedeutung von »darauf stehen® allgemein bekannt und gebrauchlich war. Auch die Bestimmung »sv jjia(p» = in der Mitte, bietet keine Schwierigkeiten. Der lateinische Dichter Lucanus (38—65 n. Chr.) schildert in einer bekannten Stelle der Pharsalia eine Zauberin, die sich ihre Zaubermittel auch von der Richtstatte holt. Um die Knoten der Seile, mit denen die Fusse an das Kreuz befestigt sind, zu losen, nimmt sie, da die Muskelkraft ihrer Finger nicht ausreicht, das Gebiss zu Hilfe und bleibt, sich in die Knoten verbeissend, an denselben hangen («et nervo morsus retinente pependit«). Es war also iiblich, wenn auch nicht ausschliesslich, den Gekreuzigten etwa mannshoch iiber der Erde zu befestigen. Damit stimmt nun das «£v (jiaip* Justin’s ganz vortrefflich: mannshoch iiber der Erde die erste Halfte, und von den Fiissen des Gerichteten bis zum Kopfe die zweite. Darnach aber kann von einem Reitpflock keine Rede sein, wohl aber tritt das Suppedaneum in seine vollen Rechte. Es ist ein Pflock, auf dem die Fiisse des Gekreuzigten sich stiitzen. Dieser Kreuzestheil ist keineswegs historisch falsch und muss «in der Wirklichkeit» vorgekommen sein, sonst konnte das be- riihmte Spottcrucifht vom Palatin aus der zweiten Halfte des zweiten oder der ersten Halfte des dritten Jahrhunderts, dazu von heidnischer Hand, das alteste Denkmal dieser Art, kein solches aufweisen. Nicht zu iibersehen ist, dass auch dieses Monument zeitgenossisch ist mit Justin und Lukian. Wenn Klinger schon einen so grossen Wert auf die historische Wahrheit legt, dann hatte er auch die Pflicht gehabt, sich dariiber griindlicher zu informiren; etwas mehr Pietat bei diesem Gegenstande hatte ihn sicher weit mehr geziert als dieses einseitige Griibeln. Die rechte Sesselwange enthalt die Darstellung des Siindenfalles nach dem ublichen Hauptmotive, braucht an und fiir sich also keine Erklarung. Die linke Wange hat die Darstellung des Tantalus und einer Danaide (nicht aber eines 37 Tantalidenweibes, wie Schumann meint, die Klinger frei er- funden hatte) bei ihrer erfolglosen Arbeit. Auch diese Dar- stellung bedarf an und fiir sich keiner weiteren Erklarung. Eine andere Frage aber ist, ob und wie diese Darstellungen miteinander zusammenhangen, ob alle zueinander in Beziehung zu bringen sind oder nur einige, z. B. nur die beiden seit- lichen, wahrend die dritte selbststandig bleibt. Ein logischer, ungezwungener Zusammenhang besteht nicht und ist wahr- scheinlich nicht beabsichtigt. Ein Zusammenhang ist nur inso- ferne da, als die grosse Riickwand eine Zweitheilung des Stoffes nach den beiden Culturen, die kleineren Seitenflachen je eine Scene aus je einer der Culturen enthalten. Aber das ist nur ausserlich. Doch was hat das Alles mit Beethoven zu schaffen? Dieser hat doch mit der Entstehung des Christenthums und mit dem Untergang der antiken Welt nichts gemein. Der Sundenfall ist der Moment, in welchem der Mensch Gott gegeniiber ungehorsam wird, eine Schuld auf sich und seine Nachkommen ladet, unter welcher diese leiden miissen. Das ist etwas Allgemeines, fiir Beethoven nicht anders, als fiir alle Anderen, also nichts Charakteristisches. Die Qualen des Tantalus, der neben den herrlichsten Friichten am frischen Quellwasser hungern und diirsten muss, die Danaide, in ein Sieb Wasser zu schopfen verurtheilt, sind Beispiele fiir Be- strafungen wegen der an Gottern und Menschen veriibtenFrevel. Wie kommt der Verfasser des Heiligenstadter Testamentes zu dieser Charakterisirung? Unmoglich. Ich bin zum Schlusse gelangt, dass es sich hier wohl nur um Decoration handeln kann, und ich wiirde im Interesse des Kunstwerkes wiinschen, dass es so sei. Durch die AufFassung Klinger’s und durch Alles, was die Statue Beethoven’s umgibt, erscheint dieser nicht nur ungewohnt, fremd, sondern direct aus seinem culturellen Milieu herausgehoben, ein Umstand, der Klinger mit vollem Rechte vorgehalten wird. Dazu kommt noch, dass Klinger hartnackig jede Er- lauterung seiner Symbolik, seiner Gedanken iiberhaupt ver- weigert. Er thut ganz unrecht daran; unrecht handelt er an sich, an seiner Kunst, an seinen «Kunstconsumenten». Wie viele Deutungen und Deuteleien waren unmoglich, wenn er sein Programm bekanntmachen wiirde! So lange er das nicht tliut, wird er immer missverstanden, verdeutet werden konnen, werden seine Werke, statt Gegenstande ruhigen, asthetischen Geniessens zu sein, immer Gefahr laufen, Zankapfel der Parteien zu werden. Er bedarf aber einer Erklarung, das weiss er wohl selbst am besten. Dariiber hilft kein nervoses Zucken hinaus, wenn man befragt wird, was dies oder jenes bedeute; so lange Peter und Endymion existiren, will man halt wissen, welcher von beiden es ist, den Klinger meint; ware das einerlei, dann konnte ja Beethoven ebenso Peter wie Endymion sein! Solche Andeutungen sind namentlich dann geboten, wenn das Sichhinein finden nicht ganz so leicht ist. Auch die mittelalterlichen Kiinstler waren Phantasten; Wesen und Scenen bildeten sie, die weit hergeholt und in eine voluminose mystische Deutungsserie eingewickelt waren; aber den Leuten wurde der Physiologus, das Passional, die Legenda aurea, die Miracula u. a. erklart und sie verstanden eine poesievolle, freie Phantasiekunst, die uns heute Kopfzerbrechen macht. Deswegen war aber auch die mittelalterliche Kunst im Volke tief eingewurzelt, das Kunstbediirfnis wahrhaft gross, das Kunstverstandnis subtil — und was liber Alles geht — die Kunst war Herzenssache. Gliickliche Kiinstler, die in jenen Zeiten schaffen durften! Wenn wir heute keine Volks- kunst mehr haben >— leider! — so sind daran am meisten die Kiinstler selbst schuld, weil sie sich dem Volke, das allein noch ein grosses, empfangliches und warmes Herz fiir die Kunst hat, nicht mittheilen wollen, weil sie sich zu vornehm diinken, ihre Mission zu erfiillen, weil sie von ihm Unmogliches verlangen durch die Zumuthung, dass es sich in jede Sub- jectivitat hineinfinden soli, das Volk, diese Riesensumme von Individualitaten! Die «ob er en Zehntausend* sind ganz anders geartet; das »noblesse oblige» und kiihle Modeerwagungen sind zumeist Triebfedern des Kunstmacenatenthums. Dadurch mogen einzelne Kiinstler, mitunter wohl auch solche, die es sein wollen, gefordert werden, nicht aber die Kunst. Wenn da einmal ein Mann von den Fahigkeiten Klinger’s, der die Feder ebenso virtuos fiihrt wie sein Kunstwerkzeug, das Wort ergriffe und den Anfang machte, was \viirden wir da erleben! Dann wiirden sich auch die Individualitaten naher treten und es wiirden Kunstwerke von so hohem Werthe, wie es — 39 — Klinger’s «Beethoven» ist, fiir die breitesten Schichten verstand- lich werden, die Kunstler aber wurden die «Durchschnittsseele» mehr beriicksichtigen — es wiirde ein gegenseitiges Erziehen zur Kunst daraus resultiren — auch ein Ziel der Arbeit, der Edelsten werth! Klinger ist ein »Stiirmer und Dranger» auf dem Gebiete der bildenden Kunst, so wie es sein Namens- vetter Max v. Klinger seinerzeit auf dem Gebiete der Lite¬ ratur gewesen ist. Des letzteren Drama »Sturm und Drang» versetzte seine Zeit in helle Flammen der Begeisterung, so dass noch heute jene Literaturperiode darnach benannt wird; wer aber findet heute noch einen Gefallen an jenem Stiicke? Doch die hohe Bedeutung kann ihm nicht abgesprochen werden; es hat eine neue Aera inaugurirt und der modernen Literatur die Grundfesten gegeben. — Wollen wir, auch wenn wir nicht bedingungslos loben, doch die Kunst Klinger’s respectiren und in ihr das suchen, was sie nothwendig werden muss, die Bahnbrecherinin das Gebieteinerneuen, grossen, alle Schichten durchtrankenden Kunst! ^ 7, 'lil. ^ COBISS NARODNA IN UNIVERZITETNA KNJIŽNICA 00000491065