t DAS REICH DER ZAREN UND DIE RUSSEN VON ANATOLU LK\10Y-1JV)A.ULIBU, AUTOEISIRTE DEUTSCHE, MIT SCHLUSSBEMERKUNGEN VHRSEHKNK AUSGABE VON L. PEZOLI) UND JOEL MÜLLKK BAND III. SONDERSHAUSEN. VERLAG von FR. AUG. EUPEL (OTTO KI ROHHOFF), 1880. [nhalt des dritten Bandes. Ernten Buch. Religion und religiöses Empfinden in Russland. Erstes Kapitel. Warum ist dieser Band der Religion gewidmet? — Wissenschaftliches und politisches Interesse der religiösen Fragen. — Ihre besondere Wichtigkeit in einem Staate wie Russland. — Revolution und Religion. - Religiöser Charakter des „Nihilismus" und der revolutionären Bewegung in Russland ............... Zweites Kapitel. Wie es kommt, dass beim Volke das religiöse Empfinden seine volle Stärke bewahrt hat — Die Gründe dieser Erscheinung. — Der Kulturzustand in Russland. — Die Geschichte und die Regierungsform. — Vom russischen Mysticismus und Fatalismus. —- Wo sind deren Quellen zu suchen? — Etwa in der Hasse, im Boden, im Klima? — Einflüsse der Natur und der mittleren Lage. — Die Ebene und der Wald. ■- Die Jahreszeiten. — Die historischen Leiden: Epidemien und Hungersnoth. — Man muss den Mysticismus der Küssen nicht übertreiben. — Welches sind seine Merkmale und seine Grenzen? Häufige Combination von Realismus und Idealismus....... Drittes Kapitel. Von dem Wesen der Religion in Russland. — Ist es wahr, dass das russische Volk nicht christlich ist? — Charakter des religiösen Fühlens bei ihm. — Wie sein Christenthum bisweilen ein äusserliches geblieben ist. Gründe dieser Thntsaehe. — Die Art und Weise wie Russland bekebrt wurde. — In welcher Form der Polytheismus unter dem Christenthum sich erhalten hat. — Slavische Götter und christliche Heilige. — In welchem Sinne das russische Volk ein bireligiöses ist. — Christliche Riten und heidnische Begriffe. — Beharrlichkeit des Hexenwesens. — Religion, die wie eine Art Zauberei angesehen wird. — Warum das russische Volk trotzdem nicht weniger als ein christliches zu erachten ist. — Einfluss des Evangeliums auf seinen (iedankenkreis, seine Sitten und seine Literatur........26 Viertes Kapitel. Der Dualismus des gebildeten und des niederen russischen Volkes vom religiösen Standpunkte aus. — Wenn das Volk im Mittelalter stehen geblieben ist, so befinden sich die höheren (Jlassen oft noch im achtzehnten Jahrhundert. — in welchem Sinne der religiöse Zustand liusslands das Gegentheil von dein Frankreichs ist. — Auf welche Weise trägt die Ausbreitung revolutionärer Ideen dazu bei, das gegenteilige Verhnltniss abzuschwächen. — Anstrengungen des Staates zur Befestigung der religiösen Macht. — Von der Rcgiorungs-( Jcistliehkeit. — Die Rolle der Kirche bezüglich der Politik. — Uralte Verbindung von orthodoxem (Hauben und Nationalität. Russland als Beschützer der Orthodoxie. — In welcher Art der Staat, ebenso wie die Nation, einen religiösen und constitutionellen Charakter bewahrt. — Das russische Sclbsthcrrscherthum gewissermassen eine Theokratie ... 44 Zweites Buch» Die orthodoxe russische Kirche. Erstes Kapitel. Allgemeiner Charakter der orientalischen Orthodoxie. — Muss man in ihr die slavische Form des Christenthums erblicken? — Orthodoxie und Pravoslavie. — Von der untergeordneten Stellung der griechisch-russischen Kirche in der Geschichte der Revolution. —Worin ist dieselbe begründet? — Dogmatische Verschiedenheiten zwischen der griechischen und der römischen Kirche.— Gegenüberstellung ihrer besonderen Gesichtspunkte. — Wie kann die Unbeweglichkeit der orientalischen Orthodoxie der Denkfreiheit Vorschub leisten? — Die Verfassung der griechisch-russischen Kirche. — Das Fehlen einer Cen-tralgewalt. — Seine Folgen. — Tendenz, nationale Kirchen zu bilden. Einverleibungen der russischen Kirche und Zerstückelung des byzantinischen Patriarchates. — Der „Phyletismus". — Wie in der orientalischen Orthodoxie die religiösen Kämpfe gewöhnlich politische Streitigkeiten verdecken.................f)('> Zweites Kapitel. Folgen der nationalen Constitution der orthodoxen Kirche. — Einmischung der bürgerlichen Macht. — Wie das innige Verhältniss der Kirche zum Staate für die geistige und politische Freiheit eher ein Hinder-niss gewesen ist. — Vom Gebrauche einer nationalen Sprache in der Liturgie. — Das Kirchenslavische. — Seine Vorzüge für die Entwicklung der Nationalität, seine Nachtheile für die Civilisation — In welchem Sinne nimmt die orientalische Orthodoxie eine Mittelstellung zwischen dem Katholicismus und dem Protestantismus ein. — Von der heiligen Schrift und den Bibelgesellschaften in Russinud. — Die beiden Strömungen, welche sich um die russische Kirche streiten . . 77 Vom Kultus und Ritualismus. — Bedeutung der Riten und des Ceic-moniells in der orientalischen Kirche. — her russische Formalismus und der National Charakter. — Der Ritus des Gebets. — Die Cere-monien und die Liturgie. — Wie die russische Kirche die Rolle der religiösen Aesthetik erfüllt hat. — Vom Bilderkultus. Gegen den Aberglauben ergrillcnc Vorsichtsmassregeln. YVunderthätige .Jungfrauen und die Frömmigkeit des Volkes.— Der religiöse Bilderhande] und die byzantinische Kunst Ed Russland. - Charaktere der mosko-witischen Malerei. Festhalten an den althergebrachten Typen. Schwierigkeit sie durch neue zu ersetzen. — Die Kirchenmusik und der geistliche Gesang.............. 96 Viertes Kapitel. Fasten und Feste — Die vier Fastenzeiten.— Das Festhalten des Volkes an den Fasten. — Wie schwierig es für die russische Kirche ist, die alten Observanzen abzuändern. — Die feste, ihre grosse Zahl und ihre Nachtheile. — Der julianische Kalender. — Gründe seiner Beibehaltung. — Die russischen Heiligen; ihr archaistischer Charakter. — Von der Heiligsprechung in Russland. — Der Reliquienkultus. Die Pilgerfahrten im Inlandc und nach Palästina . . . . . . . 121 Fünftes Kapitel. Von den Sakramenten in der russischen Kirche und von den Beziehungen zwischen Priester und Gläubigen. — Die Taufe Meinungsverschiedenheit mit KbnStantänopel. — Das heilige Abendmahl, die Com-munion in beiderlei Gestalt Das heilige Chrisma und die Delling. — Die Priesterweihe. — Folgen der l'riesterehe. — Das Sakrament der Ehe; die Scheidung. — Wie dieselbe in der russischen Gesellschaft vorgenommen wird. — Die Beichte und wie man dabei verfährt. -- Von der Sitte, den Beichtvater zu bezahlen. — Von der gesetzlichen Verpflichtung, au den Sakramenten Theil zu nehmen — Die Eiutragebücher der Geistlichen und die Conimuuionstatistik. — Wie die Russen ihre Andacht verrichten...........139 Sechstes Kapitel. Von den Beziehungen zwischen Kirche und Staat. — Wie die kirchliche Verfassung von der Autokratie angestrebt worden ist llaupt-wandlungen der Geschichte der russischen Kirche. — Die verschiedenen auf einander folgenden Arten ihrer Verwaltung. — Die byzantinische Periode. — Die beiden Metropollen. — Das Patriarchat. Der Patriarch Nikon und der Kampf der beiden Mächte. — Peter der Grosso und die Abschaffung des Patriarchats.— Die „geistliche Verordnung" und die Oberhoheit des Staates. — Die Gründung des „kirchlichen Collcgiums oder des Heiligen Synods". — Warum die synodale Verwaltung die endgültige Begierungsform der orthodoxen Kirchen zu sein scheint. — Von der Macht des Zaren in kirchlichen Dingen. — Ist es wahr, dass der Kaiser das Haupt der Kirche ist? — Vergleichung mit dem Auslände..............1(50 Innere Verfassung der Kirche, — Zusammensetzung und Aufgabe des Heiligen Bynod. — Wirkliche und beigeordnete Mitglieder. — Der Grossprokurator und seine Kanzlei. — Orthodoxer Klerikalismus. — Die geistliche Censur. — Die Bischöfe und die bisehöflichen Grade. — Grösse der Diöcescn. Die Diöcesan-Konsistorien. — Einfluss der K onsistoriaisecretäre. — Die Scheidungs-Unternehmer. ..... Provinzial- Kon/.ilieii. (Vntralisation und bureaukratischer Charakter der russischen Kirche................. 194 Achtes Kapitel. 1 »er schwarze Klerus, die Klöster und die Mönche. Kintheiliing des Klerus in zwei Classen. Uebergewicht der Klostergeistlicbkeit. — Charakter des russischen Mönchthums. — Der Mangel an Mannigfaltigkeit hei demselben. Seine historische Bedeutung. — Die grossen nationalen Klöster. Relativ geringe Anzahl der Mönche und Nonnen. — Das Anwerben der Mönche. Ihre Lebensweise. — Wie die Kloster zu einer Staals-Iiistitution wurden. - Ihre Kintheiliing. — Ihre Güter und die ihnen zu Gebote stehenden IHilfsquellen. Ihre Werke. —.Die Frauenklöster. Die Betschwestern. Die barmherzigen Schwestern......................211 Neuntes Kapitel. Der weisse oder weltliche Klerus, Wie aus dem Klerus eine Kaste geworden ist. Von der Erblichkeit der kirchlichen Verrichtungen. Kirchen, die als Heirathsgut eingracht werden. TJnterabthcilungen der Priesterkaste. — Erziehung des Klerus. Kirchliche Seminarien und Akademien. Charakter dieser Institute. Ihr Personal; der in ihnen herrschende (ieist; die Art ihres Unterrichts. — Materielle Lage des Klerus. Die meisten Popen erhalten keine Besoldung. Absicht, ihnen ein bestimmtes Einkommen zu gewähren. Regelung und Anwachsen des Budgets des orthodoxen Kultus. Die Kirchcngüter. Einnahmequelle!] des Klerus. Das Casuale, die Nebeneinkünfte; Schwierigkeiten, zu denen die Erhebung derselben Anlass giebt.....24(j Zehntos Kapitel. Der weisse Klerus (Fortsetzung). — Die gesellschaftliche Lage der Geistlichkeit, ihre vereinzelte Stellung, ihre Abhängigkeit. — Ihre Behandlung von Seiten ihrer obern. — Die Familie des Popen, seine Kinder, besonders seine Söhne. Der eigentümliche Kastengeist und die daraus resultirenden Bestrebungen. — Anstrengungen und Bemühungen zur Hebung der moralischen und materiellen Lage der Geistlichkeit. — Verminderung und Einziehung der Kirchsprenge] und der Priesterstellen.— Ihre Unbequemlichkeiten.— Von der Wahl der Geistlichen. —• Das Vori■ 111ndschaftswesen in den Kirchspielen. — Die Verwendbarkeit der Geistlichen beim öffentlichen Unterricht. — Gründe, weshalb mau ihr den Volksschulunterrieht wieder zuweisen will. Das Schulwesen in den Kirchsprengeln. Wie die Predigt früher gehandhabt wurde. — Die Anregung, welche sie durch die politischen Unruhen erhalten hat. - Charakter der russischen Predigt. Lässt sich wohl der Gegensatz zwischen dem schwarzen und weissen Klerus beseitigen und wie kann man dem letzteren den Zutritt zu dem F>piskopat eröffnen?.................'275 Drittes JBueh* Der Raskol und die Sekten. Erstes Kapitel. Ursprung und Charakter des Ilaskol oder der Kirehentreiinung. Deren religiöse Veranlassungen. Wichtigkeit, welche man dem Ritus und Formalismus beilegt. Die Revolution, welche durch die Korrektur der Mess- und Andachtsbücher hervorgerufen wurde. Die Haupt-gesichtspunkte bei diesem Streite. Die Altritualisten oder die Altgläubigen. — Wie sie die Grundsätze des orientalischen Christenthums übertrieben haben. Uebcrfreihung des Unbcwegliehkeitsprinzips. Icbertit ihiing des Nationalismus in der Kirche. Wie der Raskol und die slavonische Liturgie hervorgerufen sind. Wie die Altgläubigen sich gegen den Einfluss des Auslandes erhoben, und der herrschenden Staatskirchc den Fehdehandschuh hinwarfen.........313 Zweites Kapitel. Entstehung Und Charakter des Raskol; seine poütischenUrsachen. Das Schisma ist eine Reaktion gegen die Reformen Peters des Grossen und seiner Nachfolger. Der Raskol, ein Protest der Altrussen, stellt den Widerstand gegen die Formen des neueren Staates dar. Peters des Grossen Neuerungen werden als Zeichen für den bevorstehenden Weltuntergang gedeutet. Der Kaiser wird als Antichrist angesehen. Das Zeitalter des Teufels. Verdammungsurthcil über alle Einrichtungen, welche den Reformen Nikons und Reters des Grossen folgten. Der mit dem Staate begonnene gewaltige Streit wegen des Parttragens der Geistlichen. Der Raskol und die Forderungen des Volkes um Abschaltung der Knechtschaft und des bureaukratisehen Despotismus......'5*2(1 Drittes Kapitel. Entwicklung des Raskol. Allgemeine Uebersicht des Verlaufs des Schisma's. Logik des Entwickelungsganges desselben. Die alten Ritualistcn der Geistlichkeit beraubt. — Wie den Kultus ohne Hierarchie aufrecht erhallen und fortführen? Der Raskol in zwei Lager gethoilt: die Po-povzy und Bcspopovzy oder Priester losen. —- Ausgangspunkt beider Parteien. Was an Stelle des Priesterthums und der Sakramente setzen? Wobei die extremen Gruppen anlangen. Keim Priester, keine Ehe. Wie das Verschwinden der Sakramente erklären? Durch das Nahen des Weltendes. Das Reich des Antichrist. Um demselben zu entfliehen, nehmen gewisse Sekten ihre Zuflucht zum gewaltsamen Tode. Die Erlösung durch den Selbstmord und die Feuertaufe. — Der Glaube an das tausendjährige Reich und die Erwartung eines neuen Messiiis. Wie Napoleon manchmal für diesen Messias gehalten wurde. Die Hoffnungen auf das tausendjährige Reich und die Aufhebung der Leibeigenschaft. — Vergleich zwischen den russischen und den amerikanischen Sekten...................'544 Viertes Kapitel. Zahl der Raskolniks. Schwierigkeit sie festzustellen. Geringer Werth der officiellen Statistik. Heimliche Raskolniks. Der starke Einfluss des Schisma's auf den Mann aus dem Volke. — Geographische Ausbreitung des Raskol. Wie er sich hauptsächlich unter den Grossrussen rekrutirt. Die Altgläubigen als Träger der Colonisation. Ihre Colonien ausserhalb des Reiches. — Die Macht des Schisma's liegt locht allein in der Zahl seiner Anhänger. Die moralische LTeberlegenheil der Altgläubigen; sie ist nicht allein in der Religion begründet. Ihr materieller Wohlstand und dessen Ursachen. Wichtigkeit, der Raskolniks für den moskowitisehen Handel. Welche liolle das (leid in ihren Gemeinden spielt.— Die Cultur der Alt-Ritualisten. Wie die Notwendigkeit der Polemik ihnen einen gewissen Geschmack an besserer Bildung verliehen hat. Charakter ihrer Gelehrsamkeit. Wie der Elementarunterricht für ihre geistige Befreiung nicht genügt, .'lös Fünftes Kapitel. Einrichtung und Organisation der hauptsächlichsten Sekten des Schisma's Die l'opowzy. — Wie die verschiedenen Gruppen des Raskol sich zuerst in den Skiten oder Einsiedeleien gebildet haben. In welcher Art später die Leitung des Schisma's auf die moskowitisehen Friedhöfe überging. —- Bestrebungen unter den Altritualisten, einen engeren Zusammenhang herzustellen. Versuche der revolutionären Emigranten, sich mit ihnen in Verbindung zu setzen. Wie die Altgläubigen schliesslich eine unabhängige Priesterschaft errungen haben. — Die Hierarchie von Belokrinusa. Altgläubige Bischöfe; ihre Lage, ihre Streitigkeiten. Trennung ihrer Anhänger in zwei Parteien. — Bestrebungen der Regierung, die mit einer Priesterschaft versehenen Altgläubigen der Staatskirche wieder näher zu bringen. Man gestattet ihnen die Ausübung der alten Riten. Die „Edinowerzy" oder mit der Kirche unirten Altritualisten. Hindernisse, die sich der Vereinigung entgegenstellen.................37!» Sechstes Kapitel. Organisation und Lehren der Priesterlosen (Bcspopowzy). Warum sie sich weniger leicht als Kirche constituiren können. Ihre Zersplitterung in zahlreiche Sekten. Die wichtigsten derselben: Pomorzy, Thcodosianer. Ihre streitigen Punkte. Die Fanatiker und die Politiker. Unterwerfung unter die Staatsgewalt Das Gebet für den Kaiser. Ehe und Familie. Die geschlechtliche Vereinigung ist, unerlaubt. Theorie und Praxis des ('ölibates. Die freie Liebe. Wie die meisten Priesterlosen sich allmählich von ihrem ursprünglichen Standpunkt entfernen miisslen. — Sektirer, die auf diesem ursprünglichen Standpunkt beharren wollen. Die Herumirrendeu oder Slranniki. Das Vagabunden- - IX — thum als fromme Uebung. Die beiden Grade der Sekte: Pilger und Herberggeber. — Andere extreme Sekten: Stumme, Verneiner, Nicht-beter. Die äusserste Grenze des Raskol............406 Siebentes Kapitel. Sekten, die nicht aus dem Schisma hervorgegangen sind: verschiedene Gruppen derselben. Die Mystiker: Chlysty oder Geissler. ~ Allgemeiner Charakter der mystischen Sekten; Prophetenthum, .Menschwerdung Gottes. Heilande und Gottesmutter. — Legenden und Lehren der Geissler. Ihre Riten Wie sie die Extase herbeiführen. — Chlysty in den Klöstern. Chlysty unter den gebildeten Classen. — Skakuny oder Springer. Unsittliche Riten. Die Liebe in Christo. — Die blutigen Riten. Die Comimmion bei gewissen Sektirern . . . 42t) Achtes Kapitel. Mystische Sekten: die „weissen Tauben", Verschnittene oder Skopzy. — Die Verstümmelung als Mittel zum Asketismus. Die Feuertaufe. Verstümmelung beider Geschlechter. Verheirathete Skopzy. Wie sich die Sekte rekrutirt. Mittel zur Propaganda.— Dogmen und Geschichte der Skopzy. Ihre Verwandtschaft mit den Chlysty. Ihr Christus im achtzehnten Jahrhundert. Ihre Kintheilung in Logen oder „Schiffe". Millcnismus. Peter III. und Napoleon als Heilande der Eunuchen. — Lieblingsgewerbe der Skopzy. Ihre Vorliebe für Gold, ihre Reich-thümer. Der Vortheil, sich Eunuchen zu halten. — Gesetze gegen die Skopzy. Ihr Process. Heilige Skopzy............451 Neuntes Kapitel. Rationalistische oder protestantische Sekten. — Molokaner und Ducho-borzy. — Ihr Ursprung und ihre Theologie. Eigenthümliche Lehren über Gott und Seele. — Meinungen dieser Sektirer über Staat und Gesellschaft. Radicale und socialistische Tendenzen. Die Übsch-tschjie oder Communisten. Verwirklichung ihrer Principien. — Der Stundismus. Wie der Geist der Reform, ausgehend von den deutschen Colonien des Südens, zum Mushik vorgedrungen ist. — Lehren und Fortschritte der Stundistcn oder russischen Evangelischen. Die Sabbattisteu oder Judenchristen. Woher stammen sie? Unitarier mit judaisirenden Riten.................4G6 Zehntes Kapitel. Neue Sekten in Volk und Gesellschaft. — Das Andauern der Sektenbildung. Psychologie der Sektirer. Propheten und Prophetinnen. Beispiele neuer Häresien. — Sulajeff, der Typus eines modernen Sek-tirers. Seine Theologie, seine Politik.— Sekten der vornehmen Welt; der EtadstOkisnuis und Paschkowismus. Der Lord-Apostel. Evangelische Propaganda in den Salons. Propaganda unter dem Volk — Graf Leo Tolstoi. Seine intellectuelle Verwandtschaft mit den Dorfpropheten. Analogie in Vorgehen und Ideen. Das Grunddogma des Christenthums; der Nicht-Widerstand gegen das Uebel. — Tolstoi als socialer Reformator. Christlicher Buddhismus und evangelischer Nihilismus...................485 Elftes Kapitel. Die legale Stellung des Raskol und der Sekten. — Wie das Verhalten der Regierung gegen den Raskol sieh oft geändert hat. Die Kirche ruft die weltliche Gewalt zu Hülfe. Lange Verfolgungen. Mangel an Folgerichtigkeit in der Gesetzgebung. — Anwendung geistlicher Mittel im Kampf gegen den Raskol. ()ellentliche Religionsgesprächc zwischen Orthodoxen und Raskolniks. Die den Dissidenten in letzter Zeit gewährten Rechte. Ihre Stellung zum Nihilismus. Vortheile, die sie daraus gezogen haben. Wie ihre Emancipation noch lange keine vollständige ist. — Schluss des dritten Buches. Die Sekten und die religiöse Zukunft Russlands. Kann aus den russischen Häresien eine neue Form des Christenthums hervorgehen?.........514 Viertes litteh. Religionsfreiheit und Dissidentenkulte. Erstes Kapitel. Die Nationalkirche und die fremden Kulte. — Privilegien der orthodoxen Kirche, Ihre historische Berechtigung. Das Jahrhunderte alte Rand, welches die russische Nation mit der Orthodoxie verknüpft. — Das den fremden Kulten aus nationalen und politischen Gründen entgegengebrachte Misstrauen. System der den Religionsgenossenschaften auferlegten Beschränkungen. Verbot gegen das Proselytenmachen. — Was man in Russland unter Gewissensfreiheit versteht. Offizielle Theorie dieser Freiheit Das Recht Anhänger anzuwerben ist nicht darin begriffen. Dieses Recht ist ausschliesslich der Nationalkirche vorbehalten. — Wie die Staatskirche ihr Privilegium der Bekehrung ausnützt. Die Art ihrer Propaganda und die Pseudo-Orthodoxen. Die Russischen Missionen.................521» Zweites Kapitel. Fremde Kulte: die christlichen Confessionen. — Die Armenier. Der „Katholikos" von Etschmiadzin und die „poloschenjia". — Die Protestanten. Lutherthum und Germanenthum. Mischehen. — Die Katholiken. Latinismus und Polenthum. Das römisch-katholische „Collegium". Papstthum und Selbstherrschaft. Eine Messe ohne Priester. Aufhebung der Klöster. Die Einführung der russischen Sprache an Stelle der polnischen in die Kirche. — Die Unürten und die orthodoxe Propaganda. Die zur Zurüekführung der unirten Griechen angewandte Methode. — Die Vereinigung beider Kirchen. Daraus entspringende Vortheile für Russland. Hindernisse, die sich derselben in den Weg legen..........541 Nichtchristliche Kulte. — Die Juden; ihre grosse Anzahl. Verschiedene Gesichtspunkte der Judenfrage, Antisemitische Wirren. Wie diese nicht immer ursprünglich vom Volke ausgegangen. — Kussische und polnische Juden. Ihre Sitten, ihre Frömmigkeit, das jüdische Leben. — Gesetzliche Stellung der Israeliten. Beschränkung ihrer bürgerlichen Rechte. Verbot im Innern des Reichs zu wohnen. Verbot Ländereien zu pachten oder zu kaufen. Verbot auf dem Lande zu wohnen. - Die Juden und die Handarbeit. Die Juden und die städtischen Gewerbe. Beschränkungen, den Handel mit geistigen (betränken betreffend. Beschränkungen der Zahl der zu den höheren Schulen und den Universitäten zugelassenen Juden. — Folgen dieser Ausnahmegesetze. Wie sie ihren Zweck verfehlen. Her russische Westen und der jüdische Parasitismus. Vortheile der Judenemanci-pation unter nationalen und ökonomischen Gesichtspunkten. — Die Mohamedaner. Widerstandsfähigkeit des Islam in Europa und Asien. Gesetzliche Lage und religiöse Organisation der Mohamedaner des Reiches. Die orthodoxe Propaganda und der Islam. — Die Buddhisten. Das Zurückgehen des Buddhismus in Europa Wie er sich in Asien zu halten sucht Die Lamas und die christliche Propaganda. Geringer Kinfluss des Buddhismus auf den russischen Geist........................566 Viertes Kapitel. Schluss. — Religiöse und moralische Einheit des Staates. — Ein grosses Reich bedarf der Religionsfreiheit. Es ist die einzige Freiheit, die sich decretiren lässt. — Warum nicht anzunehmen ist, dass Bussland die religiöse Freiheit früher erlange als die politische...... . 5f)l» Erstes Buch. Religion und religiöses Empfinden in Russland. Erstes Kapitel. Warum ist dieser Band der Religion gewidmet? — Wissenschaftliches um! politisches Interesse der religiösen Fragen. — Ihre besondere Wichtigkeit in einem Staate wie liussland,— Revolution und Religion.— Religiöser Charakter iles „Nihilismus" und der revolutionären Bewegung in Russland. Dieser dritte Band ist lediglich der Religion und den religiösen Dingen gewidmet Vielleicht wird man in Frankreich wie in llussland darüber erstaunt sein. Für viele unserer Zeitgenossen ist die Epoche solcher Studien vorbei; sie begreifen nicht das Interesse für dieselben noch ihre Anziehungskraft. Sich ihnen hingeben, heisst in ihren Augen soviel als hinter seinem Jahrhundert zurück sein oder Gedanken und Neigungen einer anderen Zeit haben. In Wahrheit könnte man gerade ihnen diesen Vorwurf machen und sagen, dass sie in Bezug auf jene Dinge noch im achtzehnten Jahrhundert sieben. Wodurch soll man die hohe Bedeutung der religiösen-Fragen darthun, wenn die Geschichte seit der Revolution dafür nicht beweiskräftig genug ist? Das neunzehnte Jahrhundert hatte sich geschmeichelt, ihnen ein linde bereite! zu haben; wohl mag es jene Fragen mit Geringschätzung betrachten, sie haben es darum nicht weniger bewegt, und es muss erkennen, dass sie es überleben. Alles deutet darauf hin, dass in dieser Hinsicht das kommende Jahrhundert sich nicht von dein unterscheiden wird, welches zu Rüste geht. Hierbei erinnere ich mich eines Vorganges aus meiner Jugendzeit. Es war unter dem Kaiserreich; Guizot hatte soeben seine „Medi- 1 L e r o y-B oaul i e u , Reich d, Zaren u. d. Russen. III. Bd. t tations religieuses" veröffentlicht; da sagte de Morny in der Nachbarschaft des Val-Richer, zu Dcauville, mit Rücksicht auf sie: „Wie kann mau sich nur in unserer Zeit mit ähnlichen Fragen befassen?" Das geschah allerdings bei einem Festmahle gelegentlich der Einweihung einer Eisenbahn. Und mancher Russe dürfte noch heute der Ansicht jenes Staatsmannes aus dem zweiten Kaiserreiche sein. Indessen giebt es kaum ein Land, in welchem uns eine solche Meinung weniger angebracht erscheint als in Russland. Da die Religion auf die Massen des russischen Volkes von hervorragendem Einflüsse ist, so verdient sie dort auch um so mehr Aufmerksamkeit, selbst wenn sie unserem Wissensdurste keinen andern Reiz böte, als dass ihr Studium ein neues Mittel für uns wäre, das Volk kennen zu lernen, seine Empfindungen und unbewussten Triebe zu ergründen und es in seinem innersten Wesen und bei seiner freiwilligen Bethätigung im Leben zu erlassen. — Die Religionen sind Formen, in denen die Generationen sich nach einander gestalten und deren Eindrücke häufig bleiben, nachdem die Gussform vernichtet ist. Manchmal wiederum passt sich die Religion dem Volke an, das sie nach ihrem Bilde herzurichten bemüht ist; so verhält es sich besonders mit den russischen Sekten. In Russland ist das religiöse Gepräge, wenigstens beim Volke, um so sichtbarer, als eben die Religion nationaler und volkstümlicher geblieben ist und als sie in den Sekten etwas mehr Persönliches, spezifisch Russisches angenommen hat. Auf dem weiten Gebiete der Religion, in den luitigen und nebligen Regionen der Theologie hat der noch rohe Volksgeist sich bis jetzt am freiesten ergehen können. Russische Völkerkunde an den Glaubenslehren studieren, heiest sie an dem studieren, was ihr nicht nur in Betreff äusserlicher Gewohnheiten und etwa der Kleidung des Landmannes, sondern bezüglich ihres Geistes, ihrer Seele und ihres Gewissens am eigentümlichsten ist. Liegt hierin aber das einzige Interesse, welches ein derartiges Studium bietet? Keineswegs! — Zu diesem halb wissenschaftlichen, halb litterarischen Interesse gesellt sich ein mindestens ebenbürtiges: das politische Interesse. Wenn wir die Religion des Volkes zum Gegenstande unserer Forschung machen, wenn wir seine Glaubenssatzungen prüfend betrachten, wenn wir uns die Kirche genauer ansehen, die es unterrichtet'hat, und die Sekten, welchen es sich zuneigt, so sind wir überzeugt, Volk und Gesellschaft Russlands an einem ihrer Hauptelemente zu studieren, an dem, was ihnen in Wahrheit als Grundlage und Stütze dient. „Ebenso leicht würde es sein, eine Stadt in den Wolken zu erbauen, wie einen Staat ohne den Glauben an die Götter zu gründen1', sagt ein Schriftsteller des Alterthums — wenn ich mich nicht irre, ist es Plutarch, — und hierin stimmen die meisten modernen Denker, Rousseau und Robespierre eingerechnet, mit der antiken Auffassung überein. Trutz des gegenteiligen Anscheines kommt uns jene Ansicht noch nicht veraltet vor. Vergebens hat die Wissenschaft den Gedanken freigegeben; die verschiedenen Gruppen der menschlichen Gesellschaft haben Mühe, ohne den Glauben an ein höheres Wesen zu bestehen. Selbstverständlich ist damit nicht ein von der Regierung vorgeschriebener Kultus oder eine Staatsreligion, sondern ein wirklich religiöser, frommer Gottesdienst und gottesfürch-tiges Denken und Fühlen gemeint. Jene Philosophen, die mit dem Gründer des Positivismus die Stunde für gekommen halten, Gott an die Grenzen ihrer Republik zurück zu drängen, vorbehaltlich „des Dankes für seine provisorischen Dienste", tragen eine naive Anmassung zur Schau. — Gott hat noch heute Dienste zu leisten: man verbanne ihn aus dem Gemeinwesen, und viel Segenbringendes wird ihm folgen und mit ihm daraus verschwinden. Das ist, unserer Meinung nach, das schwerste Bedenken gegen unsere zur Reife gelangte Civilisation. Weit entfernt, sich mit der Zeit und der Gewohnheit zu vermindern, stellt sich im Verhältniss zur Abschwächung religiöser Ueberzeugungen und zur Kraftlosigkeit moralischer Begriffe, deren Stärke jene < llaubenssatzungen ausmachten, mehr und mehr ein Mangel ein. Die Gefahr für die modernen Staaten, ihre periodisch wiederkehrenden Revolutionen, ihre immerwährende Unruhe, der Geist stets reger Begehrlichkeit, welcher die meisten Nationen plagt, dies alles findet zum grössten Theile und in erster Linie darin seine Erklärung, dass fast alle zeitgenössischen Völker ihren alten Glauben verloren haben, ohne einen Ersatz dafür zu erhallen. Daher kommen jene heftigen Erschütterungen des Abendlandes, alle jene Volksbewegungen, welche die europäische Gesellschaft mit einer Umwälzung bedrohen, die seit fünfzehn Jahrhunderten ohne ihres Gleichen ist. Der Socialismus, der Anarchismus oder, allgemeiner ausgedrückt, der revolutionäre Geist ist der älteste Sohn des Unglaubens. Irdische Utopien ersetzen die Hoffnungen auf den Himmel. Ueberau existirt heute eine selbst für schwächere Augen sichtbare Wechselbeziehung zwischen religiösen und socialen Fragen; und dieser Zusammenhang wird jeder Generation mehr einleuchten. Wir können hier nur wiederholen, was wir bereits an anderer Stelle1) ausgesprochen haben: ') Siehe ,,les Catholiques überaus, l'Eglise et le libcralisme, de 1830 ä nos jours (Plön, 1885)", p. 15. die um das Paradies und die Hoffnungen auf den Himmel gebrachten Vulksinassen verfolgen den Weg, auf dem sie allein sieh schadlos halten können; in Ermangelung der ewigen Glückseligkeit erheben sie auf die Genüsse dieser Welt Anspruch; dann nimmt in den unteren Schichten der Socialisnius die Stelle der Religion ein, und je mehr letztere abnimmt, desto mehr gewinnt jener unbequeme Erbe an Macht und Ansehen. Sobald das religiöse Gefühl abhanden gekommen ist, werden die Klassenkämpfe verhängnissvoll, denn die bestehende Ordnung hat den entfesselten Begierden gegenüber keinen anderen Schutz als die Gewalt. Dennoch können gewisse Völker, besonders des Abendlandes, der religiösen Rasis beraubt, als Rrsatz einen anderen, mehr oder weniger schwankenden Boden in der Wissenschaft, in dem fortschreitenden Wohlstande und den materiellen Interessen überhaupt linden. Hin relativ armer Staat aber, wie Russland, und die noch wenig gebildete russische Bevölkerung, erfreut sich noch nicht lange einer solchen Aushülfe, und bei ihr wie auch anderorts bleibt die Religion die Hauptsache, wenn nicht gar die einzige Stütze der Gesellschaft und des socialen Friedens. Das wesentlichste Hinderniss einer Revolution liegt tatsächlich im Gewissen der breiten Volksschichten.1) Das ganze schwere Gebäude russischer Macht beruht auf einem Gefühl, der Achtung des Volkes vor dem Zaren und auf der hingebenden Liebe zu ihm. Diese für den Herrscher freundlichen Empfindungen des Volkes aber sind, wie wir sehen werden, ganz und gar religiöser Natur. Wenn man gewisse Seiten ihrer Kxistenz, des Lebens in der Gemeinde, gewisse Kenntnisse und Ueberlieferungen derselben betrachtet, so scheint die russische Nation für den Socialisnius berufen zu sein: sie trägt, so zu sagen, die Revolution als Keim in sich verborgen.a) Hat sie bis jetzt ihr Innerstes gewissen Lehren, die oft genug mit den Instinkten des Muschik übereinstimmten, verschlussen, so liegt dies grösstenteils daran, dass sie von einem unsichtbaren Zügel gehalten wird, welcher stärker als alle Polizeigewalt und jedes bureaukratisc.be Genie ist, nämlich vom religiösen Glauben. Ohne diesen wäre Russland unter allen Staaten der zwei Welten der revolutionärste und ein Bild des Umsturzes. Wer sich wundert, dass der revolutionäre Geist in seiner radikalsten form so tief in das russische Denken eingedrungen ist, mag ») Siehe Bd. II. Buch VI, Kap. I. *) Siehe Bd. I, Buch VIII, Kap. VII. demnach den Grund dazu darin suchen, dass bei ganzen Klassen der Minfluss der Religion geringer wurde. Die Abschwächung des religiösen Gefühls hat an der äussersten Grenze Europas dieselben Wirkungen im Gefolge gehabt, wie im Abendlande. Auch dort ist der vom Christlichen Glauben geräumte Platz durch politische Hirngespinste und socialistische Träumereien eingenommen worden, auch dort ist dem Kultus des Unsichtbaren die Verehrung für greifbare Dinge gefolgt und den Verheissungen des himmlischen Jerusalems die Erscheinungen eines 11 umanitäts-Paradieses, Eine alte Beobachtung lehrt, dass die Staatsumgestaltung bei den modernen Völkern in der Art auftritt wie die Religion. Nirgends zeigt sich dies deutlicher als in Russland. Wir haben oft genug Gelegenheit gehabt, diese heute banal gewordene Bemerkung zu machen.1) In keinem Lande hat die revolutionäre Bewegung so sehr das Aussehen und die Haltung einer religiösen angenommen als in Russland. Und aus welchem Grunde? — Weil in Russland die Erschütterung weit heftiger und die Umwälzung viel schneller vor sich ging als anderswo; weil der russische Geist überaus rasch, den Schritt vom christlichen zum revolutionären Glauben gethan hat und weil er, von dem einen zum andern überspringend, zu seiner l>e-kelirung den Feuereifer des Noophyteii mitbrachte. Gleichzeitig muss berücksichtigt werden, dass die Seele des Russen tief religiös geblieben ist, dass sie selbst bei ihren Auflehnungen und Verneinungen ohne eigenes Wissen die Gewohnheiten, Regungen und Wohlthäten des Glaubens behalten hat, so dass sie, zum Umsturz übergebend, ge-wissermassen nur ihre Religion wechselte. Dieses ist — wir haben es gesellen — die Haupteigenthümlichkeit des russischen „Nihilismus",3) eine Eigentümlichkeit, die weit mehr im Gefühl als in den Ideen ruht. Niemals zuvor hat sich die menschliche Seele, welche sich so häufig selbst bei rügt, mitten in aller Gottvergessenheit so religiös gezeigt. Vergebens bekennen sie sich zum Atheismus; der Nihilismus ist bei vielen seiner Anhänger nur eine in etwas anderer Weise zurechtgemachte Religion. Deshalb bat denn auch das vorzugsweise fromme, weibliche Geschlecht so grossen Antbeil an der Daisturzbewe-gung in Kussland. Zu den geheimen Versammlungen und zu den Missionären des Socialisnius gingen die Frauen, wie sie zum Messias und zu seinen Propheten gegangen sein würden. Einmal herabgestürzt ■j Siehe Bd. I, Buch IV, Kap. IV, p. 216. — Vgl. Revue des Deux Mondes, 16. Oct. 1878. Siehe IM. I, Buch rV, Kap. IV und Bd. II, Buch IV, Kap. II. von der Höhe der christlichen Hoffnungen, hat das russische Weib in den humanitären Träumereien Zuflucht gesucht und hat an die Stelle des Auferstehungsgedankens die Träume socialer Wiedergeburt gesetzt, indem sie gleichzeitig in ihren neuen Glauben dasselbe Verlangen nach einem Ideal, dieselbe Gluth, denselben Hang zur Entsagung und die gleiche Opferfreudigkeit, welche sie bisher bekundet hatte, hineintrug. Das junge Mädchen spricht zur Revolution: „Du sollst mein Gatte sein, du sollst mir die Kinder ersetzen.'* Es giebt sich dieser wilden Gottheit hin, wie andere sich Christo verloben; jenes gebieterischen Götzen wegen verlässt die Tochter, ihm Schönheit, Jugend, Liebe, selbst Schamhaftigkeit opfernd, ihre Eltern. Die vollen Flechten, welche andere auf des Altars Stufen unter der Scheere des Priesters fallen sehen, schneidet sie zu Ehren jenes gefühllosen Molochs ab und entsagt seinetwegen dem Schmucke ihres Geschlechts und der ihrem Range zustehenden Tracht. Den Gewohnheiten der Welt entgegen zieht sie ein grobes Gewand an, klopft an die Hütten der Armut h, theilt deren Mahlzeiten und ahmt ihre Lebensweise nach. Sie hat in ihrer Art das Paupertätsgelübde abgelegt, um sich dem Dienste der Demüthigen und der Predigt des Evangeliums bei den Unwissenden zu weihen, den neuen Gott verehrend und ihn anbetend in seinen bedrängten und leidenden Kindern. Der Jüngling, seinerseits den nämlichen Stimmen gehorchend, lässt sein Studium und seine Hüchel' im Stiche. Er sagt Bich, wie der Verfasser der Imitation („Nachfolge Christi"), dass zuviel Wissen nur Stolz und dann Trübsal erzeuge. Auch er findet, dass nur die einzige Kenntniss des Heils dem Menschen frommt, und dass nur die eine Lehre, welche den Menschen vom Drucke der Noth zu befreien verspricht, des Unterrichts Werth ist. Vernichtung allem Ueb-rigen, und wenn es sein muss, der Kunst selbst und ,der Civilisation! Eins nur ist noth: die Erlösung der geknechteten Massen. So lautet das neue Evangelium; und wenn es Glaubenszeugen und Märtyrer fordert, so wird sich eine Elite junger Männer um die Ehre streiten, für dasselbe in den Tod zu gehen. Hunderte und Tausende von Jünglingen werden sieh linden, voll von dieser thörichten Schwärmerei für die Revolution, wie andere zu anderen Zeiten für das Kreuz fanatisiert waren. Dieser religiösen Begeisterung verdankt der russische Nihilismus seine Ausbreitung und seine Macht. Vielleicht hatte er noch mehr an Terrain gewonnen und wäre noch schwerer zu besiegen gewesen, wenn er, in der zuerst, eingeschlagenen Richtung weiter fort- schreitend,1) immer an dem friedlichen Apostelwerke festgehalten hätte, anstatt sich mit Minen und Bomben zu helfen. Aber um keinen anderen Ehrgeiz zu haben als den, sich zu opfern und sich mit heiterer Ergebenheit hartnäckig in den Protest des Märtyrers zu hüllen, dazu reicht eine Scheinreligion ohne Gott und Himmel nicht aus, dazu bedarf es vielmehr des Glaubens an Gott, eines Glaubens, der alles von Gott erwartet, dem man die Wahl seiner Wege und der Stunde, da es zu handeln Zeit ist, überlässt. Vergebens ist die Revolution zu einer Art menschlicher Religion geworden, deren Anhänger ebenso inbrünstig beten und in ihrer Weise ebenso gläubig sind wie die des alten Bekenntnisses; vergebens hat sie den gleichen Zelotismus und die gleiche Entsagung heraufbeschworen, sie kann nicht lange dem Dämon der rohen Gewalt widerstehen, dessen Element sie ist. Sie wird durch ihr Princip dazu verdammt, die Kraft der Moral zu Gunsten der Brutalität aufzugeben. In diesem Punkte ist es ihr versagt, mit den älteren Leinen, die sie zu verdrängen meint, zu rivalisieren. Nur Christus darf zu Petrus sprechen: „Stecke dein Schwert an seinen Grt!" Nur der Allmächtige kann dem Sturme halt gebieten. Der Gläubige, der Mensch in seiner Schwachheit vermag nichts weiter, als vor dem Richter oder dem Henker das „hat voluntas tua" zu Wiederholen, Aber ist es denn nicht sicher, dass für Jeden einst der Tag der Vergeltung kommt? Und ferner, wie oft ist der Fromme selbst des Wartens überdrüssig geworden! Wie viele Religionen haben überdies dem Fanatiker die Waffe in die magere Hand gedrückt! Gewissen Geistern erscheint sogar der Fanatismus als ein wesentlicher Zug religiöser Begeisterung. Nach dieser Seite hin ist freilich nichts religiöser gewesen als der Nihilismus. Seine Heldengestalten, ein Jeliabof, eine Sophie Perovska, gleichen dem verhärtesten Fakir: und das ohne einen Gott, der ihre Thaten sehen könnte, und ohne die Hoffnung auf ein Paradies. Von allen revolutionären Vorgängen des Jahrhunderts hat der russische Nihilismus am ausgeprägtesten den Charakter einer religiösen Bewegung erkünstelt und deshalb an Intensität und moralischer Bedeutung politische Erscheinungen überragt, die durch ihre Resultate in anderer Weise mehr aufgefallen sind. Seine ganze Kraft lag in seinem Glauben, einem russischen Glauben. Die Jugend der Lehranstalten, welche die theologischen Vorstellungen, „das geistige Wesen, die Intelligenz," wie man dort zu Lande sagt, gering schätzte, 1 Siehe II. Bd., Buch VI, Kap. II. hat gezeigt, dass in ihrem Herzen das Bedürfniss zu glauben noch immer lebendig war. Für seine revolutionären Dogmen trotzte der Atheist der Armuth und Verbannung, indem er mit echt russischer Geduld für den neuen Glauben litt, wie seine Landsleute aus dem Volke, die Raskolniks, jahrhundertelang für den „alten Glauben" gelitten haben. AVenn die Revolutionspartei in Russland das Aussehen einer Sekte anzunehmen schien, so muss man sich darüber nicht wundern angesichts der zahlreichen Sekten, welche in jenem Lande blühen. So lässt denn selbst dort, wo die Religion gänzlich verschwunden zu sein scheint, die Umsturzbewegung, welche ihren Platz eingenommen hat, den tief religiösen Kern der russischen Seele erkennen. Zweites Kapitel. Wie es kommt, dass beim Volke das religiöse Empfinden seine volle Stärke bewahrt bat. — Die Gründe dieser Erscheinung. — Der Kulturzustand in Russland. — Die Geschichte und die Etegiernngsform. — Vom russischen Mysticismus und Fatalismus. — Wo sind dessen (Quellen zu suchen? — Etwa in der Itasse, im Boden, im Klima'.' Fintlüsse der Natur und der mittleren Lage. —■ Die Ebene und der Wald. — Die Jahreszeiten. — Die historischen Leiden: Epidemien und Hungersnoth. — Man muss den Mysticismus der Russen nicht übertreiben. — Welches sind seine Merkmale und seine Grenzen? Häufige Kombination von Realismus und Idealismus. In dem Volke, nicht allein beim Bauern, sondern auch beim Handwerker, dem Kleinbürger und dem Kaufmanne der Städte bat das religiöse Empfinden seine uralte Xaivetät bewahrt. Die Religion giebt hier einen unwiderleglichen Beweis von Lebensfähigkeit durch die Fruchtbarkeit, mit der sie unaufhörlich die sonderbarsten Sekten, deren Anzahl sogar lest zustellen schwer fällt, erzeugt. Der Mann aus dem Volke scheint jene Stufe der Zivilisation noch nicht überschritten zu haben, auf der alle Vorstellungen sich von selber in eine religiöse Form kleiden. In dieser Beziehung, wie in so mancher anderen ist er der Zeitgenosse von Generationen, die bei uns längst verschwunden sind. Wenn es in Europa Staaten giebt, in denen die Religion einen so hervorragenden Platz behalten hat, so findet sich darum doch keiner, in welchem sie so weitverbreitet ist. Die durch Bodenbescha Ifen heil und Klima hervorgebrachte Rauheit, hatte ihr Reich vorbereitet: die Wechselfalle der Geschichte, die Form der Staatsregierung und der Privatverwaltungen haben sie gefestigt; der Stand der Kultur hat sie aufrechl erhalten. Sobald ich, das Steppendorf hoch überragend, die Kirche bemerkte, deren grüne Kuppeln die schwarzen Hütten beherrschten, war mir's, als sähe ich ein Sinnbild jenes alten Religionskönigthumes an! russischer Knie. Wenn man uns fragt, wie oder warum die Religion dort auf das Volk und das Volksleben einen Kinlluss bewahrt hat, den sie in so vielen anderen Gegenden Kuropas verlor, so lassen sich vielfache Gründe dafür anführen. Zunächst und vor allen Dingen trug viel der Bildungsgrad des Landes und, wenn man sich des Ausdrucks bedienen darf, das intellectuelle Alter der Nation dazu bei. Dieses Volk, das trotz seiner tausendjährigen Geschichte noch jung ist, befindet sich gewissermassen im Jünglingsalter, in dem die Glaubensätze seiner Kindheit noch fast die volle Kraft und Schärfe besitzen. Es ist (wir sprechen, wohl verstanden, von den populären Klassen) noch nicht bei dem Stadium des Skepticismus, bei jener Glaubenskrisis angelangt, welche die abendländischen Völkerschaften seit Jahrhunderten durchzumachen haben. Ks hat noch nicht jene gefahrliche Zeit der geistigen Mauser hinter sich, die auf lange Zeit die moralische Gesundheit der modernen Völker erschüttert. Vergebens hat Diderot es besucht, umsonst ist es im Besitze der Bibliothek Voltaires: es steht noch im theologischen Zeitalter, und ungeachtet des Nachwuchses, welchen die Schüler Comtes bei ihm herangebildet haben, deutet nichts darauf hin, dass es in kurzem aus demselben heraustreten wird. In Russland scheinen, ähnlich seinen träge dahinfliessenden Gewässern, die Jahrhunderte langsanier vorüberzuziehen, und für die grosse Masse dauert, das Mittelalter dort noch heute fort. Luther lebt noch in seinem Kloster, und Voltaire, der Freund Katharinas, Wurde noch nichl geboren. Das Volk ist im fünfzehnten Jahrhundert stehen geblieben, um nicht zu sagen im dreizehnten. Diesen Eindruck habe ich wer weiss wie oft in Kussland empfangen. Nachdem ich mitten in einem Zuge von Pilgern durch die hohen Thore in 'las Kloster des heiligen Sergius eingetreten, oder zwischen langen Reihen von Bettlern in die Galerien der Katakomben von Kiew hinabgestiegen war, schien mir unser Mittelalter verständlicher zu werden. Darum ist es für den, welcher den Hoden des heiligen Russlands noch nicht betreten hat, am zwecktnässigsten, sich seine Bewohner an-f die Weise vorzustellen, dass er seine Blicke auf die Zeit noch yor der Reformation und der Renaissance richtet und sie zu Jahrhunderten hinaufsteigen lässt, in welchen der Glaube an da- Ueber^ natürliche das gesammte Volksleben beherrschte und in welchem naive und plumpe Ketzereien die Zuflucht der kühnsten Geister ausmachten. Dieses Volk hat die Integrität der Ueberzeugungen aus jenen Epochen bewahrt, in denen man nur die Aeusserlichkeiten des Glaubens und die Form des Heiles in Zweifel zu ziehen wagte. Der grosse ihm eigene Zauber und seine ungewöhnliche Kraft, erklären sich daraus, dass es bisher durch unsern unfruchtbaren Skepticismus nicht angekränkelt wurde. Daher kommt es, dass nicht selten unter augenfälliger Rauhheit eine Seele sichtbar wird, die weicher und empfänglicher ist als die der äusserlich höher gesitteten Völker. Was es an Edlem und Hohem im Herzen trug, ist bei der Berührung mit dem Geiste der Negation, der übrigens nicht für die Kleinen und Bescheidenen gemacht ist, und der, wenn er von den Gebildeten oder Gelehrten zu den Massen hinabsteigt, in einen abgeschmackten und brutalen Materialismus verkehrt wird, nicht verwelkt. Man wird sagen, dies läge einzig nur daran, dass Russland um mehrere Generationen zurück ist; und wenigstens ein Grund ist dies auch. Jedem steht es frei, es deshalb zu bedauern, oder zu beglückwünschen. Was sich nicht in Abrede stellen lässt, ist, dass es sich hier um eine wichtige Thatsache handelt, aus der Konsequenzen zu ziehen sind, um so mehr als in Anbetracht der grossen Dichtigkeit der unteren Volksschichten und der dünnen Oberbaut, als welche die sogenannten gebildeten Klassen jene überziehen, es noch lange dauern wird, bis die „modernen Ideen" auf den Hoden gelangt sein werden. Die breite Menge des russischen Volkes lebt in einer ganz anderen Atmosphäre als der unsrigen, und es wird lange dauern, ehe die aus Abend wehenden Winde andere Luft zuführen. Wir begegnen dort dem einzigen Lande Europas, in dem der einfache, schlichte Mensch sich den Sinn für das unsichtbare bewahrt hat und in dem er sich wirklich in Gemeinschaft mit den Bewohnern des Jenseits fühlt. Seine hölzernen Dörfer sind, trotzdem sie das Dampfross durcheilt, Stätten, in denen sich ein Heiliger früherer Tage - am meisten zu Hause fühlen würde. Der Kulturzustand des Volkes ist nicht die einzige Ursache dieses beharrlichen Uebergewichtes religiöser Neigungen; die Geschichte, die sociale, die politische Stellung Russlands müssen hierbei als mit-betheiligt gelten. Hart und mühselig war die Existenz unter dem väterlichen Sceptcr der Zaren, selten und zweifelhaft die Freuden, welche ein solches Leben diesem Volke von Leibeignen bot, Be- drückt von der ganzen Last eines der schwersten socialen Gebäude, welche die christliche Welt gekannt hat, und ohne dass sich vor seinen Augen eine freie Perspektive öffnete, war der Russe um so mehr geneigt, einen Ausblick auf den Himmel zu suchen: er sehnte sich nach einer gütigen Welt, in der er eine Zuflucht fände für alle Zeiten; und diese sicherte ihm allein die Religion. So ward der Glaube sein schönster Trost und gab gleichzeitig seiner Seele die Hoffnung auf Wiedervergeltung. Je trüber sich seine Erdentage gestalteten, desto mehr lebte er von der Aussicht auf eine bessere Welt, Die Unwissenheit der Massen, der Mangel an jedem Wohlstände, die zwiefache Tyrannei (des Amtmanns, der den Gutsherrn, und der Polizei, welche die Regierung vertrat), alle Entbehrungen einer russischen Existenz arbeiteten gemeinsam nach demselben Ziele hin und drängten das Herz des Volkes nach derselben Richtung. Dieser historische Einfluss erstreckt sich heimlich bis in die oberen, gebildeten Klassen, die seit einem Jahrhundert vom abendländischen Skepticismus erreicht werden. Auch sie haben die Last der geschichtlichen Entwicklung und des Lebens hart verspürt. Daher der eigenartige Ton ihrer Melancholie, ihre frühzeitige Abneigung gegen eine ihren Anforderungen nicht entsprechende Zivilisation und ihre fast gewaltsame Anstrengung, sich in dem Schilfbruch ihrer bisherigen Lehren an einen neuen Glauben anzuklammern. Daher bei so vielen, welche die traurige Oede des russischen Lebens durchwandern, ein Hinneigen zum Pessimismus, zum Mysticismus und Nihilismus, drei tiefen und dicht bei einander liegenden Rrunnen, in die so manche müde Seele hinabtaucht. Daher, zu einem nicht geringen Theile, jene plötzlichen und schmerzhaften Flügelschläge einer latteratiir, welche im Unglauben gläubig blieb, oder wenigstens eine lebhafte Erinnerung an den Glauben behielt, den sie verloren, und die in Folge dessen in ohnmächtigem Aufschwung an einen leeren Himmel klopfte. Wir Abendländer sind geneigt, das Geheimniss der mystischen Neigungen und des religiösen Instinkts der Hussen hinter der Rasse, hinter dem slavischen Rlute zu suchen. Dergleichen Meinungen haben sich sogar in Petersburg und in Moskau gefunden; doch scheint mir, dass dies weniger eine Erklärung als eine einfache Konstatirung ist. Man hat sich darin gefallen, zwistdien dem Wesen des Slaven und dem des Hindu, zwischen dem Nihilismus des Einen und dem *) Siehe z. B. das schöne Buch von E. M. de Vogüe de Roman Russe, Kap. I. — u — Buddhismus des Andern eine Aehnlichkeit zu entdecken; und diese Aehnlichkeit — so weit ist man gegangen — wollte man bei uns und in Russland einer Verwandtschaft der beiden Rassen und der Reinheil des russischen Blutes zuschreiben.1) Dem mystischen Nihilismus gewisser Zeitgenossen (wir reden hier nicht von dein revolutionären Nihilismus, der ganz mit Unrecht so genannt ist) wird man vergeblich diesen oder jenen Berührungspunkt mit dem alten Buddhismus an den l fern des Ganges nachweisen; es giebt zwischen dem russischen (leiste, der doch wesentlich realistisch ist, und dem des Hindu, der sich vornehmlich auf das Ueber-sinnliche richtet, ebensoviel Gegensätze als Anklänge. Alles in Allem Unterscheiden sie sich kaum weniger von einander, wie die undurchdringlichen Dschungeln Dekans von den fahlen Wäldern des hohen Nordens; hier der ewige Schnee des Polarkreises, dort tropische Sonnengluth. Und wenn nun unser Auge gewisse Beziehungen zwischen beiden herausfindet, so beweis! das wieder einmal, dass die Extreme sich berühren, dass die Natur in von einander gänzlich verschiedenen Regionen, mit völlig entgegengesetzten Mitteln bisweilen dieselben Effekte zu erzielen weiss, und dass der Mensch unter den denkbar ungleichsten Himmelsstrichen, ohne sich darüber klar zu werden, dieselben Gefühle an sich wahrnehmen kann, l'nd dazu kommt noch, dass die Einwirkung der Geschichte, des Kulfurzustan-des und die Bedeutung der socialen, politischen und religiösen Ordnung auf den Volkscharakter vielleicht bei weitem grösser ist, als die der Natur. Wenn von derlei Aehnlichkeiten auf eine nahe Verwandtschaft der Rassen geschlossen worden ist, wenn man der Reinheit des arischen Blutes der Russen eine Ehre antlmn will, indem man sie als direkt^ Nachkommen der Arier ansieht, so erheben alle Daten der Völkerkunde Einspruch gegen dieses Verfahren. Ist es auch ungerecht, den Bussen die Bezeichnung Arier ganz und gar vorzuenthalten, so steht es doch ausser allem Zweifel, dass der moderne Slave, der Busse im Besonderen, durch eine starke Beimischung finnisch-türkischer Elemente, von allen indn-curopäischen Völkern das am wenigsten arische ist,1) Die Aehnlichkeit des Altslavischen mit dem Sanskrit ist in dieser Hinsicht durchaus nicht beweiskräftig, und die Littauer vom Kiemen könnten, streng genommen, höhere Anrechte auf eine Sprachverwandtschaft erheben. Ebenso können die Kelten, welche doch von der vermeintlichen Wiege unsrer Ahnen am wei- ') Siehe I. Bd., II. Buch, 11. Kup. testen entlernt sind, ihrerseits, in Folge gewisser Abstanimungslinien. eine Aehnlichkeit mit ihren Vettern vom Ganges geltend machen, ohne dass die Bretonen oder die Leute von "Wales daraus das Privilegium reineren Blutes herzuleiten vermöchten. Hier, wie in vielen anderen Fragen, schallt die Berufung auf die Rasse wenig Aufklärung, um so mehr als der Hang zum Mystischen weit davon entfernt ist, bei allen Völkern slavischen Stammes in gleicher Weise verbreitet zu sein; ja, er ist vielleicht bei den Slaven an der Donau und an der Elbe seltener, als bei ihren germanischen Nachbarn; er herrscht fast ausschliesslich bei den Russen und Polen, Welche, in so vielen Bingen auseinandergehend, sich am Ende nur hierin ähnlich sind. Und wenn ferner im neunzehnten Jahrhundert die religiöse Poesie von Mickiewicz oder von Krasinski, dem anonymen Dichter, ganz von einem schmerzlichen Mysticismus gesättigt ist, so sind daran die Leiden Schuld, welche Polen erduldet, oder, wie seine Söhne sagen, das lange Martyrium, die Passionszeit dieser ans Kreuz geschlagenen Nation. Wenn sich Miekiewiez, der grosse lithauische Sänger, vor Leo Tolstoi in die ärgsten Unklarheiten, in den undurchdringlichsten Nebel der mystischen Sekten verloren bat, so sprach aus ihm der begeisterte Anhänger des Tovianismus,1) der die Wiederau friehtung seines Vaterlandes erwartete, eine ebensowohl patriotische wie religiöse Thorheit. Will man bei den nordischen Slaven die Vorliehe für den Mysticismus als einen Zug des Nationalcharakters ansehen, so muss man den Ursprung desselben in der Geschichte einerseits und in der Natur andererseits aufsuchen. Uns scheint — um in der Tagessprache zu reden — die Theorie der „Mittel" (milieux) hier weniger trügerisch als die der Rassen. Sind solche Forschungen nicht ganz nutzlos, dann ist die brauchbarste der gefundenen Erklärungen noch immer die, welche wir aus den beiden Hauptfakturen des Volkscharakters gewinnen, der Geschichte und dem Klima, anders ausgedrückt: dem moralischen und dem physischen Mittel. Bei dem Slaven wie bei allen anderen grossen Stämmen wurzeln die religiösen Triebe im tiefsten Innern des Herzens; beim Russen scheint uns das mystische Empfinden dem Boden seines Landes zu entquellen und von dem Himmel hernieder zu thauen, der sich darüber ausspannt. 1) Lehre des poln. Mystikers, ehem. Advokaten Towianski, der sieh für den Messias Polens, ja, der ganzen Menschheit ausgab. Er hatte Mickicwiczs Gattin auf geheimnissvolle Weise geheilt. Wir haben an anderer Stelle1) bereits versucht die Hauptzüge der russischen Natur und der Art und Weise zu schildern, wie jener Himmel und jenes Land auf den Nationalcharacter eingewirkt haben. In unsern Augen hissen sich die Eindrücke dieser fahlen Gegenden in einen Gegensatz zusammenfassen. Auf den endlosen, bald kahlen, bald mit spärlichem Waldwuchs bedeckten Ebenen fühlt sich der Mensch klein, ohne dass sich die Natur umher gerade gross zeigte; er fühlt sich schwach und arm, ohne dass indessen die Natur ihre Macht oder ihren Reichthum vor ihm entfaltete. Dies unter dem kalten Himmel des Nordens gelegene Land erweckt nur zu leicht den Zug zum Unendlichen im Verein mit dem Gefühl menschlicher Hinfälligkeit und Schwäche. Zu gleicher Zeit ungeheuer gross und ohne rechte Kraft, führt die russische Ebene die Seele zur Melancholie, zur Erniedrigung, zur'inneren Betrachtung und daher zum Mysticismus. Die unbegrenzte Fläche, Wald oder Steppe, wirkt auf den Russen nicht anders, als die Wüste auf den Araber. Diese unerniesslichen Räume bringen, je nach den Jahren des Menschen, zwei verschiedene Eindrücke auf ihn hervor. Bald schreckt ihn die monotone unabsehbare Weite, sie spiegelt seine eigene Winzigkeit wieder, sie führt ihn auf sich selbst zurück, sie giebt ihm das Bedürfniss, sich eng an Seinesgleichen anzuschliessen, und macht ihm Gott gegenwärtig hinter jenem ewig sich entfernenden Himmel. Bald Uösst ihm der sich rings dehnende Horizont mit der Vorstellung des grenzenlosen Raumes auch die des ungebundenen Lebens ein; die Weite treibt ihn zu endlosen Wanderungen und langen Streifzügen und erregt bei ihm Wohlgefallen an der Unabhängigkeit, an kühnen Unternehmungen und Abenteuern. Diese beiden angedeuteten Eindrücke linden sich beim Russen nicht minder, als beim Araber, manchmal einzeln, und auch wieder vereint. Der Letztere hat den Muschik zu seinen hundertjährigen Wanderungen ermuthigt und hat dem Kosaken den Weg in die Ferne gezeigt, ihm, dem wilden Sohne der Steppe, der keine Freiheitsfessel ertragen konnte und dem die seinen Streifereien gezogenen Schranken ein Greuel waren; der Erstere hat die Klöster oder die „Skiten"2) des Nordens bevölkert und die mystischen Sekten Gross-Russlands genährt. Beide aber haben den fernen Heiligthü-mern lange Reihen von Pilgern zugeführt, die von überall her das Land durchstreifen, und haben unstät umherziehende Sekten ge-_- i ') Siehe I. Bd., III. Buch, Kap. II u. III. ■J Franz. skite, russ. rum-i. bedeutet: Einsiedelei, Einsicdlerhütte. schauen, so dass die körperliche und geistige Landstreicherei eine der Formen russischer Gottesfurcht und Mystik geworden ist. Von einem erhöhten Standpunkte aus, etwa von den zerklüfteten Felsen oder den waldigen Höhen, die den Lauf des Pnjepr, des Don oder der Wolga begleiten, von den Thürmen Kiews oder den Maliern Nishnijs, rufen die russischen Ebenen dasselbe Gefühl der Unendlichkeit in uns hervor, wie es sich unserer im Anschauen des Meeres bemächtigt. Diese völlig horizontale Landschaft, räumt gewöhnlich dem Himmel den grössten Platz ein. Oft füllt das Firmament allein das ganze Gemälde aus; die Erde, eben weil sie zu ilach ist, verschwindet, und der Blick, durch nichts gehemmt, verliert sich nach allen Richtungen in den Himmel. Die ausgedehnten Wälder in der Mitte oder im Norden Russlands machen in anderer Wreise einen analogen Eindruck, Der Blick richtet sich zwischen den düsteren Wipfeln kahler Fichten oder dem dürftigen Laubwerk der Espen und Birken hindurch unwiderstehlich gen Himmel. Der Wald und die Nacht haben überall etwas Geheimnissvolles, und die Träume bewohnen die lebendige Einsamkeit der Forsten. Ihr Schweigen, das Resultat unbestimmter Geräusche, erfüllt die Seele mit feierlichem Emst; und wenn der Polarsturm die hohen Bäume rüttelt, so vernimmt man in den nordischen Waldungen abwechselnd ein Seufzen und ein dumpfes Rollen, wie es die Woge am Strande oder in den Höhlen des Gestades hervorbringt. Zu diesen Eindrücken der russischen Landschaft gesellen sich min noch diejenigen, welche die Jahreszeiten mit sich bringen, und die nirgends in Europa so scharf kontrastiren wie hier; die Jahreszeiten, deren schroffe Gegensätze uns das, was der Charakter und das Denken der Russen Abstossendes, Verworrenes und Uebertrie-benes hat,1) zu erklären scheinen; die Jahreszeiten, welche uns durch ihre grosse Verschiedenheit über den ewigen Widerspruch in der russischen Seele Aufschluss geben; denn sie ist abwechselnd in ihr Schicksal ergeben und aufgebracht, weich und rauh, oft zu gleicher Zeit realistisch und schwärmerisch, in ihrem Fühlen bestimmt und träumerisch, brutal und ideal, und unaufhörlich bereit, mit gleicher Ueberzeugungstreue und ganz merkwürdiger Aufwallung und Begeisterung von einem Extrem zum anderen überzugehen. Dieser Mangel an geistigem Gleichgewicht, diese Unfähigkeit Maass zu halten, ebenso auffällig bei diesem Volke wie in diesem Klima, würde allein schon hinreichen, seine mystischen Anwandlungen zu erklären, den Siehe Bd. I, Much II, Kap. III. hohen Flug und den tiefen Fall in seinen Gedanken, die so nachdrücklich von der Knie fort und dem Himmel zugewiesen werden. Die Jahreszeiten, haben wir bemerkt, vervollständigen und befestigen noch die Kindrücke, welche wir durch die Bodengestaltung empfangen; Himmel und Erde stimmen darin in Kussland durchaus überein. Der Winter, die lange Zeit der Sammlung und des beschaulichen Nachdenkens, der Schlaf der erstarrten und unter weiter Schneedecke daliegenden Natur, hat in seinem scheinbaren Tode etwas SO ernst Feierliches. Ist überhaupt die Energie religiösen Fuhlens in den nordischen Landern nicht eine zu wenig beachtete Thatsache? In diesem Funkte, wie in Allem, was mit dem Einflüsse des Klimas in Verbindung steht, ist vielleicht unsere Meinung vorgefasst. Der Norden ist nicht weniger religiös als der Süden; ja man darf behaupten, er ist es noch mehr. Die Geschichte beweist es. Denn sind es nicht ausser Spanien gerade die nördlichsten Länder Kuropas, die drei Staaten mit ganz verschiedenen Bekenntnissen und Stämmen: Schottland, das Schweden Swedenborgs und Kussland, welche in religiösen rebcrzeugimgen eine unumschränktere und dauernde Herrschaft erlangt haben? Nirgends hat sich die Toleranz oder der letzte Ausdruck derselben, die bürgerliche Gleichheit der Kulte, schwerer Eingang verschallen können, nirgends hat die herrschende Kirche ein derartiges Uebergewicht über die Lebensweise der Einzelnen und die öffentlichen Gebräuche erlangt als im Norden. Das presbyterianische Schottland ist in dieser Hinsicht mit dem Spanien zur Zeit der Inquisition verglichen worden; Polen, Irland, seihst England wurden stets unter die frömmsten Länder gerechnet, aber die Frömmigkeit der nordischen Völker unterscheidet sich von der südlicher Nationen, wie die Seeen Schottlands oder Finnlands von den azurnen Fluthen der Meerbusen von Neapel oder Valencia. Die Landschaftsbilder des Nordens verleihen dem religiösen Kmplinden der dortigen Bewohner eine düstere und ernstere Färbung, es neigt zur Wehnrath, zur Träumerei, vielleicht auch verdankt es der umgebenden Natur seine grössere Tiefe. — Die nördlichen Kegionen, auf welche die Grossrussen lange beschränkt blieben, sind die Geburtsstätte der meisten mystischen Sekten des Landes. Unter dieser geographischen Breite sind die langen Winternächte und die langen Sommertage so recht dazu an-gethan, die Seele den mystischen Kegungen oder religiösen Beängstigungen zu öffnen. Ks ist nicht nur bildlich zu verstehen, dass die Dunkelheit den Aberglauben erzeugt; er wird von der nächtlichen Finsterniss plötzlich geboren, und der Erwachsene ist damit ebenso behaftet wie das Kind. Ueberau ist die Nacht die Zeit geheimnissvoller Befürchtungen, welche sich, den Phalänen ') und den Abendvögeln gleich, während des Tages scheu verbergen, um den Menschen, sobald die Sonne am Horizonte hinabgesunken ist, zu umflattern. Im Sommer geben die langen Juniabende mit ihrer klaren Dämmerung, die weder dem Tage noch der Nacht gleicht, der Atmosphäre des Nurdens etwas Aetherisches, Immaterielles und Phantastisches, das der wirklichen Welt fremd zu sein scheint; während, wenn der eisige Winter das Scepter schwingt, die beiden dem Pole zugeneigten Mären und das zahllose Heer der Sterne am schwarzen Himmel mit einem Glänze, der fast dem Auge lästig wird, funkeln. Was die friedliche Stimmung der Seide stört, was die Sinne beunruhigt und ersehreckt, das erweckt überall mit der Idee des Unbekannten zugleich das Gefühl des L'ebernatürlichen. Auf den ersten Blick hat es den Anschein, als ob Russland von jenen bedeutsamen Phänomenen, jenen Erschütterungen der Natur, welche auf Java oder in Peru und in Europa sogar, an den Abhängen des Vesuvs oder auf dem Rücken der Alpujarras-) die Einbildungskraft des Volkes in eine Art periodischer Erregung versetzen, gänzlich frei wäre. Das weite, weite Russland hat weder Vulkane wie Italien, noch Erdbeben wie Spanien; weder Bergspitzen mit ewigem Schnee, noch Lawinen, noch Gletscher; weder Fjorde mit steil aufragenden Ufern, mich Felsgestade, an denen das offene Meer tosend brandet. Nicht die Schlangen und die Tiger Indiens giebt es dort, wohl aber Wölfe in den Wäldern, und Bären in den Einöden des Nordens. Diese beiden Bestien sind Jahrhunderte lang der Schrecken der russischen Landleute gewesen; beide haben zu mancherlei abergläubischen Vorstellungen Anlass gegeben, doch sind sie, besonders der Bär, relativ selten geworden. Man wäre indessen im Unrecht, wollte man glauben, dass die Ebenen Russlands gänzlich von Naturerscheinungen oder Schauspielen entblösst seien, welche mit dem Schrecken abergläubische Ideen herauibeschwören. Statt dem Boden selbst, seiner Struktur und Beschaffenheit ihren Ursprung zu verdanken, gehören sie vielmehr den Jahreszeiten mit ihren wechselnden Phänomenen an, den Jahreszeiten, die der russischen Einbildungskraft die Nahrung reichen, welche der Boden ihr vorenthält. Der Winter bringt den Buran oder Schneetreiber, der auf dem a) Nachtschmettorlinge. 2) Alpujarras, auch Alpuxarras, ist der Name einer Abzweigung der Sierra Nevada. Leroy-lioauliou, Reich d. Zaren u. d, Hussen. III. Bd. 2 Lande nicht weniger furchtbar ist als die Stürme des Meeres. Der heftig vom Boden aufgepeitschte Schnee mischt sich mit den fallenden Flocken, so dass Erde und Himmel in einander überzugehen scheinen. Alle Gegenstände verschwinden in dem trüben Dämmerlicht, Weg und Steg sind verweht, und Herden und I'eisende trägt der rasende Wirbel weit mit sich fort. Der Frühling ist die Zeit des Eisganges, eines zwar weniger gewaltigen Naturschauspieles, das aber dennoch der Einbildungskraft reichen Stoff bietet. Die durch den endlosen Winter in starre, unbewegliche Flächen verwandelten Golfe, Seeen und grossen Flüsse bersten mit dumpfem Tosen; ungeheure Eisbänke lösen sich ab und setzen sich, fort und fort auf ihrem viele hundert Meilen langen Wege aneinander krachend, nach dem Meere zu in Bewegung. Nach dem Eisgange beginnen die Ueberschwem-mungen, eine Flage, bei welcher der Mensch am deutlichsten die Hand Gottes wahrzunehmen glaubt. Die Ströme, durch einen Ocean ge-geschmolzenen Schnees angeschwellt, wallen über ihre Ufer und setzen die Ebenen oder niedrigen Thäler unter Wasser und verwandeln sie dem Aussehen nach in Seeen.1) Das ganze weite Russland gleicht dann einem seichten Meere oder einem ungeheuren Sumpfe, und nichts lässt sich dann der Majestät seiner Flüsse an die Seite stellen; ihre Breite beträgt mehrere Kilometer, bisweilen sogar mehrere Meilen.2) Die Wolga trägt ihre enormen, mehrere Stock hohen Schilfe bis unter die Mauern von Kasan, auf mehr als eine Meile Entfernung von ihrem gewöhnlichen Ufer. Petersburg, bei seiner Lage zwischen dem Ladoga-See und dem finnischen Busen, scheint der Gefahr einer Ueberflutung ausgesetzt zu sein; die Newa steigt beim Eintritt der grossen Seegewässer über die Quais von Granit hinaus und umspült den Felsen, der das Standbild Feters des Grossen von Falconnet trägt. Die an den Strömen liegenden Städte sind dem Wasser preisgegeben, wenn sie sich nicht, wie Kasan, in der Entfernung einiger Werst aufbauen, oder, wie die beiden Nowgorod,:)) sich auf den Abhängen steiler Höhen erheben, die den Fluss beherrschen. Der Sommer bereitet den Russen andere, nicht so schreckliche, aber noch geheimnissvollere Schauspiele, die im Herzen des 1) Raslhvy räk cia prodobnye nioram .... ,,1'nd der Fluss durchbricht die Ufer. Und das Land wird rings zum Meer- singt der I lichter Leniiontol'. 2) Une lieue = a/6 geogr. I\teile. 3) Aum. des Uebersetzers: Nishnij Nowgorod am Einlluss der Oka in die Wolga und Nowgorod, die Hauptstadt des gleichnamigen grossrussischen Gouvernements, am Ausfluss des Wolchow uns dem Ilmensee. einfachen Mannes eine unbestimmte Furcht entstehen lassen; denn auf den zahllosen .Morästen im Norden und im Centrum, denen die kindisch*1 Angst oft, wie im Abendlande, den Namen Teufelsmoor gegeben hat, tanzen gespenstische Irrlichter, welche der russische Bauer für ruhelose Seelen hält. Weiter dem Polarkreise zu aber und in noch höheren Breiten entflammen Nordlichter das Gewölbe des Himmels und ihre unheimliche Glut, dem Wiederschein einer verhehrenden Feuersbrunst oder der Farbe des Blutes gleich, bedeuten dem Volke Unglück und schlimme Zeiten. Im Süden und bis zur Mitte hinab fällt ein anderes, freilich seltneres Schauspiel auf, die Fata Morgana, welche — ebenso wie in den Wüsten Asiens1) — ferne Gegenstände beweglich macht und den Blicken wunderbare, phantastische Gebilde zeigt. Wahrscheinlich muss man in einigen Gegenden Busslands mehr als einen geheimnissvollen Vorgang, dessen Gedächtnis* durch Votivkapellen bewahrt wird, auf Täuschungen jener Art zurückführen.2) Ausser von diesen Naturereignissen hatten die Gross-Russen Jahrhunderte lang unter dem Drucke dreier Landplagen zu leiden, die noch weit mehr dazu beigetragen haben, sie dem Aberglauben oder dem Fatalismus in die Arme zu treiben; das waren: Hungersnoth, epidemische Krankheiten und Feuersbrünste. Russland, so reich an Getreide, hat geraume Zeit Mühe gehabt, seine dünne Bevölkerung in genügender Menge damit zu versehen. Erdboden und Klima vereinigen sich, um das Land des Nordens und des Centrunis wenig produktiv zu machen; der Frühling braucht nur ein wenig mit seinem Eintritt zu zögern, und das Korn gelangt während der kurzen Frist, welche der Sommer ihm gönnt, nicht zur Reife. Im Süden und in dein grüssten Thoilo des „Tschernosjom"8) war die Kultur durch die Tataren lange unmöglich gemacht oder doch sehr zurückgeblieben. Dort sieht wegen der häufigen Dürre, die entsteht, weil der Regen nicht ausreicht oder zu unregelmässig fällt, und gegen welche seine Gebete Monate lang vergeblich zum Himmel dringen, der Landmann die jammervollsten Ernten auf die ergiebigsten folgen. Seit langer *) Ann), des Uebersetzers: Dieselbe Erscheinung findet sich bekanntlich auch an anderen Orten, in Afrika, an den Küsten des Meeres, ja selbst in der Mark Brandenburg ist sie über frisch gepflügten Aeckern beobachtet worden. ') Siehe z. B. Herbert Barry: ltussia in 1870, p. 194—199, :1) Anni. d. Gebers.: Tschernosjom,Tshornosjom oder Tschernosem, ■ihhio.u'w bedeutet schwarze Erde, Gartenerde, Humus, und im weiteren Sinne den mit dieser ausserordentlich fruchtbaren Schicht bedeckten Landstrich, der sich von den Karpaten bis zum Ural hinzieht. Vgl. Bd. 1, Buch I, Kap. IL 2* Zeit war es deshalb auch nothwendig, in jeder Gemeinde Beserve-speicher anzulegen, die häufig genug freilich wegen nachlässiger TJeberwachung die Hoffnung des Volkes betrogen und nicht verhindern konnten, dass sich Theuerungen zu llungersnöthen steigerten. Kein europäisches Land bat unter diesem unheilvollen Zustande, von dem die Leichtigkeit des Verkehrs auf guten »Strassen und Eisenbahnen das Abendland für immer befreit hat, anhaltender und' schrecklicher zu leiden gehabt, als jene Gegenden. Es gab dort Hungerpenoden wie in Asien und Afrika, und wie wir sie in unseren Tagen noch in Indien und Lorsien erlebten, die binnen Jahresfrist die Bevölkerung zum fünften, ja zum vierten Theile hinwegräfften. In unserm Jahrhundert selbst hat Kussland durch derartige Ereignisse in einem Maasse gelitten, wie man es in Europa nicht für möglich halten sollte. Aber nicht nur zu häufigem Mangel verdammte die Uauhheit des Klimas das alte Moskowien; sondern seine geographische Lage lieferte es auch oftmals einer nicht minder furchtbaren Geissei aus. Die Berührung mit Asien hat es während einer Leihe von Jahrhunderten noch gefährlicheren Einfällen geöffnet, als denen der Mongolen und Tataren, nämlich dem llereinbruch asiatischer Epidemien. Unzählige Male ist neben der Hungersnot!) das Auftreten der Pest in den Annalen Moskowiens verzeichnet worden, und unter dem Namen ..schwarze Pest" oder ,,schwarzer Tod" hat wahrscheinlich dort zuerst die Cholera ihren Fuss auf europäisches Gebiet gesetzt, lange bevor der dunkle Fittich dieses Würgengels den übrigen Theil unseres Kontinents streifte. Den aus Asien hereingeschleppten Krankheiten fällt das Vieh wie der Mensch zum Dpier, und die sibirische Pest ist noch heute der Schrecken der Landleute. Epidemien und Hungers-noth haben ihrerseits, von Säkulum zu Säkulum auf den Generationen schwer lastend, in gleicher Weise den moralischen Zustand der Hussen beeinilusst, wie andererseits der Reichthum des Landes es gethan hat. Alles aber, was das Leben prekär macht, und es in Abhängigkeit von äusseren, der Natur entspringenden Ursachen zu stellen scheint, veranlasst den Menschen, mit um so grösserer Inbrunst übernatürliche Hülfe anzurufen. Die häufigen, ohne offenbaren oder erklärlichen Grund auftretenden Plagen werden vom Volke der sündhaften Erde oder dem rächenden Himmel zugeschrieben und dies unterstützt dann auch noch solche primitiven Begriffe: dass Krank-heilen bald durch Hexereien, bald durch ein Strafgericht Gottes entständen, wogegen es kein anderes Mittel gäbe als Gebete oder Zau- berformeln. Eben dies ist eine der historischen Quellen des Fatalismus und des Aberglaubens der orientalischen Völkerschaften. Dem Beistände des Arztes, der unsicheren Hülfe durch eine ihm unbekannte Wissenschaft, zieht der russische Hauer oft geheimnissvolle Worte, Beschwörungen, ein Amulet oder eine Wallfahrt vor. Gegen jede einzelne Epidemie, von der sein Dorf heimgesucht wird, gegen Pocken und Cholera, wie gegen Rinderpest besitzt der Muschik altüberlieferte Zaubermittel, magische Gebräuche, welche theilweise eine Hinterlassenschaft des ehemaligen Heidenthums sind. Man hat ihn in Folge einer falsch verstandenen Religion oft die wirksamste Arznei als Teufelswerk abweisen sehen und kann sagen, dass er dem Zauberer Glauben schenkt und dem Arzt misstraut. Die Impfung hat man in mehreren (legenden hinge wie die Sünde gemieden und zwar Unter dem Vorwande, dass sie das Siegel des Antichrists sei und noch vor Kurzem, während der Diphteritis-Epidemien, die im östlichen Humpa erschreckend oft auftreten, widersetzten sich die Dörfler von Pultawa hartnäckig der Desinfeotion ihrer Häuser, da sie in den Sanitätsmassregeln eine Entweihung ihrer Wohnungen und in der Räucherung nichts als Teufelswerk erblickten.1) Geht der Muschik zum Arzt, SO erwartet, er von ihm meist eine ähnliche Dienstleistung wie von einem Hexenmeister, schlagen dessen Mittel nicht an, so behandelt er ihn als Betrüger; und so wurde bei verschiedenen Epidemien das Leben der Aerzte durch die blinde Wuth des Volkes in hohem Grade gefährdet Seuche und Hungersnoth, diese beiden Idee heu, abgehärmten Schwestern, die es so lange auf Etussland abgesehen hatten, sind nun zwar nahe daran, diesem Reiche so weit wie der eivilisirten Welt überhaupt fernzubleiben, aber mit einer anderen Flage, deren Verheerungen und niederdrückende Wirkung der Occident kaum zu begreifen und abzuschätzen vermag, nämlich mit den Feuersbrünsten, ist dies nicht der Fall. Das Feuer, der „rothe Hahn'-, wie ein bezeichnender Ausdruck des Muschiks lautet, vergreift sich an den Wäldern, Städten, Dörfern, die noch fast ganz aus Holz erbaut sind ; durch irgend einen Zufall wird es entfacht, oder von verbrecherischer Hand angelegt, denn für die Schwachen und Unterdrückten ist das Feuer jederzeit die handlichste Waffe gegen den Reichen und Mächtigen gewesen. Russland wurde noch in unseren Tagen durch Brände von ganz enormer ') Im Jahre 18HO versuchten die Bauern im Gouvernement Pultawa eine Frau Lebendig ZU verbrennen, welche sie dazu bestimmen wollte, sich desiu-liciren zu lassen. Ausdehnung verwüstet. Die Verluste, welche das Feuer veranlasst, beziffern sich jährlich auf Hunderte von Millionen, und trotzdem ist das nicht der einzige Schaden, der Kussland damit zugefügt wird, denn der Charakter des Volkes wird dabei ebensogut auf eine harte Frühe gestellt wie sein Wohlstand. Gleich den Hungerzeiten und Epidemien, gleich Allem, was das Leben, die Gesundheit und den Dösitz gefährdet, hat die Feuersnoth dem Aberglauben und dem Fatalismus unter den Hussen Vorschub geleistet. Auch sie hat oft blinden Argwohn und plötzliche Gewaltthaten bei einem Volke hervorgerufen, das von einem Uebel betroffen wurde, dessen Ursachen seinem Ver-ständniss nicht zugänglich waren. Der Ursprung des Feuers, das bisweilen der Blitz entzündet, ist oft ebenso dunkel und räthselhaft, wie der einer Seuche. Darf man sich deshalb wundern, dass die populäre Einbildungskraft darin ebenfalls (ine von Gott kommende Züchtigung erblickt, gegen die keine anderen Mittel als Beten oder wunderthätige Bilder helfen? Es ist erst kurze Zeit her, da war dieses Gefühl bei dem Bauern noch stark genug, um seine Arme Angesichts der hochaufschlagenden Flammen zu lähmen. Man hat beobachtet, wie die Leute ihre Häuser ausräumten, Kleidungsstücke und Geräthe fortschleppten, die Rahmen ihrer Doppelfenster aushoben und dabei mit dem Rufe: „Das ist Gottes Finger!", ihr Dorf einen Raub des Feuers werden Hessen. Das Institut der Brandversicherung, das in Bussland noch segensreicher als sonst wo wirken kann, begegnete in diesem Volksglauben einem unerwarteten Hinderniss. Von fatalistischem Zweifel geleitet, machte sich der alte Landmann Gewissensbisse darüber, dass er sich vor einem vom Himmel gesandten Uebel schützen sollte, und es widerstrebte ihm, sich mit Geld Schutz gegen den Zorn von oben zu erkaufen. Viele Gemeinden würden ganz ohne Versicherung geblieben sein, wären nicht von der Gouvernements-Versammlungen obligatorische Assekuranzen eingerichtet worden. lauen gleich resignirten Empfang bereiten die Dorfbewohner manchmal noch den neu auftauchenden Krankheiten, welche ihre Herden oder ihre Familien decintiren, und den Insekten-Flügen, welche unvermuthet über ihre Felder herfallen. Der Süden Russlands ist nicht immer vor furchtbaren Verwüstungen der Wanderheuschrecken sicher, und 1880 hat man es im Gouvernement Oherson erleben müssen, dass die Bauern sich weigerten, Massregeln zum Schutze vor jenen Zerstörern zu ergreifen. „Gott zürnt'*, sagten sie, „die Heuschrecken sind eine Strafe, die er über uns verhängt". Und ohne sich zu regen, blieben sie vor den Locustenschwärmen sitzen, immer mir wiederholend: „Wenn der Tag der Züchtigung vorüber ist, dann werden die Heuschrecken wieder fortziehen". Um den Starrsinn dieser Musclüks zu beugen, musstc sich die Civilbchörde an den Klerus wenden; aber das Landvolk ist weit davon entfernt, den Ermahnungen der Priester stets Gehör zu schenken und sich ihnen willfährig zu zeigen. Der Schicksalsglaube ist einer der prägnantesten Züge des Nationalcharakters. Allgemein bei den Hauern, dringt er häufig genug zu Personen und Klassen hindurch, die ihrer Erziehung nach davon frei sein sollten. Er ist eben mit der russischen Denkweise verwachsen. Man merkt Spuren von Fatalismus ebenso in den Momenten todesverachtender Tapferkeit, wie in stunden völliger Resignation, ebenso bei der Anlehnung des Volkes, wie bei seiner Unterwerfung, in der Tollkühnheit nicht weniger, als in der Entmuthigung, in den Anwandlungen fieberhafter Thätigkeit gleichermassen wie bei der grössten Abspannung und im Verneinen, wie im Glauben; er schleicht sich selbst in die Vergnügungen und Neigungen des Russen ein, so in die Leidenschaft beim Hasardspiel, welches ja im Grunde überhaupt einen gewissen Glauben an die Zufälligkeiten und an die Macht des Geschickes voraussetzt. Wenn der Russe faktisch etwas Orientalisches an sich hat, so verleiht ihm dies sein Hang zum Fatalismus. Mit dem Fatalismus verbündet sich oft noch der Mysticismus, und zwar ein nicht eingestandener Mysticismus, der Bich selbst nicht kennt, sich häufig verleugnen möchte und sich zu schämen scheint, über sein Dasein Klarheit zu erlangen. Die von den Einheimischen lange Zeit nicht bemerkte mystische Ader fällt dem Fremden bald auf; wir wenigstens haben dieselbe schon seit geraumer Zeit beobachtet und auch besprochen.1) Seitdem man in Europa diesen russischen Mysticismus nach und nach bemerkt hat, ist man vielleicht versucht gewesen, ihn stark zu vergrössern und ihm in der Hilteratur, dem Denken und dem Charakter der Slaven einen zu hervorragenden Platz anzuweisen: es ist jedoch nicht richtig, dass alle Russen davon erfasst sind. Ueberau auf unserem bejahrten Erdball ist er selten. Möglicherweise ist man auch deshalb um so eigenthüm-licher davon berührt gewesen, dem Mysticismus in Russland zu begegnen, als er sich dort oft mit Eigenschaften mischt, die mit ihm nicht zusammen passen. Wie ein leichter Dunst schwebt er so zu sagen über Russland, und senkt er sich auch nicht auf alle Seelen herab, so doch auf gewisse ') Siehe z. B la Revue des deux mondes du 15. Oot. 1873, p. 880-88S. zart besaitete, leidenschaftliche oder krankhafte Gemüther. Die Em-pfänglichkeit für den Mysticismus scheint nicht, wie man vielleicht vermuthet, mit den Jahren abzunehmen, sondern der Jüngling verwahrt sich bisweilen besser dagegen, als der Mann, und am meisten leidet das reifere Alter daran. Wer mit fünfundzwanzig davon frei zu sein schien, den packt er häutig noch mit fünfzig Jahren. Gogol und Leo Tolstoi können als Beispiele hierfür gelten. Solchen Umschwung oder, besser gesagt, solch eine Bekehrung zum Mysticismus hat man auch anderswo gesehen; in Russland erklärt sie sich aus fortdauernden Ernüchterungen und aus den verhängnissvollen Täuschungen, die das russische Leben gewöhnlich zu erfahren hat. Die engen Grenzen der intellektuellen Thätigkcit unter dem Selbstherrscher-Regiment; die Schranken, gegen welche die persönliche Initiative in allen Richtungen anstösst; der Stillstand, welcher unabhängigen Geistern früher oder später geboten wird; die schlecht verhüllte Nichtigkeit amtlicher Existenzen und die ganz offenkundige alles dessen, was nicht zum Staatsdienste gehört; mit einem Worte, die Ohnmacht zu handeln und die Unlust zu wollen, die Nutzlosigkeit der Anstrengung, die im Alter naturgemäss lebhafter empfunden wird, leiten oftmals starke Seelen, die sich in anderen Ländern fruchtbringender Arbeit gewidmet hätten, der Geisterwelt und dem Mysticismus zu. Vielleicht ist das aufreibende Klima auch daran Schuld, denn die moralischen Kräfte leisten ihm vielfach nicht besser Widerstand, als die physischen; man altert schnell unter jenem Himmel. In Russland ist der Mysticismus viel mehr im Norden als im Süden zu Hause, und er giebt der Isba1) des Landmannes vor dem Herrenschlosse den Vorzug, weil der Muschik intimer mit der Natur in Berührung kommt und die des Nordens gewöhnlich melancholischer und geheimnissvoller ist. Der russische Mysticismus lässt, übrigens meist die Züge seines Bodens und Volkes erkennen und verliert den heimathlichen Erdgeruch nie, erzeigt nicht jene köstliche und fröhliche Poesie des verzückten Franz von Assisi, der in seiner christlichen Liebe die ganze lebende Welt ans Herz schloss, den jungen Vöglein predigte und „seinen Schwestern, den Schwalben". Dazu bedarf es gewiss der lachenden Thäler Umbriens oder Galiläas. Hat nun der russische Mysticismus nicht die Anmuth desjenigen der Franziskaner, so ist ihm doch auch selten die abstossende Strenge des orientalischen Asketenthums eigen; geht er einerseits ebenfalls ') Anm. d. Uebers. : Ka6a heisst für sich schon Bauernhaus, Bauernstube. oft grillenhaft, plump und prosaisch einher, so ist er dennoch meist nicht ganz so düster oder gar menschenscheu. Selten verliert erden Sinn für die Wirklichkeit völlig, vielmehr merkt man ihm eine gewisse auf das Praktische gerichtete Sorgfalt bis in seine wunderlichsten Vorstellungen hinein an. Sein Flug geht nie über die Gipfel, denn der leere Aether der Himmelsräume und die dünne Luft der Indien Bergspitzen ist jenen Kindern der Ebene nieht bekannt. Auch in seinem kühnsten Aufschwünge verliert der Russe die lade nicht aus den Augen und mit den sonderbarsten Träumen, erregt durch das religiöse Illuminaten-Wesen1) oder durch eine politische Utopie, vermischt er öfters die praktischsten Berechnungen: eine merkwürdige Verbindung, der man auch in anderen nordischen Ländern begegnet, z. B. in England und vor allem in den Vereinigten Staaten. Hierin zeigt sich eine der sonst seltenen Aehnlichkeiten zwischen Russen und Amerikanern. Es kommt dies daher, dass der Grundzug des russischen Charakters ein verborgener Positivismus und ein bisweilen unbewusster Realismus bleibt, der sich unter Allem, was ihn bedeckt und versteckt hält, deutlich zeigt. Wir nahmen schon Gelegenheit, von diesem Zuge zu sprechen, und es reicht aus, hier daran zu erinnern.a) Nicht nur in der Litteratur und im Roman, findet man das, was die Occidentalen Positivismus und Mysticismus, oder Naturalismus und Idealismus genannt haben, verschmolzen, sondern auch in der Seele, im Leben und im Charakter des Hussen. Die Kontraste, welche schon Joseph de Maistre in den Ideen und Sitten seiner Gastfreunde an der Newa zu schildern liebte, haben wir bei allen Bewohnern Russlands wiedergefunden.3; Das muss man stets festhalten, wenn man den Russen verstehen will. Gerade dieses Nebeneinander von entgegengesetzten Zügen macht die Ursprünglichkeit seines Nationalcharakters aus, es verleiht ihm etwas Ueberraschendes, Unruhiges, Ungreifbares, und weil derselbe immer neue Entdeckungen oder Räthsel für den Forscher in petto hat, wird sein Studium so anziehend. Beim Russen ziehen sich die Gegensätze an. Alle jene Widersprüche des Temperaments, die autfälligen Kontraste im Charakter, treten in seiner Religion klar zu Tage, und nirgends vielleicht in schärferen Konturen und mit grösserer Plastik, als in seinen Sekten. Läge kein anderes Interesse vor, so wäre die Untersuchung seiner ') Anm.d. Uebers.: Uluminat, ein Erleuchteter, z. lt. Anhänget Swedenborgs. ») Siehe Bd. I, Buch III, Kap. II. 3) Siehe Bd. I, Buch III, Kap. III. - 2(5 — Glaubenslehren, seiner gottesdienstlichen Gebräuche, seiner abergläubischen Vorstellungen, seiner dummen und plumpen Ketzereien doch immer ein höchst merkwürdiges Kapitel nationaler Psychologie. Drittes Kapitel. Von dem Wesen der Religion in Russland. — Ist es wahr, dass das russische Volk nicht christlich ist? — Charakter des religiösen Fühlens bei ihm. Wie sein Christenthum bisweilen ein äusserliches geblieben ist. — Gründe dieser Thatsache. — Die Art und Weise wie Itusslaud bekehrt wurde. — In welcher Form der Polytheismus unter dem Christenthum sich erhalten hat. — Slavische (Jütter und christliche Heiligen. — In welchem Sinne das russische Volk ein bireligiöses ist. — Christliche Riten und heidnische Begrifl'e. — Beharrlichkeit des Hexenwesens. — Religion, die wie eine Art Zauberei angesehen wird. — Warum das russische Volk trotzdem nieht wenigen als ein christliches zu erachten ist. — Einfluss des Evangeliums auf seinen Gedankenkreis, seine Sitten und sdiie Litteratur. Wir studieren das religiöse Bewusstsein der Russen; aber ist denn dieses Volk fhatsächlich religiös, ist es in Wahrheit christlich? Verdient der unklare, rohe Glaube des Muschiks Überhaupi den Namen Religion? Entstammen seine verworrenen Lebens- und Weltanschauungen wohl dem christlichen Bekenntnisse? Viele von seinen Landsleuten best reiten dies: für eine bedeutende Anzahl Russen ist llussland weiter gottesfürchtig noch christlich. In Petersburg und selbst in .Moskau ist das eine Art Axiom geworden. Leute von übrigens durchaus verschiedenen Meinungen, stimmen hierin völlig überein. Glaubt man ihnen, so hat der Muschik von der Religion nur den Schein und besitzt vom Christen nur das Aeussere. Ja, in gewissen Kreisen ist dies nicht nur ein Gemeinplatz, sondern druckt sogar einen nationalen Wunsch aus. Man ist geneigt, sich damit zu brüsten und vergiS8t dabei, dass, wenn auch nur ein Tröpfchen Wahrheit daran haftete, der Grund zu jener Erscheinung besonders in der niedrigen Kulturstufe des Landes zu suchen ist. Schon unter Nikolaus, schrieb — wenn ich mich nicht irre — Bielinsky, eins der Orakel des russischen Gedankens, an Gogol: „Betrachten Sie das Volk genau, und Sie werden die Wahrnehmung machen, dass es von Grund aus gottlos ist. Es hat seinen Aberglauben, indessen es hat keine Religion." Und in den Augen mehr als eines Petersburgers gereicht dies dem Volke zum Vorzug. Man findet es vortheilliaft. dass, sowohl vom Standpunkte der Religion als von dem der Politik, der russische Geist eine tabula rasa ist. Ein Russe, Schüler und Freund Littres, hat die Ansicht vieler seiner Landsleute über diesen Gegenstand klar ausgedrückt; er wirft uns vor, dem Eintritt Russlands in die Reihe der christlichen Nationen allzu grosse Bedeutung beigelegt zu haben.1) In Russland, sagt Wyrubof, gab es wohl Kirchen, aber es hat dort niemals eine Religion gegeben, es sei denn die primitivste Vielgötterei. Die Kirche hat nach und nach das Heidenthum aufgelöst, ohne dass es ihr gelungen wäre, etwas anderes an seine Stelle zu setzen. Das im Ver-hältniss zu seinen Bedürfnissen ohne Glauben gebliebene Volk hat sich allen möglichen abergläubischen Vorstellungen und Sonderbarkeiten zugänglich gezeigt. In der That ist Russland weder jemals wirklich christlich noch orthodox gewesen; es hat sich von Anbeginn nur einer Scheintaufe unterworfen. Ferner wird der Einwand erhoben, dass die Unterthanen des Zaren wohl einen Kultus, aber keine Religion hätten. Da möge man aber doch nicht vergessen, dass dies ein Ergebniss ist, zu dein man aus analogen Gründen in manchem anderen Lande und in ganz anderen Epochen gelangen kann. Gewiss reichte für die Waräger Wladimirs ein Bad in den Fluten des Dnjepr nicht hin, um sie als Christen dem Flusse entsteigen zu lassen. In Kiew und Nowgorod, wie späterhin in Moskau, hat lange ein verborgenes und unbewusstes Heidenthum im Schatten des byzantinischen Kreuzes regieren können. Aber wenn man die Geschichte befragt, so ergiebt sich, dass Russland weder der einzige Staat Europas gewesen ist, in welchem das Christenthum offiziell mit einer Art von Gewaltstreich eingeführt wurde, noch der einzige, in welchem der Christenglaube geraume Zeit ganz äusserlieh und oberflächlich blieb. Die Franken Chlodwigs und die Sachsen Karls des Grossen scheinen uns das Christenthum nicht viel besser verstanden zu haben, als die Drusolünniks2) Wladimirs und Jaroslaws. Wir könnten in dieser Hinsicht eine seltsame Annährung zwischen den Franken, wie Gregor von Tours sie gezeichnet hat, und den in der Chronik Nestors3) beschriebenen Slaven konsta-tiren. Beide Länder und beide Epochen näher vergleichend, würde man bei dem Mönche von Kiew und bei den Ruriks nicht einmal 1) Siehe die „Philosophie positive", Nov. 1873 und August 1881. *) Atim. des Uebersetzers: AityvKtiiuiiiKi. = Landwehrnumn j hier wohl allgemein = Soldat/ 3) Anm. des Uebersetzers: Nestor, ältester slavischer Chronist. Gestorben um 1146 als Mönch in Kiew. das kleinste Maass von Religion und christlichem Sinn antreffen. In Kussland, soweit es durch die fürstlichen Apanagen dargestellt wird, haben die Kirche und das Bekenntnis« kaum weniger Einfluss auf die Herrscher ausgeübt, als dies im Abendlande bei den Karolingern und ersten Kapetingern der Fall war. Man braucht nur die Rathschlüge und Lehren zu lesen, die Wladimir Monomachus seinem Sohn gab;1) Kaiser Ludwig der Fromme oder der König Robert2) hätten in ihrem Testamente keine höhere Achtung vor dem Evangelium oder keine lebhaftere Sorge um die Kirche an den Tag legen können. Auch gegenwärtig ist Russland nicht das einzige Reich beider Hemisphären, in welchem sich das ('hristenthuni oft genug auf rein äusserliche Gebräuche und nothdürftige Kenntnisse reduzirt. Was gewisse Russen von ihren Landsleuten behaupten, das haben sowohl Staatsangehörige als auch Fremde von manch einem Volke Europas oder Süd-Amerikas gesagt. Wie oft hat man es nicht wiederholt, dass der Neapolitaner oder der Andalusier und noch weit mehr der Mexikaner und der Peruaner mit all seiner Frömmigkeit, seiner Bilderund Heiligenverehrung faktisch gar kein Christ sei und dass durch den dünnen Firnis seines Schoin-Christenthunis überall die alte Vielgötterei hindurchschimmere? Für den Vorurtheilslosen steht demnach Russland in dieser Hinsicht doch nicht so isolirt da, wie eine Menge Russen anzunehmen scheinen. Es ist kein zureichender Grund vorbanden, dem .Muschik den Namen Christ vorzuenthalten; denn sonst müsste man denselben sehr vielen Anderen auch absprechen. Man würde sonst zu der Absurdität gelangen, dass diejenigen Länder, in denen die Religion am meisten in Ehren gehalten worden ist, in denen ihre Riten und Vorschriften die stärkste Gewalt über die Massen bewahrt halten, weder Religion noch Christenthum überhaupt besüssen. Die Religion, die erhabenste wie die niedrigste, steigt oder sinkt in ihrer Würde und in ihrem Werths je nach dem Medium, das sie aufnimmt. Bei einem unwissenden, rohen Volke wird sie auf einer entsprechend tiefen Stufe stehen bleiben. Zwischen ihr und ihrem Anhänger herrscht eine Wechselwirkung; sie wird materiell, sobald sie ihn nicht vergeistigen kann: sie kommt herunter mit demjenigen, welchen sie nicht zu erheben vermag. Die Religion ergreift die Menschen mehr innerlich oder äusserlich, je im Verhältniss zu ihrer Bildungshöhe; und zwar fängt ihre Herrschaft am häutigsten ') Lager, hat in seiner „Chronieschwöningslbnueln, an denen die moskowitischo „folk lore" sehr reich ist. Man besitzt deren in christlicher und in heidnischer Form: nicht selten wird in ihnen Christus gleichzeitig mit der Sonne und der feuchten Erde angerufen. Eebrigons ist das Beten zu den Elementarkräften, zu den 1 bissen, den Winden und der „dreimal heiligen Sonne" in der russischen Volkspoesie aller Zeiten häufig. Man vergl. z, B. A. Rambaud: la Russie epique. die Wanderer vom rechten Pfade forüockt und irreleitet. Und auch der Domowoi, der Hausgeist, dessen Platz vorzugsweise der Ofen, der Herd des Russen, ist, existirt nach wie vor. Alle diese phantastischen Wesen spielen eine wichtige Rolle in den Liedern und Erzählungen des Volkes. Sümpfe, Seeen und Wälder haben sie in der russischen Einbildungskraft entstehen lassen.1) In Russland mehr als anderswo lebt der Polytheismus hauptsächlich in dem Heiligenkultus weiter fort. So sehr auch die alten Slavengötzen in Vergessenheit gerathen sein mögen, sie verschwanden doch nur dadurch vom russischen Erdboden, dass sie die Gewänder christlicher Heiligen anlegten. Obgleich sich ähnliche Metamorphosen im griechischen Orient wie im römischen Occident vollzogen haben, so begegnet man denselben doch nirgends häufiger als in Russland. Durch sie allein wird das hohe Ansehen gewisser, noch nicht einmal kanonisirter Heiligen und die Rangordnung im Himmel der Hussen erklärt. Der Platz, wehdien das gläubige Volk seinen Lieblingsheiligen anweist, steht in gar keiner Beziehung zu ihren von der Kirchengeschichte berichteten Thaten oder zu der Reihenfolge in der orthodoxen Liturgie. Man hat die Wahrnehmung gemacht, dass die unter den Bewohnern des christlichen Himmels am meisten verehrten oft die am wenigsten menschlichen und historisch wahren gewesen sind, also diejenigen, welche sich die Legende ganz nach ihrem Belieben zugestutzt hat. Der Grund dafür liegt auf der Hand: die Legenden-Heiligen, die Engel und die Propheten des alten Bundes, denen der Russe am meisten ergeben ist, haben fast durchweg einen mythischen Charakter bewahrt. Mehrere unter ihnen sind nichts anderes als degradirte, ihrer heidnischen Würden beraubte, oder geläuterte Götter, welche sich aus dem ersten Russenthum in das orthodoxe Paradies eingeschlichen haben, indem sie, wenn möglich unter Beibehaltung ähnlicher Namen, an einen Heiligen ihre Attribute und ihre Aufgaben abtraten. So hat z. B. St. Blasius, auf russisch Wlas, nach ortsüblicher Vorstellung das Amt des antiken Wolos oder Weles, des Herdengottes, übernommen. Der slavische Jupiter, Perun,2) der Gott des Blitzes, dessen Standbilder in den Dnjepr und den Wolkof gestürzt wurden, ist in der Gestalt des Elias, Jlija wieder auf die Altäre erhoben. Der von einem feurigen Wagen gen Himmel getragene Prophet Israels wurde der Nachfolger des Donnergottes der alten Küssen, J) Siehe z. Ii. Ralston: The Songs of the Russian people. -) Anm. des Uebersetzers: Ilcpyin. = Blitz, Blitzstrahl. L e r oy-B c a ul i o u , Iteioh d, Zaruu u. d. Russen. III. Bd. ebenso wie derselbe Elias bereits bei den (1 riechen der Erbe des Helios, des Sonnenlenkers, geworden war. Wenn es donnert, dann rollt — meint der Musehik — der Wagen des Propheten, der ausser dem Blitz auch den Sturm und den Hagel beherrscht, über die Wolken.*) Eine Geschichte aus dem Gouvernement Jaroslaw, zeigt ihn wie er die Ernten eines Bauern vernichtet, welcher St. Nikolaus feierte, ohne das Fest des heiligen Elias zu begehen.*) Bei anderen Heiligen ist der mythische Charakter nicht weniger stark hervortretend; so z. B. bei St. Nikolaus, beim Erzengel Michael und bei St. Georg, einem der Patrone des Reiches, dessen Reiterbild, gleichfalls heidnischen Ursprungs, das National-Wappen ziert. St, Georg und St. Michael und desgleichen Andreas und Petrus theilen mit Elias die Erbschaft Peruns, des slavischen Thor. Ein ander Mal, am 23. April, seinem Frühlingsfeste, wird der tapfere Georg zum Beschützer der Herden und erscheint, wie St. Blasius, als Nachfolger des Gottes Wolos. In der Legende von dem ritterlichen Drachen-tödter, der an Perseus und an den christlichen Bellerophon erinnert, verwirren und vermischen sich heidnische und christliche Ideen hei den Russen, wie es bei den Griechen und Lateinern ganz ebenso der Fall war. Kaum anders verhält es sich mit St. Nikolaus, dem mächtigsten lind am meisten angerufenen von allen russischen Heiligen, welcher nach dem Volksglauben auch derjenige ist, der Gott im Weltregiment folgen soll, wenn letzterer „alt wird". St. Nikolaus hat die verschiedensten Pflichten zu erfüllen: unter seiner Obhut stehen die Kinder (wie im Abendlande), die Matrosen und die Pilger und alle Nothleidenden beten zu ihm. Im Gegensatz zu dem oft unfreundlichen und strafenden Elias ist Nikolaus der in jeder Hinsicht gütige, dienstfertige und hüllreiche Heilige; daher bemerken wir auch aller Orten, wo Russen weilen, seinen Kultus in erster Linie. Bei den Bewohnern Sibiriens ist er der Heilige des Ackerbaus und des Bieres, dessen Fest zur Erntezeit gefeiert wird. Die Heiden jenseits des Urals legen für ihn dieselbe Ehrerbietung an den Tag, wie die Rechtgläubigen: so die nicht getauften Wotjaken und die Ostjaken, welche ihn Kola, den russischen Gott, nennen. In Kuropa wie in Asien erkennen mehrere J) Hierzu vergl. besonders Asanief: Poetitschesskija wossränija Slavian na prirodu (HoaTHiuecKlji iui.i.i|>i;niii dammi. na ii|>ii[>»,iy) 1; Ralston: The Songs of the Russian people, und L. Leger: Esquisse sommaire de la mythologie slave; Nouvelles etudes slaves, 2« Serie 188G. '2) Afanasief: Xarodnyja Kusskija Legendy, No. 10. Kaiston: Russian tolk-tales, p. 340. offiziell zum Christenthum bekehrte finnisch-türkische Stämme kaum einen anderen Gott an, als St. Nikolaus; beschränkt sieh doch die ganze Religion der Tschuwaschen an der Wolga auf Pilgerfahrten, die man zu seinen überall äusserst zahlreichen Heiligthümern unternimmt. Auf diese Weise kann man noch heute in Russland selbst die einzelnen Phasen der religiösen Umbildung, des Heidenthuines oder des Fetischdienstes zum Christenthum verfolgen. Die Art, mit welcher der Bauer seine Heiligen verehrt, die Meinung, welche er von ihrer Macht, ihrem Schutzvermögen und ihrem Zorne besitzt, ist oft noch völlig heidnisch. Er fürchtet sich vor ihrer Rache und hütet sich ängstlich, ihre Eigenliebe zu verletzen, er bemüht sich sehr um ihre Gunst, und grollt seinerseits, wenn sie ihn vernachlässigen. „Hilft er (der Heilige) dir, so bete ihn an; hilft er dir nicht, so stelle ihn unter den Topf," sagt eine volksthümliche Redensart.') Bekanntlich nehmen die Heiligen-Bilder, diese moskowitisehen Laren, nach orientalischer Sitte in jedem Hause, ja fast in jedem Zimmer einen Ehrenplatz ein; ihnen gilt der erste Gruss jedes eintretenden Russen, und will Jemand (z. B. ein Mädchen von zweifelhafter Moral), eine Handlung begehen, die sie aufbringen könnte, so verhängt ihnen der Sünder vorsorglich das Gesicht. Der Russe hat die Gewohnheit, die Heiligen und Christus selbst dadurch zu ehren, dass er brennende Kerzen vor ihre Bildnisse stellt. Während des Gottesdienstes reichen sich die hinter einander stehenden Gläubigen kleine Wachslichte von Hand zu Hand, und diejenigen, welche der Ikonostase1*) zunächst ihren Platz haben, legen sie vqi derselben nieder. Einst brachte am St. Georgsfeste ein Bauer zwei Kerzen dar, und als man ihn fragte, warum er das thäte, antwortete er ehrlich: „Die eine für den Heiligen, die andere für den Drachen1-. Und wie dieser Biedermann dort wäre gewiss noch Mancher geneigt, neben dem heiligen Georg oder Michael auch dem von jenem zu Boden geschlagenen Wurm seine Verehrung zu bezeugen, denn, wie *) „Goditsia, molitsia; ne goditsia, gorchki pokrivat". (Anm. des Uebers.: — So steht im Original. — Man ruft gelegentlich den Bilderhündlern, die mit schlechter Waarc hausiren, zu: „Ne goditjssja Bögu molitjssja, guditjssja görschki pokrywätj" (ll«- riMirn.ni Borj jio.ihti.oi, ii>,t,htm-h i(i|iiiii;m nipgnn), d. h. ,,lCr taugt nicht dazu, dass man ihn anbete; er ist gut, um Töpfe damit zuzudecken!" (»Er", der Bilderheilige.) Dazu stimmt nicht ganz des Verfassers „Te sert-il, prie-le; ne te sert-il pas, mets-le sous le pot". 2) Anm. des Uebersetzers: Uko.....ihci., die mit Heiligenbildern verzierte Scheidewand zwischen dem Altar und dem Schiff der Kirche. (Lenstroem's Wörterbuch.) angedeutet, besteht in dein, was das Volk glaube, ein unbewusster Dualismus: das Leben erscheint ihm wie der Kampf zweier Prinzipien, von denen eins das andere ausschliesst, weshalb man in den volkstümlichen Ueberlieferungen die Erinnerung an zwei feindliche Götter, an den weissen Gott, den des Guten, und an den schwarzen, den des Dösen, wiederzufinden gemeint hat. Obgleich nun diese Anschauung — wenn man den Mythologen trauen will — ungenau ist, so zeigt sie doch eine klare Uebereinstimmung mit den Gedanken und der Religion einer grossen Anzahl Muschiks. Man könnte sagen, dass unter ihrem Christenthume ein gewisser verborgener Manichäismus steckt; und in der That glauben mehrere populäre Sekten, überall den Teufel oder den Antichrist zu entdecken. Mehr als einmal ist es bemerkt, dass wenn der russische Ackerbauer unter eine Götzendienst treibende Bevölkerung versetzt wurde, er ausserordentlich leicht die abergläubischen Vorstellungen seiner neuen Eingebung und bisweilen sogar die heidnischen Riten adoptirte. Namentlich in Sibirien lassen sich sehr viele strenggläubige Bauern durch die plumpen Verführungen der Schamanen bestechen und schliessen sich den Religionsübungen derselben an; und an den Ufern der Lena besuchen viele die buddhistischen Ueiligthümer der Burjäten, ihrer Nachbarn. Bis in die Gegend von Irkutsk, der Hauptstadt Ost-Sibiriens und dem Sitze eines orthodoxen Erzbisehofs, werden in den russischen Isbas (Bauernhäusern) burjatische Götzen und in den Hüften der Burjäten wiederum Bildnisse des heiligen Nikolaus angetroffen. Sogar in Europa, in den Landschaften an der Wolga, wird der Bauer oft genug von den polytheistischen oder den Fetisch-Lehren einer der benachbarten Völkerschaften, z. B. der Tschuwaschen oder der Tscheremissen angesteckt. Es scheint, dass der halb aus dem Sumpfe des Heidenthums aufgetauchte Muschik jeden Augenblick wieder in denselben zurückzusinken droht, wenn nicht bald eine hülfreiche Hand naht, die ihn hält und emporzieht. Die ungeheure Ausdehnung des Landes, die Entfernung der geistigen und religiösen Mittelpunkte von einander, die ungenügenden Fähigkeiten und die Nachlässigkeit eines gleichzeitig zu wenig zahlreichen und zu wenig gebildeten Klerus sind ebensoviel^ Gründe für den niederen Standpunkt und die Entartung der Religion. Ja, was schliesslich bei einem solchen Volke am meisten Wunder nehmen muss, das ist nicht die oftmalige Verbindung des Christenthums mit heidnischen Anschauungen, sondern der Umstand, dass der Christenglaube dort überhaupt fortlebt und besteht, und dass er nicht völlig von dem stachligen Rankengeilecht des Heidenthums erstickt worden ist. Unter der christlichen Vielgötterei des Muschiks liegt eine weitere und noch tiefere religiöse Schicht, welche man, etwas nachgrabend, gleichennassen bei allen orientalischen Völkern am Grunde dos geistigen Lebens entdeckt, nämlich die Zauberei. Man kann vom Don-oder Wolgabauern nicht verlangen, dass er den uralten Glauben an Zaubermittel und Hexereien aufgebe, wenn solche Anschauungen noch jetzt den ländlichen Boden derjenigen Gegenden überwuchern, welche am frühesten civilisirt worden sind. Hier geleitet uns wieder das sich in der russischen Isba darbietende Schauspiel um mehrere Jahr/hunderte zurück. Das Vertrauen auf wundertätige Geheimmittel, die Furcht vor dem bösen Blick und vor schlimmen Ahnungen und der Glaube an die Verwirklichung der Träume und an Verwünschungen sind in keinem anderen zeitgenössischen Lande so allgemein verbreitet als in Russland. Es giebt tatsächlich kaum ein Dorf, das nicht seine Zauberer hätte, und eines der im Volke am meisten verbreiteten Bücher ist der „Traumdeuter".1) Dieser Aberglaube ist so fest eingewurzelt, dass man versucht wäre, den Boden oder die ihn bebauende Kasse dafür verantwortlich zu machen, wenn man nicht wüsste, wie gewaltige Mühe es der Kultur gekostet hat, seiner in Ländern Herr zu werden, die in jeder Hinsicht besser daran waren als Russland. Der Norden ist alle Zeit das Land der Zauberei gewesen, der Hexenglaube hat dort einen sehr düsteren Charakter bewahrt; vor allen Stämmen oder Nationalitäten Kuropas aber war dies namentlich lange bei den Finnen der Kall. Kein Volk setzte ein so unbedingtes Vertrauen in die Kraft und Wirksamkeit der Verwünschungen, als die Kinnen, und die tschudischen (liiMiischeu) Zauberer haben in Kussland wie in Skandinavien noch jetzt ihren alten guten Ruf. Die in den Dörfern Finnlands gesammelten Ueberlieferungen und Poesien räumen dem Zauberwesen einen so hervorragenden Platz ein, wie er in der Litleratur sonst, niemals vorkommt. Das umfangreiche Gedicht, dessen einzelne geschickt verbundene „Kunos", das Nationalepos Kaiewala2) gebildet haben, enthält die Summe der magischen Formeln und Beschwörungen. In dieser düstern Iiiado, dieser nebligen Odyssee des Nordens kämpfen die Beiden nicht etwa mit Feuer und Schwert, sondern Zaubersprüche und Talismans sind ihre Streitwaffen; mit Beschwörungen aller Art werden die Feinde niedergeworfen und die widerstrebenden Kiemente bezwungen. Die Hauptperson, der alte „Runoia Wäinämöinen", ist J) Anm. des Uebersetzers: Couttttt --- Ssonnik, Traumbuch. -) runo heisst Gedicht, Kulewala Riesengcdicht. - 38 - nichts als ein gottähnlicher Zauberer, der Achilles oder Odysseus des Hexenthums. Lönnrot und die finnländischen Gelehrten, welche die „Ilunos" der Kaiewala sammelten, haben zu gleicher Zeit auch Zauberformeln und Exoroismen veröffentlicht, die dazu bestimmt sind, alle Gefahren, mit denen übelwollende Wesen in ihrem Zorn den Menschen bedrohen können, zu bannen. Bei den heutigen Finnen, wenigstens bei den protestantischen, haben Religion und Kultus das Joch der ärgsten Tollheiten dieses Aberglaubens stark erschüttert. Anders verhält es sich damit im eigentlichen Kussland. Der Gross-Russe, in dessen Adern so viel linnisches Blut rinnt, der Russe, welcher durch tschudische Wahrsager im Zauberglauben erzogen wurde, ist den Salzungen seiner Vorfahren und seiner Lehrer weitaus treuer geblieben. Bei jeder öffentlichen oder privaten Noth-lage und sobald Krankheit, Theuerung oder Epidemien eintreten, nimmt der Muschik jedenfalls seine Zullucht zu der Wissenschaft des Magiers oder der erprobten Erfahrung der Zauberin, „der klugen Frau". In manchen Dörfern lässt der Bauer seinen Acker regelmässig durch den Hexenmeister weihen, nachdem ihn der Friester gesegnet hat, und erfüllt so alle Förmlichkeiten nach zwei Seiten hin. In Sibirien und in einigen Gegenden des Nordens erheben die Zauberer und Schamanen sogar eine Art Zehnten dafür, dass sie die [< und bedeutet andersgeschlechtig, einem anderen Stamme oder Volke angehörig. :|) Von allen Schriftstellern, welche Licht in diese Vorgänge gebracht haben, möchte ich nur Kawelin anführen: Mysti i zaniätki o Russkoi isstorii. Gedanken und Bemerkungen über russische Geschichte. *) Mehrere Werke von G. Samarin und von Khomiakof haben deshalb in Deutschland gedruckt werden müssen. Lande gegenüber für eine Pflicht, mit seinen persönlichen religiösen Neigungen vor dem, was nach der herrschenden Meinung im Interesse der ganzen Nation erforderlich ist, zurückzuhalten. „Was meine Religion anlangt", sagte in Moskau eine Dame der Gesellschaft, „so hin ich einfach Christin, ohne Ansehluss an ein bestimmtes Rekenntniss; am meisten zieht mich der Protestantismus an, jedoch als Russin bin ich leidenschaftlich orthodox".1) Ebenso denken — wenn sie auch nicht dieselbe Sprache führen — die meisten ihrer Landsleute: da sie Russen sind, sind sie Orthodoxe oder Pravoslaven, wie der Ausdruck in der Landessprache lautet.2) Die bereits hundertjährige Rolle einer Beschützerin der griechischkatholischen Kirche hat Russland zu viele Vortheile gebracht, als dass ein Patriot dort wagen würde, sie gering anzuschlagen, denn derartige historische Missionen tragen gewöhnlich ebensoviel Nutzen als Ehre ein. Die politischen Rücksichten und der Instinkt des Volkes decken sich hierin so gut, dass man in Petersburg stets damit gerechnet hat. Zwischen den Russen und dem griechischen oder rumänischen Orient ist die Religion das einzige wirklich dauerhafte Band, vielleicht das am schwersten zerreissbare unter allen, welches sie mit ihren Stammesgenossen an der Donau verknüpfte; denn früher oder später wird bei den durch den moskowitisehen Adler selbstständig gemachten Slaven das Bewusstsein der Rassenverwandt" schaft von einem eigenen Nationalgefühl in den Hintergrund ge-(Irängt werden: der Slave wird dem Serben, dem Bulgaren weichen. Die Letzteren würden die Messe nach römischem Ritus hören, wenn Kussland nicht mehr Macht über sie hätte als über die Polen. Besitzt aber die russische Politik in Griechenland, Rumänien und Serbien noch einige Sympathien, so muss man dieselben hauptsächlich bei dem Klerus suchen. Sollte sich dieses fromme Werkzeug etwa in Europa abnutzen, so konnte es doch in Asien noch gute Dienste leisten, wo es ja den Zaren bereits Georgien und Transkaukasien erschlossen hat. Die Orthodoxie galt und gilt dem russischen Volke für ein Primat, dessen sich, umgekehrt wie andere Nationen in analogen Fällen, das Reich des Nordens zu entledigen nicht gewillt ist. Nach Aussen wie im Innern scheinen die Geschicke des Staates 1) Anm. des uebersetzers: Es ist vielleicht nicht übcrlh'issig, daran zu erinnern, dass „orthodox" hier fast immer soviel heisst wie streng griechisch-katholisch und demnach „Orthodoxie" Rechtgläubigkeit in diesem Sinne bedeutet. 4) Anm. des Uebersetzers: lIpuoeitftMdi, pravoslavnii, rechtgläubig. mit denen der Kirche verschmolzen zu sein. Nachdem die orientalische Orthodoxie der erste Faktor der russischen Nationalität gewesen ist, bildete sie auch das Hauptelement der russischen Grösse; denn was sie unter den Ruriks und den alteh Zaren war, das ist sie, beinahe zwei Jahrhunderte nach Peter dem Grossen, heute noch. Wir müssen wiederholen, dass, seihst in unseren Tagen, die Religion dem gewaltigen Reichsgebäude als Eckstein dient und dass auf ihr der ganze autokratische Staat ruht. — Wir seh Hessen diese Betrachtungen womit wir sie begonnen haben: Russland ist nicht bloss ein christliches Land, sondern auch ein christlicher Staat; und indem wir dies behaupten, gehen wir viel weniger von dem gesetzmäs-iLieu Stande der Kirche oder den amtlichen EntSchliessungen im Staate aus, als vielmehr von den Begriffen und Vorstellungen des Volkes. Dem Kaiser geben die alten russischen Gesetze häufig den Titel „christlicher Herrscher", und unter diesem Titel erkennen sie dem Zaren eine unbegrenzte Autorität zu. Der Kodex fängt damit an, dass die Macht des Selbstherrschers verkündet und mit den vom Apostel selbst gebrauchten Worten1) im Namen des göttlichen Gebotes Gehorsam für ihn gefordert wird. Aber — noch einmal — was aus Russland einen christlichen Staat mit religiöser Grundlage gemach! hat, ist bei Weitem weniger das Gesetz und der von Staats wegen angeordnete Unterricht oder die Kirche, als der Geist und die Anschauungen der ungeheuren Majorität des Volkes. Für den Bauern ist der Zar der Stellvertreter Gottes, vom Himmel gesandt um die Nation zu regieren. — Das ist der Grand jener eigentümlichen öffentlichen und privaten Verehrung, welche dem Zaren, ihm, dem tiesalbten des Herrn, seitens des Muschiks zu Theil wird. Fr hat wirklich eine Religion, in deren Mittelpunkt der Kaiser steht, und die oft an Aberglaube grenzt; aber den Kultus, welchen der Bauer sowohl in seinem Herzen mit dem Kaiser treibt als auch ollen zur Schau trägt, der findet von da aus leicht seinen lichten Weg nach oben, zu Gott, der im L'vangelium „König der Könige" heisst und von seinen slavischen Büchern „der ewige Zar" genannt wird. Deshalb verneigt er sich und wirft sich vor ihm in den Staub oder schlägt auch ein Kreuz, wenn er vorüber fährt, wie er es vor den Heiligenbildern zu tbun gewohnt ist. Für dieses Volk bat der im Kreml *) „Der Kaiser von Russland ist ein Selbstherrscher mit unumschränkter ('"'"i |)iiiiii'ieinii.iii, neogramtschennyi) Gewalt. Gott selbst befiehlt, dass mau der Obrigkeit unterworfen sei, nicht nur aus Furcht vor Strafe, sondern auch um des Gewissens willen." Ks sind die Worte aus dem XIII. Kap. St. Pauli an die Körner. gekrönte und eingesegnete Kaiser einen durchaus religiösen Charakter; der Zar ist der Statthalter Gottes, gleichsam sein Stellvertreter: daraus erhellt die Macht und die entscheidende Stimme, welche ihm das orthodoxe Volk in allen kirchlichen Dingen eingeräumt hat; daraus erklärt sich im Weiteren der Geist der Folgsamkeit unter den Massen und der Umstand, dass nur ein kleiner Theil des Volkes an politischen Freiheiten Gefallen findet. Der Zar herrscht im Namen Gottes; würde es da nicht gottlos sein, sich den Befehlen desselben zu widersetzen? Und schleudert nicht die Kirche in jedem Jahr«; das Anathema gegen die Vermessenen, welche den göttlichen Beruf des Zaren anzuzweifeln wagen, ebenso wie gegen die Empörer, denen seine Regierung unbequem ist?1) Und ist nicht seine Unterwerfung unter die Obrigkeit vom Apostel selbst befohlen? Sind nicht Gehorsam und Demuth des Christen erste Tugenden? Diese Gedanken haben nichtnur unter dem einfachen Volke eine dauernde Stätte, sondern erfüllen auch die Köpfe vieler Gebildeten. Beschwor doch Konstantin Aksakof, einer der Panslavisten führet-, den Kaiser Alexander II. in einer demselben überreichten Denkschrift, er möge sich um keinen Treis der Autokratrie begeben, weil sie unter allen Regierungsformen dem Evangelium am meisten entspräche.8) lauer, der die Kämpfe des Nihilismus mit erlebt hat, beklagte sich über die dem Klerus bewilligten Vorrechte und fiel über die russische Theokratie,3) wie er sich ausdrückte, her. Diese von einem Revolutionär wie ein abgedroschener Vorwurf leicht hingeworfene Redensart könnte in vieler Hinsicht wörtlich uulgei'asst werden, denn die russische Regierung steht nicht mit Unrecht im Rufe einer theo-kratischen: am Postament der Autokratie lehnt die Priesterherrschaft. Dies aber darf hier nicht überraschen, weil sich anderswo dasselbe Schauspiel zeigt. Die meisten autokratischen Elegierungen, ob christlich ') „Diejenigen, welche ineinen, dass die rechtgläubigen Monarchen nicht durch Oottes besondere Gnade und Güte auf den Thron erhoben sind, und dass ihnen bei der Weihe und Salbung die Gaben des ledigen Geistes nicht verliehen werden, damit sie ihren hohen Beruf erfüllen können, und die sich gegen sie auflehnen und empören, wie Grischka, Otrepief, Iwan Mazeppa und Andere des nämlichen Frevels Schuldige, sie seien verflucht, verflucht, verflucht!" — Diese der russischen Kirche eigenen Verwünschungen werden in dem Gebete „von der Rechtgläubigkeit" feierlich recitirt, wo sie auf das Ana-thema gegen die Atheisten und Krzketzer folgen. 2) Denkschrift, zur Thronbesteigung Alexanders II. veröffentlicht im Jahre 188J von Iwan Aksakof zur Belehrung Alexanders III. 3) Stepiüak (Pseudonym): Bussland under the tzars, Eondres 1886, Anm, des Uebersetzers: „Russin under the Czars, London('.')" oder muhamedanisch, waren auf einem religiösen Prinzip gegründet. Die Kirche, anstatt auf die bürgerliche Gewalt herabzusehen, hat sich vergeblich den Anschein gegeben, als wäre sie jener untergeordnet: die russische Regierung ist doch eine Theokratie geblieben, und zwar in dem Sinne, dass sie sich ganz und gar auf den religiösen Glauben stützt. Ich möchte sie in dieser Beziehung mit der Oberleitung der Hebräer vergleichen, welche sich unter ihren Königen wie unter ihren Richtern dessen rühmten, dass sie von Jehova und seinem Gesetz regiert würden. Dieser Vergleich liegt um 80 näher, als der Russe seit Jahrhunderten sein Volk für das erwählte, das Volk des Herrn zu halten gewöhnt ist. Die Söhne des heiligen Kusslands hegen für ihren Gosudarj (Kaiser, Herrscher) etwas von dem Gefühl, welches die Juden für ihre Könige oder — wie es im Slavischen heisst — ihre Zaren David und Salome empfanden. Was also ist nun im Grunde das russische Regiment, diese Art von lebendem Anachronismus im modernen Europa? Das Zarenthum ist nichts anderes als eine patriarchale Theokratie, welche sich unter dem Drucke der Zeiten und dem Einfluss der Nachbarschaft als militärische und bureaukratische Monarchie verkleidet hält.1) *) Vergleiche Bd. II, Buch IV, Kap. 1, p. 219. Zweites Buch, Die orthodoxe russische Kirche. Erstes Kapitel, Allgemeiner Charakter der orientalischen Orthodoxie. — Muss man in ihr die slavische Form des Christenthuma erblicken? — Orthodoxie und Pravoslavie. — Von der untergeordneten Stellung der griechisch-russischen Kirche in der Geschichte der Civilisation. — Worin ist dieselbe begründet? — Dogmatische Verschiedenheiten zwischen der griechischen und der römischen Kirche. — Gegenüberstellung ihrer besonderen Gesichtspunkte. — Wie kann die Unbewcg-lichkeit der orientalischen Orthodoxie der 1 )enkf'reiheit Vorschub leisten? — Die Verfassung der griechich-russischen Kirche. — Das Fehlen einer Central' gewalt. — Seine Folgen. — Tendenz, nationale Kirchen zu bilden, — Einverleibungen der russischen Kirche und Zerstückelung des byzantinischen Patriarchates. — Der „Pbyletismus". — Wie in der orientalischen Orthodoxie die religiösen Kämpfe gewöhnlich politische Streitigkeiten verdecken. Wie die anglikanische Kirche, so ist auch die russische eine nationale, und gleichzeitig wie unsere gallikanisehe Kirche ein Zweig der grossen christlichen Gemeinde, die über Völker- und Staatentheilungen hinausragt. Diese Zweiggemeinschaft nennt sich selbst heilige katholische, apostolische, rechtgläubige Kirche; wir über werden ihr hier nur die letzte dieser Benennungen, die auch ihre Anhänger mit Vorliebe gebrauchen, beilegen und die Bezeichnung katholisch auf ihre grosse Rivalin im Abendlande anwenden. Zur Zeit ihres Bruches mit Rom gehörten zur orientalischen rechtgläubigen Kirche vielleicht nicht ganz zwanzig Millionen Seelen; heute beläuft sich die Zahl ihrer Anhänger auf ungefähr hundert Millionen, von denen etwa achtzig Millionen russische Unterthanen sind;1) der Rest besteht zur Hälfte aus den Slaven der ehemalig türkischen Gebiete oder Oesterreich-Ungarns. Diese Kirche also, welche ursprünglich ganz hellenisch war, und die wir noch jetzt die griechische nennen, findet die allergrösste Zahl ihrer Mitglieder unter den Slaven, und seiner Civilisation wie seiner Machtstellung nach, nimmt Russland in ihr den ersten Platz ein. .Man hat den Katholicismus oftmals als die romanische Form des Christenthums angesehen und den Protestantisinus als die germanische; solieben es die Russen, in der Orthodoxie seine slavische Gestalt zu erblicken. Allerdings zeigt sich wenigstens ein Unterschied: die Slaven haben sich fast gleichmässig in die beiden Schwesterkirchen getheilt, da sie, anstatt ihren Glauben nach und nach zu formuliren denselben — ihrer Art und Weise gemäss, Fremdes zu entlehnen — als etwas Fertiges überkommen haben. Die Wahrheit ist, dass die Religion eine scharfe Grenzlinie quer durch die slavische Welt gezogen hat, und die Geschichte lehrt, dass die orientalische Orthodoxie in nicht höherem Grade slavisch, als der Katholicismus römisch ist. Haben auch Russen, Serben und Bulgaren sie zu ihrem nationalen Kuhns erhoben, so ist doch der Latinismus bei den Polen, Kroaten, Slovenen und sogar bei den Czechen kaum weniger volkstümlich gewesen, und Slaven, die gewöhnlich für durch und durch orthodox gelten, haben — wie unlängst auf russischem Hoden die Ruthenen, und die Bulgaren zur Zeit ihrer Crosse — zum Thcil lange zwischen Rom und Byzanz geschwankt. Wenn unter den heutigen Slaven die Anhänger des orientalischen (orthodoxen; Ritus numerisch überwiegen, so wird dies nicht durch eine verborgene Stammeseigenthümlichkeit motivirt. sondern einzig und allein durch geographische oder politische Verhältnisse; ja, es kann kaum von etwas anderem, als von dem Phänomen der Gravitationen die Rede sein. Genau wie Körper, welche nach entgegengesetzten Richtungen angezogen werden, haben sich die morgenlandisehen und die Slaven des Occidents nur den Gesetzen der Attraktion gefügt. als sie sich, die Einen zur Ilagia Sophia und die Anderen zu Sankt Peter wandten. Trotz der in Moskau sich breit machenden Meinung sind die katholischen Slaven ebenso gut Slaven wie die orthodoxen. Freilich *) Von dieser Summe nu'isstc man eigentlich mehrere Millionen auf die russischen Sektirer abrechnen; indessen wir werden sehen, dass die ZiHer schwer zu bestimmen ist, und dass sieh die meisten von ihnen eher gegen die offizielle Staatskirche als gegen die orthodoxe Kirche aullehnen. haben die Ersteren im allgemeinen mehr fremden Einfluss an sich erfahren. Dies ist ein Moment, welches sieh schwer best reiten lässt, und man kann selbst gegenüber den moskowitisehen Slavophilen nicht völlig in Abrede stellen, dass die Religion dabei eine Rolle gespielt hat. Aber mag auch das Slaventhum der römisch-katholischen Slaven weniger unberührt erscheinen, mag seine Entwicklung weniger frei, weniger aus sich selbst heraus von Statten gegangen sein, so ist die Religion doch nur indirekt daran Schuld gewesen. Der Hauptgrund wird vielmehr in der Ueberlegenheit der ?0n Rom aus verbreiteten abendländischen Kultur über die von den Orthodoxen aus Konstantinopel empfangene zu erblicken sein. Wenn in den Augen der Russen die katholischen Slaven mehr oder minder ohne ausgeprägte Nationalität sind, dann liegt es daran, dass letztere sich nicht umsonst der abendländischen < 'ivilisalion genähert haben. End so erscheinen sie möglicherweise deshalb weniger als Slaven. weil sie auf einer höheren Stufe geistiger Eildung stehen. An Stelle des griechischen „orthodox" haben die Russen den Ausdruck „pravoslavisch'' gesetzt.1) Obwohl dem griechischen knechtisch nachgebildet, erweckt dieses doppelsinnige Wort heim Fremden leicht die irrthümliche Ansicht, dass die Orthodoxie ursprünglich slavisch sei; und doch handelt es sich hier nur um die Ueherein-stimmung von Lauten,-) denn die orientalische Orthodoxie hat gar nichts so spezilisch Slavisches, dass sie berechtigt wäre, sich Pravo-slavie zu nennen. Weit entfernt davon, dass eine slavische Konfession oder ein slavisoher Glaube existirt, giebt es eigentlich nicht mal einen slavischen Ritus, da die Slaven eher eine eigene Kirchen-Sprache als eine slavische Liturgie besitzen. Von einer russischen, serbischen und bulgarischen Kirche darf man wohl sprechen, nicht aber von einer slavischen im Allgemeinen, da ihre Majorität in der alten griechisch-orthodoxen Kirche den Slaven noch keineswegs die Berechtigung gewährt, jener ihren Namen aufzuzwingen. Wären die germanischen Völkerschaften alle Rom treu geblieben, so würde die römische Kirche deshalb um kein Haar deutscher geworden sein: die orthodoxen Slaven waren eben nur die Proselyten der Griechen, wie die Germanen und Angelsachsen die Roms gewesen sind. Den Glauben, welchen sie von ihren byzantinischen Lehrern empfingen, J) Anm. des f'cbersctzers: Vergl. Seite 52 Anm. '2) Die phonetische Aehnlichkeit mit dem ethnographischen Ausdruck ist ganz unwesentlich; pravoslavisch mit ortboslavisch übersetzen, heisst nur ein Spiel mit Worten treiben. haben sie sich genügen lassen, als ein anvertrautes Gut in Verwahrung zu nehmen, und haben ihm nach keiner Seite hin ein besonderes, slavisehes Gepräge aufgedrückt. Sie hatten weder einen Luther, noch Reformation überhaupt; denn die bulgarischen ISogomils des Mittelalters und die russischen Rasskolniks unserer Tage sind nicht damit zu vergleichen.1) Um einer wirklich slavischen Religionsbewegung zu begegnen, muss man den Boden der griechischen Kirche verlassen und sich zu .Johann Huss und den katholischen llöhmeii wenden. Vergebens ist der orthodoxe Glaube mit der russischen Nationalität auf das Innigste verwachsen und ist für das Volk wahrhaft national geworden, er bleibt dessenungeachtet immer der griechische; es hat nicht genügt, das Credo und das Rituale in's Slavische zu übersetzen, um seinen hellenischen Charakter zu verwischen. Griechisch ihrem Wesen und Ursprünge nach, slavisch durch die Majorität ihrer Anhänger, hat die orientalische Orthodoxie dank den Russen schon seit langer Zeit ihre alten historischen Grenzen überschritten; sie überragt nach allen Richtungen den von ihr anfänglich ausgefüllten Platz, ohne dabei in "Wirklichkeit universell geworden zu sein. Weder auf einen Stamm noch auf einen Staat ist sie angewiesen. Gleich dem Katholicismus und dem Protestantismus linden sich die Kinder der griechischen Kirche unter jeder Nation und Rasse: in Europa bei den Helenen, den Rumänen, den mit mannigfachen Elementen gekreuzten Slaven, Albanesen und selbst, mitten unter den Hussen, bei den diesen zur Hälfte assimilirten iin-nischen Stämmen; — an der Pforte Asiens bei den Georgiern; in Syrien und in Aegypten bei den Arabern und Semiten; im Herzen Sibiriens bei von ihren Beherrschern bekehrten Völkern türkischer oder mongolischer Abkunft und in weiter Perne bei den Aleiden, welche die Verbindung der neuen mit der alten Welt herstellen. Auch in Nordamerika sitzen ihre Jünger, und in Alaska blieb, als es von den Russen an die Vereingten Staaten abgetreten wurde, ein orthodoxer Bischof zurück. Dank der russischen Fürsorge besitzt die orientalische Kirche Missionen in China und Japan; in Tokio re-sidirt ein russischer Bischof, zu dessen Diözese bereits ein zahlreicher eingeborener Klerus gehört. Vom schwarzen Meere bis zum pazitischen Ocean erobert die orientalische Kirche Asien, indem sie zum Theil „den Gegner im Rücken fasst". Wenn sich das Christenthum ]l Ainn. des l 'ebersetzers: Bogomile, orthod. die Dreieinigkeit nicht anerkennende Sekte; russ. öoroao.n, hebst Betbruder. — Rasskolnik, russ. pneBOjn.-HiiKi.. der von der Kirche Abtrünnige. jemals dieser Gegenden bemächtigt, so wird die religiöse und politische Propaganda der Hussen, wahrscheinlich der Orthodoxie einen breiten Antheil an jenen Eroberungen zuerkennen.1) Diese grosse Kirche — das können ihre Söhne nicht leugnen — Steht in der Geschichte der Zivilisation keineswegs so bedeutend als der römische Katholicismus da. Nachtheilig und hinderlich hat gerade das Zusammengehen der orthodoxen Kirche mit der slavischen Nation gewirkt. Unsere europäische Kultur konnte beide leicht entbehren, während sie verstümmelt wäre, hätte sie sich des protestantischen und des katholischen Einflusses, d. h. desjenigen der deutschen und der rumänischen Völker entzogen. Woher kommt diese auffällige Inferiorität, unter welcher Kussland doppelt gelitten? Ist sie auf Rechnung des Kultus oder des Stammes zu setzen? Alan hat oft die relative Ueberlegenheit der protestantischen und katholischen Nationen erörtert; die niedere Kulturstufe der Völker des orientalischen Bekenntnisses wurde kaum in Zweifel gezogen, und für dieselbe stets die Religion verantwortlich gemacht. Protestanten und Katholiken des Abendlandes haben in der byzantinischen Orthodoxie das Hauptmotiv dafür, dass der europäische Osten hinter dem Westen zurückgeblieben ist, zu linden gemeint. Man pflegte jene Kirche, für ein Prinzip der Erstarrung, für eine Art Ein-SChläferungsmittel zu halten; ja, man stellte die morgenlandische Form des Christenthums beinahe wie einen stehen gebliebenen Islam dar, der die Völker, welche er mit festen Banden umstrickt, in vollkommene Regungslosigkeit versetzt, Jedoch hat man, wie uns scheint, in dieser Krage Ursache und Wirkung verwechselt; man hat vergessen, dass sich die Religionen nicht mit einem todten Stoffe abgeben und dass, wenn auch die Völker oft durch ihre Kulte geformt und beeinllusst worden sind, diese noch viel häutiger die Form, welche die Völker ihnen aufprägen, annehmen. Im fünfzehnten Jahrhundert ist die untergeordnete Beschaffenheit der hellenischen Kirche unbestritten, sie war es indessen nicht im zehnten. Es fragt sich also, ob der byzantinische Glaube, oder der Gesammtcharakter des Morgenlandes, welcher die griechische Orthodoxie versteinerte, den Orient in eine Mumie verwandelt hat. Ist es faktisch die Kirche, welche die Civilisation des Russen, des Bulgaren und des Serben hintertrieben hat? Sollte nicht die Unterlegenheit dieser Völker die Kirche ]) Die Russen haben selbst versucht, in Afrika mit der alten jakobitischen Kirche Abessiniens Beziehungen anzuknüpfen. — Gl — herabgezogen haben? Unserer Ansiebt nach haben äussere, von der Religion und von der Kasse unabhängige Einflüsse den Fortschritt der Kultur bei den orthodoxen Nationen aufgehalten, respektive verlangsamt, die hergebrachte Thatlosigkeit der Kirche resultirt aus der Unproduktivität der Völker, und beide werden durch die Jahrhunderte alten Lücken ihrer Erziehung motivirt. Die gewöhnlich der orientalischen Kirche beigemessene Schuld muss unbedingt zu einem guten Theile auf die politischen Schicksale ihrer Kinder gewälzt werden, auf eine von vielfachen Stürmen beunruhigte, zu keinem Abschluss gelangte und gewissermassen entstellte Geschichte; von da aber fällt diese Schuld der Geschichte wiederum auf die geographischen Verhältnisse und die Lage aller dieser orthodoxen Völkerschaften zurück, welche als Vorposten der Christenheit in den am wenigsten europäischen Regionen unseres Kontinents leben und den Einfällen des benachbarten Asiens am meisten ausgesetzt sind.1) In Byzanz war, wie heute in Russland, die Ursache der Schäden, an denen die Kirche krankte, vielleicht mehr politischer als religiöser Natur. Anstatt den Fortschritt des Despotismus des „Bas-Empire" (Ost-Rom zur Zeit seines Verfalles) zurückzuhalten, war die Orthodoxie das erste Opfer desselben. Die Spaltung der beiden grossen Kirchen vermehrte das Uebel durch die Trennung des Orients vom Occident, wo das klassische Element und das barbarische sich besser vermengt und gegenseitig durchdrungen hatten. Die geographische Absonderung wurde noch durch die isolirte Stellung in religiösen Dingen erschwert; und gerade dadurch, also bei dem Bruch mit der grossen christlichen Gemeinschaft des Mittelalters, haben Russen, Serben und Bulgaren ihre Civilisation durch ihre Religion beeinträchtiget gesehen. Verlassen vom westlichen Europa, bisweilen sogar von demselben angegriffen, unterlagen die Völker des griechischen Ritus den wilden Horden Asiens und ihre nationale Entwickelung wurde auf Jahrhunderte hinaus unterbrochen. Nicht in ihr selbst ruht der Hauptgrund der Inferiorität der gräko-russischen Kirche gegenüber der römischen, oder doch wenigstens nicht in ihren Dogmen, noch in ihrer Zucht oder ihren Gebräuchen, sondern in dem Schisma, von welchem der Orient weit mehr Ungemach auszustehen hatte als das Abendland. Die Sitten, die Ueberlieferungen und der Geist der orientalischen Orthodoxie erklären in nicht geringem Maasse seine von dem römischen Katholi- *) Siehe Bd. I, Buch IV, Kap I und II. cismus so merk würdig abweichende Rolle in der Geschichte. Nur eine Untersuchung der Verschiedenheiten beider Kirchen gestattet eine Beurtheilung ihres entgegengesetzten Einflusses auf die Gesellschaft. Was wir meinen, sind nicht die theologischen Divergenzen selbst, sondern vielmehr deren Einfluss auf die Geistesbildung, die soziale Gestaltung und die Politik; denn Glaubenssatzungen, die scheinbar dem praktischen Leben entrückt sind, haben oft auf Sitten und Existenz der Nationen einen verborgenen Einfluss. Eisprünglich durch ganz nebensächliche Fragen über den Vorrang oder die Disciplin geschieden, baut sich heute das Dogma als unüberwindliches Hinderniss zwischen den beiden Kirchen auf: so sind sie Schismatiker, jede steht in den Augen der anderen als Ketzerin da. Lange Zeit existirten zwischen den Griechen und Römern keine anderen dogmatischen Meinungsverschiedenheiten als die, welche sich auf das Ausströmen des heiligen Geistes beziehen, da sich der Orient bekanntlich weigerte, dem Nicäischen Symbolum das Filioque der Abendländer hinzuzufügen. Ueberdies haben die Griechen, obgleich sie nicht zugestanden, dass der Geist vom Sohne ebensowohl ausgehe wie vom Vater, niemals ausdrücklich die entgegengesetzte Lehre verkündet. Dieser rein theologische Unterschied, der dem Orient und ganz Europa so viel Unannehmlichkeit und Mühe bereitet hat, lief mit einem Wort darauf hinaus, dass Rom die Definition des betreffenden Satzes zu weit getrieben hatte, indem es mit peinlicher Sorgfalt zu erläutern suchte, was Byzanz unentschieden Hess. Da die eine der beiden Kirchen sich nicht entsehliessen konnte auf der Bahn dogmatischer Erklärungen anzuhalten, während die andere sich nicht regte, so befanden sich beide nach und nach immer seltener in Uebereinstimmung und man lief Gefahr, aus der Uneinigkeit schliesslich eine völlige Trennung erwachsen zu sehen. Diese fand denn auch um so eher statt, als sich zu einer Jahrhunderte alten Abneigung nationale Leidenschaften und gelehrte Vorurtheile gesellten und die Theologen beider Lager, wenigstens die des Orients, griechische oder russische, unablässig bemüht waren, die Kluft zwischen Byzanz und Rom zu erweitern, indem sie die strittigen Punkte vervielfältigten, sie aufbauschten oder recht scharf hervorhoben. Den denkbar geringfügigsten Fnterschieden in den dogmatischen Formeln, im Ritus und in der Kirchenzucht wurde von den Griechen mit Fleiss die grösste Wichtigkeit zugeschrieben; sie mussten das Material liefern, aus welchem man, Rom zum Trotze, ein nationales System aufbaute, und nunmehr konnte man den Abendländischen auf ihren Vorwurf der Abtrünnigkeit mit einer Anklage wegen Ketzerei antworten.1) Und was ehemals die Griechen des Bas-Empire thaten, das haben später die Russen, den Byzantinern nacheifernd, oft genug wiederholt. So haben denn Rom und Konstantinopel, welche ungeachtet der wechselseitigen Verwünschungen der Päpste und Patriarchen noch im elften und seihst zu Anfang des zwölften*) .Jahrhunderts in Verkehr standen, endlich nicht nur zwei Kirchen, sondern auch zwei verschiedene Bekenntnisse und zwei getrennte Kulte in's Lehen gerufen. Im Gefolge dieses alten Streites über das Ausströmen des heiligen Geistes erhob sich, noch jüngeren Datums, der wegen des Fegefeuers. Wiederum entstand die Differenz grössten Theils daraus, dass bei den Griechen jenes Dogma nicht genügend präzisirt war. Die Orientalen haben ebenso wie die Römischen stets für die Todten gebetet, ihre Theologen jedoch haben den Zustand der abgeschiedenen, aber der ewigen Seligkeit noch nicht theilhaftigen Seelen nicht klar festgestellt. Nicht zufrieden, das ganze Ablasssystem der römischen Kirche zu verwerfen, zeigten sie sich über das geistige Feuer der Lateiner entrüstet, indem sie eine Läuterung durch die Flamme zurückweisen, den aus diesem Leben gegangenen Seelen die Möglichkeit, ihre Vergehen zu sühnen, absprechen, und für dieselben keine andere Abbüssung als die Bitten der Lebenden und die heiligen Mysterien zulassen.:!) Dieser doppelten dogmatischen Verschiedenheit, die in ihrem ersten Theile rein spekulativer Art ist, hat der Vatikan unter dem Papste Pius IX. zwei weitere, gleichfalls von den russischen und griechischen Geistlichen abgelehnte hinzugefügt, nämlich die immaculata coneeptio virginis und die päpstliche Unfehlbarkeit,'1) Von allen diesen älteren oder jüngeren Schismen hat einzig und allein dieses letzte eine T) Siehe z. B. Dollinger: Kirche und Kirchen, Papstthum und Kirchenstaat. '2) Diese gegenseitigen Beziehungen, die lange nach Photius (■[ 8!>1) und selbst nach Michel Gerullaire (?) noch fortdauern, erklären die Ehen russischer Prinzen und Prinzessinnen von Kiew mit Gliedern der römischen Kirche, z. B. die Verbindung Annas, der Tochter Jaroslaws, mit unsenn König Philipp I. 8) Hierüber siehe besonders: Dr. W. Gass, Symbolik der griechischen Kirche (1S72, p. 335-342. *) Während die Russen dem Vatikan die immaculata coneeptio als eine Neuerung vorwerfen, schmeicheln sich die katholischen Schriftsteller damit, diese Lehre in der russischen Liturgie und in der Tradition der moskowitisehen Altgläubigen entdeckt zuhaben. Le P. Gagarinc: IVKglise russe et l'lmmaculcc Conception (1870). wirkliche, religiöse und politische Bedeutung, da in ihm sämmtliche Meinungsverschiedenheiten beider Kirchen zusammengefasst werden. Sogar der Akt der Öffentlichen Verkündigung gewisser Lehrsätze durch die Lateiner ist, sobald die Griechen jede neue dogmatische Definition missbilligen, ein besonders ernster und wichtiger. Diese beständige Opposition offenbart eine ganz verschiedene Auffassung über die Rolle, welche der Kirche zufällt, und über den Weg, welchen das Christenthum einhergeht. Für die Katholiken bleibt die Zeit doklrinärer Erörterungen oder Berichte immer offen; für die Orthodoxen ist sie seit lange geschlossen: sie haben den Beschlüssen und Bestimmungen der grossen, dem Bruche mit Rom vorausgehenden Konzile nichts hinzuzusetzen. Gewisse römische Gottesgelehrte haben die fortgesetzte Veröffentlichung von Dogmen zur Regel erhoben und haben sie als eine Stufenfolge von Offenbarungen der Wahrheit hin-gesteUt, welche sich immer reiner und deutlicher den Gläubigen zeigt. Diese Anwendung moderner Entwickelungs- und Fortschritts-ideen auf die Theologie wird von der gräko-russischen Kirche durchweg mit Unwillen beobachtet; sie weigert sich energisch, ihrem Symbolum irgend etwas anzuhängen, oder dasselbe irgendwie verkürzen zu lassen. Unter Nikolaus sagte der Metropolitan von Petersburg, Seraphim, zu einem englischen Theologen, „unsere Kirche kennt keine Fortentwickelung".1) In dieser Beziehung steht die Orthodoxie dem Katholicismus ebenso fern, wie dem Protestantismus. Der Orient, welcher ehemals für das Abendland die Fundamental-Dogmen des Christenthums richtig gestellt und formulirt hat, er verurtheilt jetzt ebenso streng jegliche Hinzufügung zum Werke der alten Konzilien wie jede Beeinträchtigung desselben; denn in seinen Augen ist der Bau der christlichen Kirche seit Jahrhunderten fertig. Dieses Auseinandergehen der Ansichten hat bedeutsame Folgen. In der griechisch-russischen Kirche braucht sich weder das Gewissen der Gläubigen noch die Vorsorge der Staatsmänner mit der Möglichkeit neuer dogmatischer Entschlüsse zu befassen; denn weil die Grenzen des Glaubens für alle Zukunft festgestellt sind, so kann von dieser Seite weder zu öffentlichen noch privaten Unruhen Grund oder Vorwand gegeben werden. Da der Gläubige den Bestimmungen der Kirche aus vergangener Zeit unterworfen ist, so braucht er keine Furcht vor etwaigen zukünftigen zu hegen und kann sich nach seinem Belieben innerhalb der vom Dogma gezogenen Schranken bewegen. Während sich Rom, freie Meinungen in starre Glaubensregeln um- *) Palmer: Notes of a visit to the Russian Ghurch, London, 1882, p. 826. setzend, das Recht vorbehalten hat, seine Kinder in einen enger und enger werdenden Dogmenkreis einzuschliessen, findet seitens des auf ein ganz bestimmtes Gebiet beschränkten Orients weder eine Verringerung noch eine Erweiterung der Domäne des Glaubens statt. Dadurch, dass bei ihm der vom Dogma eingenommene Platz enger ist und nicht ausgedehnt werden kann, bleibt für die Diskussion ein viel weiterer Spielraum, der ausserdem gegen fremde Eingriffe ziemlieh sicher ist. Das ist einer derjenigen Unterschiede zwischen den beiden Kirchen, denen man nicht genug Rechnung getragen hat; in der orthodoxen giebt es weniger feste, unverrückbare Punkte, weniger Strenge beim Unterricht in kirchlichen Dingen, weniger Schärfe in den Delinitionen, demgemäss mehr Denk- und Meinungsfreiheil, mehr Raum für eine Mannigfaltigkeit von Gesichtspunkten und Schulen. Der berühmteste katholische Gegner der orientalischen Kirche, J. de Maistre, hat selbst diesen Vortheil benutzt, als er in seinen Soirees de Saint-Petersbourg einem russischen Senator seine kühnsten religiösen Hypothesen in den Mund legte.1) Die griechische Kirche besitzt nicht centrale Gewalt genug, um Irrthümern nachdrücklich entgegen zu treten, oder begründete Wahrheiten zu verkünden; das ist die zwiefache Ursache, warum der dem Gedanken und der individuellen Auslegung des Einzelnen offene Horizont um so vieles weiter und freier bleibt. Sieht man Geistesfreiheit als ein Element des Fortschritts an, 80 steht in diesem Punkte die griechische Kirche der römischen um nichts nach. Wenn die Orientalen heute aus dieser theologischen Ungebundenheit einen Vortheil ziehen können, so ist doch zu merken, dass dieselbe in vergangenen Tagen ein Grund oder besser ein Zeichen der Inferiorität war. Jene Unbeweglichkeit in den Dogmen, welche fast die Freiheit verbürgt hätte, rührte von Schläfrigkeit oder Trägheit her und war eine von den Wirkungen geistiger Erstarrung, die während mehrerer Jahrhunderte den Orient gelähmt hat. Wenn das christliche Griechenland, welches sich in seiner Jugendzeit allen Spekulationen und Grübeleien so sehr geneigt zeigte, aufgehört hat über religiöse Lehrsätze zu streiten und nachzusinnen, liegt dies nicht daran, dass unter dem türkischen Joche, welches auf den byzantinischen Despotismus folgte, sein müder Geist das Wohlgefallen an tieferen Forschungen eingebüsst hatte, um sich auf eitle Spitzfindig- *) So, wenn der grosse TJltramontnne zu verstehen giebt, dass die Berichte der ersten Kapitel der Genesis eigentlich nur Allegorien sein könnten. Ii e r o y-B e aul i e u , Reich d. Zaren ti. <1. Russen. III. Bd. 5 kciten zu beschränken oder sich in einem engen und kleinlichen Formalismus zu verzehren? Wenn ferner das moskowitisehe oder Petersburgische Russland die Abgründe der höheren Theologie nicht bis in die entlegensten Schlupfwinkel durchstöberte, sondern sich damit begnügt hat, frommen Sinnes das Vermächtniss alter Tradition zu erhalten, liegt dies nicht, daran, dass der russische Geist niemals Neigung zur Metaphysik verrieth, nicht daran, dass der russische Boden weniger Theologen als Philosophen hervorgebracht und dass Moskau die von den Griechen verlorenen Origenes, Athanasius und Gregor nie besessen hat? — Ist die orientalische Kirche in ihrem Dogma erstarrt, so geschah es, weil das Feuer ihrer Jugend erloschen war. Ein glänzender, aber manchmal paradoxer Vertheidiger der orientalischen Orthodoxie, Khomiakof, hat sich darin gefallen, in dem römischen Katholicismus und im Protestantismus ein gemeinsames nur im entgegengestzten Sinne ausgebildetes Prinzip nachzuweisen. Was der russische Slavophile Rom und der Reformation gleichzeitig unter dem Namen des lateinischen Rationalismus, (ohne zu bemerken, dass eine gleiche Richtung der modernen Philosophie und Wissenschaft ebenso wie der Scholastik und der Reformation eigen) zum Vorwurf machte, ist eben jener Geschmack an logischen Beweisen, an Erklärungen und Grübeleien. AVenn jeder ähnliche Hang aus der byzantinischen Kirche verschwunden ist, so verlor die orthodoxe Welt damit eine der treibenden Kräfte des Fortschritts in Zeiten, da der menschliche Gedanke sich ganz auf die Religion richtete. Im Hinblick auf die Vergangenheit bleibt dies im Leben der Völker des griechischen Ritus immer eine Lücke; was aber die Gegenwart, in welcher sich der intellektuellen Thätigkeit bei Weitem gefahrlosere und bestimmtere Gebiete öffnen als die Theologie, anbetrifft, so mögen die Jünger der gräko-russischen Kirche Nutzen daraus ziehen, dass im Orient jene dunklen und unsicheren Regionen weniger genau untersucht wurden. Sonach besteht zwischen der griechischen und römischen Kirche ein wesentlicher Unterschied durch die Art und Weise, wie die Fortbildung des christlichen Dogmas aufgefasst wird, noch tiefer einschneidend aber wirkt die Verschiedenheit, welche in der Organisation der kirchlichen Macht liegt. Mit einer ganz analogen Hierarchie von Priestern und Bischöfen, bilden die Regierungsformen beider Kirchen dennoch den vollkommensten Gegensatz. In der griechischen Orthodoxie existirt keine lebende Obrigkeit, vor welcher sich Alles beugen muss; denn nach den russischen Katechismen, die hierin mit den griechischen übereinstimmen, hat die Kirche kein anderes Oberhaupt als Jesu m Christum, und einen Statthalter, der seine Stelle auf Erden einnähme, erkennt sie nicht an. Angesichts der Streitfragen, die sich ehedem durch Verkündigung der päpstlichen Unfehlbarkeit in der katholischen Welt erhoben, waren die Orientalen, und hauptsächlich die Russen, stolz darauf, der geistlichen Monarchie Roms nicht unterworfen zu sein. Wie oft habe ich sie davon sprechen hören, dass man diesen Kontrast der beiden Kirchen aufrecht erhalten müsse, wobei sie sich ein Vergnügen daraus machten, alle seine, Folgen zu berühren und zu erörtern! „Russland", sagten sie zu mir, „nennt ihr die Heimstätte der Autokratie, und doch gestatte! ihr in Frankreich der viel absoluteren päpstlichen Herrschaft sich breil zu machen und fest zu setzen. Euer Prinzip der Machttheilung haben wir, obschon nicht im Staate, so doch in der Kirche. In dieser von euch so gering geachteten Orthodoxie sind die den Konzilien vorbehaltene legislative Gewalt und die den Bischöfen und Xationalsynoden übertragene exekutive und administrative Autorität, nie vereint, wie das in Rom der Fall ist, wo sie in einer Person unauflöslich verbunden sind. Die eines sichtbaren Oberhauptes entblösste Religion vermag nicht in gleicher Weise wie die katholische, den Gewissen oder dem Volke gegenübervermittelnd einzutreten; denn die Macht, welche sie vom Himmel empfangen hat, konzentrirt sich nicht in einer Stimme, welche den Menschen gebietet, Die Gesammt-Autorität der Kirche, welche bei uns die Stelle der persönlichen Unfehlbarkeit des Papstes einnimmt, besitzt kein immerwährendes Organ, dem es obläge, ihre Befehle und Beschlüsse bekannt zu machen; keiner unserer Bischöfe hat das Hecht, im Namen der ganzen Eirene zu uns zu sprechen; dies ist lediglich das Privilegium der ökumenischen Konzilien, und in solchen Versammlungen wird immer schwer, oft überhaupt gar keine Einigung erzielt. Bei uns wäre die Einführung der Inquisition auf grössere Schwierigkeiten gestossen und es hätte viel mehr Mühe gekostet, dieselbe in Wirksamkeit zu erhalten; nicht etwa, weil unsere Geistlichkeit seltener ihre Zuflucht zur weltlichen Macht genommen hätte; nicht etwa, weil sie sich nicht auch einfallen lässt, Ansichten oder Bücher gut zu heissen oder zu verbieten, sondern weil sich alles dies mit weniger Logik und mit weniger niederdrückendem Autoritätsgewicht vollzieht. Unsere Synode hat auch ihre „geistliche Censur", welche alle Werke zu beurtheilen hat, die religiöse Stoffe behandeln, und daraus ergiebt sich, dass in diesen Dingen die Press-Ireihcit nicht so unumschränkt ist, wie in den meisten katholischen Ländern. Jedoch trifft dafür nicht die Orthodoxie die Schuld, 5* sondern den Staat, welcher den kirchlichen Beschlüssen noch eine Bestätigung geben zu müssen glaubt, von der im Westen die bürgerliche Gewalt in der Regel Abstand nimmt, Aber selbst wenn wir von unsern Bischöfen verurtheilt oder von ihrer Censur zum Schweigen gezwungen sind, bleiben unsere Meinungen und unser Selbstbewusstsein im eigenen Gewissen viel freier als die einigen. Die Entscheidungen des heiligen Synod von Petersburg oder des Patriarchats von Konstantinopel können nur einen rein lokalen Werth haben, weder die einen noch die anderen behaupten unfehlbar zu sein; für uns giebt es nichts, was eurem „Roma lqcuta est" gleich zu achten wäre. Wir haben keinen Richter, dessen Autorität den Gewissen gegenüber mit derjenigen des Papstes oder der durch diesen berufenen Versammlungen verglichen werden könnte; wir haben keine Censurbehörden ohne Appelation, denen sich ein Fenelon unterwürfe oder denen ein La Mennais nur durch sein Ausscheiden aus der Kirche Widerstand zu leisten vermocht hätte. Selbst in Kussland ist unsere duchownaja eensura (geistliche Censur) kaum etwas anderes als eine kirchliche Polizei." So sprechen die Russen, und über diesen Punkt sind die Gegner ihrer Kirche mit ihren Lobrednern durchaus einig. „Zur Stunde herrscht", schrieb jemand der die Pravoslavie gut kannte, weil er in derselben erzogen war, „zur Stunde herrscht der sonderbarste Anarchismus in der russischen Kirche.1) Vorausgesetzt, dass ihr in der ersten oder letzten Kastenwoche zum Tische des Herrn geht, wird es keiner Kirchenbehörde in den Sinn kommen, euch über das auszufragen, was ihr glaubt oder nicht glaubt. Ihr könnt die Hauptdogmen verwerfen, und doch wird euch die Kirche nicht ausschliessen, so lange ihr euch nicht selbst aus ihrer Gemeinschaft zurückzieht," Diese letzte Versicherung des russischen Prinzen, der als Mitglied der Gesellschaft Jesu gestorben ist, mag wohl übertrieben scheinen, denn jeder Orthodoxe bleibt vor seinem Gewissen verpflichtet, seinen Glauben den Entscheidungen der Konzilien oder der Kirchenväter anzupassen. Deshalb ist es aber dennoch wahr, dass der orthodoxe Glaube eine ihm schwer zu entziehende Freiheit geniesst, weil die Konzilien nicht Alles und Jedes festgesetzt noch die Kirchenväter alles vorausgesehen haben, und weil die gelehrten Erörterungen und die moderne Exegese oft über die alten theologischen Streitigkeiten hinausgehen. Tn dieser wie in mancher anderen Beziehung ähnelt die gräko-russiche der anglikanischen Kirche, ja letztere hat l) Le P. Gagarinc: L'Eglise russe et lliumaculee Conceptiou, p. 51. mit ihren S9 Artikeln in Wirklichkeit vielleicht noch enger gezogene dogmatische Grenzen als die erste. In Russland ist wie in England diese freie Bewegung in dem weiten Gebiete des Glaubens nicht allen Gläubigen gleich erwünscht, ja, einigen ist sie sogar mehr ein Quell des Leidens als der Freude und Genugthuung. Gewisse Seelen bedürfen zu ihrer Stütze einer Autorität, die ihnen versichert, dass sie auf dem rechten Wege seien, und die ihnen jeden beängstigenden Zweifel erspart. Für sie gleicht die religiöse Ungewissheit, selbst wenn es sich nur um Fragen zweiten Ranges handelt, dem lockeren und erweichten Erdboden, in welchen man versinkt ohne schreiten und sich aulrecht erhalten zu können; sie müssen ein festes, kräftiges Fundament unter ihren Füssen spüren, das nicht wankt noch nachgiobt. Solchen Gern üthern würde an der griechisch-russischen Kirche einer der Hauptvortheile, die der Glaube gewähren kann, fehlen. — „Wenn sich beide ein Streit über rein theologische Angelegenheiten unter der Orthodoxie erheben sollte, z. B. vielleicht wegen der beiden Fragen, welche während der letzten Jahrhunderte Frankreich entzweit haben, nämlich wegen des Jansenismus und des Quietismus,1) welchem Tribunal i zur Ausführimg gelangt, als Fürst Danilo einen seiner Vettern auf den Bischofssitz berief und für sich selbst das weltliche Regiment in Anspruch nahm. gesetzte Bewegung., welche dem griechischen und dem abendländischen Katholicismus, also Konstantinopel und Horn ein so ungleichartiges Geschick bereitet hat. Im Occident spüren wir eine Anziehungskraft, die Alles einem gemeinsamen Centrum zuströmen lässt und dadurch jeden örtlichen oder nationalen Unterschied nach und nach verwischt: im Grient übt hingegen eine Cen tri fugal kraft ihre Wirkung aus, die Mittelpunkte, um welche sich das Leben gruppirt, unablässig vermehrend und jedem Volke eine unabhängige Kirche schaffend. Während Kom auf die nach Einheit strebende Monarchie lossteuerte, trennte sich seine byzantinische Rivalin in viele Unterabtheilungen und zerstückelte sich nach Nationen. Die Völker, welche wie die Russen, dem Christenthume durch die Griechen gewonnen wurden, standen in kirchlicher Hinsicht zu Konstantinopel durchaus nicht wie Provinzen, die für ewige Zeiten zur Unterwerfung und Abhängigkeit bestimmt waren, sondern bildeten eher Religionskolonien, deren jede ihre eigene Sprache und ihre Gebräuche beibehielt und die mit der Metropolo nur durch ein sich stetig lockerndes Rand verknüpft waren, das eines Tages gänzlich zerreissen musste, In der griechischen Orthodoxie giebt es als permanenten Sitz keinen Ort einer einheitlichen Centralgewalt. Wenn der Orient heut den Primat des römischen Stuhles noch nicht aniicht, wenn das neue Rom dem alten Kirchenstaate nicht den Vorrang streitig macht, so erkennen doch die Orientalen nicht im geringsten dessen Jurisdiktion an. Nach ihren Theologen sind Rom und Konstantinopel als Hauptstädte des römischen Reiches, die eine im Morgen-, die andere im Abendlande, die ersten Plätze der ganzen Welt. In ihren Augen ist der römische Papst nur der Patriarch des Occidents, und die Oberhoheit über alle Kirchen, welche sie ihm absprechen, würden sie auch keinem ihrer Patriarchen auf ewige Zeit zugestehen. Das Epitheton ökumenisch, welches der Patriarch von Konstantinopel seinem Titel zufügte, entsprach den kaiserlichen Prätensionen und hatte nur so lange etwas zu bedeuten, wie jener durch die Autoriii I der Kaiser gestützt wurde. Da die byzantinische Kirche ihre Ueber-legenheit nicht auf die Erbschaft des obersten Apostels gründen konnte, so musste sie früher oder später freiwillig oder gezwungen die Loslösung ihrer geistigen Töchter gut heissen. Die russische Kirche war die erste, welche ihre Unabhängigkeit herstellte, ihrem Beispiel folgten alle orthodoxen Staaten: Griechenland, Serbien, Rumänien. Für diese letzteren war, wie für das alte Moskowien, die Abhängigkeit, in welcher die Ottomanische Pforte das Patriarchat von Konstantinopel erhielt, nur ein Vorwand zur Ab- schüttelung der kirchlichen Suprematie Konstantinopels. Indem sich die orientalische Kirche mit den politischen Abzweigungen nach dieser und jener Richtung spaltete, gehorcht sie nur ihrem Prinzip, wie Rom dem seinigen gehorcht, wenn es nach möglichster Centrali-sation strebt. Die Gerichtsbarkeit des Patriarchen von Konstautinopel ist mit der Autorität der Sultane verbunden, welche an die Stelle der griechischen Kaiser getreten sind. Jede Zerstückelung des türkischen Reiches hat eine neue Abzweigung der byzantinischen Kirche im Gefolge, und die Befreiung der christlichen Völkerschaften vermindert das geistige. Uebergewicht des ersten orientalischen Bischofs. In der griechisch-russischen Kirche kann der Klerus eines unabhängigen Staates kein ausländisches Oberhaupt anerkennen. Mit ihrem hochtrabendem Titel „ökumenischer Patriarch" werden die Bischöfe von Konstantinopel in der orientalischen Gemeinde nur noch nominell die ersten sein und höchstens den Ehrensitz führen. Diese Richtung der Kirchen, sich auf die einzelnen Staaten oder Völker zu beschränken, lässt heikle Fragen entstehen, die oftmals vom Occident falsch verstanden werden. Weil der Staat seine Grenzen auf die Religion überträgt, so geht mit den nationalen Uneinigkeilen eine kirchliche Meinungsverschiedenheit Hand in Hand, und politische Einverleibungen bringen religiöse Annexionen mit sich. Russland liefert hierfür durch Georgien und Bessarabien ein doppeltes Beispiel; denn beide Länder wurden bei ihrem Eintritt in den russischen Staatsverband der Jurisdiktion der russischen Kirche untergeordnet. Was dieser kirchlichen Inkorporation ein besonderes Interesse verleiht, ist der Umstand, dass sich die Rumänen Bessarabiens und die Georgier des Kaukasus im Besitze, wofern nicht einer nationalen Liturgie, so doch wenigstens einer volkstümlichen Kirchensprache helinden. Als Russland ihnen den Synod, der seiner eigenen Geistlichkeit vorsteht, als oberste Behörde gab, da hat es trotz seiner Einigungsbestrebungen diesen Völkern fremder Abstammung doch llicht Überall den Gebrauch der slavischen Sprache, der einzigen, welche in der russischen Kirche zugelassen ist, aufgezwungen. Die Rumänen Bessarabiens haben keinen besonderen Bischof; dem russischen Bischof der Provinz zugetheilt, haben sie allein Parochicn, in denen in rumänischer Sprache Gottesdienst gehalten wird. Die kleine georgische Kirche, welche um fünf oder sechs Jahrhunderte älter ist ;ils die grosse russische, auch sie hat von dem Russen keine Fiel gÜnsl igere Stellung erhalten, obwohl ihr Rituale uralt ist. Wenn sie Em Reiche eine gesonderte kirchliche Provinz bildet und an ihrer Spitze Ginen Prälaten hat, der den Titel Exarch trägt, so ist dieser doch nur dem Namen nach fein Georgier. Thatsächlich ist er Russe, und in seiner Kathedrale zu Titiis wird, wie in Russland, slavisch gepredigt und amtirt, während man zum grössten Bedauern der Patrioten Georgisch nur noch in einigen Klöstern und ländlichen Kirchspielen hört, Die Annexionen der russischen Kirche linden ihr Gegenbild in der fortschreitenden Zerrüttung der Kirche von Konstantinopel Das bulgarische Schisma, welches seil 1873 der russischen Diplomatie so viele Verlegenheiten bereitet hat, ist ein Beispiel jener separatistischen Tendenzen. Bis dahin hatten die christlichen Völker der Türkei ihre politische Befreiung abgewartet, ehe sie dem Patriarchen von Konstantinopel ihre religiöse Unabhängigkeit anzeigten; die Bulgaren dagegen schlugen den umgekehrten Weg ein. In der Erwartung, eine Nation für sich bilden zu können, verlangten sie von der Pforte und dem Patriarchat die Errichtung einer autonomen bulgarischen Kirche. Das Eanar,1) welches unter türkischer Standarte die hellenische Hegemonie bis zur Donau und Save neugegründet hatte, musste mit aller Gewalt eine Forderung abweisen, die mit einem Sihlage die Resultate seiner hundertjährigen Anstrengungen vernichtet hätte; es konnte nicht ruhig zusehen, wie sich die ehemalige bulgarische Metropolie, deren Frinnerung seine Prälaten mit vieler .Mühe durch Fanführung des Griechischen an Stelle des Slavischen und durch Verbrennung der bulgarischen Messbücher zu beseitigen gestrebt hatten, aufs Neue erhob. Der Widerstand des Patriarchats war ein um so lebhafterer, je schwieriger es wurde, das neue kirchliche Gebiet zu umgrenzen. Würde man die Gebiete der jungen bulgarischen und der alten griechischen Kirche genau abgrenzen, so würde man damit beiden Nationalitäten feste Marksteine setzen und im Voraus den Slaven und Hellenen einen bestimmten Aulheil an dem Erbe der Ottomanen zuweisen. Ehe jedoch das Fanar in eine solche Theilung willigte, zog es vor, seine geistigen Waffen in den Dienst des hellenischen Nationalinteresses zu stellen, mit seinen bulgarischen Beichtkindern zu brechen und die aufrührerischen Slaven zu exkommuniziren. Das Patriarchat und die Synode von Konstantinopel behaupteten, dass die Ansprüche der Bulgaren den Kirchengesetzen zuwiderliefen. M Anm. des t 'ebersetors: Fanar oder Fanal ist das Leuehtthurins- oder Griechenviertel in Konstantinopel. Fanarioten sind dann besonders die edlen griech. Familien, aus denen früher die Hospodarc der Moldau und Wallache! entnommen wurden. Nach den Griechen sollten .sich die kirchlichen Grenzen mit den politischen genau decken: es könne in demselben Staate nur eine orthodoxe Kirche geben. Das Verlangen der Bulgaren im Schoosse des ottoinanischen Reiches eine autonome Kirche neben den Griechen zu bilden, wurde feierlich als Ketzerei verdammt und mit dem Namen Phyletismus bezeichnet.1) Die Verwünschungen der ,,grossen Kirche" haben die damals mit den Griechen unzufriedene Pforte nicht verhindert, durch einen Fir-man die bulgarischen Gemeinden zu einer autonomen Kirche mit der Benennung Exarchat zu erheben. Wenige Jahre später hatte sich Bulgarien als Fürstenthum konstituirt. Die Macht des bulgarischen Exarchen hatte sich mit dem neuen Staate und dem ephemeren von Bulgarien bald annektierten Ost-Rumelien begnügt, damit das ökumenische Patriarchat seinen eigenen Prinzipien gemäss gezwungen war, ihm seine Anerkennung nicht zu versagen. Aber kraft der grossherrlichen Befehle erstreckt sich die Jurisdiktion des Exarchen bis über die bulgarischen Grenzen hinaus auch auf die Diözesen von Thracien und Macedonien, welche politisch unter der Pforte stehen und welche der Hellenismus dem Slaventhum unablässig streitig macht. So besteht denn das bulgarisch-griechische Schisma fort, ohne dass Russland gewagt hat, sich für die eine oder andere der beiden Parteien zu erklären, und zwar aus Furcht, einerseits sich seine slavischen Brüder zu entfremden, andererseits bei den Gläubigen durch die Losreissung von der Mutterkirche Anstoss zu erregen. Die Proklamation der kirchlichen Unabhängigkeit der Serben, der Rumänen und der Griechen des Königreichs hatte ähnliche Schwierigkeiten nach sich gezogen. -) ') Phyletismus von fr/./, Stamm, Geschlecht, Nation. — Trotz dieser Ver-urtheiluim; hat der Phyletismus oder Nationalismus um nichts weniger bei den orthodoxen Unterthanen Oesterreich Ungarns und der Türkei triumphirt. Den Rumänen Ungarns ist die Errichtung einer autocephalen rumänischen Kirche Unter einem in Hermannstadt residhenden Metropoliten zugestanden worden. Während die Serben desselben Königreiches nach wie vor vom Patriarchen von Garlowitz abhängig waren. Für die Orthodoxen in Bosnien und der Herzegowina hat die Regierung in Wien ein Konkordat mit dem Patriarehen von Kon-Btantinopel geschlossen. *) Erat im Jahre IHKö haben der ökumenische Patriarch und seine Synode die rumänische Kirche als völlig unabhängig und mit den anderen autocephalen Kirchen auf gleichem Fusse stehend anerkannt, P>is 1KN.'5 liess der rumänische Klerus in jedem Jahre das „heilige Chrisma" (Anm. des Uebersetzers: Salb-, Weili-Oel.) aus Konstantinopcl kommen, und das Patriarchat hätte gern diesen Gebrauch als eine Art von Suprematie aufrecht erhalten. So lange die wechselseitigen Grenzen der Staaten und Nationalitäten im Orient nicht definitiv geregelt sind, droht durch ihr eigenes Prinzip auch der orthodoxen Kirche die Gefahr analoger Spaltungen; aber diese Kirchenspaltungen sind nur äusserlich religiöser Natur; in Wirkliehkeil sind sie nichts anderes als politische Parteiabzweigungen von wesentlich lokaler und vorübergehender Bedeutung. Diese zeitweiligen Trennungen hindern übrigens Russland und die kleinen christlichen Staaten des Orients sowie die orthodoxen Kirchen Oesterreich-Ungarns und die ehemaligen Patriarchate nicht, an der Meinung, dass sie nur eine Kirche bilden, festzuhalten. Sie haben auch das Recht dazu, weil ihre inneren Streitigkeiten schliesslich weiter nichts als bürgerliche Kämpfe sind. Die orthodoxen Völker gehören zwar der nämlichen Konfession an, jedoch das Band, das sie zusammenhält, ist nicht so eng geknüpft wie das, welches die katholischen Gegenden an einander fesselt. Die russische Kirche hat mit ihren Schwestern Dogmen- und Glaubenseinheit, aber keine Einheit des Regiments; ob gross oder klein, eine jede wacht über ihrer eigenen Verwaltung, ihrem eigenen Rituale und ihrer eigenen liturgischen Sprache. Das geistige Band des Glaubens ist das einzige, welches sie kennen, und eine internationale Gemeinde erheischt nach ihrer Meinung durchaus keine internationale Jurisdiktion. Die Patriarchen und Metropoliten der verschiedenen Staaten begnügen sich damit, einander ihren Amtsantritt anzuzeigen, und, wenn es nÖthig ist, mit einander zu korrespondiren und gegenseifige Rath; schlage auszutauschen. Die Gemeinsamkeit im Gehorsam, welche die römische Kirche charakterisirt, macht in der orthodoxen einem Prinzip der Uebereinstimmung Platz, das sich in gegenseitiger Unabhängigkeit zuerkennen giebt: auf der einen Seite die absolute und unitarische Monarchie, auf der anderen ein Bund, in welchem keine immerwährende Centraigewalt die Autonomie jedes Sonderstaates beeinträchtigt oder stört. Um die ganze orientalische Kirche unter eine einzige geistliche Behörde zu bringen, bedarf es nichts Geringeres als die politische Einigung des Orients, d. h. — wovon man in Moskau bisweilen träumt — die Annexion aller orthodoxen Völker durch Russland. Träte dieser Kall ein, dann würde der byzantinische Patriarch, als Unterthan des Zaren, in Wahrheit wieder der ökumenische Patriarch werden. Die verschiedenen Kirchen der Orthodoxie sind, um hinsichtlich des Glaubens und der Kommunion vereint zu bleiben, auf keinen gemeinsamen Mittelpunkt angewiesen, denn die Unvcrändcrlichkeit des Dogmas sichert ihnen jene Einigkeit zu. Da der traditionelle — Ii — Glaube weder Zusätze noch Kürzung erfährt, so haben auch die Kirchen, welche sich zu ihm bekennen, jede über den Nationen stehende Autorität, Papst oder Synode, ständige oder periodische entbehren können. Das Band der Gemeinschaft vermag kaum auf ändert» Weise zerrissen zu werden, als durch Entzweiungen in Betreff der Jurisdiktion, welche aber die Möglichkeit baldiger Wiedererneuerung desselben gewähren. Biese Kirchenorganisation nach Völkern und Staaten hat, gemäss den Lobrednern der orientalischen Orthodoxie, den Vorzug, zwei anderwärts getrennte Dinge in Uebereinstimmung zu setzen: religiöse Einheit und kirchliche Unabhängigkeit, Allgemeinheit oder Katholizität und Nationalität. Sie schmeicheln sieb, damit dem aus dem Wege zu gehen, was sie römisches Weltbürgerthum nennen, ebne doch in die, von ihnen so bezeichnete, Anarchie des Protestantismus zu verfallen.1) In Russland waren die Slavophilen so sehr von dieser Verfassung des griechich-slavischen Christenthums eingenommen, dass sie darin den Keim einer religiösen Neugestaltung Europas erblickten, wie sie in der halbsozialistischen Kommune Gross-Russlands das Hülfsmittel zu unserer wirtschaftlichen Umgestaltung entdeckt zu haben vorgaben. Für die Geschichte ist die Nalionalisirung der orientalischen Kirchen gleichzeitig ein Zeichen ihrer Stärke wie ihrer Schwäche, nirgends ist dies deutlicher zu Tage getreten als in Russland. Zweites Kapitel. Folgen der nationalen Konstitution der orthodoxen Kirche. — Einmischung der bürgerlichen Macht. — Wie das innige Verhältniss der Kirche zum Staate für die geistige und politische Freiheit eher ein Hindcrniss gewesen ist. — Vom Gebrauche einer nationalen Sprache in der Liturgie. — Das Kirchen-slavische. — Seine Vorzüge für die Entwiekelung der Nationalität, seine Nachtheile für die Civilisation. — In welchem Sinne nimmt die orientalische Orthodoxie eine Mittelstellung zwischen dem Katholicismus und dem Protestantismus ein. — Von der heiligen Schrift und den Bibelgesellschaften in Russland. — Die beiden Strömungen, welche sich um die russische Kirche streiten. Als erste Folge der nationalen Konstruktion der Kirchen mit griechischem Ritus Wäre die Einmischung der bürgerlichen Macht in ihre inneren Angelegenheiten zu erwähnen: von jeder fremden Autorität J) Siehe z. ß. eine Studie von Thoerner in „le llecueil des Sciences poli-tiques" von Uezobrazof (Sbornik gosudarstwennych znanii 187(1). (Anm. des Uebersetzers: „Magazin für Staatswissenschaften 1870.) befreit, ist doch jede von ihrem Staate in gewisser Beziehung abhängig. Dies ist ein in allen orthodoxen Ländern, in der griechischen Demokratie ebensowohl wie unter der russischen Selbstherrschaft, beobachtetes Phänomen. In diesem Punkte unterscheidet sich auch die Lage der Kirche in Pussland um nichts von derjenigen der anderen Staaten gleichen Bekenntnisses, und nur weil der Regierang dort eine grössere Macht zu Gebote steht, ist die Kirche fester an sie gekettet. Die Religion, welche sich von der Politik nicht absondern kann, leidet unter der Atmosphäre, die sie uingiebt; die russische Kirche ist alles gewesen] was eine nationale Kirche in einem autokratischen Reiche sein kann. Das Geschick der byzantinischen Kirche unter dem Bas-Empire liess im voraus dasjenige ihrer Tochter crrathen. In Konstantinopel machte sich die kaiserliche Gewalt auch bis in das Heiligthum hinein fühlbar und die Hand des griechischen Selbstherrschers, z. B. unter den Komnenen, lastete oft schwerer und rauher auf den kirchlichen Verhältnissen, als es jemals die des Zaren gethan hat. Den meisten Hussen und auch vielen Abendländern erscheint die Unterordnung der Kirche und der Religion unter die bürgerliche Macht als Pfand politischer wie geistiger Freiheit. Aber die Geschichte erweckt Zweifel, dass es sich so verhalte; und durch das Beispiel Kuss-tands sowie des griechischen Reiches wird man eher auf die gerade entgegengesetzte Annahme hingeleitet. Wenn die orientalische Kirche in Moskau und ebenso die in Byzanz zur geistigen Versumpfung und zum politischen Despotismus etwas beigetragen hat, so geschah dies bestimmt wegen ihrer Abhängigkeit vom Staate. Sie konnte den Kampf mit der bürgerlichen Macht nicht aufm Innen und diese blieb in Folge dessen ohne Gegengewicht und Zügel. Während im Westen die Konllikte der beiden Gewalten, deren ledig zu sein die Russen sich beglückwünschen, den geistigen und politischen Bewegungen, dein Verlangen nach Gedankenfreiheit und den Rechtsansprüchen derUnter-thanen ein offenes Feld Hessen, war es für die bürgerliche Macht im Morgenlande müheloser, eine absolute zu werden, da sie von keinem Rivalen in Schach gehalten wurde. Die von der religiösen Autorität getragene civile Gewalt übte ihren Druck auf die Seiden und die Körper gleich-massig aus, und es hätte übermenschlicher Kräfte bedurft, um diese doppelte Last abzuwälzen. Das Geistliche vermengte sich mehr oder weniger mit dem Weltlichen: die Befehle des Fürsten wirkten fast wie die Gottes, und die Vorschriften der zur staatlichen Institution erhobenen Kirche wurden ihrerseits durch die volle Autorität des Fürsten verstärkt. So kann man denn sagen, dass, wenn auch die Religion in Moskau und in Byzanz die Autokratie nicht direkt geschaffen hat, sie derselben doch die Möglichkeit grösster Entfaltung dadurch gewährte, dass sie ihr keinen Hemmschuh anlegte. Jn einem katholischen Lande mit Priesterherrschaft und auswärtigem unabhängigen Oberhaupt hätte das Selbstherrscherthum nicht entstehen oder gar gedeihen können, denn die Kirche würde ihm, solange man sie nicht zu Boden geworfen und vernichtet hätte, ein stetes Uinder-niss gewesen sein. Aus diesem Grunde begünstigte der Katholicismus, der durch sonstige ihm eigene Seiten für die Freiheit weniger Vorth eilhaft scheint, in höherem Maasse das Aufblühen derselben. Wie wir an anderer Stelle schrieben, ist der Katholicismus, so zu sagen, trotz seiner selbst liberal, weil er der Allmacht des Staates eine Grenze zieht, ob nun der Souverain sich Kaiser oder Volk nennt, ob derselbe ein durch Schmeichelei zur Gottheit erhöhter Fürst, oder eine durch das Ungewohnte des Machtbesitzes berauschte Menge sein mag1;. Alles dies kann eine nationale Kirche gar nicht oder doch nur in beschränktem Maasse bewirken. Dem russischen Reiche hat es an keinem der Vortheile gefehlt, die mit den nationalen Kirchen verbunden sind. Die Eintracht dei kirchlichen und staatlichen Gewalt, die Kräftigung der Regierung, die innere Einheit der Nation und das harmonische Verhältniss des religiösen und des patriotischen Empfindens, der beiden edelsten Regungen des Menschenherzens, waren vorhanden. Zur Zeit grosser Krisen in der Geschichte hat das Bündniss mit der Kirche die Staatsgewalt geradezu verdoppelt, aber — es ist auch in demselben Maasse ein .Hindernis« für die russische ('ivilisation gewesen. Wenn die Ueber-griffe der geistlichen Macht leichter abgewehrt wurden sind, so hat die bürgerliche Macht noch öfter die Kirche aus den Umfassungsmauern ihrer lleiligthümer zu entfernen versucht. Der Priester ist häufig die Travestie eines Beamten, so dass der Laie in die Lage kam, sich von der Kirche bald als Gläubiger bald als Unterthan behandelt zu sehen. Der Staat hat durch die Umformung religiöser Flüchten in gesetzliche Obliegenheiten aus der Religion ein Werkzeug der Regierung, nicht selten sogar eine Unterabtheilung der Polizei gemacht. Die Bedeutung der Kirche, auf der einen Seite verringert, ist auf der anderen gewachsen, scheinbar zu Gunsten des Staates, aber in Wirklichkeit zum Schaden der Nation und der Religion. J) Siehe: Les catholiques liboraux, l'Eglise et le libcralisme (Plön 1S85) p. 285-288. -) Ueber die Lage der russischen Kirche dem Staate und dem Selbstherrschcr-thum gegenüber vergl. weiter unten, Kap. VI. Diese Intimität zwischen Staat und Kirche hat den Russen das allgemeine Leiden des Orients, die geistige Regungslosigkeit vermittelt und das spezilisch russische Uebel der Abschliessung verschlimmert. Nicht zufrieden mit der Unterdrückung jeder Bewegung der nationalen Intelligenz, wiesen jene eng verbundenen Mächte das Kindringen fremder Ideen an den Grenzen energisch zurück. Die geistige Freiheit, welche das Fehlen einer infalliblen Centraigewalt der Orthodoxie zu garantiren schien, wurde also gerade durch die Abwesenheit einer unabhängigen, kosmopolitischen Autorität lange Zeit vernichtet. Die Beschränkung der Kirche auf die Staatsgrenzen verengert den Horizont leider bedenklich. Die Religion verstärkte die nationalen Vorurtheile mit dem Patriotismus um die Wette. Die Alt-Russen mieden die Berührung mit dem Westen Kuropas wie mit einem Pesthaus, ja, für viele kam eine Reise ins Ausland einer Sünde, welche die Seele schwer bedrohte, gleich. Man kennt die Geschichte von jenem Herrn, der von Peter dem Grossen mit einem Besuche Deutschlands oder Italiens beauftragt war und der nach einem nicht allzulangen Aufenthalt in einer der fremden Hauptstädte, ohne irgend etwas gesehen zu haben, heimkehrte. Einmal in dem betreifenden Orte angelangt, setzte er weder einen Fuss auf die Strasse noch öffnete er jemandem seine Thür und hatte so dem Zaren und seinem Gewissen gehorcht. Noch heute giebt es in Hussland Sektirer. die, von ähnlichen Skrupeln gequält, das nämliche Stückchen aufführen könnten. Die Orthodoxie gestattete Russland Berührung mit der orientalischen Welt, aber sie verknüpfte die beiden nicht durch so feste Ilande wie diejenigen sind, mit denen Rom die katholischen Nationen umschlingt. Der Mangel eines gemeinsamen Oberhirten verpflichtete die orthodoxen Völker nicht zu so regem Verkehr unter einander, und da sie keine gemeinsame Sprache haben, so wurden ihre gegenseitigen Beziehungen immer unfruchtbarer und gleichzeitig auch seltener. Was während des Mittelalters das Aufblühen der Bildung am meisten gefördert hat, ist der Besitz einer internationalen Kirchen-und Gelehrtensprache, an der es dem Grient fehlte. Die griechische Kirche schien mehr als irgend eine berechtigt, ihr Idiom den von ihr gegründeten geistlichen Kolonien aufzunöthigen: denn war dieses nicht die Sprache des Neuen Testamentes und der Septuaginta? Sie that aber nichts zur Erreichung dieses Zieles und liess jedem Volke die Sprache seiner Almen.1) ') Findet sich in Russland bei einigen alten Inschriften der heiligen Sophie zu Kiew noch Griechisch, so hat es sich doch offiziel nur in einigen Abkürzung«- Seit ihrer am Ende des zehnten Jahrhunderts erfolgten Bekehrung vorrichten die Küssen ihren Gottesdienst in altslavischer Sprache. Die griechischen Missionare, welche die Waräger Wladimirs tauften, führten bei ihnen das vom heiligen Cyrillus und heiligen Methodius, zwei wahrscheinlich hellenisirten Slaven aus Thessalonich, selbst geschaffene Idiom ein. Diese von den beiden Brüdern für die Slaven Grossmährens *) geschriebene Kirchensprache wurde seit ungefähr einem Jahrhundert in der Liturgie der Bulgaren, der Nachbarn Kusslands, welche in jener Zeit das gefürchtetste und gebildetste unter den slavischen Völkern waren, angewandt. Zu ihnen war sie mit dem Christenthum durch die Jünger des Cyrillus und Methodius gelangt, als die mährische Kirche beim Einfall der Magyaren zusammenstürzte. Das bulgarische Reich, welches sich bis an die Thore Konstantinopels erstreckte, spielte die Rolle eines Vermittlers zwischen der byzantinischen Civilisation und den serbischen oder russischen Slaven. Die religiöse Litteratur, damals fast überall die einzige, wurde dort hoch in Ehren gehalten und durch Übersetzungen aus dem Griechischen genährt. Als nun die byzantinischen Missionare des zehnten oder elften Jahrhunderts ihre Bücher zur Kenntniss der Russen bringen wollten, bedienten sie sich natürlich der alt-slavischen, unter den Balkanvölkern gebräuchlichen Texte. Lange hernach war Bulgarien, zu jener Zeit die ältere Schwester Russlands, noch der Hauptsitz slavisch-orthodoxer Litteratur; es hatte sich schon unter den Streichen des Türkensäbels verblutet, als sein religiöses Schriftthum demjenigen Russlands noch immer frische Kost zuführte.2) Das alte Kirchenslavisch, welches noch jetzt bei allen orthodoxen oder unirt-griechischen Slaven in Anwendung ist. kann nicht in dem Sinne als Vater der slavischen Sprachen angesehen werden, wie das Lateinische der Vater der romanischen Sprache ist. In erster Linie dem Slowenischen und Alt-Bulgarischen verwandt, ist es nur eine frühe Form der Dialekte des grossen Slavenreiches an der Donau, bevor diesem durch die Ungarn, welche die slavischen Stämme auseinandertrieben und so die Bildung gesonderter Völkerschaften veranlassten, ein Ende bereitet war. Durch die Unwissenheit der Abschreiber mehr oder Anfangsbuchstaben der Ikonographie neben dem Kopfe Christi und besonders der Jungtrau Maria erhalten. J) Anm. d? Uebers. Das selbständige Reich im 8. und 9. Jahrhundert. -) Siehe „Histoirc des Htteratures slaves" von Pypin und „La Bulgarie" de L. T/'ger. Loroy-Boaulicu, Reich d. Zaren u. cl. Küssen. III. Bd. 0 oder weniger entstellt, hat das Kirchenslavische in jeder Gegend den Einfluss der betreuenden Ortssprache an sich erfahren1). Iiis zu Peter dein Grossen war es die in Kussland geschriebene Sprache, die der Kirche ist es beute noch. In dem heiligen Dialekte findet der fromme Glaube des Volkes eine Sprache, die der seinigen nahe genug steht, um leicht von ihm verstanden zu werden, die aber auch hinreichende Verschiedenheiten und ein so hohes Alter besitzt, um dem Gottesdienste eine grössere Weihe zu verleihen. War es nun für Russland und die russische Civilisation gewinnbringend, das Slavische Cyrills gegen eine fremde liturgische Sprache einzutauschen? Man sollte meinen, dass der Gebrauch des Altslavischen an Stelle des Griechischen oder Lateinischen der nationalen Sprache, der Beredsamkeit und der Poesie, durchweg zum Vortheil gereicht hätte, weil diese ihm Wendungen und Ausdrücke entlehnen können, deren religiöse Färbung und ehrwürdiges Alter eine ganz eigenartige Majestät zu verleihen im Stande gewesen sind: indessen haben dies die russischen Kritiker stark bezweifelt. Mehrere unter ihnen, und nicht die unbedeutendsten, haben das Alt-Kirchen-slavische für die langsame Entwickelung des russischen Idioms verantwortlich gemacht und haben die liturgische Sprache angeklagt, die gesprochene erstickt und jede nationale volksthümliche Litteratur im Keime vernichtet zu haben.2) Je grösser die Aehnlichkeit beider war, um so schwieriger wurde es der Volkssprache, sich von der ernsten, feierlichen Mundart der Kirche frei zu machen und ihren Einfluss abzuschütteln. Wären sie nicht so unmittelbare Nachbarn gewesen, dann hätten sie wohl weniger Mühe gehabt, sich zu trennen. So aber konnte sich die lebende Sprache nicht frei entfalten, sie konnte nicht wachsen, da sie mit einer todten zu eng verkettet war und weil der heilige Dialekt es darauf abzielte, sie zu einer Mundart für Ungebildete zu erniedrigen. Während Krankreich, Deutschland, Italien und Spanien von dem zwölften oder dreizehnten Jahrhundert an neben dem Latein der Schulen, Klöster und Kanzleien eine nationale Litteratur gehabt haben, liess in Russland das Alt-Kirchen-slavische in seinem Schatten keine andere Sprache aufgehen und junge Triebe ansetzen. ') Man unterscheidet auf diese Weise in den alt-slaviscben Handschriften drei Hauptformen oder Redaktionen: das Bulgarische als die älteste, dann das Serbische und das Kussische. -) So i, B. ISadeschdin, dem hierin Pypin gefolgt ist. (Vergl. Wässtnik Ewropy, Juni 1882). Dies aber ist weder der einzige noch der Hauptschaden, welchen die slavische Liturgie der russischen Bildung zugefügt hat. Sie ist ihr noch in anderer Weise hinderlich gewesen, denn sie hat das historische Uebel Busslands, die Isolirung, verschlimmert. Das Kirchenslavische hat zu dieser Vereinzelung und zu dem allgemeinen Stillstand Russlands nicht nur räumlich beigetragen, indem es dieses Reich vom Orient und vom Occident zugleich schied, sondern auch zeitlich, indem es ihm die klassische Bildung vorenthielt. Ohne Litteratur und Geschichte wie das Griechische oder Lateinische, deren Nachfolger es wurde, war das Alt-Slavische nicht im Stande, den Russen einen Zugang zum Alterthum zu erschliessen und ihnen dadurch, in der Sprache der Kirche selbst, ein Werkzeug für ihre geistige I5e-freiung in die Hand zu drücken. Der Gebrauch des Alt-Slavischen wurde eine der Ursachen, welche die Inferiorität des slavischen Klerus verschuldet haben, der so von den christlichen Quellen theologischer Wissenschaft gleich weit entfernt war wie von den (sog.) klassischen. Diese scheinbar sekundäre Frage der bei der Liturgie gebrauchten Mundart ist für die Gestaltung russischer Verhältnisse vielleicht von derselben Bedeutung gewesen, wie die orientalische Kirche selbst. Um wieviele .Jahrhunderte würde die germanische Welt zurück sein, wenn einer ihrer Dialekte, z. B. das Gothische des Ulfilas, während des Mittelalters die Stelle des Lateinischen eingenommen hätte; wenn die Sprache Borns, ehe Luther sie aus seinen Gotteshäusern verbannte, Deutschland nicht auf die Renaissance und die Reformation vorbereitet hätte! Das Lateinische musste, ohne dass dies jemals ganz möglich gewesen wäre, fast überall durch unsere Volkssprachen ersetzt werden, um Russland den Anschluss an Europa zu ermöglichen, und kein anderes Land hat auch die lebenden Sprachen, dieses vorzüglichste Mittel zur P>kenntniss der modernen Welt, in ähnlichem Maasse gepflegt; aber das Nichtvorhandensein eines Verkehrs mit dem klassischen Alterthum und dem lateinischen Mittelalter wird dessenungeachtet stets einer der Züge bleiben, welche die Russen von den protestantischen und katholischen Nationen unterscheiden. Die Herrschaft des Alt-Slavischen in der Kirche und lange auch im bürgerlichen Leben trug indessen für Russland in Bezug auf Nationalität und Politik auch manch reiche Frucht. Die Sprache Cyrills und Methodius' ist trotz lokaler Abweichungen doch ein Element der Einheit aller orthodoxen slavischen Völker gewesen. Sie hat unter ihnen das Bewüsstsein ihrer ursprünglichen Zusammengehörigkeit aufrecht erhalten, während die gewaltige Ausbreitung des Lateinischen aufgehört hat, diese Sprache ZU einem Symbol der Verwandtschaft 6* der romanischen Nationen zu machen. Selbst wenn die russische Kirche statt ihres „Gospodi pomilui"l) nur das griechische „Kyrie eleison" sänge, so würde es ohne Zweifel niemals einen Panslavismus gegeben hüben; und wenn sich jenes Hirngespinst zufällig eines Tages verwirklichen sollte, dann würde die slavische Liturgie darin doch keine Fremde sein. Sollte in Serbien oder Bulgarien das cyrillische Slavisch von den nationalen Sprachen völlig bei Seite gedrängt, werden, so hätte es doch wenigstens in der Vergangenheit Russland einen unschätzbaren Dienst geleistet: denn es hat mit dazu beigetragen, die Entnationalisirung der Malo- und Kjülo-Kussen,2) der Unterthanen Lithauens und Polens, zu verhindern, und es hat die Vereinigung Klein-Russlands und Weiss-Kusslands mit dem moskowitisehen vorbereitet, da, noch mehr! — es ist wie die Orthodoxie selbst, einer der Faktoren gewesen, denen die russische Nationalität ihr Dasein verdankt. Im Innern Gross-Russlands, über dessen Gebiete die finno-türkisehen Völkerschaften lange gesäet waren, verlieh die geheiligte Sprache dem slavischen Element ein ungeheures Ueberge-wioht vor allen anderen Stämmen. Der Kirchensprache, sagt. Solowief3), liel die Aufgabe zu, die dem Evangelium gewonnenen finnischen Stämme zu slavisiren. Das Altslavische wurde zu einem höchst brauchbaren, ja unentbehrlichen Werkzeug der Kussiiikation, und noch heut, nach acht Jahrhunderten, ist seine Bedeutung die nämliche. Ganz wie die Knäsen4) von Kiew, Nowgorod und Wladimir, ganz wie die moskowitisehen Zaren, bedienen sich die Selbstherrscher aller Reussen des pravoslavischen Ritus, um ihre Macht im Orient und im Occident, auf asiatischem und europäischem Gebiete, zu befestigen. Als Cyrillus und Methodius die griechische Liturgie für ihre slavischen Proselyten übersetzten und für dies neue barbarische Idiom ein Alphabet erfanden, da arbeiteten sie, ohne es zu ahnen, an der Grösse eines Volkes mit, das sie vielleicht nicht einmal dem Namen nach kannten. Die alt slavische Sprache und ihre Anwendung bei der Liturgie kann der russistdien Kirche inmitten der anderen christlichen Konfessionen als Erkennungszeichen dienen. Die Küssen führen in ihren 1) Anm. d. Gebers, l'omo.ui iio.nn.iyii =s Herr, erbarme dich unser. '-') Anm. d. Uebors. wLut mir. wenig, in Zusammensetzungen: klein. 6txuU (bjälyi) weiss, in Zusammensetzungen: bjälo; alsoKlein-Russcn und Weiss-Kussen. ;|) Sbornik Gosudarstwennvch Znanii (Magazin für Staatswissenschaften) Bd. VII, 1879. ') Anm. d. Gebers, khiui,, Fürst. Vgl. Bd. I, Buch VI, Kap. I, p. 274. heiligen Huchem wie die Katholiken, eine ältere Sprache und reden dort wie die Protestanten eine nationale Mundart, einen von ihren slavischen Vorfahren ererbten und keinen von einer anderen Rasse entlehnten Dialekt. Indem sie so den Einen und den Anderen ähnlich sind, blieben sie in Bezug auf diesen Punkt (ihre eigene Sprache) gleich weit von Rom und von der Reformation entfernt. Ks ergeht der russischen Kirche selbst wie ihrer liturgischen Sprache; die orientalische Rechtgläubigkeit steht dem römischen Katholicismus fast ebenso fern, wie denjenigen protestantischen Christen, welche sich orthodoxe nennen. Gegenüber den beiden grossen Parteien, in welche das abendländische Christenthum seit dem sechzehnten Jahrhundert gespalten ist, nimmt der Orient in mancher Hinsicht eine mittlere oder vermittelnde Stellung ein. Durch seine Auffassung von der Macht und der Einheit der Kirche, durch die Freiheit der Dognieu-Brklärung, durch die Zusammensetzung und Zucht seines Klerus, durch seine Regierungsform, seine Reziehungen zum Staate und zu den Gläubigen, durch die ganze moralische und politische Seite des Christenthum8, durch den sie erfüllenden Geist, wo nicht durch die Vorgänge beim Gottesdienst, unterscheidet sich die Orthodoxie beinahe ebenso sehr von Rom wie von dessen empörten Töchtern. Entgegen der landläufigen Meinung scheidet sie vielleicht eine breitere Kluft von dem römischen Fapstthum als von den Episkopalkirchen, welche die Reformation gebar. Der arme Fürst von Anhalt, Katharinas Ii. Vater, war in Wirklichkeit nicht so einfältig, wie es den Ansehein hatte, wenn er sich, als seine Tochter zur russischen Kirche übertreten sollte, vorreden liess, dass Lutheranismus und griechischer Kultus im Grunde ein und dieselbe Sache seien.1) Die hundertjährige Regungslosigkeit des Orients erklärt diese Stellung in der Mitte zwischen den Kirchen des Abendlandes. Die gräko-russische Orthodoxie lag seit ungefähr 1000 Jahren im Schlummer, sie war gleichsam in ihren Ueberlieferungen versteinert, während Katholiken und Protestanten, nach getrenntem Krinzip, den Ausbau ihrer Kirchen rüstig förderten, die Einen nach rechts in gerader Linie auf eine höchste Gewalt und auf Centralisation zueilend, die Andern zur Linken nach freier Kritik und Individualismus strebend; und als sie nun bei dem Hinaustreten aus ihrer Sonderstellung erwachte, fand sie sich beinah gleich weit von den beiden grossen Parteien, deren Zerwürfniss die abendländische Welt zerrissen J) Siehe die Studie von A. Kainbaud über Katharina 11. „Revue des Deux Mondes" vom 1. Februar 1 ST 1. hat, entfernt. Damit soll aber nicht gesagt sein, dass die orientalische Kirche ein Mittelding oder eine Art von Kompromiss von Katholicismus und Protestantismus sei; sie verfolgt von Anfang an ihre eigenen Zwecke, welche sie von jenen trennen und sie mit beiden zu gleicher Zeit in Widerspruch setzen. Dessenungeachtet hält sie in mancher Beziehung die Mittelstrasse zwischen Horn und der Reformation inne. Das haben auch ihre Verthcidiger oft genug erkannt und mehrere haben es ihr als Verdienst angerechnet.1) „Die orthodoxe Kirche", sagen sie, „ist im Mittelpunkte des Christenthums, gleich weit entfernt von seinen Polen, stehen geblieben: denn sie ist die anfängliche und ursprüngliche Form der Kirche, von weither tue Occidentalen nur abgefallen sind, um schliesslich, auf zwei ganz auseinandergehenden Wegen, die Einen zur katholischen Autokratie, die Andern zum protestantischen Anarchismus zu gelangen." Wenn der Orthodoxie von ihren Gegnern dumpfe Betäubung zum Vorwurf gemacht wird, so wird sie von ihren Anwälten gerade um derselben Dinge willen, wegen ihrer Stetigkeit und unwandelbaren Treue, verherrlicht; sie preisen die griechische Kirche glücklich, weil sie sich selbst und ihr Dogma von dem das menschliche Leben beherrschenden Gesetze der Weiterentwickelung und des Fortschrittes zu befreien gewusst hat, Katholiken und Protestanten sind im Irrthum, wenn sie sich die Haltung der gräko-russischen Orthodoxie als demüthig oder gar schächtern gegenüber ihren abendländischen Widersachern vorstellen. Gestützt auf die Unerschütterlichkeit ihrer Kirche, wie auf einen Felsen, schauen ihre Theologen auf die Streitereien des (')ccidents mit einem Stolz, dem sich das Bedauern zugesellt, herab. Von besonderem Interesse ist es hierbei, zu beobachten, wie die Angehörigen der russistdien Kirche die von den Alt-Katholiken oder den Anglikanern ausgegangenen Einigungsvorschläge aufgenommen haben. Keinen von beiden haben sie jemals ein allzu eilfertiges Entgegenkommen gezeigt, sondern haben vielmehr jeden Kompromiss energisch zurückgewiesen, welcher den Traditionen oder Gebräuchen ihrer Kirche zuwiderlief. Zwischen den Protestanten und den Orthodoxen, in erster Linie aber zwischen den Anglikanern und der russischen Kirche, sind mehrere Annäherungsversuche unternommen worden, und fast immer hat das Abendland die Initiative dazu ergriffen. So wandten sich schon im ]) z. Ii. Samarin, leayft™ u hx» otwoiuIhIc m. PoccIh (Jesuity i ich otnoschenie k Rossii), Die Jesuiten und ihr Verhältnis» zu Russland p. 368, und bei den Griechen Nicolas Domalas in dem Werke: lh<ä aox<~>>\ Leipzig 1865, sechzehnten Jahrhundert die Lutheraner an das Patriarchat von Konstantinopel, in der Hoffnung, vom Patriarchen Jeremias die Billigung und Annahme der Augsburgischen Konfession zu erlangen, welche für denselben ins Griechische übersetzt worden war. So erfolglos ein derartiges Vorgehen auch geblieben sein mag, es hat sich in Zeiten, die garnicht so weit zurückliegen, doch wiederholt. Natürlich ist es die Kirche Englands, und in derselben wiederum die historische, den protestantischen Einflüssen abgeneigte Schule, in der man sich gern „englischer Katholik" nennt, welche am meisten von jener Vereinigung der rebellischen Tochter Roms mit ihrer Schwester im fernen Grient geträumt hat.1) Von allen diesen Versuchen verdient der eines Oxforder Theologen, eines Freundes von Doktor Xcw-man, W. Palmer, besondere Aufmerksamkeit. Er machte unter der Regierung Nikolaus1, mit Erlaubniss seiner kirchlichen Vorgesetzten, theologische Zwecke verfolgend, eine Reise nach Russland, weniger um an Ort und Stelle die russische Kirche zu studieren, als um mit ihr in Verbindung zu treten. Palmer glaubte nämlich an die fast sichere Identität der orthodoxen und der anglikanischen Lehre und erblickte kaum irgendwelche anderen Schwierigkeiten als die, welche sich etwa hinsichtlich des vom zweiten Konzil zu Nicäa gutgeheissenen Bilderkultus ergeben könnten. Auf die vermeintliche Glaubensgleichheit gestützt, beanspruchte der englische Doktor, von den Orthodoxen zur Kommunion zugelassen zu werden. Er suchte dieserlialb die ersten Würdenträger der russischen Kirche auf, aber es glückte ihm nicht, sie für seine Ansicht zu gewinnen.2) Damit die Anglikaner sich mit der russischen Kirche vereinigen könnten, hätte es, nach der Meinung der orthodoxen Prälaten, eines Ausgleiches der Hierarchien beider Kirchen bedurft, wo nicht der Genehmigung eines Konzils. Der Sache nach macht das Fehlen einer Centraigewalt in der orthodoxen Kirche der letzteren jede Zustimmung dieser Art viel schwieriger als der katholischen, deren päpstliche Obrigkeit jederzeit J) Die Anglikaner jeder Schattirung haben seit vielen Jahren ihre rege I heilnahme für die orientalische Kirche offen kund gegeben. Diesem Interesse Bind zahlreiche Werke entsprossen , unter denen man diejenigen von .7. Naele (History of the holy Lastern Church, 4 vol.) und von Stanley, dem berühmten I 'echaiiicn von Westminster, (Lectures on the history of the Kastern Ghurch; hervorheben kann. "I 1'ahner hat Näheres über diese merkwürdige Verhandlung in Reise berichten hinterlassen, welche vierzig Jahre später, herausgegeben von seinem Freunde, Kardinal Newmänn: Notes of a visit to the Russian Ghurch, gedruckt worden sind. Schritte zur Vereinigung vornehmen kann. Die Russen würden, wenn sie darein willigten, die Anglikaner wie Rechtgläubige zu behandeln, Gefahr laufen, ihre Brüder im Orient gegen sich aufzubringen und so auf der einen Seite das zu verlieren, was sie auf der anderen gewännen. Demnach scheint, ganz abgesehen von den Unterschieden bezüglich der Lehre und Kirchenzucht, jede Verbindung der episkopalen Kirchen des Morgen- und Abendlandes trotz ihrer gegenseitigen S3rmpathien fürs Erste schwer durchführbar zu sein. Die schweizerischen und deutschen Alt-Katholiken sind bei ähnlichen Anstrengungen kaum glücklicher gewesen: vergeblich haben sie auf ihren Kongressen der Hoffnung eines Anschlusses der orientalischen Kirche Ausdruck verliehen1), diese hat sich wenig beeilt, ihnen die Arme zu öffnen. Sie hat im Occident nur die Gründung lateinisch-unirter Brüdergemeinden angestrebt, und eine aus Laien und Geistlichen zusammengesetzte Petersburger Gesellschaft (Gesellschaft der Freunde religiöser Belehrung) hatte durch Schriften und Abgesandte mit, den deutschen Alt-Katholiken Beziehungen angeknüpft. Nichts konnte den russischen Orthodoxen, welche dieselbe Abneigung gegen die Infallibilität empfinden, wie die deutschen Protestanten, erwünschter sein als die altkatholisehe Strömung; dennoch haben sie anfalle Vereinigungsvorschläge der römischen Ueberläufer mit grosser Zurückhaltung und in einem Tone geantwortet, dem man anmerkt, wie sehr sie an das Prinzip ihrer Kirche glauben und dass sie von demselben nicht abweichen wollen. Obwohl die Russen jene Alt-Katholiken, die mehrmals nahe daran waren, zum Protestantismus überzutreten, cr-muthigten, haben sie ihnen nichtsdestoweniger keine Zurechtweisung erspart. — „Wenn ihr euch mit uns verbinden wollt," sagte einer der philoslavischen Inspiratoren zu ihnen, „so genügt es nicht, dass ihr das letzte Konzil des Vatikans verwerft, sondern ihr müsst auch die römischen Traditionen von zehn Jahrhunderten aufgeben.11) Diese Kirche, welche in Ruhe und Kaltblütigkeit vor den beiden sie gleichzeitig von verschiedenen Seiten angreifenden Gegnern verharrt, kann sich doch dem Einfluss der letzteren nicht völlig entziehen. Wie jede Konfession, die eine Mittelstellung zwischen der katholischen Cent ralisation und dem protestantischen Individualismus einnimmt, wird sie schliesslich eine Anziehung nach dem einen oder andern der beiden Pole des Christenthums spüren. Freilich, je mehr sie sich im ') Seit ihrem ersten Kongress, besonders 1871 in München. '-) Khomiakof, Brief an Döllinger von einem Laien der russisch-orthodoxen Kirche. Perlin 1S7:J. Gleichgewichte zu halten versteht, um so nachdrücklicher kann die Wirkung jener zwiefachen Attraktion in entgegengesetztem Sinne sein, welche geeignet ist, ihr in gewisser Entfernung von den beiden Extremen einen Platz zu bewahren. Ebenso wie die anglikanische Kirche ist die russische durch ihre mediane Stellung und selbst durch den Mangel der Kontroverse (Glaubensstreit zwischen Protestanten und Katholiken) zwei aus ein-andergehenden Strömungen preisgegeben: auf der einen Seite, rechts, wenn auch nicht direkt die Neigung zum römischen Katholicismus, so doch wenigstens Bestrebungen nach gleicher Richtung wie Rom, also nach Koncentration der obrigkeitlichen .Macht und nach weiterer Anerkennung der Tradition,— auf der anderen, links, die Vorliebe — zwar nicht geradezu für den Protestantismus, aber doch für Freiheit der Interpretation des Dogmas, das Verlangen nach einem individuellen Glauben und nach Emanzipation des niederen Klerus oder der Laien. Dieser doppelte magnetische Zug war schon in den ersten Tagen der Berührung Russlands mit dem Occident zu beobachten; und dies ist eine der am wenigsten beobachteten und dabei durchaus bemerkenswerten Erscheinungen, welche europäischer Einfluss in Russland nach sich zog.1) Unter Peter dem Grossen sind die beiden Richtungen in den ersten und ansehnlichsten Mitgliedern der Kirche verkörpert, in Stephan Juworski, dem Stellvertreter des Patriarchen während jener Zeit, welche Peter zwischen dem Tode des letzten Inhabers jenes Amtes und der Errichtung des heiligen Synod verstreichen Hess, und in Theophanes Prokopowitsch, dem Berather des Zaren bei seiner kirchlichen Reform. Daher also begegnen wir seit Peter 1, zwei verschiedenen Schulen unter dem Klerus, deren eine mehr den Gegensatz der Orthodoxie zum Katholicismus, die andere mehr den zum Protestantismus herauskehrt; wobei die erstere in ihrem Kampfe gegen Rom eine protestantische, die zweite bei ihren Angriffen auf die Reformation eine katholische3) Färbung annimmt. Jene zwiefache Richtung hat aus dem Rahmen der blossen Kontroverse heraus ihren Weg in die Katechismen und theologischen Abhandlungen genommen; bisweilen taucht sie sogar bei den Erörterungen von Fragen über den Ritus oder die Kirchenzucht auf, wenn ') Dasselbe Phänomen, obgleich nicht so stark ausgeprägt, findet sich in der griechischen Kirche im engeren Sinne. So haben z. 13. im siebzehnten Jahrhundert die calviiustischen Tendenzen des Patriarchen Gyrillus Lukaris die ganze orientalische Hierarchie in Aufregung veisel/.t. — *) Siehe hierüber die Einleitung zu Khomiakofs Werken, von Samarin. — ÖO — die Einen sich mehr konservativ, die Andern dagegen sich Reformen und Neuerungen nicht abgeneigt zeigen. Unter der Regierung Nikolaus' und der Verwaltung des Grafen Protasof, der Prokurator des Heiligen Synod war. fand eine Reaktion gegen die protestantischen Tendenzen statt, welche fast während des ganzen achtzehnten Jahrhunderts die Kirche beherrscht hatten. Die Regierung begeisterte sieh im Ganzen für das Autoritäts-Princip und für den Gedanken der Tradition; sie versäumte nicht, dieselbe in der Kirche gegen die von Prokopowitsch, dem geistlichen Mitarbeiter Peters des Grossen, gebildete Schule aufzurichten. Protestantische oder „evangelische" Anschauungen durchsetzten die Schriften der beiden erlauchtesten Prälaten des modernen Russlands, Plate und Philaretes, welche beide Metropoliten von Moskau waren.1) Der beredte ['Inlandes musste unter Nikolaus seinen berühmten Katechismus gründlich umarbeiten, um so den Abstand von den Theologen der Reformation zu vorgrössern.-) Seitdem hat die russische Kirche aufgehört, sich Luther oder dem AnglikanismuS zu nähern. Sie hält sich in den Wegen, welche ihr von Peter dem Grossen und seinen Nachfolgern gewiesen waren, und liess es sich angelegen sein, nicht von dem Prinzip der Unbeweglichkeit abzuweichen. Nicht im Stande, die beiden Strömungen, welche sich um sie streiten, völlig zu unterdrücken, hat sie während der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts dieselben im Gleichgewicht zu erhalten gesucht. Noch heute stehen die protestantischen Ideen nicht weniger bei einem — oft sogar dein gebildetsten — Theile des Klerus in Gunst, was namentlich seinen Grund in dem Besuche protestantischer Schulen und in der Lektüre protestantischer Bücher hat. Die Erneuerung theologischer Studien und das Bestreben, die Bildung der Geistlichkeit auf ein höheres Niveau zu heben, macht sich doch in den betreffenden Kreisen geltend. Mit den Werken deutscher Theologen zieht auch der Geist der Reformation stillschweigend und unmerklich in die kirchlichen Seminare und Akademien ein, ja er findet selbst bei den Laien, wenigstens bei den gebildeten, eine Stätte. Viele, und bisweilen die Frömmsten, sind, ohne sich dessen völlig bewusst zu werden, dem Aeusseren nach nichts anderes als Protestanten. In der J) Plato, gest. 1812; Philaretes, gest. 1832. a) Der Katechismus des Philaretes ist nach der 5t». russischen Autlage Ins Deutsche übertragen und als Anhang der Uebersetzung der „Geschichte der russischen Kirche" von einem anderen Philaretes, Erzbischof von Tsehcrnigof, veröffentlicht worden. Religion wie in so vielen anderen Dingen huldigen übrigens manche Männer und Frauen der „besseren" Gesellschaft oft einem sonderbaren Kklekticismus: im Auslande sieht man dieselben häufig fusl ohne jeden Unterschied die verschiedensten Kirchen besuchen, wobei sie als unparteiische Liebhaber die guten Prediger anderer Bekenntnisse wohl zu sidiätzen und zu rühmen wissen. Der Geist des Hergebrachten und der Zucht hält innerhalb der Kirche aber alle Neuerungsgelüste im Zaume; das Bedürfnis*, mit dem Orient in Zusammenhang zu bleiben, die Furcht vor Missstimmungen im Volke und vor der Machtentfaltung abtrünniger Sekten bauen vor einer etwa geplanten Reformation hohe Schranken auf. Die Kohäsion der Kirche unter der Hand des Staates, behütet sie vor allerlei Parteispaltungen und Systemstreitigkeiten. So kommt es, dass die geistigen Strömungen, welche sich in ihr kreuzen, kaum ihre Oberfläche bewegen, geschweige denn tiefere Schichten oder den Grund aufregen. In der russischen Orthodoxie giebt es nichts dem Antagonismus der zwei oder drei Parteien der anglikanischen Kirche Vergleichbares; russische Einrichtungen und Sitten würden vielleicht noch weniger in der Kirche als im Staate Parteitagen zulassen. Wenn Russland auch seine high church und seine low church besitzt, so offenbar! sich der betreffende Unterschied nur in der geheimen Rivalität seiner oberen, mönchischen und dem Cölibat unterworfenen mit der niederen Geistlichkeit, der die Gründung einer Familie gestatte,! ist. Dieser Rangstreit der Klassen zeigt das Spiegelbild der beiden sich gegenüberstehenden Tendenzen: der höhere Klerus ist seiner ganzen Stellung und Lebensart nach natürlich viel konservativer und aristokratischer, wogegen der Klerus niederen Grades sich den Neuerungen und Gleichheitsbestrebungen zuneigt. Line der sonderbarsten Krscheinungen des Kampfes in der russischen Kirche, „der Protestantisirenden gegen die Katholisirenden" (wie J. de Maistre sagte), ist ohne Widerrede die Geschichte der Bibel-Gesellschaften. Im Princip ist die Stellung der orthodoxen Kirche der heiligen Schrift gegenüber annähernd dieselbe wie diejenige Roms. Die Bedeutung der Tradition kommt dem Ansehen der heiligen Bücher gleich; die Bibel kann nur in Uebereinstimmung mit den Lehren der Kirche, mit den Konzilien und den Kirchenvätern ausgelegt und erklärt werden.1) In der Praxis jedoch bleibt den ') Ein beachtenswert her Punkt ist der, dass bei den Orientalen, vorzüglich bei den kriechen, die Zahl der kanonischer» Uücher nicht ebenso sicher festge- Orthodoxen für die Interpretation viel mehr Spielraum, da das Dogma weniger scharf definirt ist und die Tradition ihnen nicht einen obersten Kirchenfürsten wie den Papst zuweist. Weil ferner das Kirchen-slavische dem Volksidiom weit näher steht als das Latein unseren modernen romanischen Sprachen, so konnte die Frage einer Ueber-setzung der Bibel in die Vulgärsprache nicht dieselbe hohe Bedeutung erlangen wie im Abendlande, hange Zeit las sogar das Volk die Evangelien mit Vorliebe in der priesterlichen Sprache. Obgleich es hierfür keine anderen Gründe anzuführen vermochte als die Griechen, so erschien ihm die Febortragung der heiligen Texte in seinen eigenen Dialekt wie Herabsetzung und Profanation. Bei den Hussen hat, ebenso wie bei den Griechen, in dieser Hinsicht die Praxis mehrmals gewechselt, Auf der einen Seite öffnete das Verlangen, sich von den Römischen zu unterscheiden, den protestantischen Einflüssen Thür und Thor und ermutbigte zu Ueber-setzungen in die Volkssprache; auf der andern Seite wurde die Hierarchie bei einem solchen Vorgehen durch die Furcht aufgehalten, Neuerungen Vorschub zu leisten und den unwissenden Sekten Gross-Russlands weitere Nahrung zuzuführen. Erst unter Alexander L, dem zum Mysticismus neigenden Freunde der Frau von Krüdener, wurde dem Volke die in seiner eigenen Sprache abgefasste Bibel in die Harnt gegeben. Freilich war nur ein verschwindend kleiner Bruch-theil dieser Nation von Leibeigenen des Lesens kundig. Unter den wenigen Bauern oder kleinen Kaulleuten, die einen Leichten Anflug von Bildung besassen, erfreuten sich die Lebensbeschreibungen der Heiligen, Gebetbücher und einige Abhandlungen der Kirchenväter, dazu apokryphische Schriften aller Art einer grösseren Verbreitung als die beiden Testamente; eine Ausnahme bildete nur der Psalter, welchem russische Frömmigkeit stets einen hervorragenden Platz eingeräumt hat. In gewissen Gegenden hielt, es das Volk sogar für sündhaft, die Evangelien im Hause zu haben: die Kirche allein schien ihm der würdige Aufbewahrungsort der heiligen Bücher zu sein. Die englischen Bibelgesellschaften hatten seit dem Jahre L872 in Kussland Filialen zu errichten versucht, doch gelang ihnen dies erst 1873. Kaiser Alexander I. liess seinen Namen in die Liste der russischen Bibelgesellschaft eintragen und der Kultusminister Fürst Stellt ist, wie bei den Katholiken oder den Protestanten. Die russische Kirche stimmt, wenigstens heutzutage, mit den Reformirten darin überein, dass sie diejenigen Bücher des alten Testamentes als apokryphe verwirft, welche von den .luden als solche angesehen werden. — Alex, Galitzin wurde ihr Präsident. Unter einem solchen Patronat und in einem Lande, wo Allem, was offiziell ist, eine ganz besondere Bedeutung beigelegt wird, musste das Werk eine gewaltige Ausbreitung erfahren: bald waren 300 Zweig-Gesellschaften im russischen Reiche etablirt. Kurze Zeit lang sah man einen katholischen Erzbischof neben orthodoxen Prälaten und den damals sehr beliebten illuministi-schen Eiferern in jener Societät sitzen. Die in zwanzig verschiedene Sprachen übersetzte Bibel wurde zu Hunderttausenden von Exemplaren vertheilt; die elegante Welt erhielt eine französische Ausgabe. Die Urheber des Unternehmens, englische Missionare, hofften, mit den Testamenten nach und nach den Geist der Reformation in die russische Kirche eindringen zu sehen. Mitglieder des Klerus aber geriet Inn darüber in Schrecken, und daher war denn auch der russischen Bibelgesellschaft nur ein kurzes Dasein beschieden. Alexander L, ihr mächtiger Beschützer, schöpfte — unbeständig wie er war — selbst Verdacht, und Fürst Galatzin musste seinen Vorsitz an Seraphim, den Metropoliten von Petersburg abgeben. Umsonst wurden Anstrengungen aller Art gemacht, sie zu halten, die Gesellschaft überlebte den Kaiser Alexander nicht. Einer der ersten Akte Nikolaus' war, sie aufzulösen1) (1826). Um die Rolle der Bibelgesellschaft und die durch sie hervorgerufenen Streitigkeiten recht zu verstehen, ist es von Wichtigkeit, daran zu erinnern, dass gerade in jener Zeit die von Katharina freundlich aufgenommenen Jesuiten einen Theil der russischen Jugend in ihren Schulen erzogen, während Joseph de Maistre und die französischen Emigranten den katholischen Ideen in gewissen Salons Eingang verschafften. Die fremden sich in Petersburg bekämpfenden Einflüsse erreichten natürlich auch die Religion, und unter einem Windstoss, der von aussen hereindrang, erregten zwei entgegengesetzte Strömungen die gesammte Oberfläche des kirchlichen Gebietes. Diese Erscheinung versetzte die geistliche und die staatliche Oberbehörde in Unruhe und Besorgniss. Zwischen den Jesuiten auf der einen und der Bibelgesellschaft auf der anderen Seite schien die altehrwürdige Orthodoxie unter Kreuzfeuer zu stehen; der Fremde bedrohte das heilige Russland mit einem doppelten Einbruch. So konnte die auto- J) Diese ganze Geschichte der Bibelgesellschaft ist, vom protestantischen Standpunkte aus, durch Dr. Pinkerton, den Hauptagenten der englischen Missionen in Russland, erzählt worden in „Russia or Miscclhineous Gbservations" 1833. Man findet in demselben Buche auch seltsame Zeugnisse über die „evangelischen" Neigungen des Philaretes und seines Lehrers Plate. Vgl. Fürst Alex. Galitzin und seine Zeit, aus den Erlebnissen von P. von Goetzc (1885). kratische Regierung, die ihrer Natur nach jede unabhängige Bewegung mit misstrauischen Blicken betrachtet, nicht lange jene aufrührerischen Ideen dulden, welche die gewohnte Ruhe der Kirche störten. Sie sicherte derselben den Frieden dadurch, dass sie in kurzen Zwischenräumen nach einander dem Herde der beiden feindlichen Richtungen, der Bibelgesellschaft und dem Jesuitenorden, die Luft absperrte. Die erstere schien zu triumphiren, als die Unterrichtsanstalten der Patres geschlossen wurden; indessen — kurze Zeit nach der Ausweisung jener traf auch sie die Auflösung. So stellte ■'— nach russischer Praxis — die Regierang den Frieden her, indem sie die Gegner zum Schweigen brachte. Seit der Unterdrückung der Bibelgesellschaff hat sich der heilige Synod in eigenthümlicher Weise den Gepflogenheiten der römischen Kirche genähert. Wenn er die Ausbreitung des Evangeliums und des neuen Testamentes in der Volkssprache befördert, so stellt er sich doch hinsichtlich der Bücher des alten Bundes1) anders. Ganz wie bei den Katholiken bildet der Psalter die einzige Ausnahme; sein Inhalt hat sich von der frühesten Zeit her in Russland einer grossen Beliebtheit erfreut. Glaubte man doch in einigen Gegenden, dass man durch vierzigmaliges Lesen der Psalmen Vergebung der schwersten Sünden erlangen könnte, und bei Wahrsagungen bedient man sich auch vorzugsweise des alt-slavischen Psalters. Ebenso wie die römische Kirche bewacht ferner der heilige Synod von Petersburg mit eifersüchtiger Sorgfalt die Uebersetzung der heiligen Bücher und hat sich das Monopol der Uebertragung ins Russische selbst für die protestantischen, katholischen und jüdischen reserviren lassen. Lässt er im Auslande gedruckte neue Testamente zu, so geschieht dies immer nur in einer von ihm ausdrücklich genehmigten Uebersetzung, Unter Alexander IL bildete sich dann im Jahre 1863 eine „Gesellschaft zur Verbreitung der heiligen Schrift", die noch heute besteht. Gleich der ehemaligen Bibelgesellschaft geniesst sie — freilich in geringerem Maasse — offizielles Patronat, sonst aber unterscheidet sie sich in jeder Beziehung von ihrer berühmten Vorgängerin. Die einzigen Bücher, welche sie vertreibt, sind die Psalmen, das neue i) Das Patriarchat von Jerusalem verfährt ungefähr in derselben Weise, fast im Jahre 1817 hat es den Druck des neuen Testamentes in neugriechischer Sprache gut geheissen; und wenn es auch etwas später die Uebersetzung des alten Testamentes erlaubte, so hat dies doch zu heftiger Polemik Anlass gegeben. Testament und besonders die Evangelien. Hie arbeitet mit minimalen llülfsmitteln, welche zum grössten Theil von auswärtigen Protestanten gespendet werden. In etwa 20 Jahren hatte sie kaum mehr als eine Million Bände abgesetzt, und heute belauft sich deren Zahl auf 100000 im Jahre. Ausserdem ist tiie autorisirt, die Exemplare abzugeben, welche ihr seitens der reich dotirten Bibelgesellschaften in London und in den Vereinigten Staaten zugehen. Auch nimmt sie sieh zur Verfolgung ihrer Zwecke Amerika zum Muster. Sie entsendet ihre Kolporteure zu den Märkten nach Nischni-Nowgorod, ebenso finden sich ihre (iesehä Iis räume auf den Moskauer Ausstellungen, und überall erfreut sich ihre YVaare der besten Aufnahme beim Volke. Gern bedienen sich ihre Angestellten der Eisenbahn: ich traf im Wagon Damen, welche mir mit der einen Hand die Sammelbüchse und mit der anderen russische oder altslavische Evangelien zum Kaule hinhielten.1) Ist die ganze Bibel in Russland noch immer seltener als anderswo und vielleicht weniger verbreitet als manche Apokryphen, so lässt sich dies vom neuen Testamente nicht sagen; sondern die Ausbreitung des letzteren dürfte dort, selbstverständlich mit Ausschluss der protestantischen Gegenden, grösser als in jedem anderen europäischen Lande sein. Das Evangelium ist ohne Widerrede das beliebteste Buch in Bussland, im Hause des Handwerkers wie in der [sba des Bauern begegnet man ihm. Der genügend unterrichtete Muschik liest es den übrigen vor, und jeder Fortschritt der Volksbildung verschallt ihm neue Lektoren. Die kleinen Leute schöpfen aus ihm Alles, was sie an religiöser oder moralischer Fühlung besitzen. Man kann den Einfluss dieses Büchleins auf die russische Seele nicht leugnen. Trotz seiner Unwissenheit und seines Hanges zum Aberglauben verdient der Glaube des Volkes den Namen eines evangelischen, wenn anders die Ernährung mit dem Marke des Evangeliums einen hinreichenden Grund dafür abgiebt. ') Nach den mir vorliegenden Rechenschaftsberichten der Gesellschaft kommen auf 100000 in einem Jahre durch sie verbreitete Bände kaum 200 Exemplare des alten Testamentes. Die meisten dieser Bücher (neun Zehntel) sind russisch geschrieben, der Rest ist russisch und alt-slavisch. Danach scheint man zu dem Schlüsse berechtigt, dass mit Ausnahme der sich Alt-Gläubige nennenden Sektirer, der einfache Mann das Evangelium lieber in der Volkssprache liest. Drittes Kapitel. Vom Kultus und Rituulismus.— Bedeutung der Riten und des Cereinoniells in der orientalischen Kirche. — Der russische Formalismus und der Nationalcharakter. — Der Ritus des Gebetes. Die Ceremonien und die Liturgie. — Wie die russische Kirche die Rolle der religiösen Aesthetik erfüllt hat. — Vom Bilderkultus. — Gegen den Aberglauben ergriffene Vorsichtsmassregeln. — \\ underthätige Jungfrauen und die Frömmigkeit des Volkes. — Der religiöse Bilderhandel und die byzantinische Kunst in Russland. — Charaktere der moskowitisehen Malerei. — Festhalten an den althergebrachten Typen. — Schwierigkeit sie durch neue zu ersetzen. — Die Kirchenmusik und der geistliche Gesang. AVenn die griechisch-russische Orthodoxie in Betreff ihrer Verfassung eine Mittelstellung zwischen der römischen Kirche und der Reformation einnimmt, so liegen die Dinge doch hinsichtlich der Riten, der äusseren Seiten des Kultus, ganz anders. In dieser Beziehung zeigt sich die orientalische Kirche auf ein Mal im Widerspruch mit den beiden grossen Parteien, welche das Abendland in zwei Heerlager geschieden haben. Die traditionelle Regungslosigkeit, welche ihr in mehr als einer Beziehung einen Platz zwischen Katholiken und Protestanten angewiesen hat, Hess sie im Hinblick auf den oben erwähnten Punkt (der Riten) ganz abseits und gewissermassen weit hinter beiden zurück liegen. In der Beobachtung der Formen und in der dem Ceremoniell beigemessene hohen Bedeutung steht die griechisch-russische Orthodoxie so zu sagen auf der äussersten Rechten und der römische Katholicismus im Centrum des Christenthums. Die Gebräuche des christlichen Alterthums, die oft durch Rom vereinfacht waren, ehe die Reformation sie noch weiter reduzirte oder ganz verwarf, haben sich zumeist im Orient getreulich erhalten. In seiner engen Anlehnung an die kirchlichen Formen des vierten und fünften Jahrhunderts ist der orthodoxe Kultus wesentlich ritualistisch, und die Unerschütterlichkeit, mit welcher er bei den durch die abendländischen Konfessionen aufgegebenen oder doch modifizirten Gebräuchen verharrt, giebt ihm jenen gegenüber ein archaistisches und greisenhaftes Aussehen. Dieser ausgeprägte Ritualismus hat der griechischen Kirche den gleichzeitigen Angriff der beiden feindlichen Lager eingetragen. Katholiken und Protestanten, welche sonst aus verschiedenen Gründen gegen sie zu Felde ziehen, haben im Einver-ständniss mit einander die Anklage erhoben, dass sie die Religion unter lauter Aeusserlichkeiten ersticke. Die Hauptursache für diesen byzantinischen, durch ihre Mutter am Bosporus auf die russische Kirche übertragenen Formalismus liegt zunächst in der orientalischen Geistes-eigenthümlichkeit; ferner — wie wir bereits bemerkt haben — in der Geschichte, in der lange andauernden Unwissenheit und in dem Bildungsstand fast aller orthodoxen Nationen; bei dem Russen endlich muss man sie in dem realistischen Charakter des Volkes suchen, in der ihm von Geburt eigenen Anhänglichkeit an Ritus und Ceremonien, welche so weit geht, dass es oft die geringfügigsten und aufs Reste begründeten Aenderungen an der Liturgie zum Ausgangspunkt eines ernsten, schwer zu schlichtenden Schismas gemacht hat. Der Respekt vor dem Ritus, dem Obrjad, wie die Hussen sagen, ist so 'sehr in Fleisch und Blut dieses Volkes übergegangen, dass er sich überall bei ihm findet, im häuslichen Leben wie im religiösen. Hierin ist es seinen entferntesten Nachbarn, den Chinesen, nicht unähnlich. Für alle Handlungen und Vorgänge im menschlichen Leben hat der Landmann bestimmte Förmlichkeiten und Formeln, die treulich bewahrt und vererbt werden. Ausser bei den Festen und feierlichen Gebräuchen der Kirche beobachtet er bei Geburten, Hochzeiten und Todesfällen gewisse traditionelle Ceremonien, die oft mit den vom bürgerlichen Gesetz geforderten Schritten vermischt sind und fast mit ebenso grosser Pünktlichkeit befolgt werden, wie diejenigen, welche die Kirche vorschreibt. So bilden z. B. die gelegentlich einer Hochzeit von den Muschiks gefeierten Feste ein wahres in Handlung umgesetztes Gedicht, eine Art Drama mit mehreren Personen, mit Gesängen und Chören nach antikem Vorbilde, das seit Jahrhunderten in allen Generationen aufgeführt wird1.) Man kann sich vorstellen, wie ein solcher Geist auf die Religion gewirkt hat. Der byzantinische Formalismus wurde denn auch in manchen Punkten von den Russen noch weit überboten. Sie haben sich nicht damit begnügt., allen religiösen Gebräuchen treu zu bleiben, sondern wandten dieselben auch bei Gelegenheiten an, die mit dem kirchlichen Ritus garnichts zu thun haben. So verhält, es sich beispielsweise mit dem Gebet. Dies Gespräch der Seele mit ihrem Gott und Erlöser ist für den Russen auch eine Art Ritus; es hat bestimmte durch den Gebrauch geheiligte, ganz nationale Formen, die den g riechen zum grössten Theil fremd sind. Der Orthodoxe, besonders der Russe, verrichtet sein Gebet, wie es in der ersten Kirche Sitte war, gewöhnlich stehend; aber er verhält sich durchaus nicht ruhig dabei. Sein Körper scheint daran vielmehr gleichen Antheil zu nehmen, wie sein Geist: der Muschik betet mit allen seinen Gliedmassen. Während des Gottesdienstes bekreuzigt BT sich unaufhörlich, wobei er den Kopf und gleichzeitig die rechte *) Siehe Ralston, The Songs of the Russian people. L B r o y -Ii e a ul i e u , Reich d, Zaren u. d. Russen. III. Bd. Hand erhebt; nach jedem Kreuzeszeichen verneigt er sich tief und richtet sich dann wieder auf, um so ohne Ende fortzufahren. Die Frömmsten unter ihnen knien nieder und weiden sieh in regelmässigen Intervallen auf die Erde, fahren mit grosser Behendigkeit empor und berühren dann aufs Neue den Boden, als wenn sie zu einer derartigen Bussübung verurtheilt wären. Die wiederholten Ehrfurchts-Bezeugungen, welche man so dem Altar und den Heiligenbildern zu Theil werden lässt, erinnern an diejenigen, welche der Leibeigene ehedem an seinen Herrn verschwendete, und für uns Ausländer haben diese tiefen, hastigen Verbeugungen etwas Knechtisches und Ermüdendes. In einer russischen Kirche wird ein Fremder durch das ihn umgebende beständige Hinundherwiegen der Menge fast sehwindlich gemacht. Dieses tiebahren in der Kirche, wobei der Körper ohne Aufhören in Bewegung ist, erinnert weniger an die ernste Haltung der christliehen Graute in den Katakomben, als an das moha-medanische Gebet, wobei sich der Gläubige ebenfalls nach bestimmten Vorschriften verneigt und niederwirft. Wie die Anrufung Allahs ist die Betstunde des Russen thatsächlich eine Leibesübung, eine Art heilige Gymnastik, und wenn die höheren, vom Abendlande beoinllussten Klassen diese religiöse Pantomime dem niederen Volke überlassen haben, so zeigt letzteres doch eine um so grössere Anhänglichkeit an dieselbe. Es scheint, als könnte es seine Gebete nicht anders verrichten, und gewiss werden viele — so kam es mir wenigstens vor — in ihrem Herzen beängstigt, wenn schliesslich während der endlos langen Andachtsübungen die Ermattung sie zwingt, das Bekreuzigen und Niederwerfen einzustellen. Habe ich doch selbst Kirchenbesucher gesehen, welche es bis auf mehrere Hunderte von Kniefällen brachten, ehe sie damit aufhörten. Man liest garnicht oder doch nur sehr wenig in den russischen Kirchen; ein Buch zum Gottesdienst mitzunehmen, ist nicht Sitte. Der .Mann aus dem Volke würde es für unpassend halten, sich in der Kirche zu setzen, um dort zu lesen; ja es beleidigt ihn fast, wenn er derartiges in den römischen Gotteshäusern sieht. Deshalb lesen fromme Leute die Ofiicien des Tages im voraus, um ihnen bei der Messe leichter folgen zu können. Der gemeine Mann begnügt sich damit, Kerzen zu opfern und verbrennen zu lassen, das Zeichen des Kreuzes zu schlagen und sich zu verneigen, wobei er immer dieselben Formeln wiederholt; seine Blicke hängen an dem Priester, mit dem er sich in der Absicht, Gott zu erheben, eins weiss; und er lauscht, ganz ergriffen von der feierlichen Handlung, dem ernsten Kirchengesange und dem Klange der heiligen Lieder. Die pravoslavische Liturgie1) ist wie geschaffen, um die Aufmerksamkeit und Achtung des Volkes hervorzurufen. Sie hat nur einen Fehler, das ist ihre ausserordentliche Länge, welche die amtirenden Geistlichen nöthigt, einige Theile derselben förmlich zu überhasten. Die alten Ceremonien des griechischen Ritus werden mit imposanter Würde verrichtet.; ja, die Russen stellen in dieser Heziehung nicht nur die Römischen, sondern auch ihre Glaubensgenossen, die Griechen in den Schatten. Selbst in den ländlichen Kirchen tragen die meisten Popen, oft gerade die unwissendsten und am wenigsten massigen, am Altar eine wahrhaft hohepriesterliche Majestät zur Schau. Allerdings legt sowohl das niedere Volk als auch die bessere Gesellschaft sehr viel Gewicht darauf, wie ihre Priester die Messe lesen. Stattliches Aussehen, regelmässige Züge, langes, wallendes Maar und eine schöne Stimme, das sind Eigenschaften, die man ganz besonders bei den Geistlichen schätzt. Die Liturgie, die griechische Messe, deren geheimnissvollste, unverständlichste Theile vor den Augen der Menge hinter der Ikonostase-) verborgen, ausgeführt werden, ist eine Art geheiligter Theatervorstellung, deren Inscenirung die grösste Sorgfalt gewidmet wird. Die Priester und Kirchendiener sind in erster Linie die Darsteller des mystischen Dramas; sie sind sich der hohen Bedeutung ihrer Köllen vollauf bewusst, und führen dieselben mit der Würde von Gott verordneter Ceremonienmeister durch. Die Kirche gestattet nicht, dass diese Ceremonien irgendwie gekürzt oder beschnitten werden, und nirgends ist bei den Orientalen etwas von den Abmachungen oder Fiktionen zu Gunsten der Vereinfachung des Gottesdienstes, wie dergleichen bei den Katholiken vorliegt, zu spüren. Ks giebt bei ihnen z. IL nichts unserer „stillen Messe" Aehnliches, welche in dem Dialog des Priesters mit einem Kinde besteht, das ihm im Namen einer gar nicht anwesenden Versammlung antwortet. Alle derartigen Abkürzungen und Vereinfachungen des Ritus sind dem Geiste der orientalischen Kirche zuwider; denn sie würden ihm nur wie eine Schädigung und Verstümmelung der heiligen Mysterien erscheinen. So sind denn die Messen stets öffentlich, sie sind für das christliche Volk da, und der Priester liest sie einzig für die sein. Diese seelenlosen, abgezehrten Gestalten sind das Erzeugniss orientalischen Asketenthums, diese hochaufgeschossenen starren Heiligen, die mürrischen Bewohner eines trüben Himmels, konnten nur die Klausner von Thebais oder die syrischen Säulenheiligen erbauen. Gott, dessen Anschauen die Seligen in Ewigkeit mit höchst ein Entzücken erfüllen soll, und selbst Christus, scheinen sie nicht den Malern vom llagion Gros1) durch jenen Kirchenvater vorgezeichnet zu sein, der lehrte, dass der Erlöser der hässlichste aller Menschen gewesen sei? Die einzige Kunst, in der es die griechische Kirche zu etwas Nennenswerthem gebracht hat, ist die Architektur, also diejenige, durch welche die Sinne am wenigsten aufgeregt werden. In ihr hat der moskowitische Geist die grösste Originalität erreicht und russisches Genie, durch Vermischung europäischer und asiatischer Lehren, zum *) Anm. des Gebers.: Vorgebirge Athos mit seinen Klöstern und zahllosen Einsiedlern. ersten Male einen nationalen Charakter gezeigt. Trotzdem kann man vom russischen Stil nicht sagen, dass er eine Baukunst bilde, die einen Vergleich mit der Gothik der Franzosen oder dem byzantinischen Stile der Griechen auszuhalten vermöchte. Die Architektur war die einzige Kunst, welcher die orientalische Kirche einen gewissen Grad von Freiheit gewährte, aber es verband sich in Kussland sonst vieles, um dort ihre volle und schöne Entfaltung zu hintertreiben. Denn zur Härte des Klimas gesellte sich der Mangel an verwendbaren Steinen und sonstigem Material: und seihst die Annuth des Landes war ihr im Wege. Giebt es also einen russischen Stil? — Man wird kaum behaupten können, dass es russische Denkmäler giebt. Die übrigen Künste, .Malerei. Bildhauerei und selbst Musik, sind vom Dogma oder der Kirchenzucht mit schweren Ketten belastet oder durch enge Schranken eingezwengt worden. Diese Kirche, welche angeklagt wird, den Aeusserlichkeiten beim Kultus und den Formen Alles zu opfern, hat sich gerade in gewissem Sinne frühzeitig damit befasst, die Seelen davor zu bewahren, dass sie bei den leeren Formen stehen blieben oder ganz in äusseren Dingen aufgingen. Im Widerspruch zur landläufigen Meinung hat sie die Schutzmassregeln gegen die Irrthümer des Aberglaubens und des Sinnenreizes verschärft, und auch hierin zeigte sie sich, dem Anschein entgegen, zwischen den protestantischen Sekten, besonders dem Lutherthume und der römischen Kirche, in der Mitte stehend. Schon vom Standpunkte des Dogmas aus ist die Stellung der Griechen zur Bilderfrage nicht mehr dieselbe wie die der Römer. Nach den langen Kämpfen der Ikonoklasteii, jener Galvinisten des Orients, haben sich die Griechen zu einer Art von Ausgleich oder Mittelweg entschlossen, indem sie plastische Bildwerke aus ihrem Heiligthuine verwiesen, jedoch Gemälde zuliessen. Im Gegensatz zu den Katholiken, sogar zu den Lutheranern, haben sie in ihren Geboten die biblische Verwerfung der Bilder aus Stein, Holz und .Metall beibehalten.1) Hierin stimmen sie mit den Keformirten überein; jedoch in eigentümlicher Weise weichen sie von denselben durch die Interpretation wieder ab, indem sie nur die „Idole" untersagen, d. h. diejenigen Bildnisse, welche durch ihre Gestalt zu Verwechselungen mit der dargestellten Person Anlass geben. Daher verwerfen sie Statuen ') Dies ist für sie das zweite Gebot. Garaus erhell!, dass betrell's der l'.in-thcihnig des Dekalogs und der Ordnung der Gebute die orientalische Kirche mit der römischen nicht im Einklang ist. und Rundwerke (freistehende Bildsäulen), nicht aber gemalte oder Relief-Darstellungen, in denen ja auch das ungeübteste Auge nichts anderem als ligürliche Nachbildung erblicken kann. Diese Unterscheidung beruht sicherlich auf einem ganz vernünftigen Grunde. Mal es jemals Völker gegeben, welche einfältig genug waren, Götzenbilder wie lebendige Götter zu verehren, so konnte dies nur mit Hülfe plastischer Bilderwerke, d. h. der Statuen, geschehen. Der dümmste Muschik aber könnte ein Gemälde der Jungfrau füglich nicht für die wahrhafte, lebendige Person derselben ansehen. Ueberau bei den barbarischen wie bei den klassischen Völkern, bei den Warägern von Kiew ganz ebenso wie bei den Griechen Athens, war die Statue, der aus Holz, Marmor oder Bronze geformte Körper, Hauptgegenstand der Verehrung, vor ihnen stieg des Weihrauches Duft empor und vor ihnen bluteten die Opfer. Die Malerei bat unbestritten schon deshalb etwas mehr Geistiges, weil sie nur illusorisch auf den Beschauer wirkt und nur auf Augentäuschung bendien will. So gerechtfertigt diese Unterscheidung in der Theorie erscheint, so hat sie doch fast ausschliesslich dazu beigetragen, die Kunstloistungen in den orthodoxen Ländern dem Occident gegenüber herabzudrücken. Die Plastik, aus den Kirchen verbannt, ist dadurch ihrer eigentlichen Wiege beraubt worden; und weil der Moskowit keine antiken Marmorbilder geerbt hatte, so konnte sie auch nicht aus der Nachahmung des Alterthumes geboren werden. Indem die orientalische Orthodoxie die Bildhauerkunst verstiess, legte sie damit auch der gesammton Kunst schwere Fesseln an; denn überall, im mittelalterlichen Frankreich, im heutigen Italien wie im alten Griechenland hat die Bildhauerei, weil sie nicht so komplizirt ist, wie die Malerei, eher als letztere an Ausbreitung gewonnen und eine gewisse Vollendung erlangt. Seitdem Falconet und unsere Künstler des LS. Jahrhunderts die Plastik im weiteren Sinne bei den Russen eingeführt haben, versuchen diese ihr einen Platz in den Kirchen einzuräumen; da man ihr aber den Eintritt in die Heiligthümer selbst nicht zu gestatten wagt, konnte sie vorläulig nur an und vor denselben eine Stätte finden. Auf diese Weise durfte der französische Baumeister Montferrand wenigstens die Kuppel von St. Isaak mit Kugeln aus Bronze schmücken.l) l) Trotz der Kirchengesetze werden bisweilen Bildwerke aus Stein oder Holz in entlegenen (legenden erwähnt. So besitzt das Kloster von Posolsk am Baikalsee ein altes buriatisches Götzenbild in bemalter Holzarbeit, das So ist die Kunst in Russland zwar den Massregeln, welche die Kirche gegen den Aberglauben ergriffen hat, zum Opfer gefallen, letzterer selbst scheint jedoch davon nicht besonders berührt worden zu sein. Die ernste Regungslosigkeit der Rüder hat im Gegen-theil die Anhänglichkeit des Volkes an ihn nur verstärkt und gefestigt. Umsonst hat es die Kirche unterlassen, Bildnisse auf den Altar zu stellen, aus Furcht, dass sie den Gläubigen ein Gegenstand der Anbetung werden möchten; umsonst hat sie dieselben an die Pfeiler des Schiffes oder an die Scheidewand der Ikonostase verwiesen, der Russe bezeugte ihnen deshalb doch nicht weniger Ehrfurcht und brachte ihnen kein geringeres Vertrauen entgegen. Die russischen Bischöfe schwören bei der Weihe, darüber zu wachen, dass den heiligen Bildern nicht die Verehrung zu Theil werde, welche einzig und allein Gott gebührt, und dennoch kann es ihre Wachsamkeit nicht hindern, dass die düsteren byzantinischen Gemälde zum Gegenstande eines abergläubischen Kultus werden. Thatsächlich verschwendet der süd-italienische Gontadino an seine lächelnden Madonnen nicht mehr Huldigungen als der Muschik an seine raiichfarbenen Marienbilder. Der ganze Unterschied liegt in der Art, wie beide ihre Frömmigkeit äussern. Die russische Pietät scheint formalistischer zu sein, es scheint ihr an Einbildungskraft zu fehlen. Der Muschik ruft, wenn er anbetet, nicht den Findruck hervor, als sei er geneigt, mit dem Bilde zu sprechen oder sich mit ihm zu unterhalten; es sieht mehr so aus, als mache er dem Heiligen oder der Jungfrau seine Aufwallung und als erfülle er ihnen gegenüber damit eine schuldige Pflicht. Er lässt vor dem Bilde eine Kerze verbrennen, er begrüsst es mit dem Kreuzeszeichen und oft wiederholten Verbeugungen und giebt, damit jenes schön geschmückt und mit kostbarem Zierath versehen werde, sein Almosen. Neben besonders berühmten Bildern scheint der Russe wie der Grieche alle Ikonen gleichmässig zu verehren, auf welche,sein andächtiger Blick fällt. Sieht man doch oft die Pilger bei einem Rundgang durch das Gotteshaus die Füsse und Hände aller Heiligen küssen, ohne dass sie das Antlitz jedes Bildes betrachten oder sich um seinen Namen kümmern. Es ist dies eine Art von Umzug, den die Griechen häutig lachend und plaudernd ausführen, die Russen dagegen langsamer und mit jener Würde, welche sie stets im Hause des Herrn man zu einem heiligen Nikolaus umgesehatlen hat und welches sich bei den christlichen Hussen fast derselben Beliebtheit erfreut wie bei den heidnischen [eingeborenen. zur Schau tragen. Wie der bronzene Fuss des heiligen Petras in Rom, so /eigen die Küsse der russischen Ikonen nicht selten die deutlichen Spuren vom den Lippen der Gläubigen, und man muss sie von Zeit zu Zeit neu übermalen, loh habe in Kiew und auch in Palästina orthodoxe Pilger gesehen, welche irrihümlich in eine katholische Kirche getreten waren und nun darin herumschritten mit derselben Besorgniss, nur ja an keinem Bilde ohne Kuss vorüber zu gehen. Bei der gleichen Amiachtsübung ist der Muschik merkwürdig wählerisch; es kommt ihm augenscheinlich darauf an, von den Hauptpersonen und Würdenträgern des himmlischen Reiches niemand zu übersehen oder zu vernachlässigen. Weit über die grosse, gewissermassen anonyme Menge der Bilder, welche ihre Namen und Attribute umsonst führen, erheben sich jene Ikonen, denen man ganz hervorragende Kräfte zuschreibt und den Titel der Wunderthäter beilegt. Russland ist an solchen vielleicht noch reicher als Italien oder Spanien; es giebt dort wenige Städte oder Klöster, welche nicht stolz daraufwären, dergleichen zu besitzen und zeigen zu können. Wie überall sind auch hier die heiligsten zugleich die ältesten und schwärzesten. Einige gelten für Acheropiten1), für solche, die von Engeln gemalt sind; andere, wie im Oecident, sollen dem Pinsel des heiligen Lukas ihre Entstehung verdanken. Viele sind auf wunderbare Weise entdeckt worden und haben ihre eigene Legende. An eine grosse Zahl unter ihnen knüpfen sich lokale ixler nationale Erinnerungen, wie z. B. an das Ende einer Hungersnoth, einer Seuche oder an eine gewonnene Schlacht. Die Russen haben in allen ihren Kriegen irgend ein berühmtes Heiligenbild mitgeführt, und wenn der Sieg bei ihren Fahnen blieb, dann schrieben sie jenem den Erfolg der Waffen zu. So besitzt Smo-lensk eine dem gesammten Osten thcure „Jungfrau", und Peter der Grosse hatte ein Marienbild, welches ihn nie verliess. Das letztere wurde zu Petersburg von den Gläubigen in dem kleinen zur Kapelle Umgewandelten Holzhäuschen des Reformators angebetet, und es fehlt auch nicht an Patrioten, welche glauben, dass ihm der Sieg bei Pultawa zu verdanken ist, Eine andere „Jungfrau" kam den Orthodoxen während der Invasion von 1812 zur Hülfe: es war „Unsre liebe Frau von Kasan", eine der volksthümlichsten des ganzen Reiches. Die Einnahme Kasans unter Iwan dem Schrecklichen begründete ihren Ruf, und seitdem wird sie bei allen nationalen Krisen und 'i Anm. d. Uebers.: iixeipo7toü;ra — nicht von Händen (d. h. Menschenhänden) gebildet, gemacht. Nöthen um ihren Schutz angeheilt. Der Bojar l'ojarski und der Schlächter Minin holten sie Hill aus Kasan ah, damit sie ihnen die Polen, die damals Herren von Moskau waren, aus Wladislawsk verjagen helfen sollte. Ein Jahrhundert später wurde sie von Peter dem Grossen, welcher der Stadt an der Newa in den Augen seiner [Jnterthanen eine besondere Weihe geben wollte, aus der alten Kapitale in die neue überführt. Um ihr eine würdige Stätte zu geben, liess Alexander I. die prunkvolle Kirche bauen, welche den Namen „Unsre liebe Frau von Kasan'1 trägt. Dorthin begab sich Kutusof, ehe er nach Borodino aufbrach, und rief vor jenem Bilde den Beistand des Himmels an; seitdem veranstalten die Hussen daselbst an jedem Weilmachtsfesle ein Tedeum zum Danke für des Vaterlandes Befreiung. Das der „grossen Armee" durch die donischen Kosaken abgenommene Silber ist zur Bekleidung der Ikonostase jener Kirche verwendet worden, an welcher man noch heut die napoleonischen Adler und die ausgebleichten französischen Fahnen erblicken kann. Diese sich eines aussergewöhnlichen Rufes erfreuenden Ikonen sind meist mit Schmuckwerk und Edelsteinen aller Art bedeckt. Die berühmtesten unter ihnen haben dadurch einen materiellen Werth erlangt, welchem der durch die Revolutionen geplünderte Oecident nichts an die Seite zu stellen vermag. Von einigen ist bekannt, dass sie in Zeiten grosser Gefahr dem Vaterlande ihre Diamanten und Smaragden geliehen haben. Der Muschik erfreut sich sichtlich an dem Luxus seiner Heiligenbilder; er liebt es, über dem verschleierten Haupte seiner düsteren byzantinischen „Jungfrauen*' eine kaiserliche Krone strahlen zu sehen. Dieser bei den Armen natürliche Geschmack ist so allgemein verbreitet, dass hier und da, wo es an edlen Steinen gebricht, dieselben durch geschliffenes Glas und nachgemachte Perlen ersetzt werden. Ueberau aber, selbst in den ärmlichsten Dörfern sind die „Jungfrauen" in Gold und Silber gekleidet. Bei den meisten russischen Heiligenbildern sind Kopf und Hände gemalt, während der übrige Körper mit Metallplatten bedeckt ist, welche ihm nach den Worten Theophile Gautiers das Aussehen eines goldenen oder silbernen Schildkrötenrückens geben.1) ') Hierbei ist zu bemerken, dass die Sitte, den Ikonen eine Bekleidung, oder— wie die Russen sagen— ein Messgewand aus Metall (pima, risa) zu geben, sich vor dem 18. Jahrhundert nicht findet. Vorher herrschte der gute Gebrauch, in dieser Weise allein die Borte der Ikonen zu schmücken, (<>ii.ic;'ii.t>, opletschje) anstatt das ganze Bild mit silbernen und im Feuer vergoldeten Flättcheu zu bedecken, die nur den Kopf, die Hände und die Füsse sehen Hessen. Die religiöse Kunst hat den byzantinischen Charakter festgehalten. Die Typen und Methoden des griechischen Zoographoa werden hei den moskowitisehen Mönchen fast ebenso hoch in Ehren gehalten, wie auf drin Berge Atbos. Wenn man sieht, wie sie sich durch die Zeitalter unentwegt gleich bleiben, so scheint es, als wäre die von dem heiligen Berge herangetragen^ Kunst in den eisigen Geiilden des Nordens erstarrt. Selbst in jenem seit Jahrhunderten nach Kopien kopirten, oft übermalten und gleichzeitig mit goldenem Dierath versehenen Gemälden spürt man bisweilen einen schwachen Abglanz der grossen Urtypen des vierten und fünften Sükulums. So kann das Auge dort alle Christusgestalten beobachten, von den barbarischen auf dem Throne der Nischen-Freskeü (der russ. Kirchen) bis zu den berühmten der Sa. Pudentiana in Rom; so stellt die Jungfrau mit den ausgestreckten Armen und dem Kinde an der Brust noch heut die Madonna „en orante" der Katakomben von Sa. Agnese vor. In den kleinen vielverbreiteten und beliebten Goldschmiedearbeiten, in manchem kupfernen Crucifix und Trvptichon *) vermag der Archäologe alte aus der Malerei fast gänzlich verschwundene Typen wieder zu erkennen. l'ebrigens haben alle die hierher gehörigen Gegenstände nichts von der ersten christlichen Kunst an sich, welche in ihrer klassischen Annuith so jugendfrisch und doch so antik war. Alle jene Figuren haben ihren Weg durch den byzantinischen Stil hindurch genommen, dessen abgezirkelte Steifheit ihnen nur zu fest anhaftet. Keine Bewegung hat die Symmetrischen Killten ihrer Gewänder in Unordnung gebracht; ihre starrblickenden Augen haben im Laufe der Jahrhunderte jedes Leben verloren und niemals ist ein Lächeln um ihre farblosen Kippen gezogen. Man hat wahrgenommen, dass die byzantinisch-russische Kunst sich scheute, das Weib und die Jugend darzustellen; es ist, als habe sie Furcht vor weiblicher Schönheit und jugendlicher Anmuth. Vielmehr zieht sie männliche Typen vor, besonders Greise und Männer reiferen Alters im Schmucke jener mächtigen Karte, welche bei der russischen Ikonographie so sehr beliebt sind. Unter diesen findet man denn auch die einzigen Gesichter, die etwas Leben verrathen, die einzigen, deren Züge ausgeprägt und scharf genug sind, um gelegentlich die Individualität eines Porträts anzunehmen. Wie die Riten, so ist auch die Kunst in der orientalischen Kirche auf einem wesentlich symbolischen Standpunkte stehen geblieben. 1) Anm. des Uebers.: Bildliche Darstellung in Form eines Hachen Schirmes, dessen beide Seitentheile über den dritten, mittleren, geklappt werden können. Die Bilder sind bis zu einem gewissen Grade nur ein Thoil der Liturgie; und dieser sinnbildliehe Charakter tritt in den grossen Fresken wie in den kleinen kupfernen Reliefs klar zu Tage, Die Dreieinigkeit ffird durch Abraham, der vor den drei Engeln kniet.1) dargestellt. Die sieben Konzilien ■) personifiziren das Ansehen der Kirche und die Reinheit des Glaubens. Bisweilen bilden die Scenen aus den beiden Testamenten Gegenstücke, wie ehedem in unsern alten Kirchen. Das Leben Christi oder der heiligen Jungfrau wird, einer bestimmten Ordnung und feststehenden Regeln gemäss, durch Mysterien veranschaulicht. Die Heiligen und die Engel, in mehrere Chöre eingetheilt, lassen die Bataillone des himmlischen Heeres an sich vorüberziehen, wobei jedes deutlich mit seinen Merkmalen versehen ist: Patriarchen, Apostel, Märtyrer, Jungfrauen, Bischöfe, nicht zu vergessen die Säulenheiligen auf ihren erhabenen Standorten. Die Engel und die Seligen haben bis zu einer kaum vergangenen Epoche das Aussehen bewahrt, welches die byzantinische Tradition verzeichnet. Die russischen Heiligen, welche unter die griechischen eingereiht wurden, richteten sich in ihrem Aeussern nach diesen; sie zogen so zu sagen die Uniform der letzteren an. In diesem orthodoxen Russland scheinen sich die Kunsttypen, ebenso regungslos wie das Dogma, ihre priesterliche Haltung bewahrt zu haben. Der Russe hat ihnen nichts hinzugefügt, er hat sie in nichts verkürzt, Im Gegensatz zu seiner Architektur würde man in seiner Malerei oder Plastik vergeblich irgend welche asiatischen Elemente, mongolische oder hindostanische, suchen. Hat er auch hierin eine gewisse Ursprünglichkeit offenbart, so liegt dies nur im Verfahren, vornehmlich an der Art der Holz- und Metallarbeit. Bei ihm noch mehr als bei den Griechen hat diese steife Kunst mit ihren langen Figuren in silbernen Chorröcken etwas Kindliches und Ehrwürdiges zu gleicher Zeit; sie hat sich von einer Art naiver Pedanterie nicht frei gemacht, die jedoch nicht ohne jeden Reiz ist, Gerade ihre eigentümliche Starrheit giebt ihr einen fremdartigen Zug, der sie über die Erde und den Wandel der* Zeiten erhebt, einen Schein von Un-wirkliohkeit und Immaterialgut, der — was man auch einwenden mag — für die himmlischen Gestalten durchaus passend ist. Und so ist denn auch diese, Schönheit und Natur verachtende Kunst, welche die evangelische Verdammung des Fleisches und der Welt wörtlich aufzufassen scheint, weder in Russland noch bei den Griechen *) Anm. des Uebers.: 1 Mose 18, 3. Anm. des Uebers.: bis 787. aller Anmuth und allen Glanzes bar. Sie liebt es, mit der Einfachheit, und Armuth der Formen und des Kolorits stoffliche Pracht-entfaltung und prunkvolle Ornamentation zu verbinden. Was die byzantinische Kunst in so hervorragender Weise dekorativ macht, gerade das lässt sie in den Augen des Volkes so ausserordentlich religiös erscheinen, weil sie mit dem würdigen Ernste der Gestalten die Kostbarkeit der Umrahmung und au Hallen den Reichthum der Zuthaten paart. Abgezehrte, hagere Heilige in einem goldenen Himmel — stellt sich nicht so der Muschik noch heutigen Tages das Paradies vor? Im alten Russland, in Nowgorod, Pskow und Moskau ist die Malerei lange eine rein mönchische und auf die Klosterzellen beschränkte Kunst gewesen. Der Maler war gewöhnlich irgend ein Mönch, der sich mit der Vervielfältigung ,],.|- heiligen Ikonen beschäftigte, wie andere ihre Tage mit dem Abschreiben der heiligen Bücher ausfüllten. Die Würdenträger der Kirche, die Bischöfe selbst hielten es nicht für verächtlich, den Pinsel zu führen; unter anderen wird der Metropolitan Macarius als besonders geschickt erwähnt. Meistens hat diese scheinbar ganz unpersönliche Kunst die Namen derer, welche sie ausübten, verschwiegen. Dennoch giebt es unter denen, die da malten so wie sie beteten, stets dieselben Figuren wiederholend wie die gleichen Gebete, einige, denen die Sorgfalt und Vollendung ihrer Schöpfungen einen dauernden Ruf gesichert haben. Dies gilt z. B. von Andreas Ruhlew, dessen Gemälde schon im 16, Jahrhundert als mustergültig hingestellt wurden. Noch jetzt überbieten sich die Altgläubigen Moskaus bei den Verkäufen von Holztafelbildern, die dem Genannten zugeschrieben werden, und wiegen sie mit Gold auf. Im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert wurden religiöse Malerei und Ziselirkunst zu weltlichen Industrien. Die Heiligen-bildnerei kam an die Laien: aber wenn ihr auch die Kirche erlaubte, die Klöster zu verlassen, so hörte sie doch nicht auf, eine wachsame und strenge Vormundschaft auszuüben, und ob gemalte oder gemeisselte Bilder, alle blieben einer Art kirchlicher Censur unterworfen. Die Geistlichkeit stellte für die betreffenden Künstler Handbücher der Ikonographie, die denen der Byzantiner ähnlich sind, zusammen. Das Konzil des Stoglav oder der „hundert Kapitel", das gegen 1550 stattfand, schärft den Bischöfen ein, die Gemälde und die Maler nicht aus den Augen zu verlieren und ihnen die zu behandelnden Stoffe und auch die Art der Ausführung vorzuschreiben. Man verlangte von dem Künstler nicht nur eine geübte Hand. Ii o ro y - B e au 1 i e u, Keicli d, Zarou u. d. Hussen. III. Bd. 8 sondern stellte obenein die Forderung, dass diese Hund rein genug und somit nicht unwürdig sei, den Erlöser oder die heilige Jungfrau darzustellen.1) Die Ikonomalerei wurde noch als eine Art heiliges Amt angesehen. Haben nicht Russen noch in unseren Tagen verlangt, dass der Verkauf der Heiligenbilder nur Orthodoxen erlaubt, dass aber Juden dieser fromme Handel strengstens verboten werden solle? Eine der Vorschriften, welche den Rilderverfertigern am dringlichsten eingeschärft wird, ist die, dass sie stets aufs Genaueste die von der Kirche als solche bezeichneten Modelle kopiren. Der Stoglav brandmarkt Freiheiten, welche sich etwa eine kühne Hand bei der Heiligeniualerei herausnehmen sollte, geradezu als Verstösse, und der Moskowit — wie noch heut die Altgläubigen — ging soweit, jede Abweichung von den geweihten Typen schon als halbe Ketzerei aufzufassen. Ein solches Unterfangen wäre in seinen Augen ebenso tadelnswerth gewesen wie eine Veränderung der Liturgie. In der alten russischen Malerei unterscheidet man deutlich verschiedene Schulen. Die Strogonows ist z. B. eine davon. Indessen sind diese Schulen (richtiger wäre es, sie Ateliers zu nennen) nur durch die Behandlung der Draperie oder durch das Kolorit ein wenig von einander verschieden. Die Verehrung der heiligen Gestalten wurde so weit getrieben, dass man sich bisweilen Gewissensbisse darüber gemacht hat, dieselben auf zu wenig dauerhaftem Material dargestellt zu haben. Während die Verwendung bemalten Glases dem Mittelalter wundervolle Kunstwerke schenkte, untersagt ein aus dem 17. Jahrhundert stammendes Handbuch der Ikonographie, dessen Verfasser die goldgrundirten Glasmalereien des christlichen Alterthums nicht kannte, den Russen, ihre Heiligen auf Glas zu malen, weil dies doch gar zu zerbrechlich sei. Wenn nun auch die religiöse Kunst unter der Obhut und Vormundschaft des Klerus stand, so blieb sie doch nicht auf das Innere *) Das Stoglav-Konzil verbreitet sich mit einer seltsamen Naivetät über die für Maler unerh'isslichen Eigenschaften. „Der Maler", sagt Artikel 43 der Hundert Kapitel, „soll sein demüthig, sauft, zurückhaltend in seinen Heden, ernst, friedfertig, nüchtern, weder Diel) noch Morder und er soll sich vor Allem Reinheit der Seele und des Leibes bewahren. Derjenige, welcher es nicht über sich gewinnen kann, ledig zu bleiben, verheirathe sieh nach dem Gesetze. Es ziemt sich, dass die Maler oft ihre geistlichen Väter besuchen, dieselben in allen Dingen um Rath fragen und nach ihren Weisungen und Leinen in Fasten, Gebet und Enthaltsamkeit leben." Siehe „Ktude d'Iconographie chreticime cti Hussic, par .1. Duiinmehcl", d'apivs l'.ouslaicf (.Musculi, LS?4). der Kirchen beschränkt Da es sich der Russe jeden Standes zur Flucht macht, in allen Zimmern seiner Wohnung Heiligenbilder anzubringen und ferner die wohlhabenden moskowitisehen Kaufmanns-familien, wenn es sich irgend einrichten lässt, einen Kaum in ihren Häusern zu einer Art kleiner Kapelle umwandeln, so haben sieh die Heiligenbilder in zahllosen Vervielfältigungen dem llausgottesdienst angepasst, und vom Monumentalen ist die russische Malerei schliesslich zur Miniatur herabgestiegen, In diesem Lande der Holzarchitektur fehlte es an Mauern, auf denen die alte byzantinische Kunst ihre riesigen Figuren in gehöriger Weise hätte zur Geltung bringen können, während man dagegen überall ihre Holz- oder Metallikonen, ihre zusammenlegbaren Bildwerke, die piadnitsy (Bilder von Handgrösse), unterzubringen vermochte. Schon die Griechen hatten tragbare Bildnisse mitgebracht, aber russische Geduld liess es sich angelegen sein, sie zu vervollkommnen und mit grösserer Feinheit auszuführen: die behandelten Stoffe wurden enger begrenzt und die Figuren immer mehr verkleinert, so dass sie endlich beinahe nur noch mii der Lupe erkennbar waren. Knd wirklich muss man einige von jenen alten Bildchen mit bewaffnetem Auge betrachten. Der moskowitische Künstler zaubert ein ganzes jüngstes Gericht auf eine Holztafel von nur wenigen Quadratzollen. Die Diptychons und Triptychons in Holz oder Metall wetteifern in Bezug auf Feinheit mit den gemalten. So findet man z. 15. kupferne Kruzifixe, auf denen um den gekreuzigten Erlöser herum das Leben des Herrn vollständig zur Anschauung gebracht wird. Viele andere dieser „tableaux ouvrants" (Klappenbilder, Bildsohränkchen) oder Diptychons geben im Kiemen alle die Heiligen und Sujets wieder, welche für gewöhnlich auf der Ikonostase ihren Platz haben. Daher pflegt auch das Volk, diese mit so viel Sorgfalt, gefertigten Darstellungen kurzweg Kirchen zu nennen. Die Altgläubigen, die mit der offiziellen Hierarchie in Fehde liegenden Sektirer, zeigten eine ausgesprochene Vorliebe für diese winzigen Ikonen, weil es möglich war, sie in den Zeiten der Verfolgung stets bei sich zu haben. Man begegnet selbst solchen Ikonostasen, die auf Stoff gemalt sind. Im sechzehnten und siebzehnten -Jahrhundert überwog der Geschmack an diesen Miniaturen in einer Weise, dass die mikroskopischen, zuerst für den Privatkultus bestimmten Gemälde sogar in den grossen Kirchen Eingang fanden. Die russischen Maler und Meissler legten gerade auf diesem Gebiete Proben einer ganz bemerkenswerthen Handfertigkeit ab. Uebrigens Hegt ihr Verdienst nicht allein in der trefflichen Ausführung, denn in jenen byzantinisch-russischen Gestalten ruht der Regel nach trotz ihrer linkischen Haltung und ihrer Unnatur viel ernste Einfachheit und ihren Zügen ist ein so hoher Adel des Ausdrucks aufgeprägt, dass fromme Seelen sie deswegen den Meisterwerken unsrer abendländischen Kunst weit vorziehen. Indem die orthodoxe Malerei so immer treu an den priesterlichen Typen festhielt, umsteuerte sie das Heidenthum der Renaissance, und die in beständiger Minderjährigkeit erhaltene religiöse Kunst hat sich nicht, wie das im Oecident geschah, durch eigenmächtige Mündigsprechung selbst den Untergang bereitet. Es liegen somit für die Russen mehrere Gründe vor, an dieser archaistischen Kunst festzuhalten und ihr Bestehen nach Kräften zu verlängern. Wir haben sie nicht bloss in der hundertjährigen Achtung vor den überlieferten Typen, in der LTnvollkommenheit der Zeichenkunst und der fehlerhaften technischen Ausbildung, sondern auch in den noch heute bei dieser Nation vielfach vorhandenen lebendigen Anschauungen des Asketenthums zu suchen. Wenn für gewisse Kreise diese heilige Kunst in den hergebrachten Formen versteinert ist, so geschah es deshalb, weil sie nicht aufgehört hat, dem religiösen Ideal der Nation zu entsprechen. Freilich, um aus den laugen byzantinischen Hermenschäften lebendige Gestalten hervorgehen zu lassen, um von der düster-feierlichen griechischen Mutter Gottes zu den lieblichen, anmuthumilus-senen Madonnen eines Luini oder Francia G) zu gelangen, dazu bedarf es politischer oder religiöser Bewegungen, socialer und moralischer Revolutionen, Wie sie Italien und das Abendland am Ende des Mittelalters gesehen haben. Woher hätte auch das Russland Iwans des Schrecklichen oder Michael Romanows die Anregung der alten Meister toskanischer oder flandrischer Städte empfangen sollen? Welche Hand würde sich erkühnt haben, den Schleier der Jungfrau Maria zu lüften oder ihre Gestalt frei darzustellen, sie etwas hervorzuheben? So musste denn Moskowien wohl zu machtlos sein, um sich von der hieratischen Kunst zu befreien; ja, selbst der Gedanke an eine solche Loslösung konnte ihr nicht einmal in den Sinn kommen. Was aber damals das alte Moskowien nicht hat durchführen können, nämlich aus den byzantinischen Vorbildern eine neue Kunst zu erschallen, dazu ist das moderne Bussland erst recht nicht im Stande: es ist nicht mehr jugendkräftig genug; die Zeit, in der es sich zu solcher That hätte aufschwingen können, ist vorbei. Derartige ]) Anm. des Uebers. Francesc-o Francia, gest. 1517, Man rühmt seinen Gestalten besonders lebendigen Ausdruck, „kräftige Formen und l'reie Entfaltung" nach. Iläutungs-oder Mauserprozesse vollziehen sich nur in dem Jünglingsalter der Nationen. Seitdem Russland von der Nachahmung der abendländischen Kunst überwuchert wird, ist es für die dortigen religiösen Maler schwer, Selbständiges hervorzubringen. Alle Anstrengungen, die nationale Kunst zu verjüngen oder neu zu beleben, zeigen nur aufs Neue, wie unmöglich es ist, den byzantinischen Stil aufzugeben, ohne dabei in den profanen zu gerathen; dies Problem zu lösen ist um so schwieriger, da die zeitgenössische Kunst in Russland ganz offen dem Realismus huldigt. Die Orthodoxie hat unter Nikolaus einen Künstler von eigenartigem Genie besessen, der sich der Komposition religiöser Stoffe gewidmet hatte; jedoch dieser Iwanow, der sein ganzes Leben lang ein einziges Bild malte, hat fast nur Skizzen und Entwürfe hinterlassen. Die grossen modernen Kirchen, St. Isaak zu Petersburg und die Erlöserkirche in Moskau, verrathen in ihren schöneren Gemälden die noch im Ungewissen tappenden Versuche einer Kunst, welche sich selbst erst zu bilden trachtet. Indem die Russen nach einer Verjüngung der traditionellen Typen streben, verfallen sie oft in dieselben Fehler wie die gegenwärtige katholische Bildnerei. Sie wollen die Anmute fassen und erhaschen die Ziererei, die Gelecktheit; sie folgen der Spur des Natürlichen und werden gewöhnlich. Wenn sie sich modernisiren und verschönern wollen, wenn sie in ihren feuervergoldeten Kleidern zu lächeln versuchen, so verlieren die russischen Ikonen nur ihre Würde und gleichen dann ältlichen Frauen, welche sich nicht ihren .Jahren gemäss zu benehmen wissen. So versteht man sehr gut, warum die Sektirer alle diese überzuckerten Typen von sich weisen: der Altgläubige weigert sich, in diesen rosigen, gekünstelten Gesichtern den Heiland und die Mutter Gottes zu erkennen. Wie der Muschik möchte man sich versucht fühlen, jenen Fildern die plumpen, rohen Machwerke von Susdal vorzuziehen.1) Anders wie mit der Malerei steht es mit der Musik. Wenn die ') Für einige ihrer grossen Kirchen, wie z. B. St. Isaak, halten die Hussen wiederden Mosaik-Schmuck aufgenommen, der stets einen so monumentalen Charakter trägt. Sie besitzen in St. Petersburg eine Anstalt tür Musiv-Arbeiten, welche hinter der päpstlichen, deren Methoden sie nachahmt, nicht zurücksteht. Anstatt eine wesentlich dekorative und von den übrigen getrennte Kunst zubleiben, die ihr besonderes Verfahren hat und ihre bestimmten Effekte erzielt, stellt sich in Itussland wie in Korn die musivische Kunst die Autgabe, durch Feinheit der Niiancirung genau die Schöpfungen der Malerei wiederzusehen. Anm. d. Feuers.: Susdal, Kreisstadt nordüst.l. von .Moskau, besitzt «6 Kirchen, 4 Kloster, einen Hischof'spalast. Wladimir d. Gr. selbst soll dort das Christenthum eingeführt haben. Kirchengesetze auch ihr Feld begrenz! haben, so sind doch die Schranken hier nicht allzu eng gezogen, oder der russische Geist hat sich in sie nicht einsperren lassen. Er war in Betreil' der Musik mit dem, was er aus Byzanz empfangen hatte, nicht unzufrieden, und aus dem religiösen Gesang wurde bei ihm eine nationale Kunst. Ebenso aber wie die orthodoxe Kirche unter den bildenden Künsten nur die am wenigsten materielle, die Malerei, zulässt, so duldet sie, was die heilige Musik anlangt, nur diejenige, welche am meisten Geistiges an sich hat und dem Gebete am nächsten steht, nämlich den Gesang. Wir linden in den Kirchen Knsslands kein lebloses Instrument aus Holz oder Erz, das zum Lobe Gottes ertönt, sondern nur die menschliehe Stimme, dies beseelte Instrument, welches auch allein am Throne des Herrn erschallt zu des Höchsten Breis und Ehr in Ewigkeit. In den orientalischen Gotteshäusern giebt es weder Harfe noch Psalter, wie bei den Hebräern, weder Viola noch Fagott, welche Fra Angelico und IVrugino ihren Engeln in die Hand geben; weder die tausendstimmige Orgel, noch ein grosses Orchester voll der mannigfaltigsten Instrumente; nichts, nichts, um den Gesang der Geistlichen oder Gläubigen zu unterstützen: in der Kirche sollen die Hymnen der Menschen sich selbst genug sein, wie es die (höre der Engel im Himmel sind. Es ist eine auffällige Thatsache, dass, obwohl Born der Instrumontal-Mu-ik in seinen Basiliken oder Kathedralen Einlass gewährte, die Spitzen der römischen Hierarchie, die Päpste, ebenfalls jedes von Menschenhand gefertigte Instrument aus ihrer Kapelle verbannt haben. Bei allen kirchlichen Akten, an denen der Papst Theil nimmt, ertönt nur die menschliche Stimme; sogar die Orgel ist dabei verpönt. [Jebrigens ist dies nicht die einzige Aehnlichkeit zwischen der päpstlichen Kapelle und der Kirche des Patriarchen in Konstantinopel. Es würde leicht sein, deren noch weitere festzustellen, aus dem guten Grunde, weil uns ausserhalb Mailands und des ainbro-sianischen Ritus gerade in Koni, in der Umgebung des Pontifex, die lateinischen Kirchengebräuche in ihrer ältesten Form begegnen. Die russische Kirche, welche doch bezüglich der Malerei ihren Meistern so unbedingt folgte, hat sich mit Rücksicht auf den religiösen Gesang ihrer Bevormundung entzogen und ist nicht, wie jene, bei dem näselnden Psalmodiren stehen geblieben, welches auch die edelsten Hymnen der altchristlichen Zeit verunstaltet und verdirbt. Das Ohr des russischen Slaven hat sich viel anspruchsvoller gezeigt, als sein Auge, und hat sich nicht, wie das der griechischen Mönche und Nonnen, durch jene kraftlosen Kantilenen ohne Akkorde und ohne Modulationen, welche an Trockenheit den magersten byzantinischen Figuren den Rang streitig machen, befriedigt gefühlt: der Russe wollte einen lebensvollen Gesang. J)as ästhetische Gefühl hat hier den Sieg über das asketische davongetragen; sei es nun dass der Kusse von Natur für Musik besser veranlagt war, sei es, dass die Kirche einer Kunst freieren Spielraum gewährte, die überall als ein Symbol und Vorgeschmack des Paradieses angesehen wird. Hat nun auch die russische Kirche dem religiösen Gesänge leichtere Kesseln angelegt, als der Malerei, so wusste sie ihn dennoch immer unter ihrer Vormundschaft zu halten. Selbst wenn sie neben den alten Weisen des Kirehengosanges neue Systeme und moderne Kompositionen von weniger einfachem Kau gut hiess, war sie doch ängstlich darauf bedacht, dass sich die religiöse Musik deutlich von der weltlichen unterscheide, damit zwischen ihnen keine Täuschung obwalten könne. Niemals hat man die Oper in das Heiligthum der russischen Kirche eindringen sehen, niemals haben ihre Gläubigen des Morgens ihre Gebete nach Melodien gesungen ähnlich denen, welche Abends zu ihren Tänzen erklangen. Noch heute bedarf es, um Kompositionen geistlicher Musik in der Kirche aufzuführen, einer besonderen Erlaubnis* seitens der kirchlichen Censurbehörde1). her den Griechen eigenthümliehe und bei ihnen ursprüngliche liturgische Gesang hat sich unter dem Einilussc russischen Geistes nicht nur freier entwickelt und gehoben, sondern man kann sogar behaupten, dass in diesen entlegensten Gebieten der Christenheit, ausserhalb des allen Kairopas, der von der klassischen Vorzeit ererbte Kirchengesang sich am besten seine ernste Vornehmheit bewahrt, hat. Nirgends sind die Recitationen der Psalmen, die Lesung der Responsorien oder der biblischen Unterweisungen (die „Lektionen") und der Gesang der kirchlichen Hymnen voll so majestätischer Einfachheit wie dort. Die ungenannten Meister des Mittelalters haben später dem Kirchengesange ein neues Element hinzugefügt, den raspiiw-): diesem ist, ein ursprüngliches melodisches Gepräge eigen, welches oft Verwandtschaft mit den schwermüthigen Volks-Uedem verräth. Der Hereinbruch der abendländischen Musik schien jede russische Kunst, ersticken zu wollen; eine glückliche Ausnahme ') In der Praxis muss selbst die Automation des Direktors der kaiserlichen Kapelle nachgesucht werden. Dieser Umstand hat die grossen zeitgenössischen Komponisten von dieser Gattung der Musik mehr und mehr entfernt und ist geeignet, ihren völligen Verfall herbeizuführen. '-) Anm. d. Uebers.: pacnt.ni. langsanier, gedehnter Gesang oder ebensolche Rede. bildet der religiöse Gesang, welchen jene verjüngt und bereichert hat. Am Ende des achtzehnten Jahrhunderts bildete sich unter den von Katharina II. herbeigerufenen Italienern sogar eine ganz neue und ihrerseits auch ungemein nationale Kunst. So wurde also der religiöse Gesang jederzeit hoch in Ehren gehalten, und alle Klassen wissen ihn sehr zu schätzen. Nichts treibt den Muschik so häufig zur Kirche als gute Chöre und schöne Stimmen; weshalb man denn auch in mehreren Dörfern beobachtet hat, dass der Bauer die Messe (licht mehr so fleissig besuchte, weil der Gesang vernachlässigt worden war. Das Volk verabscheut bei der Liturgie das, was es mit dem Ausdruck (kozloglasowänie) Bocksgesang bezeichnet. Aus diesem Grunde widmet man in den Scminarien der musikalischen Ausbildung der Priester und Diakonen viel Zeit und ganz besondere Aufmerksamkeit. In diesem Gefallen an Gesang und Musik ist das orthodoxe Bussland dem protestantischen Deutschland nicht unähnlich. Auch dort war letztere vorzugsweise eine religiöse Kunst; jedoch konnte sie, des Orchesters beraubt, bei den Russen nicht den gleichen Aufschwung wie bei ihren Nachbarn nehmen. Hat aber auch Russland weder einen Sebastian Bach noch einen Händel besessen, so ist aus seinen Chor-Singschulen doch mehr als ein Künstler hervorgegangen. In den Kirchenchören hat sich ja zuerst jener musikalische Geist geoffenbart, für dessen Vorbandensein seitdem eine ganze, überaus regsame Schule Zeugniss ablegt, Komponisten, zum grössten Theil kaiserliche Kapellmeister, haben sich, auf jenem scharf begrenzten Gebiete, einen voll berechtigten Ruf begründet; so z. B. Bortniansky und Alexis Lwow, der Autor der Nationalhymne: Boze zarja chrani = Gott schütze den Zaren!1) (z = franz. j.) Alles, was man von der menschlichen Stimme verlangen kann, das haben die russischen Kapellen erreicht. Bald klingt es lieblich und sanft wie aus Engelsmund, bald strömt es voll und gewaltig daher, so dass alle Register religiösen Empfindens davon ergrillen werden und mittönen. Neben tüchtigen Komponisten besitzt die russische Kirche Chor-Schulen, die heute in Europa nicht ihresgleichen finden dürften, und hier verdienen vornehmlich die der Hofkapelle in Betersburg und die Tsohudow'schen Kirchensänger in Moskau erwähnt zu werden. In diese russischen Chöre treten nur Männer und Knaben ein, da die allzu weiche ') Siehe z. Ii. Kiizimiowski, Professor Cur Kirehengesang um Konservatorium zu Moskau: „Zerköwnoe piinie w Rossu" der Kirchengesang in Russland), und Prinz N. Jussupow: „Histoire de la musique religieuse >n Russie". Frauen stimme aus der Liturgie verbannt ist1) und da ferner die Fussen niemals ihre Zuflucht zu geschlechtslosen Sopranisten genommen haben. Man erstaunt aufs höchste über die wundervollen und vollendeten Klangwirkungen, welche die kaiserliche Kapelle mit so geringen, unzureichenden Mitteln erzielt. Besonders ihre Bassstimmen haben eine unvergleichliche Fülle und Kraft. Der Fremde, welcher dem von keinem Orchester unterstützten Gesänge dieses Chores lauscht, möchte schwören, dass Saiteninstrumente ihn begleiten.*) Viertes Kapitel, Fasten und Feste. — Die vier Fastenzeiten. — Das Festhalten des Volkes an den Fasten. — Wie schwierig es für die russische Kirche ist, die alten Observanzen abzuändern. - - Die Feste, ihre grosse Zahl und ihre Nachtheile. — Der julianische Kalender. — Gründe seiner Beibehaltung. — Die russischen Heiligen; ihr archaistischer Charakter. — Von der Heiligsprechung in Kussland. — Der Reliquienkultus. — Die Pilgerfahrten im Inlands und nach Palästina. Die Einführung der modernen Tonsjsteme in die Musik ist vielleicht die einzige Schmälerung des Asketismus der orientalischen Orthodoxie durch die russische Kirche. Im üebrigen hat der Kultus nach allen Richtungen hin durch seine strenge Unbeweglichkeit einen altvaterischen Habitus bewahrt, und ist selbst allen Gebräuchen und Observanzen, welche sich am wenigsten den Gewohnheiten der Jetztzeit anzupassen scheinen, treu geblieben. Dies tritt; besonders in Bezug auf das Fasten und die Enthaltsamkeit hervor. In keiner anderen Kirche sind die Fasttage so häuiig und werden so streng beobachtet, wie in der russischen. Weder das rauhe Klima des Nordens noch die Verweichlichung des Jahrhunderts haben jene Kasteiungen zu mildern vermocht, welche zu einer ganz anderen Zeit für einen ganz anderen Himmelsstrich ersonnen waren. *) In den Frauenkli'isteru bilden umgekehrt nur die Nonnen den t'bor, und m den Pensionuten die jungen Mädchen. -) Berlioz, der überhaupt für originale Kunstleistungen eingenommen ist, schwärmte für die Werke Portnianski's. In Bezug auf die Hofkapelle schrieb er in seiner gewöhnlichen Uebertreibung: „Die Choralgesänge der sixtinischen Kapelle in Rom mit denen jener herrlichen Sänger vergleichen, das heisst die armselige kleine Saitenkratzertruppe eines italienischen Dritten-Rang-Theaters dem Orchester des Pariser Konservatoriums gegenüberstellen". (SoireYs de l'orcl lestre. Cf. Corrcspondanee). An Stelle einer Fastenzeit besitzt die russische Kirche deren vier: die eine, dem Advent der Kömer entsprechend, geht Weihnachten voraus; eine andere, die grosse Fasten, fällt vor Ostern, eine dritte vor Sankt Peter, eine vierte vor Maria Himmelfahrt. Die Zahl der Fasttage beläuft sich wenigstens auf ein Drittel aller Tage des Jahres. Ausser den Fasten und den Fostvigilien giebt es noch zwei Fasttage in jeder Woche: Freitag, als den Todestag des Erlösers, und Mittwoch, an dem er von Judas verratben ward. Die Griechen, die ja stets glücklich sind, wenn sie sich irgendwie von den Lateinern unterscheiden, linden es unschicklich, dass letztere zur Abtödtung des Fleisches den Sonnabend dem Mittwoch vorgezogen haben. Während der vier Fastenzeiten wird der Genuss von Fleisch unnachsichtig verboten, ebenso der von Milch, Butter und Eiern. Kaum etwas anderes als Fisch und Gemüse ist gestattet, und das unter einem Himmel, der dem Gedeihen des letzteren so wenig günstig ist. Daher kommt es. dass die Russen zum grossen Theil ein lischessendes Volk sind. Zwar sind die Fluss- und Meergewässer Russlands so reich an Fischen, wie — ausser in China — wohl in keinem anderen Laude, aber das flüssige Element liefert doch nicht Nahrung genug, und die Fischereien der Wolga, des Don, des KasplSChen and des Weissen Meeres reichen für diese Nation von Fastern nicht aus. Hering und Stocklisch spielen eine Hauptrolle in der Volksnahrung. Uebrigens versagen sich diejenigen, welche am strengsten nach den Vorschriften der Kirche leben, selbst Fischspeisen. Der Landmann lebt während seiner vier Fastenperioden fast ausschliesslich von Salzlisch und eingemachtem Kohl, ähnlich wie die Mannsidia.fi eines Schiffes auf langer Fahrt; und daher stellen sich auch bei ihm nicht selten dieselben Leiden ein, denen der Seemann unterworfen ist, am häufigsten der Skorbut. Die letzten Wochen der grossen Fasten, die mit dem Ausgange des Winters zusammentreffen , wo der Mensch am meisten einer festen, kräftigen Kost bedarf, bringen denn auch die Ueborfüllung der Hospitäler mit sich. Die Zahl der Kranken wächst und die Epidemien nehmen an Heiligkeit, zu, und das um so mehr, als auf die den Körper schwächenden Fasten der heiligen vierzig Tage in schroffem Uebergange das flotte Leben und die Gastereien des Osterfestes folgen, während dessen das Volk sich nach den langen Entbehrungen gründlich Schadlos zu halten sucht. Die St. Feter- und Maria-HimmelfahriB-iästen, welche in die Zeit der grossen Hitze und der Hauptarbeiten fallen, fordern nicht weniger Opfer. Um wie vieles erhöhen diese b'iden Sommer-Fasten nicht die Sterblichkeil unter den ländlichen Arbeitern, die ihren Durst mit Kwas löschen und deren Nahrung in Salzfisch und Gurken besteht? Das Volk legt auf diese harten Fasten Werth und ihm es vielleicht gerade deswegen, weil sie peinlich sind und weil der Leib, das Fleisch darunter zu leiden bat. Sie scheinen ihm einen wesentlichen Bestandteil der Religion auszumachen; sie sind ihm das Zeitdien und der Lohn des Sieges, wehdien der Geist über das Fleisch erringt Die langen Zeiten dir Enthaltung von leiblichen Genüssen und die Fast er strengster Observanz Hussen ihm fromme Scheu und Achtving ein. Nach dem Vorbilde der meisten Heiligen des Orients sieht das Volk in der Ertödtung des Fleisches und seiner Begierden die verdienstlichste aller christlichen Thaten; die Kost des Muschiks ist eine so kärgliche, dass er sich zu dem angedeuteten Zwecke fast gänzlich auf seine Grütze und sein grobes Roggenbrot beschränken muss. Landleute anderer Nationalität würden unter denselben Dielten nur mit grössler Mühe ähnliche Entbehrungen ertragen; dazu ist eben russische Ausdauer und Geduld erforderlich, Vor wenig Jahren, schon unter Alexander III., hielt sich m der Ukraine ein Beamter bei tschechischen Kolonisten auf und fragte dieselben, ob sie aus Erkenntlichkeit für die russische Gastfreundschaft nicht geneigt wären, zur orthodoxen Kirche überzutreten. „Nein, Ew. Exoellenz", erwiderte der Dorfälteste, „Ihre Fasten sind zu lang und zu strenge für uns an Kutter und Milchspeisen gewohnte Tschechen". Bei mehreren Bussen beginnt sich schon diese Ansicht der Tschechen einzubürgern. Nur der Muschik und der Handwerker, Welcher jenem oft so ähnlich ist, beobachten noch die anachoreten-lial'len Kasteii in ihrem ganzen Umfange. Unter den Kaufhalten, welche noth bis vor Kurzem in Betreif aller religiösen Observanzen die Eifrigsten waren, macht sich bereits eine gewisse Lässigkeit bemerkbar, die immer mehr um sich greift, in gleicher Weise wie in den mit (leren Klassen die Frömmigkeit abnimmt. Die obersten Schichten der Nation haben sich seit geraumer Zeit von den harten Fasten frei gemacht. Selbst die frömmsten Familien kehren sich an die kirchlichen Vorschriften nur m so weit, als in der eisten und letzten Woche der grossen Fasten hei der Abfassung des Küchenzettels gewisse Gerichte gestrichen werden. Um von einer allzu genauen Befolgung kirchlicherseits verlangter Handlungen djspensirt zu werden, halten sich die frommen Leute nicht immer für \erpllichtet, die jedesmalige Krlaubniss der Geistlichkeit zu erbitten. Hier zeigt sich wieder der Unterschied des Wesens •nid der Gewohnheiten der beiden Kirchen: trotzdem die Fasten, Feste und Observanzen aller Art in der gräko-russischen Kirche Zahlreicher vorhanden sind als in der römischen, gewährt erstere ihren Kindern in Wirklichkeit mehr Freiheit und Spielraum als diese. Was von der Interpretation des Dogmas gesagt werden musste, gilt auch hier. Die orientalische Kirche giebt vor, die Gewissen nicht unter eine ebenso absolute und bis auf Kleinigkeiten sich erstreckende Herrschaft zu zwingen (wie Rom); sie fordert nicht in so vielen Fällen das Fingreifen ihrer Diener. Die Unterwerfung unter die kin bliche Autorität des Priesters wird dort nicht in demselben Grade anerkannt und gerühmt, und infolgedessen hat die Ausübung seiner ritualen Amtspflichten dem Geistlichen niemals in gleich hohem Maasse Einfluss auf die Gemeinde verschafft. Viele Katholiken sehen heutzutage Fasten und Abstinenz hauptsächlich als Sache des Ge-horsams an. Nichts widerstreitet mehr dem Geiste der orientalischen Kirche: für sie ist und bleibt die Enthaltung von weltlichen Genüssen vor allen Dingen eine Ertödtung böser Lust und eine Vorbereitung auf die Feste. Auch giebt es bei ihr nichts, was den durch Rom gewissen Personen oder Ländern bewilligten Dispensen oder Privilegien ähnlich wäre, wie z. B, dem Kreuzzugs-Erlass, welcher die Spanier und Portugiesen gegen ein Almosen der Abstinenz während der Fastenzeit enthebt. In der gräko-russischen Kirche ist jedermann gehalten, sich nach den Kirchengesetzen zu richten so lange es seine Kräfte gestatten. Man fühlt aber weniger die Verpflichtung, für jede einzelne leichte Umgehung der bezüglichen Vorschriften ausdrücklich Eriaubniss nachzusuchen; das thun nur die Gewissensangst liebsten. Man macht sich im Allgemeinen weniger Skrupel, und verlässt sich auf sein eigenes Gewissen. „Weshalb soll ich4', sagte während der Gross-Kasten eine strenggläubige Krau zu nur. „weshalb soll ich vom Priester Fastendispens erbitten, da mir doch Gott selbst durch Verleihung einer sehr zarten Gesundheil das Kasten verbietet?" Weit davon entfernt, dass der Buchstabe den Geist erdrückt, setzt dieser — oft bei den gotteslürehtigsten Kenten — sich in aller Ruhe mit dem Buchstaben auseinander. Obschon also in der russistdien Gesellschaft die Frömmelei nicht so verbreitet ist als in katholischen Ländern, so zeigt sie sich doch mächtiger und verräth mehr geistigen Gehalt, selbst bei dem „pio femineo sexu", bei demjenigen Geschlechte, welches am meisten sklavischer Befolgung der rituellen Vorschriften geneigt ist. In dieser Beziehung herrscht ein grosser Unterschied zwischen den gebildeten und den unwissenden Klassen, der so tief einschneidet, dass es oft den Anschein hat, als gehörten beide garnioht zu dem- selben Bekenntnisse; denn bei dem niederen Volke regiert der Buchstabe als unumschränkter Gebieter Die Fastenregeln sieht es geradezu als ein Gesetz an, und in den noch weniger kultivirten und vom Verkehr berührten Gebieten empört sich das orthodoxe Empfinden gegen jede Verletzung desselben. Unter Nikolaus wurde einem von Petersburg muh Archangel reisenden Deutschen von einem Bauern, der es nicht ertragen konnte, dass in seiner Gegenwart während der Fasten Speck gegessen wurde, der Kopf gespalten, denn es war dies in den Augen des Mörders geradezu eine Gotteslästerung, welche ein Christ nicht unbestraft lassen durfte. Heutigen Tages sind die Muschiks an derartige Scenen des Aergernisses schon zu sehr gewöhnt, als dass sie aus Entrüstung darüber zu Gewaltthaten schreiten sollten. Sie beweisen sogar in ähnlichen Fällen, besonders Fremden gegenüber, eine auffällige 'Dderanz, wenngleich sie selbst sich zu pünktlicher Beobachtung der überlieferten Bestimmungen verpflichtet fühlen und fast eimnüthig allen denjenigen, welche sie von dem bisherigen Wege abzubringen versuchen, Widerstand entgegen setzen. Soll das Volk jene Gebräuche aufgeben, so müsste vor allen Dingen zuerst die Kirche auf sie verzichten. Die Kirche hat nun zwar das Recht dazu, nicht aber auch die Freiheit! Sie liegt in den Händen der Ueberlieferung und ist durch das hohe Alter geheiligter Gewohnheit gefangen. Zucht, Ritus und Observanzen sind bei ihr fast ebenso unerschütterlich wie das Dogma selbst. In diese Unbeugsamkeit hat sie ihren Stolz gesetzt, darin hat sie ihre Kraft bewiesen, und darum wird es ihr jetzt natürlich schwer, offiziell das aufzugeben, was sie Jahrhunderte lang aufs Strengste anbefohlen hat. Durch eine darauf gerichtete Massregel würden sich die treuesten Kinder der Kirche in ihrer Arglosigkeit und Einfalt beleidigt fühlen: das Endresultat wären Schismen mit dem Auslande oder neue Sekten in Kussland.1) Nach dieser Seite hin ist die gräko-russische Orthodoxie dem römischen Katholicismus gegenüber Stark im Nachtheil; sie gebietet nicht über dieselben Mittel wie ihre abendländische Rivalin. Da es ihr an einer Centraigewalt, an einem lebenden, in Christi Kamen befehlenden Oberhaupte fehlt, so kann sie sich nicht, wie die römische Kirche, den Bedürfnissen der Zeit und den Forderungen des Klimas anbequemen. Dank der in keinem Funkte angezweifelten Herrschaft des Stuhles Petri, erfreut sich der ') Das russische Heer fastet mit Genehmigung des Heiligen Synod nur eine Woche lang; indessen ist das ein Fall für sich und eine ebensowohl von der Verwaltungsbehörde wie von der Kirche ausgehende Bestimmung. Katholicismus in ähnlichen Lagen grösserer Freiheit und kann sich also den gerade gegebenen Verhältnissen besser accomniodiren. Schon der Umstand, dass bei ihm alle Macht in einer Hand ruht, gestattet ihm grössere Freiheit im Thun und Lassen. Die in dem unfehlbaren Papste personificirte Kirche ist im Stande zu sprechen, fortzuschreiten, zu binden und zu lösen; während die Orthodoxie, ohne Stimme, die für sie entscheidend reden, und ohne Kraft, die sie vom Platz bewegen könnte, zum Schweigen wie zur Regungslosigkeit verurtheilt zu sein scheint Dadurch, dass sie sich zu ängstlich vor der Aenderung hütete, hat sie sozusagen die Hewegungsfähigkeit verloren. Sie gleicht ihren starren gravitätischen Ikonen, deren Mund geschlossen ist und deren seit Jahrhunderten steife Gliedmassen sich nicht nach Belieben krümmen und strecken können; sondern, kurz gesagt, mit Ankylose *) behaftet sind. In Russland sollen die Lasten nicht nur eine Zeit der Kasteiung, sondern auch — wenigstens wird dies vorausgesetzt — der seelischen Sammlung sein. Der Staat, als gefälliger Helfer der Kirche, wacht darüber in seiner Art und Weise. Wenn das Gesetz nicht alle Russen verpflichtet, zu fasten, wenn die heutige Polizei duldet, dass die „Traktirs" 2) ihren Gästen verbotene Gerichte auftischen, so verordnet der Staat doch ausdrücklich, dass in den betreifenden Wochen gewisse weltliche Vergnügungen nicht stattfinden dürfen, so vornehmlich Theatervorstellungen. Das Strafgesetzbuch enthält mit Rücksicht hierauf einen Artikel — No. 155 —, der noch gültig ist. Die grossen Städte und gerade die Klassen, welche am wenigsten fasten, werden durch diese Art von Entbehrung immerhin ziemlich empfindlich betroffen; während der Kasten und an den Fest-Heiligabenden sind die Theater geschlossen: Schauspiel, Komödie und Oper müssen feiern. Allerdings wird jenes Verbot, hauptsächlich auf die grossen vom Staate oder den Städten unterstützten Theater angewandt. Die geistlichen Konzerte der Hofkapelle oder der Tsohudow-Chöre bilden indessen nicht die einzigen Unterhaltungen jener „mageren Zeil."; denn der Uirkus, die Seiltänzer-Buden und die Kaffees, in denen musizirt ward, bleiben in der Regel geöffnet, dasselbe gilt von den fremdsprachlichen Theatern; auch Aufführungen lebender Bilder lässt 1) Anm. d. Uebers.: Medicinischer Ausdruck, der hier dasselbe sagt wie der vorhergehende Satz. Kr bezeichnet die in Folge von Gelenkbrüchen u. dgl. eintretende Steifheit der Glieder. a) Anm. d. Uebers.: TpucvBjtt =■ Wirthshaus. man zu. Unter Alexander IL wurde merkwürdiger Weise die rus-rische Oper untersagt, nicht so die französische Operelte und die deutsche Posse: in der Pastenzeit schwangen Olfen buch und Leeocq lustig den Taktstock, und das komische Theater wurde zum Stelldichein der vornehmen Welt. Die Krage der Theatersperre während der Pasten hat oft genug zu den leidenschaftlichsten Erörterungen in den Salons und in der Presse Anlass gegeben. Den Streitigkeiten über solche Stoffe räumt man das weiteste Fehl ein. Im Gegensatz zu dem Petersburger Publikum, schrieb bei Deginn der Regierung Alexanders III. der Munizipalrath von Moskau den „Verfall der Sitten" jener Milde zu, welche die Regierung bezüglich der während der Fasten stattfindenden Theatervorstellungen hatte walten lassen. Die Wünsche der Moskauer „Duma" M sind erfüllt worden, und, entsprechend den Darlegungen des Heiligen Synod, hat man den Artikel 155 des Strafgesetzbuches neuerdings unnachsichtig in Anwendung gebracht. Mit den Kesten verhält es sieh wie mit den Kasttagen: ihre Zahl übersteigt schliesslich alles Denkbare, aber die Kirche würde bei dem Versuch sie zu vermindern, auf denselben Widerstand stossen. Auch in dieser Hinsicht haftet — von unserm Standpunkte aus — dem orthodoxen Kultus etwas Altvaterisches an. Bei ebensovielen Festen als Fasttagen ist von drei Tagen immer einer der Enthaltsamkeit, ein andrer der Ruhe gewidmet. Die Sonntage bilden kaum die Hälfte der Feiertage, von denen eine ganze Zahl noch eine Vor-und Nachfeier haben. Nun kommen zu den kirchlichen Festen in Russland noch die bürgerlichen: die Namenstage des Kaisers, der Kaiserin, des Thronfolgers, der Geburtstag des Herrschers und das Fest seiner Krönung; früher gehörten dazu auch die Namenstage aller Grossfürsten. Der Gesundheit des Volkes sind diese häufig wiederholten Ruhelage nicht zuträglicher als die Kasten, denn sie sind die Zeit der Zechgelage und Tafelfreuden. Hat am Morgen die Kirche den schuldigen Tribut erhalten, so gehört der Rest des Tages oder der Abend der Schenke; und dabei ist noch zu bedenken, dass nicht alle Dörfer eine Kirche besitzen, wohl aber ein oder mehrere Wirthshäuser. Der Kusse ist im Allgemeinen kein Freund körperlicher Bewegungen und zieht es meistens vor, seine Koste im „Traktir" zu verbringen; sein grösstes Vergnügen besteht darin, sich in ruhiger Ungültigkeit dem Genüsse geistiger Getränke hinzugeben. Man hat darauf hingewiesen, ') Anm. d. Hebers.: 4).«» — Magistrat. dass in Russiand das Wort Fest von dem Worte Müssiggang abstammt;1) und wie unter allen Himmelsstrichen „Müssiggang aller Laster Anfang1" ist, so tragen allzu häufige Feste viel zur Entsittlichung des Volkes bei. In Russland sind, ganz wie im Oecident, manche Personen der Ansicht, dass die Kirche mit schlauer Berechnung die Feiertage im Interesse des Klerus vermehrt habe, welcher aus der Frömmigkeit seiner Kinder und aus der Menge der Feste um so grösseren Nutzen zöge, als es Sitte war, dass an gewissen unter jenen Tagen, wie man sagt, allerlei Arbeiten für den Herrn Pfarrer unentgeltlich verrichtet wurden. Dieses Grundes bedarf es jedoch keineswegs, um die bedeutende Zahl der Feste zu erklären. Der natürliche Hang des goltesfürchtigen Gemüthes und des kirchlichen Geistes ging überall darauf hinaus, den Menschen über irdische Dinge zu erheben, um ihn der unsichtbaren Welt wieder zuzuführen; und eines der diesem Streben dienenden Mittel sind eben die Feste, jene heiligen Tage, die Gott geweiht sind. Liegt aber den Festen dennoch eine spekulative Berechnung zu Grunde, so hat sich im Osten und Westen die Kirche weniger im Interesse des Klerus, als zu Gunsten der Massen, der kleinen Leute in Dorf und Stadt, damit befasst. Sind die Festtage durch die Kirche vermehrt worden, so erfüllte diese nur ihre Pflicht als Beschützerin der Schwachen und Geringen. Solange es Sklaven und Leibeigene gegeben hat, waren die Feste eine Wohlthat für die Menschen, denn sie brachten Buhe nach harter Knechtesarbeit. Sehen wir nicht, dass noch heut, wo die Sklaverei verschwunden ist, in mehreren Ländern Arbeiter und Bedienstete verschiedener Kategorien Gesetze gegen die Sonntagsarbeit fordern, um auf diese Weise ihre Erholung und Buhe zu sichern? Jedoch die Feste, welche für bestimmte Klassen der Gesellschaft ein Mittel der Befreiung bilden, werden zu einer Last, sobald sie zu oft wiederkehren. Ist letzteres der Fall, so fördern sie die Arbeit nicht und hindern den Arbeiter in seinem Erwerb, sie machen den Privatmann, ja schliesslich die ganze Nation arm. In solchen katholischen Ländern, in denen nicht, wie in Frankreich, die Zahl der obligatorischen Feste reduzirt ist, kann der Handwerker oder Bauer noch immer an 300 Tagen seiner Arbeit nachgehen; in Bussland hingegen bleiben ihm nur 250! So hat also das Jahr für die Orthodoxen sechs oder sieben Wochen weniger als für die Katholiken Italiens oder Oesterreichs, und zwei Monate weniger als für die ') Prasdnik — Fest von prasdnyi = müssig. deutschen oder englischen Protestanten. Dies ist unstreitig eine Hauptursache der schlechten wirtschaftlichen Lage Russlands, zumal da es die Sitte verlangt, dass neben den Kirchenfesten in jeder Gegend, jedem Dorfe und jeder Familie gewisse lokale Feierlichkeiten, wie Gehurts- und sonstige Jahrestage, vom Volke begangen werden. Und die Nachtheile, welche aus diesen häutigen Ruhe- und Feierpausen entstehen, sind um so fühlbarer, als viele von ihnen gerade in die gute Jahreszeit') fallen. Während der Heu- oder Fruchternte sieht man nicht selten das geschnittene Futter auf dem Platze vermodern oder das Korn auswaehsen und die Schnitter und Fehlarbeiter lassen es ruhig geschehen, weil sie ihre Feste innehalten müssen. Deshalb betonen die Grundbesitzer immer aufs Neue, dass die Unmenge von Feiertagen der russischen Landwirtschaft den empfind.« liebsten Schaden zufügen. Nicht minder laut sind die Klagen der Schullehrer und Erzieher, [oh habe ausrechnen hören, dass, wenn man von russischen Kindern das gleiche Arbeitsquantum erhalten wolle, wie von französischen oder deutschen, man sie ein oder zwei Jahie länger zum Unterricht schicken müsste. Alan begreift, dass die öffentliche Meinung und die Regierung sich vielfach mit dieser Frage beschäftigt haben, die höchste Autorität der russischen Kirche, der Heilige Synod, ist ihr sogar, wie man sagt, mehrmals naher getreten. Um die Anzahl der Feiertage einzuschränken, könnte man gewissen Festen eine grössere Bedeutung zusprechen als anderen, Unterschiede zwischen ihnen aufstellen und für einige den Kirchenbesuch anordnen, während man die Arbeit an ihnen doch gestattet. Leider aber ist es sehr zweifelhaft, ob alleUnterthanen des Zaren dem Heiligen Synod die freie Befugniss zur Herabsetzung von Festen, wrelche die Kirche von Alters her gefeiert hat, zugestehen würde. Und selbst, wenn letztere officiell aufgehoben würden, würde das Volk sie nicht dennoch beibehalten? Schreibt doch die Kirche einige der Lieblingsfeste des Muschiks — unter anderen das des heiligen Elias oder „unserer lieben Frau von Kasan" — überhaupt nicht mehr vor! Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass der Russe die zahllosen Festtage durchaus nicht immer mit sehr grosser Gewissenhaftigkeit feiert; habe ich doch selbst, mitten in Alt-Russland, Sonntags die *) In dem Distrikt Staraja Russj (des alten Russl.) z. B. giebt es nicht mehr als 245 Arbeitstage; dasselbe Verhältniss existirt in Walda'i,während ihre Zahl bei den Katholiken von Kowno auf 270 und für die Lutheraner der Ostseeprovinzen auf 290 steigt \Landwirthsehafts - Enquete). Vgl. Fontenay, Voyage agricole en Russie, Leruy-licaulieu, Reich d. Zaren u. d. Kusse«. III. Bd. 8 Bauern ihre Arbeiten fertig muchen sehen. Die jüdische Beobachtung der Sabbathsrahe, wie wir sie bei den englischen und amerikanischen Protestanten wiederfinden, ist ihnen fremd, und sie scheuen sich nicht, auf dem Wege von der Messe Ein- oder Verkäufe zu besingen. Andrerseits weigert sich das Volk beharrlich, am Feiertage für einen Herrn zu arbeiten, und dass es dies in gewissen Zweigen der Industrie dennoch thun soll, erregt seinen Unwillen, der sich bisweilen schon in heftigen Auftritten zwischen Hüttenarbeitern und ihren Aufsehern und Direktoren geäussert hat, zumal wenn letztere Ausländer waren und als solche natürlich kein rechtes Verständniss für die russischen Feiertage hatten. Um nun Klagen ähnlicher Art Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, hat die Regierung Alexanders III. verordnet, dass die von der Kirche vorgeschriebenen Ruhetage streng einzuhalten seien. Vielleicht wäre es richtiger gewesen und hätte der nationalen Industrie grösseren Nutzen gebracht, wenn mit dem Inkrafttreten dieser Bestimmung zugleich eine gebührende Reduktion der vielen Feste erfolgt wäre. Mit dieser Frage steht eine andere, nicht weniger missliche im Zusammenhang, die der Kalender-Reformation. Bekanntlich hat die russische Kirche und mit ihr der Staat das julianische Jahr beibehalten; ja noch mehr; die Regierung hat diesen veralteten Kalender in Gegenden wieder eingeführt, wo er längst nicht mehr im Gebrauch war. So ist es geschehen, dass das Vaterland d es K opernik u s1) zum „alten Stil" zurückkehren musste. Drei Jahrhunderte haben nieht hingereicht, Russland zum Verzicht auf eine Zeitrechnung zu bewegen, welche alle civilisirten Länder, protestantische und katholische, aufgegeben und selbst diejenigen Völker als mangelhaft erkannt haben, bei denen sie heut noch beharrlich angewandt wird. Das orthodoxe Russland lässt die Sterne am Himmel wandern und die Erde sich drehen, ohne dem Laufe der Sonne gebührende Rechnung .zu tragen; trotz seiner Observatorien lebt es fort und fort in einem Zeitirrthum, und man sollte fast meinen, dass es ihm garnicht so unlieb ist, hinter der abendländischen Welt zurück zu bleiben, so aulfallend wenig Eile zeigt es, diese einzuholen. Und doch scheint es, dass Russland allen Grund hat, den alten römischen Kalender dem alten, verbrauchten Orient allein zu überlassen, denn in den 1) Anm. des Uebers.: Das „Vaterland des Kopernikus" ist Deutschland, da seine Geburtsstadt, Thorn, in Preusscn liegt. Timm hat nach dem Jahre 1454 eine Zeit lang unter dem Schutze des Königs von Polen gestanden und später ganz vorübergehend /.um < irossherzogthum Warschau geholt Demnach kommt russisch Polen, an welches der Verf. offenbar gedacht hat, nicht die Bezeichnung „Vaterland des Kopemikua" zu. Augen der Fremden ist derselbe oft das besondere Merkmal einer Verzögerung des Zarenreiches auf dem Wege der Bildung und Kultur; Dadurch dass es 12 Tage später seine Zählung beginnt, als sie durch den Stand der Sonne gegeben ist, erscheint es um mehrere Jahrhunderte im Rückstände. Wenn Russland dessenungeachtet auch hierin an seinem Isolirungsprincip eigensinnig festhält und sich nicht nach der natürlichen Ordnung des Jahres richtet, su liegt dies wiederum daran, dass der Kirche eine oberste Centraigewalt fehlt, welche eine bezügliche Massregel ergreifen und deren allseitige Befolgung anbefehlen könnte. Während die römische Kirche im Genüsse der Freiheit, ihre Riten und Gebräuche nach Gefallen ändern zu können, ihren Stolz in die Kalenderreform gesetzt hat, welche von ihr selbst ausging, bleibt die orientalische Kirche, eigentlich wider ihren Willen im Hanne des julianischen Jahres, als oh sich seit Cäsar die Welt und die Wissenschaften nicht von der Stelle gerührt hätten. Selbst für diese scheinbar so ausserordentlich einfache Reform, welche Bich rings um sie her vollzogen, hat die russische Kirche mich nicht die genügende Kraft in sich gefühlt. Der Staat könnte sicherlieh die Initiative dazu ergreifen; denn obwohl der gregorianische Kalender den Xamen eines Papstes trägt, so würde die Schwierigkeit, ihn einzuführen, weniger dem Widerstände des Heiligen Synod und der Geistlichkeit als dem des Volkes begegnen, welchem es gälte, denselben angenehm zu machen. Zu diesem Zwecke wäre aber nichts Geringeres erforderlich, als eine Verständigung mit den Patriarchen und allen Kirchen des Orients, eine Art Konzil der gesammten orthodoxen Welt. Auch würde in den Augen eines grossen Theiles der Nation ein Kalenderwechsel annähernd die Bedeutung einer Revolution haben und gewisse Sekten würden in einer solchen bestimmt ein Zeichen der alsbaldigen Ankunft des Antichrist erblicken. Die Verdrängung des ,,alten Stiles" durch einen neuen würde nicht allein in die Gewohnheiten eines in allen Stücken am Hergebrachten hartnäckig festhaltenden Volkes störend eingreifen, sie würde auch die überlieferte Ordnung der Feste umstossen, indem sie irgend einem Heiligen denjenigen Kalendertag zuwiese, welcher einem anderen geweiht ist. Km sich dem „neuen Stil" anzusehliesscn, wäre man gezwungen, von einem Jahre zwölf Tage zu streichen, also zwölf Feste, und würde also ebenso viele Ibaliomi utn ihnen von Rechts wegen zukommenden Ehren und Huldigungen bringen. Was würden die Leute sagen, welche den Namen eines der Reform geopferten Heiligen tragen? Her Muschik würde kaum begreifen, dass diese oder jene Rewohner des Himmels und 9* gar Christus oder die Jungfrau des ihnen gehörenden Tages, sei es auch nur auf ein Jahr, berauht werden könnten. Er würde dergleichen wie eine Art Depossedirung, eine Absetzung der heiligen Besitzlosen anBehen und fürchten, ein Opfer ihres Zornes zu werden, wenn er sieh der Neuerung anschlösse. Nur dieser Krwügung bedürfte es, um bei einem Theile des Volkes Skrupel und Besorgniss zu erregen; und sobald die Obrigkeit weiter ginge, liefe sie Gefahr, die gegnerischen Reihen der Kirche zu verstärken und jenen Alt-Gläubigen, welche sie schon wegen Aenderung der Liturgie anklagen, eine Wulfe mehr in die Hand zu drücken. Aus allen diesen Bedenken erklärt sich die Beibehaltung des „alten Stiles": auch die kaiserliche Allmacht hat noch nicht gewagt, Hand an den Kalender zu legen, denn wenn es sich um das Gewissen des Volkes handelt, so dünkt sich die Autokratie keineswegs unumschränkt. Ihrer (lewalt ist durch den Glauben, oder richtiger: durch das volkstümliche Vorurtheil eine Grenze gezogen. Wie sollte demnach eine Ausmerzung von zwölf Kalendertagen in einem Lande, das noch in so hohem Grade ursprünglich und naiv geblieben ist, nicht als ein gewaltiges Ereigniss betrachtet werdenV Die fast übertriebene Verehrung, welche den Heiligen zu Theil wird, ist zu allen Zeiten ein eigentümliches Zeichen russischer Frömmigkeit gewesen. In wenigen europäischen Ländern sind die Lebensbeschreibungen der Heiligen, der alten wie der neueren, jemals so volksthümlich gewesen, wie dort, Hat auch Russland noch nicht seine BoUandisten ') gehabt, so besitzt es doch seine „goldene Legende", ein Buch, das zum grössten Theile Geschichten, welche von den Griechen oder Bulgaren überkommen und durch russisches Genie in seiner Weise vermehrt worden sind, enthält, In diesen gewöhnlich anonymen Heiligen-Biographien haben die Gelehrten mehrere aufeinanderfolgende und zwar zuerst kurze, dann längere, später aber wiederum verkürzte Ueberarbeitungen unterschieden. Die Legenden bilden einen der reichsten Zweige der Volkslitteratur und gleichzeitig eine der werthvollsten Quellen für die nationale Geschichte.-) *) Anm. d. Uebers.: ßolland, gelehrter Jesuit (■}• 1665), fing die Acta Sanc-torum an; liolhm«listen Mitarbeiter an der A. S. — -) Siehe z. B. ISuslajcn: lstoritsche.skie ü'tscherki Uiisskoi narödnoi slowcs-nosti i iskusstwa. (Anm. d. Uebers.: llmipii'icri.-ic Om-pieu ryoruoii iinpo.uioii o.iohcc-iioctii ii iicKvccTiiii: Geschichtl. Umrisse alter russischer Litteratur u. Kunst), II, p. 97—98, und Kliutschewski: 1 )rewne- Kiisskija Scliitijä Swjatych kak istori- tscheskii istotschnik (Anm. <-cKin VKinhi Ciunuxi. khk-i. iioiupii- ■nn.iii im iumi.mki.: Die altrussischen Lebensbeschreibungen der Heiligen als Geschichtsquelle.) Im Oecident begegnet man oft der Vorstellung, dass im Himmel der grälvo-russischen Kirche nur ältere Heilige leben, und zwar meistens solche, deren Kanonisirung dem Bruche zwischen Born und Byzanz vorausging. Die katholischen Schriftsteller wiederholen beständig, dass der Orient, vor dem Schisma so überreich an Heiligen, nach demselben niemand mehr heilig gesprochen hat; ja, wenn man ihnen glauben wollte, so hätte die Orthodoxie sogar völlig davon Abstand genommen, für sich neue Heilige zu beanspruchen, und hätte auf diese Weise selbst ihre Unfruchtbarkeit1) eingestanden. Nichts ist falscher als dies! Derartige Versicherungen beweisen nur, wie sehr die orientalische Kirche im Abendlande verkannt wird. Weit davon entfernt, seit, etwa zehn Jahrhunderten keine Heiligen mehr zu besitzen, zählt man im Orient, und vornehmlich in Russland, deren eine stattliche Menge. Wir finden daselbst Heilige, Glückselige oder Ver-ehrungswürdige (prepoddbnyi, bedeutet auch ehrwürdig, bei der Titulatur von Geistlichen) aller Epochen, von der heiligen Olga bis zum achtzehnten Jahrhundert. Allein die Katakomben Kiews beherbergen ihrer mehr als hundert, über welche die Mönche von Petscherski zur Belehrung der Pilger einen Katalog zusammengestellt haben. Moskau, Nowgurod-Welikii, Pskow, alle die alten Stielte, alle die alten Klöster haben ihre Heiligen und ihre Verehrungs-würdigen.2) Puter diesen Seligen, deren Ruf nicht selten den ganzen weiten Kaum von der Ostsee bis zum stillen Ocean erfüllt, giebt es Märtyrer, Bischöfe, Pürsten, vor Allem aber viele Mönche. Alle haben sie, wie ihre Bildnisse und ihre Kirche selbst, etwas Altertümliches, um es zu wiederholen, etwas Archaistisches an sich. Die meisten von ihnen gehen aus der Kirche oder aus dem Kloster hervor, wo sie den grössten Theil ihres Erdenwallens zugebracht haben. Viele auch sind Anachoreten oder Asketen von echt orientalischem Typus, Wie jene Seligen von Kiew, die Jahre lang, ohne sich zu regen, in 'J So schrieb z. 13. einer der bedeutendsten Vcrthcidiger der katholischen Kirche, Abbe* Bougaud: „Die grako-russisclie Kirch*' bat nicht nur keine Heiligen mehr, sondern sie fordert auch keine mehr als ihr Eigenthum zurück". (Ke Christianisme et les Tenips presents, 1. IV, lrd part., ch. XI.) '-) Im Auftrage der „Societe des aniis de l'ancienne litterature russe" hat N. BarBukow eine Art bibliographische Nomenklatur der bekanntesten jener Nationalheiligen vcröH'entlicht. (Istotschniki Rüsskoi agiographii. Anm. des Uebers.: Quellen russ. Heiligengesch. Hot.....ihkm rvnuim muoriMUii). IVtersbg. 188*2. Vergl. Yakutow: Schitija Swjatych Ssäwernoi Rossii. (Anm. d. Uebers,: VK'nrhi tuniu\i. ciiiiciiiioii Pocehi, die Lcbensbcschreib. der Heiligen des nordlichen Russlands, 1882). |m»iiaiiit>, letzte Oelung. ■) Von „sobrat", versammeln, wovon „sohor", Konzil, Kirche, stammt. 3) Anmerk. d. Uebers.: St. Jakobi Cap. 5,14,15. Ist jemand krank, der rufe zu sich die Acltesten der Gemeinde, und lasse sie über sich beten, und salben mit Oel in dem Namen des Herrn. Und das Gebet dos Glaubens wird dem Kranken helfen ; — — Alle diese Divergenzen, deren Reihe hiermit noch lange nieht abgeschlossen ist, können dem weltlich Gesinnten gleichgültig oder kindisch erscheinen: für den Beobachter jedoch und für den Gläubigen sind sie sämmtlich nicht ohne Bedeutung. Dies aber ist nicht blos deshalb der Fall, weil in allen Religionen die Masse des Volkes sieb an das Aeussere, Sichtbare hält, sondern weil sich hinter jenen Abweichungen in Form und Kirchenzucht oft Unterschiede verbergen, die das Wesen, den Geist der Kirche berühren. So verhält es sich mit zwei Sakramenten, mit welchen die Kirche in das bürgerliche Leben eingreift; es sind die Ehe und die Priesterweihe. Bezüglich beider stimmen die Orthodoxen theoretisch mit den Katholiken überein, und in der Praxis nähern sie sich gewissen protestanischen Gruppen. In der griechisch-russischen Kirche obwaltet keine absolute Unvereinbarkeit zwischen diesen beiden Sakramenten, von denen die Römischen gewöhnt sind, das eine als wesentlich den Laien, das andere als dem Klerus allein zukommend anzusehen. Weit entfernt, dass der Verzicht auf die Ehe eine unumstössliche Bedingung für den Eintritt ins Priesteramt bildet, wird die Ordination in Russland wie in Griechenland gewöhnlich nur den verheiratheten Kandidaten zu Theil, sodass also dort die Ehe und nicht das Cölibat den Zutritt zum Altar eröffnet. Obwohl diese Sitte sich nicht bis auf die höheren Grade der Hierarchie, bis auf die Bischöfe, erstreckt, so begreift man sehr wohl ihre sociale Bedeutung. Als Ehemann und Familienvater steht der Priester dem Gläubigen durch seine ganze Lebensweise viel näher und ist von ihm weniger durch den Kreis seiner Gedanken und Empfindungen geschieden. Die Verfassung der Orthodoxie, sei es nach Staat oder Völkerschaft, liess schon aus diesen Dienern des Herrn einen durchaus nationalen Klerus erstehen; die Ehe und das häusliche Leben haben die Priester in Bürger verwandelt, deren Interessen denen der anderen Klassen ähnlich sind. Zu dieser Verschiedenheit der beiden Kirchen gesellt sich eine weitere, nicht weniger unserer Aufmerksamkeit würdige. Bei den Orthodoxen fesselt nicht wie bei den Katholiken ein unauflösbares Band den Priester an sein Amt. Ein Geistlicher kann dort mit Zustimmung des heiligen Synod und mit Erlaubniss des Herrschers seiner Gelübde ledig werden und in das bürgerliche Leben zurückkehren, beinahe ähnlich so wie ein Soldat aus der Armee scheidetx). Der eines Verbrechens !) Wir geben hier, nach einem amtlichen Kirchcnblatt, die Abfassung einer solchen Genehmigung. „S. M. der Kaiser hat unter dem 12. Mai dieses Jahres überführte Pope wird wie ein Offizier degradirt, ja, ehedem machte man die Priester, mit denen man unzufrieden war, zu Soldaten. Bei derselben Herkunft und den nämlichen Amtspflichten hat auf diese Weise der Klerus in beiden Kirchen eine ganz verschiedene Stellung und ungleichen Einfluss. Wie bei den Katholiken, ist der Priester bei den Orthodoxen der einzige und nothwendige Vermittler der Sakramente und der göttlichen Gnade; aber zwischen ihm (dem orthodoxen Geistlichen) und (hau Gläubigen hat weder die Kirchenzucht noch die Ausübung der religiösen Handlungen eine ähnliche Schranke aufgerichtet wie im Oecident. Der Priester steht nicht so hoch über der Menschheit; die Ordination hat ihn dem Laienkreise nicht so weit entrückt, dass er nicht in denselben zurückkehren könnte. Gläubige und Priester nehmen ohne Unterschied das Abendmahl in beiderlei Gestalt; und schliesslich ist die Ehe das wichtige Verbindungsglied, welches Klerus und Laien an einander knüpft. Da sie eine Familie und kein ausländisches Oberhaupt haben, können die Popen unter sich auch keine so eng geschlossene und von allen abgesonderte Körperschaft bilden, wie im Oecident. Gerade dadurch, dass die gräko-russische Kirche die Entfernung zwistdien Volk und Priesterschaft verkürzt, ermöglicht sie den Laien und dem Staate, welcher der natürliche Vertreter der letzteren ist, einen viel grösseren Einfluss. Bei ihr wird der mystische, göttliche Charakter des Priesters weniger herausgekehrt. Der Glanz der Religion strahlt von ihm nicht so blendend wieder und begleitet ihn nicht auch ausserhalb der heiligen Handlungen. Klerus und Kirche sind dort nicht schlechthin dasselbe, und das Volk erblickt in jenem nicht sowohl den Stellvertreter Gottes und den König des Tempels, als vielmehr den Diener am Altar. Was die Ehe anlangt, so macht sich nicht in demselben Maasse ein Kontrast beider Kirchen bemerkbar. Hier nimmt die Orthodoxie, trotzdem sie Rom ziemlich nahe steht, in gewisser Hinsicht wieder ihren Platz zwischen Katholiken und Protestanten ein. Mit der Abneigung der ersten Christen gegen die Erneuerung des Ehebundes, läset die orientalische Kirche bei den Laien eine zweite und dritte Verheirathu ng zu, weigert sich jedoch, einer vierten ihren Segen zu geruht, dem ehemaligen Priester der Diöcese Wolhynien, Iwan Lwowitsch * * *, welcher im Jahre 1880 seine Würde niedergelegt hat, den Eintritt in den Staatsdienst mit den Rechten seiner Geburt zu gestatten . . . jedoch ausserhalb des Bereiches der Diöcese Wolhynien, wo er früher sein Amt bekleidete." „Tscherkownyi Wästnik", 16. Juni 1884, Seite 107. Leroy-Hoanl iou, ltoicli il, Zaren u, d. Ituiäscn. III. Bd. 10 spenden. Den Wittwern oder Wittwen, denen besonders daran gelegen ist, bald wieder eine neue Ehe einzugehen, schreibt sie sogar nur eine leichte Busse vor. Gleich den Katholiken fasst die gräko-russische Kirche die Ehe als ein Sakrament auf und erklärt sie für unlöslich; gleich den Protestanten ist sie (nach Ev. Matthäi, 5, 32) der Ansicht, dass die Untreue eines der Gatten dem andern Theile das Recht zur Scheidung gebe; denn ihren Ueberlieferungen zufolge ist der Ehebruch der Tod des Ehebundes, und die Verletzung des Gelöbnissos hebt das Sakrament auf. Die russische Kirche gestattet dem ehrverletzten Gatten, eine neue Verbindung zu schliessen, aber sie verbietet dieselbe demjenigen, welcher in der ersten die Treue brach. In Russland, wo es für die Orthodoxen keine andere als die kirchliche Trauung giebt, ersetzt die kirchliche Gerichtsbarkeit auf diesem Gebiete die bürgerliche. Ein grosser Uebelstand haftet ihr an : sie leistet nicht selten betrügerischen Kompromissen und schimpf- . liehen Kaufgeschäften Vorschub. Das weltliche Gesetzbuch hat in eigenthümlicher Weise das kanonische verändert und verdreht. Obwohl die Hauptschuld den herrschenden Sitten und der Art der Prozessführung beizumessen ist, so hat doch der Klerus den Nachtheil , dass er gar zu leicht' durch die eigennützigen Berechnungen schlecht zu einander passender Eheleute hinters Licht geführt wird. So kommt es nicht selten vor, dass Männer sich des von ihrer Frau begangenen Verbrechens schuldig bekennen und der letzteren obenein behülllich sind, ihren Buhlen zu heirathen. In der vornehmen Welt verfährt ein Ehrenmann auf diese Weise, ohne dass mau Ansfoss daran nimmt, ja, man hat aus einem derartigen Vorgehen fast eine Regel des guten Tons gemacht. Können die Gallen nicht mit einander auskommen, so ist es Sache des Mannes, wenn der Fall eintritt, alle Schuld auf sich zu nehmen: er muss sich nach Bedürfniss in llagranti erwischen lassen und selbst, sollte es nicht anders gehen, vor Zeugen eine Ehebruchskomödie aufführen. Viel seltener ist es die Frau, welche sich opfert und die Schande des Verbrechens, welches sie gar nicht begangen hat. auf sich ladet. Einige thun es aus Ergebenheit, andere aus Habsucht. Man erzählt beispielsweise, dass in der Ilandelswoll. reiche Wittwen auf solche Art vermögenslosen Frauen einen Mann nach ihrem Geschmack abgekauft haben. Solche Vorgänge sind natürlich auch auf die russische Bühne gebracht worden. Eine mittelmässige Komödie von Ostrowsky, „der Sohönthuer" (Krassäwez Muschtschina) behandelt diesen Gegenstand. Es ist vorgekommen, dass auf jene Weise geschiedene Ehe- männer, deren Frau, Dank ihrer eigenen Gefälligkeit, bereits aufs Neue vermählt war, sich ebenfalls wieder verheirathen wollten, zu diesem Zwecke einen zweiten Prozess anstrengten und die Revision eines Frtheils verlangten, welches auf untergeschobene Thatsachen hin gefällt worden war. Die Frage, ob den schuldigen Gatten die Wiederverheirathung auf immer verboten werden solle, ist heftig diskutirt worden. Mehrere Kirchenrechtsgelehrte haben betont, dass die Konzilien niemals den ehebrecherischen Mann zu ewigem Cölibat verdammt hätten. Ihrer Ansicht nach würde diese Kegel einzig und allein durch die Vorschriften des Nomokanon, eines byzantinischen Codex, gestützt, der die kirchlichen Gesetze mit denjenigen bürgerlichen in Verbindung bringt, welche Kirche und Klerus betrelfen. .Jedenfalls neigt man in Kussland dazu, sieh von einer allgemein als übertrieben anerkannten Strenge loszumachen, und die Krrciohung dieses Zieles ist kaum mehr als eine Frage der Zeit. Schon giebt es Beispiele, dass dem für schuldig erklärten Gatten die "VViederverehelichung gestattet worden ist, Freilich tritt mit dem Tage, da diese Ausnahme zum Gesetz erhoben wird, sicher eine bedeutende Vermehrung der l'me-scheidungs-Gesuche ein. Wenn aber Prozesse diesen Genres erst etwas weniger aufsehenerregend geworden sind, so ist es zweifelhaft, ob dadurch eine Festigung des ehelichen Bundes erzielt wird.1) In einer Studie über die Sakramente ist es unmöglich, dasjenige unerörtert zu lassen, welches die sittliche Eigentümlichkeit des Katholicismus ausmacht, nämlich die Busse und die Beichte. Die griechische Kirche stimmt mit der römischen insofern überein, als beide die Ohrenbeichte fordern. Die Theorie des Sakramentes ist also bei den Griechen und Kölnern so ziemlich die gleiche; wie aber Steht es mit der Praxis, die doch allein den Werth einer derartigen Einrichtung bedeutet? Kür den einer anderen Kirche angehörenden Fremden kann in dieser Angelegenheit weder von persönlicher Erfahrung noch von direkter Vergleichung die Rede sein; er muss sich mit mehr oder weniger deutlichen, bestimmten und zuverlässigen Antworten zufrieden geben, welche er hier und da Leuten entlockt, die selbst ausser Stande sind, die Gebräuche der katholischen Kirche gegen die ihrigen zu halten und sie prüfend abzuwägen. Zwischen der orientalischen und der lateinischen Beichte scheint in der Praxis J) Ueber die Zahl der Ehescheidungen und über das seitens der kirchlichen Konsistorien in diesen Sachen befolgte Verfahren siehe weiter unten, Kap. VII desselben Buches. cm Iliss entstanden zu sein, welchen die Jahre noch erweitern dürften. Es macht den Eindruck, als sei erstere kürzer, summarischer, weniger bestimmt, weniger anspruchsvoll; sie iindet seltener statt und dauert nicht so lange, wodurch ihre Wirkung auf den Gläubigen und die Macht, welche sie dem Klerus giebt, zwiefach vermindert wird. Sie scheint sich mehr auf das Bekenntniss der schweren Vergebungen zu beschränken, bisweilen sogar mit allgemeinen Erklärungen zufrieden zu sein und keine Bezeichnung der einzelnen Sünden zu fordern. Sie liebt genaue und bestimmte Angaben nicht und dringt nicht so tief in das Gewissen oder in die Geheimnisse des Lebens ein. Mit jenen bis in das Kleinste sieh erstreckenden Verhören, welche, besonders in früherer Zeit, in allen katholischen Ländern üblich waren, haben die russischen Gläubigen nichts zu thun: in die Hände der Geistlichen werden auch, wie wir glauben, nicht jene Sittenlehrbücher gelegt, in denen auf fast widerwärtige Weise das Laster bis in seine feinsten Easern anatomisch zergliedert wird. Alles dies erwogen, scheint die orthodoxe Beichte viel einfacher, rücksichtsvoller, diskreter, gleichzeitig aber mehr formalistisch und symbolisch zu sein, als die römische; ihr haftet gewissermassen etwas Erwüchsiges, Rudimentäres an. Auch nach dieser Seite also zeigt sich die orientalische Kirche weniger für Präcision und Logik eingenommen als die lateinische, und weniger geneigt, ihre Lehre bis in die letzten Konsequenzen zu verfolgen. In Kussland, vernehmlich beim niederen Volke, geht der Beichtvater gewöhnlich fragend zu Werke, und wenn es sich um einen Bauern handelt, so hat der Pope zwei beständig wiederkehrende Fragen: „Hast Du gestohlen? — Bist Du betrunken gewesen?" — auf welche dann der Muschik sich verneigend antwortet: „Ich habe gesündigt," J) Eine solche Antwort auf eine oder zwei äusserst hastig hervorgestossene Fragen genügt in der Regel zur Absolution. Mancher glaubt sogar, durch allzu direkte Fragen verletzt zu werden. Als einst ein Pope einen Beamten gefragt hatte, ob er sich habe bestechen oder — mit dem Ausdruck des Erzählers — schmieren lassen, soll der Beichtende geantwortet haben, dass er, der Priester, zu weit ginge. Bisweilen erkundigt sich der Geistliche, nachdem jene Fragen erledigt sind, oder auch anstatt sie überhaupt zu stellen, ob man sein Gewissen belastet fühle oder sonst einen besonderen Fehltritt mitzuthoilen habe. In einer Gouvernements -Hauptstadt wurde mir ein Pope ge- *) Oder er sagt: „Ich habe gesündigt, lieber Vater," grescheu, batjuschka 0 |) Ii III (MI I., flllTIOIIII.'il). nannt, der sich an Stelle jedes Verhörs dabei beruhigte, seine Beichtkinder nach ihrem Vornamen zu fragen, und der dann die Sünden namentlich vergab. Meistens reicht ein Bekenntniss in Bausch und Bogen, das einfache Gestehen der Schuld, wie es in der unbestimmten Formel ,.lcb hübe gesündigt:' liegt, als Antwort, völlig aus, und man hat nicht nöthig, sich auf genauere Erörterungen einzulassen. .Man scheint eine ähnliche Art der Beichte in der armenischen Kirche zu haben, welche bezüglich der Kilon und ihrer Ausübung der griechischen Kirche sehr nahe steht. Ich lernte in Transkaukasien einen armenischen Bischof, einen gebildeten und intelligenten Mann, kennen, der sich nicht scheute, diesen Modus der summarischen Beichte als theologische Theorie aufzustellen. „Anerkennen, dass man gefehlt hat," sagte er, das erstreckt sich auf alle Sünden: wenn Sie also sprechen: „Ich habe gesündigt," so haben Sie alles bekannt. Die Beichte ist das Aeusserliche der Heue; will man von ihr eingehendere Geständnisse verlangen, so wird sie zu Gunsten des Klerus materiali-sirt." Diese Auffassung, welche etwas protestantischen Einfluss vcInrath , wird von den russischen Geistlichen nicht getheilt. In Betreff der Theorie dieses Sakramentes findet man zwischen ihnen und den Katholiken nur einen bemerkenswert hon Unterschied, welcher in der Busse besteht, die der Beichtiger dem Sünder auferlegt. Nach orthodoxer Lehre handelt es sich hierbei nicht um eine Genugthuung für das Vergeben, eine Abbüssung begangener Sünden, sondern einfach um eine Selbstbesserung, ein Mittel der Zucht für den Sünder, welches ihm gewöhnlich auch nur dann verordnet wird, wenn.er es ausdrücklich wünscht. Dieser Grundsatz über die Busse schliesst sieh demjenigen über die guten Werke an. nach welchem die orientalische Orthodoxie die ganze Einrichtung des Ablasses der Lateiner verwirft, das. was die Bussen ironisch die geistliche doppelte Buchführung und die Dank der römischen Kirche nennen.1) Obgleich nun das Ohr des Fremden nicht selbst über die Beichte ') So schilderte der Slavophile Khomiakow seinen Landsleuten die Kirche Rotns: sie stellt /.wischen Gott und den Menschen eine Wange der Pflichten und Verdienste auf; sie misst die Sünden und Gebete, die Vergehen und die I"baten der Busse genau ab; sie lässt von einem Menschen über einen anderen Berieht erstatten und führt endlich in das llciligthuin den ganzen Mechanismus des Bankhauses ein." L'Eglise latine et le protestantisme. — Weil der russische Klerus"keinen „Reservefonds zu vertheilender Gnade" besitze (ebenfalls ein Ausdruck Khomiakowsi, so sei er dadurch abermals eines wirksamen .Mittels beraubt, die Laien zu beeinflussen, während dieses .Mittel den katholischen Priestern zur Hand sei. urtheilen kann, so vermögen doch die Augen desselben etwas davon zu erfahren; er braucht sich deswegen nur zu Anfang oder Ende der grossen Fasten in eine Kirche zu begeben. In den orthodoxen Gotteshäusern giebt es keine Beichtstühle; nichts erregt mehr als sie die Neugierde des Hauern in den katholischen Kapellen von Kiew oder Wilna. Gas Vorhandensein dieser abgesonderten Kauwerke dieser kleinen ..hudkr'). wie ein Muschik sie in seiner Kinl'alt nannte, ist schon ein mehr oder weniger wichtiges Merkmal der Beichte in den beiden verschiedenen Kirchen. In Russland existirt in der Regel weder ein Sitz für den Geistlichen noch ein Betstuhl (Kniebank) für den Beichtenden: alle beide stehen in der Kirche einander frei gegenüber hinter einem Schirm oder Gitterchen, web dies sie von der übrigen Menge trennt, ohne sie jedoch den Blicken derselben zu entziehen. Nicht selten kommt sogar diese winzige Schranke in Fortfall, und der Priester empfängt die Beichte, an einer Wand oder am Fasse einer Säule des Kirchenschilfes stehend, ohne dass er durch irgendwelche Schutzvorrichtung vor der Berührung mit den Andächtigen bewahrt würde. Neben ihm befindet sich ein Pult mit Kreuz und Evangelium, auf welches der Bussfertige zwei Finger legt, gleichsam als wollte er schwüren, die Wahrheit zu sagen. An gewissen Tagen der Fasten sieht man in den städtischen Pfarrkirchen endlose Reihen von Gläubigen jeden Geschlechtes, die, manchmal zu Tausenden hinter einander herschreiten und in der Hand eine kleine Kerze halten. Die Spitze der Kolonne drängt gegen die spanische Wand an, hinter welcher der Beichtvater steht. Eingeengt von der aus der Menge stets Zugang erhaltenden Menschenilut, ist es ihm kaum möglich, sich jedem Koiehtkinde ein oder zwei Minuten zu widmen. Der Nächste tritt vor, verneigt und bekreuzigt sich mehrmals nach russischer Sitte, antwortet auf zwei oder drei Kragen des Höpen und empfängt die Absolution, welche letzterer ihm unter Autlegen eines Zipfels der Stola auf sein Haupt ertheilt. Der seiner Sünden Ledige küsst das Kreuz oder das Evangelium und lässt sich, nachdem er seine Kreuzeszeichen und Verbeugungen vor einem Ileiligenhilde wiederholt hat, in die Liste des Diakonen einschreiben, oder entfernt sich, um am folgenden Morgen zur Kommunion wieder zu erscheinen. Ein echt russischer und gut christlicher Brauch ist der. dass man auf dem Wege zur Beichte alle Begegnenden, Verwandten, Freunde, Diener, für ihnen etwa zugefügtes Unrecht um Verzeihung bittet. In Moskau sind die Heute aus dem Volke damit noch nicht 1) Anm. d. Hebere.: (Sj,\kh (budka), Schilderhaus, Wachthaus. zufrieden, man kann dort vielmehr an den Busstagen in den Kirchen die Beobachtung machen, dass sie sich mit domüthigem Blick gegeneinander verneigen, selbst solche, die sich gar nicht kennen, — ein stilles Zeichen wechselseitigen Verzeihens. Die meisten dieser Beichten, die zu festgesetzten Zeiten ungemein stark besucht werden und sich häufen, sind natürlicher Weise für den Einzelnen schnell gethan, sind mehr summarisch und bisweilen ganz oberflächlich ; jedoch ist dies nicht immer der Fall, Es giebt auch dort gewissenhafte und wirklich reumiithige Seelen; es giebt ferner unter den Priestern Eiferer, die mit solchen fast nur ceremo-niellen Beichten keineswegs zufrieden sind und das Bedürfniss fühlen, eingehender zu fragen, Rathschläge zu geben und Trost zu spenden. Auch hier findet man die beiden entgegengesetzten, von uns schon bezeichneten Richtungen der gräku-russischen Kirche wieder: die eine strebt im Sinne der katholischen Kirche nach weiterer Vervollkommnung und Entwicklung der Beichte, die andere sucht sie — in umgekehrter Tendenz - auf eine Formsache zurückzuführen, unter den frömmsten Geistern scheint die erste dieser beiden Neigungen zu überwiegen. Freilich begegnet man auch jungen Mädchen, welche sich fürchten, dem Popen nahe zu kommen, und Mütter, welche es beunruhigt, an die Fragen zu denken, die ihren Töchtern vorgelegt werden könnten. Immerhin gehört das zu den Seltenheiten. Manchmal ist die Beichte so wenig geheim, dass der Priester, wenn es sich um Pensionate oder Schulen handelt, damit es schneller geht, zwei oder drei Kinder auf einmal vornimmt und gleichzeitig dieselben Fragen an sie richtet, worauf dann auch die nämlichen Antworten erfolgen. Dieses Verfahren erinnert an die Geschichte von der Regimentsbeichte: der Feldprediger fragt das Regiment mit lauter Stimme: „Hast Du gestohlen? — hast Du Dich dem Trünke oder der Unzucht ergeben?" Und die Mannschaften erwiedern im Chor: „Ich habe gesündigt, lieber Vater!" — Auf dem Lande mag es heute noch ähnlich zugehen. Bs ist eine wohl zu beachtende Thatsaohe, dass fei den Altgläubigen, welche in allen Stücken den frühesten Gebräuchen treu zu bleiben behaupten, die Beichte viel länger dauert und umständlicher ist. Bei ihnen befindet sich der Geistliche in seiner vollen Amtstracht mit dem Beichtenden Angesicht zu Angesicht allein, während die .anderen Gläubigen in der Kerne warten, bis die Reibe an ihnen ist; bisweilen harren sie sogar in der Vorhalle des Gotteshauses. Dem Priester, welcher stets den Gläubigen mit „Du" anredet, genügt es nicht, das Beichtkind auf Grund der zehn Gebote zu ver- hören; er scheut sich nicht, die aUerdelikatesten Fragen an dasselbe zu richten. Von gewissen Altgläubigen wenigstens nehme ich das als sicher an. Ein Sekretär namens Awwakum, der zur Zeil der Minderjährigkeit Peters des Grossen verbrannt wurde, hat uns in einer Art von Selbstbiographie ein Beispiel der Beichtpraxis hinterlassen, welchem das buhe Alter und der Ernst des Erzählers ein besonderes Interesse verleihen. Jene Stelle1) beweist, dass dazumal, beim Beginn des Schismas, die russische Beichte nichts weniger als immer nur ceremoniell war. Noch heute glaubt das Auge des Beobachters manchmal, in einigen Klosterkirchen zum Beispiel, eine Beichte zu sehen, welche die Seele mehr ergreift und eindringlicher ist als gewöhnlich. Die Ausübung des Sakraments der Beichte scheint dennoch im Grient primitiver und gegen die Sünder rücksichtsvoller geblieben zu sein als im Abendlande; sie ist dort biegsamer und nicht an so strenge Regeln gebunden; sie wird gekürzt oder ausgedehnt, je nach dem Bedürfniss der Seelen. Wie überall, so bringt auch dieser geheimnissvolle Gerichtshof die gräko-russische Kirche den Herzen und Ge-müthern ihrer Kinder nicht so nahe wie es die römische Kirche gel hau hat. Die katholische Einrichtung der ..Direktion." des Gewissens-rathes, welche im siebzehnten Jahrhundert so viel galt, ist im Orient kaum bekannt. Die Allgemeinheit der Beichtgeständnisse selbst verringert die Anziehungskraft, welche dem Sakrament sonst innewohnt, und ist infolge dessen an der Seltenheil des Beichtens nicht wenig Schuld; der Geistliche hat geringere Macht über die Seelen: gerade dasjenige Sakrament, welches ihm bei den Lateinern das meiste Ansidien sichert, verschafft ihm wenig Einfluss bei den Griechen. Selbst in den Gebräuchen der orthodoxen, namentlich der russischen, Kirche liegen mehrere Gründe, aus denen die Beichte weniger l) Wir geben sie hier nach einer Uebersetzung von Merimee, der die Nai'vctiit des Originals wiederzugeben bemüht ist. „Als ich bei den Popen war, da kam ein Mädchen, das beichten wollte. Es war mit den gröbsten Sünden belastet, schuldig der Hurerei und aller Gemeinheit, klagte sieh selbst unter Thränen an und erzählte mir, vor dem Evangelium stehend, ihr Thun und Treiben. Da wurde ich dreimal Verfluchter, ich Arzt der Seelen, von der Ansteckung ergriffen, und das verzehrende Feuer der Hurerei drang in mein Herz. Das war für mich ein schlimmer Tag. Ich zündete drei Kerzen an und befestigte sie an einem Betpulte und hielt meine Hand in die Flamme, bis dass jene unreine Glut erloschen war. Als ich darauf das Mädchen verabschiedet hatte, zog ich die Falten meines Gewandes zusammen......Titie protopopa Awwakuma, Seite 12 (.Journal des Savants, 18<>7, p. 420). anspruchsvoll und eindringlich ist; einer dieser Gründe ist die Priesterehe, Das Beispiel des Orients beweist, dass die Beichte das Gölibal. des Beichtvaters nicht nöthig macht. Rum selbst giebt dies zu, indem es Ehen des Klerus bei den Griechisch-l'nirten, den Armeniern und Maroniten gestattet. Nichts destoweniger leuchtet es ein, dass der mit einer Frau ehelich verbundene Mann weniger Vertrauen ein-liösst oder - um es richtiger zu sagen — weniger zur Ungezwungenheit und Hingabe geneigt macht. Da er dem Verdacht der Nichtver-schwiegenheit mehr ausgesetzt ist, so wird der verheirathete Priester dem Beichtenden gegenüber schon von selbst bescheidener und diskreter sein. In Kussland wird die Verletzung des Beichtgeheimnisses nach dem Gesetzi1 bestraft. Wenn man dort Geschichten über Vorkomm-nisse dieser Art häufiger hört als im Oecident, bo sind dieselben doch im Allgemeinen äusserst selten und fast immer mit Vorsicht aufzunehmen. Folgender Fall sei hier berichtet. Ein junges Madchen war heimlich Mutter geworden und hatte ihr Kind durch Ersticken getödtet, Als nun die Fastenzeit herangerückt war, begab sie sich mit den übrigen Dorfbewohnern zum Popen, berichtete ihr Verbrechen und empfing die Absolution. Einige Wochen darauf, ah einem Fest* tage, hat dasselbe Mädchen in einer Gesellschaft von Frauen ihren Platz neben der Guttin jenes Priesters. Bei der Berührung mit der Kindesmörderin stösst die Frau des Popen einen Schrei des EntBetzens aus und zeigt ihren Abscheu so offenkundig, dass, nachdem ein Wort das andere gegeben, schliesslich die ganze Angelegenheit entdeckt wurde. Der Pope, so heisst es, wurde degradirt, das junge Mädchen aber vom Kaiser begnadigt. Derartige Ereignisse gehören jedoch so sehr zu den Ausnahmen, dass sie gewiss nicht oft die Beichte auf den Lippen Schuldiger zurückhalten. Was die Priesterehe verhindern kann, ist vielleicht weniger das Eingeständniss von Verbrechen und schweren Vergehen, als die vertraulichen Mittheilungen und Herzensergüsse der gottesfurchtigen Seele. Die Stirn des Popen, der verheirathet und wie jeder andere Sterbliche Vater einer Familie ist, umgiebt nicht jener Engels-Glorienschein, welchen das Keuschheitsgelübde um das Haupt des katholischen Geistlichen legt, und er übt nicht, wie der Letztere, auf die frommen Herzen, vornehmlich auf die Weiber, denselben blendenden mystischen Zauber aus. Bin fernerer Grund für die Einfachheit der Beichte und gleichzeitig für den Formalismus, welcher die Kirche ergriffen hat, liegt in dem Kinstande, dass der Gläubige jede Verrichtung, welche der Geistliche seinetwegen erfüllt, sogleich bezahlen muss. Alle Sakra- mente, die Beichte ebensogut wie die Taufe oder die Trauung werden in Bussland bezahlt, und die Annuth des Klerus begründet auch die traurige Nothwendigkeit, an diesem Gebrauche festzuhalten, denn sein Budget ist nicht gross genug, um die Gemeindemitglieder von jener Beisteuer zu befreien. Es existirt kein bestimmter Satz in Bei roll dieser Gaben: der Muschik spendet für seine Beichte 10 oder 20 Kopeken (10 oder st) Centimes), der Vermögende giebt einige Rubel. Die Hohe der Spenden hängt von der Stellung oder der Kreigiebigkeit, von der Eitelkeit oder dem Renmuthe des Beichtenden ab. Dieses am Ende der Beichte gleich einem Arbeitslohn überreichte Almosen stimmt den Hriester zur Nachsicht und Zurückhaltung; er fühlt sein Interesse daran, den 1 hissfertigen zur Liberalität zu ermuthigen und diese Praxis aufrecht zu erhalten. So wird für die Kirche und ihren Diener aus dem Gläubigen eine Art von Klient. Wenn die Beichte und die anderen Andachtsübungen in Russland oft zu rein äusserlichen, ganz ceremoniellen Vorgängen herabgesunken sind, so liegt die Schuld zum guten Theil an der engen Verbindung zwischen der weltlichen und der geistlichen Macht, an der gesetzlichen Kraft, welche der Staat den Anordnungen der Kirche zuspricht. Die Pflichten der Frömmigkeit werden nicht ungestraft in bürgerliche Verbindlichkeiten umgewandelt! Die russische Gesetzgebung schreibt jedem Orthodoxen vor, die Sakramente wenigstens einmal im Jahre zu empfangen, Nach einem Artikel des Kodex ist die Sorge für die Ueberwachung und die Ausführung jener Verordnung den bürgerlichen und Militärbehörden ebenso anvertraut, wie dem Klerus selbst. Allerdings sind dies Vorschriften, deren Anwendung sich selbst in Russland schwer sichern und durchführen lässt; die persönliche Freiheit hat schon zu grosse Fortschritte gemacht, als dass ihre Handhabung eine strenge sein könnte. Tausende übertreten unbehelligt jenes Gesetz; nichtsdestoweniger besteht es fort, und zwar um die Linen einzuschüchtern und dem zudringlichen Eifer der Andern als Vorwand zu dienen. Dank dieser Gesetzgebung werden die religiösen Gebräuche und die Kirche selbst als Hilfsmittel der Polizei angesehen; Regierung und Klerus sind beständigen oft unverdienten und stets übertriebenen Vorwürfen und Verdächtigungen ausgesetzt, So sagt man z. B., dass in gewissen Provinzen der Pope das Beichtkind fragt: ..Hiebst Du den Zaren und Russland?" — eine Frage, auf die es natürlich nur eine einzige Antwort giebt. Noch mehr! Dem Beichtvater ist bei Todesstrafe anbefohlen, die gegen Kaiser und Staat gerichteten Ver- schwörungen anzuzeigen.l) Solche Vorschriften sind Ueberreste jener barbarischen Gesetzgebung, welcher an der faktischen Ausführung ihrer, Bestimmungen weniger lag. als daran, das Volk durch sie einzuschüchtern. Die argwöhnischsten Tyrannen hauen selbst während der schlimmsten Tage Busslands den Lippen der Geistlichen selten ein Geheimniss entreissen können, welches denselben vor dem Allare anvertraut worden war. Die russische Kirche hat wie die römische ihre Märtyrer der Beichte gehabt. Um von dem Beichtiger seines Sohnes Alexis einige Geständnisse zu erzwingen, sah Beter der Grosse sich genöthigt, ihn auf die Kolter zu spannen. Ebenso steht es fest, dass politische Verschwörer, besonders zur Zeit der Krise des Nihilismus, den zu ihnen geschickten Beichtvätern misstrauten, wobei sie bisweilen vorgaben, in jenen die Gehülfen des Untersuchungsrichters zu erblicken. Was der Kirche schadet und sie herunterdrückt, das ist nicht sowohl der Mangel an Vertrauen auf ihre Diener, als vielmehr die gesetzliche Weihe, welche der Staat religiösen Vorschriften angedeihen lässt, die sich lediglich auf Sachen des Gewissens beziehen. Hier haben wir einen der Hauptgründe des der russischen Orthodoxie so heftig vorgeworfenen Formalismus. Der materielle Zwang ist selten; er ist fast einzig auf Sektirer beschränkt, deren Kultus der Staat anzuerkennen sich weigert; der moralische Zwang dagegen ist häufig, fast allgemein. Dank der intimen Beziehungen zwischen Kirche und Staat sind die religiösen Verhältnisse Russlands denen Korns, unter päpstlicher Herrschaft, nicht unähnlich. Die Sehnsucht nach Hube und das Verlangen, genau nach gegebener Hegel zu leben, führen diejenigen zu den Stufen des Altares, welche von der Krömmigkeit nicht dorthin getrieben werden; der Muschik oder der kleine Beamte hält es für rathsam, „Ostern zu gemessen", wie sich vor 1870 die Knterthanen des heiligen Vaters ausdrückten. So werden die geheimnissvollsten und ergreifendsten Vorgänge im Leben der christlichen Kirche für viele zur reinen Formsache. Gewöhnlich empfangen die Beamten oder Soldaten, sobald ihnen der Friesler die Absolution ertheilt hat, ihre Beiohtbesoheinigung; ausserdem führt der Hope noch Buch über die Gläubigen, welche zum Sakramente gehen. Jedes Jahr werden sodann die Kisten der einzelnen Kirchspiele den Bischöfen eingesandt, diejenigen der Diöcesen «lern Heiligen Synod, welcher aus allen eine Gesammt übersieht beistellt, über welche schliesslich sein Generalprokurator dem Kaiser l) „Geistliche Verordnung" Peters de.- Grossen, erster Theil des Supplements. Bericht erstattet. Nach dieser Frömmigkeitsstatistik giebt es aussei! den unmündigen ungefähr ölt Millionen orthodoxe Bussen, welche ihre religiösen Pflichten erfüllen. Die anderen, welche sich nicht an dieselben kehren, kaum 5 oder 6 .Millionen, werden in mehrere Kategorien eingetheilt; unter ihnen belinden sich die Kranken und Hinfälligen, die Lässigen und Gleichgültigen, ferner solche, die ..in dem Verdacht stehen, /.um Schisma oder zur Ketzerei hinzuneigen." Zu dieser letzten Abtheilung, welche die Anhänger der nicht anerkannten Sekten umfasst, sollten eigentlich, auf dem Lande wenigstens, fast alle Bussen, welche sich den Oster-Pflichten entziehen, gerechnet werden. Abgesehen von den durch das Gewissen zurückgehaltenen Sektirern, lassen sich die meisten Landleute nur ungern als „Nachlässige" aufzeichnen. Der Pope, der an der Erfüllung der kirchlichen Vorschriften, für die er seinem Bis» lud' verantwortlich ist und die gleichzeitig seine Haupterwcrbs<|uelle bilden, ein doppeltes Interesse hat, darf sie bei seiner Gemeinde nicht in Vergessenheit gerathen lassen. Wie die Kirche jedesmal ein Zeugniss über irgend welchen Akt der Frömmigkeit fordert, bei uns z. B. für die Beichte vor der kirchlichen Trauung, so bringt es die herrschende Sitte oft. mit sich, dass der Klerus selbst den Gleichgültigen oder Zweifler von der Befolgung einer Hegel dispensirt, welche ihm zuwider ist. Durch Darreichung einer entsprechenden Gabe kann mau sich auch in die Listen des Popen eintragen lassen, ohne sich den religiösen Obliegenheiten zu unterwerfen, deren Erfüllung sie nachweisen sollen. Diese Thatsache ist unter den Mitgliedern der volksthümlichen Sekten gar nicht so selten. Demnach zahlt der Gläubige und der Heuchler, um die Sakramente zu empfangen; der ungläubige und der Sektirer, um sich von ihnen frei zu machen. In dem einen wie in dem anderen Kalle nimmt der Priester von seinem Pfarrkinde den Zins an, welcher ihm gewohnter Mnassen zukommt. Das religiöse Leben, sogar der Geist der Frömmigkeit können nicht ganz dem Einfluss solcher Sitten entgehen. Wenn der Priester jahraus, jahrein laue und indifferente Seelen zum Altar treten sieht, so fragt er mit der Zeit nicht viel nach den geistigen Bedingungen, welche den Beichtenden zur Theil-nahme am Sakramente bewogen. Er ist eben weit mehr geneigt, sich mit Aeusserlichkeiten und der leiblichen Unterwerfung unter die Riten zufrieden zu geben; so also verringern die obligatorischen Andachtsübungen indirekt den Werth der anderen. Analoge Ursachen hatten fast dem ähnliche Sitten im alten ottomanischen Reiche herbeigeführt, wo unter türkischer Herrschaft der griechische Klerus eine politische Holle weiter spielte, und so haben äussere Gründe bei den meisten orthodoxen Völkern den religiösen Formalismus, wozu schon ihr Temperament oder der Stand ihrer Zivilisation sie geneigt machte, aufrecht erhalten. Der bedeutendste Vorgang im christlichen Leben, die Kommunion, giebt bezüglich der gräko-russischen Kirche zu denselben Bemerkungen Anlass wie die Beichte. Die Masse des Volkes, welche den religiösen Bestimmungen so gewissenhaft nachkommt, geht doch nur einmal im Jahre zum Abendmahle, und zwar während der grossen Fasten. Die häufige Kommunion, wie sie der beilige Philipp von Neri und der heilige Kranz von Sales, Fenelon und die Jesuiten in der katholischen Kirche zur Kegel erhoben haben, ist der orientalischen Gottesfurcht fremd; sie scheint den Orthodoxen überhaupt weniger eine Erbauung, als ein Aergerniss zu sein. Feber diesen Punkt stösst man bei ihnen auf die Ideen unserer ehemaligen Jansenisten, und in den Augen ihres Klerus wird durch die Häufigkeit ihres (der Katholiken) Abendmahls die Feierlichkeit und demzufolge die moralische Wirkung geschmälert. Man wirft den Komischen Mangel an Achtung und Ehrfurcht am Tische des Herrn vor, indem sie weltliche Seelen, die unwürdig sind, solche Gemeinschaft zu erneuern, ohne genügende Vorbereitung zum Altare treten lassen, und fügt hinzu, dass zu oft wiederholte Beichten das Sakrament der Kusse zu einer erbaulichen Unterhaltung erniedrigen. In Bussland begeben sich selbst, die sehr Gotlesfürchtigen nur viermal im Jahre zum Abendmahle und bei den Allerfrömmsten ist die monatliche Kommunion vielleicht immer noch seltener, als bei den Katholiken die wöchentliche. Die Seltenheit der Theilnahme an dem erhabensten der Kirchensakramente könnte allerdings wohl die Feierlichkeit desselben erhöhen, jene Gewohnheit jedoch, die grosse Masse der Nation in Schaaren zum heiligen Tische zu führen, muss wiederum den persönlichen, individuellen Eindruck verringern. Noch ein anderer Grund benimmt der Kommunion etwas von der Grösse ihres Eindruckes auf die Seelen: sie wird nach dem alten Kitas der Orthodoxie auch kleinen Kindern ertheilt; man reicht sie ihnen, wie den Erwachsenen, vermittelst eines goldenen oder im Feuer vergoldeten silbernen Löffels.') Es giebt also, wenn man sich klar aussprechen will, keine erste Kommunion. Jene feierliche mit so vielem religiösen Schauer erfüllte Einweihung in die heiligen My- ]) Die Kinder hören mit drei oder vier Jahren auf, das Abendmahl zu empfangen, um im Alter von sieben Jahren, wie die Erwachsenen, nachdem sie gelteichtet haben, wieder damit zu beginnen. sterien, welche bei den Katholiken und gewissen Protestanten einen so ungewöhnlichen Kinlhiss auf das Kind ausübt, fehlt den orientalischen Kirchen völlig. Dadurch macht das Sakrament des Abendmahles nicht nur einen geringeren Kindruck auf die Kinder, welche gewohnt sind, es schon vor der Zeit zu gemessen, bis in welche ihre Erinnerung zurückreicht, sondern die Religion, welche nun nicht mehr auf jenen hochwichtigen Akt vorzubereiten hat. büsst ihre Bedeutung als erziehendes Element und demnach ihren Einfluss auf das gesammte Leben zum grossen Theil ein. Es wäre jedoch irrig, wenn man annähme, dass es in Russland gar keine Vorbereitung und innere Sammlung zur Kommunion gebe; man rüstet steh dazu im Gegentheil durch Fasten, Gebet und stilles Zurückziehen aus dem lauten Alltagstreiben. Während dieser Zeit muss man zwei- oder dreimal des Tages dem langen Gottesdienst in der Kirche beiwohnen. Auch die zartesten Frauen und Mädchen beobachten in der Fastenwoche, wenn sie zu den Sakramenten gehen, mit aller Sorgfalt die strenge Enthaltsamkeit der orientalischen Kirche und die feinsten Damen leben während einiger Tage fern von ihren Bekannten und der Gesellschaft. Man verwendet hierauf entschieden grössere Feierlichkeit und gleichzeitig mehr Einfachheit als bei uns: man sehliesst sich ein, ohne jedoch aus dem Grunde seines Thuns ein Geheimniss zu machen. Man ist eben bezüglich seiner Andachtsübungen freier und olfener als in Krank reich, in der eleganteren Welt sagt man zu seinen Bekannten, man sei im Begriff, jetzt ..seine Andacht zu vorrichten," und hat ein eigenes Wort dafür, d. i. gowütj.1) Ist die Angelegenheit erledigt, so wird man von allen Seiten beglückwünscht, wie etwa zu einem feste oder frohen Familienereigniss. Die Kommunion des Kaisers, der Kaiserin und des vols. 1871—1870). Palnier, der vielleicht ein grösserer Lobredner, als Historiker ist, hat nach einer Abschrift der Origiriahuanuskripte die Erwiederungen (ii<>;tp»*e*l*, wosraschenijaj übersetzt, welche der Patriarch den Pojaren, seinen Gegnern, zu Theil werden liess. Jenes Hauptdokument ist leider nur in der englischen Uebersetzung bekannt. So gross ist die Kühnheit der nikonischen Antworten, dass der russische Text noch lange wird warten können, ehe er gedruckt werden darf. Dem Palmersehen Werke kann man, in anderem Sinne aber, dasjenige des P.Mikhailowslci 1*0:} , das von Hubbenet (1882 1884), den elften Band der Geschichte Pusslands von Solowiew und den zwölften Band der Geschichte der russischen Kirche von Macarius iMacaire), entgegenstellen. den Formeln und klassischen Metaphern unseres Mittelalters auseinandergesetzt. Fr beruft sich abwechselnd auf die beiden Gewalten, deren eine die Uebelthäter straft, während die andere „die Seiden bindet,'' auf die beiden Lichter, von denen das eine, das grüsste, am Tage glänzt und den Geist erhellt, das andere aber, das kleinere, in der Nacht scheint und den Körper erleuchtet.l) Indem er mit den abendländischen Theologen den Vorrang der geistlichen Macht betont, erklärt er doch, dass jede der beiden Mächte der andern unentbehrlich ist und dass in diesem Sinne keine der andern nachsteht, da beide von Gott verordnet seien. Im Bevvusstsein der Richtigkeit dieser Unterscheidung erhebt er sich, wie ein katholischer Bischof, gegen jede Bevormundung der Kirche seitens des Staates; er stellt dieselbe als Abtrünnigkeit hin, welche das ganze Christenthum zu schädigen im Stande sei, und verhängt den Bann über Pitirim und diejenigen Prälaten, die geneigt sind, sich der staatlichen Oberhoheit (in kirchlichen Dingen) zu unterwerfen. In seinen 18632) geschriebenen „Erwiderungen" protestirt dieser Zeitgenosse Bossuets laut gegen die Idee, dass ihm die Verwaltung der kirchlichen Geschäfte vom Zaren übertragen sein könne. „Was Du da sagst," antwortet er dein Bojaren Streknew, „ist eine furchtbare Lästerung. Weisst Du nicht, dass wir die erhabene Macht der Priesterschaft weder von Königen noch von Kaisern empfangen, während dagegen jene, welche regieren, von der Geistlichkeit für die Herrschaft gesalbt und geweiht worden. Daraus schon geht hervor, dass die I'riesterschaft weit über dem Königthum steht." Hierbei bleibt der unbeugsame Patriarch stehen und fragt, welche Macht er denn eigentlich vom Zaren empfangen habe; indem er daran erinnert, dass doch jeder Gekrönte selbst der priesterlichen Autorität unterstellt sei, und indem er seinen Gegnern den veralteten Kanon ins Gesicht schleudert: „Wer von der bürgerlichen Gewalt eine Kirche (Gemeinde, Diöcese) annimmt, der soll seines Amtes entsetzet werden." Das war allerdings eine Sprache, an die der Kreml nicht gewöhnt war. End Nikon bezahlte seine Kühnheit mit dem Patriarchenthron. — „Was giebt es Ungerechteres," hatte er gesprochen, „als einen Zaren, der die Bischöfe aburtheilt und sich eine Macht anmasst, welche Gott ihm nicht verliehen hat?" Zar Alexis, ein frommer und ]) Siehe Palmer: The Ueplie* Of the huinble Nikon. Quest. XXIV. -) Anm. d. Uebers.: Da Nikon ein Zeitgenosse Bossuets war, so wird man hier wohl 1063 lesen müssen. Oder sind jene „Erwiderungen" im Jahre 1803 zmn ersten Male kopirt, abgeschrieben (Original?) worden'.' ängstlicher Manu, liess es wohl bleiben, den Patriarchen selbst zu richten. Er duldete es aber, dass seine Bojaren, die Feinde Nikons, ihn vor ein Konzil stellten, welches ihn für schuldig erkannte und absetzte. Nikon, dank seines persönlichen Einflusses auf den gottes-fürchtigen Zaren lange Zeit allmächtig, war verloren mit dem Tage, an welchem es seinen Widersachern gelang, seinen Verkehr mit Alexis zu hintertreiben.' Er musste die Erfahrung machen, dass in Kussland, in der Kirche wie im Staate, nichts bestehen kann, sobald einmal der Selbstherrscher seine Hand davon zurückzieht und seinen Schutz versagt. Seiner Würden beraubt und nach einem Kloster an den Ufern des weissen Sees verbannt, war die einzige Gunst, welche ihm der Zar gewährte, die, dass er zu dem von ihm selbst gegründeten Monasterium Neu-Jerusalem — nördlich von Moskau — zurückkehren durfte. Er starb jedoch, ehe er die Pforten desselben erreicht hatte. Dort ruht der grosse Patriarch noch heute in einem unbeachteten, schmucklosen Grabe; und die Landleute, welche als Pilger nach Neu-Jerusalem wallen, um die Nachbildungen dos heiligen Grabes und der Schädelstätte Golgatha, wozu Nikon den Entwurf geliefert, ZU schauen und anzubeten, küssen nicht die Steinplatte, welche seine Ueberreste deckt. Wäre er im Dienste Korns gefallen, so würden ihm alle Ehren erwiesen und er in der christlichen Weise vergöttert sein. In dem orthodoxen Russland dagegen brachte sein unerschütterliches Festhalten und Wiederfordern der Kirchenrecht«1 ihn nicht nur um das weisse Barett des Patriarchen, sondern auch um den Heiligenschein. So endete jener ungleiche Krieg zwischen zwei Mächten, die olfenbar zu verschieden waren, als dass der Kampf von langer Dauer oder von zweifelhaftem Ausgange hätte sein können. Auf autokratischem Boden war es dem Priesterthum verboten, sich in einen Kampf mit dem Staate einzulassen. Jeder Investiturstreit lief in verhängnissvoller Weise auf eine Niederlage der Hierarchie hinaus, die in dem grossen Reiche ganz allein, ohne Rückhalt beim Auslände und ohne rechten Glauben an ihre eigene Kraft, dastand. Der Kämpe der Kirche musste vom Klerus ebensowohl wie von den Laien im Stiche gelassen werden; das Episkopat war gezwungen, den edlen und erhabenen Vertheidiger seiner Würde zu opfern, und die russische Kirche, ihren Patriarchen zu verleugnen. Die orientalischen Kirchen, in alle Deniüthigungen ergehen und durch das türkische Joch zu ewigem Bettlerthum verdammt, mussten selbst, die Entscheidungen eines dem orthodoxen Zaren angenehmen und gefälligen Konzils ruhig über Bich ergehen lassen. Damit die Zurechtweisung vollständig wäre, fand die Erniedrigung des Patriarchen während der Regierung eines ihm befreundeten und wühlgesinnten Zaren statt, unter einem gottergebenen und gewissenhaften Pursten, der in seiner Frömmigkeit bei einem Widerstande seitens des Episkopats von weiteren Schritten abgesehen hätte, wenn die Kirche treu ZU ihrem Oberhaupte gehalten haben würde. Nach einem derartigen Beispiel kann man es begreifen, dass Nikon keine Nachahmer gefunden hat. Der gelehrte Patriarch führte umsonst die alten Kirchengesetze an; er hatte sich in seinem Vaterlande und in seiner Kirche gründlich getäuscht, denn das kirchliche Russland verurtheilte sein Unterfangen fast ebenso streng, wie das politische. Die Persönlichkeit, welche er vorzustellen gewagt hatte, stand einer wesentlich nationalen Kirche nicht an; in der russischen — so klagte Nikon vergeblich — konnte die Gnade des heiligen Geistes nur auf kaiserliche Verordnungen hin wirksam sein.y) Die Niederlage Nikons stellte das Supremat des Staates in der Kirche endgültig fest. Der Stuhl von .Moskau erlitt durch den Sturz des grössten seiner Inhaber eine so gewaltige Erschütterung, dass er sich davon nicht wieder erholte: die Absetzung des Patriarchen bereitete die Aufhebung des Patriarchates vor. Das Schisma (Rasköl), die liturgische Reform Nikons, beraubte die • >1 licieLle Kirche des Einflusses, den sie auf einen grossen Theil der Nation gehabt hatte. Stützte sich die Hierarchie in dem Kampfe gegen die Sektirer auf die staatliche Macht, so wurde sie dadurch von ihr um so abhängiger, denn den Halt, welchen sie im Volke verlor, war sie gezwungen, am Throne zu suchen, in dieser Hinsicht war die Lage der russischen Kirche nicht unähnlich derjenigen, in welcher sich die anglikanische zu derselben Zeit den puritanischen Sekten gegenüber befand. Als die patriarchale Macht von Peter dem Grossen abgeschaut wurde, war sie bereits dem völligen Verfall nahe. Obwohl aber das Patriarchat geschwächt war, schien es dem Neuschöpfer Russlands doch noch mit zu grossem Ansehen umgeben zu sein. So bildete die Entfernung des Patriarchenthrones eine der Reformen Peters: von dieser gerade hing die Dauer und das Bestehen der andern ab. In dem Patriarchat waren die alten Traditionen und jener Geist verkörpert, welcher den Ausländern und den fremden ]) Pubner, The replies of the humble Nikon, Seite 206. — Man bat Nikon einige Male verdächtigt, grosse Vorliebe für Rom zu hegen. Dies scheint ein lirthum zu sein. Weit entfernt, sich auf den Papst berufen zu haben, schilt Nikon seine Gegner Papisten. Dessenungeachtet hat der russische Patriarch kaum anderswo Sympathien gefunden als im Auslande, unter den Katholiken. Sitten feindlich gegenüberstand. Natürlicherweise war die Kirche allen Neuerungen zu sehr abhold, als dass der Reformator ihr eine so kräftige Verfassung hätte lassen können. Kennt man doch den Vorsatz des unglücklichen Zarewitsch Alexis: „Ich werde den Bischöfen ein Wort sagen; die werden es den Briestern weiter geben, und diese werden es dem Volke wiederholen: dann wird alles bald wieder beim Alten sein." Peter wusste wohl, wie der Klerus die reaktionären Pläne seines Sohnes ermuthigte. Als Enkel eines Patriarchen erinnerte er sich sehr gut der durch seinen Urgrossvater Philaretes im Namen des Zaren Michael ausgeübten Macht und ebenso der Verlegenheiten, in welche sein Vater Alexis durch die Absetzung Nikons gorathen war. Peter I. war nicht der Mann die scholastische Theorie von den beiden Lichtern, welche, ein jedes mit selbständigem Glänze, die Völker erleuchten, anzuerkennen; solche Lohren hatte er aus dem Kuropa des achtzehnten .Jahrhunderts nicht mitgebracht. Die Beseitigung des Patriarchen wurde durch die Nachahmung des Abendlandes bewirkt. Da Peter bei der Kirchenverbesserung nicht, wie im Kriege oder in der Verwaltung, Ausländer verwenden konnte, so bediente er sich dort einer Anzahl Klein-Russen, die auf der Akademie zu Kiew in der Berührung mit Kuropa herangebildet waren. Die kirchliche Reform vollzog sich unter einer oecidentalen, theilweise protestantischen Hingebung. Man befand sich in jener Epoche, in der die reformirten und lutherischen Fürsten am wenigsten Achtung vor der Kirche an den Tag legten und in der sich fast überall die bürgerliche Macht in die kirchlichen Angelegenheiten mischte. Die Reisen des Zaren, die Beispiele Englands, Schwedens, Hollands und mehrerer deutschen Staaten wirkten höchst wahrscheinlich auf die neue Konstitution der russischen Kirche. Frankreich selbst gab auf indirektem Wege sein Tb eil dazu. Die Ersetzung eines alleinigen Oberhauptes durch eine Versammlung war in dem Werke Peters des Grossen nicht ein einzelner, besonders die Kirche betreffender Akt, sondern geschah vielmehr nach einem allgemein gefassten Plane, der damals im Abendlande und hauptsächlich in Frankreich, wo die Minister Ludwigs XIV. gegen Regentschaftsräthe abtraten, beliebt war. Peter hatte sich diese Neuerung angeeignet, und nach der Rückkehr von seiner zweiten Reise übertrug er die bis dahin von einer Person innegehabten Aemter Kollegien, die aus mehreren Mitgliedern zusammengesetzt waren. Erst wurde dieses System bei der Staatsverwaltung eingeführt und später dann bei der kirchlichen. Der russische Heilige Synod hatte keinen anderen Ursprung Und führte während einiger Wochen sogar den Titel „geistliches Kollegium". Peter selbst stellt im Eingang seiner „geistlichen Verordnung"1) das kirchliche Kollegium den anderen schon von ihm eingesetzten gleich. Es handelte sich in der That um einander ähnliche, nach demselben Muster zugeschnittene Einrichtungen, in denen man den nämlichen Geist, die gleichen Regeln und das gleiche Verfahren wiederfindet. Wie alle grossen Neuerer, hat sich auch Peter, der praktischste von ihnen, für Logik und Symetrie ganz begeistert gezeigt. Es hat ihm gefallen, Alles nach denselben Maximen zu ändern und einzurichten, und Staat wie Kirche auf Grund gleicher Principien nach ein und demselben Modell zu gestalten, indem er sie gewaltsam in die nämliche Form zwängt, ohne auf Ueber-lieferungeu und Gewohnheiten Rücksicht zu nehmen. Er fragt in seinem, von einem Bischof für ihn verfassten „geistlichen Reglement" nicht danach, welches die dem Geist oder den Unterweisungen der Kirche am meisten entsprechenden Einrichtungen sind; sondern forscht vielmehr mit einem gewissen unbewussten Rationalismus nur der besten Art der Verwaltung nach und beweist in langen Auseinandersetzungen, dass diese in der kollegialischen Form zu erblicken sei, da die Regierung eines Einzelnen Irrthümern, vorgefassten Meinungen und der Leidenschaft unterworfen ist. Angesichts dieser Argumentation muss man sich wundern, dass die Verfasser des „Reglements" nicht einen Augenblick auf den Einfall gekommen sind, dass Alles, was sie über die Kirche und die Patriarchenmacht sagen, sich auch genau ebenso auf den Staat und das Selbstherrscherthum anwenden liesse. Die Wahrheit, welche sich hier und da verräth, ist aber die, dass die Autokratie allein sein will. Sie wünscht eben keine Macht, welche ihr ebenbürtig an die Seite gestellt werden könnte, neben sich. Gerade weil der Staat eine absolute Monarchie und der Zar ein Selbstherrscher ist, darf die Kirche nicht länger eine monarchische Verfassung haben und deshalb muss der Patriarch verschwinden. Zwischen Staat und Kirche, zwischen weltlicher und geistlicher Macht, darf weder eine Aehnlichkeit noch ein Streit bestehen; und das beste Mittel, dies zu erreichen, ist, beiden eine verschiedene Konstitution zu geben. Die Autokratie ist eine Sonne, welche kein nebenbuhlerisches Gestirn an ihrem Himmel dulden kann. *) Die geistliche Verordnung (Duchöwnyi Keglament), unter Anleitung des Zaren von Theophancs Prokopowitsch redigirt, ist das Kirchengesetzbuch des Reiches geblieben. Der russische Text, dem eine französische und eine alte lateinische Uebersetzung beigegeben sind, ist im Jahre 1874, besorgt von P. Tondini, in Paris gedruckt worden. In diesem Punkte übertrifft der russische Zar noch den byzantinischen Autokraten. In dem Russland Peters des Grossen giebt es nur eine oberste Behörde: an der Seite des kaiserlichen Thrones ist für den des Patriarchen kein Platz. Das „Reglement" giebt dies auch in einer etwas naiven Weise zu, indem es meint, es wäre wichtig, den Irrthum des Volkes in Betreff des Nebeneinanderbestehens der beiden Mächte mit der Wurzel auszurotten. — „Das einfache Volk," sagt Peter durch den Mund Prokopowitschs, „begreift nicht, worin sich die kirchliche Macht von der autokratischen unterscheidet. Geblendet von der hohen Würde und Prachtentfaltung des obersten Hirten der Kirche, bildet es sich ein, dass eine solche Persönlichkeit ein zweiter, (hau Autokraten gleicher oder gar übergeordneter Herrscher sei; es sieht die kirchliche Ordnung fduchöwnyi tschin)x) als einen zweiten und besseren Staat (gossudärstwo)L') an." Peter berührt hier jene Formel, welche dem Klerus so oft vorgehalten ist; er will nicht, dass die Kirche einen Staat im Staate bilde, und um ihr diese Möglichkeit zu nehmen, entfernt er ihr Oberhaupt, aus Furcht dass die Menge im Patriarchen eine Art geistigen Kaisers sehen könnte. Seinen Reden nach hatte sich das Volk daran gewöhnt, „in allen Dingen weniger auf den weltlichen , als auf den geistlichen Herrscher zu geben, sodass es sogar für den zweiten gegen den ersteren Partei ergriff, wodurch es der Sache Gottes selbst zu dienen glaubte." So ist denn die Macht, welche Peter in dem Patriarchat beseitigt, nach seinem Darfürhaltcn seine Rivalin, Damit Kussland nur ein Haupt habe, enthauptet er die Kirche. Was alier dem Zaren in Wirklichkeit die synodale Regierung für die Kirche anempfahl, war nicht ihre theoretische durch das „geistige Reglement" so umständlich dargethane Heberlegenheit, sondern ihre Schwäche. — Das grosse Unrecht des Patriarchen lag in seiner Stärke; aber mit der Kollegien-Verfassung, sagt das „Reglement", ist der Staat von jenen Unruhen und Aufregungen befreit, die ihm drohen, sobald ein einziger Mann an der Spitze der Kirche stellt. Der Autokrat fühlte, dass ein Patriarch, der von Rechtswegen Oberster der Hierarchie war, durch Vereinigung aller Machtfäden in seiner Hand ein weniger gelehriges Werkzeug sein musste, als eine Synode deren vom Fürsten ernannte Mitglieder durch ihre verschiedenen Meinungen und Interessen von einander getrennt waren und deren jedes nur einen Theil der Verantwortlichkeit zu tragen hatte. Fr ') Anm. d. Uebers.: ,a,yxoiiii!.iii -nun., geistl. Rang. -) „ „ „ roeyA»pc*»d, Reich. wusste sehr wohl, dass die Zersplitterung der kirchlichen Macht mit ihrer Schwäche identisch war. in seiner Eifersucht auf jeden Schein einer rivalisirenden Macht sorgt Peter dafür, dass infolge der Ersetzung des Patriarchen durch einen Rath von Prälaten die Bischofswürde herabgesetzt wird. Er will die Bischöfe vor dem Stolz bewahren und lässt sie Demuth predigen. Das „geistliche Reglement," das von allen russischen Prälaten unterzeichnet ist, klagt über den Luxus und die anmassende Prachtentfaltung der Bischöfe und trägt Sorge, sie daran zu erinnern, dass ihr Amt zwar eine Ehre für sie sei, aber doch nur eine solche geringeren Grades, die sich mit keinem Rechte der Würde des Zaren an die Seite stellen könne. Ueberau ist der Reformator besonders darauf bedacht, die Suprematie der bürgerlichen Macht zu sichern. Seinen Gedanken scheint beständig Nikon vorgeschwebt zu haben, und er hat nicht vergessen, dass sein Vater Alexis es anhören musste, wie der Patriarch die Erhabenheit und Bedeutung seiner bischöflichen Amtshandlungen auf Kosten der Majestät des Zaren herausstrich. Nikon hatte, zur Rechtfertigung seiner Worte, die Gebete angeführt, in denen die Kirche den Bischof das Ebenbild Gottes nennt: diese dem Autokraten unangenehme Metapher ist aus dem Rituale verschwunden, als ob es darin für das orthodoxe Russland nur ein Ebenbild Gottes geben dürfe, nämlich den Zaren.') Obgleich die von Peter dem Grossen ins Werk gesetzte Revolution im Interesse des Staates und zu Gunsten der Autokratie durchgeführt war, so liess sie sich deshalb doch unschwer den Anstrich geben, als sei dabei auch auf den Vortheil der Kirche Bedacht genommen worden. Man konnte leicht Vorgänger der neuen Synode entdecken. Waren es nicht die Konzilien, welche in der orientalischen Orthodoxie von Alters her die höchste Instanz gebildet hatten? Nach den Canones hatte eine Prälatenversammlung während der Erledigung des Patriarchenstuhles die kirchliche Verwaltung zu übernehmen, und es stand nichts im Wege, diese Art von Regierung zu einer bleibenden zu machen. Um der neuen Einrichtung einen kirchlichen Charakter zu verleihen, bedurfte es nur einer Namensänderung. An die Stelle ') Pabner bemerkt, dass der Ausdruck „Ebenbild Gottes," aus dem Rituale der Bischofs-Salbung entfernt wurde. Er sollte auch in den modernen griechischen Ausgaben gestrichen werden. Die Ei des formet der Bischöfe bei ihrer Weihe ist ebenfalls von Peter dem < irossen abgeändert worden. Vor seiner Zeit schwuren die Bischöfe, dem Verlangen des Zaren eher Widerstand zu leisten, als ihr Amt ausserhalb ihrer Diöcese zu verschen. Ein solches Gelöbniss konnte natürlich der höchsten staatlichen Macht nicht genehm sein. 1. u r o'y - B eau 1 i e u, Reich d. Zaren u. d. KuBsen. III. Bd. 12 der Bezeichnung „geistliches Kollegium" brauchte man nur eine noch religiöser klingende zu setzen, und Beter und Prokopowitsch waren um eine solche nicht in Verlegenheit. Nachdem sie den neuen Rath „als eine Art von Synode oder Synedrium" hingestellt hatten, entschieden sie sieh für Ersteres, und das „geistliche Kollegium"' erhiell endgültig den Namen „Sehr Heiliger Synod." Seine Begründer erklärten ihn sorglich in Permanenz,]) schienen aber dabei nicht bemerkt zu haben, wie himmelweit eine durch den Zaren ausgewählte Versammlung von Bischöfen und Priestern von einem wirklichen Konzil verschieden ist. Bei seiner die kirchliche Konstitution betreffenden Neuerung bandelte Peter durchaus als unumschränkter Herrscher; dennoch kann man über die Vorsicht, mit welcher der Zar bei dieser Umarbeitung der kirchlichen Organisation zu Werke ging, erstaunen. Sein Verhalten in dieser Angelegenheit steht zu seinem gewöhnlichen Vorgehen in scharfem Widerspruch. Er greift zu Mitteln, die seinem Charakter fremd sind; und es kommt ihm auf Verzögerungen und Verdrehungen aller Art nicht an. Selbst da, wo er sich als Gebieter der Hierarchie fühlt, glaubt er sich auf religiösem Gebiete nicht so frei und sicher als auf politischem. Bringt er es auch in Wirklichkeit zu Stande, das Haupt der Kirche zu werden, so handelt er doch nicht und spricht noch weniger als solches, und die Macht, welche sich der Autokrat über sie anmasst, sucht er zu verdecken. Die Errichtung des Heiligen Synod war der gewaltsamste Eingriff der Zaren in die Rechte der Kirche. Ks ist dies der bis zum Aeussersten getriebene Gebrauch, ja, wenn man will, der äusserste Miss-brauch gewesen, den sie von ihrer Stärke gemacht haben; deshalb aber gerade fühlt man auch in diesem Missbrauch die Grenzen ihrer Macht Sogar bei Peter dem »|'-I,l,,1,> cotfojw« icwAuwee). Der Ukas vom Januar 1721 bedient sich ähnlicher Ausdrücke. überlegten Verschleppung unfähig ist, greift doch die Würde, die er vernichten will, nicht muthvoll von vorne an. Bevor er das Patriarchat beseitigt, gewöhnt er Kussland daran, dasselbe entbehren zu müssen. Kr, der es meist so ausserordentlich eilig hatte, als wäre ein Ijeben zur Verwirklichung seiner Pläne nicht ausreichend, zieht die Vakanz des Stuhles von Moskau endlos in die Länge und sucht zwischen dem Patriarchat und dem künftigen Synod ein Uebergangs-stadium zu schallen. An die Stelle, des Patriarchen setzte er in der Person von Stephan Jaworski einen Exarchen. Erst nach Verlauf von 20 Jahren, als das Patriarchat nur noch als historische Erinnerung im Volke lebt und als der höhere Klerus aus Klein-Russen, die bereits an andere Ansichten gewöhnt sind, besteht, legt Peter seine Absichten offen dar. Nachdem er aber einmal entschlossen ist, giebt sich der orthodoxe Monarch, der sich gern mit Konstantin vergleichen hört, nicht damit zufrieden, die Ersetzung des Patriarchats durch eine Synode vorzuschreiben, er verschmäht es nicht, sie durch die Gesammtheit der Bischöfe bestätigen zu lassen. Er verhüllt die wahre Form dieser Synode, und ist ängstlich besorgt, ihr das trügerische Aussehen eines Konzils zu geben; selbst das vielgliedrige Reglement, welches die Aufgaben und Verrichtungen der neuen Behörde bestimmt, lässt der Zar durch die Bischöfe und die Klostervorsteher gutheissen. Als nun aber der „Heilige Synod" endlich ins Leben getreten ist, genügt es Peter nicht, die anderen Zweige der orthodoxen Kirche daran Theil nehmen zu lassen, sondern er verlangt für seine neue Institution auch noch die Anerkennung, ja, man könnte fast sagen: Qfe Bestätigung der orientalischen Patriarchen. Was aber sollten ihm diese armen Kirchenfürsten, die von Norden her ihr Heil erhofften, antworten? Sie konnten doch nur den Willen des einzigen orthodoxen Pürsten ohne Weiteres sanktioniren. Ihre willkommene Schwäche duldete die Abschaffung des Patriarchats von Moskau, wie ■s»e es ehemals hatte errichten lassen, und der Heilige Synod wurde Von ihnen als gesetzmässiger Erbe und gesetzmässiges Oberhaupt der russischen Kirche anerkannt. Die Armuth der grossen morgenländischen Sitze und ihre unterwürfige Stellung dem Ungläubigen gegenüber gestatteten ihnen nur geringe Freiheit gegenüber dem Zaren; ebenso sicher aber steht es fest, dass allein die Thatsache, ein Glied der ökumenischen Kirche zu sein — so sagen die Griechen auch dann noch, wenn diese Kirche eine nationale Gestalt anzunehmen bemüht ist, — der Einmischung des Staates ein gewisses Hinderniss bereitet. Es giebt Massregeln, welche die Autokratie durch einen 12* l'kas nicht würde anordnen können, ohne die Gefahr eines Schismas herauf zu beschwören. Sc weit sich auch in der Kirche die Macht des Zaren erstreckt, sie iindet auf diese Weise einen doppelten Widerstand: den einen in dem Glauben des Volkes, den andern in dem Bedürfniss, mit dem Patriaichaten des Orients in Verkehr zu bleiben. Sind diese Schranken auch weder sehr hoch noch besonders unbequem, so existiren sie doch, und die kaiserliche Allmacht würde sie nicht ungestraft überschreiten dürfen. Auf die Verwaltungskollegien Peters des Grossen sind unter Alexander I. Minister gefolgt, und allein das kirchliche Kollegium, der Heilige Synod, besteht fort. Dies erklärt sich dadurch, dass der in den staatlichen Verwaltungsfächern schlecht berathene Zar auf eine für seine Kirche und seine Zeit so vorzüglich passende llegierungs-form gostossen war, dass der russische Heilige Synod, trotz aller Mängel, welche man ihm vorwerfen kann, im Auslande noch Nachahmer gefunden hat. Nach dem Tode Peters gingen einige Personen mit der Absicht um, das Patriarchat wieder herzustellen; aber selbst wenn jener Plan zur Ausführung gelangt wäre, hätte es doch nicht bestehen können. In Kussland ist für einen Patriarchen kein Kaum mehr, und um die Wahrheit zu sagen — in keinem modernen Staate. Einige, slavophile Tendenzen vertretende Küssen, vor Allen Iwan Aksakow,l) haben umsonst von seiner Wiedereinsetzung geträumt; denn nie und nimmermehr wird ein Selbstherrscher den Thron Nikons neu errichten. Ein konstitutionelles Kussland würde sich nicht sehr darum bekümmern, denn ein Parlament würde in diesem Punkte weniger eifersüchtig oder argwöhnisch sein, als die Autokratie. Wenn Kussland aber noch einmal wieder einen Patriarchen haben soll, so wird dies der ökumenische von Konstantinopel sein, und auch dann noch würden die Zaren eine so gewichtige Persönlichkeit nur so lange dulden, als dieselbe für ihre Politik unentbehrlich wäre. Zwar hat Peter Alexiewitsch, als er das Patriarchat zerstörte, wie in so vielen anderen Dingen, seiner Zeit Vorgegriffen. Die Schöpfung seines Heiligen Synod, eine der am meisten angefochtenen unter seinen Reformen, war doch eine der dauerhaftesten. Was ihm seine Kirche vorwerfen könnte, ist nicht sowohl die Ersetzung der Regierung eines Einzelnen durch eine solche von Mehreren, als vielmehr die Art und WTeise, in wrelcher das synodale Prinoip zur Anwendung gelangte, und ferner die Zusammensetzung der neuen Synode. •) Siehe die „Rnsj," 1882, No. 5. Allerdings ist es vom religiösen Gesichtspunkte aus schwer zu verkennen, dass Peter, wissentlich oder nicht, protestantischen Einflüssen gehorchte. Da er ein Schüler protestantischer Ausländer war, so hatte seine Orthodoxie eine kalvinistische Färbung angenommen.1) Die Zusammensetzung des Heiligen Synod, in welchem einfache Priester neben Bischöfen sitzen, lässt eine presbyterianische Richtung erkennen. Der Geist der Reformation scheint über das „geistliche Reglement," welches der Kodex des Klerus gebliehen ist, ausgebreitet zu sein. Die nach Russland gezogenen Protestanten haben sich hierin nicht getäuscht und sie haben dies dem Stifter des Heiligen Synod zur Ehre angerechnet. Eine gelegentlich der Hochzeit Peters III. und der späteren Katharina IL geschriebene Abhandlung belehrt Deutschland darüber, dass die „von dem ruhmreichen Peter festgesetzte und gereinigte" russische Religion, sich eng an die Lehre Luthers anschliesst. *) Man ist dem gegenüber versucht, die Frage aufzuwerfen, weshalb wohl Koter I., der bei seiner grossen Bewunderung für Holland und Deutschland so bereit war, diese in allen Stücken zu kopiren, nicht versucht hat, in seine Staaten den Protestantismus zu verpflanzen, welcher doch den Fürsten überall so bequem war. Vielleicht nahm er einzig aus dem Grunde davon Abstand, weil er wusste, dass seine Allmacht an einem solchen Versuche scheitern würde. Anstatt also die Reformation amtlich in Russland einzuführen, begnügte er sich damit, ihren Geist in die Kirche und m die Geistlichkeit eindringen zu lassen. Zwar ging die Krsetzung des Patriarchats durch eine Synode unter fremden, zum Theil heterodoxen Einflüssen vor sich; zwar wurde sie den Sektirern ein Gegenstand der Klage und machte den »»Raskop' nur noch halsstarriger; trotz alledem war diese Umwälzung •ür Russland unvermeidlich. Die Substitution einer zusammengesetzten Oberbehörde für die Einzelautorität war bei den Nationul-Kirchen in den Schicksalen, wenn nicht in dem Geiste des orientalischen Christen-tluims begründet, Wie die Totalität der orthodoxen Kirche, so zielt jede dieser Sonderkirchen darauf ab, von einer Versammlung regiert zn werden: bei den Gliedern, wie bei dem Gosainmtkörper ist die ') Siehe z. B. eine Studie von I). Tswetajew über die Protestanten in Russland unter der Regierung von Sophie. Russkii Wästuik, Nov. 1883. *) Religionen) Ruthenorum a gloriosissinio Petro instauratani et pmgatam • • ■ ad nostram Evangelico-lutheranam quam proxime accedere. Willi. Fred. Lutiens: Dissert. de rcligione Ruthenorum hodiemu (1745). Toudiui: Reglement ''''■'''^■^lique, p. XXXVII. Autorität auf dein besten Wege an eine Ropräsentat iv-Verlassung oder eine Abordnung von mehreren dazu Bestimmten überzugehen. Noch eine andere Ursache dieser Umwandlung ist zu erwähnen. In der Orthodoxie kommt es zum grossen Theile der Nation, der bürgerlichen Gewalt zu, den Yerwalfungsmodus der Kirche zu bestimmen. Natürlich, wird sich die kirchliche Regierung mehr und mehr mit der bürgerlichen Regierung und den Gewohnheiten der modernen Gesellschaft in Elmklang bringen. Man hat wohl gesagt, dass Beter der Grosse, als er den Heiligen Synod geschaffen, ein ähnliches Werk vollbracht habe wie Heinrich VIII. oder Elisabeth in England, Dazwischen giebt es denn doch mehrere Unterschiede; neben anderen zunächst den, dass der griechische Katholicismus Reformen in seiner Verfassung verträgt, welche mit dem römischen Katholicismus ganz unvereinbar sind. Bei jenem war die höchste Verwaltungsbehörde, ob nun Patriarchat oder Synod, stets eine in historischer Zeit von Menschen geschaffene Einrichtung; keine andere, aussei'dem Papstthume, kann Ansprüche auf einen göttlichen Ursprung und eine ewige Dauer erheben. Die Regierung der Kirche durch eine Versammlung ist Russland und dem autokratischen Regiment durchaus nicht allein eigen. Die orthodoxen Völker, denen das neunzehnte Jahrhundert eine unabhängige Existenz wiedergegeben hat, haben die gleiche Institution adoptirt, und so hat das demokratische Griechenland und das liberale Rumänien, wie Russland, eine Synode an die Spitze seiner Kirche gestellt. Auch Serbien ist- dem Beispiele Kusslands gefolgt. Obwohl nun in allen diesen Staaten die Einzelheiten jener Organisation andere sind, die Hauptsache bleibt doch dieselbe. Die synodale Eonn kann als die definitive Regierungsweise der Kirchen mit griechischem Ritus angesehen werden. ' Der Respekt vor ihrem hohen Alter wird die orientalischen Patriarchen vor dem Schicksal des moskowitisehen bewahren können; indessen sie werden sehen, dass ihre Ihatsäibliche Macht auf eine Art von Vorsitz in dem Verwaltungsrathe der Kirche herabgemindert wird. Ist doch der Patriarch von Konstantinopel heute bereits von einer Synode umgeben, ohne welche er keine irgendwie bedeutsame Massregel ergreift. In allen orthodoxen Kirchen muss die alte monarchische Regierungsform, sei es, dass sie in den Händen eines Patriarchen, Exarchen oder Metropoliten lag, ihren Platz an Kollektiv-Behörden abtreten. Daraus folgt aber noch keineswegs, dass die von einer Synode regierten Kirchen überall und immer in enger und fortwährender Abhängigkeit vom Staate verharren müssen. Die synodale Form bedingt an sich noch nicht die Unterwürfigkeit der Kirchen, ebensowenig wie das Patriarchat ihre Freiheit involvirt. Selbst in unsern Tagen wird der russische Klerus bei Anstellung eines Vergleiches zwischen dem heiligen Synod von Petersburg und dem Patriareben von Konstantinopel wonig geneigt sein, diese letztere Würde zu vermissen "der zurückzusehnen. ,,Im Auslande," sagte mir auf der Rhede von Konstantinopel ein Russe, „bedauert ihr gern die Abschaltung des Moskauer Patriarchates. Kennt ihr denn dasjenige im Phanar? — Wenn war nun wirklich einen Patriarchen hätten, wo wären die Garantien für seine Unabhängigkeit? Euer grosser abendländischer Patriarch, der römische Papst, der an allen Enden der Welt geistige Unterthanen besitzt, fühlt sich in einem liberalen Staate nicht frei genug; nur in voller Souveränität, erblickt er Bürgschaften für seine Freiheit. Wie wäre erst, ein Patriarch daran, der einem Autokraten ganz allein gegenüberstände? Er würde ohne Frage zu dem Range eines absetzbaren Beamten niedersteigen, oder sich zum Religions-Kaiser, zu einer Art Mikado, aufschwingen müssen. Ihr im Abendlande beklagt die Knechtschaft unserer Kirche und seid doch der .Meinung, dass die der Türkei genug Freiheit geniessc, um eure Waffen oder eure Diplomatie in den Dienst ihrer muselmännischen Herren stellen ZU können; sollte dies etwa deswegen geschehen, weil der russische Heilige Synod von einem christlichen Fürsten ernannt und der byzantinische Patriarch vom Sultan bestätigt, wird? Wir halten ökumenische Patriarchen gesehen, die nach einander ernannt, abgesetzt ond wieder ernannt wurden; wir haben gesehen, dass die Synode ron Konstantinopel zum grössten Theil aus früheren, jetzt ihres Amtes entsetzten Patriarchen gebildet war. Sollen derartige Verhältnisse vielleicht den Neid unserer Kirche erregen?" Thatsäohlich hat weder die eine noch die andere Form, weder fy'nod noch Patriarchat hinreichende Kraft, um die Freiheit der bm hc zu sichern. Das Wesentliche, worauf es ankommt, ist die Art und Weise der Wahl, aus welcher eine der beiden Behörden hervorgeht, und die Garantien, welche sie umgeben und stützen; ferner Slnd es in erster Linie die bestehenden Gesetze und die (dientIndien, ''errselienden Sitten. Unter vollkommen gleich günstigen Bedingungen konnte die Entscheidung zwischen einem Patriarchen und einer Synode ZU Gunsten der letzteren ausfallen; denn ein Synodal-Kafh würde am oestöh im Stande sein, die innere Freiheit der Geistlichkeit und die Rechte der Priester oder der Gläubigen zu wahren: er würde die Gemeinde der Frommen am leichtesten zum self-government führen. •»S giebt keine liberale Konstitution, welche nicht mit einer Synode vereinbar wäre: indem man sie aus rechtmässigen, unabsetzbaren Mitgliedern zusammensetzte, wie es der Petersburger Synod theilweise ist, könnte man wohl eine Art kirchlichen Senates daraus machen, — indem man sie durch Bischöfe erwählen Messe, eine Art von Delegirten-Konzil, und indem man die Wahl den verschiedenen Klassen des Klerus übertrüge, ein Parlament, eine Versammlung von Vertretern aller kirchlichen Interessen. Diese biegsame Form passt sich allen Veränderungen des politischen Lebens oder der religiösen Gedanken an. Darin liegt das Unterpfand ihrer Dauer: eine Synode ist bei einer absoluten Regierung ebenso gut am Platze wie bei einer liberalen und verträgt sich mit der Monarchie nicht schlechter als mit der Republik. Der Heilige Synod Russlands steht mit der Regierung und der Gesellschaft in Zusammenhang, denn er wird, wie alle Behörden des Reo hes, vom Kaiser ernannt. Nach Art des Senates, zu dem er das Gegenstück bildet, hat er den Titel „Sehr Heiliger leitender Synod," d. h. soviel wie administrirender Synod; aber der Kodex sowohl, als auch das „geistliche Reglement" stellen fürsorglich fest, dass er nur kraft kaiserlicher Befugniss handeln soll. Der Swod macht gar kein Hehl daraus; die Gesetzsammlung verkündet es an mehreren Stellen. Der autokratisohen Macht ist der Synod das Verwaltungsgetriebe für die orthodox-kirchlichen Angelegenheiten; er ist für diese das Nämliche, was der Senat für die bürgerlichen Sachen bedeutet.1) Dennoch bestreiten die Russen die Schlussfolgerungen, welche von den Gegnern ihrer Kirche aus jenen Texten gewonnen werden. Sie sagen, dass es sich mit diesem Vorrechte wie mit allen anderen monarchischen Privilegien verhalte: es ist leicht, sie ins Abgeschmackte zu steigern und falsche oder übertriebene Schlüsse daraus zu ziehen. In solchen Dingen ist es stets misslich, die Grenzen der Macht zu bestimmen; es sind weniger die Titel und die Texte, welche darüber entscheiden, als die Sitten. In Russland, wo es kein Konkordat mit einer auswärtigen kirchlichen Macht geben kann, scheint es dein Staate völlig frei zu stehen, die Kirchenverfassung nach seinem Beliehen zu ändern. In Wahrheit aber ist die Macht des Staates durch die nationalen Gebräuche und die Gewohnheiten der orthodoxen Ränder eingeengt. Bei dieser Gelegenheit müssen wir einen Punkt zarter Natur be- r; Swod Sakonow, Bd. I, 4'J, 43; vcrgl. Alexandrow: Sbörnik zerköwno-graschdanskich postanowlenü. 1880. (Anm. d. l'ebers.: Gesetzsammlung, Bd. I u. s. w. — Sammlung kirchlich-bürgerlicher Verordnungen). rühren, per Fremde stellt sich den Zaren als das Oberhaupt seiner Kirche, als eine Art nationalen Papstes vor. Kein Russe, kein Orthodoxer giebt das zu. Die orientalische Orthodoxie kennt nur ein Oberhaupt: Christus, und nur eine Autorität, welche in seinem Namen sprechen darf: die ökumenischen Konzilien. Wie gross auch immer die Macht des Zaren über die Kirche sein mag, diese Macht steht doch immer ausserhalb der Kirche. Und so ist der Kaiser viel eher der Herr, als das Haupt der Hierarchie. Hören wir, was die Russen hierüber sagen, was ihre Kirche lehrt. Sie will in dem Zaren nur einen Beschützer sehen, einen Vertheidiger; sie legt ihm Eigenschaften bei, welche die christlichen Traditionen jedem christlichen Monarchen zuerkennen. Wenn der Kaiser hin und wieder in der Gesetzgebung den Titel „Haupt der Kirche" erhält, so bandelt es sich dabei immer nur um die Administration der kirchlichen Angelegenheiten. In Betreff des Dogmas bat der Souverän nicht mehr zu bestimmen, als der geringste der Gläubigen; und hierbei ist es bemerkenswert]!, dass die russischen Kaiser niemals den steilen Abhang betreten haben, auf den sich mehr als einer der ersten christlichen Kaiser hatte locken lassen. Iwan der Schreckliche hat sich vielleicht allein auf seine Theologie etwas zu Gute gethan; indessen bat ihm dieselbe fast ausschliesslich dazu gedient, seine Feinde in arglistige und verfängliche Fragen zu verstricken. Das Dogma wird nicht in die Berathungen des Heiligen Synod hineingezogen und bleibt unberührt über denselben; selbst die Fragen der Kirchenzucht beschäftigen ihn für gewöhnlich nicht; gelangen sie einmal vor sein Forum, so geschieht es, wie wenn sie einer Studien- oder Unterau ■hungs-Kommission unterbreitet wären, indem das Endurtheil den Conzilien oder der Gesammtheit der Kirche vorbehalten bleibt. In •anem solchen Falle bedeutet die kaiserliche Bestätigung kaum etwas anderes, als gewissermassen ein „exequatur" oder „placet", wie sich dergleichen die bürgerliche Macht im Abendlande schon so lange '""'i'virt hat. Die Verwaltung der Kirche, das ist die Sphäre, in welche der Staat eingreift; aber auch selbst dort ist seine Macht beschränkt durch die Tradition, durch die < 'anoues der Konzilien, durch den ökumenischen Charakter der Kirche, sowie durch das Beispiel der anderen orthodoxen Völker, mit denen das Reich in »srbindung zu bleiben bestrebt ist. In Kussland, wie im Abendlande, ist das Recht der Ernennung kl>ehlicher Würdent räger ein ilauptprivilegium des Thrones gegenüber dem Altar: ausserdem theilt-sich der Zar mit dem Heiligen Synod 1,1 diese Praerogative. Die Mitwirkung der bürgerlichen Macht bei der Pfründen vertheilung erklärt sich leicht sowohl vom Standpunkte des Völkerrechtes, wie von dem des göttlichen Rechts. Im ersten Falle bezeichnet der Kaiser als Vertreter der Nation, deren sämmt-liche Gewalten sich in seiner Person vereinigen, geeignete Männer für die Bischofssitze oder bestätigt die früher vom Volke direkt gewählten Bischöfe. Im zweiten Falle hat der Souverän als Wächter über das physische und moralische Wohl seiner Unterthanen bei der Vertheilung der kirchlichen Würden mitzusprechen, welche doch ihren Inhabern auch weltliche Privilegien übertragen. Dies geschehe, wie Peter der Grosse an den Patriarchen von Konstantinopel schrieb, weil Gott von den Fürsten Rechenschaft darüber verlangen muss, in welcher Weise sie die Verwaltung seiner Kirche behütet und beaufsichtigt haben. — Wie viele Streitigkeiten sind nicht im Abendlande durch die Frage der Stellenbesetzung erhoben worden! lud nun sollte man sich darüber wundern, dass jene Angelegenheit zu Gunsten des Staates erledigt ist in einer Kirche, die keinen Papst hat, der den Kampf aufnehmen könnte? Die Einmischung des Kaisers in das kirchliche Leben kann für Russland noch als eine Folge des patriarchalen Geistes angesehen werden, der sich natürlich in Bezug auf die Unterscheidung der weltlichen und kirchlichen Macht nicht auf Feinheiten oder Spitzfindigkeiten einliess. Hierfür ein Beispiel. Unter den Vorwürfen für die russische Kirchenmalerei nehmen die sieben ökumenischen Konzilien, auf denen die orientalische Orthodoxie beruht, eine hervorragende Stelle ein. Die Art, sie darzustellen, ist äusserst einfach: man erblickt Bischöfe, welche den Thron eines Kaisers, bisweilen eine Frau z. 15. die Kaiserin Irene — umstehen. Dieser Gegenstand fand sich auch in unsern mittelalterlichen Kirchen und war dort in fast ähnlicher Weise behandelt. Leute, welche solche Bilder vor Augen balien, wundern sich gewiss nicht darüber, dass der Herrscher an der kirchlichen Verwaltung Antbeil hat, Und wirklich sind die Zaren, wenn sie bisweilen der Kirche gegenüber die Rechte, welche sich die orientalischen Kaiser angemasst hatten, noch überschritten, nicht selten jenseits dieser Grenze stehen geblieben. Der Einfluss der bürgerlichen Macht auf den russischen Klerus könnte sogar, in diesem sich so wenig verändernden Orient, als ein Ueberrest der alten Beziehungen zwischen Kirche und Staat erscheinen, wenn die Russen nicht die Beobachtung gemacht hätten, dass bei ihnen die gröbsten Missbräuche mit der Laien-Autorität in kirchlichen Dingen auf die Einwirkung des Abendlandes zurückzuführen seien. Es wird behauptet, dass bei der Eröffnung des Heiligen Synod ein Prälat Peter den Grossen gefragt habe, ob es hinfort keinen Patriarchen wieder geben würde, und dass ihm der Zar geantwortet habe: „Ich, ich bin Euer Patriarch!"1) Sollte dies wahr sein, so muss man doch bedenken, dass derartige plötzliche Auslassungen nicht wörtlich zu nehmen sind, ebensowenig wörtlich, wie jene Versicherung Katharinas IL, wenn sie sich in einem Briefe an Voltaire den Titel „Oberhaupt der griechischen Kirche" beilegt. Die der letzteren von der Regierung bewilligten Ansprüche und die in ihren Schulen vorgetragenen Lehren sprechen sich ganz anders darüber aus. Da sieht man denn auch wieder, dass in kirchlichen, wie in allen anderen Dingen, Praxis und Theorie bei den Russen oft recht weit auseinander gehen. In den orthodoxen Katechismen werden die Zaren einfach „oberste Kuratoren und Beschützer der Kirche" genannt, Die berühmten Katechismen von Piaton und Philaretes, welche &och beute dem öffentlichen Unterricht zu Grunde liegen, erkennen dem Herrscher keine anderen Eigenschaften zu. Ein Kranzoso muss sich schämen, wenn er die Wahrnehmung macht, dass sich in Bezug auf Lobhudelei und knechtische Kriecherei dort nichts findet, was dem Kapitel »von den Pflichten gegen den Kaiser" im Katechismus Napoleons 1. zu vergleichen wäre. Ist der Zar wirklich das Oberhaupt der Kirche, so ist er es de facto, nicht de jure. Bezüglich der russischen Kirche liegt nicht dasselbe Verhältuiss vor, wie bei der anglikanischen, wie bei den lutherischen oder evangelischen Kirchen Deutschlands und der skandinavischen Ränder. In England steht der König oder, wenn eine *rau die Krone trägt, die Königin, nach dem Gesetz an der Spitze der Kirche, also de jure niebl weniger als de facto. Dasselbe gilt v°n den meisten protestantischen Staaten. Die Unterordnung der Kirche unter die Regierungsgewalt ist offen und laut verkündet, die Oberhoheit des Staates ist regelrecht festgesetzt und sie besteht auch dann noch von Rechtswegen, wenn sie sich in der Praxis nicht weiter fühlbar macht. Die Kirche reinonstrirt nicht dagegen oder besser: sie hat es Jahrhunderte lang nicht gethan. Mit Rücksicht auf diesen Punkt hat die zarische Autokratie niemals dieselben Ansprüche oder Forderungen erhoben, wie die Krone Englands unter den Tudors, Stuarts oder den Georgen von Hannover.*) Weder Moskau noch ') Nikolas Polewoi, Isstorija Petra Velikago (Gesch. Peter d. Gr.); Tondini, 1 he Roman Pope and the Kastore Popcs, ') Briet' vom 27. December 1773 (8. Januar 1771). nJ In England wird der Kmüg „als Oberhaupt der Kirche. Wächter und ertheidiger der religiösen Wahrheit" erklärt Kr hat mit seinem Käthe die Petersburg haben eine Versammlung von Laien gesehen, welche, gleich dem britischen Parlamente, in völlig souveräner Weise der Kirche Gesetze vorgeschrieben hätte. Weder Moskau noch Petersburg sind Zeugen davon gewesen, dass Juristen und Theologen für den Fürsten die Suprematie in kirchlichen Dingen verlangten, welche demselben von Rechts- und Gottesgelehrten im protestantischen Deutschland so gern übertragen worden ist, Die klassische Theorie von dem Bischof des Aeusseren hat in dem orthodoxen Russland nicht dieselbe Ausdehnung gewonnen, wie in den lutherischen Ländern. Auch an dieser Stelle könnte man wieder sagen, dass die russische Kirche, trotz der grösseren Annäherung an die Protestanten, auf halbem Wege zwischen diesen und den Katholiken stehen geblieben ist. Line andere, weniger bekannte und doch nicht weniger bemerkcns-werthe Thatsache ist die, dass Russland unter allen orthodoxen Staaten noch derjenige ist, welcher die grösste Willfährigkeit und Ehrerbietung der Kirche gegenüber gezeigt hat. Das ist vielleicht einer der Gründe für die Sympathien, deren sich Russland unter dem Klerus gewisser Länder erfreut, in welchen ihm seitens der Laien nur Misstrauen entgegen gebracht wird. Denn wenn auch die kaiserliche Regierung der Kirche keine wirkliche Freiheit mehr gelassen hat, so war sie dafür um so mehr besorgt, ihre Abhängigkeit zu verdecken. Die durch allmähliche Zerstückelungen der Türkei entstandenen orthodoxen Staaten haben, wie bereits erwähnt wurde, sämmtlich die der russischen Kirche von Peter dem Grossen auf-genöthigte Konstitution nachgeahmt, dabei aber ihr Vorbild oftmals überboten. In Griechenland ist der König durch die nationalen Synoden als Verwalter und d^XW^Q (Leiter) der nationalen Kirche anerkannt worden. In Serbien hat die Regierung König Milans ihre Achtung vor der kirchlichen Unabhängigkeit dadurch bezeugt, dass sie aus eigener Machtvollkommenheit die ihren Anordnungen nicht gehorsamen Metropoliten entfernte oder richtiger: absetzte, Das autokratische höchste Jurisdiktion in geistlichen Angelegenheiten und ist selbst für die Ketzerei kompetent. Thomas Cramner erklärt es für zulässig, dass die Krone allein einen Priester ernennen kann, ohne dass eine Ordination erforderlich sei. Selbst nachdem man diese extreme Ansicht aufgegeben hat, erfolgt durch den Fürsten allein die Investitur der Bischöfe, die ihr Amt bekleiden, so lange es ihm gefällt; bei jedem Regierungswechsel wird ihre Vollmacht erneuert." E. Boutmy: Le developpement de la Constitution et de la Societe politique en Angleterre (1887), p. 140. — In Betreff der Staaten des Kontinents vergl. Döllingcr: „Kirche und Kirchen", worin sich hier und da Einiges darüber findet. ausstand wäre gewiss förmlicher dabei zu Werke gegangen. Vergeblich ergriffen die serbischen Bischöfe für ihren Oberen Partei, umsonst exkommunicirte der abgesetzte Metropolit den von den Ministem in Belgrad an seiner Stelle ernannten Eindringling; die Regierung hat zu dem Protest des Episkopats gelächelt und —- die Bischöfe mussten sich den Ministern fügen.J) In Rumänien tritt der ..Kegalismus" offenkundig zu Tage. Daher ist denn auch der Petersburger Synod im Verein mit dem Patriarchen von Konstantinopel bei der Bukarester Regierung darüber vorstellig geworden, dass die Konstitution der rumänischen Kirche die Rechte dir bürgerlichen Macht überschritte und die Grundlehren der Konzilien verletze. Die Rumänen aber haben diesen Remonstrationen der beiden obersten Behörden der Orthodoxie gar nicht Gehör geschenkt, sondern haben nach wie vor die Suprematie des Staates in allen kirchlichen Angelegenheiten betont. Ihre von einer halb aus Geistlichen, halb aus Laien bestehenden Versammlung gewählten Bischöfe nehmen ihre Investitur öffentlich aus den Händen des Königs entgegen, und zwar in seinem Schlosse und vor den Stufen des Thrones. Was den von Mitgliedern der heiligen Synode und der beiden Kammern gewählten Metropoliten-Primas anlangt, so überreicht der Kultusminister dem Könige den erzbischötlichen Krummstab und bittet ihn, die Einsetzung des Neuerkorenen zu vollziehen. >) — „Ich übertrage Ew. Heiligkeit mit dem erzbischötlichen Hirtenstabe die Leitung der ungarisch-walachiscdien Metropolie," sagt der König darauf ZU dem neuen Primas. Und der Metropolit sowohl, als auch die Bischöfe danken dem Souverän, indem sie sich glücklich preisen, den Stab aus seiner Hand empfangen zu haben, und versprechen, treu des ihnen von Sr. Majestät anvertrauten Amtes zu warten. Alsdann freilich, nach geschehener Investitur. ') ÜNIiehfiel, Metropolit von Serbien war im .Jahre 1881 abberufen worden, und zwar weil er gegen eine gleiche Besteuerung der Mitglieder des Klerus und der anderen Bürger Einspruch erhoben hatte. Natürlich war der auf diese Weise beseitigte Prälat ein Gegner der damals am Ruder stehenden Partei. Bnd da er sich gleichzeitig als ein Freund des russischen Einflusses gezeigt hatte, so fand er im Lande des Zaren eine Zufluchtstättc. So fährt der Metropolit von Serbien fort, in Moskau und Petersburg als Erzbischof zu amtiren, Wahrend sein Nachfolger ohne Widerspruch über die serbische Kirche regiert. JJas ist abermals ein Beispiel von Spaltungen, welche die Politik in den orthodoxen Kirchen heraufbeschwören kann. ') Handelt "es sich urn einen gewöhnlichen Bischof, so empfängt der König den Krummstab aus der Hand des Primas, welcher spricht: „Ew. Majestät bitte ich unterthänig, dem P*** die Bischofswürde in der Diöcese *** zu übertragen, steigt der König vom Throne herab und küsst des Metropoliten Hand; desgleichen erfolgt der Handkuss seitens der Minister, Senatoren und Abgeordneten der Reihe nach. Die weltliche Macht, zufrieden mit der Peststellung ihrer Oberhoheit, huldigt auf diese Weise der geistlichen Autorität. In Russland, wo man der Kirche diese demüthigende Investitur durch Laienhand erspart hat, küsst der Kaiser auch die Hand der kirchlichen Würdenträger und deutet dadurch an, dass er im Innern des Gotteshauses ebenfalls zu den „Schäflein der Herde" und nicht unter die Hirten gehört. Dein volksthümlichen Krauche entsprechend, küssen desgleichen die Prinzen die Hand der Geistlichen. Man erzählt nun, dass einst ein Dorfpriester gezögert habe, seine Hand den Lippen eines Gross forsten, welchen er an der Kirchenpforte empiing, darzureichen, und dass der darüber aufgebrachte Prinz ungeduldig gerufen habe: „Streck' doch deine Pfote aus, du einfältiger Mensch!" Allerdings mag eine solche Ehrerbietung rein äusserlich, nicht selten sogar lächerlich erscheinen; wie viele zur Gewohnheit gewordene religiöse Handlungen hat sie den Anstrich des Maschinenartigen angenommen. Nichtsdestoweniger behält sie ihren symbolischen Werth und bezeichnet eine Grenzscheide zwischen dem Weltlichen und dem Geistlichen. Weit entfernt, sich als einen Papst oder Patriarch anzusehen, nimmt der russische Zar keinen Rang in der Hierarchie für sich in Anspruch. Ich kenne nur einen Kaiser, der danach gestrebt hat, auch einmal ein geistliches Amt zu versehen; das war der unglückliche Paul I. Eines Tages wandelte ihn, so heisst es, die Lust an, eine Messe zu lesen. Um ihn von diesem Vorhaben abzubringen, musste ihn der Petersburger Metropolit daran erinnern, dass er ja zweimal vermählt gewesen wäre, was bekanntlich die Orthodoxie ihren Priestern untersage. Der arme Wahnsinnige hätte die Messe ebensogut in seiner Eigenschaft als Grossmeister des Malteser Ordens celebriren können, wie als Oberhaupt der russischen Kirche. Die Würde des Zaren hat keinen kirchlichen Charakter; seine Rechte der Kirche gegenüber entstammen seiner bürgerlichen Macht, und nicht als Leiter des Klerus, sondern als Selbstherrscher mischt er sich in die Angelegenheiten der kirchlichen Verwaltung. Dennoch muss hier ein wesentlicher Unterschied gemacht werden. Wenn nämlich der Zar einerseits immer Laie bleibt, wenn er in religiösen Dingen gleichwie in bürgerlichen, als Oberster des Staates handelt, so geschieht dies andrerseits doch nicht als laienhafter Souverän im modernen Sinne oder im Sinne des Abendlandes. Besitzt der Kaiser zwar keine kirchliche Vollmacht, 80 haltet ihm für die grosse Masse des Volkes doch ein religiöser Charakter an. Er ist der Gesalbte des Herrn, von Gottes Hand eingesetzt, das christliche Volk zu schützen und zu regieren. ]) Die Weihe unter der kleinen Kuppel der Uspenskischen Kathedrale (des Kreml) hat ihm eine heilige Kraft verliehen. Seine Würde ist ohne Gleichen unter der Sonne. Seine Unterthanen aller Klassen haben ihm, sei es einzeln, sei es zu bestimmter Anzahl vereinigt, den Eid der Treue auf das Evangelium geleistet.2) Der Selbstherrscher ist unter dem Beistände der Kirche nach dem von Byzanz entlehnten Ritus gekrönt worden, und erscheint durch die mit ihm vorgenommene Salbung nicht nur als Vertheidigor der Kirche, sondern geWissermassen auch als höchster Vertreter der Orthodoxie. Die Salbung ist eine Art von Ordination, durch welche er von oben herab erleuchtet wird, um seine ihm von der Vorsehung zugewiesene Mission erfüllen zu können. Die Kirche, welche bei der Salbung die wichtigste Rolle spielt, wird stets die hohe Würde berücksichtigen und im Auge behalten, welche die Berührung mit dem geweihten Oele dem Gesalbten des Herrn verleiht. In den Augen des Volkes aber erscheint der im Kreml eingesegnete Zar wie der namästnik, i b. der Statthalter Gottes.a) ') Siehe weiter oben, Buch I, Kap. IV. Dieses Gefühl findet in fast kindlicher Weise seinen Ausdruck in einer Adresse, welche dem Kaiser Alexander III. von einer Donischen Kosaken-Stanitza gelegentlich des März-Attentates 1887 gesandt wurde. „Das Gesetz des Herrn lehrt uns," sagen jene Kosaken, „dass die Herrscher von Gott selbst erwählt und geweiht sind. Kr giebt ihnen das Scepter und die höchste Gewalt; er lenkt und regiert alle Menschen und verleiht Macht nach seinem Ermessen. Wie das Auge geschaffen ist, um dem menschlichen Körper seine Richtung zu zeigen, ebenso ist der Herrscher über Aua Volk gesetzt, um es auf rechtem Wege zu leiten. Auf Erden ist der Herrscher das Ebenbild Gottes, denn niemand steht hier über ihm. Des Herrschers Herz hat Gott in seiner Hand ... So lautet die Unterweisung der Heiligen Schrift, so steht es in den alten Ueberlieferungcn unserer Vorfahren." ■) „Wir Kosaken vom Don, Deine Söhne und treuen Unterthanen, sind, wie es der Eid befiehlt, den wir Dir geleistet haben, bereit, Dir Gut, Blut und Alles, was unser ist, zu opfern, nachdem Vorbilde unsrer Väter." (Adresse der Stanitza von Ust-Bjelokaliwentsk, im März 1887). 3) Barsow hat 1883 im Auftrage der Kaiserlichen Gesellschaft für russische Geschichte und russische Alterthümer eine sorgfältige Studie über den Ritus und die Bedeutung der Zarenweihe veröffentlicht. Der Verfasser weist nach, wie eng diese Ceremonic mit der Entwicklung des automatischen Princips ver-nupft ist- Her BitUt der Salbung, wie er bei den byzantinischen Kaisern ge-laudhabt wurde," hat seit dem 15. Jahrhundert den moskowitisehen Zaren zum uster gedient. Dabei ist zu bemerken, dass seit Peter dem Grossen und der j hschalfimg des Patriarchats das Ceremoniell mehrere Veränderungen erfahren at> die mit den in der Kirche vorgenommenen Umgestaltungen in Verbindung Man kann sich die Frage vorlegen, ol> ein Wechsel des politischen Regimentes die Freiheiten der Kirche vermehren würde. Das ist mindestens zweifelhaft. Nichts bürgt dafür, dass die Kirche eine grössere Unabhängigkeit gewinnen würde, wenn die autukratische Regierung in eine konstitutionelle umgewandelt würde. Die vom politischen Standpunkte aus freiesten Regierungen sind nicht immer die liberalsten in kirchlichen Dingen. Der moderne Staat betrachtet die Kirche oft mit sonderbar argwöhnischen Blicken. Bin Parlament stellt dem Klerus gegenüber manchmal noch weiter gehende Forderungen, als ein Autokrat. Den Beweis dafür liefern unter den orthodoxen Staaten Rumänien und Griechenland. In einem freien Russland könnten die Mitglieder des Fleins ihren Anthcil an den öffentlichen Freiheiten zurückfordern, aber die Kirche selbst, als eine bestehende Gesammtheit, würde wahrscheinlich unter Vormundschaft verbleiben.1) Die russische Kirche — dies darf man nicht vergessen ist eine Staatskirolie; und überall führt die Vereinigung von Kirche und Staat zu einem Abhängigkeitsverhältniss der ersteren. Je inniger diese Vereinigung ist, desto fühlbarer wird die Abhängigkeit. Die römische Kirche ist die einzige, welche sich der Privilegien einer Staatsreligion zu erfreuen vermochte, ohne an ihrer vollen Freiheit stehen. So stieg ehemals der Kaiser von seinem Sitz zum Altare herab, um sich durch des Patriarehen Hand krönen und salben zu lassen. Noch beute sieht man in der Himmel fahrtskirehe des Kreml die beiden Emporen oder Throne des Zaren und des Patriarchen. Neuerdings sind die Bischöfe nur des Kaisers Beistand; der Metropolit bringt ihm die Krone, welche sich der Herrscher selbst auf's Haupt setzt, wodurch angedeutet wird, dass er seine Macht nur von Rechtswegen, nicht von der Kirche etwa, empfängt und ausübt. Ebenso liest der Kaiser als orthodoxer Fürst noch das Credo; indessen er giebt nicht mehr, wie die alten Zaren und die griechischen Kaiser, das Versprechen, die Rechte der Kirche zu schützen und die Canones zu respektiren. ') Die amtlichen Vertreter der russischen Regierung lieben es, den Beweis zu führen, dass sich die Kirche unter einer autokratischen Herrschaft in angenehmerer Lage befände, wie in den konstitutionellen Staaten des Orients. Deshalb hat man im Dcccmber 188(5 den Gross-Prokurator des Heiligen Synod, Pobe-donostscw, in seinem Bericht über das .fahr 1KK1, Griechenland, Serbien und Rumänien anklagen hören, dass sie die Kirche zu einem politischen Werkzeuge und vollständig von den wechselnden Majoritäten „sogenannter Vertreter des Volkswillens" abhängig machten, so zwar, dass sie ganz der Parteiwillkür und den persönlichen Interessen preisgegeben sei, ohne sich irgend welcher Freiheiten erfreuen zu können. Wollte man dem Gross-Prokurator des Heiligen Synod glauben, so könnte die Kirche einzig unter dem Schutze der Autokratie frei sein. Ohne diese denn doch allzu russische Ansicht zu theilen. kann man nicht leugnen, dass in den von Pobedonostsew gegen die orientalischen Orthodoxen erhobenen Vorwürfen manches Körnchen Wahrheit steckt. etwas einzubüssen; das macht, weil der Vatikan seine Bedingungen stellen und weil hier die Kirche mit dem Staate Wie mit Ihresgleichen verhandeln kann. Ganz anders ist dagegen die Lage der orthodoxen Gemein schälten. Um sich gänzlich der staatlichen Bevormundung zu entziehen, um völlig frei zu werden, selbst in einem liberalen Bussland, müsste die russische Kirche eine unabhängige Kirche sein. Gern aber widerspricht alles, ihre Geschichte, alle ihre Gebräuche und Gewohnheiten, ja selbst ihre Grösse; abgesehen davon, dass es dem Staate nicht einfallen würde, seine Einwilligung zu geben. Nach dem Ausspruche eines orthodoxen Schriftstellers1) hat sie die Uniform des Staates anziehen müssen, die sich ihren Mitgliedern so eng anschmiegte, dass sie nicht mehr im Stande ist, sie wieder los zu werden. Seit Jahrhunderten ist sie Staatskirche und sie ist dazu ver-urtheilt, es zu bleiben; gerade dadurch kann sie der lästigen Abhängigkeit der nationalen Kirchen nicht entgehen. Die Verwirklichung dessen, was sie von Freiheit träumt, kann sie nur von einem Fortschreiten der öffentlichen Bildung und des Volkslebens erwarten. Indessen wenn auch der Staat die Kirche wie eine Minderjährige; und Untergebene behandelt, so ist er ihr doch andrerseits Rücksichten und Ehrenbezeugungen schuldig, die er nicht ausser Acht lassen kann, und ihre Abhängigkeit ist so gewissermassen eine gegen- oder wechselseitige. Die Suprematie des Staates erstreckt sich auf die Bersonen, auf den Klerus und die kirchlichen Aemter, nicht aber auf die Lehren oder selbst auf die Gebräuche der Kirche. Die Religion Hegt ausserhalb des Bereiches der Zarenmacht; ihre Ukase können si«' nicht treffen. Die kirchlichen Angelegenheiten sind ein Gebiet, auf welchem sich die Oberhoheit des Autokraten nur mit Zurückhaltung geltend machen kann. Er muss sieh hüten, das innere Gefühl des Volkes zu verletzen. Diese Bemerkung haben wir bereits früher machen müssen. Auf religiösem Territorium ist die kaiserliche Allmacht durchaus nicht mehr ohne Schranken, und der russische Absolutismus wird gemildert durch den Glaubon, oder, wenn man lieber will, durch den volkstümlichen Aberglauben, Diesen Satz könnte man übrigens auch auf andere Staaten und andere Kulte, Christliche oder nichtchristliche, anwenden. Aber selbst dort, wo sie den Despotismus lehrt, bleibt die Religion für den Despoten ein ^ögel oder eine Grenze seiner Gewalt. J) Wladimir Solowjcw, Artikel über die geistliche Autorität in Aksakows 1;"sj, Deeember 1881. L er o y - B ea u I i e u Reich d. Zurou u. d. Küssen. III. Bd. 18 Siebentes Kapitel. Innere Verfassung iler Kirche. — Zusammensetzung und Aufgabe des Heiligen Synod. - Wirkliche und beigeordnete Mitglieder. — Der (iross-ProJnirator und seine Kanzlei. — Orthodoxer Klerikalismus. — Die geistliche Censur. — Die Bischöfe und die bischöflichen Grade. — Grösse der Diöcesen. — Die Diöcesan-Konsistorien. — Einfluss der Konsistorialsckrctärc. — Die Schcidungs-l'nternehnier. — Provinzial-Konzilien. -- Centralisation und bureaukratischer Charakter der russischen Kirche. Wir wollen nunmehr den inneren Mechanismus der kirchlichen Verwaltung näher ins Auge fassen und einer Prüfung unterwerfen. Zunächst begehen wir uns in den Palast des Heiligen Synod, der auf dem Platz Peters des Grossen ein Seitenstück zum Senatspalaste bildet. Vom bürgerlichen Standpunkte aus betrachtet, ist der Heilige Synod die erste der grossen Körperschaften des Staates; vom religiösen Gesichtspunkte aus vertritt er den Patriarchen und übt die Rechte des Patriarchates aus. Peter der Grosse scheint aus seinem Synod. trotzdem er sich die Wahl der Mitglieder desselben vorbehielt, eine Art von Vertretung aller verschiedenen Klassen des Klerus haben machen zu wollen. Die Bischöfe waren in der Minderheit vertreten; unter ihnen süssen Archiniandriten (Klostervorsteher) und Mitglieder der Weltgeistlichkeit. Später ist der leitende Rath der russischen Kirche in einer Weise zusammengesetzt worden, welche mit der Hierarchie und den orthodoxen Grundlehren harmonirt: denn diese legen die Kirchenregierung in die Hand der Bischöfe. So überwiegt denn heute im Heiligen Synod das Episkopat. Die Zahl seiner Mitglieder steht nicht immer fest; alle werden gleichermassen vom Kaiser ernannt, jedoch nicht mit gleicher Berechtigung und auf dieselbe Dauer. Man unterscheidet wirkliche und beigeordnete Mitglieder, unabsetzbare und zeitweilige. An der Spitze der ersteren stehen die drei nach einander folgenden Hauptstädte des Reiches: Kiew. Mo.skaii und Petersburg. Der Metropolit von Nowgorod und Petersburg hat gewöhnlich den Vorsitz und führt den Titel eines ersten Mitgliedes. Ein Platz wird dem Herkommen gemäss noch dem Exarchen von Georgien eingeräumt. Die anderen Mitglieder sind für eine bestimmte Zeit ernannt: hier begegnen wir vier oder fünf Erzbisehöfen, Bischöfen oder Arehimandriten. Endlich folgen zwei Angehörige des niederen Klerus, der verheiratheten Geistlichkeit, zwei Erzpricster, von denen der eine gewöhnlich Oberhotprediger, anders ausgedrückt: der Beichtiger des Kaisers, der andere der erste Militärgeistliche ist. Es scheint mit den Hauptbegriffen über die Kirchenregierung schlecht vereinbar, dass zur Bestimmung und Leitung der kirchlichen Angelegenheiten einfache Priester neben Bischöfen sitzen und sich zu Richtern über das Episkopat bestellt linden. Auf der anderen Seite freilich bietet die Anwesenheit einiger Vertreter des niederen Priesterstandes im höchsten Rathe der Kirche einen unleugbaren Vortheil, gerade in einem Lande wie Russland, wo der Klerus in zwei Klassen mit ganz verschiedenen Tendenzen und Interessen getheilt 'st. Man begegnet dort übrigens Leuten, selbst in kirchlichen Kreisen, welche dem weltlichen Klerus, der ,.weissen Priesterschaft", wie man s'eh ausdrückt, weit mehr Plätze in jener hohen Versammlung zugewiesen haben mochten. Zwei Well geistliche gegenüber sieben oder acht Prälaten des mönchischen Klerus, das wäre allerdings ein bedenkliches Verhältnis«, wenn nicht die Macht der öffentlichen Meinung °der ein Rückhalt an der Regierung oftmals diese numerische Schwäche ausgliche. Der Ort, an welchem der Heilige Synod tagt, ebenso wie seine Zusammensetzung bringt es mit, dass sein wirklicher Eintluss sich Qiöht genau nach der Zahl der Stimmen vertheilt. In Petersburg "hden die Synodal-Sitzungen statt; in Moskau und in. Georgien treten nur Delegationen oder Lokalkommissionen zusammen. Die an der Spitze eines Bisthums stehenden Mitglieder sind genöthigt, der Verwaltung ihrer Diöcese und ihren synodalen Punktionen abwechselnd obzuliegen; sie üben diese letzteren nur in einer gewissen, bestimmten Reihenfolge aus. Auf diese Weise haben diejenigen Synodalen, welche 'ständig in der Hauptstadt wohnen, wie der Metropolit von Petersburg und der Beichtvater des Kaisers, an der Abwickelung der Geschäfte einen grösseren Antheil, als ihre Kollegen aus der Provinz. Wenn es sich um Reformen der wirtschaftlichen oder bürgerlichen Stellung des Klerus handelt, so wird der Synod aufgefordert,, seine ^erathungen in den mit der Untersuchung und der Begutachtung jener schwierigen Probleme betrauten Kommissionen abzuhalten; mit Ederen Worten: man theilt ihm in solchen Fällen einige hohe Be-,l,n,e des Laienstandes zu. So war die grosse Kommission ..in Sachen des orthodoxen Klerus" zusammengesetzt, welche seitens der Regie-r,lng Alexanders II. beauftragt war, die Mittel zur Verbesserung der materiellen und socialen Lage der Geistlichkeit ausfindig zu machen. Bisweilen holt auch der Heilige Synod selbst die Meinungen und J^thschläge aller Bischöfe ein. Zum Synod gehört auch ein vom Kaiser besonders berufener Bclegirter, welcher den Titel eines General-Prokurators oder „Ober-Prokurors" führt, Dieser Beamte, der vor den kirchlichen Würden- 13* trägem die staatliehe Macht ropräseutirt, ist immer ein Laie. Kr soll nach Peters des Grossen Anordnung das Auge des Zaren sein. Seine Aufgabe ist, darüber zu wachen, dass alle kirchlichen Angelegenheiten genau den kaiserlichen Ukasen gemäss behandelt und abgewickelt werden. In Russland giebt es keinen Kultusminister; es hat nur auf ganz kurze Zeit einen solchen gegeben: das war unter Alexander 1. Der Ober-Prokuror des Heiligen Synod vertritt, ersetzt ihn; er hat seinen Platz im Ministerrathe und steht direkt unter seinem Herrn, dem Zaren. Die Angehörigen der nicht orthodoxen Religionen stehen unter dem Ministerium des Innern: die orthodoxe Kirche aber wird vom Heiligen Synod unter der Kontrole seines Prokurators allein verwaltet. Da letzterer der Bevollmächtigte des Kaisers ist, so werden alle dem Herrscher zukommenden Rechte durch ihn ausgeübt; er ist der Vermittler zwischen dem Kaiser und dem Synod; ohne ihn giebt es keinen Verkehr des einen mit dem andern : er unterbreitet dem Synod Gesetz vorschlage der Regierung und holt für die von jenem angenommenen Bestimmungen die kaiserliche Sanktion ein. So geschieht also in dem hohen, die Kirche leitenden Ratho nichts ohne seinZuthun: sämmtliche Vorlagen bringt er ein, befördert sie hernach weiter und ordnet die Ausführung der neu getroffenen Massnahmen an. Keine der Handlungen des Synod ist gültig ohne seine Bestätigung;1) er kann sein Veto in dem Falle einlegen, dass die Entscheidungen der Versammlung den Gesetzen zuwider laufen sollten. In jedem Jahre überreicht ordern Kaiser einen Bericht über die allgemeine Lage der Kirche und über den Stand des Klerus und der Orthodoxie im Reiche, bisweilen auch im Auslande.2) i) Diese Stelle hat Klisce Reclus in seiner „Nouvelle Geographie Universelle1' bist wortlich von uns entlehnt. Vergleiche „das skandinavische und russische Europa" mit unsrer Studie über den Heiligen Synod, Revue des deux Mondes, 1. Mai 1874, p. 20. -) Der fremde bemerkt nicht ohne Erstaunen, dass der Prokurator des Heiligen Synod dem Kaiser einen amtlichen Bericht über die Beziehungen der andern Staaten zu ihren griechisch-katholischen Unterthanen vorlegt, wie wenn der Zar als Patron aller Orthodoxen und der Ober-Prokurator als Leiter und Wächter aller orientalischen Kirchen anerkannt wäre. Diesen Anschein hat sich besonders Pobedonoszew gegeben (Bericht vom December 1886), indem er die ausländischen Regierungen, Oesterreich-Ungarn, die Türkei, Griechenland, Rumänien, Serbien und Bulgarien, verklagt, sie geradezu schilt und zurechtweist. Oesterreich wird wegen seiner Vorliebe für Pom, Rumänien wegen seiner Verhandlungen mit dem Vatikan getadelt und die Uebrigen wegen ihrer Einmischung in die Angelegenheiten der Kirche; allen wirft er vor, der Annäherung der lokalen Kirchen an den russischen Heiligen Synod Hindernisse bereitet zu haben. Diesen hochwichtigen Posten rietli Peter der Grosse, der den Klerus wie ein Heer marschiren zu sehen wünschte, einem Militär ZU übertragen, einem kühnen und entschlossenen Manne. Unter Nikolaus war lange Zeit ein Kavallcrie-OiUcier, Graf Protassow, der Adjutant des Kaisers, Gross-Prokurator. Eine solche "Wahl, wo es Bich um einen derartigen Posten handelt, kann nicht allzu sehr überraschen in einem Lande und zu einer Zeit, welche daran gewohnt waren, die höchsten bürgerlichen Stellen von Generälen eingenommen zu sehen. Der Eindruck war allerdings ein anderer im Abendlande, wo man sich einen rothen Husaren mit Sporenstiefeln als Präsidenten einer Versammlung von Bischöfen vorstellte. Der Ober-Prokurator isl seit Langer Zeit kein Husar mehr; nach dieser Seite hin hat der fremde keinen Grund, wegen der kirchlichen Würde besorgt zu sein, sich zu ärgern oder sich lustig zu machen. Was übrigens Nikolaus, " Sache, an deren Zurückweisung ihm direkt gelegen sein muss: ja, bisweilen. SO sagt man, nehmen sogar die Bureaus Abänderungen der in einer Sitzung gefassten Beschlüsse vor, welche dann in dieser Form den Mitgliedern des Synod zur Signatur unterbreitet werden.') Man muss von diesen Krzählungon vieles mit Vorsieht aufnehmen oder gänzlich streichen, denn nicht selten sind sie Ausflüsse der öffentlichen, allgemeinen Böswilligkeit. Die Strenge, mit welcher die Regierung gegen die pflichtvergessenen Beamten eingeschritten ist, hat schon mehr als einen Missbrauch abgeschafft. Die Bureaukratie spielt dessenungeachtet in der Kirche eine wichtige Bolle, die um so übertriebener erscheint, als sie dort sehr wenig am Platze ist. Aus dem Heiligen Synod steigt der buroaukratische Formalismus durch die Konsistorien bis auf den Boden der Diöcesen und Farochien herab, sodass die ganze Kirche zum trägen Räderwerk eines pedantischen Mechanismus wird. Unter allen diesen vielen Geschäften, von denen eine grosse Zahl dem Prokurator oder den Kanzleien überlassen ist, behält sich der Synod ganz besonders diejenigen vor, welche einen ganz oder theilweise kirchlichen Charakter haben und welche die Traditionen und die Kirchenzucht berühren: so den Unterricht in den Priesterseininarien, die Enquete über ilie Andachtsübungen und den Volksaberglauben, schliesslich die geistliche Censur. Die zuletzt genannte Einrichtung ist heutzutage allein noch in Russland zu finden; etwas ähnliches gab es seinerzeit in den römischen Staaten, jedoch mit dem Unterschiede, dass die kirchliche Censur unter dem päpstlichen Begimente die ganze Sphäre menschlichen Geistes nmfasste, während sie in Russland nur auf religiöse Stoffe Anwendung findet. Produkte der Laien-Wissenschaft, also nichtreligiöse Erzeugnisse, unterstehen der weltlichen Censur, die naturgemäss etwas weniger engherzig und misstrauisch ist.-) Daher kommt es, dass wissenschaftliche, philosophische und volkswirtschaftliche Werke im Reiche eine Verbreitung finden, welche ihnen durch die Bedenken der synodalen Kommission hätten verwehrt werden können.;i) Der geistlichen Censur sind zu- ]) O pravoslawnom Rüsskom tschernom i bjälom Duehowenstwä 'vVon der rechtgläubigen russischen schwarzen und weissen Geistlichkeit), Bd. 11, Kap. 29, ein anonymes in Leipzig während der Uegierung Alexanders 11. verölten! lichtes Werk. Der Verfasser, D. Rostislawof, giebt die seltsamsten Aufschlüsse über die Kirche; dem höheren Klerus gegenüber zeigt er jedoch eine derartige Parteilichkeit, dass man sich nicht völlig auf seine Angaben verlassen kann. i) Biene Bd. II, Bueh VII, Kap. I und 11. :l) Der Buchhandlungs-Anzeiger (Ukasätel po dälüim petschäti. — Anm. d. Hebers.: Register od. Wegweiser in Pressangclegeidieiteii), das oflicielle, monatlich zweimal in Petersburg erscheinende Blatt, enthält die Liste der von der nächst die Erbauungsschriften unterwerfen, sodann die aus den Reihen des Klerus hervorgegangenen Bücher und endlich die kirchlichen ■Zeitungen und „Sammlungen", welche in Kussland schon zahlreich vertreten sind. Die Kirche hat der periodischen Presse gegenüber ein Privilegium behalten, welches vom Staate seinerseits aufgegeben ist. Der Ukas Alexanders LT, welcher im Jahre 1865 die Presse von jenem Joche befreite, hat fürsorglich bestimmt, dass die neuen Freiheiten sich nicht etwa auch auf die Abhandlungen. Uebersetzungen, Buchausgaben oder selbst kurze stellen (niästa) ausdehnen sollten, welche religiöse Fragen behandeln.1) Auf diesem Gebiete ist der Ukas von 1828 mit der drakonischen Verordnung Nikolaus' noch in Kraft geblieben. Wollen die politischen Blätter religiöse Dinge besprechen oder erwähnen, so müssen sie die Genehmigung der geistlichen Censur einholen: deshalb sehen sie oft lieber ganz davon ab. Der Klerus geniesst also hier kräftigeren Schutz, als das Beamtenpersonal des Laienstandes, die Kirche sieht sich mehr protegirt, als die Regierung. Das ist zum Theil der Grund, weshalb Religion, Kirchengeschichte, Theologie und sogar Philosophie in der russischen •'rosse und Literatur so selten eine Stätte linden. Die den russischen Schriftstellern bisweilen vorgeworfene Gleichgültigkeit bezüglich religiöser Kragen ist ihnen von der geistlichen Censur anerzogen worden. Da die synodale Gensur und ihre Unterabtheilungen in den Provinzen aus Mönchen zusammengesetzt sind, so herrscht in ihnen der klösterliche Geist vor; der verheirathete, der Kirchspiel-Klerus sieht Sich oft noeh mehr, als die Laien, verhindert, seine Beschwerden oder Wünsche zu äussern und darzulegen. Die Kirche hat sich, anstatt 'mmer dem Staate unterworfen zu sein, manchmal in dieser Ange-'t'genheit der Autorität des grossen Publikums in der Verfolgung von Absichten bedient, welche weder die der Nation noch in jedem Kalle die der leitenden Macht gewesen sind. Der niedere Klerus und seine Anwälte sind nicht selten unter dem Beifall der öffentlichen Meinung tinen oder anderen Censur zugelassenen oder verbotenen Bücher u. s. w. Durch ''je Lektüre desselben kann man sich gleichzeitig von der Kompetenz jeder dieser Behörden und ebenso von ihrer Strenge eine Vorstellung machen. In äugen auf gut (ilück herausgegriffenen Nummern fand ich die Aechtung der Bücher von Strauss, Athanasc Coquerel, Renan und Et. Spencer. Das Erscheinen Mint vieler Uebersetzungen ist nur dadurch ermöglicht worden, dass man die yon der Censur bezeichneten Stellen einfach fortstrich, oder dass die Verleger besonders vorsichtig und schlau zu Werke gingen. 1) Siehe Golowatschew: Deasjat lät reform., p. 283 —86 (Anm. d. Uebers.: "•<•>"■. .ii.ii. |)(.i|M>|mi. 35 /ehn Jahre Reformen). und sogar der höheren Begierimgskreise genöthigt gewesen, zu allerlei Kniffen und Schleichwegen, zu romanhaften Erzählungen oder im Auslände gedruckten Huchem ihre Zuflucht zu nehmen. Ebenso ist es auch mehreren der frömmsten Laien ergangen, z. B, Khomiakow, Samarin und Wladimir Solowjew. Die mit dem erwähnten Vorrechte ausgestattete kirchliche Censur ist also selbst ein Hinderniss der Reform des Klerus gewesen. Von Peter dem Grossen 1710 errichtet, um den Raskol zu bekämpfen, hat sie ihre Aufgabe, der Ausbreitung der Sekten Kinhalt zu thun, offenbar verfehlt, nicht gelöst. Bei dem gegenwärtigen Stande der politischen Gepflogenheiten des Kaiseireiches ist ihre Abschaffung wohl kaum zu erhoffen; sehr zu wünschen wäre es aber, dass sie einer Disciplinar-Kontrole seitens des orthodoxen Klerus unterstellt würde. Dank dem Heiligen Synod ist die russische Kirche wahrscheinlich die allerceritralisirteste von der Welt. Zu einem ununterbrochenen Verkehr mit der obersten autokratischen Macht genöthigt, sind die Bischöfe zu einer Art von kirchlichen Prä Ickten geworden. Sie werden auf Vorschlag des Synod, welcher drei Kandidaten bezeichnet, vom Kaiser ernannt; gewöhnlich aber wählt der Herrscher den auf der Liste an der" ersten Stelle stehenden. Die Russen schmeicheln seh damit, auf diese Weise die Interessen des Staates und die Rechte der Kirche in Uebereinstimmung versetzt zu haben. Die Diöcesen Exarchien sagen die Orthodoxen — entsprechen ihrer Begrenzung nach meist genau den Civil-Gouvernements. Das Reich zählt deren <><). die in drei Klassen eingetheilt sind und wovon nicht einmal 50 auf das europäische Russland kommen. ') In manchen Regionen sind diese Diöcesen grösser als ganz Krankreich oder Italien und im Durchschnitt sind sie fünfzehn oder zwanzig Mal umfangreicher als die uiisrigen. In diesem Punkte ist die russische Kirche das Gegentheil der griechischen, in der womöglich jeder kleine Flecken seinen eigenen Bischof hat. Euter diesen sechzig Exarchien haben drei die Bezeichnung von Metropolien, neunzehn sind Erzbistliümer. Diese Titel entsprechen jedoch nicht faktischen Befugnissen: sie geben einen Rang an, keine dementsprechende Funktion. Es giebt dann noch eine nicht geringe Anzahl von Sulfragan- oder Weih-Bischöfen, indem die Metropoliten und die Erzbischöfe einen oder zwei Bisthums-Vikare oder Koad-juturen zur Fnterstützung haben. Im ganzen Reiche existirt nur eine kirchliche Provinz: das Exarehat Georgien; ausser in den hierzu ge- *) Das europäische Russland bildete im .lahrc 1887 achtundvierzig Diöcesen, Transkaukasien 4, Sibirien (>, Turkestan 1, die Aleutischcn Inseln mal Aljaska 1. hörenden Diöcesen stehen die Bischöfe einzig und allein unter dem Heiligen Synod. Die Titel Metropolit und Erzbischof werden nicht immer ron denjenigen Prälaten geführt, welche den betreffenden Sitz inne haben, zu dem sie gehören: denn die Regierung verleiht jene Titel nicht selten erst nach mehrjähriger Verwaltung des betreffenden Postens. Der Bischof wird zum Lohn für seine Dienste zum Erzbischof und dieser wiederum zum Metropoliten befördert. Dadurch werden jene in der Hierarchie des „tschin" wie eine Art von Graden ertheilten Tibd zu einer persönlichen Auszeichnung. Bisweilen überträgt der Herrscher den Prälaten die Ehren, welche früher dem Patriarchen allein zukamen. Letzteres geschah mit Philaretes, dem Metropoliten von Moskau, und mit dessen Schüler Isidor, dem Metropoliten von Petersburg und Nowgorod. Mit der Besoldung verhält es sich in mancher Hinsicht ebenso. Wie mit den Titeln: die Bischöfe werden durch diese zwiefachen Bande in Abhängigkeit von der Centralgewalt erhalten. Der Zuschuss aus dem Staatsschatze ist nicht fiiirt, oder richtiger: er macht nur den geringsten Theil der bischöflichen Einkünfte uns. Neben dem Gehalte giebt es Unterstützung seitens des Heiligen Synod. ferner die der Kirche gehörenden Wohnungen und Immobilien oder der Wohnungsgeldzuschuss, welcher an ihre Stelle tritt, schliesslich die Accidenzen und die freiwilligen Gaben. Aus diesen verschiedenen Quellen ßiessen zuletzt recht ansehnliche, wenn auch keineswegs übertriebene Einkünfte. Die Bischöfe, besonders die hervorragendsten, nehmen in der Gesellschaft einen hohen Bang ein, dessen sie übrigens ihr Verdienst gewöhnlich werth und würdig macht. Die Wahl der I«'"gierung und des Synod fällt meist auf einen geistig bedeutenden, fein gebildeten Mann von tadellosen Sitten. Bezüglich ihrer Tugend, Gelehrsamkeit und Beredsamkeit würden die Metropoliten von Moskau, ein Piaton, ein Philaretes, ein Macarius den grössten abendländischen Bischofssitzen nicht zur Unzierde gereicht haben: kein Prälatenstuhl Europas, weder Paris, noch Wien, noch Canterbury hat sich durch eme so bemerkenswerthe Reihe von Kirchenfürsten ausgezeichnet, und dasselbe, wie von Moskau, könnte man beinahe von Petersburg sagen, was also diesen Punkt anlangt, so brauchen die frommen Seiden es nicht zu bedauern, dass Bussland nicht zu der von Klerus und Baien gemeinsam vorzunehmenden Wahl der Bischöfe zunickgekehrt *st. Intriguen vermögen hier, wo es sich um Zulassung zum Episkopat handelt, wenig oder nichts auszurichten; und es ist also in Bussland damil nicht, wie in der Türkei, wo die Stufenleiter der Hierarchie oftmals nur unter grossem Kostenaufwand zu erklimmen ist. Unter dem Scepter der orthodoxen Zaren ist die russische Kirche von dem lief eingewurzelten Uebel der byzantinischen, von der Simonie, verschont geblieben. Das äussere Leben der russischen Bischöfe ist von einem gewissen Luxus umgeben, ihr inneres Dasein hingegen ist ernst und beschwerlich. Sie sind, dem Canon gemäss, an ihren Wohnsitz gefesselt; es sei denn, dass ihres Fürsten Vertrauen sie beruft, an den Sitzungen des Synod Thcil zu nehmen. Sie verlassen ihre Bischofsstadt kaum ein andermal, als wenn sie ihre beschwerlichen Birtenreisen durch die ungeheuren Diöcesen unternehmen. Dem Kloster entstammend, haben die Bischöfe in einem solchen gewöhnlich ihr Domizil. Auf dem Wege von einer Indien kirchlichen Würde zur anderen und mitten unter den höchsten Ehrenämtern des Staates beobachten sie die strenge Enthaltsamkeit der Mönche. Bei ofliciellen Festessen, ja selbst an der Tafel des Zaren rühren sie keine anderen Speisen an, als Gemüse und Fisch. Ks ist eine ausgemachte Sache, dass bei ihren Pastoral-Visitationen die weltliche Eitelkeit der sie bewirthenden Laien sich nicht dabei beruhigt, ihnen die fetten Sterlets aus der Wolga oder der Dwina anzubieten, sondern sieh — so heisst es wenigstens — auch erlaubt, sie mit der uchä zu regaliren.1) Die Bischöfe haben nicht nur auf den über ihnen stehenden Synod Rücksicht zu nehmen, sondern müssen auch noch die Meinung eines ihnen beigegebenen kirchlichen Käthes hören, welcher in der Diöcese eine ähnliche Bolle spielt, wie der Heilige Synod im Reiche: das ist das sogenannte Exarchial-Konsistorium, eparchialnäja konsistn-rija. Die Mitglieder dieses Käthes werden vom Bischof vorgeschlagen und vom Synod ernannt; ihre Entscheidungen und Beschlüsse aber haben nur Gültigkeit, wenn der Bischof sie bestätigt. Diese. Konsistorien nehmen an der Administration der Diöcese Theil. Sie bilden die erste Instanz für jene noch der Kirchenjustiz unterstellten Angelegenheiten. Für die meisten Sachen, besonders die gerichtlichen, ist dann der Heilige Synod Appcllations- und Kassationshof, d. Ii. die letzte Instanz. Die den kirchliehen Gerichtshöfen unterworfenen Fälle können in zwei Hauptkategorien eingetheilt werden: die den Klerus betreffenden Disciplinar-Vergehen und die Eheschliessungen oder -Scheidungen. Diesen Zweig der Rechtsprechung, den sich die russische Kirche fast allein in der ganzen christlichen Welt bis auf den heutigen Tag vorbehalten hat, will sie auch nicht aus der Hand ') Uchä (yxii). magere Fischsuppe. lassen. Die schon von Peter dem Grossen verminderten Befugnisse dieser Tribunale sollten auf ein noch geringeres Maass reduoirt werden. Es war die Rede davon gewesen, ihnen die Soheidungssachen zu entziehen, um dem Bischof nur die Bestätigung der von den gewöhnliehen Gerichtshöfen gefällten Urtheile zu resorviren. Diese missliche Reform ist jedoch vorläufig aufgeschoben worden. Die Regierung hielt auf dem schon beschrittenen Wege inne, als die Kirche Widerspruch erhol) und der Heilige Synod seine Einwendungen machte, und sie bewies dadurch einmal aufs neue, dass sich die weltliche Macht auf kirchlichem Gebiete am wenigsten sicher und frei fühlt.1; Indessen ist die Konsistorial-Gerichtsbarkeit eine der schadhaftsten Stellen kirchlicher Verwaltung. Mit dem althergebrachten Verfahren linden sich bei den Diöcesan-Tribunalen alle Mängel der alten russischen Gerichtshöfe, als da sind: die bis zum Aeussersten gesteigerte Langsamkeit, der entsetzlichste Formalismus, ja sogar die Bestechlichkeit. Diese Fehler treten so recht augenfällig in den Heiraths- und Ehescheidungsangelegenheiten zu Tage, bezüglich derer die bürgerliche Gesellschaft noch zu der Kirche und ihren Konsistorien ressortirt. Trotz der Anstrengungen des Klerus und der Energie der meisten Bischöfe hat der Rubel in den Laienbureaus der Konsistorien noch keineswegs seine Macht ganz eingebÜSSt. — .,Ich weiss aus Erfahrung14, sagte eine geschiedene und wieder ver-heirathete Petersburger Dame zu mir, „was es kostet, ehe man die ZU einer Scheidung erforderlichen Dokumente zusammengebracht hat; tch kenne sehr genau die Farbe der Banknoten, welche man kluger Weise auf den Tischen der verschiedenen Beamten zurücklassen nvuss." pjnd so ist denn auch die legale Scheidung wirklich nur in höheren Klassen durchführbar, woraus Bich wiederum die verhältniss-mässig sehr geringe Zahl der von den Diöcesan-Konsistorien aufgehobenen Klion erklärt.-) Die Kandleute, welche ja in mehr als einer Beziehung ausserhalb der Gesetze stehen bleiben, befreien sich von J) Ueber die ()rganisation der kirchliehen Gerichtshöfe und die projektiven Reformen, siehe Bd. II, Buch IV, Kup. II. .*) Für das .Tahr 1880 zum Beispiel verzeichneten die Berichte des Ober-l'roknmrs des Heiligen Synod 920 Scheidungen oder Nichtigkeitserklärungen v<)" Khon. welche folgendermasson motivirt waren: .'52 wegen Bigamie eines der hatten; 17 wegen Impotenz; 121 wegen Ehebruchs; 482 wegen dauernden Ver-laasenB; 259 wegen Verurtheilung zur Zwangsarbeit oder zur Deportation; •' Rhen endlich wurden für ungültig erklärt, da sie zwischen Verwandten verbotener (i rade geschlossen waren. Man ersieht daraus, dass der Ehebruch nicht die einzige Ursache ist, welche die Kirche als Scheidungsgrund betrachtet. dieses kostspieligen Formalitäten: diejenigen, welche nicht miteinander in gutem Einvernehmen leben können, lassen ihren Hund durch die Versammlung des „Mir"' oder durch den Gerichtshof ihres Amtsbezirkes auflösen.l) Bei jedem Konsistorium ist ein dem Laienstande angehöriger Sekretär angestellt, dessen Amtspflichten im Diöcesen-Rathe an die des Gber-Prokurators beim Heiligen Synod erinnern. Dieser Sekretär steht an der Spitze der Exarchial-Kanzlei, welche mit der Abfassung der vorkommenden Schriftstücke und mit der Korrespondenz betraut ist. Vom Synod auf Vorschlag des Ober-Prokurators ernannt, bleibt jener Beamte unter der unmittelbaren Jurisdiktion des Letzteren. An diesen direkt sendet der Sekretär seine Berichte, während der Bischof und das Konsistorium die ihrigen dem Synod einreichen. Wie die meisten Angestellten der kirchlichen Kanzleien, stammt auch dieser Laien-Beamte gewöhnlich aus einem geistlichen Hause. In dieser ganzen grossen Verwaltungsmaschinerie sind der Ober-Prokuror und seine Haupfassistenten fast die Einzigen, welche nicht durch ihren BildungS- und EntwickelungSgang mit dem Klerus enger vorknüpf! sind. Der Einfluss des Sekretärs und der Kxarchial-Kanzloien auf die Eingaben, auf die Ernennung für die einzelnen Stellen und auf die Entscheidung der Prozesse hat die Bestechung auch durch die Pforten der Kirche eingehen lassen. Bis zu den Konsistorial-Sekretären hinauf erstrecken sieb die meisten Missbräuche auf dem Gebiete kirchlicher Verwaltung und Justiz. .Man hat Leute darunter gesehen, die sich förmlich zu Ehescheidungs-Unternehmern aufwarfen und alle IHilfsmittel ihrer reichen Erfahrung in den Dienst einander überdrüssiger, sich schlecht vertragender Ehegatten stellten; welche sogar selbst demjenigen Theile. der einen lingirten Ehebruch -) konstatiren lassen wollte, die nöthigen Zeugen stellten. Die russische Literatur hat diese sich einer so gewinnbringenden Specialität widmenden Kirchen-Burcaukraten mehrmals behandelt.8) Um diesen Schaden zu kuriren. bat man die Sekretäre der Konsistorien unter eine sorgfälligere Kontrole gebracht und gleichzeitig ihr Gehalt erhöht. Die Grundlagen der Diöcesen-Vonvaltung sind nicht umgeändert worden; hier herrscht noch ganz die Konstitution der Kirche. In jeder Diöcese wie im Synod hat man neben den kirchlichen Autoritäten einen Laienbeamten beibe- *} Siehe Bd. 11, Buch IV, Kap. II. 2) Siehe weiter oben in demselben Buche, Kap. IV. :1) So z. B. der Wästnik Ewropy (Jan. 1879) in einer Novelle, die „Ein Specialist" betitelt ist. halten, eine Organisation, welche nach mancher Seite hin an unser Justiz-System mit seiner doppelten und parallelen Hierarchie von Richtern und Staatsanwälten erinnert. Der Heilige Synod greift in die Administration der Diöcese heinahe in derselben Weise ein, wie ein Minister des Innern in die einer Präfektur. Daher eine ungeheure Korrespondenz und die erdrückende Masse von Aktenstössen. Der Bischof und sein Konsistorium müssen ehne Unterlass an den Synod über alles, was einigermassen von Wichtigkeit ist, Bericht erstatten: wegen der Gründung oder des Eingehens einer Kirche, wegen der Verwendung der Fonds oder der Almosen, wegen der Absetzung eines Priesters oder der Erneuerung der Gelübde desselben muss die Genehmigung des Synod eingeholt werden. Will der Bischof auf länger als acht Tage seine Diöcese verlassen, so bedarf er der synodalen Erlaubniss und in jedem Jahre aal er genaue Angaben über den Stand seiner Exarchie, über die kirchlichen Schulen, den Empfang der Sakramente und über die in den Kreisen Andersgläubiger bewirkton Bekehrungen vorzulegen. Diese Verwaltungs-Vormundschaft erklärt sich aus den der russischen Kirche und dem russischen Reiche eigenthüinliolien Verhält-nissen. Die gewalligen Entfernungen haben jedem Rekurs gegen die Missbr äuche der lokalen Macht lange Zeit derartige Schwierigkeiten m den Weg gelegt, dass die Regierung in allen Zweigen der Verwaltung zu möglichster Centralisation geführt wurden ist. Die Ein-theilung des Klerus in zwei heimlich mit einandei rivalisirende Klassen machte die Kontrole der centralen Macht noch notwendiger. -Je mehr der Bischof und die höhen', dem Cölibat unterworfene Geistlichkeit durch ihre Lebensweise oder ihre Interessen von dem ver-heirätheten Klerus getrennt waren, um so lebhafter trat das Bedürfniss Giner die Gegensätze ausgleichenden, unparteiischen Gewalt hervor. Dies ist — worauf bisher noch nicht genug geachtet wurde — eine der Ursachen, welche den Einfluss der ('ivilbehörde bei der Kirche erklärlich erscheinen lässt. In der römischen Kirche, wo der Klerus nicht in der nämlichen Weise zwei Klassen bildet, sah sich der Priester noch öfters der Allmacht des Bischofs preisgegeben, so dass er gegen dieselbe Schutz suchen musste. Diese Protektion, welche er seit der Revolution nicht mehr vom Staate reklamiren konnte, hat der niedere Klerus von Rom erbeten. Hier haben wir es mit einem Motiv des Bltramontanismus unter der französischen Geistlichkeit zu thun. Dem russischen Klerus, der weder ein nationales noch ein ausländisches überhaupt hatte, blieb nichts anderes übrig, als seine Zuflucht zur Staatsregierung zu nehmen, um einigermassen vor den Uebergriffen des bischöflichen Despotismus gesichert zu sein. Die Garantien, welche der katholische Priester beim Papste im Ultramontanismus11 gesucht hat, die fand der orthodoxe Pope am Throne des Zaren in der Intervention des Staates. Lastet also die Staatsgewalt auf dem oberen Klerus etwas schwer, so schützt sie dafür doch den niederen-, für das schlichte Volk der Kirche ist also die gouvemeinentale Einmischung weniger ein Joch als eine Wohlthal. IN gäbe eine ungeheure Arbeit zu bewältigen, wollte man der Kirche mehr Leben und Freiheit gewähren, denn das eine lässt sich kaum ohne das andere bewerkstelligen. Man hat, selbst in Russland, oft genug über die zur Hebung der geistlichen Autorität geeigneten Mittel hin und her gesonnen. Auf Anrathen von Aksakow und Katkow hat sich die kaiserliche Regierung entschlossen, der Hierarchie ein Recht zuzugestehen, welches den meisten Regierungen von jeher als bedenklich erschienen ist. Die Bischöfe, deren Stellung das „Reglement" Peters des Grossen möglichst zu isoüren bestrebt war, sind ermächtigt es wäre vielleicht richtiger, zusagen: aufgefordert worden, sich zu bestimmten Kreis- oder Landschaftsversammlungen zu vereinigen. Die russische Kirche hat also wieder zu sehen bekommen, was der französischen, ausser während ganz kurzer Zeit, unter der zweiten Republik, lange unbekannt war. nämlich "Provineial-Konzilien. Freilich ist zu bedenken, dass diese russischen Konzilien ohne die Erlaubniss des Synod, oder was dasselbe besagt: der Regierung weder tagen, noch berathen noch irgend eine Bestimmung erlassen können. Kiew, Wilna, Kasan und selbst Irkutsk und mehrere andere Landschafts-Hauptstädte haben derartige Versammlungen in ihren Mauern gesehen. Aber diese Episkopal-Höfe haben sich infolge eines der Kirche von der Hand der Ober-Prokuratoren gegebenen Winkes wahrscheinlich nicht sowohl mit den Interessen des Klerus und mit den inneren Reformen der Kirche beschäftigt, als vielmehr mit der Bekehrungsfrage. Einige, slavophile Tendenzen vertretende Orthodoxe hatten unter Alexander IDT. diese Vereinigung der Bischöfe zu Moskau als eine Art nationalen Konzils aller Reussen befürwortet und als begehrenswerth gepriesen; dies sollte in Wahrheit ein ökumenisches Konzil des gesummten Orients sein, dessen Aufgabe es gewesen wäre, die Verbindung der Kirchen griechischen Ritus fester zu knüpfen und einen intimeren Zusammenhang zu schaffen. An den nöthigen ..Fragen" zur Besprechung und Entscheidung würde ') Anm. d. Uebers.: In der eigentlichen, nicht in der landläufigen Bedeutung des Wortes. es allerdings einem solchen Konzil nicht fehlen; indessen ist es doch zweifelhaft, ob die russischen Zaren lange Zeit hindurch bereit sein würden, ein derartiges Konzil bestehen zu lassen, oder ob die fremden Regierungen sich beeilen würden, dasselbe mit ihren Bischöfen zu beschicken. Ausser der Erneuerung der Provinzial-Konzilien, könnten mancherlei Reformen in der Kirche vorgenommen werden, wenn die herrschenden Sitten und Gewohnheiten danach angethan, mit anderen Worten: Land und Volk für dergleichen reif wären. Vielleicht Hessen sich, dem Wunsche gewisser Publizisten gemäss, die kirchlichen Wahlen wieder einrichten; man könnte in fast allen Dingen zu der früheren Disciplin zurückkehren. Zugestanden, dass eine solche Rückkehr zur Vergangenheit immer ein Fortschritt wäre, so würde sie weniger schwierig in der grüko-russisehen, als in der römisch-katholischen Kirche sein. In der einen entstammt die Centralisation einem theologischen Princip, dem Innern, dem Herzen der Kirche sogar; in der andern dagegen folgt sie nur einem politischen Princip und kommt von aussen her, von der staatlichen Macht. Ja, man könnte allerlei Umgestaltungen in der russischen Orthodoxie zu Wege bringen, wenn, wie schon erwähnt, Umstände und Sitten dem günstig und geneigt wären, was leider in sehr geringem Grade der Fall ist. WTie dem aber auch sei: wenn es ein Land giebt, in welchem sich die Kirchliche Gesellschaft nicht von der bürgerlichen loslösen kann, so ist es Russland, und die religiösen Gepflogenheiten und Gebräuche werden sich dort immer nur zugleich mit den politischen umformen kennen. Was die Freunde der Kirche wünschen können, ist nicht die Abschaffung der bestehenden Einrichtungen, sondern deren allmälige Erweiterung und progressiven Ausbau, so dass sie mit den geistigen Bedürfnissen ebenso wie mit der Civilregierung in stetem Einklang bleiben. Wenn der Staat auch ferner die Ueberwachung der kirch-lichen Verwaltung für sich in Anspruch nimmt, so sollte er es sich versagen, die weltliche Macht auf konfessionellem Gebiete, den Klerus aber in staatlichem und politischem Interesse zu verwenden. Nach dem Ausspruche eines der beredtesten Panogyristen der Orthodoxie »soll der (Haube nicht äusseren oder auf das Ausland sich lichtenden Zwecken einer engherzigen amtlichen, konservativen Gesinnung unterworfen und dienstbar sein. Ks ist nicht gut. dass man der Kirche aufgiebt, in einem gegebenen Momente alle Erscheinungen und Zustände der politischen Ordnung zu segnen und zu weihen!"1) Das *) G. Samarin, Einleitung in die Werke Khomiakows. Leroy-Beauli eu, Reich d. Zaren u. d. Huaacn. Iir Bd. 14 Interesse der Religion verlangt, dass die Einmischung des Staates in die kirchlichen Angelegenheiten eine geregelte und gemässigte sei. Das Interesse der Kirche und des Landes widersetzt sich jedoch in gleicher Weise einem vollständigen Aufgehen des staatlichen Einflusses auf das Kirchenregiment; denn würde die Kirche allzu voreilig sich selbst überlassen, so triebe man sie damit der Unwissenheit und dem Schlendrian in die Arme. Nach der im Volke herrschenden Meinung ist der Hauptgrund der Jahrhunderte langen Betäubung und Regungslosigkeit der Kirche in ihrer Abhängigkeit von der bürgerlichen Macht zu erblicken. Der sorgsame Beobachter jedoch gelangt bisweilen zu ganz anderen Schlüssen; er macht die Entdeckung, dass im modernen Russland die meisten Fortschritte und Reformen auf kirchlichem Gebiete der Initiative des Staates zu verdanken sind. Für diese Erscheinung giebt es zwei Erklärungsmomento. Krstens ist der kirchliche Geist im allgemeinen konservativ und stationär, sodass, um ihn vom Platze und zu Reformen zu bewegen, meist äussere Einflüsse wirken müssen. Zweitens ist in Russland der Impuls zu irgend wehdien Aenderungen u. dgl. fast immer von oben, d. h. vom Throne ausgegangen; und zwar geschah dies, weil die Machthaber, Dank der Berührung mit dem Abendlande, allezeit gebildeter und erleuchteter waren, als die Nation, die grosse Masse des Volkes. Mit diesem historischen Faktum hat du Kirche ebensp wie der Staat rechnen müssen. Bei einem so durch und durch religiösen Volke hätte die Kirche allerdings ein Recht, ihren Antheil an dem grossen Werke der nationalen Wiedergeburt zu fordern; wenn sie dabin nicht nachdrücklicher mitgewirkt hat, wenn eine beträchtliche Anzahl von Projekten nicht gewinnbringend waren und viele .Massregeln verkehrt zur Ausführung gelangten, so darf man die Schuld daran nicht immer auf den Staat wälzen, sondern sie ist oft genug in der dumpfen, halsstarrigen Widersetzlichkeit oder in der ausweichenden Haltung der Kirche zu suchen. Diese scheinbar so abhängige und gefügige Kirche besitzt der staatlichen Macht gegenüber mehr Mittel, als man denkt; und versagen die anderen, SO bleibt ihr stets noch dasjenige der Beharrung und des Widerstandes. In der kirchlichen Gesellschafl sind, mehr als anderswo, der Schlendrian, die althergebrachten Feberlieferungen und der Corpsgeist den Neuerungen im Wege. So kann die weltliche Macht auf die Kirche nur einwirken durch die Kirche selbst, durch die Hierarchie. Anstatt durch die Einmischung des Staates, können die kirchlichen Reformen demnach auch durch das (legentheil, die Zaghaftigkeit, Fahrlässigkeit und Schwäche der weltlichen Macht gehemmt werden. Die Regierung ruft nicht gern das Misslallen des Heiligen Synod oder die Unzufriedenheit des Klerus hervor und fürchtet vor allen Dingen, den einfältig frommen Sinn des unwissenden Volkes zu verletzen. Darum ist denn natürlich mehr als eine Reform aufgeschoben worden; so z. B. die Gleichstellung der Raskolniks, die Säkularisation der ,Iu>ti/, oder iler ('ivilstands-Register, die Annahme des Gregorianischen Kalenders und die Abschaffung der geistlichen Censur. In diesen Dingen — das kann nicht oft genug wiederholt werden — ist die Autokratie nichts weniger als allmächtig: die Sitten, die herkömmlichen Gewohnheiten sind starker als der Selbstherrscher. Der Kaiser hal zwar, wenn man so will, die Regierung der Kirche in Händen, kann sie aber nur führen, wenn er ihre Traditionen und oft sogar ihre Yorurtheile gebührend berücksichtigt. Achtes Kapitel. Der schwarze Klerus, die Klöster und die Mönche. — Eintheilung des Klerus in zwei Klassen. Uebergewicht der Klostergeistlichkeit. — Charakter des russischen Mönchthums. — Der Mangel an Mannigfaltigkeit hei demselben. Seine historische Bedeutung. Die grossen nationalen Klöster. — Relativ geringe Anzahl der Mönche und Nonnen. — Das Anwerben der Mönche. Ihre Lebensweise. — Wie die Klöster zu einer Staats-Institution wurden. — Ihre Eintheihmg. — Ihre Güter und die ihnen zu (Jcbotc stehenden Hülfsquellen. Ihre Werke. — Die Frauenklöster. Die Betschwestern. Die barmherzigen Schwestern. In Bussland bildet der Klerus nicht nur eine Körperschaft, sondern vielmehr eine Klasse. Bis vor garnicht langer Zeit war derselbe nicht nur, wie in Frankreich vor der Revolution, einer der Stände des Staates, sondern stellte sogar eine Kaste vor. Piese seit langer Zeit in sich geschlossene und noch heute erbliehe Kastel) macht eine der vier oder fünf Klassen (Sosldwija) ill's, in welche die Nation zerfällt, und theilt sich dann selbst wieder in zwei verschiedene und oft mit einander wetteifernde Unterab-theilungen: die Popen und die Mönche, den Weltlichen oder Pfarrklerus und die Ordens- oder Klostergeistlichkeit, nach dem »Olksausdruck: den „weissen" und den „schwarzen" Klerus. Diese '»ezeiclinung entspricht jedoch dem Unterschied der Trachten Gicht. Wenn auch die Mönche in Schwarz einhergehen, so sind doch die weltlichen Geistlichen nicht weiss gekleidet, sondern sie fügen dem Schwarz nur bräunliche oder andere dunkcltönigc Farben ') Siehe Bin„l I, n„ch V, Kap. 1, p. g'JD. I I ' hinzu. Mönche wie Popen tragen ohne Unterschied Lange Bäfte und lang herabwallendes Haar; das hauptsächlichste Abzeichen der ersteren ist ein grosser schwarzer Schleier, welchen sie nach rückwärts über ihre Frisur herunterhängen lassen. Den wesentlichsten Unterschied zwischen beiden haben wir in der Ehe zu erblicken. Der schwarze Klerus lebt im Cölibat; der weisse, welcher besonders die Kaste bildet, ist verheirathet. Dieser Gegensatz, diese Art von Dualismus der Priesterschaft findet sich in allen Kirchen des Morgenlandes wieder, bei den mit Rom verbundenen Orientalen wie bei allen übrigen. Nur die Melchiten, jene orthodoxen Griechen Syriens, bilden, wie wir Grund zu glauben haben, eine Ausnahme; denn bei ihnen hat schliesslich der Cölibat-Klerus den verheiratheten ausgestochen und unterdrückt. Bei andern orthodoxen Völkern dürfte man eines Tages den umgekehrten Verlauf beobachten. In allen orientalischen Kirchen schreibt die Tradition den Bischöfen Ehelosigkeit vor; dies ist das Princip der Herrschaft seitens der Ordensgeistlichkeit, das der Abhängigkeit und nicht selten der Eifersucht des verheiratheten Klerus. In jeder Konfession giebt es, sobald sich bei dem gewöhnlichen Priesterthum eine abgesonderte religiöse Miliz gebildet hat, Nebenbuhlerschaft zwischen dem Gros der kirchlichen Armee einer- und der Elitetruppe andererseits. Die russische Kirche, in welcher das ganze Aufrücken in höhere Stellen und alle Ehren ein Privilegium der klösterlichen Schaar waren, musste die nämliche Erfahrung machen. Der Widerstreit ist dort um so natürlicher, als der Unterschied zwischen den beiden Fraktionen der Priest erschaff ein so grosser, und der robertritt von der einen zur anderen so schwierig ist. Für den Popen ist die Ehe ebenso obligatorisch, wie das Cölibat für den Mönch. Zwischen beiden siebt das Weib als eine Schranke, welche nur durch den Tod oder — was selten geschieht — durch freiwillige Trennung der Gatten beseitigt werden kann. Natürlich hat die Verschiedenheit der Interessen bei beiden Arten des Klerus ein Auseinandergehen der Tendenzen zur Folge gehabt. Der schwarze Klerus will seine Herrschaft aufrecht erhalten und der weisse sucht sich von derselben zu befreien: so besteht denn zwischen beiden ein Kampf um den EinJluss, ein beharrlicher, oftmals unbewusster Wettbewerb, nicht aber offene oder erklärte Feindschaft. Von dem materiellen Gebiete der Interessen und der Macht ist die Rivalität bisweilen auf das geistige Territorium, in die religiöse Sphäre im eigentlichen Sinne hiniihergespielt wurden. .Jene beiden Kategorien von Geistlichen sind durch ihre Situation selbst unfrei- Willig zu den beiden entgegengesetzten Pulen des Christenthums hingezogen worden; der eine hat sich mehr der Tradition und der Unterordnung unter eine bestimmte Autorität, der andere mehr den Neuerungen und der Freiheit zugeneigt. Es existirt also für die russische Kirche, wie von uns schon weiter oben bemerkt wurde, das Bild zweier Parteien, welche der high church und der low church der anglikanischen Kirche mehr oder minder ähnlich sind. Ks fehlte nur noch, dass die russische Kirche heut analogen Konflikten ausgesetzt wäre, wie jene. Die Macht der Tradition und das Einheits-bedürfniss werden sie noch lange vor jedem offenem Kampfe und jeder tieferen Spaltung bewahren. Die beiden Kleri werden neben einander fort leben, ohne dass der Triumph des einen vollständig genug sein wird, um die Vernichtung des anderen herbeizuführen. Vu„ diesen beiden Nebenbuhlern ist der eine boaohtensworther durch seine Macht, sein Wissen, seine traditionelle Stellung, der andere durch seine Anzahl und seine sociale Lage; jener hat eine grössere Vergangenheit hinter sich; diesem ist vielleicht eine längere Zukunft beschieden. — Wir werden mit dem ersteren, dem höheren, also mit dem schwarzen Klerus heginnen. Die Klöster und die Mönch«; haben lange Zeit eine hervorragende Stelle in der Existenz Busslands eingenommen und noch heute stehen diese grossen, ausgedehnten Monastorion als die bemerkenswerthesten Denkmäler seiner Geschichte da. In keinem anderen Lande ist die Polle der Mönche bedeutsamer gewesen, obwohl sie nicht immer dieselbe war, wie im Abendlande. Das orthodoxe Orientale Möndi-thum hat nicht so viele verschiedenartige Zweige getrieben und — um bei dem Bilde zu bleiben — keinen so komplicirten Blüthenstand gehabt, wie das römisch katholische; anstatt sich in eine Menge verschiedener Brüderschaften und Orden zu spalten, hat es Jahrhunderte lang eine alterthümliche Einfachheit bewahrt und ist Dach Helen Seiten hin völlig primitiv geblieben. Wie jedes Ding, so bat auch der klösterliche Geist im Orient weniger Beweglichkeit, Mannigfaltigkeit und Fruchtbarkeit gezeigt als im Oecident. Russen und Griechen kennen nur die ersten Formen des Mönchswesens, die des Mittelalters, der Zeit vor St. Bernhard oder wenigstens vor St. Dominik und St. Franziskus. Die orientalischen Mönche haben von den zwei grossen Richtungen des religiösen Lebens, der aktiven und kämpfenden einerseits und der kontemplativen und asketischen andrerseits, stets der letzteren den Vorzug gegeben, derjenigen also, welche sich am besten dem morgenländischen Geiste anschmiegte. Bei ihnen ist Martha immer der Maria geopfert worden. Die meisten orthodoxen Klöster sind zum Zwecke strenger Buss-übungen und als Stätten des Gebetes und ernster Beschaulichkeit gegründet worden. Weder das Bedürfniss, sich im Kampfe gegenseitig beizustehen, noch der den Seelen eigene Hang zum Guten haben ehedem die Monasterien Kusslands bevölkert, sondern die Vorliebe für ein stilles Leben in aller Zurückgezogenheit und der Verzicht auf die Welt mit ihrem Lärm und Hader. Die Feinde, denen man hier, nach dem Beispiel der rauhen Athleten von Thebais, ohne andere Waffen als Beten und Fasten eine Schlacht liefern wollte, waren das rebellische Fleisch mit seinen Lüsten und der Drache der Versuchung. Haben es nicht die Eremiten von Petschersk auf solche Weise durch schwere Kasteiungen dabin gebracht, dass sie „irdische Engel und himmlische Blenschen4' genannt werden? Der russische Mönch hafte weder geistige Thätigkeit noch die Arbeit seiner Hände, weder die Werke der Liebe und Barmherzigkeit noch die christliche Propaganda im Auge, sendern nur sein eigenes Heil und die Abbüssung der Sünden des Jahrhunderts. „Die Aufgabe der Mönche'-, sagton noch unter Nikolaus die Brüder von Troiza zu dem Theologen Palmer, „besteht weder im Studium noch in Arbeit irgend welcher Art, sondern die Klosterbewohner sollen nur Messen singen, dem Heile ihrer Seele nachstreben und für die Welt Busse tliun."1) Sie fügten hinzu, dass der Asketismus allein der Lebensnerv des Christenthumes sei; wobei sie sich damit brüsteten, hierin treuere Anhänger des Glaubens zu sein, wie die Komischen, und indem sie gerade diese Erscheinung als ein Zeichen der Ueberlegenheit ihrer Kirche ansahen. Manchen unter diesen Mönchen des heiligen Sergius erschienen die beiden, Jahrhunderte alten Schäden der orientalischen Klöster, Vernachlässigung des Geistes und körperliche Unsauberkeit, fast als eine Tugend ihres Standes. Als sich Falmer nach einem nur wenige Tage Währenden Aufenthalt in ihren Zellen über Flöhe und anderes Ge-schmeiss beklagte, da antworteten ihm seine in diesem Punkte ohne ihr Wissen mit unserni Benolt Lahre2) übereinstimmenden Wirthe, dass jene Geschöpfe in einem Kloster durchaus nützlich wären, nämlich als Werkzeuge der Geduldsübung und der Ertödtung des Fleisches. Finden Mönch aus dem Volke ist der Anachoret der Wüste immer noch das Ideal; er erblickt dasselbe in dem Säulenheiligen?) oder christ- ]j W. Palmer: Notes of a visit to the Russian Church, p. 200- 201. -) Anm. d. Uebers. Benolt Lahre, gestorben 1783, ist wegen seiner unablässigen Kasteiungen berühmt geworden. a; Die russische Kirche hat zwei Säulenheilige aufzuweisen: Cyrill von Turow und einen heiligen Nikita, beide aus dem 12. Jahrhundert. Heben Gymnosophisten, der, nur mit seinem langen Bart bekleidet, noch heute auf den Gemälden in russischen Klöstern eine Hauptrolle spielt, und die heiligen lebendig Begrabenen, welche die Katakomben h'i»'\vs beherbergen. Die Namen der Eüöstei erinnern denn auch an Ober-Egypten; die grösseren heissen lavra, die kleinen skit oder püstin. Ihre Krypten sind weniger das Grab der Todten als die "Wohnung der alten Anachoreten, welche sich nach dem Beispiel der Wüsteneinsiedler in jene Grotten zurückgezogen haben. Solche ilöhlenhe-hausungen wie das sacro-speco des heiligen Benoit zu Subiaco oder die «ueva des heiligen Ignatius zu Manresa scheinen auf die fromme Einbildungskraft des Volkes nach wie vor ihren alterthümlichen Reiz auszuüben. In der Nachbarschaft des skit Gethsemane bei Troiza kann man Katakomben besuchen, in welchen moderne Naeheiferer der Heiligen von Kiew sich Jahre lang in unterirdischen Zellen fern v.....len Menschen und vom Tageslicht verborgen halten. In der Krim, im Himmelfahrt-Kloster bei Raschtschi-Sarai haben sich Mönche zwischen Himmel und Erde in luftigen Grotten eingerichtet, welche in die Abhänge des Felsens gesprengt und durch gebrechliche Holzgalerien unter einander verbunden sind. Dieses Troglodytenkloster existirt noch nicht ein Jahrhundert lang. Im Volke ist der Geschmack arn Eremitenleben muh keineswegs erloschen, und wenn auch der »Staat nicht die Anlage solcher Einsiedlung gut lieisst, so werden dergleichen doch von den dissidentischen Soktirern in entlegenen, einsamen Gegenden bisweilen errichtet. Bei derartigen Tendenzen war eine einzige Mönchsregel ausreichend, wie im Abendlande lange Zeit die Vorschrift des Sankt Benoit aHein genügt hat. In Russland, wie überhaupt im ganzen Orient herrscht die Regel des heiligen Basilius, deren weniger sorgfältig durchdachte und weniger s\stematische Bestimmungen nicht im entferntesten den. weise erwogenen ul|d mit einander verknüpften Vertonungen der meisten katholischen Brüderschaften oder Kongregationen verglichen werden können. Jene Kegel, in Form von Antworten auf alle möglichen Fragen abgefasst, zeichnet kaum mehr als die Grundlagen des mönchischen Lebens vor, ohne dasselbe durch strenge Observanzen eng zu umgrenzen. Russland hat bezüglich des religiösen Lebens wie in Betreff des Glaubens dem, was die Griechen ihm seinerzeit brachten, nichts hinzugefügt: es besass keinen Orden, der ihm selbst seinen Ursprung verdankte. Vergebens haben die russischen Klöster in verschiedenen Epochen allerlei Reformen über s:"1' ergehen lassen: nichts Originelles ist dabei herausgekommen. M»t ihrem Ideale blieben sie immer zurück; ihre Vorbilder fanden sich stets im Auslande. So führte im elften Jahrhundert ein Mönch Namens Theodor in den Höhlen von Kiew — von wo aus sie weile Verbreitung fanden — die Statuten desKonstantinopler Studion-Klosters mit der Praxis des gemeinsamen Lebens ein. Die religiösen Milizen Russlands haben niemals jene wunderbare Mannigfaltigkeit der Truppengattungen, Waffen und verschiedenfarbigen Uniformen gezeigt, welche den Mönchsheeren des Abendlandes soviel Glanz und Macht verlieh. Deswegen hatten die russischen Monasterien nie den Anblick der grossen, gewaltigen Gestalten friedlicher oder kriegerischer Mönche, von Männern der That oder der Feder (die unter Umständen Politiker waren), welche die lateinische Welt oft so sehr in Aufregung versetzten. Russland hat Mönche gehabt, aber keine religiösen Orden; es hat Klöster aufzuweisen, aber nicht jene Vereinigungen, Republiken von Mönchen, welche innerhalb der Nation und der Kirche gewisser-massen geistliche Staaten bildeten. Ebenso wie fürunsre Benediktiner, sind die russischen Klöster bisweilen Kolonien, und weiterhin Depen-denzen gewesen, die dann natürlich von einander abhingen; indessen aus allen diesen Gruppirungen ist keine einzige mächtige Kongregation hervorgegangen. So .hat es dem mönchischen Leben gleichzeitig an Verschiedenheit und Zusammenhalt, an Mannigfaltigkeit und Einheit gefehlt. Daher haben die Mönche der Gesellschaft und der fortschreitenden Civilisation weder dieselbe Hülfe leisten noch dieselben Ungelegenheiten in den Weg legen können, wie im Oecident. Obgleich in Folge dessen auch der Einfluss der Klöster in Kussland nicht so vielseitig war, so ging er doch tief genug. Die Klöster lialion hei der Entwickelung der russischen Nation und Kultur eine analoge Aufgabe zu lösen gehabt, wie die der Mönche von Kolumban l) oder St. Benoit im katholischen Europa. Nicht anders als in Gallien und Germanien, sind auch hier die Mönche ebenso die Pioniere der Bildung wie des Christenthums gewesen. Wenn sie die barbarischen Stämme bekehrten, oder weite bisher unbekannte Distrikte erschlossen, so zogen sie den russischen Kolonisten nach sich und verpflanzten den Bauer tief in die Einöden des Nordens und Ostens. Mehr als eine Stadt hat sich um ein Kloster wie um einen Kern herum angesetzt und manch ein lange berühmter Markt hat an den Thoren eines Klosters seinen Anfang genommen; so z. Ii. die Messe von Maka-riew, die jetzt nach Nischni-Nowgorod verlegt ist. Auch in Russland wurden viele Klöster zu Pflege- und Zufluchtsstätten der Wissen- J) Anm. d. Uebers.: Ein irischer im Anfang des siebenten Jahrhunderts gestorbener Mönch. Schäften, welche griechische Mönche mit aus Byzanz brachten. In dieser Hinsicht könnte sich keine unsrer Abteien mit Pctschersk in Kiew, wo Nestor und die ersten Annalisten1) schnellen, messen. Wenn man von irgend einem Lande sagen kann, es sei von Mönchen geschaffen und gebildet, so lindet dies auf Bussland seine Anwendung. Die Klöster haben hier einen weit nationaleren Charakter, als irgendsonstwo. In dem mönchischen Leben, wie in allen Stücken, hat sich die Religion dort mehr mit dem Volke identificirt. Während der Kämpfe gegen die Tataren, Litauer und Polen sind die Klöster die stärksten Bollwerke der Nationalität gewesen, als deren hauptsächlichste Agenten sie, infolge der Ausbreitung des Christenthums, anzusehen sind.2) Die Geschichte Russlands lebt fast ganz und gar in zwei grossen Lawren wieder auf: IVtscliersk, das Katakomben-Kloster am Ufer des Dnjepr, stellt in kurzer Zusammenfassung die erste, und Troiza die zweite Periode nationaler Existenz dar; jenes personificirt die Blüthezeil von Kiew und dieses die Macht-epoche von Moskau. Die russischen Monasterien waren Citadellen; an vielen von ihnen erblickt man noch heute die mit Schiessscharten versehenen Mauern: sie sind die Burgen des russischen Mittelalters. Die grössten unter ihnen sind wahre Städte von Kirchen und Kapellen: Pctschersk hat deren 16, Troiza deren 14, und Solowazk deren 7 aufzuweisen. Im übrigen linden wir in diesen russischen Lawren nichts, was sich mit den Architektur-Wundern der gothischen Abteien in Frankreich, England und Portugal vergleichen liesse. Bei mehreren dieser Klöster wird der Mangel an Kunstschönheit durch den Reiz des Malerischen ausgeglichen; denn in Russland haben sich die Mönche, ganz wie in anderen Ländern, stets die schönsten Plätze ausgesucht. Am Ufer eines Flusses, an einem See oder auf einer Insel erheben sich ihre Eremitagen; in den Wäldern ergriffen sie von herrlichen Lichtungen, in der Steppe von schattenreichen Oasen Besitz. Hoch ragen am Rande einer Schluchl die massigen, aus rothen Ziegeln aufgeführten Thürme von Troiza, welche den Folen, M Die Mönche von Kiew mögen immerhin das Grab des heiligen Nestor, des Annalisten (lätopiaez) zeigen; die Vaterschaft der unter jenem Namen bekannten Chronik bleibt dennoch zweifelhaft; viel wahrscheinlicher ist es, dass die Mönche selbst sie verfaast haben. Siehe L. Leger: Chronique dite de Nestor. 2) Dieselbe Beobachtung kann man bei den meisten orthodoxen Völkern machen; so bei den Griechen, Serben und vor allem bei den Bulgaren. Klöster wie das von Rilo sind auf der Balkan-Halbinsel die Zurluchtstätten des Slaven-thums gewesen. als sie Herren von Moskau waren, Halt geboten und Peter dem Grossen vor seinen empörten Strelizen Schutz gewährten. Bei einem Besuche, den wir diesem nationalen Heiligthume abstatteten, zeigte uns der führende Mönch bei einem Gange um die Mauern durch die Schiess-scharten die Aufstellung der polnischen Zelte und Kanonen, welchen letzteren diejenigen des Klosters (1608—1609) so kräftig geantwortet hatten. Die Lage von Pctschersk1) in Kiew ist noch weit grossartiger, auch knüpfen sich viel mehr Legenden an die Stätte dieses Klosters, welches die Wiege des russischen Mönchthums ist und der Aufenthalt zahlloser Heiligen war. Majestätisch blicken die rosenfarbigen Glockentürme und die goldenen oder azurnen, mit Sternen besäeten Kuppeln von den Hügeln am rechten Ufer des Dnjepr herab; zu Füssen des Monasteriums, auf der anderen Seite des mächtigen Stromes, dehnt sich eine weite saftig grüne Landschaft aus, eben und endlos wie das unbegrenzte Meer; und unter seinem Gemäuer belinden sich jene düsteren Katakomben, in denen die alten Anachoreten lebten, deren Leichen jetzt dort in aufrechter Stellung ruhen. In diesen Grabgalerien, die nicht breiter sind, als die Gänge in den römischen Katakomben, drängt sich am Morgen die Schar der Pilger. Von einigen Mönchen geleitet steigen sie, jeder eine Kerze in der Hand tragend, und mit heiligem Schauern dem Echo des altslawischen Chorgesanges, der zur Messe in den unterirdischen Kirchen ertönt, lauschend, in langen Reihen in dieses geheimnissvolle Labyrinth hinab. Aus der Nische, die ihre Wohnung war und nun ihr Grab ist, strecken die heiligen in den Felsenlöchern eingemauerten Asketen den Gläubigen die verdorrte Hand zum Kusse entgegen. Andere, kaum weniger berühmte Klöster: Simonow, Donskoi und Nowospaski, an deren Mauern sich vor Moskaus Thoren der Ansturm der Tataren brach, Sankt Georg in Nowgorod, Himmelfahrt in Twer, Solowezk am weissen .Meer, sie alle sind von glorreichen Erinnerungen umwoben und auch zu ihnen strömen unzählige Pilgerseharen. Diese Heiligthümer erhöhen in den Augen des Volkes die Bedeutung der Gegenden oder Städte, in denen sie liegen, und selbst Peter der Grosse, der sonst kein besonderer Freund der Mönche war, wollte seine neugegründete Hauptstadt nicht ohne einen solchen Gegenstand der Weihe lassen. Um den halb (inländischen Boden seiner Stadt mit dem deutschen Namen dem heiligen Kussland werth zu machen, veranlasste der Reformator die UeberfühnWg der Reliquien Alexander Newskis, des Saint-Louis der Küssen, nach St. Petersburg: der tapfere ') Petseherskii Monastyr, daa Kloster der (trotten, von peschtschera oder petschera = Höhlung, Höhle, Gruft, (trotte. Knjiis, welcher nicht weit von der Newa über die Schweden trimn-phirt hatte, konnte gewissermassen als Vorläufer des Siegers über Karl XII angesehen werden. Um das Grab des Nationalheiligen erhob sich bald, an den Thoren der Hauptstadt, ein gewaltiges Kloster, das — w;ls Keiohthum und Vorrecht anlangt — mit Troiza und Pet-schersk auf eine Stufe gestellt wurde. Mit Ausnahme der grossen Lawren ist die Bevölkerung der Klöster heute nicht mehr so stark, wie ehedem. Die Nation begiebt sich auf die Pilgerschaft zu ihnen, doch die Mönche, welche sich in ihnen ein-Bchliessen, sind verhältnissmässig gering an Zahl; oft scheinen sie kaum mehr als die Wächter jener LVligionsfestungen zu sein, die früher von Tausenden bewohnt wurden. Der allmälige Verfall des Mönehthums wird schon durch die geographische Vertheilung der Klöster herbeigeführt. Eine hierauf besonders Bücksicht nehmende Karte Kusslands würde ausserordentlich Lehrreich sein; man würde auf ihr die verschiedenen Etappen der slavo-russischen Kolonisation beobachten und verfolgen können, denn die Zahl der Klöster steht nicht im Verhältniss zur Dichtigkeit, sondern zur Anciennität der Bevölkerung. Die Meisten sehen wir in der Nähe der alten Städte °der in den alten staatlichen (leineinwesen von Kiew, Moskau, den beiden Nowgorod, Pskow, Tvver und Wladimir gruppirt. In den Gegenden jüngerer Kolonisation, auf der „schwarzen Erde" und in den tödlichen Steppen, sind die Klöster selten. Indessen werden in den °eu besiedelten Landstrichen stets einige errichtet, 80 in der Krim, Jm Kaukasus, wo russische Mönche die seit Jahrhunderten verlassenen Klöster wieder bevölkert haben; so in Sibirien und Centrai-Asien. In diesen entlegenen Kegionen werden die Klöster gewöhnlich vom Staate gegründet und auch dotirt; sie sind dort im öffentlichen Interesse etablirt und dienen der Kolonisation und der Bussifikation als Stützpunkte.x) Jedes Bisthum besitzt wenigstens ein Kloster, dessen Vorsteher berechtigtes Mitglied des Diöcesan-Konsistoriums ist. Heut giebt es ungefähr 550 Klöster im Reiche mit etwa 11 000 Mönchen und ES 000 Nonnen, also nicht ganz 29 000 Personen beiderlei Geschlechts, die zum schwarzen Klerus gehören.-) Kino solche Zitier in einem 'j Das Mtniasloritmi Issik-Kul, welches auf Staatskosten in Turkestan or-'':,ut wurde, hat unter Alexander 1 Ii. fruchtbare Ländereien und fischreiche Gewässer zugewiesen erhalten. ") Nach dein Rechenschaftsberichte des Prokuratora des Heiligen Synod (Lex. 1880) besass Bussland .'iHl Männer-Klöster mit 0772 Mönchen und 4107 Novizen, im (tanzen 10 879 Personen, — und 171 Frauen-Klöster mit 1941 Nonnen und 12 900 Novizen oder Laienschwestern, im Ganzen 17 907 Personen. so ungeheuren Reiche braucht niemand zu beunruhigen, um so mehr, als die Zahl der Mönche unverändert bleibt, also nicht wächst, wenn auch die der Nonnen sich etwas vergrössert. Nichts gleicht dort dem Schauspiel welches Spanien oder Italien unlängst noch boten. Trotz der vielseitigen Hindernisse, welche man bei uns dem Zuwachs der Kongregationen hereilet hat, zählt das orthodoxe Kussland mit einer fast doppelt so grossen gläubigen Bevölkerung fünf- oder sechsmal weniger Klosterleute, Brüder und Schwestern aller Art, als das katholische Krankreich: ja, vielleicht linden sich deren in seinem Ungeheuern Baume nicht einmal so viele, wie in dem winzigen Belgien. Eine Erscheinung indessen, welcher man nur in Russland begegnet, das sind die gewaltigen Mönchsstädte, wie Troiza oder l'etsohersk, die immer noch von minderten von Mönchen bevölkert sind. Sie lassen vor unsern Augen jene sagenhaften Asketenkolonien des Orients oder der Kerinisehen Inseln wieder erstehen. Das Katakombenkloster von Ksew birgt 600 Mönche und Nonnen in seinen Mauern. In derselben Provinz giebt es ein Erauenkloster, Florowo, das gegen 500 Nonnen beherbergt. Noch eine Bemerkung ist hier zu machen, dass es nämlich in Kussland wie in dem Frankreich alten Kegims mehr Männer- als Frauenklöster giebt, was im übrigen nicht verhindert, dass die Nonnen heutzutage der Zahl nach überwiegen. Den officiell in den russischen Monasterien untergebrachten Mönchen muss man jene irregulären Klostertrappen hinzuzählen, welche sich in den ausländischen Konventen und Abteien, besonders auf dem Berge Athos belinden; eins der ,,Hauptklöster" des heiligen Berges, das Pantalemon oder Rossicon, beherbergt ihrer allein 400 bis 500. Andere halten sich in den Klöstern zum heiligen Andreas oder zum Propheten Elias auf, oder führen in voller Abgeschlossenheit ihr Einsiedlerdasein.1) Ob Anachoreten oder Cenobiten, diese russischen Mönche des Athos sind zumeist als einfache Pilger, manche fast noch als Kinder zum Hagion Oros gekommen: die Schönheit des Landes, das wunderbar milde Klima, die mühelose Existenz und die ansteckende Wirkung frommen Müssigganges haben sie daselbst zurückgehalten. Sie leben hier in Freiheit und stiller, behaglicher Beschaulichkeit nahe dem azurnen Himmel, zu ihren Füssen die weite, herrliche Fläche des blauen ägaischen Meeres, fern von den Bestim- ') Ausser dem Pautalemon bilden noch zwei weitere grosse Monasterien des Athos, Zographos und Chilantari, in denen hauptsächlich Bulgaren und Serben leben, so zu sagen einen vorgeschobenen Slaven-Postcn auf Oer macedonischen I lalhinsel Chalkidike. mungen und der Kontrolle des kaiserlichen Heiligen Synod. Die Petersburger Regierang unterstützt sie zwar bei ihren Streitigkeiten und Zerwürfnissen mit den griechischen Basilianern, geht aber doch nicht so weit, sie als Mönche anzuerkennen, wreil die Gesetze verbieten, dass jemand ohne Autorisution den Schleier nimmt, und das Klostergelübde ablegt. Sie misstraut diesen freien Vertretern und Kolonisten der alten Mönchsrepublik, behandelt sie gelegentlich sogar als Deserteure und ermuthigt sie durchaus nicht zur Auswandrung, ja, sie bat ihnen schon Reisen und Almosen-Sammlungen in ihrem Vaterlande untersagt. Nichtsdestoweniger veranstalten die russischen Mönche vom Athos, unter Umständen als Laien verkleidet, recht ergiebige Kollekten, in Russland. Solche Sammlungen für die Eremiten vom Berge Athos bieten die schönste Gelegenheit die Leichtgläubigkeit des Volkes zu erkunden. Trotz der Sympathie, welche das Volk noch immer für das Mönchsthum hegt, ist dasselbe in Russland, wie im ganzen Orient, im Niedergänge begriffen; freilich ist es dort noch nicht so schlimm daran, wie in Griechenland und in den anderen orthodoxen Staaten, wo die schon jetzt der Zahl nach stark reduzirten Klöster demnächst völlig zu verschwinden drohen. Dies liegt übrigens nicht allein daran, dass unsre Civilisation den orientalischen Asketismus nicht aufkommen lässt und dass sowohl die allgemeine Bethätigung, als auch die Sicherheit des modernen Lebens dem Kloster viele Seelen entfremdet haben, Welche sonst dort Schutz und Ruhe suchten, sondern daran, dass das religiöse Leben im Orient nicht, wie bei uns, allen Schwankungen und Veränderungen der Gesellschaft Schritt für Schritt gefolgt ist, um sie entweder zu unterstützen oder aufzuhalten, und dass es sich dorl nicht durch Arbeit oder Werke christlicher Liebe unablässig erneuert hat. Ausserdem waren die beiden Erscheinungen, welche die Kirchen-geschichte des heutigen Russlands beherrschen, das Schisma oder raskol und die Einrichtung des Heiligen Synod den Klöstern fast in ganz gleicher Weise schädlich. Ersteres hat ihnen den gläubigsten Theil des Volkes fem gehalten, letzterer versetzte sie in eine dem frommen Leben wenig günstige Abhängigkeit. Die überaus freundliche Aufnahme, wrelche das Schisma in einigen von ihnen, z. B. in Solo-Wezk, fand, veranlasste die Kirche und den Staat um so eher, den Klöstern ein drückendes Joch aufzuzwingen. Eine fernere Ursache ihres Verfalles wurde die starre Opposition, welche sie der Reform Peters des G rossen entgegensetzten. l>ie staatliche Macht gab sich alle Mühe, die Anzahl, den Reichthum und den Einfluss dieser Zullucht- statten der alten Ideen zu vermindern. Alle möglichen Einschränkungen, welche dem Mönchsleben auferlegt werden konnten, ohne dass dadurch die Klöster selbst zu (!runde gerichtet wurden, haben sie durch Feter den Grossen und seine Nachfolger erfahren. Davon weist die Gesetzgebung noch heute Spuren auf. Ein Mann darf erst mit dreissig, eine Frau erst mit vierzig .fahren das Gelübde ablegen. Man kann nicht eher in ein Kloster eintreten, als bis man sämmt-liche Verpflichtungen gegen den Staat, die Gemeinden oder gegen Privatpersonen erfüllt hat. Der Mönch muss auf alle Vorrechte seines Standes, seiner Klasse, auf jedes Immobiliar-Vermögen, wie auf jede Erbschaft verzichten. Eine Zeit lang erlaubte Biron, der protestantische Günstling der Anna Iwanowna, nur verwittweten Priestern und verabschiedeten Soldaten den Eintritt ins Kloster, und Vokationen wurden nur auf Gutheissen des Heiligen Synod gestattet. Gegen I7öt) gab es noch 732 Männer-Klöster, die dann später auf weniger als 200 reduzirt wurden. Man vergriff sich nicht nur an den Gütern der Mönche und beschränkte ihre Zahl, sondern man drückte auch ihr religiöses Ansehen herab. Das geistliche „Reglement" ennuthigte sie zwar zu eifrigem Bücherstudium, verbot ihnen aber gleichzeitig bei der Strafe körperlicher Züchtigung, selbst schriftstellerisch thätigzu sein oder Auszüge aus ihnen zugänglichen Werken anzufertigen. Es wurde ihnen streng untersagt, in ihren Zellen ohne Erlaubnis ihrer Oberen Tinte und Papier zu haben, und zwar, wie das Reglement Peters des Grossen sagt, weil nichts mehr im Stande ist, das richtige und beschauliche Leben der Mönche zu stören, als ihre unsinnigen und zwecklosen Schreibereien. Die Klosterbewohner durften nur ein allen gemeinsames Tintenfass besitzen, welches mit einer Kette an einem der Tische im Refektorium befestigt war, und dessen sie sich nur mit Genehmigung ihres Vorstehers bedienen durften. Das waren freilich seltsame „Verbesserungen" für einen Bildungs- und Aufklärungsapostel. In dieser, wie in mancher anderen Angelegenheit, setzte Peter den Endzweck seiner Pelerinen durch die ungeeigneten Mittel, welche er gebrauchte, aufs Spiel. Ein solches Verfahren konnte das Ansehen des Mönchthums natürlich nicht heben, sondern brachte dasselbe um seinen ganzen Einfluss. Im schroffen Gegensatze hierzu behielten diese so sehr erniedrigten Mönche alle hohen kirchlichen Würden, und man liess den mit argwöhnischsten Blicken betrachteten Klöstern das Bischofs-Monopol. Die Aufrechterhaltung dieses Privilegiums wäre vollständig widersinnig, wenn dasselbe in Wirklichkeit dem gesummten Mönchsvolke zu Gute käme. Der Grund, darüber erstaunt zu sein, fällt jedoch sofort weg, wenn man erfährt, dass die grösste Zahl von Mönchen keinen Teil an jenem Vorrechte hat, sondern dass letzteres nur wenigen Auserlesenen Nutzen bringt, welche oft genug von einem Mönche nicht mehr als den Namen und das Gewand tragen. Unter scheinbarer Einheit und Einförmigkeit des inönchisehen Berufes gehen — wenn man so sagen darf — sehr verschiedene Existenzen und Talente neben einander her. Von den etwa zwei- bis dreihundert Menschen, welche jährlich das Gelübde ablegen, stammt reichlich die Hälfte aus Priesterfamilien; die übrigen gehörten bis dahin dem Kaufmannsstande au. waren Stadt-Handwerker oder Landleute. Das von den leitenden Klassen, dem Adel oder den freien Berufsarten gestellte Kontingent ist ein äusserst schwaches; denn das nach starren Formeln geregelte, fast gänzlich durch imiseliineumäs>ige Aiidnehtsübungen ausgefüllte Leben des russischen Mönches hat für gebildete Geister wenig Verlockendes. Dennoch verbergen sich unter der schwarzen Kutte hin und wieder Mitglieder der ,,höheren" Gesellschaftsklassen, so namentlich ehemalige Offiziere. Mir wurden mehrere Herren genannt, denen ein Kloster unterstellt war, welche früher Regimenter kommandirt hatten. Aehnlich dem P. Zosim in „Gebrüder Eoramasow" von Dostojewski, hatten sie in der Klosterzelle den Frieden der Vergessenheit gesucht und gefunden. Frühere Soldaten sind bei den Mönchen überhaupt keine Seltenheit; unter dem System des langen Militärdienstes vertauschten viele alte Haudogen die Filiform mit dem Ordenskleid und die Kaserne mit dem Kloster. Unter den aus den weiteren Volksschichten hervorgegangenen Mönchen giebt es wohl manchen, der dem Engländer Fletcher die gleiche Antwort ertheilen würde, wie der Klosterbruder von Wologda, als der Abgesandte der Königin Elisabeth ihn fragte: Warum bist du ins Kloster gegangen?" — und ihm Jener erwiederte: „Um in Ruhe essen zu können." — In drn Monasterien begegnet man gleichzeitig den beiden üusser-sten (iegen.sitzen, wie sie im Klerus zu Tage treten, den intelligentesten und den dümmsten Leuten, Feingebildeten und Rohen. In das Kloster treten ferner einerseits gereifte Männer ein, betagte Priester, welche das Alter herzuführt und die hier ein Obdach für ihren Lebensabend suchen, andrerseits aber auch jüngere Leute, welche diesen Schritt nur thun, um in die höheren Ämter und Würden der kirchlichen Laufbahn zu gelangen. Unter den vom Klerus gestellten Rekruten trifft man ebenso die bedeutendsten Persönlichkeiten, wie die dürren Früchte der Seminarien. Die Einen sind zu langwierigem Noviziat vorurtheilt und bringen es oft sogar nicht einmal bis zum Priester oder Diakonen (in Russland giebt es viele Mönche — wie es in den erstell Jahrhunderten der Kirche war — die nicht Priester sind); für die Andern ist das Kloster nur eine Durchgangsstation auf dem Wege zum Bischofssitze. Während im Abendlande, ausser in den Missionsgebieten, die Mönche in den meisten Fällen auf die Ehren des Episkopates und der Prälatur verzichten, schreitet man in Russland über die Schwelle des Klosters, um rascher vorwärts zu kommen. Entgegen dem uranfänglichen Verfahren und den einfachsten Gebräuchen des Mönchsordens, legt man die Kutte an, um sich später einmal die Mitra aufsetzen zu können. Wenn die Seminaristen zwischen Kirche und Welt die Wahl getroffen haben, müssen sie sich entscheiden, welchem Klerus sie angehören wollen: ob sie das Leben des Popen mit seinen Familienfreuden, oder das dos Mönches, welches den Zugang zu den Würden der Kirche eröffnet, vorziehen. Bis in die jüngste Vergangenheit wurden die kirchlichen Akademien einzig und allein von dem Mönchsklerus geleitet, der nichts unversucht liess, um junge, zu schönen Hoffnungen berechtigende Leute anzulocken. Während der .Jüngling zwischen den zärtlichen Regungen des Herzens und den seinem Ehrgeiz schmeichelnden Aussichten für die Zukunft unentschlossen schwankte, liessen ihn seine Lehrmeister den ganzen Zauber eines der Frömmigkeit geweihten Lebens schauen und suchten ihn durch Erregung seiner Eigenliebe in ihre Netze zu ziehen. Nicht selten griff man sogar zur List und beobachtete bei der Mönchsrekrutirung dasselbe Verfahren, welches die alten Werber da anwandten, wo es sich um die Vergrösserung der bewaffneten Macht des Königs handelte. Wenn man einem Buche glauben darf, welches vorgiebt, die Geheimnisse der russischen Klöster gründlich blosszulegen und zu enthüllen *), so hat es mehr als einen Prior gegeben, der einen noch unentschlossenen Seminaristen einlud, zum Trinken nöthigte und ihn schliesslich im Rausch ein Gesuch um Zulassung zur Mönchslaufbahn unterzeichnen liess; wenn der arme Schelm dann erwachte, so schmückte ihn, ohne dass er eine Ahnung davon hatte, die Tonsur, und die Kutte umhüllte seine Gestalt. Dergleichen trug sich im Anfang dieses Jahrhunderts auf der Moskauer Akademie unter dem Metropoliten Piaton zu. Solche Züge aber gehören einer schon verblassten Welt an. Gewöhnlich bedarf es solcher betrügerischen, mit Geschicklichkeit ins ]) 0 Prawuslawnoiu bjälom i tschernom DuchowcnstWä w Rossii: Bd. I, Kap. VII. Werk gesetzten Kniffe nicht: die Eigenliebe und das Elend des Lebens als Pope genügen, wenn es an der nöthigen Frömmigkeit fehlt, um diejenigen zur Anlogung des Klostergewandes zu bewegen, welche der keineswegs immer selbstlose Eifer des Priors dazu ausersehen hat. Sind die Gelübde erst einmal gethan, so giebt es nichts bequemeres und nichts Schnelleres, als die Carriere des Mönch-gewordenen Seminarschülers. Das Gesetz erlaubt — wie schon erwähnt — im Allgemeinen Männern nicht vor erreichtem dreissigsten Jahre, die Ablegung der Gelübde. Wieviel günstiger gestaltet sich das für den Seminaristen: hier steigt die legale Grenze bis zum fünfundzwanzigsten Jahre herab, und ausserdem braucht er kein Noviziat durchzumachen. Hat er seine Studien abgeschlossen, so wird er zum Seminar-Inspektor oder Professor ernannt; nicht lange darauf wird er Prior oder Rektor und kann unter Umständen Bischof sein, noch ehe er das reife .Mannesalter erreicht hat. Diese Bevorzugten gelangen bisweilen zu den höchsten Würden, ohne das klösterliche Leben recht geführt und innerhalb der Klostermauern längere Zeit geweilt zu haben. Sie sind, wenn man es beim rechten Namen nennen soll, eigentlich woniger Mönche, als dem Cölibat geweihte Priester; sie werden nur deswegen als Mönche angesehen, weil in Russland die Ehelosigkeit für gewöhnlich allein unter dem Schilde des mona-stischen Regimes zu finden ist. Zwischen diesen jungen Gelehrten, die von ihren confrates mit dem Spitznamen „Akademiker" belegt sind, und der grossen Masse der Mönche existiren wenig Beziehungen und wenig Sympathien. Obgleich also aus dem Kloster hervorgegangen, zeigen die Bischöfe nicht selten weder grosse Achtung vor dem Klosterleben, noch kümmern sie sich sonderlich um dasselbe; und so erblickt denn sowohl der schwarze, wie der weisse Klerus in diesem Mitra-geschmückten Mönche weniger einen Bruder, *als einen Herrn. Für die gewöhnliche, grosse Masse der Mönche giebt es kein Vorwärtskommen, sondern nur ein sich gleich bleibendes, einsilbiges Dasein, das zum grössten Theil mit ängstlich innegehaltenen, kleinlichen Andachtsübungen ausgefüllt wird. Die Sorge für den Unterhalt ihrer Klöster, der Gottesdienst in ihren Kirchen und das Absingen der langen Messen des griechischen Ritus, sind ihre Hauptbeschäftigungen; der Hand und Kopfarbeit wird nur eint; ganz untergeordnete SteUung zuerkannt. Nach den im griechischen Kloster herrschenden Sitten ist der Novize eigentlich selten etwas anderes, als der Diener der älteren Mönche; er hat gewissermassen, wie es schon das entsprechende russische Wort (poslüschnik) andeutet, die Aufgaben des Leroy-Beaulieu, Reich d. Zaren u. d. Bussen. III. Bd. 15 Gesindes zu erfüllen. Dalier sind auch die Ausdrucke „Novize" und „Laienbruder" im Russischen Synonyma. In diesen Klöstern bemerkt man nichts von den langsamen und gewissenhaften Einweihungsprozeduren, welche mit den künftigen Mönchen wälirend ihres Noviziats bei den katholischen Orden vorgenommen werden. Der russische Novize lernt von dem Mönchsleben nichts als die Routine, den althergebrachten Schlendrian; dieser bereitet ihn allmählig auf das rein mechanische Thun und Treiben der meisten Mönche vor. Bis in die jüngste Zeit war für eine wirkliche Gemeinsamkeit unter den russischen Mönchen noch sehr wenig gethan: mehrere Patriarchen oder Metropoliten hatten sich vergeblich bemüht, sie einzubürgern. Die grösste Zahl der Klöster stellte eine Vereinigung von Leuten dar, die zwar unter demselben Dache wohnten, ohne indess ein gemeinsames Leben zu führen. Wohl verrichtete man gemeinschaftlich die Gebete und speiste gewöhnlich zusammen; sonst aber hatte jeder seine Baarschaft, seinen Antheil an den Einkünften des Hauses, worüber ihm völlig freie Verfügung zustand. Der Heilige Synod geht jedoch jetzt mit der Absicht um, in allen Klöstern die Oemeinsamkeit des Lebens mit einer strengeren Disciplin einzuführen. Diese Reformen sind Sache der kirchlichen Centrai-Behörde, also schliesslich der Regierung. Die Klöster sind ja in Kussland keine Privat-Institute, sondern eine nationale, im öffentlichen Dienste stehende Einrichtung. Unter einer autokratischen Regierung können solche Vereinigungen nur unter der Bedingung bestehen, dass sie die Vormundschaft der Staatsbehörde willig über sich dulden. Wie die Kirche, so ist auch das Mönchsleben durch die staatliche Macht der bureaukratischen Wirthschaft unterworfen worden. Weit davon entfernt, wie im Abendlande, freie und mehr oder weniger selbständige Körperschaften zu sein, haben die russischen Klöster vielmehr sogar lange das Recht der Ernennung ihrer Prioren eingebüsst. Sie sind unter die unumschränkte Herrschaft des Heiligen Synod gestellt worden; ohne synodale Genehmigung kann kein Kloster gegründet, ohne sie darf kein Novize zur Ablegur.g der Gelübde zugelassen werden, und vor einer erst kürzlich eingetretenen Neuerung konnte sogar allein der Synod irgend eine mönchische Würde verleihen. Die Stellen der Hegumenen und Archimandriten, d. h. also der Abte und Prioren, waren fast zu Graden der kirchlichen Stufenleiter geworden. Die Klöster wurden häulig Bischöfen oder Episkopatsanwärtern gegeben, woraus eine Ordnung der Dinge entstand, welche eine gewisse Aehnlichkeit mit den Benolizien und Kommenden im älteren Frankreich hatte. Die Archimandriten oder Klostervorsteher erster Klasse waren Prälaten, die ganz bedeutende Revenuen, Equipagen und die schönsten Pferde hatten und durchaus nicht so wie ihre Mönche lebten, selbst dann nicht, wenn sie in ihrer Mitte wohnten. Der Heilige Synod hat sich damit befasst, diesen Missbräuclien zu steuern. Indem er den Klöstern ein ernsteres und strengeres Leben zur Pflicht machte, versprach er, eine freiere Verwaltung in denselben einzuführen. Wenn man für die meisten Klöster das Gemeinsamkeits-Regime anordnete, so müsste man den Mönchen auch wieder die Wahl ihrer Oberen frei geben. Eine solche Massregel würde dann mit den grossen bürgerlichen Reformen übereinstimmen. Wie alle Klassen der Nation, so erhielten die Mönche unter der öffentlichen Obrigkeit einen Thcil des self-government zurück, welches die Seele der klösterlichen Einrichtungen ausmacht. Es bleibt freilich dahingestellt, ob eine Neuerung der Art sich gut genug mit der gegenwärtigen Konstitution des Staates und der Kirche vertrüge, um lr* ihrem vollen Umfange praktisch durchführbar und den Klöstern, wie dem Klerus wahrhaft nützlich zu sein. Die russischen Klöster sind officiell in zwei Kategorien einge-theilt, solche, die einen Zuschuss empfangen, und in die überzähligen (saschtätnye)l), welche nichts vom Staate beziehen. Die ersteren sind die ansehnlichsten und zahlreichsten2); wie viele Mönche sich in ihnen aufhalten dürfen, wird vom Gesetz bestimmt Diese Monasterien bilden drei Klassen, über welche die berühmtesten Klöster des Reiches emporragen. Vier von ihnen haben den alterthümlichen, bereits erwähnten Namen „lawra" erhalten; dies sind die grossen Heiligthümer der drei Hauptepochen der russischen Geschichte: Petschersk (Kiew), Troiza (im Norden von Moskau), Alexander Newski (Petersburg) und das den unirten Griechen oder den Ruthenen abgenommene Kloster von Potschajew in Wolhynien, welches man unter Nikolaus jenen 3 ersten an die Seite gestellt hat. Auf die Lawren, die gewöhnlich unter dem flachsten Metropoliten stehen und ihm als Residenz dienen, folgen dem Range nach sieben oder acht Häuser, welche den Titel „staw-ropigp«:ij tragen; dies sind die einzigen, deren Vorsteher immer vom Heiligen Synod, dem Erben der Patriarchen, ernannt werden. Auf ) Anm. d. Uebers. aaiiiTaTmift = ausseretatsmässig, ) Nach den Berichten dea Prokurators des Heiligen Synod gab es 207 mner-Klöster mit, 173 ohne staatliche Unterstützung. An KrauenklOstcrn gab 106 der ersten und 05 der zweiten Kategorie. 3) Dieser Name (eraiponirüi = griech. aravqoit^yiof, Kreuzeserhöhung) welcher 15* diese Stawropigien, zu welchen die umfangreichsten Monasterien im \\ iichbilde von Moskau gehören, folgen die Klöster erster Klasse, in deren Reihen sich immer noch berühmte Heiligthümer belinden, wie z. B. St. Georg von Nowgorod. Die Zahl der Mönche hängt gewöhnlich von dem Range des Klosters ab. In die Lawren war die gesetzliche Ziffer von etwa hundert Klosterleuten normirt worden, die Novizen und Laienbrüder nicht mit einbegriffen; wodurch der Bestand verdoppelt oder verdreifacht würde. In den Stawropigien und den Klöstern der ersten Stufe belief sich das gesetzliche Maximum auf nur 33 Ordensbrüder. Nach den letzten Reformen hat man für die Land- und grossen Stadtklöster von einer Beschränkung der Mönchszahl Abstand genommen. Bezüglich der übrigen Klöster in den Städten beschloss man, die Zahl der Religiösen in der Weise herabzusetzen, dass nur soviele übrig bleiben, wie für den Gottesdienst erforderlich sind. Dadurch glaubte man, die Mönche von dem bewegten Leben der Städte zu entfernen und sie dem ihrem Stande ursprünglich eigenen Geiste wieder zuzuführen; man wies sie in die Einsamkeit des Landlebens zurück. Die Klöster der ersten Klasse sollten nicht mehr als 18, die der zweiten höchstens 13 und die der dritten nur 10 Mönche beherbergen. Der Zweck dieser Neuerung war, durch die Verminderung der Insassen der Klöster das Budget der letzteren zu erleichtern. Die Häuser der Gottgeweihten wurden genöthigt, das Gemeinsamkeits-Regime anzunehmen; der auf diese Weise aus ihren Einkünften erzielte Ueberschuss sollte zur Aufbesserung der Bischofsgehälter, zur Unterstützung armer Geistlicher und zur Erbauung von Hospitälern und Schulen Verwendung finden. — Noch jetzt ward in Russland von den Schätzen der Klöster gesprochen: diese Reichtbümer muss man näher kennen lernen! — Die russischen Monasterien haben die meisten ihrer Ländereien eingehüsst, aber dass bewegliche Gut, die Geschenke, die Exvoto-Spenden, welche sich im Laufe von Jahrhunderten angesammelt haben, sind in ihrem Besitz geblieben. Weder in Italien, noch in Spanien findet sich etwas diesem Glänze and dieser Bracht annähernd Vergleichbares. Gold und Silber bekleiden die Reliquienschreine und die Ikonostase vor dem Altar; und die Bilder und heiligen Zierrathe sind mit Perlen und Edelsteinen förmlicli übersäet. In der Sakristei oder der Gewandkammer (risniza) von Troiza hat man alle diese nutzlosen Gaben, den unter der unmittelbaren Jurisdiktion der Patriarchen stehenden Klöstern gegeben wurde, erinnert an das Ceremoniell, mit welchem der Patriarch von der Baustelle, wo sie errichtet werden sollten, Besitz ergriff, indem er daselbst sein Kreuz aufpflanzte. Schmucksachen, kostbaren Vasen, schweren Goldstoffe, Perlen und Kunstwerke aller Art, zu einem Museum vereinigt, dem in Europa, ausser der Patriarchen-Sakristei in Moskau nichts gleichkommt. Neben diesem Schatze verbergen die Gewölbe von Troiza, wie man sagt, Hoch ganze Berge von Perlen und nichtgefassten Edelsteinen. Diese Reichthümer gehören den Bildern und den Heiligen: die Mönche sind nur die Wächter dieses Hortes, durch den an ihrer Armuth nichts ge&ndert wird. Da Ländereien und Dörfer sich ebenso in der Hand der Klöster angesammelt hatten, wie die edlen Steine und Metalle, SO hesaSsen dieselben ehemals auch ausgedehnte Domänen; aber im heiligen Russland musste, wie überall, der Staat frühzeitig einer weiteren Vergrössonmg der K irchengüter entgegen zu wirken suchen. Das Eigenthum der Monasterien war unter dem Schutze der tatarischen Herrschaft über die Maassen angewachsen; so dass sich die moskowitische Autokratie schon vom fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert an deswegen beunruhigt fühlte. Trotz ihrer oft geradezu bigotten Frömmigkeit zögerten die letzten Fürsten aus dem Hause Rurik nicht länger, dem steten Zunehmen des unveräusserlichen Klostergutes einen Riegel vorzuschieben. Bereits Iwan III. hatte die Güter der Kirchen und Klöster des Territoriums Nowgorod konfiszirt. Iwan IV, (der Schreckliche), umgeben von seinen opritschniks l) und seinem Harem in der Slobode-) Alexandra, äusserte seine Frömmigkeit sogar in der Weise, dass er das mönchische Leben parodirte; er gefiel sich besonders darin, die Klosterleute zu schelten, sie mit seinen schulfüchsigen Stichelreden zu verfolgen, ihnen Faulheit, verweichlichtes und regelloses Leben vorzuwerfen und diese Fehler und Laster ihren übergrossen Reichthümern zuzuschreiben. Unter seiner Regierung erliess das Konzil von 1573 an die wohlhabendsten Klöster das Verbot, neue Landgüter zu erwerben und das Konzil von 1580 dehnte diesen Erlass anfalle Klöster aus. Der weltliche wie der Ordensklerus griff, als er so sein Vermögen bedroht sah, natürlich zu seinen geistigen Waffen und man fügte der Messe Verwünschungen der Kirchcnrüuber hinzu. In einem Mess-biehe der Diöcese Rostow (aus dem Jahre 1012) lindet sich am *Mlde neben diesem Anathema die Notiz für den Protodiafara: »Singe recht laut".') ') Anm. o. Heber*.: onpraun (oprftschnik), Leibwächter des Zaren (ehem.). *) Anm. d..Uebers. c.ni.'.o.ui (sloboda), Vorstadt, grosses Dorf. s) Wosglasi wclmi — Russkaja Starina, Febr. 1880, Seite 207. lAniu. d. Uebers. Wosglasi welmi, wörtl. „Die Ausrufungen sehr", bedeutet: Die Schlussworte, Verwünschung, laut). Es gelang indessen diesen von den Diakonen mit Donnerstimme hinausgeschmetterten Verwünschungen nicht die Säkularisation abzuwenden. Zar Alexis entzog den Mönchen die Verwaltung ihrer Güter; Peter der Grosse eignete sich die bessere Hälfte ihrer Einkünfte an; Peter III. unterfing sich, alle Kirchengüter einzuziehen; Katharina II. endlich gab sie dem Klerus nur zurück, um sich die Cessionsakte derselben von den kirchlichen Autoritäten zugestehen zu lassen. Die seitens der Freundin Voltaires im Jahre 1764 beschlagnahmten Güter umfassten eine Million Seelen, wobei die Frauen, nach dem System der Leibeigenen-Zählung, nicht mitgerechnet wurden. Zwei Drittel davon gehörten den Mönchen: Troiza allein hatte 120 000 männliche Bauern. Solowezk besass fast die ganze östliche Küste des weissen Meeres, mit Salinen, Fischereien und einer Flotte von 50 guten Seglern. Die Zarin liess den Klöstern jeden Banges nur einige Landstriche ohne Hörige, mit Mühlen, Wiesen oder Weiden, Fischteichen und Forsten, die das Brennholz lieferten. Dadurch, dass der Staat den grössten Theil der Kirchengüter an sich gebracht hatte, war er nunmehr verpflichtet, für den Unterhalt der Mönche sorgen zu helfen. Daher stammt die Anweisung „für die Lawren und Monasterien", welche noch jetzt im kaiserlichen Budget flgurirt. Diese Unterstützung belief sich 1875 auf 440 000 Rubel; 1887 ist sie auf 402 000 Rubel reduzirt worden. Die betreffende Summe wurde in ungleicher Weise unter mehr als 300, von 5500 Mönchen oder Laienbrüdern und wenigstens ebensovielen Nonnen bewohnte Klöster vertheilt.Jedes der subventionirten Klöster erhielt im Durchschnitt kaum mehr als etwa 1000 Rubel, d. h. kaum genug, um davon eine seiner Kirchen zu unterhalten. Thatsächlich *) Ausser den für die inländischen Klöster angewiesenen Summen bewilligt die russische Regierung häufig durch das Organ des Heiligen Synod oder des Ministers der auswärtigen Angelegenheiten den orthodoxen Klöstern des Auslandes Subventionen oder Zuschüsse. Ein Theil derselben kann auf die Einkünfte der „zugeeigneten Klöster" voran sbczahlt werden. Ks giebt in den letzt-erwurbenen Provinzen, besonders in Bessarabien, noch grosse Besitzungen, welche vor dem Uebergang an die russische Herrschaft dazu bestimmt waren, den Unterhalt gewisser Klöster an den heiligen Orten, am Berge Athos, am Sinai, und in llumiinicn, bestreiten zu helfen. Diese, der Mehrzahl nach von nioldau-wa-lachischcii llospodaren gestifteten Güter wurden in Russland der Verwaltung des Ministers der Domänen unterstellt. Sie haben Anlass zu Streitigkeiten zwischen der rumänischen und russischen Regierung gegeben, welche letztere bei der Verwendung der betrettenden Revenuen nicht immer den Wünschen der Testatoren entsprechend verfahren ist. überstieg die von der Regierung gewährte Unterstützung für ungefähr dreissig Klöster nicht je 500 Rubel und betrug für einige sogar nur 20. LMe jährlichen Staatssubsidien erreichten, auf den Kopf berechnet, im Mittel nicht 40 Rubel, zum Wechselkurs weniger als 100 Francs. Mögen sie sich nun einrichten, wie sie wollen, mag ihr Tisch noch so dürftig besetzt sein, es ist klar, dass Monasterien und Mönche mit einer solchen Dotation nicht auskommen können., Deshalb wird auch oft die Forderung laut, man solle diese Staatssubvention gänzlich streichen, um so mehr, als die unterstützten Klöster nicht selten die allerreichsten sind. Die Vertheidiger des Klosterwesens erwidern darauf, dass jene Bewilligungen nur ein magerer und schwacher Ersatz für die Güter seien, welche man ihnen gestohlen habe. Im neunzehnten Jahrhundert haben es die Klöster vermocht, die ihnen im achtzehnten Jahrhundert genommenen Güter theilweise wieder an sich zu bringen. Es ist dies eine Erscheinung, die nicht zu befremden braucht; sie hat sich überall unter unsern Augen wiederholt: die Freigebigkeit der Gläubigen und die an Geiz grenzende Sparsamkeit des Klosterlebens erklären sie zur Genüge. Indem die russische Regierung den Klöstern das Gut entzog, hat sie ihnen doch die Möglichkeit gelassen, respektive wieder gewährt, neuen Besitz zu erwerben; und der Staat hat der Zurückerlangung des Kloster-Vermögens um so geringere Hindernisse bereitet, als ja, dank der kirchlichen Organisation, die Verwendung dieses Vermögens sich nicht gänzlich der staatlichen Kontrolle entzieht. Die Klöster gemessen als Staatsinstitute die Rechte bürgerlicher Personen; nichtsdestoweniger bedürfen sie für jede Landerwerbung, gleichgültig ob sie durch Kauf oder Schenkung vor sich gehen soll, besonderer Erlaubniss. Der Staat gestattete aber meistens nicht allein die Annahme von Spenden, sondern er trat sogar mehrmals den Mönchen selbst Domänen ab, die von dem Krongut losgelöst wurden. Man schätzt, dass die kaiserliche Regierung von 1836 bis 1861 auf diese Weise unter 180 Klöster HOOG Dessjatinen Land und Wiesen, und 16 000 Uessjatinen Wald vertheilt habe.*) Gegen das Ende der Regierungszeit Alexanders II. wurde der Territorial-Besitz des schwarzen Klerus auf nahe an 156 000 Dessjatinen veranschlagt, und seitdem muss er sich noch vermehrt haben. Die Monasterien des Gouvernements Nowgorod besassen zusammen ungefähr 10 000 Dessjatinen; Sankt-Sergius allein hatte 7000. Will man den wahren Werth dieses Tmmobiliar- ') Die Dessjatine = 1 Hektar und 9 Aare. Vermögens taxireo, so darf man nicht vergessen, dass es in Russland, vornehmlich im Norden des Reiches, wo sich die. meisten Klöster befinden, Güter von 50 000 Dessjatinen, ja sogar von 100 000 und mehr Hektaren giebt, und dass die Erträgnisse dieser ungeheuren Flächen denen einer zwanzigmal kleineren Farm im Westen nachstehen. Andererseits ist es richtig, dass gewisse Klöster wieder in dem Maasse Grossgrundbesitzer geworden sind, dass man sich die Frage hat vorlegen können, ob sie nicht das Recht hätten auf den Kreistagen iSemstwos) vertreten zu sein. Diese Landgüter bilden indessen nur den geringeren Theil des Vermögens oder der Revenuen eines Klosters. Viele unter ihnen besitzen ausserdem Kapitalien, welche die Vorsteher zu hohen Zinsen anlegen. Erzählt man doch, dass vor einigen Jahren Slowezk, diese ultima Thüle der mönchischen Welt, dieser klassische Zufluchtsort des Asketenthums am weissen Meere, durch den Bankrott von Skopin x) 600 000 Rubel verloren hätte. Mehrere andere Mönchs- und Nonnen-Klöster sind gleichfalls die Opfer jenes unseligen Finanzmannes geworden. Aebte und Aebtissinnen hatten mit einer, bei kirchlichen Leuten nicht seltenen, naiven Habsucht ihre Ersparnisse dieser Municipalbank anvertraut, welche den Deponenten 672 °/o vergütete. Die Geldangelegenheiten, die Kapitalanlagen, sind im heiligen Russland, wie anderswo eine Hauptsorge der Klostervorstände. Obwohl Missbräuche und entsprechende Klagen nach dieser Richtung hin selten sind, haben gewisse Thatsachen, wie z. B. der Prozess der Aebtissin Metrophania unter Alexander IL, gezeigt, dass die Sucht, ihr Gemeinwesen zu bereichern, manchmal die heiligen Seelen zu recht weltlichen Operationen und Kniffen verleitete. Aus einer aristokratischen, bei Hofe sehr wohlgelittenen Familie und selbst ehemals freilina 2) oder Ehrendame der Kaiserin, wurde die Aebtissin Metrophania vor das Geschworenengericht gestellt, weil sie zum Nutzen ihres Klosters und, um gute Werke verrichten zu können, Mittel angewandt hatte, die nicht eben sehr ordensmässig waren, nämlich Erschleichungen, Betrügereien und Fälschungen. Die Jury war aus Kaufleuten, Kleinbürgern (mäschtschäne) und Landleuten zusammengesetzt, d. h. aus Klassen, welche den Glauben und das Klosterkleid nicht sonderlich hoch achteten; dennoch glaubte man fürchten zu müssen, dass der Angeklagten Gewand den Moskauer Geschworenen imponiren würde. Das ehemalige Hoffräuloin wurde jedoch ver- J) Ein Fallissement, welches unter Alexander III. ungeheures Aufsehen erregte. Siehe Bd. II, Buch [II, Kap. IV. -) Anm. d. Uebers.: fcpeltaiui», Hoffräulein. urtheilt. Der Präsident des Gerichtshofes war, wie man mir sagte, ein Protestant, einer der Anwälte der orthodoxen Aebtissin Jude; so dass alles vereint 7.11 sein schien, um diesen Prozess zu einer lauten Demonstration zu Ehren des neuen Princips von der Gleichheit vor dem Gesetze werden zu lassen. Es ist sehr zweifelhaft, ob dieselbe Aebtissin einige Jahre später, unter Alexander III. und der Verwaltung Pobjedonoszews, vor die Geschworenen gebracht worden wäre; jedenfalls hätte es nach dem neuen Reglement nur mit Ausschluss der Oeffentlichkeit geschehen können. Trotzdem die Aebtissin Metro-phonia durch einen Laien-Gerichtshof für schuldig erklärt worden war, wurde ihr doch seitens frommer Bewunderer alle Verehrung zu Theil; für einige bestand ihr ganzes Verbrechen in ihrer Mildthätig-keit, und ihre Yerurtheilung war nur ein Martyrium. ') Man hat gewissen russischen Klöstern wie den Jesuiten des 18. Jahrhunderts und mehreren Ordensniederlassungen unsrer Tage den Vorwurf gemacht, dass sie sich an industriellen oder Handelsoperationen betheiligten, ohne Gewerbesteuer zu bezahlen. Der Engländer Fletcher sagte im siebzehnten Jahrhundert, dass die Mönche die grössten Kau Heute Russlands seien. Heutzutage kann man nicht behaupten, dass sich die Männer- oder Frauenklöster mit Handelsgeschäften befassen; sie begnügen sich damit, die Erzeugnisse ihrer Güter oder die Produkte ihrer Arbeit zu verkaufen. Nur soviel Wahres ist an jenem Gerede: mehrere unter ihnen besitzen in den Städten Häuser und Magazine, welche sie an Kaufleute vermiethen und aus denen sie eine höhen! Hinnahme erzielen. Alexander Newsky z. B. hatte am Getreidehafen der Newa Mehlniederlagen nebst dazu gehörigen Einrichtungen, welche ihm beinah 130 000 Rubel brachten; der Gemeinderath hatte den Mönchen dafür vergebens eine Million (Rubel) geboten. Ausserdem überweisen ihm gewisse moskowitische Kaufleute einen Theil des Gewinnes aus ihren Immobilien oder dessen, was ihre Geschäfte abwerfen.2) Die Klöster haben zwar Landeigentimm oder Häuser mit Grundbesitz, aber es ist doch recht schwierig, ihren Reichthum abzuschätzen; denn die Quellen desselben sind zu mannigfaltig und zu sehr vordeckt. Man hat ihr Gesammteinkommcn auf nahe an 10 Millionen ') 80 nach Andreew, dem Verfasser einer Yertheidigung der Aebtissin. '2) Ueber die Güter und Einkünfte der Monasterien siehe: Opyt izslädowanija ob imüschtschestwach i dochödach näschich monastyrei (Anm. d. Uebers.: Verweh einer Untersuchung über Vermögen und Einkünfte unsrer Klöster), St. Petersb., anonym, 1876. Vergl. O prawoel&wnom bjälom i tschernom duchow. Rd I. Kap. VI Ii. Rubel berechnet, was bei mehr als 500 Klöstern nicht ganz 20000 Rubel auf jedes betragen würde. Man hat ferner ihr Mobiliarvermögen auf 20 oder 25 Millionen Rubel taxirt, ohne die im Besitze der Mönche befindlichen Kostbarkeiten aller Art, Gold, Silber, Edelsteine, Geräthe und Reliquienkästchen mitzurechnen. In Russland ebenso, wie in anderen Ländern, haben sich Barbaren gefunden, welche ernstlich riethen, jene ehrwürdigen Schätze nationaler Kunst zu veräussern, um den Erlös der öffentlichen Wohlthätigkeit und den Volksschulen zu Gute kommen zu lassen. Andere Freunde des Fortschrittes, welche geltend machten, dass Reichthümer gar nicht zum Mönchsthum passen, wären schon damit zufrieden, dass die Ländereien und die Einkünfte der Mönche beschlagnahmt und die so gewonnenen Summen dem Budget des Öffentlichen Unterrichts überwiesen würden. Es ist dies eine Frage, welche schon mehrmals angeregt worden ist. Manche unter den Neuerern gingen gern so weit, die Klöster völlig abzuschaffen, und zwar im Interesse der Religion selbst: ihre Revenuen sollten die Lage der Farochialgeistlichen, des weltlichen Klerus verbessern. Projekte dieser Art sind selten frei von Illusion. Man vergisst, dass die grossen historischen Lawren Russlands nicht ohne Revenuen existiren können, dass das Volk keineswegs darauf vorbereitet ist, sie schliessen und einfache Popen die Stelle der Mönche einnehmen zu sehen. Vor allem aber denkt man nieht daran, dass der grösste Theil der Mittel eines Monasteriums ihm stets durch Almosen zufliesst und dass also eine Beseitigung der Klöster fast regelmässig mit dem Versiegen ihrer Hülfsquellen verbunden sein würde. Die Hauptquelle der Klostereinkünfte ist den Mönchen geblieben, nämlich die Opfergaben. Sie sind ein uralter, tiefer Quell, welcher aus allen Schichten der russischen Erde seit .Jahrhunderten hervordringt und, statt auszutrocknen, immer kräftiger sprudelt. Den Klöstern gehören die meisten Reliquien und Heiligenbilder von Ruf, und demnach kommen die grössten Pilgerscharen zu ihnen, und die reichsten Almosenspenden gelangen in ihre Hände. Die Eisenbahnen und die Aufhebung der Leibeigenschaft, die moralischen und materiellen Zugeständnisse an den Muschik haben das Pilgerwesen in staunenerregender Weise zur Entwicklung gebracht. Vor etwa zwanzig Jahren brüstete sich Kiew mit dem Besuche von 200 000 Pilgern. Die Gelehrten waren, im Hinblick auf die öffentliche Gesundheit, wegen dieser enormen Ansammlungen von Menschen bei gewissen Festen mit Besorgniss erfüllt. Man wies darauf hin, dass, wie bei den grossen Pilgerfahrten in Persien, Arabien und Indien, die Cholera jetzt manchmal die frommen Scharen in Kiew zum Ausgangspunkt genommen zu haben schiene. Heute hat sich die Zahl der Gläubigen, die zu den Katakomben von Petschersk wallen, ver-vier- oder verfünffacht. Kiew ist der bedeutendste und erste Wallfahrtsort der christlichen Welt geworden, vielleicht sogar der erste auf dem ganzen Erdenrund. In gewissen Jahren, so besonders 1880, hat man in der heiligen Dnjepr-Stadt, wie versichert wird, gegen eine Million Pilger gezählt, welche sämmtlich ihre Kerze kauften und ihren Obolus erlegten. In St. Sergius ebenso wie in Petschersk ist das Zusammenströmen bei mehreren Festen so gross, dass schliesslich keine Kerzen mehr zu haben sind. Den München von Troiza passirt es nicht selten, dass sie den Pilgern, die am Grabe des heiligen Sergius beten Wollen, fünfmal nach einander dieselbe Kerze verkaufen. Der Absatz an Kreuzen und Heiligenbildern, die im Kloster gefertigt sind, bildet eine weitere Einnahmequelle desselben. Diese frommen Erinnerungsstücke werden an die Gläubigen mit einem Gewinn von wenigstens 100 bis 200 Procent abgegeben! — Die Almosen, welche aus der Ueberlassung von geweihtem Hrol (prosforä)1) erzielt werden, belaufen sich für Troiza auf 80 bis 100 000 Rubel im Jahre. Anfangs der siebziger .Jahre zog dasselbe Monasterium aus seinen Weihbroten nur etwa 30 000 Rubel und um 1830 nur etwa 1000. Das nennt man einen Aufschwung! Dazu kommt nun noch alles, was die zu jeder Stunde in den zwölf Kirchen der Lawra gleichzeitig gelesenen Messen, die am Reliquienschreine des heiligen Sergius gesungenen Tedeums und die „de profundis" einbringen. Ein Drittel davon gehört dem Metropoliten, das Febrige Iiiesst dem Kloster zu; die Mönche selbst aber ziehen aus den Gesängen vor anderen Reliquien oder Heiligenbildern ihren Nutzen, und die Frömmigkeit der Moskauer Kaufleute lässt sie nicht zur Ruhe kommen. Die grossen Monasterien haben noch eine andere Einnahmequelle; BS sind die vor ihren Thoren erhauten Herbergen und Schenken, welche die Mönche an Unternehmer und Wirthe vermiethen. So können die Gasthäuser von Troiza Lawra Tausenden von Personen Obdach gewähren. In Troiza, Petschersk und in zahlreichen andern Klöstern werden unbemittelte Pilger umsonst aufgenommen, oder richtiger: sie lassen bei der Abreise, wie in unsrer Grande-Chartreuse eine Gabe zurück, deren Höhe ihrem eigenen Ermessen anheimgestellt 1!$t. In verschiedenen Klöstern sind die Pilger nicht mit einem 1 Audi, dc> t Vhcrs.: ii|>i»ri|n>pa (»riech. ;r<>,,/'), Abcndmiililsbrot. flüchtigen Besuche zufrieden; es giebt vielmehr nicht wenige unter ihnen, die, um ein Gelübde zu erfüllen, aus Frömmigkeit oder zur Busse dort einen langen Aufenthalt nehmen. Von den 10 oder 15 000 Beisenden, welche den kurzen Sommer von Archangel benutzen um die Mönchseitadelle am weissen Meere per Boot zu erreichen, bleibt mehr als einer Monate und selbst Jahre lang in Solowezk in freiwilliger Knechtschaft zum Vortheile der Klosterleute. Neben den grossen Wallfahrtsorten giebt es wenige Klöster, die nicht ebenfalls eine, sei es auch beschränktere Zahl von Besuchern in ihren Mauern sehen, wenn dort irgend ein besondere Verehrung ge-niessendes Bild Gegenstand der Anbetung ist; und wenn nicht alle Gläubigen zu diesem letzteren kommen können, so begiebt sich dasselbe zu ihnen. Die wunderthätigen Jungfrauen, deren jedes Kloster eine besitzt, machen alle Jahre ihre Rundreisen durch das umgebende Land. Von den Mönchen geleitet, ziehen sie mit einer Procession von Dorf zu Dorf. Dann drängt sich Alles herzu, sie zu sehen; man streitet sich um die Ehre, sie zu küssen, zu tragen oder ihnen Nachtquartier zu gewähren, und solche Gelegenheit benutzen die Mönche, um fleissig Kollekten vorzunehmen. Bei dem für Ikonen so begeisterten russischen Volke repräsentirt ein solches Bild ein ganzes Klostervermögeu. Es giebt kaum Jemand, der Moskau besucht und nicht eine kleine an das Hauptthor des Rothen Platzes (der den Kreml vom Bazar trennt) angebaute Kapelle gesehen hat. In diesem Kirchlein, an dem wenige Russen vorüber gehen, ohne sich zu bekreuzigen] wird die Iberische Jungfrau1; (Iwerskaja). die berühmteste in ganz Moskau, aufbewahrt. Der Kaiser betritt die alte Hauptstadt nie, ohne jener Kapelle einen Besuch abzustatten und das Bild-zu grüssen. Wie in Rom das Bambino aus der Ära Coeli, so begiebt sich auch die Iberische Madonna zu den Kranken in die Häuser und besitzt zu diesem Zwecke Wagen und Pferde. Während sie fern ist, wird sie in ihrer Nische durch eine Copie ersetzt. Dieses Wunderbild bringt jährlich I oder 500 000 Francs ein, wovon der Metropolit einen Theil erhält, während der Host an das Kloster fällt, dem die Jungfrau gehört. Reliquien und wunderthätige Heiligenbilder sind eine Art Monopol des schwarzen Klerus, der es nicht gern sieht, dass ihm hierin seitens der gewöhnlichen Popen Konkurrenz gemacht wird. Zu diesem doppelten Vorzug gesellt sich für die Klöster noch ein weiterer, dritter, der fast ebenso lukrativ ist. Die Russen lieben es, sich nahe ]) Iberien ist der alte Name eines Theiles von Georgien. dem Grabe eines Heiligen ihre eigene letzte Ruhestätte herzurichten. Da auch hier, was ursprünglich aus Frömmigkeit geschah, bald zu einer Modesache wurde, so sind die Monasterien in kurzer Zeit die aristokratischsten und bevorzugtesten Begräbnissplätze geworden. Für die Fürsten und Bojaren herrschte in Russland, wie auch im Oecident, lange die Sitte, beim Herannahen des Todes das Mönchskleid anzulegen und sich in einem Monasterium bestatten zu lassen. Heute zanken sich die Petersburger förmlich um einen Platz auf dem Alexander-Newski-Friedhofe oder, — wenn es unmöglich ist, dort eine Stätte zu erwerben, denn sie wird, so zu sagen, mit Gold bedeckt, — um eine solche auf dem des Klosters St. Sergius bei Strelna an den Gestaden des finnischen Meerbusens. Von diesen, aus so verschiedenen Quellen zusammenlliossendm Klostereinkünften kommt, wie wir bereits gesehen haben, den Metropoliten oder den Frzbisehöfen ein Theil zu, den man das Tafelgeld der grossen Bischofssitze nennen könnte. Das Fiebrige ist nicht immer für das Land verloren, denn es wird der öffentlichen Wohlthätigkeit oder dem Volksunterrichte schon etwas davon zugewandt, Von dem richtigen Gedanken ausgehend, dass das geeignetste Mittel zur Wahrung ihrer Revenuen die gute und edle Verwendung derselben sei, haben die Monasterien und der schwarze Klerus angefangen, von selbst das zu leisten, was ihr*1 Gegner ihnen aufzugeben gewillt waren. Viele haben Schulen gegründet, oder Asyle und Krankenhäuser gebaut. Auch war dies keineswegs für alle Klöster etwas Neues; denn mehrere unter ihnen hatten bereits im Mittelalter den Elenden und Bettlern Zufluchtsstätten bereitet. Heutzutage wird ein guter Theil der den Klöstern legatarisch überwiesenen Summen gleich durch die Erblasser zur Errichtung von Erziehungs- oder Krankenhäusern bestimmt. Ausser Schulen und Waisenhäusern für Knaben und Mädchen hat St. Sergius erst vor kurzem ein Frauenhospital gestiftet. Andere wieder bauten Asyle für Sieche und Altersschwache, sodass es gegenwärtig in Russland 60 mit Klöstern unmittelbar verbundene oder auf ihre Kosten unterhaltene Spitäler giebt. laus aber unterscheidet diese mönchischen Stiftungen von ähnlichen abendländischen: alle diese Werke sind eigentlich nur mit dem Gelde der Klöster ins Leben gerufen, und die Schulen, Bettungshäuser und Hospize, welche von Mönchen gegründet sind, werden oft von anderen unterhalten und vorwaltet. Bisweilen sogar überlassen die Monasterien (so z. B. in der durch St. Sergius erbauten Frauenheilanstalt) dem Diöce-san-Klerus die Leitung und selbst den Gottesdienst in den durch sie gegründeten Wohlthätigkcitsinstituten. Das hat seinen Grund in der unerschütterlichen Beharrlichkeit, mit welcher der uralte Charakter des russischen Mönchthums fortbesteht, und dann auch darin, dass weder Kirche noch Staat den Wunsch nach einer Aenderung desselben zu hegen scheinen. Beide fürchten wohl, dass sich die Mönche von dem alten Geiste ihrer Institution entfernen, dass sie, gleich ihren Brüdern im Abendlande, einen zu weitgehenden und selbständigen Antheil an den Kämpfen des Lebens und den Vorgängen der Zeit nehmen könnten. Die Russen, welche den Mönchen am nachdrücklichsten ihren Müssiggang vorwerfen, würden sie dennoch kaum gerne von den herkömmlichen Gewohnheiten abweichen sehen, ja, es wäre ihnen oft wahrscheinlich lieber, wenn sie sich wieder in die Einöden der Thebais zurückzögen. Die meisten ziehen die in stiller Beschaulichkeit lebenden oder der Ausübung traditioneller Gebräuche obliegenden Asketen den kriegerischen, unruhig thätigen Orden der römischen Kirche vor. Wenn sich noch nicht mehr Russen linden, welche die gänzliche Unterdrückung der Klöster fordern, so liegt dies, wie ich einen von ihnen dort sagen hörte, daran, dass der asketische Geist in den niederen Schichten der Nation noch viel zu lebendig ist, als dass das Volk die Mönche völlig entbehren könnte. „Wenn wir unsere Klöster schlössen, so würden wir," meinte er, „Gefahr laufen, dass überall versteckt Einsiedlerhütten entständen. Da sind uns denn doch Staatsklöster noch lieber, als verborgene, heimliche Mönche." Auch scheinen heute die Mönche in vielen Klöstern keine andere Aufgabe zu haben, als Reliquien und Bilder zu behüten oder Almosen zu sammeln. Ihre Hauptarbeit besteht oft darin, dass sie die majestätische Würde ihres Gottesdienstes nach Kräften zu erhöhen suchen. Darauf verwenden sie nicht selten grosse Mühe und Kunst; einige Monasterien, wie St. Sergius von Strelna, sind wegen ihrer Chöre geradezu berühmt, was in einem Lande, in dem die Kirchenmusik ohnehin so hoch steht, nicht wenig sagen will. Anderswo haben die Klosterleute, der byzantinischen Ueberlieferung treu, neben den Gesangsschulen Malerateliers. Wieder wo anders pllegen sie eine der altberühmten Mönchskünste, die Vervielfältigung heiliger Bücher: nur dass die Druckerei Feder und Tinte verdrängt hat. Die Pressen von Petschersk in Kiew liefern eine sehr beträchtliche Anzahl von altslavischen Messbüchern, mit denen lange Zeit die türkischen und österreichischen Slaven versehen wurden. Einige Klöster verdanken ihrer Lage specielle Beschäftigungen: so hat Solowezk auf seiner Insel im weissen Meere besondere im Seedienst erfahrene und ausgebildete Mönche und befördert die zu ihm kommenden Pilger auf seinen eigenen Dampfboten. Ausserdem sind nun die grossen Lawren Sitz der kirchlichen Akademien. Wenn sie also der Gesellschaft nicht immer unmittelbaren Nutzen bringen und, wie vor einem halben Jahrhundert, in starrer Regungslosigkeit Gebete und heiliges Leben hoher stellen, als Arbeit und gute Werke, su kann man sieb der Wahrnehmung nicht ver-BChHessen, dass die russistdien Mönch«' faul und zu nichts recht (anglieb sind. Die Öffentliche Meinung wird die Kirche zwingen, nach und nach grössere Anforderungen an die Klusterleute zu stellen; wenn anders man genug Mönche zulassen wird, um ihnen neben den gottesdiehstlichen Verrichtungen Zeit und Müsse für andere Dinge zu gewähren. Die Krauenkliister sind zwar nicht so zahlreich, dafür aber stärker besetzt, als die Mönchsh&user. Auf den ersten Blich scheinl es, als ob die amtlichen Nachweise weniger Nonnen als Mönche verzeichnen; wenn man jedoch näher zusieht, ergiebt sich, dass die Zahl der Frauen in den Klöstern die der Männer übersteigt. Da ihnen das Gesetz die Ablegung des Gelübdes erst mit Erreichung des vierzigsten Jahres gestattet, so werden von der Statistik als Nonnen nur diejenigen Jungfrauen erwähnt, welche dieses Alter überschritten haben. Die „Reglements," welche seit Peter dem Grossen den jungen Mädchen den Schleier zu nehmen verbieten, erlauben ihnen doch, im Kloster zu leben. Sie halten sich dort als Novizen auf, und es steht ihnen frei, jeden Augenblick wieder zu der weltlichen Gesellschaft zurückzukehren und sich zu verheirathen. Viele geben dieser Freiheit den Vorzug und werden im Kloster alt und grau, ohne sich unter die Nonnen einreihen zu lassen. Diese Novizen oder Laienschwestern (was in den russischen Klöstern für gewöhnlich gleichbedeutend ist) sind daher zwei- bis dreimal so zahlreich, als die eigentlichen Ordensschwestern, deren Existenz sie theilen. Es mag sonderbar erscheinen, dass als niedrigste Altersgrenze zur Ablegung der Klostergelübde für das eine Geschlecht das vierzigste Jahr festgesetzt ist, da man für das andere doch nur das dreissigsb' verlangt. Dies geschah, weil der Gesetzgeber den jungen M&dohen die Möglichkeit zur Eingehung einer Khe lassen wollte und ihnen demnach die Lrlaubniss zur Leistung des Gelöbnisses ewiger Jungfräulichkeit erst dann ertheilte, wenn sie der Regid nach das Alter der Mutterschaft hinter sich haben. Das ist jedenfalls dem Weibe mit seiner leicht erregbaren Schwärmerei und seinem Wankelmuthe gegenüber eine Vorsicht, die um so weniger öbcrtrier)en erscheinen muss, als die orthodoxe Kirche keine Klöster besitzt, in denen zeitweilige Gelübde zulässig sind. Hier hat der Staat durch ein langes Noviziat einen Ausweg geschulten. Aus ähnlichen Gründen ertheilt heutzutage, in der katholischen Kirche, der römische Stuhl nur ungern und gezwungen die Genehmigung zur Gründang von Frauenorden, in denen ewig bindende Gelübde verlangt werden. Die Zahl der Frauen, welche den Schleier nehmen, ist seit einem Jahrhundert in merklichem Steigen begriffen. Es gab 1815 im ganzen Reiche nur 91 Klöster mit weniger als 1700 regulären Ordensschwestern. Um 1870 herum zählte Russland noch nicht mehr als 11 000 auf 148 Monasterien vertheilte Nonnen und Novizen. Ungefähr 15 Jahre später, 1886, war die Zahl der dem Klosterleben geweihten Frauen auf 17 000 und die Zahl ihrer Abteien auf 171 gestiegen. Obgleich diese Ziffern von den 120 000 oder 130 000 Schwestern aller Farben, welche Frankreich beherbergt, noch weit entfernt sind, so bemerkt man an ihnen doch, dass in Russland, wie allerorten heutzutage, das Kloster auf das weibliche Gesohlecht die grösste Anziehungskraft ausübt. Ausser den Novizen und Nonnen, welche das Schleppgewand der orthodoxen Klosterfrauen tragen, giebt es in Russland noch etliche Tausend Beginnen oder Tschernizy, das bedeutet Schwarzgekleidete. Diese Tschernizy, eine Art niederer Stiftsdamen, leben gemeinsam in Ehelosigkeit und beobachten streng die Fasten; sie legen jedoch kein Gelübde ab, und jede von ihnen behält ihr Eigenthum und ihre Freiheit, Sie sind gewöhnlich vom Volke sehr geachtet; man nimmt an, dass manche unter ihnen nur deshalb das düstere Gewand der Tscherniza anlegt, um unabhängig von ihrer Familie leben zu können. Für diese Töchter eines Volkes, bei dem das Weib fast noch in orientalischer Knechtschaft gehalten wird, ist die Ergreifung dieses frommen Berufes ein Akt der Emancipation. Es ist Sitte, dass die Tochter des Handwerkers oder Landmannes, welche Tscherniza werden will, ihr einstiges Erbtheil vorweg erhält.l) Diese Beginnen sind es, welche man überall auf den Strassen und an den Kirchenthüren bettelnd antrifft; sie fallen durch ihre ungeschlachten runden, mit grossen Zipfeln versehenen Hauben sofort auf. Die frommen Schwestern wohnen zurückgezogen in ihrem Kloster, und wenn sie auch nicht T) Siehe im Wästnik Ewropy, Juni 1879, die P . . . sky gezeichnete Studie. Vergleiche über das Beguinenthum Griechenlands und Bulgariens M. d'Estour-uclle de ((instant: La vie de province en Greee; und Muir Mackenzie and Trby: Travels in the Slavonic provinces of Turkey, Bd. II, 146. streng von der Welt abgeschlossen sind, so bedürfen sie docli für jeden Ausgang einer Erlaubniss ihrer Vorsteherin, \) Ohne besondere Eigenthüinlichkeiten und wegen Mangels an untereinander verschiedenen Gruppen haben die russischen Klöster beider Geschlechter eine natürliche Aehnlichkeit; aber durch ihre Zusammensetzung und die Art des Mitgliederzuwachses stehen sie in merklichem Gegensatz. Der Klerus, welcher aus seinem Kreise mehr als die Hälfte der Mönche stellt, trägt kaum ein Achtel zur Zahl der Nonnen bei. Der Adel und die freien Berufsarten schicken ein fast ebenso hohes Kontingent in die Frauenklüster, wie die Familien der Geistlichen. Der Grund dafür ist leicht gefunden: für die Töchter des Klerus und der anderen Stände bietet das Klostor nur eine Zulluchts-stätte, für die Söhne des Popen bedeutet es schnelle Beförderung. Die meisten orthodoxen Nonnen gehen aus der Klasse der Kaulleute oder der Kleinbürger (mäschtschäne) hervor. Wenn das Weil) der höheren Oesellschaft dort in den Monasterien seltener gefunden wird, als im Abendlande, so ist es doch in relativ grosser Zahl darin vertreten. Mehr als eine von diesen kommt zur Klosterpforte, um Schutz vor Aergernissen und vor der Leidenschaft zu suchen, wie die bleiche Nonne, welcher Theophile Gautier in Troiza begegnete, oder wie die Lise Turgenjews, welche durch das Anlegen des Schleiers eine unübersteigbare Schranke zwischen sich und dem •Manne ihrer Liebe errichtet. Für das Weib in noch weit höherem Grade, als für den Mann, bleibt das Kloster ein Kraukenhaus für Seelenleidende. So lange eine Seele mit Kdelmuth erfüllt ist. den die AVeit mit Geringschätzung zurückweist, so lange ein Herz unter Wunden zuckt, die nicht vernarben wollen, so lange sind die Kloster sicher, dass sie nicht leer stehen werden. Die Weiber-Monasterien existiren gewöhnlich durch die Arbeit ihrer Bewohnerinnen oder leben von Almosen. Bettelsohwestern ziehen durchs Land, um die Scherflein mildthätiger Seelen einzusammeln. Da die Nonnen keine Kirchen zu bedienen haben, so lassen ihnen die Andachtsübungen mehr Zeit zur Arbeit, als den männlichen Klosterleuten, und daher verläuft auch ihr Leben nicht in solcher Bnthätigkeit. Sie beschäftigen sich mit Handarbeiten aller Art, und ]) In dem Russland der frühesten Zeit waren die bezüglich der Klosterfrauen getroffenen Vorsiehtsmassregeln der Art, dass, nach einem jüngeren Geschichtsschreiber, die Almosenpfleger eines Nonnenklosters Eunuchen sein mussten. (Golubinsky: Istörija rüsskoi zerkwi — Geschichte der russ. Kirche — Bd. II, Seite 629; L. Leger: Ohronlque dite de Nestor, 804), L e r u j -]j eaul i o u , Reich d. Zaren u. d. Hussen. 1 Ii. Bd. 16 oft werden die Produkte ihres Fleisses verkauft. Gewisse Klöster erfreuen sich wegen der dort gefertigten kostbaren Stoffe, Gold- und Silberstickereien und Kirchengewänder eines grossen Rufes. Andere betreiben die verschiedensten Industrien: so z, B. das Monasterium Alexejewsk zu Arsamas im Gouvernement Nischni-Nowgorod, dessen früher bereits von Haxthausen beschriebene Werkstätten ihr altes Ansehen bewahrt haben. *) Obwohl nun diese russischen Klöster der Mehrzahl nach ihre Mussezeit und ihre Revenuen in ganz nützlicher Weise verwenden, so gebrich! es ihnen doch an einem der Hauptmerkmale und Neigungen, welche wir an den unsrigen kennen und achten: es fehlt ihnen der Geist der Aufopferung und der Nächstenliebe. So hat Bussland zwar männliche und weibliche Klostergemeiuschaften, aber doch nur wenige Institute, welche sich der Armen-, Kranken-und Greisenpflege, oder der Kindererziehung ganz widmen. Jener bewunderungswürdige Geist christlicher Liebe, welcher in der katholischen Kirche, besonders in Frankreich, die verjüngende Kraft di's Klosterwesens geworden ist, indem er bei allen Leiden des Menschengeschlechtes den Klosterleuten die Stelle eines Trösters und Helfers anwies, jener lebendige Ausdruck christlicher» Brüderlichkeit, welcher dem neunzehnten Jahrhundert zum schönsten Ruhme gereicht, er hat die orthodoxe Kirche Russlands bislang erst flüchtig gestreift. Es lässt sich indessen zur Zeit auch dort bereits eine Art frommer Ansteckung wahrnehme]). Die Klosterfrauen haben sich innerhalb ihrer Häuser stets den Werken der christlichen Liebe hingegeben und sind bestrebt, dieselbe in immer weiterem Umfange zu bethätigen. Mehrere Aebtissinnen haben Hospitäler errichtet, in denen die Kraulten von der Hand der Bräute Christi gepflegt werden. Es haben sich sogar einige Kongregationen gebildet, deren ausdrücklicher Zweck die Sorge um Arme und Kranke ist. Russland ist stolz darauf, jetzt auch seine eigenen barmherzigen Schwestern zu besitzen; im Gegensatze zu dem, was in Paris geschieht, suchen Petersburg und Moskau sie an Stelle der besoldeten Pflegerinnen in den Hospitälern funk-tioniren zu lassen. Leider ist ihre Zahl vorläufig noch allzu gering. Mögen nun diese russischen „Schwestern" immerhin den Namen „barmherzige Schwestern" tragen, im allgemeinen werden sie doch nicht als zu einer religiösen Kongregation Gehörige angesehen; denn ') Siehe Haxthausen, Studien (Ausgabe von 1847), Bd. I, Seite 313, 323. — Vergl. v. Besobrasow, Ktudes sur I'öconomie nationale de la Russie, Bd. II, Seite 17, 1886. sie legen weder ein Gelübde ab, noch haben sie bestimmte Vorschriften oder Konstitutionen, welche seitens der kirchlichen Behörde ausdrücklich bestätigt wurden wären. Man hat es vielmehr grösstenteils nur mit gottesfürchtigen Frauen zu thun, welche sich behufs der Krankenpflege vereinigt haben. Wie Alles in Russland zunächst auf einen patriotischen Zweck hinauslaufen muss und unter staatlicher Protektion steht, so treten auch diese Schwestern unter dem Patronate der Kaiserin Maria Alexandrowna zuerst als Wärterinnen verwundeter Soldaten auf. Der russisch-türkische Krieg von 1877—78 eröflhete ihrer Thätigkeit plötzlich ein ungeheures Fe.d. Weltdamen liessen sich unter dieselben einreihen: die Salons der beiden Hauptstädte führten den Lazarethen ein ansehnliches Kontingent von Pflegerinnen zu, deren zarte Hände bis dahin andere Arbeit gewohnt waren. Vieh; unter ihnen hatten ihre Kräfte überschätzt und theilten auf den schnell hergerichteten bulgarischen Friedhöfen das Grab der Gefallenen.]) Konnte das russische Weib zu einer Zeit, da ein unbe-bestimmter Drang nach Bethätigung seiner Frömmigkeit es ergriffen hatte, gegenüber dem Appell des Vaterlandes und der Piclüt an seine Grossmuih und Opferfreudigkeit taub bleiben? Wie sich der edelsten Begeisterung nicht selten Züge der Leidenschaft und dunkle Schatten der Eitelkeit beimischen, so hatten sich dieser allgemeinen Erhebung der Barmherzigkeit Abenteuersuoht und selbst Eigenliebe, also stark weltliche Elemente zugesellt, und es war bei diesen Laien Schwestern keineswegs Alles Gegenstand der sittlichen Stärkung und das Objekt '"r Bethätigung reiner, christlicher Liebe. — Als der Krieg zu Ende war, wurden die Frauen, welche mit der Binde des rothen Kreuzes am Arm gedient hatten, nicht, alle entlassen. In Ermangelung der Verwundeten des Heeres begannen sie die Kranken in den Hospitälern zu pflegen, und auf diese Weise hat ihr Thun eine Fortsetzung erfahren. Mag sich die Religion immerhin den Anschein geben, als wäre gie allein fähig, eine ähnliche Entsagung aller Lebensgenüsse hervorzurufen , so ist doch sicher, dass jene freiwilligen Krankenpflegerinnen durchaus nicht alle dem Beispiel Christi nachgeeifert haben. Es waren verschiedene darunter, welche in dem von ihnen ge-thanen Schritte, in dem Aufbruch zum Verbandplatze und Lazareth, nichts anderes erblickten, als eine Art „zum Volke herabzusteigen", die weniger unsicher und trügerisch war, als der Weg in das Apostel- *) Siehe P. A. Ilinskii: Russkaja Jenschtschinu w wohin, 1S77—1*7*. 16» thum der Revolution. In den Reihen der jungen Mädchen mit kurzem Saar, die an das Schmerzenslager der Verwundeten von Plewna geeilt waren, brüstete sich manch eine damit, die Gottesliebe durch die Menschenliebe ersetzt zu haben, indem sie die altmodische her-gcbraehtc christliche Lehre von der Barmherzigkeit, zu Gunsten der herzhafteren Doktrinen von der Gemeinsamkeit und dem Wohlwollen missachtete. Die russische Seele ist von einer Glaubens-Aufrichtigkeit erfüllt, welche sie mehr als eine andere zu solchen Thaten befähigt. Die Religion, welche diese modernen Schwestern den Sterbenden predigten, war eben nicht immer diejenige des Evangeliums. Unter manchem Barmherzigkeitsgewande war hier eine jugendliche Socialistin verborgen, welche auf diese Art selbst in den Lazarethen und Krankenhäusern für die Ansichten und Lehren ihrer Genossen Propaganda machte. Einige dieser Schwestern (ich weiss das von einem Augenzeugen) sahen es als ihre Aufgabe an, den Verwundeten auf den Schlachtfeldern Bulgariens auch den letzten Schatten einer Vorstellung von Gott zu nehmen; indem sie die Seelen den abergläubischen Anschauungen der Popen stroitig machten, verfolgten sie mit ihrem beissenden Spott und ihren ironischen Reden den Kleinmuth derjenigen Sterbenden, welche genug geschwächt waren, um den Tröstungen eines veralteten Glaubens ein williges Ohr zu Leihen. Daraus erhellt, dass diese Kran kenpi lege rinnen, ob sc hon sie den Namen barmherzige Schwestern führten, keineswegs alle ..fromme" Schwestern, Religiöse, waren. Die zu jener Gruppe gehörenden Pflegerinnen sucht mau nicht für die Hospitäler zu gewinnen. Uebrigens sind dieselben immer nur in der Minderheit unter den freiwilligen Krankenwärterinnen gewesen; war es auch nicht stets die Religion, die sie alle an das Krankenbett führte, so wurde die Religion doch gewöhnlich das Motiv zu ihrem Bleiben. Eine Institution, wie die der barmherzigen Schwestern vermag kaum weitere Ausbreitung zu gewinnen oder längere Zeit zu bestehen, wenn sie sich nicht der strengen Dis-ciplin unsrer „Filles de Saint-Vineent-de-Paul" oder unsrer „Pe-tites-Soeurs des pauvres" unterwirft. Wie stark auch immer die Wurzeln der sorgenden Liebe im Herzen des Weibes haften mögen, um volle Frucht zu tragen, bedürfen sie der gleiohmässigen Wärme des Glaubens und des äusseren Schutzes durch das religiöse Leben. Dazu gehören: Enthaltsamkeit, freiwillige Armuth und kindlicher Gehorsam. Dies ist so unbestritten wahr, dass man in England von Protestanten weibliche religiöse Gesellschaften hat gründen sehen, denen die Linderung der menschlichen Leiden und die Sorge für Schwache und Elende als Ziel gesteckt war.1) Die Gesetze, die von Alters her eingebürgerten Gewohnheiten, die bureaukratische Einrichtung der russischen Kirche gestatten unglücklicherweise der christlichen Mildthätigkeit und Nächstenliebe nicht dieselbe Unmittelbarkeit, Freiwilligkeit, und daher auch nicht die gleiche Mannigfaltigkeit und Fruchtbarkeit wie im Abendlande. So scheint es, dass, wie überall, auch hierin noch heute ein Anstoss seitens der weltlichen oder kirchlichen Behörden gegeben werden muss. Andererseits ist aber kein Volk von Natur so mitleidig und so zu hülfereichen Werken bereit, wie gerade das russische; ja, kein anderes ist in so hohem Maasse dafür veranlagt, die Nächstenliebe als das Grundprineip aller Religion aufzufassen. Deshalb würden wir uns auch nicht wundern, wenn sich das religiöse Leben dort, bei den Frauen wenigstens, nach und nach aus der Barmherzigkeit heraus erneuerte. Was den Antheil betrifft, den in anderen Gegenden die Klöster am Unterricht haben, so ist es zweifelhaft , ob die Colleges unsrer Patres und die Schulen unsrer „Brüder" und ..Schwestern" in Bussland dauernd Nacheiferer linden. Die Regierung leistet der Gründung von Schulen bei den Monasterien zwar Vorschub, aber sie ist. wenig geneigt, die Gründung von männlichen oder weiblichen Kongregationen, welche durch ihren Unterricht eine von der übrigen abgesonderte Geistesrichtung beim Volke einführen könnten, zu gestatten. Der völlig freie Unterricht eignet sich für ein autokratisches Land schlecht. Wenn der Staat den Klerus mit der Aufgabe der Volksbildung betrauen will, so zieht er es vor, sich an die Weltgeistlichkeit zu wenden. ') Siehe z. B. Margaret Lansdale, Bister Dora. Neuntes Kapitel. Der weisse oder weltliche Klerus. — Wie aus dem Klerus eine Kaste geworden ist. Von der Erblichkeit der kirchlichen Verrichtungen. Kirchen, die als Heirathsgut eingebracht werden. TJnterahtlieilungen der Priesterkaste — Erziehung des Klerus. Kirchliche Seminarien und Akademien. Charakter dieser Institute. Ihr Personal; der in ihnen herrschende Geist; die Art ihres Unterrichts. - Materielle Lage des Klerus. Die meisten Popen erhalten keine Besoldung. Absicht, ihnen ein bestimmtes Einkommen zu gewähren. Regelung und Anwachsen des Budgets des orthodoxen Kultus. Die Kirchengüter. Einnahmequellen des Klerus. Das Kasuale, die Nebeneinkünfte; Schwierigkeiten, zu denen die Krhebuug derselben Anlass giebt. Neben oder hinter dem schwarzen rangirt der weisse, weltliche, verheirathete Klerus. Er ist es, welcher im eigentlichen Sinne die Priesterkaste bildet, die seit langer Zeit eine erbliche Korporation, eine Art dem Altardienste geweihter Stamm geworden ist. Dieses merkwürdige System hal sich ganz allmählich herausgebildet; das Lewitenthum entstand als eine Folge der Leibeigenschaft und des Zuslandes der bürgerlichen Gesellschaft. Der an der Scholle haftende Landmann konnte dem geistlichen Stande nicht beitreten, ohne seinen Herrn zu hintergehen, und der adlige Besitzer von Hörigen vermochte nicht Priester zu worden, ohne auf seine Bauern und die Privilegien seiner Klasse zu verzichten.1) Unter solchen Verhältnissen war eine Ergänzung des Klerus nur aus den Reihen der Geistlichkeit selbst möglich. Es musste also eine mit dem Altar verbundene Klasse geben, wie es eine an den Ackerboden gefesselte gab. So kam es dahin, dass die Söhne der Popen im Seminar erzogen und dass die geistlichen Stellen für die Seminaristen reservirt wurden. Da nun durch Gewohnheit die Ehe der Priester obligatorisch geworden war, so musste man für jene auch Frauen bereit halten, und ihren Töchtern musste eine Unterkunft gesichert werden. So wurden die ') Im Mittelalter begegnete man unter der Geistlichkeit Mitgliedern hochgestellter Familien, wie z. B. dem Metropoliten Alexis; indessen ist diese Erscheinung nach und nach immer seltener geworden. Adel und Geistlichkeit befanden sich infolge ihrer Abschliessung in einem Zustande von Schwäche, hen Knjäsen, welche ängstlich bedacht waren, ihre I>ruschinniks um sich zu erhalten, big wenig daran, dieselben in den Dienst der Kirche eintreten zu scheu. Im vierzehnten Jahrhundert traf Wassili Dmitriewitsch mit dem Metropoliten ein Abkommen, demzufolge kein Diener des Gross-Fürsten die Priester weihe empfangen durfte (Solowiew, [storija, Rossii Bd XIII, Seite .%). Der Menschenmangel, an dem Moskowien so lange zu leiden hatte, wurde eine weitere Ersiehe der Erblichkeit des Priestertlmms, Töchter der Popen den Geistlichen bestimmt und diese letzteren wieder den Popentöchtern. Die Töchter und Söhne des Klerus bedurften einer besonderen Erlaubniss, wenn sie die Priesterklasse verlassen und sich ausserhalb derselben verheirathen wollten. Auf diese Weise, also gerade durch die Forderungen der Gesellschaft, sah sich der russische Klerus mit seinen Frauen und Kindern in Wahrheit als Kaste vereint und abgeschlossen. Als Entschädigung für diese Art heiliger Sklaverei wurden ihm gewisse Vortheile zuerkannt: man rechnete ihn unter die privilegirten Klassen.1) Er wurde vom Militärdienst, von persönlichen Steuern und der Körperstrafe befreit; lauter werthvolle Vorrechte, wenn sie stets respeklirt worden wären und die kirchlichen Oberen oder die weltlichen Beamten sich öfter herabgelassen hätten, den Gesetzen gemäss zu verfahren. Wie diese Lage des Klerus mit dem aus der Leibeigenschaft herausgewachsenen Stande der Dinge zusammenhing, so musste sie auch mit der Emancipation aufhören. Drei Jahre nach der Befreiung der Hörigen, 1804, liess Kaiser Alexander II. die säkularen Schranken um die Priesterkaste niederreissen. Der Zugang zu dem Heiligthume wurde allen Klassen geöffnet, und jede Laufbahn stand fortan den Kindern der Geistlichkeit frei. Diese Emancipation des corpus eccle-siasticum wird sich in ihren Wirkungen erst zu einer Zeit bemerkbar machen, die noch in ziemlich weiter Ferne liegt. Wenn auch das Gesetz dem Klerus gestattet, sich aus den anderen Klassen zu rekrutiren, so wird ihm doch ein Vorgehen nach dieser Richtung durch die herrschenden Sitten noch erschwert. So lange die übrigen Klassen der Nation, der Adlige, der Kaufmann, der Bauer, durch Erziehung oder staatliche Bande vom Priesterthume fern gehalten werden, so lange wird der Klerus von der Gesammtheit dos Volkes auch abgesondert dastehen. Die lewitische Verfassung der Geistlichkeit hatte letztere zu Gewohnheiten geführt, die nicht im Verlaufe weniger Jahre verschwinden können. Unter dem Schutze der Erblichkeit des Priesterthums musste sich allmählich eine Erblichkeit der kirchlichen Aemter und Verrichtungen borausbilden. Der Pope suchte natürlich einem seiner Kinder seine Parochie zu sichern; des Vaters Pfarrstelle wurde das Erbtheil des Sohnes oder noch häufiger die Mitgift für die Tochter, was dahin führte, dass die Parochie eine Art privates liehen oder Priestereigenthum wurde. Es fehlte wenig, so liess sich der ') Siehe Bd. I, Buch V, Kap. I. Klerus dies Recht der Nachfolge amtlich bestätigen, und mehrere der hervorragendsten Prälaten Russlands bekämpften im achtzehnte]! Jahrhundert die Ausübung desselben. Die Gewohnheit sprach zu Gunsten der priesterlichen Ansprüche. Gewöhnlich musste der Kandidat, um in den Besitz einer Pfarre zu gelangen, eine der Töchter seines verstorbenen oder emeritirten Vorgängers heirathen; ja, in den meisten Fällen erfolgte die Ernennung seitens des Bischofs nur unter jener Bedingung. Zwei Gründe veranlassten ein solches Verfahren. Wenn die Familie eines Popen ihr Oberhaupt einbüsste, so liel sie meistens der Kirche oder dem Staate zur Last, welche von jenen gern auf die Schultern des neuen Priesters gewälzt wurde. Daher gehörten wenige Pfarrhäuser der Gemeinde oder der Kirche; die Udzleren gewährten das Feld, das Grundstück, welches den Bedürfnissen des Popen genügen sollte, aber das Haus, welches dieser darauf erbauen liess, war sein Eigenthum, es bildete einen Theil seines Nachlasses, und der neue Ankömmling musste sich, um in den Besitz desselben zu gelangen, mit der Familie seines Vorgängers verständigen und sie schadlos halten. Die einfachste Lösung der Aufgabe bestand darin, dass der Kandidat, um in das Haus zu gelangen, in die Familie eintrat. Da eine zweite Ehe den Frauen der Priester und letzteren seihst untersagt war, und da diese nur eine Jungfrau heirathen durften, so konnte an einen Bund mit der Wittwe des Verschiedenen nicht gedacht werden, und die Uebertragung einer Pfarre wurde demnach am besten durch die Ehe mit einer der Töchter des Vorgängers und die Auszahlung einer Pension an seine Wittwe und die etwaigen übrigen Kinder geregelt. Auf diese Weise vermied man Streitigkeiten und Processe, und die oberen Behörden hatten sogar zu dieser Art der Stellenbesetzung ermuthigt, um desto leichter und bequemer darüber hinwegzukommen. Die Seminaristen, welche — wie erwähnt — erst nach ihrer Verheirathung die Weihe emplingen, waren also verpflichtet, sich mit einer Pfründe gleichzeitig nach einer Braut umzuschauen, und thatsächlich bestand denn auch die grösste Sorge der Aspiranten darin, eine Erbin zu suchen, deren Hand ihnen eine Kirche eintrüge. Der künftige Curatus fragte weniger nach den Reizen und Tugenden seiner Erkorenen, als nach dem Zustande der Wirthschaft und den Einkünften der Parochie, welche sie ihm in die Ehe mitbringen sollte. Die Sitte, durch eine Heirath oder durch diese Art höheren Geschäfts zu Amt und Würden zu gelangen, war beim Klerus so allgemein verbreitet, dass es eines besonderen Gesetzes bedurft hat. um zu verhindern, dass eine Verbindlichkeit daraus hergeleitet wurde. Erst im Jahre 1867 ist es untersagt worden, bei der Verleihung einer Pfründe zu verlangen, dass der Bewerber in verwandtschaftlicher Beziehung zu der Familie seines Vorgängers trete oder diesem eine Pension auszahle. Dies I lesetz ist ausgezeichnet! Wie sollte es jahrhundertealte Verhältnisse und Gewohnheiten mit einem Schlage Indem oder aufheben? Man muss vor allen Dingen, wenn die Ueber-tragung der Pfarrstellen nicht mehr mit Heirathsgeschichten und Nachfolgerschaftsfragen verquickt sein soll, die Wittwen und Waisen des Klerus vor Noth schützen und jedem Popen ein seiner Parochie gehörendes Pfarrhaus geben. Die Erblichkeit war mit der Zeit nicht blos bei den Curaten-'ind l'riesterstellen eingeführt worden, sondern hatte sich sogar hei den letzten Bediensteten der Kirche eingebürgert. Die Priester-blasse nmfasste nicht nur die Popen und die Diakonen, welche die Weihen empfangen hatten, sondern auch die Chorsänger oder oPsalmisten", die Sakrislane, Küster und Glöckner.1) Der russische Klerus zählt ungefähr 500 000 Seelen; in dieser augenscheinlich recht bedeutenden Anzahl, sind die amtirenden Geistlichen, besonders die Priester, zu einem niedrigen Prozentsatze vertreten. Der weisse Klerus 'st noch ungleichartiger als der schwarze; er scheidet sich in zwei öder drei Gruppen, deren jede wiederum eine Klasse in der Klasse bildete, eroe Art \ in unzähligen Schaaren in diesem Riesenreiche abmühen, ihren Ertrag der Kirche und ihren Heiligen zu überliefern, denn von den ;|" Millionen Kilogramm Wachs, welches Russland jährlich gewinnt, verbraucht es für seine Kirchen den grössten Theil. Früher über-liess man den besonderen Industriezweig, geweihte Kerzen zu fabrichten, einzelnen Privatpersonen. Heutzutage übernimmt die Kirche, als gute Wirthschafterin, die Herstellung dieser Kerzen oft selbst. Zahlreiche Bischöfe besitzen ihre eigene Gemeindefabrik, und mehr als ein Kloster beschäftigt sich damit. Auf solche Weise kommt der ganze Ertrag dieser kirchlichen Industrie wieder dem Herrn der Kirche und ihren besonderen Geistlichen zu Gute. Es ist mir nicht mehr ganz genau erinnerlich, wie viel Millionen Rubel die Herstellung und dieser Verkauf der geweihten Kerzen der russischen Geistlichkeit jährlich einbringt, aber soviel steht sicher fest, dass dieser besondere Industriezweig eine der vornehmsten Einnahmequellen der Kirche bildet. Deshalb ist die Vertheilung des Ertrages ans dem Verkauf der Kerzen zu einer der brennendsten ■Tagesfragen unter der russischen Geistlichkeit geworden. Die bestimmte Hauptentscheidung, dünkt uns, wird wohl dem „Heiligen Synod" und den kirchlichen Gerichtshöfen zufallen. Im Gegensatz zum katholischen Geistlichen erhält der russische Pope keine Messgebühren. Man spricht wohl von der Todtenmesse, überhaupt von der jährlichen Messe für die Verstorbenen, allein der Gebrauch besteht nur darin, die Wiederholung zu vervielfältigen. Der Erlass von der Beobachtung der Fastenzeiten und dem Genüsse der Fleischspeisen bildet gleichfalls keine Einnahmequelle mehr für das Kirchspiel oder die Eingesessenen, denn die orientalische Orthodoxie giebt keine Dispense mehr für ihre vier Fastenzeiten; Jedermann beobachtet sie, wie es ihm sein Gewissen vorschreibt und an die Stelle des Fastens setzt sie nicht mehr das Almosengeben. Demnach hat sich die russisch-griechische Kirche nach anderen Einnahmequellen umsehen müssen. Man begreift wohl, dass sie, weil ihre kinderreiche Geistlichkeit genöthigt war, von den kirchlichen Einkünften zu leben, sich veranlasst sab, aus Allem Geld zu schlagen, und dass sie keine kirchliche Handlung, keine Austheilung der Sakramente, ohne Geld dafür zu nehmen, verrichtete. So wird denn Alles bezahlt, die Sündenvergebung, die Taufe und die Eheschliessung. Die kirchliehen Oberbehörden sind sieh der Unbequemlichkeiten dieser Praxis, in Bezug auf die Geltung und das Ansehen der Kirche, sehr wohl bewusst. Sie möchten wenigstens in Betreil' der beiden Haupt-sakramentc, welche in der römisch-katholischen Kirche von dem Priester unentgeltlich verrichtet' werden, nämlich in Betreff der Beichte und des Abendmahls eine Ausnahme machen. Im Jahre 1887 beschloss der „Heilige Synod" den Beichtkindern streng zu untersagen, dass sie dem Geistlichen Geld einhändigten oder nach der Beichthandlung irgend welche Geschenke machten. In gleicher Weise hat er auch bestimmt, was uns natürlich ganz sonderbar vorkommt, dass der eingerissene Missbrauch, auf einem Teller eine Opfergabe niederzulegen, um nach der Kommunion erwärmten Wein trinken zu dürfen, abzuschaffen sei. Um diese Art kirchlicher Einkünfte zu ersetzen, hat der „Heilige Synod" angeordnet, das.-, in den Kirchen sogenannte Opferstöcke angebracht werden sollen, welche die Bestimmung haben, freiwillige Gaben der Kirchenbesucher aufzunehmen, welche dadurch ihre Frömmigkeit und Ergebenheit an die Kirche bezeugen wollen. Eine solche Bestimmung erfolgte vornehmlich für Moskau während der heiligen Woche seit 1887. Man war aber schon im Voraus darauf gefasst, dass eine solche Einnahme ein beträchtliches Defizit gegen die vorjährigen zur Folge haben würde. Es hat sich denn auch herausgestellt, dass sogar Strenggläubige Knöpfe oder Papierschnitze] anstatt der Silbermünzen oder Banknoten in diese Opferstöcke geworfen haben. Wenn einerseits also auch diese Steuerung der Würde und dem An- sehen der Geistlichkeit mehr entspricht, so dient sie andrerseits weniger ihrem Vortheile. Auch ist es noch sohl' zweifelhaft, ob sie wirklich aufrecht erhalten und auf alle anderen Kirchspiele aasgedehnt werden kann. Um so weniger sollte man solche geistlichen Gebühren, welche doch der Priester einmal beanspruchen kann mit Rücksicht auf die Austheilung der anderen Sakramente, abschaffen. Wenn der gewöhnliche Russe den Beistand der Geistlichkeit in Anspruch nimmt, so ist er mit seiner Bezahlung sehr knauserig; kaum honorirt er die wichtigsten kirchlichen Handlungen mit mehr als einem oder zwei Rubel, für die unbedeutendsten und häufigsten kaum mit mehr als einigen Kopeken, d. h. mit dem hundertsten Theil eines Rubels. Die häufige Wiederholung ähnlicher Gebühren kann allein die Geistlichkeit für die Geringfügigkeit entschädigen. Deshalb setzt sie auch keine einzige hintenan. Sie ist vielmehr eifrig bestrebt, sich dabei als ein Finanzmann oder als Steuereinnehmer aufzuspielen. Alles wird bezahlt und Nichts hat ein besonderes Tarif-verzeichniss. Seit Peter dem Grossen hat man oft daran gedacht, die kirchlichen Nebeneinkünfte in Form von Steuern zu erheben, allein das allgemeine Vorurtheil des Volkes hat sich dem widersetzt. W egen der dürftigen, armseligen Lage des Popen und der kläglichen Arinuth des Mushik muss die Höhe der Einkünfte unentschieden bleiben. Anderswo würde man kein Wort darum verlieren, aber in Kussland knickert und feilscht man bei den Gebühren für jede kirchliehe Handlung, mag es nun eine Hochzeit oder ein Begräbniss sein. Es ist sogar vorgekommen, dass Brautleute in die Kirche eingetreten sind, sie aber wieder verlassen haben, ohne sich trauen zu lassen, nur deshalb, weil sie sich mit dem Geistlichen über die Trau-gebühren nicht einigen konnten. Ja, es sind selbst Fälle eingetreten, wo die gewöhnlichen Bauern ihre Todten in aller Stille begraben haben, um nur nicht die Bestattungsgebühren an den Geistlichen bezahlen zu müssen. Davon schreiben sich viele Anekdoten, Märchen und Sagen her. So wird gefabelt, dass einst cm Pope, nur um sich an dem schmutzigen Geiz eines Bauern zu rächen, dessen Kinde, welches er zu taufen hatte, einen ganz lächerlichen Namen gegeben habe. Ein anderes Mal wieder soll es vorgekommen sein, dass ein Bauer, der einen Geistlichen um den Erlaubnissschein zu seiner Verheirathung nach einem anderen Kirchspiel hin bat, mit dem Geistlichen darum gehandelt und gefeilscht hat. Als er zu ihm gekommen war, antwortete ihm der Geistliche auf seine Bitte: „Hast Du auch wohl schon darüber nachgedacht, wie viel mich Dein Wegzug kostet? Viele Rubel gehen mir schon dadurch verloren, dass ich Dich hätte trauen können! Wenn Du dann Kinder bekommst, es mögen vielleicht ihrer sieben sein. Dann hatte ich ja sieben Taufhandlungen zu vorrichten! Es können ja dann einige von Deinen Kindern sterben, vielleicht drei. Dann Helen mir für diese die Begräbnissgebühren zu. Vielleicht musst Du dann auch noch Deine Söhne oder Töchter trauen lassen. Es sind ihrer, angenommen, vier. Dann bekäme ich auch noch die Traugebühren für diese." „Aber, wie, versetzte das schlaue Bäuerlein: „Du bist ja schon alt, Du könntest vielleicht noch eher sterben als ich, um diesen ganzen erträumten Schwindel zu verlieren!" „Allerdings richtig, mein Freund", antwortete der Pope, „wir müssen ja Alle sterben. Nun so will ich deshalb von Dir für diesen in Bede stehenden Erlaubnissschein nur 10 Rubel nehmen!" Diese niedrige Begehrlichkeit der Geistlichen hat zu manchen Schnurren, welche sich das Volk besonders gern erzählt, Veranlassung gegeben. Diese Skaski *) beweisen klar und deutlich, welche Ansichten dieses gehässige Einfordern 'der kirchlichen Gefälle von Seiten des Popen beim Mushik gereift hat! Um jedoch die Ansichten eines Volkes über seine Geistlichkeit richtig zu beurtheilen, sollte man sich lieber auf solche Schnurrpfeiffereien nicht einlassen. Mögen sie nun den Mönchen oder den weltlichen Geistlichen gelten, die Geistlichkeit ist von jeher die Zielscheibe solch plumper und gewöhnlicher Volkswitze gewesen! Darin kennzeichnet sich der beissende Spott der Russen und ihr scharfer, treffender Sarcasmus. Ich will hier nur ein Beispiel von den Schnurren, wie sie Afanasief gesammelt hat, anführen. Ein Pope hatte sich, wie es ganz gewöhnlich geschieht, geweigert, dem Leichenbegängniss einer armen Frau beizuwohnen. Ihr Mann, der ihr das Grab selbst gräbt, entdeckt dabei zufällig einen Schatz. Davon überbringt er dem Geistlichen ein Goldstück. Auf der Stelle werden nun die üblichen Gebete von ihm bereitwilligst verrichtet. Vollständig umgewandelt durch dieses Goldstück, erscheint er sogar noch bei der üblichen Begräbnissmahlzeit und isst und trinkt dort für Drei. Der mit den erlesensten Gerichten reich besetzte Tisch des früher ganz verarmten Tagelöhners versetzt den Geistlichen in kein geringes Erstaunen; er forscht ihn deshalb aus und beschwört ihn, seine begangene schwere Sünde ihm zu bekennen. Hast Du vielleicht einen reichen Geschäftsmann heimlich erschlagen, so fragt er ihn? Ich habe einen Schatz entdeckt, versetzt endlich der Mushik! Der Pope ist aber fest entschlossen, ') Anm. des Uebers.: «nm heisst: Das Märchen. sich dieses aufgefundenen Schatzes zu bemächtigen und macht sein Beichtkind bange. Dazu setzt, er sich mit seiner Frau ins Einvernehmen und beschliesst, sich wie ein Teufel zu verkleiden. Zu diesem Zwecke vermummt er sich in ein Ziegenfell. Die List gelingt und der Mushik übergiebt ihm wirklich aus Furcht seinen Schatz. Aber, als er ihn nach Hause bringt, bemerkt der Pope., dass das Ziegenfell zu seinem furchtbaren Schrecken fest an seine Glieder angewachsen ist! Diese hübsche Geschichte könnte als eine Allegorie dienen. Wie dieses Ziegenfell, so hat sich auch der schlimme Ruf einer niedrigen Habsucht an den ganzen geistlichen Stand wie eine Schmach und Schande angeheftet. Sie ist ihm als Brandmal auf die Stirn gedrückt, sie verhunzt ihn, sie lässt den Diener Gottes als einen Genossen des Teufels erscheinen! „Augen wie der Pope haben," das ist ein gewöhnliches Sprichwort, um seine niedrige Hab-gierde auszudrücken. Es ist demnach eine besonders edle Aufgabe für die Bischöfe, diese Begehrlichkeit ihrer Geistlichen gehörig in Schranken zu halten! Sie verstehen 68 auch, ihnen im Noth falle erbauliche Vorhaltungen darüber zu machen und will ich als Beispiel dafür einen anderen charakteristischen Vorfall, welchen man auf Treu und Glauben Inn nehmen kann, dem ersteren noch hinzufügen. Eine arme Frau hatte einst den Herrn Dmitoi, welcher damals Erzbischof in Tula war. dringend gebeten, ihr zwei Rubel vorzuschiessen. Der Prälat, dessen christliche Mildthätigkeit sprichwörtlich geworden war. vermochte sie sogleich nicht zu linden. Was wollen sie denn mit diesen beiden Rubeln anfangen, fragte er die arme Frau? .Mein Mann ist todt, Ich möchte gern für ihn die üblichen Todtenmessen lesen lassen, aber der Geistliche fordert zwei Rubel für die Beerdigung, Gerade heute vermag ich sie Euch nicht zu geben, erwiederte der gnädige Prälat, aber ich werde morgen persönlich dem Begräbniss Eures verstorbenen Mannes beiwohnen. Zur Beschämung des pllichtvergessenen Geistlichen hielt er wirklich sein Versprechen, was alle in das grösste Erstaunen versetzte. Als aber das Begräbniss vorüber war, überreichte der Bischof, anstatt den Geistlichen mit Vorwürfen zu überhäufen, dim zwei Rubel, indem er dabei ausrief: „Nehmt sie an, Sie sind noch lange nicht, was ich bin! Sie haben keine Sportein und keine Nebeneinkünfte, um davon zu leben!" Das erklärt hinreichend das Streberthum der unglücklichen Popen. Die vornehmste Sorge eines Popen, wenn er seine Stelle übernimmt, besteht darin, sich erst nach den hauptsächlichsten Nebeneinkünften zu erkundigen. Vor einigen Jahren war ein junger Pope aus der Diöcese Wolhynien in eine Pfarrstelle im Kirchsprengel Kowno berufen worden. Als er in Erfahrung gebracht hatte, dass es eine ärmliche Pfarre war, wendete er sich an den Erzbischof und bat ihn um eine einträglichere Stelle. Sr. Hochwürden, der Erzbischof Palladius, erfüllte zwar die vorgetragene Bitte des jungen Geistlichen, schrieb jedoch an den Rand der Bittschrift zu gleicher Zeit die Bemerkung: „Der Bittsteller spricht den Wunsch nach einer passenden Pfarre aus, er muss jedoch angestrengt arbeiten, um sich ihrer würdig zu beweisen, sonst würde er vielleicht besser thun, den geistlichen Stand zu quittiren, der sein eigentlicher Beruf nicht ist und anderweitig ein Unterkommen zu suchen, da seine materiellen Gesinnungen und Ansprüche ganz und gar nicht mit diesem Stande zu vereinigen sind!" Ich trage grosses Hedenken, dass der fragliche Geistliche den Rath seines Oberhirten wirklich befolgt hat. Grösstenteils ist für die Popen der geistliche Beruf nur da, um ihn zu ihrem eigenen Vortheile gehörig und erfolgreich auszubeuten. Es giebt unter ihnen sogar einige, die sich nicht scheuen, die Staatsgesetze und kirchlichen Einrichtungen zu übertreten, um nur das Hinkommen ihrer Pfarrstellen zu erhöhen. So bringen sie oft das Gewissen derjenigen Paare, welche sich gesetzmässig und kirchlich nicht trauen lassen können, durch Annahme von Geldzahlungen zum Schweigen und begünstigen dadurch die unrechtmässigen und geheimen Eher Schliessungen. Besonders in entlegeneren und von dem Weltverkehr mehr abgeschlosseneren Distrikten, namentlich in Sibirien treiben gewissenslose Geistliche jedwede Art von Schacher, da sie sich nicht damit begnügen, ihre eingeborenen Proselyten allein zu bedrücken. Die Geldforderungen der Geistlichkeit sind so allgemein bekannt, dass sie in manchen Gegenden zum grossen Hinderniss für den gedeihlichen Fortschritt der Orthodoxie werden. „Der russische Glaube ist allzu theuer," antworten gewisse Eingeborene in Sibirien den Bekehrern. „Der Pope ist allzu begehrlich, rufen ihrerseits die Raschkolniks aus, die Sakramente sind allzu kostspielig!" Diese Ansicht, so materiell sie auch ist, hat selbst einigen neueren Sektenbildungen, z. B. den Stundisten gegenüber keinen weiteren Abbruch gethan. Mehr als ein Mushik ist zu der Ueber-zeugung gelangt, dass die kirchlichen Sakramente in Folge eines Streites, welchen er mit dem Prediger über den Preis einer kirchlichen Handlung gehabt hat, ganz werth- und geltungslos geworden sind. Einer der bedeutendsten Sektirer, Soutaiief genannt, hat ebenfalls diese Ansicht frei und unumwunden ausgesprochen. Solche tiefgehenden, offenbaren, moralischen Schäden haben die ortho- doxe Kirche von der Beschuldigung der Simonie nicht ausnehmen können. Doch möchte ein solcher Vorwurf in der Türkei nrohl begründeter sein, da hier die hohen Kirchenwürden fast ausnahmslos von der Pforte und den Paschas zu erkaufen sind. Hier ist, die Geistlichkeit vollends genöthigt. die Bekenner des Islam zu quälen und Zu bedrücken, um nur ihre muselmännischen Gebieter zufrieden zu stellen. In Russland wird wenigstens die Heerde der Gläubigen nur noch geschoren, um den Prediger besolden zu können. Die Geistlichkeit., welche von den freiwilligen Opfergaben ihrer Pfarrkinder lebt, kann ihnen keinen Erlass von den Zinsen verstatten, welche doch eigentlich das Brot für ihre Kinder bilden. Man erkennt es bei den Indifferenten und den Dissidenten nicht an, dass sie sich den Abgaben der Kirche entzogen haben. Das Messe auch nur die Priester täuschen oder die Abgaben der gläubigen Pfarrkinder vermehren. Um nicht die orthodoxen Ceremonien begehen zu müssen, sieht sich der Raskolnik oft veranlasst, davon dem Geistlichen wenigstens die Gebühren (das Lösegeld) zu zahlen. Davon schreiben sich die pekuniären Kompromisse zwischen den Geistlichen und den Bektirern her. Die Geistlichkeit hob die Gerechtsame, die ihr zukamen, auf, ohne den Ansichten derer Rechnung zu tragen, welche sie ihr schuldig blieben. Da sie sonst auch den Zehnten erhoben hat,, wie in anderen Ländern, so hat der Staat auch die Gegner u'ie die Anhänger der Kirche zur lieisteuer für den Kultusetat herangezogen. Wie gesagt, verbietet das kärgliche Einkommen seiner Pfarrstolle dem Popen, nur das geringste abzulassen. Denn seine Frau und seine Kinder treiben ihn fortwährend an, keine einzige von seinen wohlbegründeten Forderungen aufzugeben. Er hat ja dabei auch seine übrigen Amtsbrüder, den Diakonus und die niedrigeren Kirchendiener zu berücksichtigen, welche, da sie doch von demselben Einkommen leben müssen, seiner Uneigennützigkeit zum Opfer fallen würden. Um demnach solchen Klagen aus dem Wege ZU gehen, hat. er die richtige Vertheilung der kirchlichen Nebeneinkünfte bestimmten, vom Staate festgesetzten Regeln, unterwerfen nuissen. So bezieht der Priester 3mal mehr, der Diakonus 2mal mehr als der Küster. Den am meisten dabei Betheiligten möchten wohl diese Gebühren nicht ausreichend erscheinen, wenn ausser den Sakramenten und den gewohnheitsmässigen Ceremonien der Kirche, die Frömmigkeit und der Aberglaube des gewöhnlichen Volkes nicht ll(*eli andere Nebeneinkünfte der Geistlichkeit darböten. Auf dem Bande erheischen die verschiedenen Jahreszeiten und die verschiedenen Kulturzweige die Vermittelung des Geistlichen in einem noch viel höheren Grade. Seine beanspruchten Dienstleistungen bezahlt man dort theils mit Geld, theils mit Viktualien. So bieten auch allgemeine Landplagen, wie Dürre, Trockenheit, Misswachs, Epidemien, für den Popen auf dem Lande eine günstige Gelegenheit, sieh zu bereichern, dar. Ich selbst habe es mit eigenen Augen mit angesehen, wie ein solcher Landpope nach einander die Melonen jedes einzelnen Dauern mit Weihwasser besprengte. Wenn diese abergläubischen Landleute nieht, das erhoffte günstige Resultat bei ihrer Ernte erzielen, dann wendet sich ihr Unwille und ihr Zorn gegen diese Diener der Kirche. Der Mushik beschuldigt sie, dass sie schlecht für seine Feld fruchte gebetet oder die anderen dabei üblichen Gebräuche nicht richtig beobachtet haben. Daher ist es wirklich vorgekommen, dass die Bauern in der Gemeinde des Gouvernements Woronesch es sich beikommen liessen, da die Trockenheit und Dürre immer mehr zunahmen, den Geistlichen in die Wellen des vorbei-ftiessenden Baches zu werfen. Bei denen der Hexerei angesohuldiej- n armen Opfern sind sie auch stets mit diesem Strafverfahren bei der Hand. Allein zwischen einem Zauberer und einem Priester, zwischen den Zauberbeschwörungen des erstem und den inbrünstigen Gebeten des letztern kennt die Dummheit des Mushik keinen grossen Unterschied, namentlich auch deshalb nicht, weil sich für ihn der Priester und der Zauberer auf fast gleiche Weise und unter ganz ähnlichen Bedingungen zu bereichern scheinen. Das kärgliche Einkommen der Geisilichkeit nöthigi sie, Beschäftigungen zu übernehmen, welche mit ihrer \Vürde gar nicht im Einklänge stehen. Bisweilen macht sich der Geistliche desselben Aberglaubens schuldig, der unter dem Volke allgemein herrscht. So hat sich auch lange Zeit die Sitte fortgepflanzt, die Gebete für die Krauen im Wochenbette in einem Weiberhut herzusagen. Wenn solche Gebete verrichtet waren (der Bauer reichte nämlich ausserdem seinen eigenen Klapphut [Khapka| hin, damit der Priester sein „Oremus" hineinsprechen konnte), dann machte er seinen Hut sorgfältig wieder zu, um das Gebet nicht entschlüpfen zu lassen und übermittelte das der Wöchnerin, indem er über deren Haupte seine Khapka hin und herschwang. Dieser arge Missbrauch, welcher schon von Peter dem Grossen und seinem ..Geistlichen Gerichtshöfe" eine gehörige Zurechtweisung erfahren hatte, hat sich bis auf den heutigen Tag in gewissen Landstrichen noch erhalten. Solchem schrecklichen Aberglauben gegenüber befindet sich der Pope wirklich in einer sonderbaren Lage, da er davon doch nothwendiger Weise leben und existiren muss. Ausser in der Isba1) des Mushik, behauptet jedoch die Religion, oder besser und richtiger gesagt, das religiöse Ceremoniell, eine grosse und hohe Geltung in dem russischen Staatsleben der Familie und bei allen anderen sonstigen staatlichen Vorgängen. Der Russe Hehl und betet um den Segen der Kirche und ihrer Diener bei jedem wichtigen Freigniss, z. B. bei dem jährlich wiederkehrenden Geburtstage, bei einer Abreise oder einer glücklichen Rückkehr, beim Einzüge in ein neues Haus, bei einer Reise und beim Anfange und Sohluss jeder Unternehmung. .Man bittet den Geistlichen, für den dies gleichzeitig eine Gelegenheit des Genusses und der Hrquiokung wm des Geldverdienens und des Geschäfts ist, ins Haus, um ein »,Te Deum" zu singen und die besonderen Familienfestlichkeiten einzusegnen. Der Pope wartet nicht immer ab, bis er erst dazu besonders eingeladen wird. Es linden sich besondere Zeiten, z. B. zu Weihnachten, zu Johanni und zu Ostern, wo es Sitte ist, dass der Geistliche die Häuser seiner Beichtkinder einsegnet. Ein ganz ähnlicher Ilrauch kommt auch in katholischen Ländern noch vor. In den russischen Städten und auf dem Lande ist es ferner üblich, dass der Priester, und auch der Diakonus, bei ähnlichen heiligen Handlungen von Haus zu Haus geht und das Ilallolujah singt. Wenn sie kaum in das Haus eingetreten sind, wenden sie sich schon nach den Heiligenbildern, sagen eiligst ihre Gebete her, reichen den Beistehenden zum Ku88 das Kreuz hin, stecken ihr Geld dafür ein und verschwinden unvermerkt, um in anderen Häusern dasselbe Geschäft fortzusetzen. Es giebt sogar Häuser, in denen man sie im Vorzimmer von Dienern empfangen lässt. Hat man ihnen dann ihr übliches Geldgeschenk eingehändigt, so erlässt man ihnen ihren Gesang. Auf dem Lande geben solche periodischen Umgänge bisweilen zu ganz eigenen, spasshaften Auftritten Veranlassung. Man bemerkt da, wie die Dauern ihre Thören verriegeln und sogar die -Flucht ergreifen, Wenn der Geistliche sich nähert, nur desswegen, um nicht noch obendrein von den Frauen und den Kindern ihrer Geistlichen verfolgt zu worden. Um solchen peinlichen Auftritten aus dem Wege zu gehen, hat sich der „Heilige Synod" veranlasst gesehen, den Frauen und Kindern streng zu untersagen, ihre Männer und Väter bei solchen Hausbesuchen zu begleiten. Wenn dann ein anderes Mal der Bauer sich weigert, seine übliche Opfergabe zu geben, so entstehen zwischen ihm und dem Prediger unerquickliche Auseinamiersetzungen, die eigentlich mehr auf den Jahrmarkt als in die Kirche gehören. Ich ' Ainn. lies Uebers.: Im Bauernhaus. habe sogar erzählen hören, dass ein Pope, der die Bezahlung für die Gebete, die er soeben verrichtet hatte, nicht gern mehr monirte, Grund genug zu haben wähnte, die Segenssprüche, welche man ihm nicht sofort bezahlen wollte, für sich zu behalten, und Flüche oder Verwünschungen dafür zu geben. Dann siegt häufig der Aberglaube über den Geiz des Bauern, welcher ebensosehr eingeschüchtert und erschrocken über die Verfluchungen des Geistlichen, wie über die Zaubersprüche eines Zauberers ist. Solche Hausbesuche und schlau berechnete pastorale Seelensorge, die alljährlich zu wiederholen üblich sind, gaben zu dem bösen Leumunde, in welchem die Geistlichkeit in Russland allgemein steht, am meisten Veranlassung. Es kommt dieses weniger von der kirchlichen Bettelei als von den näheren Umständen her, die sie begleiten und dabei immermehr an den Tag treten. Bei solchen Hausbesuchen fällt der Geistliche, vornehmlich der Landgeistliche, einem Charakterzuge des Hussen, nämlich der sogenannten rus-sischen Gastfreundschaft zum Opfer, welche noch ein eigentümliches Gepräge des alten russischen Wesens ausmacht. Es findet sich Mühl kein einziger, wenn auch noch so armer Mushik vor, der nicht bei solchen Festtagen für die Familie, seinem Seelsorger ein Glas Wudki anböte! Auch der grösste Geizhals fühlt sich sogar geschmeichelt und gehoben, wenn der Geistliche dies austrinkt. Es wird sogar von den meisten Bauern als eine Schande angesehen, wenn dies nicht geschieht; denn man meint dann, der Geistliche wäre erzürnt und böse, wenn er die armen Leute auf diese Weise nicht achtet. Solche Bauern rächen sich dann dadurch an ihm, dass sie ihm keine Hand- und Spanndienste bei der Bewirtschaftung seiner Ländereien mehr leisten. Aber der Klügere giebt nach und zeigt sich ergeben und gehorsam; denn die (Ihre, die dem Einen erwiesen wird, darf dem Andern nicht vorenthalten werden. Der Geistliche verlüsst den Mushik also, von üsba zulsba, indem er sein Kreuz bei solchen Gelegenheiten mit fortnimmt, überall seinen Segen spricht und dafür wieder sein Glas Branntwein und seine üblichen paar Kopeken erhält. Die Folgen hiervon lassen sich leicht errathen! Wenn der Tag zu Ende geht und solches Hemmt linken immer fortgesetzt worden ist, ist der Geistliche zuletzt nicht mehr zurechnungsfähig. Darüber setzen sich aber die guten Bauern, wenigstens für den Augenblick, leicht hinweg. Wenn der Pope sich dann nicht mehr fest auf den Füssen zu halten vermag, so fühlt sich wohl irgend eine mitleidige Seele veranlasst, ihm zu Hilfe zu kommen und ihn vorsichtig von Thür zu Thür weiter fortzuführen, bis er am Ziele seiner Wanderung angekommen ist. Ein solches Schauspiel ist aber allerdings wenig dazu geeignet, die Dissedenten wieder in die Staatskirche zurückzuführen. Mir ist noch erinnerlich, dass ich in der Gallerie eines reichen Raskolnik in Moskau einmal ein Gemälde von Perof mir angesehen habe, welches eine Scene ähnlicher Art darstellt. Hierauf war ein betrunkener Pope dargestellt, der das Kreuz in der Hand haltend, hin und her wankt, während der ebenso berauschte Diakonus mit seinem Auswurf das Weihbecken beschmutzt. Solche Vorkommnisse können natürlich den Hauern, vielleicht gerade weil sie sie selber veranlassen, wenig Hochachtung einflössen und es bespöttelt das gemeine Volk in seiner angeborenen Ironie am anderen Tage das. wozu es am vorigen selbst die Anregung gab. Es ist danach für einen Popen ganz vortheilhaft, wenn er das Branntweintrinken gut vertragen kann, und, um nicht dem Betrunkensein zum Opfer zu fallen, muss er ein gewohnheitsmässiger Trinker werden. Günstige Gelegenheiten, um sich dazu auszubilden, bieten sich ihm in Menge. So muss z. B. ein Pope bei ländlichen Hochzeitsfeierlichkeiten, ebenso wie bei seinen Hausbesuchen, allen denen, welche auf seine Gesundheit trinken, Bescheid thun. Bei solchen Verhältnissen erreicht ihn dann aber wieder der Ruf, ein tüchtiger Trinker oder Trunkenbold zu sein, umsoeher, als die gewöhnlichen Leute überall gerne aus der Vorliebe für gutes Leben einen Vorwurf zu erheben pflegen. Man darf aber dabei nicht etwa annehmen, dass solche Schwächen der niederen Landgeistlichkeit dem Volk jeden Sinn für deren höheren Beruf rauben. Durch die mechanische Ausübung der kirchliehen Gebräuche und der Liturgie verliert der Priesterstand allerdings Stark an Selbstgefühl, aber er verrichtet sie doch andrerseits mit dem Bewusstsein seiner religiösen und moralischen Ueber-legenheit. Der Pope ist auch sehr treu und pflichteifrig in dem, was man die professionelle Ausübung seines Amtes bezeichnen könnte. Er weiss als Mann von gewöhnlicher Herkunft und von sehr beschränktem Verstände, vorkommenden Falles, dennoch den richtigen Ton anzuschlagen, wenn er Kranke zu trösten und Sterbende auf dem Todtenbette zu ermahnen und aufzurichten hat und ist eingeweiht in das Geheimniss der Sprache, welche mit schlichten und einfachen Leuten zu reden gut ist. Je näher er dem Volke wegen seines Herkommens, ja selbst wegen seiner Schwächen steht, desto besser vermag er es auch, sich ihm verständlich zu machen. Geist-liebe aus der neuen Schule, wenn sie auch bei weitem gelehrter, vornehmer und nüchterner sind, flössen nicht immer sogleich dem Mushik das meiste Vertrauen ein. Er zieht ihnen doch bisweilen den Leroy-Beaulieu, Keieu d. Zaren u. d. Küssen. III. Bd. 18 Popen aus der alten Schule, mit seiner Leutseligkeit, seiner angeborenen Gradheit und seinen Lastern, welche er auch selbst besitzt, vor. „Ich weiss recht wohl, dass er sich betrinkt, so erzählte einst ein ilauer von seinem Geistlichen, aber dabei ist er doch ein guter Christ und bleibt sich stets in seiner Freundlichkeit gleich." Ein halber Bauer während der Woche, wird der arme Pope am Sonntage wieder Prediger, und ein Priester dadurch, dass er das Messgewand und die geistliche Kleidung wieder anlegt. Der geheime Zauber der Keligion und sein hoher, göttlicher Beruf erheben ihn über seine verächtlichen Beschäftigungen und entreissen ihn denselben auf eine Stunde. Die Verrichtungen eines Predigers sind besonders in einem so rauhen Klima, bei einem so strengen Winter und bei so grossen Entfernungen der Kirchspiele von einander wie in Bussland anstrengend und mühsam. Es gehört schon ziemliche Selbstverleugnung dazu, in solch schütz- und baumlosen Ebenen einem Kranken die letzte Oelung darzureichen oder einem Sterbenden bei den schlechten Jahreszeiten und so schrecklichen Wegen die Beichte abzunehmen. Wenn aber der Pope dafür seine Bezahlung verlangt, so darf er sich auch niemals weigern, solche Handlungen zu verrichten, trotzdem es schon häutig genug vorgekommen ist, dass ein Priester, der dem Todtkranken das Abendmahl zu reichen ging, vom entsetzlichen Sturme in furchtbarer Winternacht mit fortgerissen wurde. Um einem solchen Unwetter Widerstand entgegensetzen zu können, hatte er vielleicht einen tüchtigen Schluck Wudki getrunken, dennoch fanden wohl am folgenden Morgen seine Frau und seine Kinder mit Entsetzen seine Leiche unter dem tiefen Schnee wieder auf. Davon habe ich mehr als ein Beispiel erzählen hören. — — Es ist jetzt sehr selten ein im Rufe besonderer Heiligkeit und Frömmigkeit stehender Priester zu finden, der die allgemeine Aufmerksamkeit auf seine Kirche zu lenken im Stande ist. Doch kommen noch einige vor. Ein solcher war z.B. der Erzbischof 1 van Rutsch Serguief von St. Andreas in Kronstadt und noch ein anderer Prediger dieser Art lebt in Ars oder Bcsko. Man schreibt diesem frommen, gottesfürchtigen Manne wunderbare Heilungen zu und hat ein ganz besonderes Vertrauen auf seine Gebete, so dass das Volk ihm von allen Seiten zuströmt, um ihn anzuflehen und die Beichte bei ihm zu nehmen. Seine Kirche ist deswegen namentlich an den Freitagen in der grossen Fastenzeit stets gepfropft voll. — L'75 - Zehntes Kapitel. Der weisse Klerus (Fortsetzung). — Die gesellschaftliche Lage der Geistlichkeit, ihre vereinzelte Stellung, ihre Abhängigkeit. — Ihre Behandlung von Seiten ihrer Obern. — Die Familie des Popen, seine Kinder, besonders seine Söhne. — Der eigenthümliche Kastengeist und die daraus resultirendcu Bestrebungen. — Anstrengungen und Bemühungen zur Hebung der moralischen und materiellen Lage der Geistlichkeit. — Verminderung und Einziehung der Kirchspreiigel und der Priesterstellen. — Ihre Unbequemlichkeiten. — Von der Wahl der Geistlichen. — Das Vorniundschaftswesen in den Kirchspielen. — Die Verwendbarkeit der Geistlichen beim öffentlichen Unterrichte. — Gründe, weshalb man ihr den Volksschulunterricht wieder zuweisen will. — Das Schulwesen in den Kirchsprengeln. — Wie die Predigt früher gehandhabt wurde. — Die Anregung, welche sie durch die politischen Unruhen erhalten hat. — Charakter der russischen Predigt. — Lässt sich wohl der Gegensatz zwischen dem schwarzen und weissen Klerus beseitigen und wie kann man dem letzteren den Zutritt zu dem Episkopat eröffnen? Die eigenthümliche Stellung des Popen erklärt hinreichend und genugsam die geringe Achtung und den unbedeutenden Einlluss der russischen Geistlichkeit. Die hohe Verehrung, welche so besonders der Russe, der Mushik wie der Geschäftsmann, der Religion entgegenbringt, hat nur eine ganz geringe Einwirkung ani die Diener derselben.. Es ist auch nicht immer ein Mangel an Ehrerbietung gegen den Priester, dass er sich bisweilen über ihn lustig macht, da er ihn dann doch wieder seinen geistlichen Vater und Berather nennt und seine Hand küsst. Vielmehr macht dieses allzuweit-gehende Unterscheiden zwischen der Kirche und dem Priesterstande selbst dem gesunden Menschenverstand und Urtheile des Volkes alle Ehre. Seine Religion steht ihm viel zu hoch und erhaben da, nls dass sie ihn die Kirche mit dem Popen verwechseln liesse oder dass er Christus für die schwachen Seiten und Gebrechen des Priesterstandes verantwortlich machte. Der Pope ist den Bauern eine Art von Tschinownik') in geistlicher Beziehung, der ebenso wie die anderen Beamten, Gebühren von den armen Leuten erhebt, Es tritt demnach bei dem Volke dieselbe Erscheinung gegenüber dem geistlichen Stande wie gegenüber dem politischen Staatskörper auf. Bie Geistlichen flössen dem Publikum nicht mehr Rücksicht ein als die Staatsbeamten des Zaren und das Volk erweist seinem Seelsorger fast nur ebenso wenig kindliche Ergebenheit wie seinem Herrn. Es kommt nur selten vor, dass der Geistliche einen grösseren Einfluss l) Anm. d. Uebers.: Beamter. ausübt als in Frankreich auf dem Lande, wo er doch recht unbedeutend ist, doch steht ihm nichts im Wege, einen solchen sich später vielleicht anzueignen; denn der Pope ist doch noch der Einzige, Von dem sich der Mushik unter Umständen beherrschen lässt. Wenn die Geistlichkeit in allen anderen Ländern sonst durch Erziehung und Unterweisung, durch Einwirkung auf die Frauen und die Politik das höhere und gebildetere Publikum beherrscht, so ist dies in Russland ganz anders. Nirgends haben die Kirche und ihre Diener sich einen geringeren Raum angeeignet in dem, was man so „die grosse Welt" nennt. Hier muss sieh der Pope in gehöriger Entfernung von dem Herrenhause halten und ist überhaupt von der gebildeten Gesellschaft ausgeschlossen. Wenn der Grossgrundbesitzer auf dem Lande bisweilen dem Geistlichen sein Haus öffnet, so geschieht es nur bei einer festlichen Gelegenheit oder bei einer kirchlichen Handlung, aber auch selbst dann ist die Vertraulichkeit und die eigentliche Werthschätzung ausgeschlossen und es kommt wohl niemals vor, dass man in einem solchen Hause daran dächte, einem Geistlichen den Ehrenplatz bei dieser Gelegenheit einzuräumen. Es verträgt sich auch hier wieder Hochachtung vor der Religion mit Missachtung gegen die Geistlichkeit. „Der Geistliche," so sprach es J. de Maistre aus. „wird eben nur für eine gewöhnliche Maschine angesehen und man scheint seine Worte für eine Art mechanische Operation zu halten, welche die Sünden ebenso vertilgt, wie die Seife Schmutzflecken wegnimmt." Sogar in Familien, welche es noch einigermassen mit der Kirche halten, treten solche Ansichten ziemlich häufig auf. „Man fordert das Erscheinen von dem Geistlichen an einem bestimmten Tage, ebenso wie von der Waschfrau," ist ein Ausspruch von M. E. M. de Vogiie, „und wenn er für seine Handreichungen sein Gehl erhalten hat, ist man allen weiteren Verpflichtungen gegen ihn enthoben." Die höheren Gesellschaftsklassen nehmen auf ihn demnach nicht mehr Rücksicht als das gewöhnliche Volk, auch haben sie noch nicht das Bedürfniss, dieselben deshalb ihm gegenüber an den Tag zu legen, um dadurch etwa die Religion in den Augen des Volkes höher zu stellen. Die Popen sind also von den gebildeteren Klassen stets auf eine besondere, untergeordnetere Stellung angewiesen, da sie sich von ihnen durch Erziehung, Lebensweise und Ansichten unterscheiden. Vornehmlich auf dem Lande, je näher sie dem Volke durch ihre Lebensart, die aber doch wieder sehr über die des Mushiks erhaben ist, um ohne Weiteres mit ihr verglichen werden zu können, stehen, behaupten sie eine besondere Stellung zwischen zwei Welten, einer höheren und einer niedrigeren und fühlen sich der einen wie der anderen gegenüber fast gleich entfremdet. Eine solche abgesonderte gesellschaftliche Lage bleibt aber nicht ohne tiefe Wirkung auf die geistige Auffassung. Dem Popen, der so von jedem Umgange mit der gebildeten Welt ausgeschlossen ist, sind auch neue literarische Erscheinungen nicht zugänglich, ja er vermag sich nicht einmal auf die Kritiken in den theologischen Zeitschriften und in veralteten Fachjournalen zu berufen, sondern Wissenschaft wie die Kenntnissnahme von den neuesten Vorgängen in der Welt sind für ihn ebensowenig vorhanden wie die gebildete Gesellschaft! Eine der Hauptursachen, die die entschiedenste Einwirkung auf diese abgeschlossene Stellung der Geistlichkeit ausübt, ist darauf begründet, dass es zwischen ihr und den anderen Klassen der gebildeten Gesellschaft gewöhnlich keine Familienverbindungen und keine gemeinsamen Interessen giebt. In dieser Beziehung ist die Geistlichkeit, welche im Cölibat lebt, nicht mehr von der bürgerlichen Gesellschaft gesondert als die, welche weltlich lebt und sich verheirathet. Demnach hat sie die Ehe, da sie sich seit Jahrhunderten fast gänzlich aus sich selbst rekrutirt, statt sie den anderen Gesellschaftsklassen zu nähern und mit der Laienwelt zu vermischen, nur noch mehr von ihr entfernt. Der Pope ist zwar nicht nur durch seine seminaristische Erziehung von der Welt getrennt, sondern auch durch sein Amt, aber seine Herkunft und seine verwandtschaftlichen Beziehungen führen zu einer noch viel krasseren Trennung. Sehr oft ist der Priester selbst ein Sohn des Popen, oder er hat wenigstens dessen Tochter geheirathet, und alle beide sind dann auch in den für die Kinder der Geistlichkeit besonders gegründeten höheren Lehranstalten gebildet worden. Die Geistlichkeit ist also, da sie sich selbst in ihren eigenen Spröss-lingen fortpflanzt, durch Blutsverwandtschaft weder mit dem gewöhnlichen Volke noch mit den höheren Klassen in eine nähere Berührung getreten. Die Laienwelt, vorzüglich Männer aus gebildeten Ständen, treten höchst selten in den geistlichen Stand ein, noch viel weniger aber in den Mönchsstand. Nur vor einigen Jahren hat sich diese Abneigung gegen den Stand der Geistlichkeit etwas verringert. Da habe ich z. B. unter Alexander III. die Namen einiger Grossgrundbesitzer oder auch Studenten kennen gelernt, welche dem Adel angehörten und sich doch zu ganz einfachen Popen hatten ordiniren lassen. Das ereignete sich z. B. in der Diöcese Kharkof. Bei diesen kühnen Neuerern war es vielleicht viel weniger das Streben, dem Volke sich dadurch zu nähern, als das Verlangen, dem gewöhnlichen Volke und hauptsächlich dem Mushik zu dienen. Es geschah in einer Zeit, wo so viele Frauen umsonst dasselbe erstrebten. Der Pope fühlt sich auch nicht glücklich und gemüthlich unter den anderen Klassen, da er moralisch doch getrennt lebt und er verfällt auch dieserhalb oft genug dem Spott, der Verachtung und dem Mitleid. Auf solche Weise wird die Geistlichkeit bei einem Volke, welches doch seinen Heiligen eine so grosse Verehrung bezeugt, zur Zielscheibe des Volkswitzes. Aber nicht nur der Pope selbst, sondern alles ihm Zugehörige, seine Frau, seine Kinder, sein Haus und seine Felder werden sowohl in gewöhnlichen Volkssprichwörtern als auch in der Kunst und der Literatur oft verspottet und belächelt, „Bin ich denn nur deshalb Pope, um täglich zweimal Mittag zu essen?" sagt, eine ziemlich gewöhnliche Redensart gebrauchend, der Mushik. Ein anderes ernsteres Sprichwort, worin die religiösen Täuschungen des Volkes sich zeigen, lautet: „Der Pope ist betrunken und das Kreuz ist von Holz!" Der Aberglaube, welcher sonst mehr für die Verehrung des Priesters eintritt, erweist sich ihm in gewisser Beziehung bisweilen feindlich. Man nimmt von ihm sogar an, dass er einen bösen Blick habe und fürchtet ein Zusammentreffen mit ihm wie mit einem Gespenst, ja das gewöhnliche Volk spuckt sogar aus, wenn ein Priester vorübergeht, um nur diese Vorbedeutung eines Unglücksfalles von sich abzuwenden. Der Landpope wird auf solche Art von Jedermann abhängig, da er von einigen verachtet wird, von allen aber getrennt lebt. Der Bauer, welcher ihn bezahlt und seinen Acker bewirtschaftet, besitzt eine willkürliche, freie Verfügung über ihn. Er ist aber auch von dem Grossgrundbesitzer, der seiner oft begehrt, ihn aber auch absetzen kann, abhängig und endlich dem Bischöfe, dem Konsistorium, sowie auch dem Dechanten verantwortlich. Er muss sich schmiegen und biegen vor der ganzen bürgerlichen Büreaukratie. Der Bischof, sein Ober-herr, sein Hauptojgan, ist weniger der Vater und Beschützer seiner abhängigen Geistlichen, als ihr Haupt und ihr Richter. Die kirchlichen Würdenträger, welche aus dem schwarzen Klerus hervorgehen, tragen oft sogar vor dem Landgeistlichen eine Verachtung zur Schau, welche nur wenig geeignet ist, ihn in den Augen seiner Pfarrkinder zu heben. Der Pope darf nur höchst selten vor seinem Bischöfe erscheinen und er fürchtet sich vor allen Dingen vor seinen kirchlichen Inspektionen. Die einzige Gelegenheit, wo er seinem geistlichen Oberherrn, dem Bischöfe, seine jährlichen Opfergaben darbringt, erregt bei vielen unter ihnen ein Gefühl von Furcht und Bangigkeit. Einige Bischöfe mussten die Anklage über sich ergehen lassen, dass sie die ihnen untergebene Geistlichkeit wie Laien behandelt hätten und dieselben nur empfingen, um sie zu tadeln und einzuschüchtern. Heutzutage noch nennen sie ihre Geistlichen gewöhnlieh Trunkenbolde und Diebe. Die Freigebung der Leibeigenen und die Abschaffung der körperlichen Züchtigungen haben auf indirektem Wege die Landgeistlichkeit insofern gehoben, als ihre Oberen sich lange Zeit daran gewöhnt hatten, sie wie ihre Sklaven anzusehen. Man muss sich aber noch jetzt im Occidente darüber wundern, wie die armen Popen selbst in neuester Zeit von den ihnen vorgesetzten Behörden behandelt werden. Die geistlichen wie die weltlichen Gerichtshöfe kamen immer wieder auf Körperstrafen zurück, und die Konsistorien machten davon der niederen Geistlichkeit gegenüber in einem ausgedehnten Maasse Gebrauch. Die geistlichen Gerichtsbehörden fanden oft ein ganz besonderes Vergnügen daran, der unteren Geistlichkeit mit Peitschenhieben zu drohen. Sogar als Katharina die Zweite, die sonst so strenge Despotin, eine Milderung anordnete und der Stand der Geistlichkeit ofiiziell zu denen gezählt wurde, welche mit Körperstrafen nicht belegt werden durften, mussten die Kücken der Landgeistlichen noch oft sich solche Peitschenhiebe gefallen lassen. Es hat sich die Erinnerung an diese entehrenden Körperstrafen in einigen Familien des Klerus bis heute wach erhalten. Dort werden noch Heispiele, nach denen gewisse Prälaten die Handhabung solcher Körperstrafen bei der niederen Geistlichkeit gut hiessen, angeführt, und von Vater danach auf Sohn weiter fort erzählt. Ich will hier nur von den vielen ein einziges, erwähnen, welches ich einem Professor der Akademie verdanke, der es von seinem Grossvater hatte erzählen hören: Gegen Ende des 18. Jahrhunderts lebte in Wladimir ein Bischof, welcher noch keineswegs zu denjenigen geistlichen Despoten gezählt wurde, von denen viele Diöcesen legendarisch berichten, sondern der ein kirchlicher Oberhirt war, dessen Leutseligkeit und Freundlichkeit noch weithin gepriesen wurde, und der seine Geistliehen, sogar die niederen, wie ein Vater bei sich aufnahm und sie gelegentlich zu hessern suchte. „Nun, mein armer Wicht", so redete sie der Bischof von seinem Divan, auf welchem er ausgestreckt lag, an, „ich will Dir jetzt eine gute Lehre geben!" -.Man bringe mir die Ruthe her, kleide Dich unter der Zeit aus!" so rief er ihm zu. Während er dann seine Füge fortsetzte, musste der so angeredete Priester oder Diakonus sein Gewand und sein« anderen geistlichen Insignien ablegen. Dann wurde er halb nackt auf dem Fussboden ausgestreckt, Vier Mann hielten den armen Delinquenten, zu Füssen des Divans, an Beinen und Händen fest, so dass Sr. Hochwürden die Streiche besser zählen konnte. Es wurden sogar bisweilen Priester dazu gezwungen, ihren armen Leidensgefährten noch mit festzuhalten, wenn ihm diese Stockstreiche von des Bischofs Leuten aufgezählt wurden, und das noch dazu vor allen Versammelten. Diese Streiche waren manchmal so furchtbar, dass das Blut aus den Schwielen herausfloss. Das Gesetz, welches den Ausschluss der Geistlichkeit vom Militärdienste feststellte, wurde von den hohen Kirchenbehörden nicht besser beobachtet, Um aus einem Geistlichen einen Soldaten zu machen, braucht man ihn nur seiner kirchlichen Würden zu entkleiden. Noch unter Nikolaus winden auf Befehl Sr. Hochwürden, des Bischofs Eugen von Tambof, vielen Popen die Köpfe und der Bart geschoren und sie so unter das Militär gesteckt. Einmal lieferte er sogar eine sehr bedeutende Anzahl Priester und Seminaristen zusammen an dasselbe Regiment ab. Auf einen Urteilsspruch ihres Bischofs und ihres Konsistoriums hin können die Popen sogar eingekerkert werden, wenn man sie eines geringen Vergehens wegen nicht mehr auspeitscht oder unter das Militär steckt. Man verurtheilt sie aber auch, ebenso wie die Laien, zur Kirchenbusse, In solchem Falle dient ihnen häufig ein Kloster als Gefängniss, doch wird die so bestrafte niedere Geistlichkeit gewöhnlich in eine Strafanstalt gesperrt. Die Kirche besitzt dazu, ebenso wie ihre geistlichen und kirchlichen Gerichtshöfe, auch ihre besonderen Gefängnisse. Auf solche Weise ist die Festung Souzdal in eine Strafanstalt für Geistliche umgewandelt worden und hatte noch 1887 zu ihrem Kommandanten einen Geistlichen, nämlich den Archimandriten Dosithejus, Die Abhängigkeit und das Elend der orthodoxen Geistlichkeit lassen sich nur durch den Formalismus der russischen Orthodoxie verstehen, denn was den priesterlichen Beruf des Popen, der unter der schweren Bürde der weltlichen Geringschätzung und der äusseren Vorurtheile schmachtet, anlangt, so wird dieser zu einer nur äusserlichen, ganz ceremoniellen Rolle herabgedrückt. Für solche Leute sind Wissenschaften und Studien ganz überflüssig. Den Landprediger treibt der Ehrgeiz, sich in seiner geistigen Bildung über seine Gemeinde zu erheben oder seiner Kirche auf eine bessere und geeignetere Weise zu dienen, nicht an. Geduld, Ergebung und Erniedrigung waren früher die Vorzüge seines Standes. Auch war der Landpope lange Zeit der Gefahr nicht überhoben, abgesetzt, in ein Regiment gesteckt oder zum Zwecke der Kolonisirung in die Ferne geschickt zu werden, wenn sich nur ein Feind fand, der ihn denuncirte. Auch des- halb hat man ihn in Russland stets nur als einen Paria, einen aus der Gesellschaft Ausgestossenen, angesehen. Es nimmt daher Wunder, wenn die russische Geistlichkeit so vielen Ursachen der Demoralisation gegenüber, nach mehreren Jahrhunderten, in denen sie ein so elendes Leben geführt hat, doch nicht noch niedriger gesunken ist. Die eigentliche Last, welche auf dieser Geistlichkeit so lange Zeit hindurch liegt, ist jedoch die Ehe und die Familie. Politik und Religion ziehen zwar gewisse Vortheile aus der Priesterehe, vom ökonomischen Standpunkte aus betrachtet, kommt der Geistliche jedoch, wo sein Beruf die ganze Zeit und Arbeit eines Menschen in Anspruch nimmt und er ausserdem Frau und Kinder zu ernähren hat, sehr theuer zu stehen. Der verheiratete Priester passt zu zwei Gesellschaftsklassen, entweder zu einem patriarchalen Volke, bei welchem, da es keinen Unterschied zwischen den verschiedenen Aemtern macht, er nicht nöthig hat, dem Altardienste allein seine ganze Kraft zu widmen, oder zu einer reichen Bevölkerung, die in der Civilisation schon mehr vorgeschritten ist und die Fähigkeit besitzt, alle Einzelnheiten gehörig zu würdigen. Bei einer Zwischenstellung, wie die ist, in welcher sich Russland gegenwärtig befindet, vermag die Geistlichkeit ihre Familie von ihrer Hände Arbeit allein nicht zu ernähren und das Land ist auch nicht reich genug, um das Einkommen eines Predigers nebst dem Lebensunterhalt einer ganzen Familie bestreiten zu können. Der Priester ist jetzt nicht mehr, wie es einst bei dem maronitischen Geistlichen der Fall war, in der Lage, wochentags «eine Feldarbeit zu verrichten, um am Sonntage seine ganze Kraft der Kirche zu widmen, dabei ist er aber, wie z. B. der englische und amerikanische Pastor, nicht ein Mann von Welt, der von einer begüterten und gebildeten Gesellschaft eine ehrenvolle Belohnung entgegennimmt. Wenn man die Ausgaben eines Land-Predigers vielmehr berechnet, so geräth man iu grosses Erstaunen darüber, welchen unausgesetzten Fleiss er anwenden muss, um seine Familie nur einigermassen standesgemäss zu ernähren. Ich nahm durch die Güte eines russischen Priesters zufällig Einsicht in das Budget, welches dieser unter Alexander II, selbst entworfen hatte. Die verschiedenen Ausgaben für Kost, Kleidung, Toilette der Frau und der Töchter und für Pension der Söhne in dem Seminar, nahmen für diese 7 oder 8 Personen ohngefähr einen Kostenaufwand von öOO Rubel in Anspruch. Heutigen Tages erheischen doch die bescheidensten Ansprüche noch mehr. Um nun diesen geringen Kostenaufwand mit seinem Einkommen in das richtige Gleichgewicht ZU bringen, liess der Pope nach und nach alle Ausgaben für den Luxus streichen. Zuerst nahmen sie keinen Zucker mehr, dann blieb der Thee ganz weg, darauf auch das Fleisch, dann auch das Weizenmehl und endlich sogar die Ernährung einer Kuh. Bei diesen Ersparnissen in der Haushaltung und auch für die Erziehung seiner Kinder brachte er die Ausgaben für seine ganze Familie, die er doch standesgemäss ernähren musste, nur auf das fast unglaubliche Minimum von 407 Rubel herunter. Der Lebensunterhalt ist aber seitdem viel theurer geworden und viele Popen haben kaum ein Einkommen von 400 Rubeln. Wie anders verhält es sich mit den französischen Landgeistlichen, deren Einkommen zwar auch ebenso gering ist, die aber auch keine Frau zu ernähren und keine Kinder zu erziehen haben! Dieser materielle und moralische Febel-sland in einer solchen Stellung wirkt unheilvoll und nachtheilig auf die ganze Familie des russischen Geistlichen und setzt dadurch den ganzen geistlichen Beruf und Stand herab. Wir wollen hier noch eine kurze Febcrsicht von den einzelnen Mitgliedern der Predigerfamilie geben. Zuerst soll uns die Frau des Geistlichen beschäftigen. Unter ihnen giebt es allerdings gar nicht wenige, welche einen grossen, weitgehenden Einfluss in der Gemeinde haben, da der Pope meist durch sie, d. h. durch ihre Yermittehmg und Fürsprache, seine Pfarrstelle erhalten hat. „Glücklich und gesegnet wie eine Prediger-Frau", sagt man bisweilen, ohne Rücksicht auf die Bekümmernisse und schweren Sorgen, welche diese unersetzliche Frau auszustehen hat, denn wie traurig wird oft dieses erträumte Glück! Wenn der Pope vielleicht auch für sich noch glückliche Stunden verlebt, wenn er Beförderungen oder Auszeichnungen erlangt, oder wenn er andere Genüsse, wie Gastmäler und dergleichen mitmachen kann, muss seine Frau davon doch stets zurückstehen. Die Erziehung ihrer Kinder, sowie die anderen so schwer auf ihr lastenden Sorgen finden Haushalt gestatten ihr kaum, ihren Ehemann bei der Ausübung seines Berufs zu unterstützen, oder ihn zu begleiten, wenn er die Armen, Verlassenen und Kranken besucht und ihnen Trost zuspricht, Hier kommt selten eine Mitwirkung und ein Eingreifen der Frau bei einer christlichen Liebesthat, bei Werken der christlichen Barmherzigkeit und Nächstenliebe vor, wie sie bei den protestantischen doch so oft zu Tage tritt, und wo die Frau Pastorin dadurch, dass sie mit Antheil an diesen christlichen Werken der Armenpflege nimmt, auch den Einfluss der Kirche steigert. Als ich das erste Mal einem Gottesdienste in einer russischen Dorfkirche beiwohnte, bemerkte ich eine Dame mit rundem Hute, welche sich auffallend durch ihre ganze Kleidung von den Bäuerinnen, die in ihrer Nähe süssen, unterschied. Da sie den ersten Sitz in der ganzen Kirche einnahm, war sie keine andere als die Predigersfrau. Aber wie einzig und absonderlich in ihrer Einfachheit stach sie gegen den bunten Flitterstaat der Mushikfrauen ab, die bereits die Kleider und den Schmuck der Städterinnen tragen! Eine solche Frau huldigt bescheiden, und höchstens nur Sonntags, den europäischen Moden. Nur einmal habe ich eine russische Predigersfrau in einem Krämpenhute gesehen. Dir ganzer Anzug zeigt vor aller Augen ihre Einfachheit, Anspruchslosigkeit und Abgesondertheit. In ihrem Kleide spiegelt sich ihre gesellschaftliche Stellung. Auf dem Lande findet sie Niemand, mit dem sie umgehen könnte. Höchstens kommt sie einmal mit ihres Gleichen aus der Nachbarschaft in Verkehr. Nicht viel anders liegen die Verhältnisse in dieser Beziehung in den Städten. Das kanonische Recht und die übrigen kirchlichen Bestimmungen erlauben, wie man sagt, einer Predigers-frau nicht, auffallende Farben zu tragen und sich an weltlichen Belustigungen und Vergnügungen zu betheiligen. In der Stadt allerdings, wo sich der Pope mittels seiner besseren Stellung etwas freier bewegen, und auch seine Frau Gesellschaften besuchen und erwiedern darf, scheinen diese Bestimmungen hinfällig geworden zu sein. Die untergeordnete Stellung in der Erziehung der Frauen hat die meiste Veranlassung zu der abgesonderten Lage des Priesterstandes gegeben. Ein Haus, das einem gebildeten Geistlichen seine Thür wohl geöffnet hätte, würde doch seiner ungebildeten Frau stets den freien Zutritt verwehrt haben! Ein Geistlicher vermag wohl, wie es ebenfalls in Frankreich der Kall ist, wenn er auch aus gewöhnlichem Stande stammt, durch sein besonderes Ansehen und seine Geltung seine Geburt und seine Abkunft zu ersetzen. Dazu kommen nun noch seine Erziehung und besonders der von ihm erreichte Bildungsgrad. Mit einem verheiratheten Priester der russischen Staatskirche jedoch verhält sich das anders. Da bildet gerade die Frau zwischen ihm und der Gesellschaft eine schwer zu beseitigende Schranke, also trägt auch insofern die Priesterehe gerade am meisten zu der etwas vereinsamten Stellung des Popen bei. Zur Hebung des geistlichen Standes in Russland bedarf es vorerst noch einer höheren, gründlicheren Bildung der Frau. Welcher andere Stand fordert wohl von einer Frau mehr Idealismus, Feinfühligkeit und sonstige Vorzüge des Herzens und des G eistes, wozu doch auch ausserdem eine gewisse Veranlagung nöthig- ist? Es giebt ja besondere geistige Bildungsstätten für die Töchter der Popen, ebenso wie sich auch besondere Erziehungsanstalten für adlige Damen vorfinden. Sie waren aber, trotz ihrer XJnentbehrlichkeit, oft genug dem Spott preisgegeben« Unter den augenblicklich obwaltenden Umständen werden jedenfalls viele Jahre vergehen müssen, ehe der Land-Prediger sich eine andere Lebensgefährtin erwählen kann, als aus dem unter ihm stehenden ungebildeten Bauern- oder Handwerkerstande. Auch in England gab es aber eine Zeit, wo die Landgeistlichen nur arme Dienstmädchen heirathen konnten. Das war in England, dem Lande, wo die gesellschaftliche Stellung der Geistlichkeit eine angesehene ist! Nächst der Frau wollen wir uns nun die Kinder des Popen etwas eingehender betrachten. Es ist gewiss allgemein einleuchtend, dass nicht alle Kinder, mögen es nun Mädchen oder Knaben sein, dem geistlichen Stande treu bleiben werden. Heutzutage wird ihnen ja der Austritt aus diesem Stande auch nicht schwer gemacht, denn es wünschen doch viele, die für diesen Beruf erzogen sind, nicht mehr eine Lebensstellung zu ergreifen, deren grosse Schattenseiten und Entbehrungen sie selbst in ihrer Jugend so genau kennen gelernt haben. So kommt es häutig genug vor, dass viele von diesen jungen Leuten beim Austritt aus dem Seminar oder auch beim Scheiden vom Gymnasium der Kirche den Bücken wenden. Aber diesen Söhnen von Geistlichen, welche den Beruf ihres Vaters nicht erwählen, eröffnen sich gleichfalls keine glänzenden Aussichten für die Zukunft, Mittels ihrer Bildung stehen sie zwar viel höher als der Bauern- und Handwerkerstand, allein wegen ihrer Armuth, in Ermangelung reicher Verwandten, einllussreicher Fürsprache und wegen der gesellschaftlichen Vorurthcile können sie auch im praktischen Leben sich keine allgemein geachtete Stellung erringen, so dass sich denn die meisten von ihnen veranlasst sehen, eine untergeordnete Beschäftigung in der Bureaukratie zu suchen. Durch Zähigkeit, angestrengten Eleiss und treue Pflichterfüllung bringen es dennoch viele Söhne der Geistlichen, welche man Seminaristen zu nennen beliebt, zu einer angesehenen Lebensstellung und man trifft sie deshalb fast in allen Berufsklassen, besonders in denen, welche Kenntnisse und eisernen Fieiss erheischen, nämlich im Erziehungsfache, in der Heilkunde, in der Zeitungspresse, bisweilen als Sekretäre, ja sogar in der Verwaltung und bei dem Militärdienste an. Um ihren Ehrgeiz anzuspornen, bedarf es nur des Beispiels, welches Speranski, der gefeierte Ho trat Ii Kaisers Alexander I. und Nikolaus I. selber gegeben hat. Denn dieser schwang sich aus der niedrigen Stellung eines Zöglings des geistlichen Konvikts zu den höchsten Staatswürden und angesehnsten Staatsämtern empor. In unseren protestantischen Landern von Europa macht man die Beobachtung, dass aus keinem anderen Stande soviel ausgezeichnete Männer und berühmte Gelehrte hervorgegangen sind, als gerade aus den Familien der Landgeistlichen. Das ist aber sehr begreiflich, denn die Söhne dieser Landpastoren haben schon die beiden grossen Vortheile für sich voraus, dass ihnen einerseits ihre Erziehung und andererseits ihre sittliche Festigkeit zur besonderen Empfehlung wird. Bei einer ähnlichen Bildung würden auch wohl die Söhne der Popen in Russland hinter ihnen nicht zurückstehen: denn trotz aller Schwierigkeiten wegen ihrer niedrigen Herkunft, bilden sie doch schon ein nicht unbeträchtliches Element in der russischen Gesellschaft. Man könnte ja unter den berühmten Gelehrten und Schriftstellern von Petersburg und Moskau mehr als einen Sprössling aus den geistlichen Ständen als Beispiel anführen. Es wäre dabei nicht einmal nöthig auf die grossen Todten, z, B. den gefeierten Geschichtschreiber Solowjew zurückzukommen. Solche Kinder von Geistlichen machen, wenn sie in anderweitige Berufsklassen eingetreten sind, die besonders vorgeschriebenen Prüfungen durch, welche die russische Nation nun einmal in ihrem eigentümlichen Kastengeiste fordert, aber dabei vermischen sie sich nicht immer ganz mit dem Mittelstande, den sie zu ihrem besonderen Lebensberufe erwählt haben, sondern bewahren häufig genug ihr eigenthümliches Gepräge und ihre besonderen Tendenzen in allen Berufszweigen und gegenüber allen einzelnen Graden des Tscinn.1) Einen seminaristisch gebildeten Mann erkennt man immer nieder; denn mitten in der Laienwelt ist ihm der kirchliche Anstrich und der geistliche Typus ein für allemal aufgeprägt. Auch kann man solche Popowitschs in Ermangelung aller anderen Charakterzüge oft schon am blossen Namen herausfinden. Viele von ihnen führen nämlich als Familiennamen die Benennungen der Kirchenfeste oder der Mysterien, welche mehr oder weniger gewissen spanischen Taufnamen gleichkommen. So nennen sie sich z. B. nach der Himmelfahrt, der'Auferstehung und der Geburt unseres Herrn und Heilandes. Auch nach der Kreuzerhöhung und Kreuzerniedrigung, nach der Reinigung, der Verkündigung etc. pllegen sie sich ihre Namen beizulegen. Andrerseits legen sie auch noch von einer Generation zur anderen einen besonderen Nachdruck auf kirchliche Titel, sowie z. B. Protopope.-) Der auf diese Weise von den Zöglingen der Seminarien in die Welt verpflanzte Geist kommt jedoch durchaus nicht dem gleich, den man eigentlich von solchen Söhnen der Geist- ]) Anmcrk. des Uebers.: 'iiim, = Bang. i) Anmerk. des Uebers.: Uporonoro = Oberpriester. liehen erwarten sollte. Denn sie besitzen meist eine recht freie Gesinnung, die bisweilen sogar das revolutionäre Element streift, es ist ein Geist der Verachtung und der Auflehnung gegen die einmal bestehende menschliche und göttliche Ordnung, und namentlich gegen die vornehmeren, höheren Gesellschaftsklassen. Solche freieren Ansichten, welche doch eigentlich im Grunde genommen, mit ihrer Abkunft, Erziehung und Bildung nicht in Einklang zu bringen sind, nähren dann verderbliche Einwirkung noch mehr. Sie sind die Folge der Entbehrungen, des Elends und der Verachtung, welche sich sozusagen in diesem Priesterstande abgelagert haben. Der weisse Klerus besitzt keine eigene politische Ansicht, er kann auch keine Iiaben, da er durch das doppelte Gewicht des kummervollen Lebens und der stärken Entbehrung ganz und gar in den Staub gedrückt wird. Man mag darüber weiter nachdenken oder nicht, seine Ziele sind sehr verschieden von denen unserer jetzigen Geistlichkeit, wie sie sich in den meisten Ländern Europas vorfindet. Anstatt sich stets den Interessen des Adels oder ,der conservativen Partei zuzuwenden , neigt sich die russische Geistlichkeit, wenigstens der weisse Klerus, immer mehr der Volkspartei zu. Ja, es ist sogar schon mehr als ein Geistlicher in Bussland wegen Nihilismus in Anklage-zustand versetzt worden. Das ist aber allerdings eine Bezeichnung und ein Wort, mit welchem man in jüngster Zeit in Bussland einen argen Missbrauch getrieben hat. Daher zeigt sich in dieser Beziehung, wie in vielen anderen Fällen, eine sehr natürliche Opposition zwischen den Popen und der hohen Geistlichkeit, die in den Mönchsklöstern erzogen ist. Denn die lästeren haben nicht genug Gelegenheit, sich im gesellschaftlichen Leben hinreichend zu bewegen und scheuen daher die Neuerungen, vor denen demnach auch die kirchlichen Oberbehörden zurücksehrecken. Was aber bei dem Geistlichen erst nur Instinkt ist, wird bei seinen Söhnen schon zur Beberzeugung und zur wohl berechneten politischen Ansicht! Der Gegensatz zwischen dem angesehenen hohen Priesterstande und der verächtlichen Stellung eines Weitgeistlichen bringt den jungen Seminaristen schon früh in Aufregung. Die Schranken, welche sich ihm heim Antritt seines Berufes hinderlich in den Weg stellen, verletzen sein aufstrebendes Wesen und die Vorurtheile, welche er während seines ganzen Lebens zu bekämpfen hat, regen sein Blut noch mehr auf. Daher diese demokratische Gesinnung und diese radikalen Umsturzideen, welche in den Köpfen der jungen Leute, die von den Popen abstammen, herumspuken! Es ist auch gar nichts Ungewöhnliches, dass diese Leute ebensowenig Verehrung und Liebe für den geistlichen Beruf hegen als für den weltlichen Stand. Denn heim Abgange aus ihren Schulen gerathen sie schon in Aufregung gegen die Kirche, die sie, wie ihre Väter für eine Rabenmutter halten. Der unerträgliche, furchtbare Druck, den die Kirche bei ihrer Erziehung auf sie ausübte, treibt sie gegen diese zur Empörung. Bei jenen zerfahrenen und aufgebrachten Gemüthern, die von keiner Autorität mehr etwas wissen wollen, erreicht die Reaktion gegen die ihnen mitgetheilten und eingeimpften kirchlichen Lehren und Ansichten den höchsten Grad der Erbitterung und Aufregung. Man hat die Beobachtung gemacht, dass die unentwegtesten und kühnsten Philosophen des 18. Jahrhunderts aus den geistlichen Anstalten hervorgegangen sind. Ebenso haben die russischen Pres-byterien Legionen von Atheisten und Socialisten geliefert. Unter den Aposteln des Nihilismus und den Dynamithelden sind gerade die Söhne und Töchter der Geistlichkeit am meisten vertreten. Wenn es nun auch in Russland schon an und für sich eine Menge Unzufriedene und Revolutionäre, die wegen ihrer Lage und Stellung für einen Umsturz jeder gesellschaftlichen Ordnung schwärmten, von Haus aus giebt, so gewinnt die Zahl derselben doch die meisten Anbänger durch die Söhne der Geistlichkeit. In Russland, wo sich aus dem Arbeiters!ande bis jetzt nur ein geringer Bruchtheil des Proletariats rekrutirt, leisten gerade diese Leute der Bildung eines intellektuellen Proletariats den grössten Vorschub und zwar finden sich unter ihnen solche, die aus der menschlichen Gesellschaft ausge-scossen sind, gleichzeitig neben anderen, die sich emporgearbeitet haben. Sie alle sind von demselben Hasse gegen die vornehmeren Stände, die ihr Vermögen der Geburt oder dem Glücke verdanken, erfüllt und von diesen Söhnen der Geistlichkeit, die in den unteren Verwaltungskreisen so zahlreich vertreten sind, wird jener furchtbare Radikalismus und jenes nivellirende Wesen, das man der Büreaukratie und der Presse zur Last gelegt hat, hauptsächlich begünstigt und eifrig gepflegt. Es haben demnach Staat und Kirche die unbedingte, heilige Pflicht, diese argen Missstände in der russischen Geistlichkeit zu heben und gänzlich zu beseitigen. Diese Aufgabe hat sich auch die Kaiserliche Regierung schon seit langer Zeit gestellt, denn es giebt wohl keinen Herrscher in Russland, von Alexander I. bis Alexander III., der sich nicht gründlich und umfangreich damit beschäftigt hätte. Deshalb ist die erwähnte Aufgabe auch zu einer der brennendsten Tagesfragen geworden, welche bei jedem Regierung*- und Thronwechsel auf das Programm gesetzt wird. Kaiser Alexander II. legte der Lösung dieser wicht igen Frage denselben hohen Werth bei, wie der Abschaffung der Bauernsklaverei. Der Befreier vom Joche der Sklaverei Suchte jedoch diese Emancipationsfrage auf eine andere Art zu lösen. Nach der von ihm hinterlassenen Weisung wurde im Jahre 1887 eine Kommission gewählt, die aus Mitgliedern des ..lb iligen Synod" und der hohen Staatsbeamten bestand. Um diesen ihre Arbeit zu erleichtern, hatte sich ein besonderes Comite in jedem Kirch Sprengel gebildet. Diese edlen, unausgesetzt dem Volkswohle gewidmeten Bestrebungen, welche die ganze Begierungszeit jenes hochherzigen, edlen Herrschers in Anspruch nahmen und auch noch von seinem Nachfolger aufgenommen und fortgesetzt wurden, haben jedoch, obgleich sie nicht ganz resultatlos verlaufen sind;, den erwünschten Frfolg nicht gehabt. — Um nämlich das Einkommen der Geistlichkeit zu erhöhen, ohne die Staats- und Kirchengebühren entsprechend zu vermehren, hatte man sich anfangs eines ganz einfachen Mittels bedient. Es bestand darin, dass man die Geistlichkeit selbst verminderte. Der „Heilige Synod" gab sich von den ersten -Jahren der Regierung Kaisers Alexander III. an die erdenklichste -Mühe, die Zahl der Pfarrstellen und dabei zu gleicher Zeit auch die Zahl der Kirchendiener zu beschränken. Man hatte dabei, vielleicht ohne es zu wissen, die Lutheraner des skandinavischen Nordens im Auge, unter denen sich aus ähnlichen Gründen eine solche Reducirung der Kirchensprengel und der Pastoren schon vollzogen hatte. Es war aber keine Reform, welche man dem russischen Kultus und besonders dem Kaiserreiche anpassen konnte, denn ein fast unüberwindliches Hinderniss stellte sich in dem grenzenlosen Länderbesitze der .Kirche dabei entgegen. Als man mit dieser Reform, d. h. mit dieser Beschränkung und Einziehung der Pfarrstellen begann, besass die russische Staatskirche schon unter Alexander IL, ohne die Tausende von kleinen Kapellen, kaum 39000 Kirchen, von denen viele in den Städten selber oder in deren Umgebung lagen. Als Kaiser Alexander III. zur Regierung kam, waren schon mehr als 3000 davon eingerissen oder geschlossen worden. Obwohl dann eine gewisse Anzahl seit der Zeit wieder aufgebaut und geöffnet wurde, kann man doch kaum sagen, dass diese für ein solches Riesenreich sehr beträchtlich ins Gewicht fiel. So besass Russland im Jahre 1887 im Ganzen nur noch 33 000 Kirchsprengel. Wenn man sich in seinem Vergleich nur auf das Land beschränkt, so würde es sieh bald zeigen, dass das europäische Russland hei seinem 11 mal grösseren Territorium doch beträchtlich weniger Kirchen und Kirchspiele besitzt als Frankreich. Daraus erhellt die unermessliche Ausdehnung gewisser russischer Kirchspiele. Wellte man zu einer Verminderung schreiten, dann könnte es nur in den volkreichsten Gegenden, vornehmlich in den Städten und namentlich in den alten moskauischen Kathedralstädten geschehen, wo, wie vor der ersten grossen französischen Revolution im Oecident, die Menge der Kirchengebäude im Verhältniss zu der Frömmigkeit der Vorfahren, aber nicht zu der der lebenden Bevölkerung steht. Dabei hatte man. nach dem System, das zu Zeiten der Leibeigenschaft in Anwendung war, als Hauptgrundsatz aufgestellt, dass jedes Kirchspiel ohne die Weiber ungefähr 1000 Seelen zählen musste. Man rechnete dabei darauf, dass jedes männliche Kirchen-mitglied herangezogen werden könnte, an den Popen einen Rubel zu steuern. was für diesen dann ein jährliches Einkommen von 1000 Rubel ausgemacht hätte. In einem Reiche, welches Gegenden aufweist, in denen nicht mehr als 35 Einwohner auf das Quadratkilometer kommen, wären allerdings selbst in den volkreichsten Distrikten Kirchspiele von 2000 Seelen immer zu gross. Wie «tobt es da nun in den nördlichen und östlichen Provinzen, wo viele Kirchspiele an Ausdehnung die grössten Diöcesen Italiens oder des Orients noch bei weitem übertreffen! Es ist eine Aufgabe der Kirche wie des Staates, dafür Sorge zu tragen, dass die Landbevölkerung Senntags auf möglichst kurzen Wegen nach der Kirche gelangen kann, denn schon die grossen Ausdehnungen der Kirchspiele auf dem Lande bringen die gewöhnlichen geistlichen Handreichungen nicht in das richtige Verhältniss zur Landbevölkerung und tlagen noch mehr zur Entstehung der Bespopowzys,1) d. h. jener Sekte bei, welche den Geistlichen entbehren zu können glaubt. Aus diesem Grunde kann man eine Wiedervermehrung der Kirchspiele mit vollem Rechte gutheissen. Man hatte eine derartige Reaktion auch schon zu einer Zeit vorausgesehen, in der dieses System kaum erst aufgetaucht war. Freilich waren die Anhänger desselben anfangs damit noch nicht recht einverstanden. — Die Geistlichkeit hatte die grossen Vortheile, die man sich ursprünglich daraus versprach, überhaupt nicht anerkannt, Denn wenn die Kirchen allzu entfernt liegen, werden sie weniger besucht, und auch die Opfergaben leiden darunter. Man begriff es wohl, dass wenn der Geistliche allzuweit von seinem Kirchspiele ist, auch eine grössere Gleichgiltigkeit des Volkes gegen die Religion eintreten muss. 0 Anm. dos Uebers.: Beainiiiüitiiiiiiin ist eine Sekte, die keine Priester anerkennt. Das russische ,.<5ea" ist das verneinende Vorwort — dem deutschen ,,un", dem lateinischen „in" oder dem griechischen „n". Leroy-Beau 1 ieu, Reich d. Zareu u. d. Russen. III. Bd. 19 Ebenso erging es auch mit der persönlichen Verminderung der Geistlichkeit selber. Diese bot die gleichen Nachtheile wie die Einziehung der Kirchspiele, um so mehr, da es doch dem russischen Priester nicht wie dem katholischen geht, der nur eine einzige Messe celebrirt und nie genöthigt ist, sie zweimal täglich zu lesen. Das ganze grosse Riesenreioh zählt noch keine 35 000 orthodoxen Geistlichen, das ist bei einem solchen Territorium und einer solchen Bevölkerungsziffer durchaus nicht zu viel. Vor zwanzig Jahren noch besass das Reich einige Tausende mehr. Die Hauptreducirung bezog sich jedoch auf das Diakonat, das Sänger- und Sakristanamt und diese niedrigem Stellen besassen auch die geringste Bildung und lebten dabei sehr zügellos. Gerade durch ihr ungebundenes, fesselloses und unsittliches Treiben wurde der ganze geistliche Stand der allgemeinen Verachtung am meisten preisgegeben. Diese Leute sind hauptsächlich, selbst wenn man von ihrer persönlichen Niedrigkeit und Dürftigkeit absieht, eine wirkliche, schwerwiegende Bürde für die Kirche und das ganze Reich. Es wäre demnach als das Einfachste zu empfehlen, vornehmlich auf Einziehung und Verminderung dieser unteren Kirchenämter sein Augenmerk zu richten. Bin ganz ähnliches Verfahren hat ja auch schon die römisch-katholische Kirche dadurch eingeschlagen, dass sie geeignete Persönlichkeiten aus den weltlichen Berufen für die erledigten Küsternnil Sakristan-Stellen in Aussicht nimmt. Hin und wieder ist auch jetzt schon dergleichen in der russischen Staatskirche in Anwendung gebracht worden. Man hat sich andererseits bemüht, die Stellung dieser Kirchendiener, soweit es in Bezug auf ihr moralisches Verhalten möglich war, zu heben und hat sie auch noch einigermassen zur weiteren Verwendung im Volksschulunterricht tauglich gemacht, Bei dem vielen Hin- und Her-Debattiren über den Gegenstand, wie man die Stellung der Geistlichkeit in Russland durch Verminderung derselben heben könnte, wurden auch noch andere Auskunfts-mittel vorgeschlagen. Dabei wurde zuerst die Frage aufgeworfen, ob es sich nicht empfehlen möchte, wenn der Staat seine Bereitwilligkeit, die Priestcrbesoldung mit zu übernehmen, nicht zeigte, dazu die Frovinzialausschüsse und die einzelnen Gemeinden heranzuziehen? Unzweife 1 hilft Würde wohl die Gemeinde oder der Semstwo dem Popen ein bestimmtes Einkommen gerne gewähren, denn dann könnte man ja die Kirchenmitglieder von allen anderen Beiträgen, welche die kirchlichen Handlungen erheischten, entlasten. Das Volk aber würde die Freigebung der Sakramente ebenso gerne gutheissen, wie es die Hebung des Priesterstandes mit Freuden begrüssen würde. Diese trügerischen Hoffnungen konnten unglücklicher Weise jedoch nicht erfüllt werden; denn die damaligen Finanzen der Semstwos und der Gemeinden liessen die Uebernahme eines Budgets für die Geistlichkeit in keiner Weise zu. Die meisten lehnten es deshalb ah, sich neue Steuern aufzuerlegen, weil dadurch die ganze Neuerung bei dem Volke weniger beliebt werden und geringeren Anklang linden wurde. Das waren die Pläne, deren Verwirklichung auf so grosse Hindernisse stiessen. Nur einige Gemeinden erklärten sich überhaupt dazu bereit, der Frage wegen Uebernahme der Besoldung an die Geistlichen näher zu treten. Diese blieben aber in starker Minorität, Bs war dabei auch zu erwägen, dass solche Beschlüsse widerruflich waren. Dem entsprechend war im Kreise der Laien die Ansicht zur Geltung gekommen, den einzelnen Kirchspielen die eigene Predigerwahl frei zu geben und hiermit standen wieder die Beschlüsse, den Bauer-Versammlungen grössere Vorrechte einzuräumen, um bei ilinen für die Uebernahme der Besoldung der Geistlichkeit einen weiteren Spielraum zu gewinnen, im Zusammenhang. Diese Ansicht fand auch in gewissen angesehenen Kreisen eine freundliche Aufnahme, vornehmlich in Moskau. Der verstorbene Aksakow bezeugte ihr zuerst seine warme Theilnahme. Ferner machten es sich slawophile Schriftsteller zur Aufgabe, den Beweis dafür zu liefern, dass die selbstständige, freie Predigerwahl ganz den nationalen Gebräuchen, Sitten und kanonischen Bestimmungen der Kirche entsprächen und wiesen dabei klar nach, dass eine ungewöhnliche Neuerung nicht vorliege, sondern, dass eine freie Predigerwahl seitens der Gemeinde nur eine Rückkehr zu den alten, liebgewordenen Gebräuchen bedeute. Man musste ja dabei allerdings zugestehen, dass diese Bestrebungen für die Freigabe der Predigerwahl schon auf den Konzilien des Iß. und 17. Jahrhunderts zu vielen aufregenden Scenen Veranlassung gegeben hatten, da auch dabei vielfach Uebertreibungcn und Ueberschreitungen vorkamen und die Kandidaten für ihre Stellen die Stimmen der Wähler oft käuflich erwarben. Im Grossen und Ganzen war man der Ansicht, dass der alte Gebrauch, die Pfarrer selbst zu wählen, mehr für Klein- als'für Gross-Bussland passe. Man fand Bestrebungen nach dieser Richtung bei den Beschlüssen der grossen Kirchensynoden von Kiew bis 1840 auf, auch wurde 1820 eine ähnliche Bestimmung in Bessarabien be-stätigt. Der Bischof forderte dabei nur, dass die niedrigen Kirchendiener ihm eine Bestätigung des Kirchspiels beizubringen hätten. Es 19* bewahrheitete sich ferner, dass sogar mittun in Gross-Kussland der gefeierte Metropolit Plate unter Alexander I. einzelnen Kirchspielen das Vorrecht eingeräumt hatte, ihm die Kandidaten für die erledigte Pfarrstelle in Vorschlag zu bringen. Der Semstwo von Moskau hatte zuerst 1880 und dann wiederholt im -Jahre 1884 ebenfalls verlangt, dass das Wahlrecht oder wenigstens das Präsentationsrecht, den Kirchspielen wieder überlassen werden möchte und andere Provinzial-Ausschüsse hatten sich freimüthig in gleichem Sinne geäussert. Der ..Heilige Synod" tadelte alier diese Verwendung der Semstwos durch den Ausspruch des Ober-staats-ProkuratoTä scharf und erklärte sie für einen Eingriff der weltlichen Behörden in die besonderen Gerechtsame der Kirche. Nach Ansicht dieser hohen Kirchenversammlung hiesse es, wenn die Kirche wie ehemals den Kirchsprengeln die freie Predigerwahl überlassen würde, soviel als wäre den Bischöfen keine genügende Anzahl gelehrter Männer bekannt. Dies wäre aber jetzt, wo die Seminarien die einzigen Pflanzstätten für die junge Geistlichkeit bilden, nicht der Fall. Wollte man dieser Auslassung des „Heiligen Synod" Glauben schenken, so wäre die freie Wahl der Geistlichen nur eine Rückkehr zu den linsteren Zeiten des Mittelalters. Dieser Einwurf hat aber die Anhänger der freien Predigerwahl nicht hinreichend überzeugen können und sie antworteten deshalb dem Oberkirchonrathe, dass die freie Wahl der Kirchsprengel sich auf diejenigen Kandidaten beschränken würde, welche ihre ersten theologischen Studien vollendet hätten. Auch wäre wohl den Versammlungen auf dem Lande nur das Vorrecht zuzugestehen, ihre Ansichten über Alles, was die Gemeinde anginge, frei auszusprechen, und nur bisweilen die Ernennung und Absetzung eines Geistlichen zu vollziehen. Dadurch veranlasst, hat das Kultusministerium, im vollen Einvernehmen mit dem Oberstaats-Prokurator, im Jahre 1887 die strenge Weisung an diese Versammlungen ergehen lassen, sich niemals wieder mit ähnlichen Fragen zu befassen und in dieselben sich zu vertiefen. Der einzige Vortheil dieser freien Predigerwahl würde, wenn das gewöhnliche Volk dafür regeren Sinn besässe, eine grössere Annäherung beider Stände sein. Diese grössere Annäherung hat man aber schon auf anderem Wege und mit anderen Mitteln zu erzielen gestrebt. In erster Linie durch die Einrichtung von kirchlichen Vormundschaftsgerichten. Zu den Hauptanlockungen, welche die Sekten bieten, gehört nämlich für den gewöhnlichen Mann, dass die Anhänger des Baskol auch Mitglieder einer besondern Gemeinschaft sind und für ihre Ausgaben auch einen bestimmten Antheil an deren Verwaltung haben, dass sie dasselbe Betzimmer benutzen und sich dort wie zu Hause fühlen können. Es sollten demnach diese im Jahre 1864 eingesetzten Vormundschaftsgerichte auch den orthodoxen Laien eine gewisse Theilnahme an der Leitung der kirchlichen Angelegenheiten einräumen. Diese bildeten eine Art geschäftliche Gesellschaft und gleichzeitig ein Bureau für Wohlthätigkeitszwecke, bisweilen sogar eine obere Schulbehörde. Alan glaubte mit Hilfe dieser geistlichen Vormundschaftsgerichte auch die materielle Lage und die moralische Geltung des geistlichen Standes mit einem Schlage zu heben. Allein es hat sich doch herausgestellt, dass sie weder die eine noch die andere wesentlich gefördert haben. Vor allen Dingen haben sie, da sie nur vom grünen Tische aus diktirt und auf administrativem Wege zu Stande gekommen waren, keine freiere und unabhängigere Entwicklung für die ganze Staatsmaschine mit sich gebracht, Viele Kirchsprengel erfreuen sich ihrer bis jetzt noch nicht und wo sie wirklich eingerichtet sind, haben sie noch wenig Ansehen erlangt. Das kirchliche Vormundschaftsgcricht muss von der ganzen Gemeinde-Vertretung ernannt werden, und gerade dieser Ausschuss, zu dem sich alle orthodoxen Einwohner rechnen, ist oft ihn zu berufen nicht geneigt. Wenn man ihn versammelt, geschieht es gewöhnlich nur wegen einer Geldbewilligungsfrage. Daraus allein schon erklärt sich die geringe Betheiligung des Volkes. Freiwillige Beiträge sollten eigentlich die Haupteinnahmequelle des Kirchenvermögens bilden. Da diese jedoch recht oft ausbleiben, so sieht man sich gezwungen, die Gemeindemitglieder zu einer Art von Steuer heranzuziehen, welche allerdings das Vormundschaftsgcricht, selbst wenn die Ausgaben dringend werden, nur schwer einzutreiben vermag. Der Bauer steuert nur wenig dazu bei, und die Kirchspiele haben gewöhnlich keine grossen Einnahmequellen, wie es sonst wohl in anderen europäischen Ländern der Fall ist. In Russland sind gegenüber den vielen Vermächtnissen für Klöster, Hospitäler und den vielen Stipendien für die Schulen, nur wenig milde Stiftungen oder Legate für die Landkirchen vorhanden. Auch scheint ihnen freiwillig keine einzige Volksklasse eine warme Theilnahme entgegenzubringen. Das klingt sonderbar genug in Ansehung der rührigen und eifrigen Bestrebungen der Dissidenten jeder Art bei demselben Volke. Daher fühlt man sich auch geneigt, den Gegensatz zwischen dem Raskolnik und der orthodoxen russischen Staatskirche nur in den bureaukratischen Einrichtungen der letzteren und im Charakter der Geistlichkeit zu suchen. Die kaiserliche Regierung hat deshalb ein anderes Mittel in Vorschlag gebracht, um eine grössere Annäherung zwischen dein gewöhn- liehen Volke und der Geistlichkeit herbeizuführen, und den ganzen Stand des Popen überhaupt mehr zu heben, nämlich die Ueberwachung der Schule durch die Geistlichkeit. Dadurch hat sich für die Kirche ein neuer Schauplatz der Thätigkeit eröffnet. Denn die ihrer Obhut mehr anvertrauten Schulanstalten in den Kirchspielen haben schon unter Alexander III. einen grösseren Aufschwung genommen und sind einer immer besseren und gedeihlicheren Entwicklung entgegengefühlt worden. In dieser Beziehung stehen Russland und Frankreich auf einem ganz entgegengesetzten Standpunkte: denn in Frankreich bemüht sich der Staat unablässig Religion und Geistlichkeit vom Elementarunterrichte soviel als möglich fern zu halten, während man in Russland die Kirche für besonders berufen hält, den Volksunterricht zu leiten und zu überwachen. Eine solche Ansicht aber ist auch nicht ganz neu. Schon in Altrussland wurden alle höheren, wissenschaftlichen Schulanstalten von der Kirche geleitet. Unter Peter dem Grossen und seinen nächsten Nachfolgern stand der Volksunterricht auch noch unter der Oberleitung des „Heiligen Synod". Das Regiment Alexanders III. hat ihn mehr oder weniger wieder dem kirchlichen Einliuss und der geistlichen Inspektion zurückgegeben. Schon der Graf Dmitri Tolstoi ging eifrig damit um, in einer Zeit, wo er noch die beiden Portefeuille des Oberstaats-Prokurators und Kultusministers in seinen Händen hatte, die Schulen in den einzelnen Kirchsprengeln, welche unter der Lokalinspektion der Geistlichkeit standen, zu vermehren. Eine Zeit hindurch, ungefähr um die Mitte der Regierung Alexanders IL, waren diese Schulen sehr bedeutend, wenigstens auf dem Papier, gestiegen. Allein dem schnellen Aufblühen folgte bald ein noch viel rascherer Verfall, wie es in Russland, wo die Begeisterung und die Erkaltung und Gleichgiltigkeit so oft sich auf dem Fuss folgen, so häufig geschieht. Die meisten verdankten ihren Untergang den von den Provinzialständen ins Leben gerufenen Weltlichen höheren Lehranstalten. Pobedonoszew hat sich undenkliche Mühe gegeben, sie wieder ins Leben zurückzurufen. Seine Bemühungen sind ihm auch geglückt. so dass solche Kirch-spielsohulen überall wieder gegründet sind. Keiner von allen russischen Kultusministern ist so warm für sie eingetreten, als dieser verdienstvolle Oberprokurator des „Heiligen Synod". Die kaiserliche Regierung hat einen besonderen Vortheil und eigentümlichen Nutzen in dieser Mitarbeit der Kirche auf dem Gebiete des elementaren und höheren Unterrichtswesens aufgefunden. Sie schmeichelt sich mit der Hoffnung, dadurch das Volk womöglich auf ihre Kosten und auf ihre Gefahr hin zu bilden. Es kommt ihr der von der Kirche eingesetzte Priester, Diakonus und untere Kirohon-beamte noch immer vor, wie ein unter die Oberaufsicht des Bischofs gestellter Erzieher und als eine viel sichere Stütze als der Mönch. Man muss es offen eingestehen, dass die ersten Ergebnisse des Volksunterrichts in Bussland nur wenig aufmunternd und Zutrauen erweckend gewesen sind, denn man hat darin nur die Nichtigkeit und Hinfälligkeit eines ganz gewöhnlichen Vorurtheils gesehen, welches in der grösseren Begünstigung des Volksunterrichts eine besondere Wahrung und festen Schutz für die Sittlichkeit des Volkslebens erblickt. Der Mushik fühlt sich aber schon glücklich genug, wenn er in seinem Dorfe eine Schule haben kann, in welcher seine Kinder Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Andererseits hat man jedoch die Beobachtung gemacht, dass gebildete und aufgeklärte Bauern leicht unheilvollen revolutionären, Träumereien zuneigen. Deshalb hat die russische Regierung etwas versucht, was in früheren Zeiten andere europäische Staaten gethan haben, welche sich des Nutzens, den der Volksunterricht gewährt, zwar bewusst waren, seinen Ergebnissen aber noch misstrauisch gegenüberstanden, und ebenso wie es andern Orts der Fall war, haben Kaiser Alexander III. und Pobe-donoszew die endliche Lösung dieser Aufgabe der Religion und der Kirche zugewiesen. Wenn man ausserdem die Geistlichkeit an die Spitze der Schule stellt, so erweitert man auch ihr Ansehen. Nach dem Juni-Reglement von 1884, welches vom „Heiligen Synod" sorgfältig und gewissenhaft ausgearbeitet wurde, war den von der orthodoxen Geistlichkeit gegründeten Parochialschulen als wichtigstes Ziel die Befestigung des Kirchenglaubens und der christlichen Moral, sowie der Unterricht in den Hauptelementen der allgemeinnützlichen Kenntnisse gestellt. Man nahm allerseits diesen auf die Religion gegründeten Unterricht sympathisch auf, da er für die Anschauungsweise und die Bedürfnisse dieser Landbevölkerung wie geschaffen schien, Ein im Erziehungsfache so ausserordentlich erfahrener Mann, wie Pobedonoszew es ist, betonte aber — was sich so häutig als wahr erwiesen hat — in seinen Berichten vornehmlich, dass der Religionsunterricht den Mittelpunkt bilden müsse, weil nur dadurch im gewöhnlichen Volk Vertrauen für diese wichtige und heilige Sache zu gewinnen sei. Der russische Bauer beansprucht von seinen schulpflichtigen Kindern, dass sie bei dem Gottesdienste ordentlich mitsingen und ihm während der langen Winterabende aus irgend einem Erbauungsbuche etwas vorlesen können. Schon aus diesem Grunde ist er sehr geneigt, seine Söhne und Töchter solchen Schulen anzuvertrauen. Was den Nutzen, welchen die Anstalten den Schülern selbst gewähren sollen, anbetrifft, so hat er weniger diejenigen Kenntnisse, welche äusseren Gewinn versprechen, als das Seelenheil und die ewige Seeligkeit seiner Kinder im Auge. Dadurch wird für ihn, wie es bei uns im Mittelalter war, die Schule nur die Dienerin der Kirche. Sie steht in seinen Augen, um so höher, als sie sich ihrer religiösen, kirchlichen Anschauung unterordnet und fügsam erweist. Zweifellos macht eine solche Kommunalschule den grössten und nachhaltigsten Eindruck auf ihn deshalb, weil sie nach seiner Ansicht im Stande ist, ihn den Mächten der Hölle und Finsterniss zu entreissen, denn gerade diese spielen in seinen Phantasien eine I lauptrolle. Aber abgesehen von mancherlei finanziellen Schwierigkeiten giebt es noch viele Dinge, die sich der gedeihlichen Weiterentwicklung solcher pädagogischen Grund- und Lebens-Anschauungen mächtig entgegenstellen. Den Ursprung derselben wird man jedoch weniger im Volk als im Priesterstande selbst auffinden. Die orthodoxe Kirche an sich hat stets die grösste Bereitwilligkeit dafür gezeigt, dass ihr Priesterstand an diesen edlen pädagogischen Zwecken mitwirke. Aber welche Stellung nimmt der russische Priestorstand selbst dieser brennenden Tagesfrage gegenüber ein? Hat er in der That Kraft und Müsse für eine gedeihliche Mitwirkung an diesen edlen und grossen Erziehungszwecken? Das erregt wohlbegründetes Bedenken bei Jedem, der dieser Frage unparteiisch gegenüberstellt. Die geistige Beschränktheit, an der die russische Geistlichkeit ausserdem theilweise noch jetzt leidet, scheint den Priesterstand überhaupt für die Uebernahme einer Erzieherstelle unfähig zu machen. Dieser wohlbegründete Einwurf soll sich allerdings nur auf den Elementarunterricht beziehen, auch käme es ja nur auf den geistlichen Stand und die kirchlichen Schulanstalten selbst an, eine pädagogisch ganz ungeeignete Persönlichkeit durch Ausweisung aus dem Lehrkörper unschädlich zu machen. Deshalb hat man auch schon der Pädagogik in einigen russischen Seminarien einen grösseren Platz eingeräumt, Neuerdings sind in der Diöcese Nishni zum Beispiel 1887 wieder kirchliche Parochialsehulanstalten ins Leben gerufen worden. Zur Zeit, als man die Kirche von der Schule trennte, übernahm in neugegründeten Anstalten weniger der Geistliche als der Direktor die Hauptaufgabe eines Erziehers. Der Bischof hat jedoch volle Berechtigung, an seine Stelle eine ihm geeigneter scheinende Person zu berufen. Der Pope kann sich in der Schule vom Diakonus vertreten lassen und untergeordnetere Geistliche sind im Stande, eine solche Vertretungsstunde zu übernehmen, namentlich scheinen dazu Diakonen und Psalmisten geeignet, da diese während der Woche in der Schule unterrichten und am Sonntage bei dem Gottesdienste den Kirchengesang leiten können. Diese würden dann in der Praxis unseren früheren Lehrern und Erziehern gleich stehen, welche bisweilen das Schulkatheder mit der Kanzel vertauschten. Im Nothfalle kann der Geistliche in Ermangelung eines Diakonus oder eines Psalmisten die Vertretung auch durch dazu passende, erwachsene Mitglieder seiner eigenen Familie besorgen lassen. Sie sind dafür nur berechtigt, eine ganz bescheidene Geldentschädigung zu fordern. — Das Unterriehts-reglement von 1884 bestimmt, dass der Unterricht in solchen Schulanstalten hauptsächlich in den Händen der Priester und anderer Mitglieder der hohen Geistlichkeit liegen muss. Es kann freilich auch vorkommen, dass er weltlichen Lehrern oder auch Lehrerinnen anvertraut wird. Diese stehen jedoch ständig unter der Oberaufsicht der Geistlichkeit und unter der Kontrolle der kirchlichen Provinzial-behörden. Solche in das Lehrerkollegium berufenen Lehrkräfte müssen ausserdem vorzugsweise frühere Schüler der geistlichen Seminarien sein, welche also genöthigt waren, ihren Bildungsgang in von der Kirche abhängigen Anstalten durchzumachen. Durch solche Forderungen hat natürlich der Grundsatz des unbedingten Gehorsams und der vollständigen Unterwerfung und Abhängigkeit der Schule von der Kirche zu den äussersten Konsequenzen geführt. Wollte man andere Länder Europas zum Vergleiche heranziehen, so würde sich wohl kein einziges auffinden lassen, in welchem eine so durch und durch von dem kirchlichen Geiste eingegebene Schulordnung und Schulgesetzgebung aufzufinden wäre. In den betreffenden Rescripten ist mit klaren Worten gesagt: „Die Parochialschulen stehen unter unmittelbarer Oberaufsicht des Bischofs; sie können nur mit dessen Bewilligung gegründet, geschlossen oder einer weltlichen Leitimg anvertraut und übertragen werden! Jede Diöcese hat ihre obere Schulbehörde oder ihr Oberschulkollegium, welches grösstenteils aus Mitgliedern der Geistlichkeit besteht. Auch weltliche Mitglieder können unter dem Titel oder der Bezeichnung eines Ehrenkurators darin ihren Silz haben. Jeder Bischof hat seine bischöflichen Inspektoren, welche von ihm selbst ernannt werden und noch andere inspicirende Geistliche. Allerdings sind diese Schulanstalten auch QOCh ausserdem der Oberaufsicht der weltlichen Oberschulbehörden unterstellt" Mit Rücksicht darauf, dass diese Parochialschulen von der Kirche abhängig sind, ist die Oberleitung des Unterrichts auch dem ..Heiligen Synod'' vorbehalten. Dieser Behörde unterliegt die Lektüre und Recension der jährlich erscheinenden Programme. In erster Linie berücksichtigen diese Programme die heilige Geschichte, den Katechismus, das Gebet und das Kirchenlied. Schreiben, Lesen und Rechnen, welche sonst gewöhnlich den Lektionsplan solcher Schulen ausfüllen, nehmen darin erst die zweite Stelle ein. In den zweiklassigen Volksschulen reiht sich diesen Gegenständen noch der Unterricht in russischer Volks- und Kirchengeschichtc an. Der Besuch des Gottesdienstes an Sonn - und Festtagen ist unerlässlich. An diese Knabenschulen lassen sich auch noch, natürlich nur mit besonderer bischöflicher Erlaubniss, Klassen für Erwachsene, besondere Realklassen zur Vorbildung für den bürgerlichen Beruf und auch Sonntagsschulen anschliessen. Auch Schul- und Volksbibliotheken linden sich im Besitze dieser Anstalten, in denen jedoch die Auswahl der Bücher immer wieder unter der Oberaufsicht des „Heiligen Synod" steht. Es sind diese Parochialschulen noch allzusehr Schöpfungen neuester Zeit, als dass man es hinreichend taxiren könnte, wie weit ihr Einfluss auf das Volksleben und die Geistlichkeit gediehen ist. Trotz ihrer mit Recht allgemein angezweifelten gedeihlichen Weiterentwicklung, da sie doch zugleich unter der Oberaufsicht der geistlichen Parochial- und der weltlichen Behörde stehen, erfreuen sie sich einer allgemeinen Beliebtheit beim gewöhnlichen Volke und sind deshalb einer schnellen Blüthe entgegengeführt. Dafür legt die hohe Zahl der seit Jahren gegründeten Anstalten, die sieh auf über 'Pausend beziffert, Zeugniss ab. Halb religiöse, halb patriotische Pensionate, wie das orthodoxe Pensionat der heiligen Jungfrau in St. Petersburg, das des Heiligen Cyrill oder das des Heiligen Methodius in Moskau es sind, haben es sich zu ihrer Hauptaufgabe gemacht, christliche Gesinnung und allgemeine Begeisterung für die Sache der christlichen Barmherzigkeit und Nächstenliebe, die man als Präservativ gegen den Kasten- und Sektengeist verherrlicht hat, in alle Schichten der Gesellschaft zu tragen. Katkow pries sie, als die besten Anstalten für die Russilicirung in Ländern von gemischter Nationalität und Konfession. Als solche sind sie an den Ufern der Wolga, bei den Tschuwaschen und den Tscherkessen berühmt geworden; und das nicht nur in den schon halbbarbarischen, asiatischen Landstrichen und nahe den Bewohnern der äussersten Thüle, welche UOCh wie die schrecklichsten Barbaren leben, sondern auch in Landstrichen des civilisirten Europas, in den occidentalen Provinzen, namentlich in Litthauen, Weissrussland und Kleinrussland, Es giebt Landstriche, in welchen die Popenschule mehr von Katho- liken als von Orthodoxen besucht wird. Etwas Aehnliches würde in umgekehrter Weise wohl selten zu bemerken sein, wo die römisch-katholische Geistlichkeit sich herausnehmen würde, eine Schule nach der anderen zu eröffnen. Als der die Parochialschulen betreffende Ukas im Juni 1884 ausgegeben wurde, gab es in dem ganzen weiten Riesenreiche deren nur noch 3000, aber schon 0 Monate darauf hatte die Geistlichkeit nahe an 2000 weitere Anstalten gegründet. Diese Bewegung ist seitdem nicht etwa im Sande verlaufen, sondern hat überall die beste Aufnahme gefunden und zu hunderten sind neue Schulen fast in jeder der 54 Diöcesen des Riesenreich.es, natürlich auf Befehl und Anregung der Bischöfe, wie Pilze aus der Erde geschossen. Urteilt man nach den letzten Aufstellungen, so konnte es nur wenige Diöcesen geben, die nicht schon Ueberiiuss daran hatten. Es hatten sich aber Skeptiker mit dieser wichtigen Frage beschäftigt, die nachforschten, ob diese Anstalten auch wirklich eine Zukunft haben und ob nicht die ineisten nur in den Registern der Con-sistorien existiren. Wie überall bei Neuerungen, so ist man bei dieser Gelegenheit auch in Russland Schmähungen und Angriffen ausgesetzt gewesen. Es ist dies hier um so hegreiflicher, da es in diesem Lande nur eines Losungswortes „von Oben" oder einer Aufforderung der gegenwärtig die Stimmung beherrschenden Zeitungen bedarf, um von „hoher Stelle aus" angeregte Bestrebungen mit einem Male zur Geltung zu bringen, selbst wenn sie in ofliciellen Kreisen keine Aussicht auf dauernden Erfolg haben und buhl wieder für alle Zeiten in Vergessenheit geraten. Es muss allerdings zugegeben werden, dass unter den Tausenden von Schulanstalten, die nur errichtet wurden, um Lärm zu schlage^, sich solche befanden, welche tatsächlich allein in der Idee — ohne Lehrer und ohne Schüler ein eigentümlich einsames Dasein fristend — existirten. Um etwas Aehnliches zu entdecken, hat man kaum nötig, auf diejenigen Anstalten zurückzukommen, die von Potemkin ehemals so mächtig in den Dörfern gefördert wurden, denn derartige Erscheinungen sind in Russland wiederholt hervorgetreten. Zur Zeit Alexanders IL, als man schon daran gedacht hatte, den Volksschulunterricht wieder in die Hände der Geistlichkeit zurückzugeben, kamen die gleichen Dinge zum Vorschein. Hätte man sich ausserdem so weit verstiegen, die Schülerzahl in den vorhandenen Anstalten näher anzugeben, so würde man wohl beschämend wenig herauszubringen vermocht haben. Jede dieser Parochialschulen brachte es durchschnittlich nur auf höchstens 5 bis 0 Schüler, was ungefähr allerdings soviel heisst, als dass viele von ihnen nur auf dem Papier standen. Hierin ist aber in jetziger Zeit ein gänzlicher Umschwung eingetreten und wenn man den darüber officiell aufgestellten statistischen Berichten Glauben beimessen darf, so beläuft sich die Schülerzahl von in manchen Diöcesen errichteten Anstalten im Durchschnitt auf 20 bis 30. Es kämen aber auch bei dieser Annahme nur ungefähr 20 Kinder beiderlei Geschlechts auf das Tausend gerechnet, dazu, dass sie nothdürftig unter der Aufsicht des Popen die 36 Buchstaben des russischen Alphabetes kennen lernen. Es haben sich ausserdem so wenig den Unterrichtszwecken entsprechende und geeignete Schullokalitäten, in denen die weltlichen Schulen untergebracht werden konnten, vorgefunden, dass man diese lieber gleich selbst der Geistlichkeit überlassen hätte. So war es auch eine sehr wichtige und dringende Frage, ob man nicht besser thun würde, die von den Semstwos eingerichteten freien weltlichen Anstalten derselben Oberleitung anzuvertrauen? Wenngleich Bussland noch nicht einem Kampf zwischen dem Laienthum und dem Clerus anheimgefallen ist, so würde doch wohl eine ähnliche von der Geistlichkeit beanspruchte Oberleitung der Elementarschulen der Auffassung der jetzigen Bussen entsprechen. Sie sind sich aber der Lichtseiten, die aus einer Concurrenz entstehen, wohl bewusst und es haben sich selbst unter den der Kirche neu gewonnenen Anhängern klarsehende Köpfe gefunden, die ihr ein solches ihre Kräfte übersteigendes Monopol nicht gern einräumen möchten. Der letzt verstorbene Freund der Slavophilen, Aksakow, fürchtete sehr, dass ein gänzlich des weltlichen Elementes entbehrender Charakter einen gefährlichen Gegensatz zwischen der von den Semstwos vertretenen Gesinnung und den geistlichen Bestrebungen hervorrufen möchte! Der Wmnsch, die Oberleitung des Elementar-Schulunterrichtes wieder der Kirche in die Ilande zu spielen, ist sogar bei der Einberufung der Provinzial-stände an den Tag getreten! Es haben sogar die Semstwos in einigen Distrikten die Absiebt zu erkennen gegeben, der Kirche ihre Schule freiwillig zu überlassen, und haben nicht verfehlt, sie in ihren Schullasten fortgesetzt zu unterstützen, doch haben sie häufiger noch in anderen ihre Schulen behalten und der Geistlichkeit nur die Er-theilung des Religionsunterrichtes, hauptsächlich des Unterrichtes im Kirchenslavisclien und in den liturgischen Kenntnissen überlassen. Das war auch der beste und geeignetste Weg, um das gewöhnliche Volk wieder für diese weltlichen Anstalten zu gewinnen! Wenn nun die Schulen des Semstwo sich im Allgemeinen dem geistlichen Einilusse entzogen haben, so ist es jedoch anders mit den Elementarschulen in kleinen Dürfern, den sogenannten Lese- und Schreibeschulen, in denen der Unterricht von ausgedienten, alten Officieren oder pensionirten Beamten ertheilt wird, bei deren Bestrebungen es klar und deutlich hervortritt, dass sie nur von den Beiträgen der Eltern ihrer Schüler leben, denn Alexander III. hat alle diese niederen Dorfschulen unter die Oberleitung der Geistlichkeit zurückgeführt. Darf man sich aber darüber wundern? Sogar Thiers, der gefeierte Geschichtsschreiber Frankreichs, ging ja unmittelbar nach der Märzrevolution im Jahre 1848 in Frankreich mit dem Plan um, den ganzen Elementarschulunterricht den Mönchen oder der Geistlichkeit zuzuweisen. Man muss allerdings beachten, dass die russische Staatskirche weit davon entfernt ist, für Unterrichtszwecke dieselbe Begeisterung und Theilnahme zu liegen und dafür dieselben Mittel hin zu geben, wie es bei der römisch-katholischen Kirche in Frankreich der Fall ist. — Um den mächtigen Aufschwung, welchen die Parochialschulen in neuester Zeit genommen haben, noch mehr zu fördern, und um Kaiser Alexander III. vor den schlimmen Erfahrungen und Enttäuschungen, welche Alexander II. durchzumachen hatte, zu bewahren, muss für eine gänzliche Umgestaltung in der geistigen Anschauungsweise des Klerus gesorgt werden. Denn noch in jüngster Zeit legte der Klerus eine solche Gleichgültigkeit für den Elementarunterricht an den Tag, dass er sich nicht einmal die geringste Mühe gab, den Schülern den gewöhnlichen Katechismus beizubringen. Umsonst besoldeten daher die Semstwos den Klerus für den Schulunterricht in der Bibelkunde, denn es gab sogar Popen, die auch diesen grundlegenden Unterricht nur mit dem äussersten Widerstreben ort heilten. — Nach Allem, was ich gesagt habe, wird Niemand mehr daran zweifeln, dass der Klerus für den Unterricht weder den gehörigen guten Willen noch die hinreichende Befähigung besitzt! Aber die Geistlichkeit hat nicht nur in der Schule für den Unterricht und die Erziehung des gewöhnlichen Volkes eifrig Sorge zu tragen, sondern auch in der Kirche durch die Predigt diese heilige Pflicht zu erfüllen. Ausser durch den Schulunterricht darf sie aber auch nicht müde werden, das Volk selbst noch besonders zu unterweisen und zu belehren. Es giebt in dieser Beziehung, vornehmlich in orthodoxen Lindem, wie doch Russland eins ist, recht viel zu thun und zu arbeiten. Früher hatte der ganze Priest erstand die Lösung dieser hoch wichtigen Aufgabe fast ganz ausser Acht gelassen; denn der Pope predigte entweder gar nicht, oder doch nur höchst selten. Es war diese segensreiche Einrichtung in der griechischen Kirche in den .'5 letzten Jahrhunderten sehr in Vergessenheit und in Verfall gerathen. Was aber hat wühl mehr die allgemeine Volksbildung begünstigt und befördert als eine einfache, lautere Verkündung und Predigt des Wortes Gottes seitens eines schlichten, frommen und wahrhaft gläubigen Geistlichen! Dieses geringe Interesse für die Predigt ist nieht einzig und allein der geringen geistigen Bildungsstufe, auf der die griechisch-russische Geistlichkeit steht, und dem Geiste der autokratischen Kirchenverfassung zur Last zu legen, sondern es ist auch theüweise die Eolge der ganzen kirchlichen Strömung und ihres Charakters. Während die Reformation des 10. Jahrhunderts gerade die freie Predigt zum wichtigsten Faktor und Hauptausgangspunkte ihrer weiteren Entwicklung machte, indem sie sich dabei auf die freie Auslegung und Erklärung der „Heiligen Schrift" stützte, veranlasste die orientalische Orthodoxie, sich an die Tradition haltend, ihren Priesterstand auf diese freie Auslegung der Bibel zu verzichten, als ob sie gefürchtet hätte, dass durch die Kommentare die Wahrheit verhüllt werden würde. Die Kanzel, also auch die Predigt, welche in der protestantischen Kirche beim Gottesdienst die Hauptrolle spielen, fehlen in der orthodox-griechischen Kirche ganz, da, ihr Orient machte sogar das lebendige Wort oder die Bibel für die furchtbaren, das innere, gedeihliche Leben und die gesegnete Fortentwicklung des Glaubens bedrohenden Kämpfe, verantwortlich. Das Vorgehen der Einzelnen, die freie Inspirationslehre, die Mittheilung des Heiligen Geistes, erregte ihr Misstrauen in der Predigt ebensowohl als in der kirchlichen Kunst, in der lebendigen Darstellung der Dogmen gerade so gut wie beim üblichen Altardienste. Gleich der kirchlichen Kunst, vornehmlich der Malerei, wurde auch die Predigt in die todten, keine weitere Entwicklung des Geistes zulassenden Dogmen eingezwängt. Die noch lebende, kämpfende Kirche zog also die vorhandene Darstellung oder den sogenannten Kultus der gegebenen Muster der Erfindung und der doch nicht recht entsprechenden Neuerung vor; weshalb man die fehlende Sympathie für das pulsirende Element ihr verzeihen muss. Es war der allgemein beliebte Grundsatz zur Geltung gelangt: „Wenn man das kirchliche Dogma nicht mehr achtet, muss auch das kirchliche Leben der bessern Weiterentwicklung entbehren!" „Die Russen," meinte ein altrussischer Gesandter zu Paul Jovius, „wollen keine Predigten in ihren Kirchen mehr haben, um das Wort Gottes, frei von jeder menschlichen Satzung und Wissenschaft, ganz allein verkünden zu hören!" Zur Zeit Peters des Grossen war das lebendige Wort nur in der russischen Staatskirche unter dem Einflüsse des Occidents und Kiews erklärt worden. Es gab jedoch auch genug Personen, die sich darüber ärgerten und aufregten. Das geistliche Reglement von Pro-kopowitsch stellt auch selbst endgiltig fest, dass sich viele Priester noch nicht so weit aufzuschwingen vermögen, die Dogmen und evangelischen Wahrheiten der Kirche richtig auswendig zu lernen und zu erklären. TJm aber das Volk nicht ganz ohne den wahrhaft erziehlichen Unterricht und die notwendige Unterweisung in der Religionslehre zu lassen, empfahl das Reglement, ihm zuweilen Predigten und Unterweisungen zwischen den einzelnen Pausen des Gottesdienstes zu halten. Zu diesem löblichen Zwecke hat man Traktate, welche von dem „Heiligen Synod" besonders aufgesetzt und durchgesehen waren, zum Vorlesen bestimmt, Diese aber, mit ganz unverständlichen, unklaren Redensarten vollgepfropft und noch dazu von den Predigern sehr schlecht vorgelesen, übten auf die grosse Masse des Volkes gar keine nachhaltige Wirkung aus. Bis zu Ende dieses Jahrhunderts jedoch hat das kirchliche Leben keine andere segensreichere und tiefere Einwirkung und Belebung erfahren und der Katechismus, welcher sich diesen rohen, ungebildeten Volksmassen nur durch die Predigt und mündliche Erklärung beibringen lässt., leidet unter derselben Kalamität wie die Predigt. Demnach hat der orthodoxe Russe in den letzten Jahrhunderten gar keine weitere Anregung durch die herrschende Staatskirche, oder durch den Religionsunterricht erhalten. Es ist danach nicht mehr schwer auf die Fragen zu antworten, woher es kommt, dass so viele tausend Mushiks heut zu Tage nicnt einmal in die gewöhnlichsten, grundlegenden Lehren der Kirche eingeweiht sind? Wie ist es zu erklären, dass diese noch nicht einmal die einfachsten Gebete herzusagen vermögen? Wenn der Weinberg des Herrn, d. h. die Kirche Christi, wirklich von dem zur Bebauung beauftragten und berufenen Priesterstande brach liegen gelassen wird, wie kann man sich darüber wundern, dass überall Ketzereien wie ein furchtbares Wucherkraut um sich greifen! Die Predigt ist von Peter dem (!rossen ab bis zur Thronbesteigung Alexanders III. fast ausschliesslich den höheren geistlichen Ständen überlassen worden. Die Redegewandheit war bei der schwarzen Geistlichkeit, vornehmlich unter den Arehimandriten und den Bischöfen ein Grund zur Auszeichnung und gewährte Anspruch auf Beförderung. Waren denn aber die grössten kirchlichen Redner Russlands Prälaten? Allerdings haben sich einige unter ihnen rühm- liclist hervorgethan, wie Pbilaretus aus Moskau und Iniiocens aus Chersou, welche man beide wohl füglich mit Lacordaire und Ravignan vergleichen könnte. Diese kirchliche Beredsamkeit trat jedoch vornehmlich im PanegyrikusJ) hervor, der zu dem russischen Wesen und Denken am besten passt. Mit der sonstigen christlichen Kanzelberedsamkeit lässt sich der Panegyrikus nicht recht vergleichen; zwar begeistert diese sieh auch häufig wie Plinius der Jüngere für den Kaiser Trajan oder wie der heilige Ambrosius und Chrysostomus für die römischen Kaiser, die russische Feierlichkeit hat aber dabei noch etwas Offizielles an sich. Die Schmeichelei gegen den Fürsten und die Regierung spielt darin eine grosse Rolle. Dabei wurden diese Lobhudeleien mit orientalischen Hyperbeln, mit byzantinischen Feinheiten und dem patriarchalen, biblischen Tone, welcher den Russen so sehr gefallt, vermischt. Die Schmeicheleien waren dabei bisweilen so übertrieben, dass Kaiser Alexander I. sich veranlasst sah, durch einen höchsten kaiserlichen TJTkas anzuordnen, dass in den Predigten solche Verherrlichungen S. Kaiserl. Majestät, welche sich nur für Gott, den Allerhöchsten, passten, zu unterlassen seien. Aber einige Kanzelredner haben auch den kühnen, unentwegten Muth gehabt, wie Bossuet und Massillon ihn vor Ludwig XIV. bewiesen, dem Zaren die nackte Wahrheit zu predigen. Eines besonderen Vortheils erfreuten sich die Erzbischöfe und Bischöfe, gegenüber den Predigern der niederen Geistlichkeit auch dadurch, dass sie sich keiner Kritik zu unterziehen brauchten. Noch neuerdings mussten nach den unter Nikolaus I. getroffenen Bestimmungen, die von einzelnen Predigern abgefassten Predigten der Durchsicht der Obern und der geistlichen Censur unterworfen werden, es ist also leicht begreiflich, wie wenig ermuthigend für die armen Popen, die des Schreibens oft nur wenig kundig waren, eine solche Verpflichtung war. Mit diesen bei der Lampe ausgearbeiteten Predigten liess sich ausserdem schlecht den Bauern gegenüber die Sprache des Volks reden. Ebenso war es zwecklos, dass der Metropolit Plato den Predigern anbefahl, wenn sie ihre Studien vollendet hätten, jeden Monat eine eigene und selbstständig verfasste Predigt zu halten. In der Praxis war das nicht ausführbar. Die geistliche Censur hat sich in unseren Tagen ihrer Anrechte aber begeben, wodurch der Pope seiner Verpflichtungen ledig ist, Pessimisten meinen, dass man darüber sich nicht zu sehr freuen solle. Es giebt auch Priester, welche ihre Ausdrücke nicht auf die Goldwage zu legen verstehen. 1) Anno des Uebers.: =a Lobrede. So erzählt man sich, dass im Jahre 1884 ein Prediger in dem Kirchspiel Tweo angeklagt wurde, in einer Predigt die Bauern gegen ihren adligen Gutsherrn aufgestachelt zu haben. Wenn trotzdem doch die Predigt in den letzten Jahren eine grössere Geltung und einen tieferen Einfluss erlangt hat, so ist dies dem Umschwünge der Verhältnisse zuzuschreiben. Darin hat also die Geistlichkeit der Einwirkung der Zeit vollständig Rechnung getragen. Der Staat hat neuerdings unendliche Anstrengungen gemacht, dem Volke die freie Predigt zurückzugeben, da dies natürlich ebensosehr im Interesse des Staates wie der Kirche liegt, Denn die Kanzel ist ebenso ein Ort, wie die Schule, von dem aus in geeigneter Weise die Volksstimmung bearbeitet werden kann. So hat man auch die geistliche Beredsamkeit herangezogen, damit sie sich gegen weltzerstörende Tendenzen erhebe und die staatliche und kirchliche Ordnung sichere. Dadurch ist der Pope in den Dienst der Polizei getreten. Gegen die furchtbaren Ausschreitungen der Revolutionshelden hat man ebenfalls das Wort Gottes zu Hilfe gerufen. Die Verschwörungen haben also die Predigt wieder zu Ehren gebracht. Die Hauptsorge und wichtigste Aufgabe der russischen Prediger — namentlich der Bischöfe — besteht darin, dass sie die ihnen anvertraute Heerde, d. h. ihre Gemeinde, gegen die Angriffe des Wolfs (der Nihilisten) bewahren. Dass man sich diese Aufgabe stellt, ist um so natürlicher, als man damit die Feinde des Staates und die Gegner der Kirche bekämpft und ist demnach auch eine stete Wachsamkeit allen Geistlichen anzuempfehlen! Hoffentlich wird die Regierung nicht nöthig haben, den Predigern, und vornehmlich den Bischöfen, Sorglosigkeit und Gleichgültigkeit zum Vorwurfe zu machen. In dieser Hinsicht hat auch der Oberstaats-Prokurator alle Veranlassung, mit dem Eifer, welchen die Bischöfe schon in dieser Richtung an den Tag gelegt haben, und noch immer entfalten, zufrieden zu sein. Die meisten ertheilen ja ihren Geistlichen persönlich Anleitung darüber, wie die staatlichen und kirchlichen Gewalten zu schützen sind. Die orthodoxen Prälaten, wie z. B. der Bischof Wiatka an ihrer Spitze, haben ebenfalls ihre Geistlichkeit aufgefordert, den ihnen anvertrauten Plärr- und Beichtkindern gute und edle religiöse und politische Grundsätze einzupflanzen. Es linden sich in den bischöflichen Erlassen und Hirtenbriefen darauf bezügliche politisoh-sociale Abhandlungen und Ermahnungen und die ihnen unterstellten Prediger haben sich bemüht, es ihren Oberhäuptern gleich zu thun. In vielen derartigen Ermahnungen und Ansprachen Lcroy-Hoaulieu, Reich d. Zareu u. -bücber hervorgerufen wurde. Die Hauptgesichtspunkte bei diesem Streite. Die Altritualisten oder die Altgläubigen. — Wie sie die Grundsätze des orientalischen Christenthums übertrieben haben. Uebertreibung des Unbeweglich-keitsprinzips. Uebertreibung des Nationalismus in der Kirche. Wie der Raskol und die slavonische Liturgie hervorgerufen sind. Wie die Altgläubigen sich gegen den Einfluss des Auslandes erhoben, und der herrschenden Staatskirche den Fehdehandschuh hinwarfen. Die russische Strenggläubigkeit ist seit mehr als zwei Jahrhunderten durch verborgene Sekten heimlich unterwühlt, die im Auslande unbekannt und von den Russen selbst wenig beachtet sind. Dadurch ist es gekommen, dass unter dem Riesenbau der Staatskirche so viel geheime Schlupfwinkel und dunkle Labyrinthe für den Aberglauben in den untersten Volksschichten und so viel scharfe Trennungen in dem alten Kirchen glauben entstanden sind. Wir steigen in diese Katakomben des Unglaubens und des Fanatismus hinab und wollen versuchen, den Schutt der Menschensatzungen hinwegzuräumen, um >ie aufzuhellen und dem nachzuspüren, was sie bergen. Wir wollen nach ihrer Entstehung suchen, und dort den Dämon und die Gelüste des Volkes kennen lernen, da man auf keinem besseren Wege die Erforschung des Nationalcharakters betreiben und die Tiefe der russischen Seele fühlen kann. Der Raskol, mit seinen tausend ver- schiedenen Sektenbildungen ist vielleicht das charakteristischste Merkmal Russlands, an welchem man den moskowitisehen Orient von dem europäischen Oecident zu unterscheiden vermag. Dabei wäre es dennoch gerechtfertigt, wenn man sich darüber wunderte, dass wir für diese sonderbaren, ländlichen Ketzereien die Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Diesen zahllosen Sektenbildungen unter den ungebildeten, gewöhnlichen Volksklassen ist ein besonderes Ansehen nicht beizumessen. Auch haben sie kaum eine Zukunft und werden, trotz ihrer moralischen Bedeutung und ihrer numerischen Stärke nicht weiter um sich greifen. Es lässt sich durch sie jedoch, unserer Ansicht nach, das spezifisch russische Volksleben, welches so sehr von dem, wie man es im Auslande kennt, verschieden ist, am leichtesten durchdringen. Das Reich des Nordens ist mit seinen Einrichtungen, seinen Gesetzen, seiner Litteratur, seiner Sprache und seinen Gesellschaftskreisen dem Auslande ohne Zweifel am meisten durch das Studiuni dieser Sektenbildungen zugänglich zu machen. Die Religionsansichten nehmen, ähnlich den Flüssen, welche Länder und Völker trennen, verschiedene charakteristische Eigen-thümlh hkeiten an. Der Raskol zeigt so zu sagen das byzantinische Christenthum bei Austritt aus dem Flussbett des russischen Volksstromes. Man kann ganz genau die fremdländischen Zuflüsse, seien sie nun protestantische, jüdische oder öfterer noch gnostische und heidnische, in den trüben Sektenströmen Russlands verfolgen. Ein wesentlicher Unterschied von allen anderen Religionen oder Con-fessionen in Bezug auf sein Prinzip und seine Richtung tritt beim Raskol nicht hervor; er bleibt originell, doch durchaus national. In seiner Bekehrungswuth zeigt er sich äusserlich echt russisch, wie er innerlich in Russland auch seine Verehrer nur unter der grossrussischen und moskowitisehen Partei hat. In all seinen Strömungen ist eine starre Lebenskraft bemerklich, denn er hat keinerlei Veränderung aufzuweisen, da er nur auf einen bestimmten Raum, gleichsam wie in ein verschlossenes Gefäss, gebannt bleibt. Er erfreut sich dabei, gerade als die nationalste aller kirchlichen Bewegungen, der grössten Beliebtheit unter dem gewöhnlichen Volke. Weder in den Schulen noch in der Kirche aufzufinden, wird er nur in der Isba des Mushik und in dem Geschäftshaus des Kaufmanns gehegt und grossgezogen. Die abweichenden Ansichten des ungebildeten Volkes bieten mehr Interesse für Politik und Philosophie als doctrinaire Lehren; und die Sekten der Bauern, die kürzlich noch Leibeigene waren, verdienen, da sie Erscheinungen idealistischer Träumereien sind, wie man sich solche bei uns im Abendlande schwer zu erklären vermag, mehr Aufmerksamkeit als die ärmliche Theologie. Der Raskol bildet weder eine besondere Sekte noch eine Gruppe von Sekten. Er ist nur eine Zusammenfassung von in sich abweichenden, verschiedenen, ja entgegengesetzten Ansichten, die unter sich kein anderes gemeinsames Band haben, als dass sie ursprünglich alle den Kampf gegen die herrschende Staatskirche aufnahmen. Insofern erinnert er an den Protestantismus, mit dem er auch durch den Reichthum seiner Können etwas Aehnliches hat. An Anzahl und namentlich an geistiger Bildung seiner Anhänger steht er diesem jedoch weit nach und lässt sich mit ihm auch sonst nicht vergleichen. Beide, der deutsche Protestantismus und der russische Raskol kämpfen gegen ihre gemeinsame Mutter, die Kirche an. In West-Kuropa jedoch sind die meisten der neueren Sekten aus Spekulationseifer, aus der Neigung, Kritik zu üben, und aus freiem Forschungstriebe entstanden, aber in Russland haben sie einen andern Ursprung, nämlich die eigensinnige Dummheit und die grosse Unterwürfigkeit vor der Kirche. Im Abendlande haben religiöse Grundsätze die kirchliche Zerrissenheit vorherrschend veranlasst, aber in Russland nur der Streit über äussere Formen, über das Ceremoniell und den blossen, nichtssagenden Ritus. Obwohl diese Strömungen also in gewisser Beziehung eine entgegengesetzte und feindliche Richtung eingeschlagen, so haben sie doch beide ihr Ziel nicht erreicht, denn der Protestantismus ebenso wie der Raskol sind, da sie sich nun einmal von der traditionellen Macht, die sich in der Einheit des Dogmas noch aufrecht erhielt, losgesagt haben, nicht zu dem günstigen Endresultate gelangt, eine neue Autorität dafür zu schallen, sondern sind, indem sie sich der freien Forschung und eigenen phantastischen Träumenden überliessen, zur Scheidung und zur Anarchie gekommen. Es giebt wenige religiöse Umwälzungen, die in ihren äussersten Consequenzen so viel Fähigkeit und Ausdauer aufzuweisen haben, als der Raskol und keine einzige ist bei ihrem ersten Auftreten doch so harmlos und nichtssagend gewesen. Diese zahllosen Sekten, welche seit zwei Jahrhunderten in der russischen Staatskirche gross geworden sind, haben ihre gemeinsame Entstehung in der Verbesserung der Andaohts- oder Gebetbücher. Sie sind also wie einzelne Zweige von demselben Stamm ausgegangen: nur einige, und nicht die unbedeutendsten, sind allerdings schon vor dieser Reform entstanden und haben mit ihr gar nichts zu thun. Wie alle Länder, so hatte auch Russ- land schon im Mittelalter seine Ketzereien und Ketzer. Die ältesten waren entstanden durch die Berührung der Griechen mit den Slaven oder unserer Albigenser mit den orientalischen Mönchsorden, das sind die bulgarischen Bogomile. Andere Ketzereien entstanden später im Norden, in dem Gebiete von Nowgorod, durch die Berührung europäischer Geschäftsleute mit den Semiten. Von diesen haben sich nur noch die Namen, nämlich die Martynowtschvs, die Strigolnikis, die Judaisten etc. erhalten. Alle diese verschiedenen Sekten waren nicht mehr lebensfähig, als der Raskol entstand, der in seinem Schoosse die schrecklichen Glaubensströmungen, aus dem russischen Volksleben heraus, grossgezogen hat. Allerdings scheinen einige dieser alten Häresien, z. B. die Strigolnikis und die Judaisten, nachdem sie von der Bildfläche der Weltgeschichte verschwunden waren, in einigen Sekten der Jetztzeit wieder wie Pilze aus der Erde hervorzuschieBsen. Das Pundamental-Prinzip des Raskol zeigt sich schon bei den unerquicklichen Streitigkeiten des Mittelalters, es fusst im Formalismus, d.h. im Kultus des Buchstabens beim Dogma. Deshalb machte sich auch ein alter Geschichtsschreiber aus Nowgorod im 15. Jahrhundert darüber lustig, als einige ganz gebildete Leute zu singen begannen: „0 Herr, erbarme dich unserer", Während andere nur sangen: „Herr, erbarme dich unserer". Nur durch diese plumpe Art von nichtssagenden Streitigkeiten hat sich das Schisma gebildet, das die russische Staats-kirche zerstückelt. Für dieses rohe, von der europäischen Kultur und Civilisation noch ganz unbeleckte Volk, welches unter christlichem Firniss doch noch halb heidnisch geblieben war, vertraten solche Kirchengebete die Stelle von Zauberformeln, welche durch die geringste und unbedeutendste Veränderung auch ihre Bedeutung und Einwirkung einbüssten. Der Priester war für solche ungebildeten, abergläubischen Volksmassen nur eine Art Hexenkünstler, und alle Ceremonien wie die ganze Religion nur eine Art Hexerei. Einen Hauptcharakterzug des Grossrussen bildet noch jetzt diese liebevolle Anhänglichkeit und Verehrung für den äusseren Ritus. Bei der ganzen Art und Weise, wie Russland christianisirt worden ist, hat dies auch gar nichts Auffallendes und Befremdliches. Das Evangelium war diesen rohen, unbildsamen Volksmassen auf höchsten Befehl verkündigt, ohne dass diese für die neue Wahrheit vorbereitet waren, ja sogar ohne dass sie erst die polytheistischen Schwankungen, welche bei den übrigen europäischen Völkern stets eingetreten waren, durchgemacht hatten. Deshalb schon musste sich das Evangelium, welches der geistigen und gesellschaftlichen Bildung der Russen viel zu überlegen war. nur auf die gewöhnlichsten Formen beschränken. Andere Völker haben nach und nach auch den inneren Geist des Christenthums, dessen äussere Formen sie adoptirten, sich angeeignet. Die geographisch und historisch getrennte Lage des östlichen Riesenreiches veranlasste aber schon, dass die Aufnahme dieses dort viel Schwierigkeiten fand. Die weiten Entfernungen, und die Mongolenherrschaft, trennten das Land gänzlich von den Mittelpunkten der christlichen Welt und die elende Lage wie die geringe Bildimgsfähigkeit des gewöhnlichen Volkes erniedrigte dort, wie Alles Andere, auch die Religion. Nachdem alle theologischen Streitigkeiten sieh im Sande verlaufen hatten, wurde der Kultus zur Hauptreligion. Die einzige so sehr begehrte Wissenschaft bildete mitten in dieser geistigen Versumpfung die Kenntniss der einzelnen Formeln und der Ritualen des Gottesdienstes. Man verlangte sie von einer Geistlichkeit, deren Mitglieder häutig noch nicht einmal schreiben konnten. Die Anhänglichkeit des moskowitisehen Volkes an seine alten Gebräuche und seine von Alters her eingeführten Gebet- und Erbauungsbücher war um so weniger gerechtfertigt, als gerade diese Urtexte grössere Veränderungen erfahren hatten. Die Liturgie, mit abergläubischer Verehrimg umgeben, war durch Unkenntniss verdorben. In die Gebetbücher hatten sich schlimme Irrthümer und in die Ceremonieen lokale Gebräuche eingeschlichen. An Stelle der anfangs einheitlichen Liturgie waren allmählich lauter Abweichungen in den Lesarten und im Rituale sowie durch die ungebildeten Abschreiber grobe Entstellungen in den Messbüchern entstanden. Wunderliche Fälschungen, welche an das launenhafte und närrische Spiel der Phantasie erinnerten, genossen beim gewöhnlichen Volk die Verehrung und das Ansehen, welches das Alter verleiht. Je undeutlicher, unleserlicher und unzusammenhängender die Lesarten waren, desto grösseren Anklang schienen sie in den Augen der ungebildeten Menge zu finden. Die Hingabe an die religiösen Gebräuche suchte unter diesen schwierigen und geheimnissvollen Stellen einen verborgenen Sinn. Auf diese mannigfaltig veränderten Textausgaben, welche der erfinderische Eifer der Abschreiber in den apokryphischen Büchern, d. h. „den Kirchenvätern", geschaffen hatte, stützten sich die Grundsätze der verschiedenen Sekten. Diese Abweichungen und Veränderungen vom Urtexte waren so olfenkundig und an den Tag tretend, dass im Anfange des 16. Jahrhunderts ein russischer Fürst, nämlich Wassili IV., eine Synode berief, um die Gebet- und Kirchengesangbücher einer gründlichen Revision zu unterziehen. Allein die blinde Verehrung der Geistlichkeit und des gemeinen Volkes führten ein ziemlich ungünstiges Resultat in dieser Hinsicht herbei. Die Folge davon war, dass der Korrektor dieser Bücher, Maximin der Grieche, von einem zu diesem Zwecke besonders versammelten Konzil verurtheilt und zur Einschliessung als Häretiker in ein sehr entferntes Kloster verdammt wurde. Die Buchdruekerkunst hat dann eine endgültige Entscheidung herbeigeführt und die Streitigkeiten zum Austrag gebracht. Wie sie überall endgültig wirkte, so that sie es auch in der Textkritik und in den kirchlichen, tief einschneidenden Glaubens-kfmi]ifen. Aber diese aus den russischen Druckereien hervorgegangenen Texte des 1(5. Jahrhunderts verschlimmerten anfangs das eingerissene Uebel, welches wirklich auch nicht mehr zu heilen war, noch viel mehr. Aus Mangel an Manuscripten, auf welche man doch sonst angewiesen war, gewährten diese Mess- und Gesangbuchs-Texte aber reichlichen Ertrag und an die Stelle der Varianten und sonstiger Abweichungen führten sie eine ganz bestimmte Einheit und Gleichförmigkeit herbei, aus welcher aber nur die althergebrachten Jrr-thümer neue Kraft und neue Förderung erhielten. Es zeigte sich also nach dieser Seite hin die russisch-slavische Liturgie noch verbesserungsfähig und mit einem Male schritt der Patriarch Nikon auch zu einer gänzlichen Neuerung. Dieser hervorragende Kirchenfürst besass viel Muth und Geist, auch war er der Bildung seines Vaterlandes und Volkes weit überlegen. Er beherrschte den Staat des Zaren Alexis fast ebenso, wie die Kirche seiner Zeit. Sein gelehrtes Unternehmen erforderte in dem Moskowien von vor Peter dem Grossen bedeutende Kühnheit. Er liess, um die griechischen und slavischen Lesarten in Einklang mit einander zu bringen, die alten griechischen und slavischen Manuscripte auf Befehl des Patriarchen überall sammeln und beauftragte damit die Mönche in Byzanz und vom Borge Athos. Die falschen Einschaltungen und sonstigen Veränderungen im Texte, die durch Un-kenntniss und blosser Sucht zu Neuerungen entstanden waren, wurden auf sein Geheiss vollständig vernichtet und endlich veranlasste er durch besonderen Konzilsbeschluss, dass die so verbesserten Messbücher in allen russischen Ländern und Kirchen zum allgemeinen Gebrauch eingeführt würden. „Als der Grieche Maximin mir den gemessenen Befehl ertheilte, diese falschen Wendungen und Ausdrücke unserer altehrwürdigen Mess- und Gesangbücher zu tilgen", rief ein Schreiber aus dem 16. Jahrhunderte aus, „ergriff mich ein heiliger Schauer und eine entsetzliche, unerklärliche Furcht". Eine gleiche Erregung bemächtigte sich des Vaters von Peter dem Grossen; „denn die Hand, welche diese heiligen, geweihten Bücher anrührt, handelt gottlos in allen Dingen". Allein die hohe Geistlichkeit unterstützte, theils weil sie in* struirt war, theils aus Korpsgeist die Bestrebungen des Patriarchen; doch die niedere Geistlichkeit und das gemeine Volk widersetzten sich diesem Ansinnen mit der grössten Entschiedenheit. Nach Verlauf von mehr als zwei Jahrhunderten entschied sich eine grosse Anzahl Rechtgläubiger, die alten Missalen und Gebetbücher, welche durch die Nationalkonzilien und den Segen der Patriarchen so hohe Geltung erlangt hatten, beizubehalten. Gerade hierin lag aber eine Art Lossagung, ein sogenannter Baskol, welcher noch in unseren Tagen die weitere Entwicklung der russischen Staatskirche bedroht. Bei Lichte betrachtet, dreht sich dieser Streit um die genaue, richtige TJeberlieferung und Uebersetzung des Urtextes, eine Kernfrage, die auch mehr als einmal die occidentalen Kirchen getrennt hat. In Kussland gab es damals nicht zehn Männer, welche im Stande gewesen wären, ein endgültiges Urthoil in dieser brennenden Frage abzugehen. Deswegen entbrannte der Streit viel heftiger und dauerte viel länger. Es waren Mönche, Diakonen, ja sogar nur gewöhnliche Kirchenbeamte, die die Korrekturen Nikons als ein von Rom oder von den Protestanten beeinflusstes Machwerk, und eine ganz neue Staatsreligion hinstellten. Gegen diese neuen Revolutionäre brachte die Kirche die üblichen Kirchenstrafen in Anwendung, und brandmarkte sie als Häretiker. Ein solches Vorgehen veranlasste aber eine noch grössere Trennung im Dogma und führte sogar zum Märtyrerthum. Zehn Jahre waren nach der Proklamation der liturgischen Revisionen vergangen, als ein versammeltes Konzil den kühnen Verfasser, da er auch der Eifersucht der Boyaren zum Opfer gefallen war, feierlich absetzte. Der Raskol erklärte ebenfalls seine Einwilligung zu dieser Amtsentsetzung. Diese Verurthoilung schien aber auch das vollständige Aufgeben der beabsichtigten Reform zur Folge zu haben. Die Verwunderung des Volkes war deshalb noch grösser, als auf einmal das Konzil, welches das Verdammungsurtheil über den kühnen Neuerer ausgesprochen hatte, auch die Gegner dieser Korrekturen in den Kirchenbann that. Wohl selten ist von Theologen über so geringfügige und nichtssagende Fragen so anhaltend gestritten worden. Von Nikon schreiben sich derartige Streitfragen her, wie die Form und das Zeichen des Kreuzes beschaffen sein müsste, wie die Prozessionen im Orient und Oecident eingerichtet werden sollen, wie die Vorlesung der Glaubens- artikel zu geschehen hätte, wie der Name „Jesus" zu schreiben, oder wie die Inschrift auf dem Kruzifix anzubringen sei, ob das Hallelujah zwei oder drei .Male wiederholt werden müsste und wie die Einsegnung (Konsekration) des Brotes beim Abendmahl zu erfolgen habe! Die Frage nach diesen unwichtigen Punkten beschäftigte die ganze russische Geistlichkeit seit dieser Zeit. Wenn man allerdings aufrichtig sein will, so muss man bekennen, dass unwichtige Fragen ähnlicher Art zu den ersten Streitigkeiten zwischen der römisch- und griechisch-katholischen Kirche auch Veranlassung gegeben hatten. Damals machten es die Griechen den Lateinern eben so zum Vorwurf, dass sie sich solche Veränderungen im Ritus erlaubt hätten und stempelten es zur Ketzerei. Die russischen Raskolniks folgten daher nur dem Beispiele ihrer griechischen Lehrer, wenn sie einen so grossen Werth auf den Ritus legten. In dieser Hinsicht ist der russische Raskol nur die unmittelbare Folge, oder besser gesagt, eine Uebertreibung des byzantinischen Formalismus. Die strenggläubigen Russen machen das Zeichen des Kreuzes mit 3, die Dissenter aber, wie die Armenier mit 2 Fingern. Die ersteren lassen das Kreuz, wie die anderen Katholiken, mit 4 Nägeln zu, die letzteren dulden es, da sie eine besondere Ausschmückung für das Haupt und die Füsse unseres Heilandes haben, nur mit 8 Nägeln, Die russische Staatskirche lässt, seit den Reformen Nikons, drei Hallelujahs singen, während die Raskolniks nur zwei haben. Die Dissenter stützen sich auf ihr zähes Festhalten an den symbolischen Erklärungen und aus einem einfachen Ritus möchten sie gern eine vollständige Glaubensnorm machen. So meinen sie beim Kreuz-schlagen mit drei zusammengepressten Fingern der Trinität eine besondere Ehre zu erweisen, und mit den beiden andern der doppelten Natur Christi, so dass das Zeichen des Kreuzes gleichzeitig ein Hinweis auf die drei Hauptdogmen des Christenthums, auf die Trinität, die Menschwerdung und die Erlösung Jesu Christi wäre. Solche Erklärungen, welche man auf entstellte Texte oder vorgebliche Visionen gründet, zeigen klar und deutlich, zu welchen sonderbar unsinnigen Irrthümern in Glaubenssachen der Raskol gelangt ist, Es bildet demnach, wenn man auf den Ursprung des Streites zurückgeht, der Kultus des Buchstabens und die knechtische Beobachtung der äusseren Formen das eigentliche Wesen des Schisma. Die äusseren Ceremonien scheinen für den Russen, der sich gegen NikoflS Reformen erklärt, das ganze Christenthmn und die Liturgie die ganze Orthodoxie auszumachen. Diese Vermischung der Kultusformen mit dem Kirchenglauben selbst zeigt sich schon in der auffallenden Benennung-, welche sich die Dissenter selbst beigelegt haben. So nennen sie sich „Altgläubige" oder Starowjärky, d. h. wahre Gläubige, wahre Orthodoxe, während sie mit der Bezeichnung „Altritualisten" noch nicht zufrieden waren. Allerdings giebt gegenüber der weltlichen Wissenschaft in kirchlichen Streitigkeiten stets das Alter den Ausschlag. Alle Reformen auf dem Gebiete des Kirchenglaubens geschehen nur unter Anschluss an die Vergangenheit. Das gilt ganz besonders von der griechisch-katholischen Kirche, welche ein Hauptgewicht auf die Zähigkeit und Starrheit, legt und zwischen dem wahren Glauben und der Traditionslehre nur das Alter als alleiniges Kriterium bestehen lässt. Hiermit trieben die Altgläubigen mit ihren Doktrinen argen Missbrauch und übten deshalb allem Anscheine nach auch auf jede Neuerung einen abschreckenden Kinlluss aus. Es wurde aber wenig danach gefragt, ob die Behauptung der Starowjärs, dass nämlich ihre Partei sich am meisten auf das Alterthum stütze, auch wirklich begründete Ansprüche darauf habe. Jedenfalls wurden die Altritualisten, welche für ihre alten Bücher den Märtyrertod erlitten hätten, blinde Opfer des unbeweglichen, byzantinischen Systems. Auf der anderen Seite ist der Grundsatz des Raskol ein wesentlich realistischer. Eine rohere Form von Idealismus entdeckt man nur in den äussorsten Einrissen dieses materiellen Kultus, aber auch in ihrer Verirrung verrathen solche kirchlichen Sektenbildungen fast immer einen schwachen Schimmer von Idealität, Bei der unbedingten Hingabe des Starowjär an seine alten Traditionen spielt ein unfruchtbarer Aberglaube die Hauptrolle. Der Abfall von der Kirchenlehre besteht im Grossen und Ganzen nur in Formsachen, welche die Logik der Thatsachen bis auf's Aeusserste treibt. Wenn der Altgläubige die Macht des Buchstabens so hoch stellt, so ist seine Lehre diejenige Mephisto's,J) wonach Wort und Bedeutung ebenso unzertrennlich sind, wie in der Religion äussert1 Formen und 7. -) Solovief, Istorija Roasii, Bd. XIII, p. 143. Luthers zu der Lehre der Wiedertäufer über. Wie in England und Schottland, hat sich die gleiche Erscheinung auch in Russland wiederholt. Einmal erfasst von dem Geiste des Aufruhrs, hineingestossen in die Bahn des „Fortschritts", ward das Schisma wider WiHen mit unwiderstehlicher Gewalt auf derselben zur ungebundensten „Freiheit" fortgerissen und einige Sekten desselben sind auf diesem Wege auch — theoretisch wie tatsächlich — bei der ausschweifendsten Zügel-losigkeit angelangt. Dieser Doppelcharakter des Schismas ist einer jener in Russland so häufig zu Tage tretenden Gegensätze und scheinbaren Widersprüche in sich, eine anscheinende Anomalie, welche bewirkt hat, dass der Raskol in seinem Vaterlande zumal von so durchaus verschiedenen theilweise direkt entgegengesetzten Gesichtspunkten beurtheilt worden ist. Selbst die einander widersprechendsten dieser Ansichten haben jedoch einen Theil Wahrheit für sich. Diese in ihrem Ausgangspunkt rein reaktionäre Bewegung konnte sehr wohl als eine gewaltige an Regierung und Autokratie gerichtete ein-müthige Rückforderung der Freiheit des Individuums wie der nationalen Lebensentwickelung angesehen werden. Und tatsächlich war sie dies auch in ihrer Weise, nach Art widerspenstiger, sich nicht stellender Rekruten, nach Art der Schmuggler, kurz in der Kampf-weise der Verteidiger von Irrtümern und Vorurteilen. Gewiss war es Freiheit im Sinne des Mannes aus dem Volke, was die Starowjärs rückforderten, Freiheit seiner Bräuche und Gewohnheiten, Freiheit seines Aberglaubens, seiner Irrmeinungen und seiner Licht und Wissen verachtenden Ignoranz, ohne dass dieser Begriff natürlich mit dem der politischen Freiheit das Geringste gemein gehabt hätte. Weist der Altgläubige alles vom Auslande kommende schroff zurück, so kann er doch auch wieder Reformen — in seinem Sinne — zugänglich sein, wenn solche ihm der nationalen Tradition gemäss erscheinen und sie seinen Begriffen nach sich mit den Interessen des Volkes d. h. des Bauern, des Handwerkers und des Arbeiters decken. In der That ist der Raskol, wie alle volkstümlichen Bewegungen, vorwiegend demokratisch, ja kommunistisch. Zwoi Faktoren haben hauptsächlich dazu beigetragen, dem Raskol einen — selbst in freiheitlichem Sinne — vorzugsweise demokratischen Charakter zu verleihen: die Leibeigenschaft der Bauern und der büreaukratische Despotismus. Der Ausbruch des Raskol erfolgte ungefähr um ein halbes Jahrhundert nach der Einführung der Leibeigenschaft: und diese Zeitfolge beider Erscheinungen war keineswegs eine zusammenhanglose und nichtursächliche. Das Schisma verdankte seine Volkstümlichkeit, seine Lebenskraft grossentheils eben der Unterwerfung der Masse der Nation unter das knechtende Joch der Sklaverei. Der dumpfe Trotz des Leibeigenen gefiel sich darin, einen Glauben zu haben und sich zu wahren, der von dem seiner Herren und Unterdrücker verschieden war, und überall ist die Sklaverei ein günstiger Boden für Sektenbildungen. Diesem Volk von Knechten wurde der Raskol wider Wissen zu einer Rückforderung seelischer und geistiger Freiheit wie der Menschenwürde gegenüber dem Zwingherrn, dem Staate und der herrschenden Kirche. Diese Würde und diese Freiheit wraren es, die der Altgläubige in seinem Zeichen des Kreuzes und in seinem Barte vertheidigte. Allen Bedrückten bot der Raskol einen moralischen, bisweilen selbst einen materiellen Zufluchtsort. Es war eine Freistätte, welche allen Widersachern des Grundherrn wie des Gesetzes offen stand, ein Schutzhört für den entlaufenen Hörigen sowohl wie für den desertirten Soldaten, für öffentliche Schuldner wie für sonst Geächtete aller Art. Von diesem Gesichtspunkt aus stellt sich der Raskol als eine unbe-vvusste Form der Auflehnung gegen die Schollenhörigkeit und die selbstherrliche Willkür des Büreaukratismus dar. Dies ist auch der Grund, weswegen die Altgläubigen weitaus am zahlreichsten zwischen den widerspänstigsten Elementen der russischen Bevölkerung zu linden sind, im Norden inmitten der freien Bauern, der Ansiedler von Nowgorod, im Süden unter den freien Kosaken der Steppe. Die religiöse und die, so zu sagen, bürgerliche Widersetzlichkeit verbanden sich und stützten sich wechselseitig. Diese Einigung war es, die den grossen Volksbewegungen des XVII. und XVIII. Jahrhunderts ihre zähe Kraft und Widerstandsfähigkeit gab, von den Aufständen der Strelzy bis zu der Empörung des Stjenka Rasin und Pugatschjofs. Seinen Ursachen nach wie in seinen Ausschreitungen zeigt der Aufruhr Pugatschjof s eine auffallende Aehnlichkeit mit der Bewegung der Pastoureau's und der Wiedertäufer des Westens, zu welcher Zeit die Leibeigenschaft auch in Europa herrschte. Bei dem grossen russischen Bauernkriege wie bei allen aufrührerischen Erhebungen, welche dem Volke Befreiung versprachen, theilten sich die Altgläubigen mit den Kosaken, deren grosse Mehrzahl ihre Glaubensgenossen waren, in die erste Rolle der Führerschaft, standen sie mit ihnen in den vordersten Reihen des Kampfes. Zwischen diesen beiden Formen des nationalen Widerstandes besteht ein Band natürlicher Verwandtschaft: beide verkörpen sie gleicher Weise den Geist — das Genie so zu sagen — wie die Vorurtheilc des alten Russen; beide waren sie vor allem ein echt volkstümlicher Protest, so dass man den Altgläubigen sehr wohl als einen Kosaken der Religion bezeichnen könnte, der die Instinkte und Triebe des Reitervolkes vom Don auf das Gebiet des Geistes überträgt und hier entsprechend bethätigt.1) Drittes Kapitel. Entwickelung des Raskol, Allgemeine Uebersicht des Verlaufs des Schismas, Logik des Entwickelungsgangcs desselben. Die alten Ritualisten der Geistlichkeit beraubt. — Wie den Kultus ohne Hierarchie aufrecht erhalten und fortführen? Der Raskol in zwei Lager getheilt: die Popovzy und Bes-popovzy oder Priesterlosen. — Ausgangspunkt beider Parteien. Was an Stelle des Priesterthums und der Sakramente setzen? Wobei die extremen Gruppen anhingen. Keine Priester, keine Ehe. — Wie das Verschwinden der Sakramente erklären? Durch das Nahen des Weltendes. Das Reich des Antichrist. Um demselben zu entfliehen, nehmen gewisse Sekten ihre Zuflucht zum gewaltsamen Tode. Die Erlösung durch den Selbstmord und die Feuertaufe. — Der Glaube an das tausendjährige Reich und die Erwartung eines neuen Messias. Wie Napoleon manchmal für diesen Messias gehalten wurde. Die Hoffnungen auf das tausendjährige Reich und die Aufhebung der Leibeigenschaft. Vergleich zwischen den russischen und den amerikanischen Sekten. Nichts ist logischer als die Religionen, nichts unerbittlich konsequenter in seinen Schlussfolgerungen als der Geist der Theologie. Kein Hinderniss hemmt den Elug des religiösen Gedankens durch die ätherischen Räume des mystischen Dunkels, wo er frei und unbewegt hinschwebt; die Thatsachen der Wirklichkeit sind ohnmächtig ihn aufzuhalten, nichts zwingt ihn aus seinen Bahnen zu lenken. Bei dem Raskolnik verbindet sich der natürlichen Logik des theologischen Geistes noch die eingeborene Logik des spezifisch russischen Volksgeistes. In der That ist die Neigung zu scharfen, strengen Verstandesschlüssen ein hervorragender Zug in dem grossrussischen Volkscharakter. Der Russe liebt es den Inhalt eines Prinzips bis auf den Grund zu erschöpfen; er schrickt nicht davor zurück, seine Ideen bis zum Grenzziel derselben zu verfolgen und seine Beweisführungen bis zur äussersten Möglichkeit zu treiben. Dies ist eine der Ursachen des Sektirergeistes, der erstaunlichen Vielheit und des fruchtbaren Selbsttriebes der seltsamen Lehren und Ideen, die in diesem Volke wallen und schwingen. Führt dieser Hang zur Logik das Schisma auch häufig zur wunderlichsten Absonderlichkeit, ja zum ftbge- ]) Die Skits oder Einsiedeleien der Altgläubigen haben häufig den glühendsten Verfechtern der kosakisehen Autonomie als Mittelpunkt gedient. Siehe Vitevski, Raskol v Uralskom voiske (1878). schmacktesten Unsinn, so giebt er doch dem Entwicklungsgänge desselben bis in seine weitesten und gewagtesten Abweichungen und Verirrungen hinein eine wunderbare organische Regelmässigkeit. Selbst in seiner äussersten Vielgespaltenhoit, in seinen letzten Aussplitterungen noch bewahrt der Raskol immer eine merkwürdige prin-» zipielle Einheit. Es ist mit dieser geistigen Bewegung wie mit einer seltsamen Naturerscheinung: die Ungeordnetheit, die Regellosigkeit, der Zufall darin sind nur scheinbar; den Ausgangspunkt und das treibende Moment derselben seinem Wesen nach als bekannt vorausgesetzt, hätte man Verlauf nebst allen nur möglichen Häufungen, Verwicklungen und Varianten, wie Endpunkt der Erscheinung vorherbestimmen können. Wenn auch die aus dem Raskol hervorgegangenen Sekten sich vielleicht dem ersten Blick als ein unentwirrbares Chaos darstellen — um ihre geheimnissvolle Ordnung ganz zu begreifen, braucht man sie nur von der Höhe ihres historischen Wendepunktes zu betrachten. Gleich von Ursprung an sah sich das moskowitische Schisma einer zwingenden Unmöglichkeit gegenüber, die Menschen von minder robustem Glauben sicher zurückgeschreckt hätte. Die Altritualisten traten mit aller Kraft für die Aufrechterhaltung des bis dahin geltenden Ceremoniells und Rituals ein und sie waren gezwungen den ehrwürdigsten Gebräuchen und feierlichen Kultusformen ihrer Kirche zu entsagen, mangels an Priestern dieselben zu Recht zu vollziehen und auszuüben. Von vorn herein sahen sich die Verfechter des alten Glaubens ausser Stande, denselben zu betätigen. Zur Zeit der Reformen Nikons hatte ein einziger Bischof, Paul von Kolomna Partei ergriffen für die Anhänger der alten Schriften. Er ward eingekerkert und starb — gewaltsamen Todes vielleicht — ohne auch nur einen Bischof und Erben seiner Gesinnung geweiht zu haben. Durch dieses einzige zufällige und doch so folgenschwere Ereigniss sah sich der Raskol des Episkopats und mithin auch des Priesterstandes beraubt. Die orientalische Orthodoxie ist nicht eine blosse Lehre, vor allem stellt sie dar — wie Sgr. A. Reville vom Katholicismus gesagt hat — „einen Modus, die Gemeinschaft des Menschen mit Gott zu vermitteln durch das Band eines organisirten Priesterthums, dessen Glieder in ununterbrochener Folge sich die göttlichen Gewalten übertragen, die sie von Christus unmittelbar empfangen haben".1) Das Hinscheiden *) A. Re*ville, l'Eglise des anciens catholiques de Hollande, in der Revue des Deux Mondes vom 15. Mai 1872. Pauls von Kolomna zerriss die Kette, welche die Altgläubigen mit dem Heiland verbunden hatte; mit einem Schlage ging das Schisma der göttlichen Machtmittel verlustig, die Christus als geistige Erbschaft seinen Aposteln vermachte und ohne welche es nicht Priester noch Kirche geben kann. Von seinen ersten Schritten an war der Raskol verloren, er war gleichsam todtgeboren. Wie aus der verzweifelten Lage sich befreien, in welche er sich hatte hineindrängen lassen? Wollte er nicht zurückgehen, so standen ihm nur zwei Wege offen; die geweihten Priester einer Kirche, welche er verdammte, anzuerkennen und zuzulassen, oder auf jede Geistlichkeit zu verzichten, obschon er, ohne Klerus, den Kultus gar nicht aufrecht halten und ausüben konnte, für dessen Wahrung die Altgläubigen sieh erhoben hatten. Beide Lösungen waren fast gleich widerspruchsvoll; jede von ihnen hatte ihre Anhänger. Angesichts des ersten entgegenstehenden Hemmnisses schied sich das Schisma in zwei Gruppen, die seit zwei Jahrhunderten einander Feind geblieben sind. „Es giebt kein Christenthum ohne Priesterstand", sagten die Einen. „Wenn auch die russische Kirche der Irrlehre Nikons folgte, so verlor sie darum noch nicht die apostolischen Machtbefugnisse, das Recht der Chiro-tonie, Bischöfe und Priester zu weihen durch Auflegen der Hände. Da die Ordination der Priester der Staatskirche gültig ist, so müssen wir nur, um eine Geistlichkeit zu haben, dieselben uns und den alten Riten wieder zuführen". „Nein", erwiderten die Andern, „dadurch dass die „nikonische Sekte" von den alten Büchern abfiel, indem sie die altehrwürdigen Ueberlieferungen mit dem Kirchenbann belegte, hat sie sich aller Rechte auf die apostolische Nachfolge begeben. Der ofiioiolle Klerus ist nicht mehr eine Kirche, er ist die Synagoge des Satans. Alle Gemeinschaft mit diesen Dienern der Hölle ist Sünde, die Weihen dieser abtrünnigen Bischöfe eine Besudelung, ein Schandfleck. Indem die orientalischen (griechischen etc.) Patriarchen den Bannflüchen der russischen Prälaten gegen die alten Kirchengebräuche beipflichtend sich anschlössen, machten sie sich derselben Ketzerei schuldig. Mit dem Episkopat fiel auch die rechtgläubige Kirche und eine apostolische Nachfolge, ein rechtmässiges Priesterthum giebt es nicht mehr." Von der ersten Generation an war der Raskol so in zwei grosse Lager getheilt: die Popovzy, welche die Priester beibehalten, und die Bespopovzy oder Priesterlosen, welche alles Priesterthum zurückweisen. Um überhaupt noch eine Geistlichkeit zu haben, waren die Popovzy genöthigt zu abtrünnigen Ueberläufern der ofiioiellen Kirche ihre Zuilucht zu nehmen und blieben dadurch eben von dieser abhängig. Wir werden sehen wie in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts es ihnen gelang, sich ein Bisthum und sogar eine ganze unabhängige kirchliche Hierarchie zu gewinnen. Dadurch dass die Popovzy einen Priesterstand beibehielten, wie wenig zahlreich und wie unwissend dieser auch war, nahmen sie die Sakramente und die ganze innere Organisation des orthodoxen Christenthums mit über. Trotz der Inconsequoiiz, die Priester einer von ihnen verworfenen Kirche zum Kultus zuzulassen, konnten sie doch an dem Ausgangspunkt des Schismas stehen bleiben und sich auf dem Stand der ersten Altgläubigen behaupten. Pur die Bespopovzy dagegen ist es fast unmöglich, einen Stütz- und Anhaltspunkt zu finden in der abschüssigen Bahn, auf der eine unerbittliche Logik sie fortreisst. Indem sie dem Priesterthum entsagen, verzichten sie auch auf die orthodoxe Kirche oder zum mindesten auf den Kultus derselben. Mit dem Sakrament der Weihen schwinden auch alle von den Priestern ausgespendeten Gnadenmittel. Von den traditionellen sieben Heilsquellen der göttlichen Gnade bleibt nur eine, die Taufe, den Menschen offen; die sechs anderen sind ihnen auf immer verschlossen, versiegt. So waren die Bespopovzy gleich mit einem Male bei der Verleugnung, bei der Vernichtung des Grundprinzips des christlichen Kultus angelangt. Von einer blinden Logik getrieben hatten sich die starrsten der Altgläubigen zu den offenbarsten sinnlosesten Widersprüchen verleiten lassen. In der Absicht, sich alle Biten zu wahren, haben sie die wesentlichsten derselben geopfert; um das Kreuzeszeichen mit zwei Fingern und das doppelte Halle Inj ah behalten zu können, verwarfen sie lieber die Heilsmittel der Sakramente, ohne welche alles christlich religiöse Leben aufhört und ohne die es kein sichtbares Band mehr zwischen dem Menschen und Gott giebt. Mit Aufhebung des Priesterstandes und Abstellung des Gottesdienstes beantworten und beeinspruchen sie die ihre Selbstständigkeit nur wenig schmälernden, geringfügigen Ein- und Uebergriffe der Staatskirche in die Ausübungen und Verrichtungen ihres religiösen Sonderbekenntnisses. Eines eigenen, rechtmässigen Priesterthums entbehrend und die vermeintlichen Neueinführungen Nikons schroff zurück-stossend, öffnen die Bespopovzy allen Irrwahngebilden des Sektengeistes Thor und Thür. Durch ihr hartnäckiges Festhalten am Alten setzen sie sich allen Neuerungen aus. Das traurige Endresultat, zu welchem die Priesterlosen gelangen mussten, konnte weder den Geschmack für das Ceremonie!I nähren, ikm'Ii die Liebe zu den alten Ueberlioforungon, die doch den Raskol veranlasst hatten. Wie wollte man die grosse Lücke ausfüllen, welche das Verschwinden des Priesteramtes and der Sakramente in der christlichen Religion offen gelassen hatten. Das ganze alte orthodoxe Kirchengesetz war, ohne eigentlich abgeschafft zu sein, unausführbar geworden. Wahrlich, der Abgrund, der sich vor ihren Füssen aufthat, konnte auch die entschlossensten Sektirer mit Grauen erfüllen. So entstanden denn auch unter den, was die Abschaffung des Priesterthums betraf, durchaus einigen Bespopovzy bald verschiedene Spaltungen; zögernde Aengstlichkeit und allerhand Compromisse auf der einen, thörichte Träumereien und ausschweifende, oft sogar grausame Lehren auf der andern Seite. — Die ängstlichsten oder die eifrigsten Anhänger der Kultusformen konnten sich nicht vorstellen, wie ein Christ überhaupt ohne die von Jesus selbst eingesetzten Heilsmittel leben und selig werden könne. Der fromme Eifer suchte, als Ersatz für die eingebüssten Sakramente in allerhand Erfindungen und ausgetiftelten Mittelchen Trost und manchmal auch Selbsttäuschung. Eine Scheinhandlung musste das Sakrament vertreten. Es gab keinen gerechten Priester mehr, der die Absolution ertheilen konnte; darum beichteten einige dieser Sektirer ihren „Aeltesten" oder gar Weibern; in diesem Falle konnte zwar der Beichtiger die Sünden nicht vergeben, er versprach aber dem Beichtkinde doch Verzeihung im Namen Gottes. "Ebenso verhielt es sich mit dem Abendmahl; die nach dem Leib Christi hungernden Seelen halfen sich mit Gleichnissen, welche an die heilige Handlung erinnern sollten. Manche erfanden zum Zwecke dieser Pseudocommunion äusserst sinnige Gebräuche, andere wieder grausame, blutige Ceremonien. An einem Orte mussten getrocknete Trauben, die eine Jungfrau den Gläubigen darreichte, anderswo, bei einer Sekte, die allerdings nur indirekt mit dem Raskol zusammenhängt, — wie man sagt — der Busen einer Jungfrau selber als Abendmahlspeise dienen. Eine andere Gruppe der Bespopovzy, die man die „Gähner" nennt, behaupten, dass Christus den Gläubigen Leib und Blut, die er für die Menschheit dahingegeben, nicht vorenthalten könne. Sie bleiben daher am grünen Donnerstag während des Gottesdienstes mit offenem Munde stehen und warten darauf, dass die Engel, die einzig übriggebliebenen Diener Gottes, sie aus einem unsichtbaren Kelche tränken werden. Also thaten die zarter organisirten oder die fanatischen Seelen, um dem geistigen Abgrund zu entgehen, darein sie der Raskol gestürzt hatte. Ganz anders ist das Verhalten der streng theologisch Beanlagten, welche die grosse Mehrzahl der Bespopovzy nach sich zogen; denn auch in Religionssachen trägt die Logik über die Frömmigkeit, der Kopf über das Herz den Sieg davon. Sie schrecken vor keiner sich aus ihrer Lehre ergebenden Consequenz zurück, und verwerfen alle Ausflüchte, mit denen sich die trauernde Frömmigkeit zufrieden gehen möchte. Es giebt kein Priesteramt mehr, also kann es kein anderes Sakrament mehr geben, als dasjenige, welches auch von Laien vollzogen werden kann, die Taufe. Die heiligen Ketten, mit denen die Kirche Erde und Himmel zusammengeschmiedet hatte, sind gebrochen, und nur ein Wunder könnte sie wieder zusammen-schweissen. Inzwischen sind die wahren Christen, gleichsam wie Schiftbrüchige auf eine wüste Insel verschlagen, und kein Priester ist unter ihnen. Es giebt kein Abendmahl mehr, keine Beichte, keine Oelung, und — was das bedenklichste ist — es giebt auch keine Ehe mehr. Der Priester allein hat das Recht den Ehebund einzusegnen; ohne Priester keine Ehegatten. Dies ist die letzte Consequenz des Schisma's und die Klippe an welcher die Priesterlosen scheitern: ohne Ehe keine Familie, ohne Familie keine Gesellschaft. Wie lässt sich eine solche Lehre mit dein menschlichen fühlen., mit der Gesellschaftsordnung, ja selbst mit der Moral vereinbaren? Die Ehe ist der Stein des Anstosses der Bespopovzy; der Kernpunkt ihrer Streitereien und Spaltungen: hier finden sich bei ihnen alle Arten von Vereinigungen, die stellenweise wieder durch die absonderlichsten Compromisse gemildert werden. Die Praktischen behalten die Vereinigung von Mann und Weib in Gestalt eines rein gesellschaftlichen Uebereinkommens bei, die Logischen erklären das Cölibat für obligatorisch. Der Asketismus prolitirt allerdings oftmals nicht viel dabei. Wie es schon oft in der Religionsgeschichte dagewesen ist, so vereinigen sich auch bei den russischen Sektirern Fleischeslust und Mysticismus manchmal zu einem widernatürlichen Bunde. Unabhängige Liebe, freier Geschlechtsverkehr und Weibergemeinschaft wurden nicht nur gepredigt, sondern auch in Praxis gesetzt. In den tiefen Schichten des russischen Volkes konnte man die gröbsten Ausschreitungen des Alterthums und des Gnosticismus neben den romantisch-ungesunden Utopien unserer modernen Zeit beobachten. Selbst wenn sie nicht in die äussersten Extreme verfallen, so stellen doch die meisten Theologen der Bespopovtschina mit dem Eheverbot die absonderlichsten Maxiinen auf. In ihren Augen ist die Ausschweifung, die nur eine zufällige, vorübergehende Schwachheit darstellt, eine weit geringere Sünde, als die Ehe, die vom Glauben verworfen und als Abfall angesehen wird. Sie stellen die Moral auf den Kopf und ziehen dem Ehestand das Concubinat, und diesem wieder die denkbarste Ungebundenheit vor. „Es ist besser", sagt mit cynischer Offenheit einer ihrer strengsten Lehrer,1) „mit einem Thiere geschlechtlichen Umgang zu pflegen, als mit einem hübschen Mädchen, es ist besser mehrere Weiber heimlich zu besuchen, als mit einer Frau öffentlich zu leben." Soweit sind diese ängstlichen Befürworter der alten Riten gekommen. Um ein paar alte Ceremonien zu retten, haben sie sich nicht milder christlichen, sondern auch der natürlichen Moral begeben. So gelangten diese Sekten, die schon von vornherein mit dem Staat und der modernen Civilisation in Fehde lagen, schliesslich dahin, die Grundprincipien der menschlichen Gesellschaft zu verleugnen. Die grössten Fanatiker können nicht zu solchen Schlussfolgerungen gelangen, ohne selbst davor zu erschrecken. So empfanden auch die Bespopovzy, als sie den ganzen Kult und die ganze Moral des Christenthums über den Haufen warfen, das Bedürfniss, sich vor sich selber zu rechtfertigen. — Christus hat die Kirche und die Menschheit verlassen. Wie konnte er sie der Sakramente und der Heilsmittel berauben, die er ihnen selber zum Erbe gegeben? Wie konnte er zugeben, dass die Hand der Gottlosen das heilige Band zerbreche, womit er Gott und die Menschheit verbunden? — Dieses fürchterliche Rüthsei lässt nur eine einzige Lösung zu. Der Fall des Priesterthums und der Kirche, der Triumph des Unrechts und der Lüge, war von den Propheten vorherverkündet worden. Es ist die Zeit von der es in der Schrift heisst: da werden selbst die Frommen wankelmüthig, und Gott wird seine Kinder in die Gewalt des bösen Feindes geben. Ihrer Priester beraubt, gleicht die Kirche einer trauernden Wittwe, wie es Daniel für die letzten Tage der Welt prophezeit hat. — So gelangte der Raskol auf einem neuen Wege, durch theologische Schlussfolgerung, zum Glauben an das Reich des Antichrist, wohin ihn, wie wir gesehen haben, schon ein anderer Pfad, seine Abneigung gegen die Reformen in Kirche und Staat, geführt hatten. Das Reich des Antichrist hat begonnen; dies ist die Grundlehre des Raskol, besonders aber der Bespopovtschina, Die bündige Klarheit dieses neuen Dogma's erklärt und rechtfertigt alle Widersprüche der Priesterlosen. Nun begreift man, warum es kein Priesteramt, keine Ehe, keine Familie mehr giebt. Wozu soll man ein Weib nehmen, wozu die Menschheit fortpllanzen Indien, da J) Korilin, citirt von N. Popof; Schlo lakoe sowreraennoe slaro obriad-lichestwo w Robsü (Stand des heutigen Altritualismus in Russland), Seite 34. doch im nächsten Augenblick die Posaune des jüngsten Gerichts erschallen muss. Schon vor Peter dem Grossen wurde der Weltuntergang als nahe bevorstehend verkündet, und noch heute — nach fast zweihundert Jahren — warten die Urenkel jener altritualistischen Welt-untergangsproplieten noch geduldig auf das grosse Ereigniss. Wie, zu andern Zeiten, die abendländischen Christen, suchen sich die Ras-kolniki die Verzögerung dieser Katastrophe durch allerhand Gründe zu erklären und lassen sich keineswegs von ihrem festen Glauben abbringen. Für manche ist das Reich des Antichrist zu einer Art Aera oder Geschichtsperiode geworden, die Jahrhunderte lang andauern kann. Es ist eine der drei grossen Religionsepochen der Menschheit und hat, wie die beiden vorhergehenden Zeitabschnitte des alten und des neuen Bundes ihr eigenes, alle früheren Gebote aufhebendes Gesetz. Uebrigens sind die Raskolniki und sogar die Bespopovzy keineswegs über den Antichrist unter sich einig. Die meisten glauben an seine Herrschaft, aber sie fassen diese, soweit man darüber urtheilen kann, in sehr verschiedenem Sinne auf. Die Popovzy und die gemässigteren Priesterlosen fassen das Reich des Antichrist nur im geistigen Sinne als ein unsichtbares auf; Staat und Staatskirche dienen der Hölle unbewusst und unwillkürlich. Nach der Meinung der Linken des Schisma's, jener äussersten Sekten der Priesterlosen, regiert aber der Antichrist die Welt wirklich, in körperlicher, greifbarer Gestalt. Er sitzt, wie wir schon gesehen haben, seit Peter dem Grossen auf dem Thron der Zaren und sein Sanhedrin tagt unter dem Namen des Heiligen Synod. Diese Meinungsverschiedenheit ist in theologischer Hinsicht von secundärer Bedeutung, politisch aber von hervorragender Wichtigkeit. Mit Sekten, die annehmen, der Staat sei nur in Verirrung und Verblendung gerathen, lässt sich irgend eine Verständigung herbeiführen, ein „modus vivendi" linden; aber mit denjenigen, welche den Staat als eine directe Inearnation des Teufels betrachten, giebt es nicht Frieden noch Vertrag. Dieser Glaube an das Reich des Antichrist musste bei unwissenden Bauern die sonderbarsten Verirrungen erzeugen. Jede Berührung mit der von „Satan, dem Sohne Beelzebubs (Weelsewulowitsch)" regierten Welt gilt als Befleckung; sich ihren Gesetzen unterwerfen ist Schwäche, Abfall. Die besten Mittel, der teuflischen Ansteckung zu entgehen, sind Einsamkeit, Klosterleben und Flucht nach unbewohnten Gegenden. Einzelne Sektirer sahen in ihrer Seelenangst den Tod als einzig sichere Zufluchtstätte an. Um die Prüfungszeit abzukürzen und dieser, der ewigen Verdammniss verfallenen Welt zu entfliehen, griff man systematisch zu Todschlag und Selbstmord. Fanatiker, die man „Kindermörder (dieto ubjizy)" nannte, machten es sich zur Pflicht, die unschuldigen Seelen der Neugeborenen zum Himmel zu senden , um ihnen die Drangsal des höllischen Reiches ZU ersparen. Andere, „Würger' und „Todsohläger" (duschilstsehiki, tiukalstschiki) genannt, glauben ihren Freunden und Verwandten dadurch einen Liebesdienst zu erweisen, wenn sie dieselben davor bewahren eines natürlichen Todes zu sterben und, im Falle einer schweren Krankheit ihr Ende beschleunigen. In ihrem wilden Realismus verstehen sie den Bibelspruch wörtlich: „Aber von den Tagen Johannis, des Täufers, bis hierher leidet das Himmelreich Gewalt; und die Gewalt thun, die reissen es zu sich" (Matthäus XI, 12) und sie behaupten deshalb, der Himmel erschliesse sich nur denjenigen, welche eines gewaltsamen Todes sterben. Diese Unsinnigen hatten keine Ahnung davon , dass sie auf russischem Boden nur dieselben Tollheiten wiederholten, die sich ungefähr vor fünfzehnhundert Jahren in Afrika zugetragen hatten. WTie die afrikanischen Zellenheiligen, die sich, um den Tod der Märtyrer nachzuahmen, lebendig verbrannten oder von hohen Felsen ins Meer stürzten, predigten Sektirer, wie die Philippovzy, die Erlösung durch Selbstmord. Einige nahmen ihre Zuflucht zum Schwert, andere zum Hunger, die meisten aber zu den Flammen. Der gemeinsame Tod, „die Heilsvereinigung", wurde als die verdienstlichste Thal, angesehen. Familien, ja ganze Dörfer vereinigten sich, um sich Gott als lebendiges Opfer darzubringen. Die freiwilligen Schlachtopfer verschanzten sich hinter einer Umzäunung, um bei ihrer Opferung nicht gestört zu werden. Oft wachte der Prophet oder Apostel, der diese freiwilligen Märtyrer angeworben hatte, darüber, dass keine Rückfälle vorkamen, er hielt die Profanen fern und verlegte den Muthlosen, die sich versucht fühlten in die sündige Welt zurückzu-fliehen, den Weg. Unter der Regierung Alexanders II. wird eines Bauern, Namens Chodkin, Erwähnung gethan, der einige zwanzig Personen beredet hatte, sich mit ihm in die Wälder von Perm zurückzuziehen, um daselbst Hungers zu sterben. Er liess sie eine Grotte auswählen und schloss sie darin ein; vorher hatte er sie aber weisse Hemden anziehen lassen, damit sie in bräutlichem Gewände im Himmelreich erscheinen möchten. In dieser Höhle hielt Chodkin die Schwachen und die Kinder, die nicht die Kraft besassen, den Qualen des Hungers Widerstand zu leisten, mit Gewalt zurück. Da es dennoch zwei Weibern1 gelungen war zu entfliehen, so fürchteten die Fanatiker, das> sie verrathen und mit Gewalt unter die Herrschaft des Teufels zurück geführt werden könnten, und erschlugen sich gegenseitig, der Sohn tödtete seine Mutter, .der Vater seine Kinder. — Da der Hungertod ein langsamer ist, und die sich auf solche Weise Opfernden oft kleinmüthig wurden, so zogen ihm die Philippowzy gewöhnlich die „Feuertaufe" vor. Nach ihrer Ansicht konnte einzig und allein das Feuer die Seelen von den Flecken dieser, der Herrschaft des Bösen verfallenen Welt reinwaschen. Ein Familienoberhaupt schloss sich mit seiner Frau, seinen Kindern und seinen Freunden in seine hölzerne Hütte ein, die zuvor mit Stroh und trockenem Reisig rings umgeben worden war. Ein Prediger legte Feuer daran, ermuthigte mit lauter Stimme die Leidenden, und führte sie, nöthigen-falls, auch in die Gluth zurück. Im achtzehnten Jahrhundert, zur Zeit der grossen gegen den Raskol gerichteten Verfolgung wurden solche Menschenopfer massenhaft vollzogen. Die Sektirer suchten in den Flammen eine Zufluchtstätte gegen die Verfolgung der Militärgewalt und die Versuchungen des gerichtlichen Verhörs. Oefter kamen solche Autodafes — eigentliche „Glaubensakte" — von hundert oder zweihundert Menschen vor, und man nimmt an, dass in Sibirien und im Uralgebiet tausende von Menschen auf diese Weise umgekommen sind. Dicht zusammengedrängt starben diese „Selbstverbrenner" (samosojigateli) auf grossen Scheiterhaufen, die, damit die Betheiligten nicht entfliehen konnten, mit einem Graben oder einem Pfahlring umgeben wurden. Selbst dem neunzehnten Jahrhundert waren solche Schreckens-scenen nicht fremd: hier und da, bis unter die Regierung Alexanders LU. werden einzelne Beispiele erwähnt; so verbrannte sich, Psalmen singend, im Jahre 1883 ein Bauer Namens Jukow. Die Bluttaufe, die als „rother Tod" für ebenso wirksam gilt, wie die Feuertaufe, ist vielleicht noch weniger selten; hauptsächlich giebt es Eltern, die dadurch ihre Kinder vor den Lockungen des Fürsten der Finster-niss bewahren wollen. So hatte sich im Jahre 1847 ein Mushik aus dem Gouvernement Perm vorgenommen, mit einem Schlage seiner ganzen Familie den Himmel zu erschliessen; da ihm aber die Axt entsank, bevor er sein düsteres Werk vollbracht hatte, stellte er sich seihst dem Gericht. Ein anderer Bauer aus dem Gouvernement Wladimir, der wegen Ermordung seiner beiden Söhne zur Verantwortung gezogen wurde, gab an, er habe sie dadurch vor der Sünde bewahren wollen und wies, um seinen Opfern nachzufolgen, im Ge-fängniss jede Nahrung von sich. Eine symbolische Legende, die Legende „von der Frau Hallelujah". Loroy-Boauliou, Reich d. Zarou u. ) Anm. des Uebers.: Die Altgläubigen. Siehe Bd. III, 320. in jüngster Zeit einige Sekten, wie z. B. die „Stundisten" aufgetaucht, aber diese rationalistisch angehauchten Sekten sind zumeist unter protestantischem Einfluss entstanden, und man hat schon zu verschiedenen Malen beobachtet, dass der Kleinrusse nicht denselben Geschmack an dogmatischen Streitigkeiten findet, wie sein nordischer Bruder.1) Von allen russischen Völkerschaften hat nur die wichtigste und zugleich die gemischteste dem Geiste der Häresie in solcher Weise Eingang gewährt, und dieser Geist der Häresie ist zu einem charakteristischen Unterscheidungszeichen dieses mächtigen Stammes geworden. Die gebildeten und skeptischen Russen behaupten gern, dass der so sehr zum Sektenwesen hinneigende Grossrusse der am wenigsten religiöse unter den Slaven des Reiches sei. Darin liegt ein eigenthümlicher Contrast und vielleicht nicht einmal ein absoluter Widerspruch. Das Princip des Raskol ist nicht rein religiöser, sondern hauptsächlich formalistischer und realistischer Natur, und der Realismus ist ja von Haus aus wenig religiös. In dieser übertriebenen Anhänglichkeit an die Kulturformen könnte man vielleicht eine gewisse Schwachheit und Unfähigkeit, den religiösen Gedanken zu erfassen, erblicken. Bei den Grossrussen selbst hat jeder der beiden Zweige des Schisma's sein eigenes Gebiet, sein hauptsächliches Arbeitsfeld. Beide sind hauptsächlich in den am spärlichsten bevölkerten Gegenden des Reiches herrschend, in den abnormen äussersten Zonen, in den Wäldern des Nordens und den Steppen des Südens. Wir lassen hier Moskau beiseite, welches zum Mittelpunkt des Raskol wie des gesammton russischen Lebens geworden ist. Die eine Priesterschaft besitzenden Sekten, die Popowzy, überwiegen im Centrum und im Südosten, die Priesterlosen, die Bespopowzy, im Norden. Diese herrschen bei den Küstenvölkern des weissen Meeres, im Ural und in Sibirien, jene bei den Kosaken, an den Ufern des Don, am untern Lauf der Wolga und am Uralfluss. Boden und Klima, geschichtliche Entwicklung und Sitten erklären diese Vertheilung. AVenn die Altgläubigen in den entlegenen Gegenden zahlreicher sind, so kommt dies daher, weil sich hier die alten Gebräuche leichter erhalten haben und ferner, weil sich in den weiter vom Staatscentrum abliegenden Beginnen das Sektenwesen viel leichter bilden und ausbreiten konnte. Wenn die Priesterlosen hauptsächlich in den Gouvernements des Nordens vorwiegen, so mag man bedenken, dass J) Siehe z. B. Tschubinski, Ethnographische Unterredungen Aber Westrussland, Jugo-Sapadnyi otdel, Bd. VII, S. 348. die christlichen Confessionen fast durchgängig unter dem rauhen nordischen Himmel zum Laienthum hinneigende Formen häufiger annehmen, als dies unter einem milderen Klima zu geschehen pflegt. In Nordrussland wurde der Erfolg der priesterlosen Sekten hauptsächlich durch die weite Ausdehnung des Landes, durch die schlechte Bodenbeschaffenheit und die spärliche Bevölkerung begünstigt. In jenen riesigen Gouvernements des Nordens, von welchen eines, Archangel, so gross ist wie Frankreich und Italien zusammen, von welchen andere, wie Wologda oder Perm, so gross sind wie England oder Ungarn, ist die Zahl der Pfarreien und der Priester immer eine sehr beschränkte gewesen. Infolge dessen war der Einfluss der Priesterschaft ein um so geringerer, und die Religionsausübung von jeher mehr in den Händen der Laien. Noch heute sind manche Pfarrsprengel so ausgedehnt, dass man oft über eine Tagereise braucht, um von ihrer äussersten Grenze bis nach dem Mittelpunkte zu gelangen. Bei einer so zerstreut wohnenden Bevölkerung, wozu noch der Umstand kommt, dass die Wege oft ganze Monate hindurch ungangbar sind, konnte die Kirche von einer grossen Zahl ihrer Gemeindeglieder gar nicht erreicht werden. Die Leute kamen nur sehr selten nach dem Pfarrdorf, und selbst die feierlichsten Akte des Lebens konnten nicht immer mit dem Beistand des Priesters begangen werden. In der Galerie eines reichen Altgläubigen zu Moskau hat mich besonders ein Gemälde gefesselt, das eine Beerdigung in jenen nordischen Regionen darstellte. Auf einem Bauernschlitten, mitten im endlosen, beschneiten Felde führt ein Weih einen hölzernen Sarg nach irgend einem wer weiss wie weit entfernten Kirchhofe. Ks ist dies ein Bild des düstern Lebens in jenen ausgedehnten Regionen, wo der Priester, lange bevor sein Amt von den Häretikern verworfen wurde, allein durch die Ungeheuern Entfernungen, seinen Pfarrkindern unzugänglich war. Die kleinen Menschengrnppen, die jene weiten, einsamen Strecken hewohnen, mussten sich von jeher in allen Dingen selber helfen und waren gezwungen, für ihre geistigen Bedürfnisse ebensogut selber Sorge zu tragen, wie für ihre körperlichen. Lange vor dem Ausbruch des Schisma's errichteten sich die Bauern kleine Bethäuser, wo sie zusammen singen und Gebete lesen konnten und wo die Unterrichteteren ihre weniger fortgeschrittenen Genossen zu belehren suchten. So war die llespopowstschina aus einem reinen Bedürfnisse entsprungen, lange bevor sie als eigentliche Lehre verkündet wurde. Einige russische Schriftsteller verschiedener ') Auch heute noch trifft man da und dort, besonders in Sibirien, unfreiwillige „Priesterlose" an. EinorthodoxerGeistlicher, Pater Gurieff, erzählte 1881 Richtungen, unter Andern Chomiakow und Kelsieff, wollen das Vorherrschen der Bespopowzy im Norden von Russland dorn Einfluss des protestantischen Nordeuropa zuschreiben. Allein das ist nur eine müssige Hypothese.1) Der Raskol ist in seiner gründlichsten Form, wie in seinen Ursprüngen, ein einheimisches, autochtones Produkt; er ist ganz und gar aus localen Sitten und Gewohnheiten hervorgegangen. Sogar in Nowgorod bekannten sich die „Strigolniki" seit dem vierzehnten Jahrhundert zu ganz ähnlichen Lehren, wie die heutigen Bespopowzy; lange vor den Reformaposteln verwarfen sie die Autorität der Geistlichkeit. Es wäre von hohem Interesse, wenn wir eine graphische Darstellung, eine Karte des Raskol besässen. Vielleicht kein Land sieht sich so gerne abgebildet, wie Russland, keines hat sich unter so verschiedenen Gesichtspunkten dargestellt und besitzt so mannigfache Karten seines Gebietes. Auf dem Atlas der verschiedenen Kulte werden die Dissidenten nicht von den Orthodoxen unterschieden. Doch hatte man dereinst, im statistischen Amte, einen Plan zu einer Karte des Raskol entworfen, den ich selber in Händen gehabt habe; ich weiss indessen nicht, ob er veröffentlicht wurde. Auf dieser Karte erscheint Moskau als das religiöse Centrum, als die kirchliche Metropole des moskowitisehen Schisma's. Um die alte Zarenstadt herum beschreibt die Masse der Raskolniks eine Art von Kreis, der im Norden, Osten und Süden breiter, im Westen aber gegen die neuerworbenen Provinzen zu schmäler ja fast offen erscheint. Ferner sieht man, wie der Raskol vom Herzen des alten Moskowien aus mit Europa zusammenhängt, und zwar durch lange schmale Streifen, die im Russkii Westnik, dass ihn der Rischof' von Toraak eines 'Inges beauftrag! habe, einen Trupp Sektirer zu vernehmen, die von der Polizei aufgegriffen und nach der Episeopalstadt transportirt worden waren, um daselbst wieder auf den Weg des Heils geführt zu werden. Da entdeckte Pater Guricff, dass diese guten Leute, die man mit Gewalt aus ihren Hütten weggeschleppt hatte, nichts anderes waren als Orthodoxe, die, entfernt von jeder Kirche, einen verlorenen Weiler bewohnten, und die, um nicht jeden Gottesdienst entbehren zu müssen, darauf verfallen waren, die heiligen Handlungen durch einen der ihrigen verrichten zu lassen. Und man könnte in Sibirien noch viele solche „Sektirer wider Willen" finden, schliesst Pater Gurieff. ') Bei einigen Küssen, wie Chomiakow, liegl diese Behauptung im System, Chomiakow, eine der Koryphäen der Slavophilen, betrachtet den Protestantismus und den Geist der Abtrünnigkeit als das logische Produkt des „Komanismus". Nach seiner Meinung hätte nichts ähnliches aus der Orthodoxie selbst hervorgehen können; er musste also den Ursprung der russischen Sekten fremden Einflüssen zuschreiben. Chomiakow: Die römische Kirche und der Protestantismus unter dem Gesichtspunkt der orientalischen Kirche. ihn einerseits mit den baltischen Ländern, andererseits mit Preussen und wieder andererseits mit Oesterreich und der alten Türkei in Verbindung setzen. Beim Anblicke einer solchen Karte könnte man glauben, das Schisma habe seine Wurzeln in Europa; aber das ist nicht der Fall. Diese langen, tief in den Westen eindringenden Arme sind keineswegs Wurzeln, sondern vielmehr Ausstrahlungen des sieh in Moskau befindenden Grundstockes des Baskol. Im ersten Jahrhundert des Schisma's haben viele Dissidenten im Ausland, auf schwedischem, polnischem, preussischem und österreichischem Boden den Frieden gesucht, den ihnen die Heimath versagte. Mancherorts haben die Starowjär-Colonien fortbestanden, ohne sich mit den Nachbarvölkern zu vermischen und die einheimischen Sektirer blieben mit ihren jenseits der Landesgrenze wohnenden Genossen in stetem Verkehr. Daher diese mehr oder minder zusammenhängenden Linien, die auf der Karte das moskowitische Schisma mit Europa in Verbindung setzen. Sie bezeichnen die verschiedenen Etappen der Auswanderer, sie bezeichnen ferner die von den Sendboten des Raskol gewöhnlich benutzten Strassen zwischen den auswärtigen Niederlassungen und den Centren der Kirchenspaltung in Grossrussland, und weisen in Folge dessen auf die Fusstapfen der Altgläubigen und auf die Wege, auf welchen sich ihr Einfluss geltend macht. Das Schisma zeigt sich hier unter einem ganz neuen Gesichtspunkte als Triebfeder der Auswanderung und der Colonisation. In dieser Hinsicht, und nicht allein in dieser, zeigt sich zwischen der Bolle der Altgläubigen und derjenigen der Nonconformisten, der englischen Puritaner, eine gewisse Analogie. AVenn sie auch nicht, wie die Puritaner über das Meer ziehen konnten, um ein Reich nach ihrem Sinne zu gründen, so fanden diese Starowjärs doch in den Grenzen ihres eigenen Vaterlandes ein beinahe unbegrenztes Auswanderungsgebiet. So haben die Dissidenten, dadurch, dass sie in der Einsamkeit der Wälder und Steppen Schutz vor der Be-drängniss der Staatsgewalt suchten, ^tatsächlich dazu beigetragen, in früher ausschliesslich asiatischen Gegenden russisches Volksthum zu verbreiten. Theils als freiwillige Auswanderer, theils als De-portirte, haben sie sich in den entferntesten Provinzen Russlands festgesetzt, östlich vom Ural und südlich vom Kaukasus, mitten unter den Katholiken Polens, den Protestanten der Ostseeprovinzen und den Moslem des Morgenlandes. Die Colonien in der Fremde dienten ihnen als Zufluchtsstätten und sichere Plätze. Auf altem, polnischem Boden, zu Wetka in der Provinz Mogilef befand sich lange Zeit der hauptsächliche Herd des Popowstschina; um dieses Nest des Raskol zu zerstören, haben die Truppen der Anna Iwanowa und Katharina IL zweimal (1735 und 1764) die polnische Grenze verletzt. In einem Flecken der Bukowina, unter österreichischer Flagge, konnten die Starowjärs, im Angesichte des Kaisers Nikolaus, ein Bisthum gründen. In den Ostseeprovinzen und in Litthauen, in jenem weiten Gürtel der erst im achtzehnten Jahrhundert annectirten Gebiete, bilden die Raskolniks, die sich seinerzeit unter schwedischer oder polnischer Herrschaft daselbst niedergelassen hatten, noch heute die einzigen Bewohner grossrussischen Ursprungs. Ausser jenen ausgewanderten Altgläubigen, die inzwischen von den Fängen des russischen Adlers wiederum erfasst worden sind, wurden andere von Katharina II. geradezu zur Umkehr bewogen und unter Gewährleistung religiöser Toleranz an die untere Wolga und nach Neurussland verpflanzt. Auch heutzutage giebt es ausserhalb der Grenzen des Reiches noch mehrere Dissidentencolonien, die mitten unter der sie umgehenden Bevölkerung ein durchaus moskowitisches Leben führen. Preuasen besitzt eine solche bei Gumbinnen, Oesterreich mehrere in der Bukowina, Rumänien in der Walachei, in der Moldau, und die Türkei an verschiedenen Punkten ihres europäischen und kleinasiatischen (rebietesi Nicht nur in der Anzahl und der weiten Verbreitung seiner Anhänger beruht die Stärke des Schisma's, sondern diese wird haupt-sächlieh durch die Volksclassen bedingt, in welchen sich der alte Glaube fortpflanzt. Für den gebildeten Russen ein Gegenstand der Verachtung, rekrutirt sich der Raskol aus dem Volke, oder wenigstens aus denjenigen Classen, die aus dem Volke hervorgegangen sind, aus Bauern, Handwerkern und Krämern. Der Adel verschliesst sich ihm gänzlich.*) In einem andern Lande würde eine Bewegung, die sich ausschliesslich auf die untern Schichten der Nation erstreckt, niemals erstarken: im leibeigenen Russland hingegen bot gerade dieser Umstand den besten Gewähr für ihre Lebensfähigkeit. Das Schisma ist eine der Folgen jener Theilung der russischen Gesellschaft in zwei einander völlig fremde Welten, in zwei Völker, die gar keine gegenseitigen Sympathien mehr besitzen, jener Theilung, die wir als eine aus den gewaltsamen Reformen Peters des Grossen entspringende Consequenz kennen gelernt haben. Jene starke Mauer, die das achtzehnte Jahrhundert zwischen dem Volke und den gebildeten J)Die einzige Ausnahme machen in dieser Beziehung die Kosaken. Bei den (Ionischen Kosaken fanden sich thatsächlich unter der Zahl der Altgläubigen einige Familien, die dem officiellen Adel angehörten. Classen errichtet hatte, wurde zum Schutzwall für den Aberglauben und den Sektengeist des Volkes. Hinter der Geringschätzung des Adels erstarkte der Raskol, wie hinter einer sichern Schanze; die Verachtung, die ihm die gebildeten Classen angedeihen liessen, schützen ihn gerade vor den Angriffen der Civilisation. Ganz und gar auf das Volk beschränkt, hielt sich die moskowitische Häresie so wohl verborgen, dass über ein Jahrhundert lang diejenigen Männer, die sie hätten bekämpfen können, keine Ahnung davon hatten. Erst in jüngster Zeit suchten die gebildeten Russen neugierig in das dunkle Labyrinth der im niedrigen Volke herrschenden Glaubensansichten einzudringen. Das erwachende Interesse dafür ist ein Zeichen der wieder beginnenden gegenseitigen Annäherungen der Classen und gerade diese gegenseitige Annäherung und die wiedererwachende Sympathie der beiden Hälften der Kation zu einander werden mehr als alles andere die religiösen Verirrungen des gemeinen Volkes verwischen. So verachtet er auch war, besass der Raskol doch zwei Bedingungen zur Macht, die sich oft zusammenfinden: Sittenstrenge und Reichthum. Fast überall hört man sagen: „Diese Raskolniks sind die massigsten, sparsamsten und achtbarsten Leute." Wenn uns ein Gutsherr in eine saubere und gut unterhaltene Bauernhütte führt, und wir ihn fragen, was die Bewohner derselben für Leute seien, kann man oft die Antwort hören: „Es sind Raskolniks, Altgläubige." Erkundigt man sich bei dem Leiter eines industriellen Unternehmens, welches seine besten Arbeiter, bei einem Kaufmann, welches seine besten Angestellten seien, so wird er nicht selten, „die Dissidenten, die Starowjärs" erwiedern. Auf der Messe von Nischni-Nbwgorod, die für eine grosse Zahl russischer Kaufleute nur ein Sammelplatz aller erdenklichen Vergnügungen bildet, zeichnen sich die Altritualisten durch Zurückhaltung und anständiges Benehmen aus. Gewöhnlich überlassen sie jene cynisch-bmtalen Orgien, die man in der Messstadt oft genug beobachten kann, den Anhängern der Staatskirche. Auch gegenüber dem Staate bethätigen sie diese Liebe zur Ordnung und Sparsamkeit. „Die Altgläubigen", sagte mir der Gouverneur einer Frovinz, „sind die regelmässigsten Steuerzahler." In diesem Lande, wo stets so viele Gemeinden mit den Abgaben im Rückstand bleiben, kommt ein Gleiches bei den Dörfern der Raskolniks sehr selten vor. Dies ist eine bekannte Thatsache; dafür stehen auch die Starowjärs von einem Ende des Reichs bis zum andern bei den Steuereinnehmern in guter Achtung. Auch sind die rechtgläubigen Bauern, wenn sie den Wohlstand der Altritualisten mit der eigenen Dürftigkeit vergleichen, oft geneigt, jenen geradezu der Ueberlegenheit des „alten Glaubens" zuzuschreiben. Diese moralischen Vortheile entspringen zum Theil aus den Vor-urtheilen der Dissidenten und schwinden auch nach und nach mit eben diesen Vorurtheilen wieder daliin. Der Abscheu, den einig«' unter ihnen vor gewissen Vergnügungen und Nahrungsmitteln haben, bewahrt sie vor diesem und jenem Laster und vor mancher üblen Angewohnheit; ebenso wie die Vorschriften des Koran den Muselmann vor der Trunksucht behüten. Das Moralitätsprincip der Raskolniks ist indessen nicht in ihren Abneigungen und Vorurtheilen und noch wenigei in ihrem Kultus zu suchen. Die Moral lässt sich in den Religionen nicht immer vom Dogma ableiten; sie ist oft mehr, oft Weniger werth als die Glaubenslehren. Für die Ehrenhaftigkeit und die guten Eigenschaften der Raskolniki giebt es zwei ausserhalb der Religion liegende Gründe: erstens einen nationalen, der speciell dem russischen Volke und dem Ursprünge des Raskol eigen ist und zweitens einen allgemeinen, der in allen ähnlichen Fällen und in allen Ländern in analoger Weise in Wirksamkeit tritt. Der nationale Grund ist der, dass das Schisma aus einer Auflehnung des Volks-bewusstseins hervorgegangen ist, dass gerade die gewissenhaftesten Geister und Familien dem Raskol treu geblieben sind, dass er vollständig mit dem gesellschaftlichen, sittlichen und sozusagen mit dem häuslichen Ideal des Volkes harmonirt. Der allgemeine Grund ist der, dass in allen Staaten, wo, neben der herrschenden Kirche, weniger begünstigte Confessionen bestehen, diese letzteren gerade ihrer gedrückten Stellung eine gewisse Feherlegenheit des Eifers und der Tugend verdanken. In einer religiösen Partei macht sich, gleich wie in einer politischen, eine gewisse Abspannung geltend, sobald sie aus dem Stadium der Minderheit in dasjenige der Mehrheit übergeht. Die sittliche Kraft ein und derselben Religion steht in verschiedenen Ländern oft geradezu im umgekehrten Verhältniss zu ihrer jeweiligen Macht. Wie eine Quelle, die sich zum Flusse erweitert, ihre Durchsichtigkeit verliert, so verliert auch eine Religionslehre, wenn sie sich weiter ausbreitet, oft ihre Reinheit und Strenge. Iii den Altgläubigen, wie bei den meisten sich in der Minderzahl befindlichen Bekenntnissen, wurden überdies diese, der numerischen Schwäche und der gedrückten Situation anhaftenden, guten Eigenschaften durch das Andenken an vergangene oder die Aussicht auf noch zu erwartende Verfolgungen verstärkt, die stets dazu an-gethan sind, die Geister zu erheben und die Charaktere zu stählen. Ja es giebt Länder, wo sich die öifentliche Moral nach langem Dar- tl er oy-ßeauliou , lleich d. Zaren u. <1. Hussou. 24 niederliegen geradezu durch solche, zuerst verachtete, religiöse Minoritäten wieder gehoben hat. Um in dieser Weise zu wirken und auf Russland den Einfluss gewinnen zu können, den seinerzeit die Puritaner unter den Stuarts auf England ausübten, dazu fehlte den Altgläubigen doch noch Manches. Ganz auf sich selbst beschränkt, ganz in die Betrachtung der Vergangenheit vertieft und abgeschlossen von einer Civilisation, die sich ihm zum Trtoz der Heimath aufgedrängt hatte, bleibt der Raskol im Volke nur ein unfruchtbarer Protest, unfähig Russland, wenn nicht ein sittliches, so doch ein politisches Ideal zu schenken. Zu der Kraft, die den Altgläubigen die grössere Sittenstrenge verleiht, kommt noch die Macht des Geldes. Auch dafür giebt es Ursachen, die dem Raskol eigenthümlich sind, und andere, allgemeinere, die aus der Lage des Raskolnik hervorgehen. Diese Fähigkeit Reichthümer zu erwerben ist zum Theil eine Folge seiner moralischen Ueberlegenheit und mag, wie diese, an gewissen Glaubenssätzen und Vorurtheilen des Schismas liegen. Der Starowjär, der nicht raucht und nur wenig trinkt, gelangt eben durch seine Massigkeit und Sparsamkeit schneller zum Wohlstand. Aber das ist noch keine genügende Erklärung. Es giebt noch einen viel stärkeren Grund, der sich bei den meisten lange Zeit unterdrückten Religionen und Rassen vorfindet. Durch Verfolgung und Gesetze, die sie vom Staatsdienst ausschlössen, verloren diese unterdrückten Sekten nach und nach das Interesse an den öffentlichen Angelegenheiten und warfen sich auf Privatunternehmungen, hauptsächlich auf den Handel. So wurden bei ihnen die iinanciellen und kaufmännischen Anlagen, durch Uebung gestärkt und durch Vererbung vermehrt, schliesslich zu einer natürlichen Begabung, zu einer angeborenen Fähigkeit. Im Orient bieten uns die Armenier, inlndien die Parsi, inAegypten die Kopten und in allen Ländern der Erde die Juden die verschiedensten Beispiele dieses einen Gesetzes. Allein der Raskol ist noch zu jung, und zudem gehört eine allzugrosse Zahl seinerBekenner dem Bauernstände an, als dass bei den Raskolniki der Einfluss dieses Gesetzes eben so allgemein und augenfällig sein könnte. Nur das lässt sich mit Sicherheit behaupten, dass sich bei ihnen der positive Geist und die kaufmännischen Fähigkeiten des Grossrussen um so stärker bethätigt haben, als gerade sie reich sein mussten. um sich frei bewegen zu können. Die Corruption der kaiserlichen Verwaltung führte sie darauf, zu dem bekannten goldenen Schlüssel, der alle Thüren öffnet, ihre Zuflucht zu nehmen. Die Raskolniki haben vielleicht in Russland zu allererst begriffen, dass Geld Schutz gewährt und dass ein Vermögen eine Macht reprä-sentirt, sie zuerst suchten ihre Emancipation im Reichthum. Das Handelsglück der Altgläubigen lässt sich mit demjenigen verschiedener protestantischer Sekten in England und den Vereinigten Staaten vergleichen. Es giebt Glaubensformen mit einfachen Grundsätzen und strenger, ja sogar grämlicher Moral, die gewissen Volksschichten von mittelmässiger Bildung besonders zusagen, leicht fasslich für den Krämergeist, sind es recht eigentlich Glaubenslehren der Bourgeoisie, die auf regelmässigen und sicheren Wegen zum Glücke führen. Beim Raskolnik, wie beim Puritaner, beim Quäker wie beim Methodisten vertragen sich praktisches und theologisches Denken, Geschäftssinn und religiöse Träumereien sehr gut mit einander. In den Städten, die sich den Dissidenten ofiiciell erst unter Katharina IE erschlossen haben, zählen diese mit zu den allerreichsten russischen Kaufleuten, deren enorme Vermögen oft mit denjenigen amerikanischer Geldgrössen wetteifern. In Moskau, dem Mittelpunkt des Eandels und des Geldwesens des Reiches gehören viele der schönsten Häuser, viele der ausgedehntesten Werkstätten den Raskolniki. In Perm und im Ural, der Region der Gruben und Hüttenwerke, haben sich die Altgläubigen eines grossen Theils des geschäftlichen Verkehrs zu bemächtigen verstanden. Enter ihren Händen häuften sich die Reichthnmer so rasch an, dass schon unter dem Kaiser Nikolaus ein ofliciöser Autor die Behauptung aussprach, es befinde sich ein sehr beträchtlicher Theil der russischen Capitalkraft im Besitze der Schismatiker.1) Einige besorgte Geister fürchteten bereits, dass der Raskol sich des ganzen Handels bemächtigen und eine Art von Einanzmonopol ausüben würde, wie man es anderorts oft von den Juden befürchtet hat; diese Angst war jedoch zum wenigsten übertrieben. Wahr hingegen ist es, dass im neunzehnten Jahrhunderte die Hauptmacht des Schismas auf der Börse beruhte. Das Geld wurde zur Seele des Raskol, der Rubel wurde zur schweren Walle der Raskolniks, die sie theils zur eigenen Verteidigung, theils um für ihre Sache Propaganda zu machen, benutzten. Es giebt Gebiete, wo die Altritualisten wirthschaftlich vollständig herrschen. So z. B. der Distrikt Semenof im Gouvernement Nischni. Sie wissen gewisse Industriezweige so sehr zu monopolisiren, dass man Arbeiter und Hauern, nur um Arbeit zu erlangen, zum Schisma übertreten sieht. So befindet sich die Fabrikation jener Holz- ') Denkschrift von Melnikof für den (trossfürstcn Konstantin, Sbornik praw. swed. o rask. I. Bd. S. 182 u. 1\)2. löffei, die nach allen Thcilen von Europa exportirt werden,*) fast ausschliesslich in den Händen der Raskolniks. Durch die langen Verfolgungen hat sich eine gewisse Solidarität unter ihnen ausgebildet, und der Beistand, den sie sich untereinander leisten, verleiht ihnen kein geringes Uebergewicht über ihre Concurrenten. Wie man es in andern Ländern oft den Juden vorgeworfen hat, bilden sie eine Art von Freimaurerei untereinander, Diese Solidarität erstreckt sich manchmal sogar auf die Mitglieder der verschiedenen Sekten, ungeachtet ihrer inneren Streitigkeiten, die gleichsam eine Art Bürgerkrieg innerhalb des Schismas vorstellen, verbinden sie sich bei Gelegenheit wider den gemeinsamen Feind. Sie besitzen verschiedene Erkennungszeichen, wie Ringe, Bosenkränze, oder auch Holzlöffel, die eigens für sie mit besonderen Sinnbildern bemalt werden. Ihre Bosenkränze sind von einer alten Form, die den Popow/v wie den Frieslerlosen gemeinsam ist; es giebt deren in allen Freislagen und sie werden aus den verschiedensten Stoffen, aus Holz, wie aus Edelsteinen hergestellt. Semenow, wo sich der Mittelpunkt dieser frommen Industrie befindet, versendet solche Rosenkränze nach allen Gebieten des Baskol, bis über die fernen Grenzen des Reiches hinaus; sie reisen um so leichter, da sie nicht leicht zu verbieten sind. Dank den Banden, womit der gemeinsame Glaube die Dissidenten verknüpft, konnte das Schisma stellenweise als Weg zum Reichthum betrachtet werden. Manche reichen Kaulleute benutzten den Raskol als ein mächtiges Mittel, Einfluss zu erlangen, manche auch als ein Mittel der Ausbeutung. Es scheint, dass es in vielen dieser Sekten, wie anderswo in politischen Parteien, neben den Fanatikern und den Naiven auch Wühler und Intriganten giebt, für welche die kirchliche Opposition, wie anderswo die Revolution, nur ein Mittel des eigenen länporkommens bildet. Der Aberglaube der grossen Masse der Dissidenten hat stellenweise nur dazu gedient, der Habsucht und den Geldschränken ihrer Führer Nahrung zu geben. „Der Raskol" — hiess es — „ist nur noch die Milchkuh von Millionär gewordenen Schuften". -) Wörtlich genommen und auf alle Altgläubigen angewandt, wäre eine solche Schätzung nichts weiter als eine Verleumdung: aber nichts destoweniger ist es wahr, dass das Geld in Sachen des Schisma's stets eine grosse Rolle spielt, und zwar sowohl bei den Popow/v als bei den Priesterlosen. Ein Schriftsteller, der die Sitten und Gebräuche der an der Wolga'wohnenden Raskolniks ') Besobrasow; Nationalöconoinische Studien über Russland. II, S. 75. -) J. W. Liwanow: Raskolniki i Ostroschniki, Bd. II, S G. in längeren Erzählungen geschildert, A. Petschersky,1) hat dargethan, welche Wichtigkeit die Führer und die grosse Masse der Starowjärs den materiellen Sorgen beimessen. Das heroische Zeitalter des alten Glaubens ist dahin, der Merkantilismus ist an seine Stelle getreten. Vielen Kaufleuten, die dem alten Ritus treu bleiben, ist es weniger um ihre ewige Seligkeit als um ihren zeitlichen Vortheil zu thun. „Warum behalten sie denn ihren alten Glauben"? ruft in einer Erzählung von Petschersky Mutter Menefa, die Aebtissin eines ihrer Skiten,a) „geschieht es um ihres Heiles willen? nein, um schnöden Gewinn". End wirklich giebt es unter den Machern der Bewegung solche, die sich von ihren Religionsgenossen ihre Schulden und sogar ihre Steuern bezahlen lassen. Die Raskolniks verbinden, selbst wenn sie ihren Kapellen und Klöstern (Skiten) Schenkungen machen, zumeist eine gewinnsüchtige Absicht damit, es steckt immer eine gewisse Berechnung dahinter, wenn sie sich dadurch auch nur die Gunst des Himmels erkaufen wollen. „Dank Euren heiligen Gebeten habe ich auf meine Fische die Hälfte Gewinn gemacht", schreibt ein Kaufmann an die .Mutter Manefa und schickt der Aebtissin als Erkenntlichkeit für diesen Segen hundert Rubel, die sie an die Seelen vertheilen soll, „die gut gebetet haben"; zugleich empfiehlt er ihr, sie möge dem und jenem nichts geben; weil er für seine Concurrenten gebetet hätte. „Aber ihre Bitten", so fährt er fort, „sind weniger wirksam als die Euern; darum ersuchen wir euch, unaufhörlich gut zu beten, damit der Herr unserm Handel mehr Gewinn gewähre". Wenn die Frömmigkeit gewisser Altgläubigen wirklich so beschaffen ist, so muss man sagen, dass sie sich von derjenigen mancher Rechtgläubigen kaum unterscheidet. Wenn die Raskolniks grosse Beichlhümer anzuhäufen verstehn, so machen anderseits viele unter ihnen auch einen sehr guten Gebrauch von ihren Schätzen. In der Freigebigkeit für Gründung von Schulen und Wohlthütigkeitsanstalten wetteifern die Starowjärs mit den Orthodoxen. Was aber am wunderbarsten erscheint, diese Altgläubigen, die direkten Erben jener Alt-Russen, die sich seinerzeit gegen Alles was von Westen kam so energisch auflehnten, sind nun stellenweise die Beschützer derjenigen Künste, welche Russland dem ') Mit seinem eigenen Namen, Melnikof genannt. Melnikof, der lange Zeit im Ministerium des Innern mit den Angelegenheiten des Schismas beschäftigt war, hat'die Raskolniks in drei grossen, romanhaften Werken geschildert: ,,ln den Wäldern", „Im Gebirge", „Auf der Wolga". 3) Anmerk. des Uebersetzers: Skit, Einsiedelei, Kloster. Abendlande verdankt. Diese Leute, die bis gestern noch der moskowitisehen Tracht treu geblieben waren, umgeben sich heute schon mit allem Luxus der modernen Civilisation. In Moskau besuchten wir den Palast eines dieser reichen, zu den Starowjärs gehörenden Kaufleute. Die Architekten hatten für diese ausgedehnte Behausung fast alle Stile geplündert, Marmorsculpturen, Malereien und Blumen waren überall in verschwenderischer Fülle angebracht; das Auge eines Parisers hätte höchstens das Zuviel der Ausschmückung tadeln können. In einem Flügel des Gebäudes befand sich eine Kapelle, deren Ikonostase, wie auch die Wände, mit jenen alten Gemälden „griechischen Stils" bedeckt waren, welche die Altgläubigen mit Gold aufwiegen.*) Mit Stolz zeigte uns der Hausherr ein Gemälde von Andreas Rublef, jenem Künstler des fünfzehnten Jahrhunderts, dessen Werke in den ikonographisehen Handbüchern-) der moskowitisehen Kirche als Muster aufgeführt sind. Nahe jenem den heiligen Ikonen geweihten Betzimmer öffnete sich eine lange der profanen Kunst gewidmete Gemäldegallerie. Da hingen Landschaften und Seestücke, historische Gemälde und Genrebilder. Alles was nur den modernen Künstler zur Darstellung reizen kann, bis zu den mythologischen Eeminiscenzen und den heidnischen Nacktheiten, fand sich in dem Museum dieses Schülers der fanatischen Gegner westeuropäischer Bildung und Peters des Grossen vertreten. Nur an einem Zuge konnte man den Altrussen, der stets im Herzen eines Altgläubigen lebendig ist, erkennen: alle diese mannigfachen Gemälde waren von russischen Künstlern geschaffen worden. Sie bildeten eine wahre Nationalgallerie, und nirgends, selbst nicht in den öffentlichen Sammlungen von Petersburg oder von Moskau, konnte man die moderne russische Schule besser studieren. Das sind diese reichen Altgläubigen von heute, und in alledem gleichen sie manchem Grosskaufmann in Moskau; sie besitzen wohl den Luxus und den Deberfluss unserer Civilisation, aber keineswegs immer die Grundlage, d. h. das Wesentlichste derselben. In solchen ') Es sei hier bemerkt, dass die. Raskolniks in Kussland das Yerständniss für altrussische Kunst und den Geschmack an nationalen Alterthümern wieder erweckt haben. In ihrer Vorliebe für die Vergangenheit, machten sich die Altritualisten daran, nicht nur die alten Bücher und Bilder, sondern auch alten llausrath, alte Schmucksachen, kurz alten Krimskrams jeder Art zu sammeln. Diese Antiquare aus Aberglauben waren die Lehrer und Vorläufer der Archäologen. ') Anmeik. d. Uebers. Die dem Heiligenbildermaler als Vorlage dienenden, von der Kirche sanetionierten Werke. Familien könnte der „alte Glaube" nur dann dem Fortschritt ein unübersteigliehes Hinderniss in den Weg legen, wenn es ihm gelänge seine Anhänger in einer engumgrenzten Welt abzuschliessen; denn werden diese Leute, die der Reichthum bereits bis an die Schwelle der Kultur geführt hat, wohl im Raskol verbleihen wollen? Vielleicht werden die Söhne dieser Kaufleute, die selbst schon in jeder Generation ein paar altvaterische Vorurtheile ablegen, dadurch aus dem Schisma heraustreten, dass sie den engen Ideenkreis verlassen, aus welchem die Spaltung entsprungen ist. Man hat schon Beispiele ähnlicher Bekehrungen, Vielleicht werden die Altritualisten, wenn sie einmal zur Civilisation gelangt sind, die Gebräuche und Vorurtheile des Raskol aufgeben können, ohne desshalb den Glauben ihrer Väter zu verleugnen. Es wäre dies nicht das erste Mal, dass Anhänger einer Religion ihre Sitten und Anschauungsweisen änderten, ohne desshalb den Glauben selbst zu wechseln. Zum Entsetzen aller Provinzler sieht man schon, wie sich in Moskau junge Altgläubige das Rauchen gestatten, sich rasiren, tanzen und ins Theater gehen. Der Reichthum, welcher den Grund zur gesellschaftlichen Emancipation des Schismas gelegt hat, wird auch für seine geistige Befreiung die Grundlage bilden. Nicht nur von den Plackereien der Behörden wird das Geld den Altgläubigen erlösen, sondern es wird auch das meiste dazu beitragen, ihn von seinen geistigen Fesseln frei zu machen. So wird der Wohlstand, nachdem er augenblicklich ein Grund der Stärke des Raskol gewesen, nun Ursache der Schwächung seiner Lehren und Principien werden. Die Menschen bereichern sich nicht ungestraft: der Reichthum wird durch Aufklärung and verfeinerten Lebensgenuss den Altgläubigen sozusagen zahm machen. Dank ihm wird sich die Kluft des Schismas verengern oder ganz verschwinden. — Allein dieses Resultat liegt noch in weiter Feme; bei dem sich zum Raskol bekennenden Nabob, wie bei den meisten russischen Kaufleuten, hat sich der Reichthum viel früher eingefunden als die Eildung. .Man kann zwar nicht sagen, dass die Dissidenten unwissender seien als ihre rechtgläubigen Landsleute; im Gegentheil, sie übertreffen die mit ihnen auf gleicher Gesellschaftsstufe stehenden Russen ebensosehr an Bildung wie an Sittenstrenge und Wohlstand. Unter diesen abgöttischen Verehrern des Rituells, unter diesen in die Vergangenheit verliebten Sektirern, findet sich der Mann, der nicht lesen kann, tatsächlich seltener, als bei der übrigen Masse des Volkes^ Die Altgläubigen wissen den Elementarunterricht zu schätzen und haben auch, um ihn bei ihren Religionsgenossen zu verbreiten, keine Opfer gescheut. Auch dies ist ein Vorzug, der sich ebensowohl aus der Lage der Raskolniks als aus den Grundsätzen des Raskol erklären lässt. Wohl konnten ein paar ganz isolirt stehende Sektirer die Unwissenheit zum Verdienst erheben,.für die Mehrzahl der Altritualisten waren Unterricht, Lesen und Schreiben die unentbehrlichsten Wallen gegen die Angriffe der herrschenden Kirche. Dadurch, dass er sich gegen die herrschende Kirche auflehnte, ward der Ras-kolnik, wie der Protestant, gezwungen, sich seine Glaubensform selber zu schallen und zu begründen. In diesem Punkte und noch in vielen anderen, gelangten die Leute, die ihre ganze Religion einzig auf die Ueberlieferung gründen wollten, zu denselben Consequenzen, wie diejenigen, die alles auf die Bibel, auf das Buch der Bücher, aufbauten. Sobald einmal das Band zwischen ihnen und der Autorität, jener alten Hüterin der heiligen Bräuche, zerrissen war, musste der Raskolnik in alten Miasalen (Messbüchern) und alten Handschriften den Spuren jener Traditionen nachgehen, deren Vernachlässigung er der Kirche zum Vorwurf machte. Zugleich zwang der Mangel einer regulären Priesterschaft bei den Popowzy, und die gänzliche Abschaffung der Geistlichkeit bei den Priesterlosen, beide Zweige des Schismas ziemlich gleichmässig, sich auf die Heilige Schrift zu werfen. Des Priesteramtes, des offiziellen Vermittlers zwischen dem Menschen und der Gottheit beraubt, wandten sich die Dissidenten wieder direkt an das Wort Gottes. Auch muss man dem Umstand Rechnung tragen, dass der Sektengeist, indem er den Verstand aufrüttelt, auch die Denkfähigkeit belebt; er erweckt die Lust am Wortgefecht, bildet so den Geschmack an der freien Forschung aus und erzieht seine Anhänger zu sorgfältiger Prüfung, Der Raskol konnte sich diesem Einfluss nicht entziehen; in den schwarzgeräucherten Isbas, beim Scheine eines einfachen Kienspanes, Lutschina genannt, sah man die armen Bauern in der Heiligen Schrift eifrig nach derjenigen religiösen Offenbarung suchen, die ihnen nun die Kirche nicht mehr lix und fertig lieferte. Hier ergeben sich auch alle Nachtheile des Raskol dein Abendländischen Protestantismus gegenüber. Anstatt der Kirchenväter oder der grossen Schriftsteller des Alterthums werden dem Raskolnik, als einzige geistige Nahrung, ein paar schwerfällige byzantinische Sammelwerke oder ein paar nebelhafte Apcgrypben geboten. — Zu diesem Mangel, der in der Geringwerthigkeit der altrussischen Kultur liegt, kommt noch ein zweiter, der sich aus den Grundsätzen des Raskol erklärt. Wohl können die Altgläubigen lesen, aber sie lesen nur Erbauungsbücher, nur alte Schriften. Hier zeigt sich auch am besten dieser blinde Respekt des Raskol für alle- was alt ist, und von allen Formen dieses mit der Vergangenheit getriebenen Kultus, ist für den Fortschritt die Verehrung alter Bücher und alter Autoren die verhängnissvollste. Die Raskolniks finden grossen Geschmack an Werken, die in altslavischen Lettern, schön mit rothen Zeilen durchschossen, geschrieben sind; solche lesen sie und schreiben sie gerne. Auf der Messe von Nischni-Nowgorod, wo der Buchhandel immer den letzten Platz einnimmt, sah ich solche alten Schmöcker neben Musikheften, die noch die absonderlichen Noten der alten Missalen aufwiesen, verhandeln. Dieser Handel scheint so gewinnbringend zu sein, dass Russen und Ausländer sich oft auf die Fälschung solcher „pränikonianischen" ]) Ausgaben verlegt haben. Auch die Gegner der Dissidenten haben oft, um sich leichter bei ihnen einzuführen, zu jenen archaistischen Formen ihre Zuflucht genommen; sie bedienten sich des Altslavischen, um die aus der altslavischen Liturgie hervorgegangenen Sekten zu bekämpfen. An dieser auf Kosten der lebenden Sprache gepflegten Vorliebe für die todte, die heilige Sprache, kann man den Widerspruch zwischen dem Raskol und dem Protestantismus erkennen. Bei den Altgläubigen erstreckt sich die Vorliebe für die alten [{rauche bis auf die Schreibweise und die Gestalt der Buchstaben; so ziehen sie auch die handschriftlich hergestellten Werke den gedruckten vor. Erstere werden stets auf der Messe von Nischni feilgeboten. In ihren Skiten oder Einsiedeleien schreiben immer noch Männer und Frauen andächtig solche vermeintliche Handschriften der alten Zeit ab, und wie die Mönche des Mittelalters, so setzen auch die Mönche des Raskol ihre Ehre darein, die heiligen Bücher in möglichst kalligraphischer Schrift zu kopiren. Die „Meerschrift" (pismo pomorskoe), wie sie sagen, d. h. die Handschrift der Copisten aus der Umgegend des weissen Meeres, steht bei ihnen in gewaltigem Ansehen. Die Raskolniks besitzen Bücher, sie können auch höchst belesene Männer aufweisen, aber sie haben keine Wissenschaft. Ausgesuchte Spitzfindigkeiten und kritiklose Compilationen müssen ihnen diese ersetzen. Dieses falsche Wissen, diese Art von gelehrter Unwissenheit, die sich mit schlecht verbürgten Thatsachen und falsch verstandenen Wörtern umgiebt, ist vielleicht schädlicher als gänzliche Unwissenheit, weil sie dem Dünkel einer Scheingelehrsamkeit Nahrung bietet. Das Schisma besitzt seine Literatur, seine Prosa und seine Poesie, beide bieten, wie jede volkstümliche Literatur hie und da Interessantes, im (tanzen aber ist alles schwerfällig, gewöhnlich und ') AntO. d. Uebers,: Praenikonianisch, d. h. vor der Reform des Patriarchen Nikon (1652—1000) gedruckte oder geschriebene Bücher. geistlos. Mit seinen müssigen Streitereien und seiner kindlichen Art der Beweisführung hat sich der Raskol eine gewisse grobe Scholastik zurechtgelegt, und bedroht so das moderne Russland mit einem Uebel, vor welchem es absolute Unwissenheit im Mittelalter gnädig bewahrt hatte. Auf religiösem, wie anderswo auf politischem Gebiete, erweist sich der Unterricht, oder doch wenigstens der Elementarunterricht, der ja allein der grossen Masse zugänglich ist, nicht als jenes Universalheilmittel für das Volk, von welchem die Menschen lange Zeit geträumt haben. Eine Bildung, die nothwendigerweise ober-ilächlich bleiben muss, trägt oft dazu bei, theologische, politische und wirthschaftliche Irrthümer zu verbreiten, anstatt dass sie dieselben, wie man annahm, sofort erstickt. Der Primarunterricht berichtigt in Russland die mystischen Träumereien und die religiösen Hirngespinste ebensowenig als er anderswo socialistische Utopien und revolutionäre Sophismen zu beseitigen vermag.*) Der Mann, der lesen kann, ist überall geneigt sich sein eigenes religiöses oder politisches Glaubensbekenntniss zu bilden, das eine aus der Bibel, das andere aus der Zeitung. Man hat die Beobachtung gemacht, dass der Mushik, wenn er lesen kann, den Sekten weit leichter verfällt. Der Pravitelstwennji Westnik (Regierungsbote, Amtsblatt) constatirte einmal an der Hand der Gerichtsstatistik, dass die Schule die Vergehen gegen Sitten und Personen vermindere, dafür aber diejenigen gegen die Religion und die Staatsgewalt begünstig*'. Zwischen Volksunterricht und gründlichem Wissen gähnt eine weite Kluft, und doch muss man durch die Pforte des ersteren eingehen, wenn man zu letzterem gelangen will. Unglücklicherweise werden die Raskolniks durch ihre eigenen Vorurtheile gerade von denjenigen Studien ferngehalten, die am meisten dazu angethan wären, sie von eben diesen Vorurtheilen zu befreien. So verabscheuen diese Leute, die so sehr in das Altslavische verliebt sind, das Lateinische und die klassischen Studien. Meistens schliessen sie sich von Gymnasien und Universitäten, und dadurch von jeder wirklichen Bildung und allem wahren Wissen aus.2) ') Ott zeigen die Sekten gerade in denjenigen Provinzen, welche verhält-nissmässig die grösste Zahl von unterrichteten Leuten, von Alfabeti, wie die Italiener sagen, aufzuweisen haben, die meiste Lebenskraft. So z. B. im Gouvernement Jaroslaw, wo über 61 Procent der sich zur Aushebung stellenden Rekruten lesen können. 2) Im Jahre 1887 zählte z. B. die Universität von St. Petersburg auf 2523 Studirende nur 4 Raskolniks. Fünftes Kapitel. Einrichtung und Organisation der hauptsächlichsten Sekten des Schisma's: Die Popowzy. — Wie die verschiedenen Gruppen des Raskol sich zuerst in den Skiten oder Einsiedeleien gebildet haben. In welcher Art später die Leitung des Schisma's auf die moskowitisehen Friedhöfe überging. — Bestrebungen unter den Altritualisten, einen engeren Zusammenhang herzustellen. Versuche der revolutionären Immigranten, sich mit ihnen in Verbindung zu setzen. Wie die Altgläubigen schliesslich eine unabhängige Priesterschaft errungen haben. — Die Hierarchie von Belokriniza. Altgläubige Bischöfe; ihre Lage, ihre Streitigkeiten. Trennung ihrer Anhänger in zwei Parteien. — Bestrebungen der Regierung, die mit einer Priesterschaft versehenen Altgläubigen der Staatskirche wieder näher zu bringen. Man gestattet ihnen die Ausübung der alten Riten. Die „Edinowerzy" oder mit der Kirche unirten Altritualisten. Hindernisse die sich der Vereinigung entgegenstellen. Nach den Bekehrungspredigten und dem ungeregelten Abfall einzelner Glieder von der allgemeinen Kirche, erscheint für jede neue Sekte die Periode der innern Organisation; die junge Gemeinde ist bestrebt, sich als ein bestimmter Glaube, als Confession, als Kirche zu constituiren. Auch in den Sekten des Schisma's machte sich dieses Bedürfniss geltend, obgleich die meisten von ihnen immer etwas Unfertiges, Unzusammenhängendes bewahrt haben. Ob es nun an der Unkultur der Dissidenten oder am Grundcharakter des Schisma's selber liegt, jedenfalls ist es dem Raskol noch schwerer geworden als dem Protestantismus, sich in festumgrenzten Glaubensbekenntnissen, in abgeschlossenen Kirchen zu lixiren. Er ist gleichsam im flüssigen Zustand verblieben. — Bei den meisten russischen Sekten zeigt sich eine eigenthümliche Leichtigkeit der Association und der praktischen Organisation, verbunden mit einem gewissen Unvermögen eine Lehre auszubauen, eine eigentliche Theologie zu formuliren. Theologie ist vielleicht dasjenige, was vielen Sekten am stärksten mangelt. Dagegen finde! sich auch bei ihnen jener Associationsgeist, jenes mit Hille von auserwählten Führern, denen unbedingter Gehorsam geleistet wird, geregelte self-go vernment, das uns schon in der Dorfgemeinde und in der „Artel"1) der Städte so sehr in Erstaunen setzt. Dadurch konnten in einem autokratischen Staate und unter den Augen D Anm. d. Uebers.: Artel bedeutet Brüderschaft, oder vielleicht besser noch, Genossenschaft. Die Mitglieder einer Artel, nieist Arbeiter und Handwerker, führen manchmal gemeinsame Casse und gemeinsamen Tisch und wohnen oft auch beisamen. Jeder Einzelne haftet dabei für die Gesammtheit, und die Geflammtheit für das einzelne Mitglied. der Staatskirche solche, jeder gesetzlichen Berechtigung entbehrende Sekten entstehen und Lebensfähig werden. Die Führer der meisten schismatischen Gemeinden — Andreas Denissow vielleicht allein ausgenommen — waren keine Theologen, keine Männer der Wissenschaft und gelehrter Disputationen, sondern in der Mehrzahl Männer der That, geschickte Organisatoren, ja man könnte sagen, gewandte Geschäftsleute. Auf die fanatischen Träumer, die sich allein die Verkündung ihrer absonderlichen Lehren angelegen sein dessen, folgten die Männer der Praxis, die dem Schisma denjenigen sichern, materiellen Halt gaben, welchen es niemals aus seinen Glaubenssätzen hätte erlangen können. Die Sekten des Raskol sind zahlreich; ein Bischof des achtzehnten Jahrhunderts, Dmitri von Rostow, zählte deren schon zweihundert. Inzwischen sind viele davon wieder verschwunden, dagegen aber auch viele neue ins Leben getreten. Die heutigen Special-forscher zählen kaum weniger als Dmitri von Rostow. An der beweglichen Oberfläche des Raskol entstehen und vergehen Sekten, wie die Wogen auf dem Meere, ein Spiel des Windes und des Zufalls treiben, drängen und vermengen sie sich. Doch muss man sich angesichts einer solchen immer neuen Zergliederung des grossen Schisma's in kleinere Spaltungen, der Hauptsekten in Nebensekten, nicht etwa durch Namen oder durch den blosen Anschein täuschen lassen. Darin verhält es sich mit dem Raskol wie mit dem Protestantismus. Nicht alle diese Sekten, oder — wie die Engländer so treffend sagen — nicht alle diese ,,denominations" bilden jeweilen verschiedene Bekenntnisse oder Kulte, meistens handelt es sich nicht um eigentliche Kirchen, sondern eher um einzelne, innerhalb des Schisma's entstehende Parteien oder Schulen. In dieser Beziehung ist der Ausdruck Sekten", den wir gebrauchen müssen, oft ungenau. Die russischen Wörter, welche zumeist in diesem Sinne angewendet werden, wie soglasie, obtschina, obtschestwro, drücken keineswegs den Gedanken einer Trennung aus, sondern bedeuten geradezu Voreinigung, Gesellschaft, Gemeinde; oder sie enthalten, wie das Wort tolk, den Sinn von Lehre, Auslegung. Nicht selten thun sich die Raskolniks auch zu einer Art von geistlicher Artel, zu einer Brüderschaft zusammen, die ihre eigenen Leiter, ihren gesonderten Versammlungsort, eigene Statuten und eigene Gebräuche hat, und es ist vielfach erwiesen, dass gerade diese Vereinigungen auf den gemeinen Mann den grössten Beiz ausüben. — Von den beiden Zweigen des Schisma's konnte sich die Po-powstschina am leichtesten als Kirche constituiren. — Durch das Fortbestehen des Priesterthums wurden die Popowzy im dogmatischen Ideenkreise der orthodoxen Kirche festgehalten, die Sekten waren seltener und die Einheit leichter zu erzielen. Den hauptsächlichsten und beinahe einzigen Anlass zu Meinungsverschiedenheiten und innerer Spaltung bot ihnen die Zulassung der Popen. Da sie keinen Bischof hatten, der ihnen die Priester weihen konnte, so befanden sich die Altgläubigen in derselben Lage, in welcher sich die Schweizerischen und deutschen Altkatholiken, ohne die kleine jansenistische Kirche in Utrecht befunden haben würden. Ihr ganzer Klerus musste notgedrungen aus lauter Ueberläufern der Staatskirche bestehen, und das brachte ihnen den schimpflichen Uebernamen: Blegopo-powstschina, d. h. Gemeinde der durchgegangenen Priester, ein. Die Altgläubigen Hessen die orthodoxen Popen, bevor sie dieselben als Pfarrer einsetzten, in demüthigender Weise ihren alten Glauben abschwören und legten ihnen eine Art von Reinigung oder Busse auf. In den ersten Zeiten taufte man sie bei ihrem Uebertritt zum Schisma aufs neue, dabei wurden sie in einigen Gemeinden, aus Furcht es möchte ihnen der Segen der Priesterweihe verloren gehen, wenn man sie die Abzeichen ihres Amtes ablegen Hesse, mit ihren geistlichen Gewändern angethan in das Taufwasser getaucht. Aber Avas für Bedingungen die Altgläubigen bei der Zulassung ihrer Popen auch aufstellen mochten, sie konnten doch vor diesen Priestern, die zumeist aus der rechtgläubigen Kirche ausgestossen worden waren, oder die Gewinnsucht dem Schisma in die Arme getrieben hatte, keinen grossen Respekt empfinden. Zumeist besoldeten die Altgläubigen ihre Geistlichkeit sehr gut, achteten sie aber nur wenig. — Auf diese Weise ist bei den Altgläubigen der Priester zu einem bezahlten Arbeiter herabgesunken, den man den Gottesdienst, gleichsam wie ein Handwerk, wozu ihm die kirchlichen Weihen das Monopol verliehen haben, ausüben lässt. Anstatt die Leiter ihrer Heerde zu sein, bleiben die Popen des Raskol in beständiger Abhängigkeit von ihren Gemeinden, die sie nach Willkür besolden, ernennen und wieder absetzen können. Sie sind eigentlich nur die ergebenen Haus-kaplane der reichen Kaufleute, welche ihren Unterhalt bestreiten. Bei den Popowszy sowohl wie bei den Priesterlosen liegt die Oberleitung in den Händen der Laien. Das Priesteramt hat selbst bei denjenigen Sekten, die dasselbe als unumgänglich nöthig erachten, viel von seiner Würde eingebüsst; sind doch einige Altgläubige schon so weit gegangen, einfache Diakone oder auch überhaupt den ersten besten als Priester zu begrüssen. Bei allen Sekten aber liegt die Leitung in den Händen von Gemeindeältesten, d. h. von Laien. In dieser Beziehung glichen sich die beiden Parteien des »Schisma's, wenigstens bis auf die jüngste Zeit, wo die Popowzy, durch die Etriohtung eines eigenen Episcopates, wieder ein unabhängiges Priesterthum gewonnen haben. Bei beiden Zweigen des Schisma's bildeten die Skiten oder Einsiedeleien (skiti) die ersten Mittelpunkte. Es waren dies eine Art von Klöstern, um welche herum sich eine Anzahl von Anhängern anzusiedeln pflegte, und die mit den Tochtergemeinden der verschiedenen Provinzen in Verbindung standen. Gewöhnlich versteckton sich solche Gemeinden im Dickicht der Wälder oder suchten unter einem fremden Scepter, jenseits der Reichsgrenzen, Schutz. So befand sich der eigentliche Heerd der Popowstschina lange Zeit in Wetka (im heutigen Gouvernement Mohilef) auf polnischem Boden. Man behauptet, dass die Klöster von Wetka einst über tausend Mönche beherbergten; und zweimal überschritten die russischen Heere die polnische Grenze, um diese schismatischen .Mönche auseinanderzutreiben und die russischen Bauern, die sich in ihrer Nähe niedergelassen hatten, mit Gewalt wieder in ihre Heimath zurückzuführen. Die Skiten von Starodub (Gouvernement Tschernigow) übernahmen das Erbe von Wetka. In Starodub, wie in Wetka und allen andern Centren des Raskol, hatten sich in der nächsten Umgebung dieser Einsiedeleien ganze Sektirerdörfer gebildet. So wurden die Skiten der Popowzy, wie diejenigen der Priesterlosen, zum Kernpunkt arbeitsamer Colonien. Viele von diesen Gemeinden beider Zweige wurden, dank ihrem Gewerbefleiss und ihrem ruhigen Leben, von der kaiserlichen Regierung nicht allein geduldet, sondern oft auch geschützt. Das neunzehnte Jahrhundert war ihnen indessen weniger günstig als das achtzehnte. Unter Kaiser Nikolaus wurden die berühmtesten Skiten geschlossen oder zerstört. Ihre Ruinen sind für die Raskolniks heilige Stätten geblieben und werden noch immer von schismatischen Pilgern besucht. So im Gouvernement Saratow die berühmten Klöster von Irgiz; ferner, in den Wäldern des Gouvernements Nischni-Nowgorod, die merkwürdigen Skiten am Flusse Ker-schenez, eine der ältesten Zufluchtstätten der Altgläubigen, welche durch die Wolga mit Moskau, Nischni und dem ganzen Reiche in bequemer Verbindung stand. Diese im achtzehnten Jahrhundert gegründeten Popowzy-Gemeinden bestanden aus mehreren, im Thale stufen weise übereinanderliegenden Klöstern. Einige derselben, wie KomaroAV, waren eigentliche Städte; sie wurden von ausgedehnten Bütten oder [sba's, die untereinander durch bedeckte Gänge ver- banden waren, gebildet. Komarow beherbergte, wie man sagt, zweitausend Bewohner beider Geschlechter. — Kaiser Nikolaus begnügte sich nicht damit, die Klöster des Kerschenez zu sehliessen; gegen 1850 liess er sie auch in Trümmer legen. Er zeigte gegen diese bescheidenen Zufluchtstätten der Altritualisten fast ebensoviel hartnäckige Erbitterung, wie Ludwig XIV. gegen Port-Royal. Die aus ihren ländlichen Klöstern vertriebenen Nonnen des Schismas zeigten auch kaum weniger Festigkeit als die Opfer des „grossen Königs". Manche ihrer unberühmten Aebtissinnen hätte den Vergleich mit Mutter Angelique Arnauld aushalten können. Ueberhaupt zeigen die französischen Jansenisten und die russischen Starowjärs, trotz der immensen Kluft, welche die Unwissenheit der einen und die feine Bildung der anderen zwischen beiden zu Öffnen scheint, gar manche Aehnlichkeiten. Ganz wie in Port-Royal des Fhamps verehren die Verfolgten die Mauern ihrer durch die herrschende Kirche zerstörten Klöster. Einige der aus den Klöstern des Kerschenez vertriebenen Nonnen sind wieder zurückgekehrt, um die zerfallenen Gräber, die immer noch auf die Altgläubigen aus allen Theilen des Reiches eine grosse Anziehungskraft ausüben, zu behüten. Die zerstörten Skiten sind übrigens in geringer Entfernung von den Trümmern von Olenieff und Komarow wieder erstanden. Die von Nikolaus vertriebenen Nonnen übten auf ihre Religionsgenossen den fascinirenden Reiz des Märtyrerthums aus. Manche wussten diese ihre mystische Gewalt sogar auf die Rechtgläubigen auszudehnen. So z. B. Mutter Esther, die frühere Vorsteherin von Olenieff. ßezo-brasow hat noch gegen Ende der Regierung Alexanders IL gesehen, wie sie als achtzigjährige Greisin den Krummstab der Aebtissinnen hielt. l) Um Mutter Esther und ihre alten Nonnen hatten sich Frauen und junge Mädchen vorsammelt, die unter ihrer Leitung in Gemeinschaft lebten. In und bei dem Städtehen Semenow befinden sich mehrere solche von Altgläubigen verschiedener Benennungen bewohnte Häuser oder „Zellen". Man lehrt daselbst die Kinder lesen, arbeiten nnd nach dem alten Ritus beten. Die Nonnen der Starowjär bleiben keineswegs hinter ihren Gittern eingeschlossen. Sie unternehmen Reisen in Gemeindeangelegenheiten, sie gehen aus, um ') Wlad. Bezobrasow: XationalöconomischoJStudien über Russland, II, 93. Vergleiche auch die Erzählungen von A. Petschersky. (Anm. des Uebers.: Pseudonym für P. J. Meljnikow. Seine Erzählung „in den Wäldern", deutsch: Berlin 1878.) Kranke zu pflegen, hauptsächlich aber um in den Häusern ihrer reichen Religionsgenossen die Todtengebete zu verrichten. Dies bildet für sie eine reichliche Einnahmequelle. Es sind in Russland noch zahlreiche solche gesetzlich unberechtigte Obiteli (Klöster) übrig geblieben; besonders im Norden und im Osten. Es entstehen mich heutzutage noch solche, besonders für Frauen. Diese Häuser sind Bollwerke des Schismas. Sie besitzen für den Russen eine zwiefache Anziehungskraft, da sie zugleich sein religiöses und gewissermassen sein irdisches Ideal verkörpern. Bis in die Zellen der Obiteli lassen sich die zeitlichen Sergen und Vorurtheile der Altgläubigen verfolgen. Nichts sagt dem russischen Nationalgeschmack mehr zu, als gemeinsame Arbeit unter der Leitung eines selbstgewählten Oberen, Man hält in diesen Skiten viel auf gute Haushaltung, „auf Wirthschaft" (chosiaistwo), wie der Russe sagt; und die Obern thun sich auf diese zeitliche Fürsorge ebensoviel zu Gute, wie auf das Verständniss der heiligen Dinge. Einer der Helden Petschersky's, Potap Maximitsch, will den gegen Pater Michael erhobenen Klagen keinen Glauben schenken, weil in dem Convicte desselben alles in bester Ordnung sei. — Die reichen moskowitisehen Kaulleute, die diese Skiten „um ihres Seelenheils willen" beschenken, und die ihre Töchter daselbst erziehen lassen, wünschen, dass Alles daselbst in bester Ordnung sei und dass durchweg Reinlichkeit und Ueberlluss herrsche. Sie suchen an diesen Stätten ihren Geschmack, ja man könnte sagen ihr ästhetisches Gefühl ebenso zu befriedigen, wie ihr moralisches Fühlen, Als richtige Liebhaber freuen sie sich an den alten Ikonen (Heiligenbilder) und den alten „pränikonianischen" Handschriften; in verzückter Andacht lauschen sie den von jugendlichen Stimmen vorgetragenen alten Hymnen; sie bewundern die reichen russischen Stickereien und die künstlichen Näharbeiten der Nonnen und Belizen. *) Einen Hauptanziehungspunkt dieser Klöster scheinen eben diese jungen Belizen zu bilden. Die Ehe ist ihnen nicht verboten, aber sie können sich, wie man sagt, nur „im Geheimen" verheirathen. Es sollen sich hinter den Mauern der Skiten oft ganze Romane abspinnen, und, wenn man den Weltkindern Glauben schenken will, nicht immer sehr erbauliche Geschichten zutragen. Die Obiteli des Ifaskol suchen indessen jeden Skandal sorgfältig zu vermeiden. Die jungen verirrten Schafe finden bei ihnen diskrete Unterkunft und „die Kinder der Sünde" werden als Wraisen erzogen. *) Beliza, Novize; von belo, weiss. Der geistliche Mittelpunkt der Raskolniks, der Popowzi wie der Priesterlosen befindet sich gegenwärtig in Moskau. Die in den Provinzen zerstreuten, oft an den äussersten Grenzen des Reiches gelegenen Skiten vermochten die Geschäfte des Raskol nicht immer nach Wunsch zu leiten. Es entstanden oft Spaltungen und Rangstreitigkeiten unter ihnen, welche die Altgläubigen verwandter Riten in verschiedene Gruppen theilten. So suchten denn beide Zweige des Schismas, sich im Herzen des Reiches in Moskau selbst einen festen Mittelpunkt zu schaffen. Dies gelang beiden zu gleicher Zeit und zwar, unverhoftterweise, mit Genehmigung der Regierung. Ein allgemeines Unglück, die Pest in Moskau unter Katharina IL, bewirkte diesen glücklichen Umschwung in der Stellung der Sektirer. Grosse Epidemien, welche das Volk der Religion und den alten Glaubenssatzungen mit Heftigkeit in die Arme trieben, sind den Raskolniks oft günstig gewesen. Diese Beobachtung konnte man während der Cholerazeit im neunzehnten und während der Pest im achtzehnten Jahrhundert machen. Ohnmächtig dem Unglück zu steuern, wandte sich die kaiserliche Regierung an alle Wohlgesinnten. Da erboten sich die Raskolniks, die sich jederzeit durch ihren Unternehmungsgeist ausgezeichnet haben, auf eigene Kosten einen Friedhof und ein Spital für ihre Glaubensgenossen zu errichten. Die Regierung Katharinas II. war viei zu „aufgeklärt", um ihnen dazu ihre Bewilligung zu versagen. Im Jahre 1771 wurde das Gesuch gewährt und so gründeten fast im selben Jahre die Bespopowzi zu Preobraschenski, die Popowzi zu Rogoschski zwei Anstalten, die seitdem die religiösen Mittelpunkte des Raskol geblieben sind. Unter dem Schleier der Mildthätigkeit bildete die Errichtung dieser beiden Friedhöfe für den Raskol gleichsam eine neue, feste Begründung. So erlangten zur Zeit der Christenverfolgungen im dritten Jahrhundert die ersten Bekenner des Evangeliums von dem damals noch heidnischen Rom eine Art von Anerkennung als „Funeralcollegien".x) Die Friedhöfe der Raskolniks bargen sich jedoch nicht in der Tiefe dunkler Katakomben. In den Vorstädten von Moskau erhohen sich auf bisher noch öden Feldern zwei ausgedehnte Anstalten, die vielleicht in ganz Europa nicht ihresgleichen haben. Der Friedhof wurde mit Mauern umgeben, und innerhalb dieses Ringes entstanden Spitäler, Klöster, Kirchen und Gebäude aller Art. Im Schutze der Gräber und Krankenhäuser verbargen sich die Führer des Schismas und übten von da aus ihre mannigfache und heimliche Thätigkeit. *) Rossi, Roma sottersanea (das unterirdische Rom) I. Iioroy-Beau 11 e u , Keich d. Zareu u. d. Russen. So gewann der verfolgte und verbotene Koitus dicht vor den Thoren der alten Reichshauptstadt seine Hochburg, man könnte fast sagen, seinen eigenen Kremel. Die Gründer der Friedhöfe erhielten von der Regierung eine Art von Freibrief, der ihnen die eigene Verwaltung ihrer Gründungen zusicherte. Rogoschski und Freobraschenski, die Popowstschina und die Bespopowstschina, hatten jede ihren leitenden Ausschuss, ihr unabhängiges Regiment; sie besassen ihre Casse, ihr Siegel, ihre von der Regierung genehmigten Statuten und nahmen also eine vom Staate anerkannte Stellung ein. Das Geld der Altgläubigen und die Corruption des Tschinownismus*) thaten das ihrige. Die Friedhöfe hatten überall Tochtergemeinden; ihr Verwaltungsrath ward zu einem Synod, dessen Befehlen von einem Ende des Reiches bis zum andern Folge geleistet wurde. Von allen Theilen Russlands üoss Geld nach diesen beiden Moskauer Anstalten, und, Dank den Gaben und Vermächtnissen der schismatischen Kaulleute, häuften sich hinter diesen Mauern schnell beträchtliche Reichthümer auf. Doch das war nicht alles; auch hier zeigte sich, wie überall im Schisma, der praktische Handelsgeist des Raskol, diese positive Seite des russischen Charakters. Die Friedhöfe wurden zugleich Religionsund Geschäftsmittelpunkt; sie waren zugleich Kloster, Seminar und Handelskammer, Consistorium und Börse. Beide Spitäler sammt ihrer Nachbarschaft boten auch verfolgten Sektirern, desortirten Soldaten, mit falschen Pässen versehenen Vagabunden aller Art einen sicheren Unterschlupf; unter diesen „outlaws" fanden die reichen Macher des Schismas stets billige Arbeitskräfte und blinde Werkzeuge ihres Willens. Eine solche Macht, die begünstigt durch die Regierungszeit Katharinas IL und Alexanders L, im Dunklen erwachsen wari musste in Gefahr gerathen, sobald sie offenbar wurde. Man warf den Friedhöfen die verschiedensten Verbrechen vor, sie wurden in Erbschafts-procosso verwickelt und der Erbschleicherei beschuldigt; endlich wurde noch die grosse Anklage, welcher keine ähnliche Einrichtung entgehen kann, gegen sie erhoben, man behauptete, dass sie einen Staat im Staate bildeten. Und wirklich, dieser oft gehörte Vorwurf war selten besser angewandt als hier. Eine unter Kaiser Nikolaus eingeleitete Untersuchung versetzte den Kirchhöfen einen Schlag, von welchen sie sich nie mehr ganz erholen konnten. Ihr Vermögen wurde eingezogen, ihre Gebäude mit Beschlag belegt. Ein Kegierungs- *) Anm. d, Uebers.: Beamtenthum. commissar wurde mit der Verwaltung ihrer Spitäler betraut, und in den Kirchen, wo, ein halbes Jahrhundert hindurch, der Gottesdienst der beiden Richtungen des Schismas celebrirt worden war, amtirten nun die Priester des heiligen Synod. Auf einer meiner Reisen nach Moskau habe ich Ragoschski besucht. Es gleicht mit seinen Mauern und seinen verschiedenen Kirchen ganz den grossen orthodoxen Klöstern, Verlassenheit und Trauer waren die ersten Eindrücke, die man gleich beim Eintritt empfing. Der mit Bäumen bepflanzte Friedhof sah ärmlich und schlecht unterhalten aus. Man fühlte überall etwas Peinliches, Gezwungenes. Rogoschski besitzt ein Krankenhaus und ein Greisenasyl, die den Anstalten unserer „Petites-Soeurs des pauvres" (Armenschwestern) gleichen. Das Asyl beherbergte zur Zeit meines Besuches ungefähr hundert Gebrechliche von jedem Geschlecht; die Säle sind zahlreich, aber klein und niedrig. Das Krankenhaus erschien im Verhältniss zu den Reiohthümern, die man den Altgläubigen zuschreibt, eher bescheiden und dürftig; vielleicht sind sie von der Staatsaufsicht eingeschüchtert und scheuen sich nun ihre Mittel allzusehr ans Licht zu stellen. Ueberau sah man alte Bilder, vor welchen Leute ihr Gebet verrichteten. Alle diese Leute, Kranke und Krankenpfleger, alte Männer und Frauen, sahen ehrbar und fast rührend einfach aus. Wenn wir durch die Säle schritten, standen sie auf und verneigten sich nach russischer Sitte, wie sie sich vor ihren Heiligenbildern verneigen, indem sie den Körper gleichsam zusammenklappen. Aller Luxus ist in Rogoschski auf die Kirchein verwandt. Die grössere, die Sommerkirche, ist hoch und geräumig, Wände und Kuppeln sind mit Malereien bedeckt, wie in der Himmelfahrtskirche in Moskau. Viele dieser Bilder sind sehr alt; die Altgläubigen zahlen hohe Preise für solche ächte, alte Ikonen, die ihren Kirchen das Ansehen eines archäologischen Museums verleihen. Sie wurden uns mit vieler Umständlichkeit vorgezeigt, man machte uns auf ihr hohes Alter aufmerksam, dabei wussten unsere Führer, als Kenner, die Nachahmungen von den Originalen zu unterscheiden. Uebrigens ist bei ihnen der Bilderkultus ganz derselbe wie bei den Rechtgläubigen; ihre Madonnen sind mit denselben mit Edelsteinen überladenen Diademen gekrönt. Nach den Bildern zeigte man uns alte, kirchen-slavische Bücher und ebensolche Missalen, deren Texte als Beweise gegen die neue Liturgie aufgeführt werden. Wie in allen griechischen Kirchen,befand sich auch in Rogoschski der Altar hinter der Bilderwand, der Ikonostase; aber hier bot sich uns doch eine Ueber-raschung. Die Pforten der Ikonostase waren durch Lederstreifen, 25* welche das kaiserliche Siegel trugen, geschlossen. Die Amtssiegel \erwehrten den Mintritt in das Allerheiligste; so dass die Kirche der Altgläubigen thatsäehlioh keinen Altar besass. „Wir können keine Messe celebriren", sagte man uns; „wir müssen uns auf diejenigen gottesdienstlichen Handlungen beschränken, die sich ohne Priester vollziehen lassen. Wir haben wohl unsere Priester, aber es wurde ihnen verboten, hier zu amtiren; man will uns vom Synod in Petersburg ernannte Popen aulzwingen, doch diese weisen wir zurük" So waren die Popowzy in ihrer eigenen Metropole gezwungen, den Gottesdienst, wie ihre Gegner die Bespopowzy, ohne Priester abzuhalten.1) Die Popowzy haben einen Klerus, und dieser Klerus ist nicht mehr der orthodoxen Kirche entnommen, nicht mehr aus Ueberläufern und degradirten Popen zusammengesetzt. Die Popowstschina besitzt ihre eigenen Bischöfe und ihre eigene, unabhängige Hierarchie: die Spitze dieser Hierarchie aber wurde durch eine geschickte Machination ins Ausland verlegt und so dem russischen Machtbereich entzogen. Lange Zeit waren alle Vorsuche der Starowjär, sich ein eigenes Bis-t hu in zu gründen, gescheitert. Ein orthodoxer Geschichtsschreiber behauptet sogar, einige Altgläubige hätten, in der Verzweiflung dass keine lebende Hand, die ihre Bischöfe hätte einsegnen können, zu finden war, den absonderlichen Vorschlag gemacht, man möge sich dazu der Hand eines Toden bedienen.-) Dieser Plan wurde indessen wieder aufgegeben. „Wenn man seine Hand dem Kandidaten der Bischofswürde auf das Haupt gelegt haben wird", so meinten nämlich die allerängstlichsten Seelen, „so wird der Mund des todten Bischofs stumm bleiben. Wer von uns aber hätte das Recht während der Handauflegung die bischöflichen Gebete zu sprechen"? Verschiedene Male fielen auch solche, einen Prälaten suchenden schismatischen Gemeinden, kühnen Schwindlern in die Hände. Die Art wie schliesslich, nach zwei Jahrhunderten des vergeblichen Harrens, l) Im Jahre 1880 wurden, trotz dem eifrigen Widerspruch des Grafen ]>. Tolstoi, der damals Procuror des Heiligen Synod und Unterrichtsminister war. die Siegel von den Altären von Rogoschski gelöst. Dies gab Veranlassung zu Tolstoi's Sturz Da er mit seiner Meinung im iUinistcrratho alleinstand, liess er, wie es scheint, die Bemerkung fallen, dass seine Collegen von den Raskolniks bestochen seien. In Folge des durch diese Geschichte hervorgerufenen Scandals, musste er sein doppeltes Portefeuille niederlegen, und gelangte erst einige Jahre später, unter Alexander Iii. wieder in das Ministerium, als Minister des Innern. x) Philaret von Tschernigof: Istorija Russkoi zerkwi (Geschichte der russischen Kirche). die Popowzy eine kirchliche Hierarchie erlangt haben, bildet eine der merkwürdigsten Episoden der Kirchengeschichte des neunzehnten Jahrhunderts. Mit Hilfe von Bundesgenossen, auf welche sie niemals gezählt haben würden, von Bundesgenossen, welche die Mehrzahl von ihnen offen desavouirt haben würde, gelang es den Dissidenten ihren langgehegten Traum einer unabhängigen Hierarchie zu verwirklichen. Die Alt-Moskowiten, die allernationalsten, die allerkonservativsten Bürger Altrusslands fanden bei den Urhebern der kosmopolitischen Revolution, bei den erbittertsten Feinden der russischen Grösse Unterstützung. Im Anfange der Regierung Alexanders II. fühlten sich, wie auch heute noch, die russischen Revolutionäre von den Volksmassen durch eine tiefe Kluft geschieden; diese Kluft suchten sie mit Hilfe des Raskol zu überbrücken. Durch den Raskol, mit seinen Millionen von Anhängern, deren Zahl in ihrer Unbestimmbarkeit um so schrecklicher erscheint, durch den Raskol mit seinen unterirdischen Verzweigungen, seinen geheimen, durch das ganze Reich sich erstreckenden Verbindungen, hofften die Revolutionäre, die politischen Feinde der russischen Zaren, Einfluss auf das Volk zu gewinnen. Wo war auch eine leichter zu organisirende Opposition zu finden, als sie diese Volkskirchen darzubieten schienen, die sich auf die niedern und unwissenden Klassen des Volkes beschränkten und dabei doch über einen nicht geringen Theil der russischen Kapitalkraft verfügten, die schon durch ihre Erziehung der herrschenden Ordnung feindlich gesinnt waren und gerade unter den allertapfersten Milizen des Reiches so viele Anhänger zählten? War hier nicht die Achillesferse des russischen Kolosses? Konnte man bei den Altritualisten nicht den Geist eines Stenka Razin, oder eines Pugatscheff wieder erwecken und Sektirer gegen den Zaren aufwiegeln, die den leibhaften Antichrist in ihm erblicken? Es schien, als ob man nur diese zerstreu Ion Kräfte zu sammeln und ihnen eine einheitliche Richtung zu geben brauchte, um das grosse Reich des Nordens in seinen Grundfesten wanken zu machen. Der Versuch wurde gemacht. Man kam den Altgläubigen von zwei verschiedenen Seiten entgegen; offen von Seite der russischen Auswanderer, auf Umwegen von Seite der polnischen Revolutionäre. Erstere träumten davon, das junge Russland und das alte Moskowien, die atheistische Revolution und den religiösen Conservativismus zu einem gemeinsamen Zwecke zu vereinigen; letztere glaubten an die Möglichkeit einer Vereinigung zweier kaum geringeren Gegensätze: der lateinisch-polnischen Interessen mit dem altmoskowitisch- schis- matischen Geiste der Altgläubigen. Um die Raskolniks für sich zu gewinnen gründeten die russischen Auswanderer in London ein Blatt, das einzig und allein die Interessen des Schismas verfechten sollte. Sie stellten ihre Pressen zur Verfügimg, schickten Sendboten und verhandelten in London mit den Vertretern des alten Glaubens; — ja man sagt sogar, dass sich die Führer der Emigranten in Gegenwart der Altgläubigen des Rauchens enthalten hätten, um diesen ja kein Aergerniss zu geben. Nichtsdestoweniger musste jeder Versuch eines gemeinsamen Vorgehens am Widerspruch der beiderseitigen Principien scheitern. Das einzige, was von diesem fruchtlosen Versuche übrig geblieben, sind einige Documente über den Raskol, die allerdings zu den wichtigsten gehören, die wir in dieser Sache besitzen. x) Die Polen hatten noch weitgehendere Pläne. Einige Emigranten glaubten nämlich den, innerhalb der russischen Grenzen gelegenen Stützpunkt, welchen ihre Landsleute meistens an den Grenzen des Reiches, in der Ukraine und in Kleinrussland vergeblich gesucht hatten, im Herzen des Feindes, bei den Altgläubigen gefunden zu haben. Es entspann sich eine weitverzweigte Intrigue, die später von dem Manne, der den ersten Theil daran gehabt hatte, in den russischen Blättern aufgedeckt worden ist. Ein Pole, der damals in türkischen Diensten stand, fasste den kühnen Plan, den Altgläubigen ausserhalb des russischen Reiches einen religiösen Mittelpunkt zu geben, und so die Leitung des Schismas den Feinden des Zaren in die Hände zu spielen. Die hierarchischen Sekten eigneten sich durch ihre Einrichtung und ihre Colonien auf türkischem und österreichischem Boden am besten für diesen Concentrationsplan. Nun gab es, hart an der russischen Grenze, in der Dobrudscha, eine Colonie altgläubiger Kosaken, die im achtzehnten Jahrhundert, in Folge eines l) ,,Sbornik prawitelstwcnnych swedenji o raskolnikach" (Sammlung der Regierungsberichte über den Raskol) und „Sobranie prawitelstw. postanowlenji 0 rask." (Sammlung der Regierungstatuteu über den Itaskol), beide in London durch die Bruckerei von Herzen, unter Benutzung von aus den russischen Kanzleien entwendeten Docuinenten, veröffentlicht. Der Herausgeber dieser Documente, zugleich der hauptsächlichste Vermittler zwischen Herzen und den Altgläubigen, Kelsieff', war ein früherer Seminarist, der ebensosehr zum Mysticismus wie zum Socialisnius hinneigte. Nachdem er den Orient durchwandert und dort mit Hilfe der Starowjär eine Art von Phalansterium zu gründen versucht hatte, kam er endlich gebrochenen Muthes wieder nach Russland zurück und stellte sich selber der Polizei; diese liess ihn laufen. Es heisst, er sei im Irrenhause gestorben. Aufstandes aus Russland ausgewandert, inzwischen aber in immerwährendem Verkehr mit ihren innerhalb der Reichsgrenzen wohnenden Stammesgenossen geblieben waren. Der polnische Emigrant, der es inzwischen zum Bey und Pascha gebracht hatte, setzte sich mit diesen Kosaken der Dobrudscha in Verbindung. Er spiegelte ihnen manches von der Wiederaufrichtung des alten Glaubens und der alten Kosakenfreiheit vor und liess so etwas von einer Starowjär-Kosakenrepublik durchblicken, in welcher nothgedrungen Polen eine treue Bundesgenossin hätte finden müssen.') Um diesem, gegen Russland gekehrten und noch fragwürdigeren Panslavismus die Wege zu bahnen, handelte es sich zuerst darum, den Altgläubigen den ihnen noch fehlenden Zusammenhang, ein Oberhaupt, eine Art Papst oder Patriarch zu geben, der ausserhalb des Bereichs der Petersburger Machtsphäre stand. Ein Vorsteher für ein unabhängiges Episcopat, den die Schismatiker im eigenen Vaterlande nicht auftreiben konnten, war vielleicht nicht so schwer unter der grossen Zahl abgesetzter oder in Ungnade gefallener Prälaten der constantinopolitanischen Kirche zu finden. Der Traum der Altgläubigen ging nun allerdings eigentlich dahin, dass es vielleicht möglich wäre, irgendwo noch einen, dem alten Glauben von je her treugebliebenen Bischof zu entdecken. In ihrer Unwissenheit glaubten sie nämlich steif und fest, es müsse, wenigstens an der Wiege des Christenthums, noch einen altgläubigen Klerus geben. So durchwanderten Sendboten des Raskol zu wiederholten Malen Syrien und die orthodoxen Metropolen des Orients, wo man gewöhnlich den russischen „alten Glauben" nicht einmal dem Namen nach kannte. Nach vielen unnützen Nachforschungen mussten sich endlich die Raskolniks der Türkei und Oesterreichs mit einem, von einem polnischen Renegaten entdeckten, griechischen Ueberläufer behelfeu. Es war ein früherer Bischof von Bosnien, Namens Ambrosius, der vom Patriarchen in Constantinupel seines Amtes entsetzt worden war. Dieser impro-visirte Metropolit des Schismas nahm seinen Sitz in der Bukowina, in einem Starowjärkl oster zu Belokriniza (rumänisch Fontana-Alba, weisse Quelle). Eine Zeitlang, um 1860, während sie mit Herzen in 1) Der Urheber dieses Planes, Ozaikowski, in der Türkei unter dem Namen Sadyk-Pascha bekannt, hatte sich, durch seine Erzählungen, in der polnischen Literatur einen Namen gemacht. Er endigte, wie Kelsieff, damit, dass er die Gnade der russischen Regierung in Anspruch nahm. 1873 nach Russland zurückgekehrt, schrieb der ehemalige polnische Patriot für russische Blätter, hauptsächlich für den liusskii Westnik (Russischer Bote) von Katkow. Kr starb durch Selbstmord im Jahre 1W6. Unterhandlung standen, dachten die Häupter des Schismas sogar daran, ihre neue Metropole nach dem freien England zu verlegen; aber das hätte den Verkehr mit Russland zu sehr erschwert. Das in einer halb ruthenischen, halb rumänischen Provinz, auf dem Grenzpunkt dreier grosser, vorwiegend slavischer Reiche, Russ-land, Oesterreich und die Türkei, gelegene Belokriniza eignete sich vortrefflich als Sitz des neuen Patriarchats. Oesterreich war durch panslavistische Umtriebe, die man dem russischen Gabinet zuschrieb, beunruhigt, und wollte darum einer Institution, durch welche es Russland Intrigue mit Intrigue zu vergelten hoffte, die Gastfreundschaft nicht versagen. So konnte der Metropolit der Weissen Quelle, nachdem er bald entfernt, bald wieder zurückberufen, bald internirt und bald wieder freigegeben worden — je nach dem Stande der gegenseitigen Beziehungen der beiden Reiche — endlich ruhig an der russischen Grenze residiren. Die Autorität von Belokriniza wurde von den Altgläubigen in Oesterreich und der Türkei, die stolz darauf waren, das Oberhaupt der schismatischen Hierarchie zu besitzen, leicht anerkannt. Mehr Schwierigkeiten bot die Anerkennung des neuen Pontifex in Russland. Einige Sektirer wollten sich nicht einem ausländischen Priester unterwerfen, den sie in ihrer naiven Unwissenheit den „überseeischen" Popen nannten. Die Führer des Schisma's und die Mehrzahl seiner Anhänger zögerten indessen nicht lange; eine Versammlung der Aeltesten zu Rogoschski anerkannte den Metropoliten von Fontana-Alba. Wahrscheinlich war es den Machern des Raskol keineswegs leid, einen ausserhalb des russischen Gebietes wohnenden, und somit für die heimische Civilbehörde unerreichbaren Patriarchen zu besitzen. Sie gehorchten darin, ohne es zu wissen, einer Neigung zur Unabhängigkeit. Das Oberhaupt ihrer Kirche ins Ausland placiren hiess soviel als dasselbe unverletzlich machen.l) Sobald der Metropolit einmal anerkannt war. schritten die Altgläubigen zur Bildung einer vollständigen Hierarchie. Von einem obskuren Kloster der Bukowina aus theilte ein unbekannter, namen- ') Die Altgläubigen nahmen das Ausland auch für die Herausgabe ihrer Bücher in Anspruch. So haben sie, sagt von Manuelos, in ihrem St. .Nikolauskloster, in Rumänien, die hauptsächlichsten Klassiker des Schisma's ■«herstellen lassen, wie die Responsorien von Andreas Denissow und den Ziti-menos, Verteidigungsrede für die mit zwei Fingern ausgeführte Bekreuzigung, von Alexis Rodionow. Diese Ausgaben zeichnen sich ebensosehr durch Reinheit des Textes als durch typographischen Luxus aus. Ferner erschien in Kolomna, in Galizien, eine Zeitschrift: der Staroobriadez (Altritualist). loser, mitrentragender Mönch die Staaten des Kaisers Nikolaus in Diocösen ein, ernannte Bischöfe, die von ihm allein abhängig waren, und that so in Kussland dasselbe, was Pius IX. in England gethan, als der Vatican, ganz unbekümmert um die englische Regierung, Grossbritannien mit einem Netz von katholischen Diocösen überzog. Der Raskol hatte Bischöfe, die stellenweise als Kauüeute verkleidet gingen und nur ihrer Heerde bekannt waren, ein heimliches Epis-copat, dessen Functionen durch das Geld der Dissidenten und die Corruption der Polizei erleichtert wurden. Aus allen Ecken Russlands Hussen Opf'orgabon nach der Weissen Quelle, dem neuen Rom der Altgläubigen. Dank dem geheimen Bande, das alle Raskolniks unter einander verbindet und das ihnen ermöglicht, in allen Provinzen Freunde und Unterkunft zu finden, konnten die Boten des Metropoliten Cyrillus, des russischen Nachfolgers des Bosniaken Ambrosius, in aller Sicherheit das Reich durchziehen. Eine Regierung wie die russische, unter einem forsten, wie Nikolaus, konnte nicht ruhig mit zusehen, wie ein fremder Unterthan, der sich an der Reichsgrenze festgesetzt hatte, Millionen von russischen Unterthanen als Herr und Oberhirt gebot. Einigen Kronräthen jagte die Weisse Quelle ebensoviel Furcht ein, als sie bei den Gegnern des Thrones Hoffnungen erweckt hatte. Aengstliche Geister sahen den Pontifex von Belokriniza schon mit Feindesmacht ins Land (anfallen und auf seinem Zuge alle Altgläubigen zum Aufstand bewegen. „Was würde daraus entstehen," meinten sie, „wenn im Falle eines Krieges mit Oesterreich, der Metropolitan Cyrillus, mit den altehrwürdigen Gewändern der Patriarchen angethan, vor den österreichischen Colonnen hermarsehierte! Wenn er mit dem achtarmigen Kreuz den Segen spendet, thut er Russland hundertmal mehr Schaden als die nsterreichischen Kanonen."1) Diese Angst war ebenso übertrieben, wie die Hoffnungen der fremden Beschützer der neuen Metropolie. Wie hätten auch die Vertheidiger altrussischer Sitten, diese Ultranationalen, mit den Feinden Russlands, mit den abendländischen „Lateinern" gemeinsame Sache machen können? Das konnte man während des Krimkriegs beobachten. ' Die Masse der Altgläubigen blieb für alle, von den Förderern der schismatischen Hierarchie ausgehenden Aufreizungen *) So drückte sich eine von Melnikow für den Grossfiirsten Constantin verfasste Denkschrift aus. Sapiska o russkom raskole, Sbornik praw. swed. o rask. (Denkschrift über den russischen Raskol, Samml. der Reg. Ber. über d. Rask.) taub und verhielt sich ruhig; die Allerunzufriedensten warteten das Urtheil Gottes ab. Altgläubige und Kosaken vergassen aber niemals, dass der Türke der Bruder des Tartaren und der Erbfeind des heiligen Busslands war. Nur bei ein paar kleinen, auf ihrem Gebiet gelegenen Starowjär-Colonien fand die Pforte einige Unterstützung. Wie alle Volksclassen knüpfen auch die Altgläubigen an die Thronbesteigung Alexanders II. die weitgehendsten Hoffnungen. In ihrer Vertrauensseligkeit luden die Aeltesten des Friedhofes Rogoschski den Metropoliten Cyrillus ein, nach Russland zu kommen und seine Heerde zu besichtigen Mit Hülfe einer Verkleidung und eines falschen Reisepasses, begünstigt durch heimliches Einverständniss der Behörden, begab sich der Pontifex von Belokriniza im Anfang des Jahres 1863 nach Moskau. Unter dem Vorsitz des Pseudo-Metropoliten wurde vor den Thoren der zweiten Reichshauptstadt von den Bischöfen und den Abgesandten aller Starowjär-Goineinden ein allgemeines — oder, wie die Altgläubigen sagten — ein öcumenisches Concil abgehalten. Auf diesem von Krämern, überläuferischen Priestern und durchgegangenen Mönchen gebildeten Concil wurden die Satzungen der neuen Hierarchie festgestellt. So schien das Schisma durch Erlangung des Episcopates sich endlich als einheitliche und selbständige Kirche constituirt zu haben, als innere Streitigkeiten diese Einheit wieder zu stören begannen. Bei ihrem wiedererlangten, unabhängigen Klerus stiessen die Altgläubigen von Rogoschski auf ganz unerwarteten Widerstand, auf ungeahnte Anmassungen. Die Laien, die bisher gewohnt waren, in ihrer Kirche als Herren zu gebieten, fanden ihre neugebackene Hierarchie keineswegs so gefüge, wie früher die einzelnen, von der Orthodoxie herübergelockten Popen. Das Concil von Rogoschski hatte beschlossen, einen in Russland residirenden Prälaten zum Vicar des Metropoliten von Belokriniza zu ernennen, allein der neue Kirchenfürst, der seine Machtbefugnisse schon eifrig zu hüten begann, zeigte sich sehr wenig geneigt, dieselben einem ständigen Stellvertreter zu übertragen. Daraus entstand ein Conliict, der die kaum geeinigte Popowstschina in neue Spaltungen zu zer-reissen drohte. Die Zeitereignisse gaben jedoch dem Streit eine andere Kiehtung. Das schismatische Concil tagte noch, als im Jahre 18(53 der polnische Aufstand ausbrach. Man erinnert sich, welche Aufregung damals die kühnen Forderungen der Polen und ihre Androhung einer fremden Intervention im ganzen Reiche hervorriefen.1) Die Alt- *) Siehe: Un homme d'Etat russe (Nicolas Milutine), Etüde sur la Russie et la Pologne sous la regne d'AIexandre II. (Paris, Haehette, 1884). gläubigen empfanden den Rückschlag der allgemeinen Bewegung. Die dem Laienstande angehörenden Führer von Rogoschski suchten Sieh, sei es aus patriotischer Begeisterung, sei es aus polititscher Berechnung, der Regierung zu nähern. Um den Verdacht jedes Einverständnisses mit den Reichsfeinden von sich abzulenken, schlugen die moskowitisehen Kaufleute ihrem Concil vor, den ausländischen Metropoliten zurückzuschicken und für den Augenblick jede Beziehung zu Belokriniza abzubrechen. Cyrillus musste Russland verlassen, und die Altgläubigen, die zwei Jahrhunderte hindurch mit den Zaren in Fehde gelegen, übersandten dem Kaiser eine Ergebenheitsadresse. In einem so kritischen Augenblicke konnte ein solches Vorgehen der russischen Vertreter altrussischen Geistes nicht anders als gut aufgenommen werden. In ihrem Versöhnungseifer hatten es die Führer von Rogoschski noch keineswegs bei der Adresse an den Kaiser bewenden lassen, sie erliessen noch überdies ein Rundschreiben, eine Encyclica, an alle Lander „der Heiligen apostolisch-katholischen Kirche der Altgläubigen", in welchem die Lehren des Schismas in einem für Kirche und St aal möglichst annehmbaren Lichte dargestellt waren. Dieses im Jahre 1802 in Jassy gedruckte „Rundschreiben" (okruschnoe poslanie) soll in mehr als zwei Millionen Exemplaren verbreitet worden sein. „Die Altgläubigen des priesterlichen Ritus," hiess es in dieser Encyclica, „stimmen in allen Sachen des Dogmas mit der russisch-griechischen Kirche überein; sie beten zum selben Gott, zum selben Jesus Christus und stehen in Wirklichkeit dieser Kirche viel näher als die priesterlosen Sekten." Ferner brandmarkte das Rundschreiben die Aufwiegler, die Feinde der Religion und des Vaterlandes, „die Söhne des gottlosen Voltaire". Zum Schluss hiess es, dass Staatskirche und altgläubige Kirche, die im Wesentlichen der Dogmen mit einander völlig übereinstimmten, in christlicher Duldung und Bruderliebe nebeneinander bestehen könnten. Dass die Abkömmlinge jener Schwärmer, welche Kirche und Staat in den Bann thaten, eine solche Sprache führten, zeigt, welche Fortschritte sich im Innern des Baskid vollzogen hatten. Welche Enttäuschung für die Ausländer, die gehofft hatten, dass hier der Verfall des mächtigen Reiches beginnen werde! zugleich aber, welch ein Aergerniss für die fanatischen Raskolniks! Von letzteren gab es in Moskau noch genug. So sahen sich denn die Popowzy aufs neue in zwei Parteien, man kann fast sagen, in zwei Sekten zerspalten, in die Anhänger und die Gegner des Rundschreibens, die Okrusch-niki und die Protivo-okruschniki, die auch Rasdorniki (die Unver- sühnliehen) genannt wurden.l) Während die Starowjär diesen weiten Blick zeigten, suchte sich eine ziemlich zahlreiche Partei derselben in den engsten Schranken des Schismas zu halten und sogar die alten, unsinnigen Streitigkeiten über den Namen Jesu wieder aufzuwärmen. Die Gegner des freisinnigen Rundschreibens behaupteten nämlich, dass der Heiland „Jissus" der Orthodoxen nicht derselbe Heiland „IssuS" sei, zu welchem die Altgläubigen beten; erstem- sei kein anderer als der Antichrist, der den göttlichen Namen des Erlösers nachäffe. Durch ein 1868 nach der Weissen Quelle berufenes Concil wurde der Streit nur giftiger, und das Schisma verlor einige seiner einllussreichsten Anhänger. Seit dieser Zeit zerfallen die Popowzy in drei ungieichgrosse Gruppen: 1) in die wenig Zahlreichen die sich der österreichischen Hierarchie' nicht unterwerfen wollen und sich, nach wie vor, mit der Staatskirche abwendig gemachten Popen behelfen; 2) in diejenigen, welche die Hierarchie von Belokriniza anerkennen und sich zugleich mit dem Rundschreiben von 1862 einverstanden erklären; und 3) endlich in diejenigen, die sich wohl dem Metropoliten fügen, die Encyclica aber, als mit Häresie helleckt, verwerfen. Zwischen diesen drei Parteien, besonders zwischen den beiden letzteren, welche die weitaus zahlreicheren sind, wird der Streit mit grosser Lebhaftigkeit geführt. Beide Parteien haben ihre Bischöfe, die sich stellenweise gegenseitig absetzen und in den Bann thun. In verschiedenen Städten, und besonders in Moskau kam es vor, dass Liberale (okrusohniki) und Unversöhnliche (rasdorniki) Altar gegen Altar und Kanzel gegen Kanzel errichteten. Moskau hatte mehrere Jahre hindurch eine zwiefache Hierarchie von Starowjär-Prälaten, die sich wechselweise in den Bann (baten, aufzuweisen. Es ist daher kaum verwunderlich, dass die Popowzy durch diese Zwistigkeiten, den Bespopowzy gegenüber, an Terrain verlieren, so dass sieh, nach der Behauptung einiger Beobachter, das ursprüngliche Zahlenverhältniss der beiden Zweige des Schismas zu Gunsten der Priestorlosen umzukehren beginnt. So konnte also die Aufrichtung des altritualistischen Episcopats die unter den Anhängern der alten Riten herrschenden Spaltungen Dicht beilegen. Der dem Raskol innewohnende Sektengeist liess sich :) Vergleiche über alle diese Streitigkeiten N Popow: Okruschnoo Poslanie Po|K>wstschmv (das Rundschreiben der Popowstschina j und hauptsächlich: N. Sub-botin, Sowreinennjia Letopisi raskola (Zeitgenössische Jahrbücher über den Raskol) und Istorija Belokrinizkoi ierarchii (Geschichte der Hierarchie von Be-lokrini/.a), nicht beseitigen. Die unter Alexander III. dem Schisma entgegengebrachte Toleranz scheint diese Innern Zänkereien noch mehr angeschürt zu haben. Seitdem die altgläubigen Bischöfe frei ihres Amtes walten dürfen, konnten sie ihren Eifersüchteleien die Zügel schiessen lassen. Langezeit, unter Nikolaus, und selbst noch unter Alexander IL, konnten sie ihre Heerde nur heimlich und unter irgend einer Verkleidung aufsuchen. Gegen Ende der Regierung Alexanders II. befand sich das ganze Episcopat der Starowjär im Gefängniss oder in der Verbannung. Der Staat hatte diese Pseudo-Bischöfe als Usurpatoren behandelt, die sich Würden anmaassten, auf welche sie that-sächlich kein Recht hatten.1) Die Regierung hatte alle, welche ihr in die Hände Ii eleu, als rebellische Popen, in die Klosterfestung von Susdal, die dem Klerus als kirchliche Haft dient, eingesperrt. Erst im Jahre 1881, unter dem Ministerium von Louis-Melikow, wurden sie wieder in Freiheit gesetzt. Von den drei schismatischen Bischöfen, die damals aus der Gefangenschaft entlassen wurden, hatte der eine, ein achtzigjähriger Greis, dreiundzwanzig Jahre in den Kerkern der Orthodoxie geschmachtet. Seine beiden Collegen, beide ebenfalls hochbetagt, waren ungefähr zwanzig Jahre gefangen gewesen. Es scheint, dass man diese Bekenner des alten Glaubens, wie der „Golos" sagt, ganz vergessen hatte, als man sie endlich, auf Reclamationen der Presse hin, freigab. Seit sie ungehindert „das wahre Kreuz auf russischem Boden aufrichten" dürfen, treten die altgläubigen Hierarchen oft in Sachen ihrer Kirche zu einem Concil oder einem Synod zusammen. Es giebt heutzutage ungefähr fünfzehn Bischöfe, die ihren Sitz im Reiche haben. Davon gehören vier oder fünf der Faktion der das Rundschreiben verwerfenden Fanatiker an. Die Prälaten beider Richtungen haben den Namen der grossen Bischofssitze angenommen; in Moskau und in Kasan haben sie sich sogar den Titel „Erzbischof beigelegt. Der verstorbene Erzbischof von Moskau, Antonius, wollte, wie man mir erzählte, sich ganz von der österreichischen Met ropole lossagen und sich als Metropolit, wo nicht gar als Patriarch von gan z Russland anerkennen lassen. Die meisten dieser Mitrenträger haben nur ') So ungesetzlich auch der Ursprung der Sache sein mag, so scheint es, vom theologischen Standpunkt aus, doch schwierig, die Gültigkeit dieser „alt-orthodoxen" (drewle-pawoslawj Hierarchie, die ihre Gewalt direct von den Bischöfen des Orients ableitete, in Abrede zu stellen. Sie nimmt, der russisch-griechischen Kirche gegenüber ungefähr dieselbe Stellung ein, wie die jansenis-tische Hierarchie gegenüber der römisch-katholischen Kirche. geringe Bildung. Einige wie Sawwatji, der gegenwärtige „Erzbischof von Moskau, sind frühere Kaulleute, ohne theologische Kenntnisse. Die am wenigsten litterarisch gebildeten halten sich Secretäre, die mit Führung der Correspondenzen betraut, und in Wirklichkeit oft die eigentlichen Leiter der Diocösalangelegenheiten sind. Wie ihre orthodoxen Collegen wohnen auch die Bischöfe des Raskol zumeist in Klöstern oder Skiten. Sie leben gemächlich, manchmal sogar im Feberfluss. Die Altritualisten von Moskau z. B. haben für ihren Erzbischof einen wahren Palast gebaut. Die reichen Kaufleute der Starowjär sind sehr freigiebig gegen ihre Prälaten, dafür wollen sie aber auch befehlen. Sie packen dieselben am Geldpunkt und erweisen ihnen manchmal so wenig Ächtung, dass einer oder der andere dieser Bischöfe aus diesem Grunde der österreichischen Hierarchie, ihrem Stuhl und dem Schisma den Kücken gekehrt hat. Nichtsdestoweniger sind diese Bischofsstühle Behl gesuchte Posten; denn das Geschäft ist einträglich. Die Hirten werden von ihrer Heerde erwTählt, und meistens fällt die Wahl der hau Heute, die in allen Geschäften des Schismas die Vorhand haben, auf Männer, die sie in gehöriger Abhängigkeit zu erhalten hoffen. Die theologischen Zänkereien verquicken sich mit den unter Nabobs des Raskol herrschenden Rivalitäten und tausenderlei lokalen Parteihändeln. Wenn die Bischöfe sich manchmal über ihre Schäilein zu beklagen haben, so haben diese manchmal auch keinen Grund, ihre Oberhirten zu loben. Manche derselben haben den Verdacht der Simonie auf sich gelenkt. So beschuldigte man Sawwatji, den Erzbischof von Moskau, er entwürdige das Priesteramt dadurch, dass er die Weihen an ungebildete und sittenlose Menschen verschwende, die im Priestertitel nur ein Mittel sähen, ihre Religionsgenossen auszubeuten. Die Altgläubigen konnten, indem sie mit der Kirche brachen, nicht allen Uebelständen entgehen, die sie den Staatsgeistlichen zum Vorwurf machten; und ein Vergleich zwischen ihren Popen und denjenigen der Staatskirche fällt nicht immer zu Gunsten des Schismas aus. Glücklicherweise besitzt die Popowstschina, neben ihren Priestern und Bischöfen noch geistliche Käthe, aus Aeltesten und Schriftgelehrten (natschetschiki) gebildete Laienconsistorien, die den Klerus überwachen. Die Kirche, oder, wenn man lieber will der Staat, hätte die Zwistigkeiten der Altritualisten dazu benützen sollen, das Schisma auseinanderzusprengen und die gemässigtere Fraktion der Popowzy wieder in den Sohooss der rechtgläubigen Kirche zurückzuführen. Damals, als die alten Gegner sich darin gefielen, den verjährten Fanatismus von sich zu weisen, konnte man im Heiligen Synod glauben, dass es nur einiger, ganz formalen Concessionen bedürfe, um den aufgeklärteren Theil der Popowstschina wieder zurückzuerobern. Nach dem „Rundschreiben", das so viele Meinungsverschiedenheiten hervorgerufen hatte, zu schliessen, schien es, als ob man nur die Versöhnungsakte der Starowjär und der Orthodoxen aufzusetzen brauche. Aber trotz allen liberalen Kundgebungen des Hauptes des Schismas, sind die einzelnen Klauseln dieses Friedensvortrages doch sehr schwer zu stipuliren. Jede Partei besteht auf ihren Forderungen. Die staatliche Hierarchie möchte sich kein Dementi geben; die Altgläubigen aber wollen nur als Sieger, mit Glockenklang und fliegenden Fahnen in die allgemeine Kirche zurückkehren. So genügt ihnen nicht, mit dem Friedenskusse empfangen zu werden, nein, die Rechtgläubigen sollen an ihre Brust schlagen und ein „meu culpa" beten. Sie geben sich nicht damit zufrieden, dass die alten Riten „geduldet" werden; sie verlangen eine feierliche, unter Mitwirkung der morgenländischen Patriarchen ausgesprochene Rehabilitation derselben, indem sie sagen, dass die alten Riten und Bücher, wie sie durch ein Concil verworfen worden, auch wieder durch ein ebensolches Concil anerkannt werden müssten. Die russische Kirche hat, um mit ihren rebellischen Kindern Frieden zu schliessen, noch nicht die gesammte orthodoxe Christenheit zu einem Concil berufen, und fährt fort die ganze Angelegenheit als Familiensache zu behandeln. Doch bat sie ihnen eine Genug-thuung gegeben, die manchem Prälaten des achtzehnten Jahrhunderts als ein unverzeihlicher Bruch mit der Vergangenheit erschienen wäre. Der Heilige Synod, „das immerwährende Concil" der Staatskirche, hat den, auf dem Concil von 1667 gegen die Anhänger der alten Riten geschleuderten Bannfluch zurückgenommen. Ja noch mehr. Der Heilige Synod hat 1886 die amtliche Erklärung erlassen, dass die orthodoxe Kirche die alten Riten und Texte niemals an und für sich, sondern nur insofern sie häretischen Auslegungen als Symbol dienten, verworfen habe. Nach der ehrwürdigen Versammlung hätte die Kirche zwei Jahrhunderte lang nur die Aufrührerei der Raskolniks und ihren Ungehorsam gegen die von Christus eingesetzte Priestergewalt verurtheilt. Und in der That läugneten die Altgläubigen, indem sie dem Episcopat Widerstand leisteten und dasselbe als häretisch betrachteten — vielleicht ohne sich genau darüber Rechenschaft zu geben — die kirchliche Autorität, sie behaupteten dadurch, dass nicht in der Priesterschaft oder den geistlichen Vorgesetzten, sondern in ihnen selbst, im christlichen Volke, als dem Erben der Ueber- lieferung, die Kirche verkörpert sei. r) "Wenn die orthodoxen Bischöfe dies auch nicht so klar einsahen, so fühlten sie es doch heraus, und darin lag ihrer Ansicht nach, die Gefährlichkeit, die Tücke des „alten Glaubens". Wenn wir euch verbrennen und auf die Folter spannen, antwortete Patriarch Joachim schon den ältesten Raskolniks, so geschieht dies nicht, weil ihr euch anders bekreuzigt als wir, sondern weil ihr euch wider die Heilige Kirche erhoben habt. Das Kreuz aber mögt ihr schlagen wie ihr wollt.2) Schon seit Ende des achtzehnten -Jahrhunderts halten llegierung und Geistlichkeit, um den Raskolniks den Rückweg zur Kirche möglichst zu ebnen, einige Concessionen zu machen begonnen. Es schien als ob die Erlaubniss, die alten Bücher und Ceremonien beibehalten zu dürfen, genügen würde, um Leute wieder zu gewinnen, die sich nur darum aufgeleimt hatten, weil sie die Formen ihres Gottesdienstes nicht ändern wollten. Nachdem sie sich über ein Jahrhundertlang dagegen gesträubt, gestattete die Kirchenbehörde denn auch den Altgläubigen, das vor den Reformen des Nikon gebräuchliche Rituale beizubehalten. In einem 1800 durch den Metropoliten Plato veranlassten TJkas, gab der Heilige Synod seine Einwilligung dazu, dass Popen, welche nach den alten Riten amtiren sollten, die Weihen erhielten. Hie Anhänger dieser neuen Kirche, oder vielmehr dieser alten Liturgie, nannte man Edinowerzy, d. h. Einsgläubige, Unirte. Eine ähnliche Concession hatte seinerzeit die römische Kirche, um den Hussitenkrieg zu beendigen, den Utraquisten gemacht. Einige an den Zaren Alexis gerichteten Petitionen beweisen, dass ein solcher Compromiss die ersten Altgläubigen vollständig zufriedengestellt haben i) Vergleiche W. Solowieff: Istorija i Buduschnost Teocratii (Agram 1887), Vorrede. - Ferner Schtschapow: Russkii raskol staroobriadtsehestwa. -i Nach dem .Metropoliten und (lesehichtssehreiber Macarius, soll dies auch die Auffassung des Patriarchen Nikon gewesen sein. Wenn er den Patriurchcn-stuhl noch länger innegehabt hätte, so würde er den Gegnern der liturgischen Reform, wie er es thatsäehlich dein Erzpriester Neronow gestattet hatte, die Genehmigung, sich der alten Riten zu bedienen, crthcilt haben. So würde Nikon das Schisma vermieden haben. Nach andern Autoren, wie Schtschapow und Kostomarow, soll es gerade der herrische Geist des Patriarchen Nikon gewesen sein, der den Raskol hervorgerufen habe. Wenn man einer ganzen Schule von Schriftstellern Glauben schenken will, so wäre die Angelegenheit der alten Bücher weniger die Ursache, als der Vorwand und der unmittelbare Anlass zum Schisma gewesen. Der wahre Grund liege darin, dass sich das Volk gegen die Bestrebungen des Kpi--copatee, die früheren Beziehungen zwischen Laien und Geistlichkeit zum Vortheil des hohen Klerus abzuändern, erhoben habe. würde: ihren Enkeln, ein Jahrhundert später, genügte er nicht mehr. In Sachen der Religion, wie der Politik werden zu spät kommende Compromisse gar oft von denen mit Verachtung zurückgewiesen, die sie zuerst demüthigst erbeten hatten. Indem die Staatskirche sich zu überzeugen suchte, dass alle Dissidenzen nur äusserlich formeller Natur seien, verfiel sie in einen ähnlichen Fehler wie die Altgläubigen, als sie sich im Namen der Riten gegen die kirchliche Autorität auflehnten. Das Princip des Schismas liegt nicht mehr einzig und allein im Ceremonial. Nach den langen Jahren des Kampfes hat der Raskol seinen eigenen Geist, seine eigene Individualität angenommen, was zusammen mit der den Starowjär nun schon zur alten Gewohnheit gewordenen Freiheit und Unabhängigkeit, dre Versöhnung der streitenden Kirchen sehr erschweren muss. Mit dem Recht, die alten Riten bewahren zu dürfen, Hessen sich die Vorurtheile der Altgläubigen nicht mehr beseitigen. Diese misstrauten der Sache und meinten, dass man unter dem Schleier des Friedens ihre gänzliche Unterwerfung bewerkstelligen wolle. Sie fürchteten, Regierung und Synod möchten die Edinowerie nur als ein provisorisches Auskunftsmittel ansehen, gewissermassen als einen Vorhof, in welchem die Gegner Nikons eine Zeitlang ihren Aufenthalt nehmen sollten, um sich später um so bequemer in dem weiten Tempel der staatlichen Orthodoxie zu verlieren. Während die Regierung die Dissidenten auf alle Weisen zum Eintritt ;in die „einsgläubige" Kirche zu bewegen suchte, hielt sie die eigentlichen Ortho-dnxen sorgfältig von eben dieser Kirche fern und verscheuchte gerade dadurch von der Edinowerie den grössten Theil derjenigen Dissidenten, welche sie eigentlich dafür hatte gewinnen wollen. Zwar hat die Regierung, besonders in den letzten Jahren, diese Einschränkung theilweise fallen lassen, und den Angehörigen der orthodoxen Kirche gestattet, sich in gewissen Fällen der Edinowerzy-Popen zu bedienen; nichts destoweniger aber nehmen die „alten Riten", gegenüber dem seit Nikon gebräuchlichen Ceremonial, eine niedrigere, weniger berechtigte Stellung ein. Es gab nur zwei Wege, die Mehrzahl der Altgläubigen der Edinowerie zuzuführen; entweder hätte man beide Riten als gleichberechtigt anerkennen und den Mitgliedern der Staatskirche die freie Wahl zwischen beiden lassen müssen, oder man hätte die „Einsgläubigen" als selbständige autonome Kirche constituiren sollen. Man that weder das eine noch das andere. Darum erblicken auch die meisten Altgläubigen in der Edinowerie nichts als eine ihnen gestellte Schlinge und nennen sie, drastisch genug, lowruschka, die Mäusefalle. Leroy-Beaulieu, Reich d. Zaren u. d. Küssen. III. Bd. 2G Zwischen diesen russisch-orthodoxen „Emsgläubigen" und den von der römischen Curie und den Jesuiten „unirten Griechen" in Polen besteht eine, bis jetzt noch unbeachtete Aehnlichkeit. Beide Institutionen stellen einen Mittelweg dar, der einem analogen Zwecke dienen sollte und der beide Male ähnliches Misstrauen hervorgerufen hat. Man könnte fast sagen, dass Bussland, um seine Dissidenten der Staatskirche wieder zuzuführen, geradezu das Mittel nachgeahmt habe, durch welches Polen in Verbindung mit Rom seinerzeit seine Unterthanen griechischer Confession an sich zu ketten suchte. Wissentlich oder nicht hat sich die russische Regierung dieselbe Taktik zu eigen gemacht, die sie auf römisch-polnischer Seite bekämpfte. Die Nachahmung war jedoch eine unvollständige, und daher erklärt sich theilweise der Misserfolg. Die römische Kirche hatte den „unirten Griechen", ausser der Liturgie und dem Rituale, ihre Bischöfe und ihre eigene Hierarchie belassen. Den unirten Starowjärs hingegen wollte die russische Kirche von ihren eigenen, orthodoxen Bischöfen consecrirte und nur von diesen abhängige Priester aufzwingen, Daher der Widerstand der Altgläubigen. Wenn sieh auch die orthodoxen Bischöfe dazu verstanden, ihre Priester nach dem alten Ritus zu weihen, so genügte ihnen dies noch nicht. Die Mehrzahl weigert sich, sich in diesen officiellen Schafstall einpferchen zu lassen, wo die Priester dje alten Riten nur auf höheren Befehl ausüben, und wo die Bischöfe den von ihren Schäflein so hoch verehrten Ceremonien höchtens eine verächtliche Toleranz entgegenbringen. So suchten die Altritualisten das Episeopat, das ihnen die Staatskirche verweigerte, ausserhalb derselben. Daraus erklärt es sich, wie der Raskol von einem Compromiss, der, wie es schien, das Schisma vollständig hätte aufheben müssen, kaum berührt wurde. Obschon für die Edinowerie jährlich neue Anhänger gewonnen werden, und die Berichte des Oberprokurors dieselben jeweilen mit einer gewissen Ostentation aufführen, so übersteigt die Gesammtzahl dieser „unirten" Altgläubigen kaum "eine Million. Im Jahre 1886 gab es im ganzen Reiche nur 244 solcher Kirchen, und auch diese standen oft leer. Unter den Edinowerzy sind viele Indifferente, „Weltkinder", welche das Haus des Herrn nur selten besuchen. Andere wieder, die äusserlich der unirten Kirche beigetreten sind, besuchen heimlich immer noch die Betsäle der Dissidenten. Wieder andere kehren frei und offen zum Schisma zurück und lassen sich von ihren Religionsgenossen für ihre Schwachheit Bussen auferlegen. Solche Rückfälle kommen sogar unter dem Klerus vor. ' So verliess 1885 der Pope Werschowsky, welcher Kaplan an einer einsgläubigen Kirche in Petersburg war, seine Pfarrei und flüchtete sich nach der Metropole von Belokriniza. Die Edinowerzy, welche in der Staatskirche verbleiben, zeigen gewöhnlich mehr Sympathie für die schismatischen Altgläubigen, als für die Orthodoxen der neuen Riten. Sie bilden in Wirklichkeit nur noch eine Partei mehr der Popovvstschina. Fast alle bewahren ihre fanatische Anhänglichkeit an das alte Rituale. Sie sind weit davon entfernt, für die Gebräuche der Staatskirche dieselbe Toleranz zu zeigen, die sie von dieser für ihre eigenen Riten in Anspruch nehmen. Es ist nicht räthlich, in ihren Kirchen nach „nikonischer" Art zu beten. Ich habe erzählen hören, dass ein Rechtgläubiger, der aus Zerstreutheit während eines unirten Gottesdienstes das Zeichen des Kreuzes mit drei Fingern gemacht hatte, sehr unangenehm an die Luft gesetzt worden sei. Diese altgläubigen Orthodoxen bedienen sich ebenso ausschliesslich der alten Kirchen und der alten noch im Neumen (krinki, Häkchen) notirten Gesänge, wie die Dissidenten. Für den Druck ihrer Missalen haben sie in Moskau eine eigene Druckerei errichtet. Ausser den ihnen ausschliesslich geweihten Kirchen besitzen sie noch Klöster, die als „unirte" den Vorzug staatlicher Anerkennung geniessen; so der Skit von Pokrowsky bei Semenow. Das grösste Hinderniss der endlichen Beilegung des Schismas bildet vielleicht die den Allgläubigen durch die lange Gewohnheit so theuer gewordene Freiheit in kirchlichen Dingen. Da sie gewohnt sind, ihre Priester selber zu wählen, so wollen sie von einem, wie ein gewöhnlicher Staatsbeamter, wie ein Tschinownik, ernannten Popen nichts wissen. Um die Edinowerzy herumzukriegen, müsste man ihnen das Recht gewähren, ihre Geistlichen zu wählen, oder wenigstens doch dieselben der Regierung vorzuschlagen. In Folge einer in der Geschichte der Revolutionen und der Kirchenspaltungen so oft auftretenden Wandlung hat der Ausgangspunkt des Raskol, der rituelle Formalismus der Altgläubigen, aufgehört, die Grundursache der Fortdauer des Schismas zu bilden. Der Raskol hat in seinem Kampfe mit der staatlichen Orthodoxie einen neuen Daseinsgrund erhalten. Die Popowstschina besteht fort, weil sich ihr der Widerstand des Volkes gegen die Einmischung des Staates in Kirchensachen verkörpert, weil sie zu einem Protest gegen jede wirkliche oder scheinbare Abhängigkeit der Religion von der Regierung geworden ist. Die herrschende Kirche — hiess es in einer unter Alexander II. bei den Altgläubigen circulirenden Bittschrift — ist keine katholische (allgemein christliche) Orthodoxie, sondern nur eine russische, mos-kowitische, synodale, staatliche, deren Oberhaupt nicht Christus 26* sondern der Kaiser ist, und die ihre Bischöfe durch die Staatsgewalt ernennen lässt; sie ist eine staatliche Einrichtung, die darauf beruht, dass man das Zeichen des Kreuzes mit drei Fingern macht, und auf ähnlichen Praktiken; sie ist ein griechischer Ritualismus (greko-ob-riadstwo) oder eine ritualistisohe Confession (obriadowerie), die an die dogmatische Wichtigkeit gewisser ritueller Einzelheiten glaubt und dieselben als Glaubensartikel aufstellt.l) Ist es nicht merkwürdig, wenn man sieht, wie diese Altgläubigen nun plötzlich den Spiess umkehren und die herrschende Kirche des Formalismus und Servilismus beschuldigen. Die hierarchischen Altgläubigen verlangen auf ihre Weise die Trennung des Zeitlichen vom Geistlichen. Sie fordern die Freiheil der Kirche, ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, dass sie die ersten waren, die durch langjährige Empörung eben diese Kirche geschwächt haben. Dass sie selber die Kirche unvolksthümlich gemacht und so der Staatsgewalt in die Arme getrieben haben, das haben sie vergessen. Sie machen der Staatskirche das Aufgeben der ursprünglichen kirchlichen Grundgesetze und die Abschaffung des Patriarchats zum Vorwurf.2) Manche fordern die Wiederaufrichtung des letztern, ohne zu bedenken, dass eine solche Würde mit ihren religiösen Gepflogenheiten und ihren halbpresbyterianischen Sitten sehr wenig im Pnnklang stehen möchte. Man findet bei ihnen zwei gewöhnlich nur getrennt auftretende Tendenzen vereinigt; sie suchen die Kirche von der Civilgewalt unabhängig zu machen, aber keineswegs, um der Priesterschaft alle Macht in die Hände zu geben, sondern darum, damit das Laienelement, die Gesammtheit des christlichen Volkes, mehr Ein lluss auf die Führung der kirchlichen Angelegenheiten erlange. Wenn die Popowzy auch fortfahren, das Priesteramt als nothwendig zu betrachten, so werden sie sich doch niemals, so wenig als die Priesterlosen, so wenig als die orthodoxen Russen, dem Klerus zu eigen geben. Es lindet sich bei ihnen, wie bei allen andern russischen Sekten, auch keine Spur von Sacerdotalismus oder Clericalismus; auch dies ist ein eigentümlicher ]) Siehe Jusow: Kusskie Dissidenty: Btarowjäri i Duchownie Christiane (1881, S 51, 52). 8) Die Raskolniks sehen die Abschaffung des Patriarchati zum Zweck der Unterwerfung der geistlichen Gewalt unter den Willen des Zaren als einen Beweis an, dass Peter der Grosse der Antichrist gewesen sei. So Sobranie ot Swiatago Pisanii o Antichriste, Sbornik praw. swed. o rask. - IUI. II, S. 256. Zug des moskowitisehen Charakters. Eine autonome Kirche, die sich durch gewählte Priester, unter Aufsicht aller Gläubigen, selber regiert, eine nationale, volkstümliche, demokratische Kirche, das ist das religiöse Ideal der Altgläubigen. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet erscheint der, aus unwissenden Streitereien hervorgegangene und mit einer groben Scholastik aufgesäugte Raskol plötzlich europäisch, modern; er vertritt im orientalischen Christenthum Bestrebungen, ähnlich denen, wrelche die abendländischen Kirchen schon oft bewegt haben. Das beste und sicherste Mittel, die Starowjär wieder zu gewinnen, würde in diesem Falle in einer gründlichen Reform der herrschenden Kirche bestehen. Man vermehre ihre Freiheiten und trage dem Principe der Wählbarkeit der Priester, das so tief im russischen Charakter Wurzel gefasst hat, Rechnung; ferner aber suche man den orthodoxen Klerus moralisch und materiell zu heben; denn in Russland, wie anderwärts, bei den Altritualisten, wie bei den Strigolniks1) des vierzehnten Jahrhunderts, bildeten die Schwächen der Priester keineswegs die unwesentlichste Veranlassung zur Ketzerei und zum Abfall. l) Anm. d. Uebers. Im vierzehnten Jahrhundert (1871) tritt in Pskow und Nowgorod die Sekte der Strigolniks (d h. Haarscherer) auf, nach dem Handwerk eines der beiden Gründer, Karp, so genannt; der andere war ein Diakon, Nikita mit Namen. Die Strigolniks verwarfen alle Hierarchie und erklärten die Darreichung der Sakramente für unabhängig von der Priesterweihe. Von dem Patriarchen von Constantinopel als Irrlehre verdammt, bestand die iSekte auch nach dem Tode Karpe, den der .Nuwgorod'sche Pöbel in die Finthen desWolkow warf, noch längere Zeit fort, bis in Folge der Massregeln des Metropoliten Photius (15. Jahrb.), ihre Anhänger zum Theil sich von der Irrlehre lossagten, zum andern Theil für Lebzeiten eingekerkert wurden. Alex. v. Rcin-lioldt: Geschichte der russ. Literatur (Leipzig, W. Friedrich) S. 105. Sechstes Kapitel. Organisation und Lehren der Priesterlosen i P.espnpowzv). Warum sie sieh weniger leicht als Kirche constituiren können. Ihre Zersplitterung in zahlreiche Sekten. Die wichtigsten derselben: Pomorzy, Theudosiauer. — Ihre streitigen Punkte. Die Fanatiker und die Politiker. Unterwerfung unter die Staatsgewalt. Das (lebet für den Kaiser. — Ehe und Familie. Die geschlechtliche Vereinigung ist unerlaubt. Theorie und Praxis des Cölibates. Die freie Liebe. Wie die meisten Priesterlosen sich allmählich von ihren ursprünglichem Standpunkt entfernen mussten. — Sektirer die auf diesem ursprünglichen Standpunkt beharren wollen. Die Herumirrenden oder Stranniki. Das Vagabundenthum als fromme Uebung Die beiden Grade der Sekte: Pilger und Herberggeber. — Andere extreme Sekten: Stumme, Verneiner, Nichtbeter. Die äusserste Grenze des Raskol. Dem zweiten Hauptzweige des Raskol, den Bespopowzy, fiel es schwerer, sich als Kirche zu constituiren. Das Grundprinzip der Sekte, die Aufhebung des Priesteramtes, brachte die Priesterlosen in stete Gefahr, aus dem dogmatischen Rahmen der Rechtgläubigkeit herauszufallen und entzog ihren Gemeinden zugleich das mächtigste kirchliche Band. Bei ihnen gab es keinen Damm mehr gegen das Ueber-quellen persönlicher Phantasien, keine Schranke, die den Neuerungen Halt gebieten konnte; der Geist der Trennung, der Häresie hatte hier freien Lauf. Es sind Sekten der Sekten, oder, wie Bossuet von den Protestanten sagte, „es sind Bruchtheile eines Bruchtheils". Man würde sich aber über den Raskol, wie über die Reformation, täuschen, wenn man diese Zersplitterung als ein Zeichen des Verfalles ansehen wollte. Aehnliche Lehren sind von Anbeginn immerwährenden Veränderungen unterworfen. Sie sind gewissermassen unbeständig, unfähig zur Bewegungslosigkeit und zur Einheit. Erst mit dem Tage, wo sie sich nicht mehr verändern, nicht mehr zerspalten, beginnt in Wirklichkeit ihr Verfall. Da die Bespopowzy die Priesterweihe verwerfen, so kennen sie keine andern Kultusbeamten als „Aelteste" und Vorleser ohne jeden priesterlichen Charakter. Ihre Befugnisse sind: die heilige Schrift lesen und erklären, taufen und stellenweise auch Beichte hören. In einigen Gemeinden können diese Verrichtungen auch Frauen übertragen werden. Diese „Vorleser" der Raskolniks sind manchmal recht unwissend, manchmal aber auch in den heiligen Schriften sehr bewandert. Nicht selten findet man Leute unter ihnen, die den orthodoxen Priestern an Bildung überlegen sind. Gewöhnlich haben sie auch mehr Einfluss auf ihre Anhänger als die Popen der Popowzy auf die ihrigen. Trotz der presbyterianischen Einfachheit ihres Gottesdienstes, verwerfen die Priesterlosen keineswegs jeden äusserlicben Kultus. Im Gegenteil: die meisten ihrer Gemeinden haben, indem sie sich vom Clerus emanzipirten, alle russischen Andachtsübungen, die abergläubische Verehrung der Bilder und Reliquien, die sorgfältige Beobachtung der Fasten, kurz, den ganzen ängstlichen Formalismus, aus welchem der Raskol hervorgegangen ist, beibehalten. Wie die Popowzy machen sie das Zeichen des Kreuzes hundert Mal hintereinander, und die poklony — die Neigungen und Beugungen des Körpers vor den Heiligenbildern, wobei die Stirne an die Erde geschlagen wird — sparen sie so wenig wie jene. Diese heilige Gymnastik nimmt gerade bei ihnen einen um so breiteren Platz ein, als ihr ohne Priester celebrirter Gottesdienst von anderweitigen Ceremonien mehr entblösst ist. Zur Reinigung einer auf dem Markte gekauften Speise schreibt eine dieser Sekten an hundert solcher Verbeugungen oder poklony vor, bei einem Begräbniss zweihundert; ein Neophyte muss sich sechs Wochen lang täglich zweitausend Mal verbeugen, und sich dabei, bei jedem Hundert Verbeugungen, noch zwanzig Mal auf die Erde werfen. Vor Taback, Zucker und einzelnen Speisen — wie zum Beispiel vor dem Hasen — haben diese Leute noch immer eine abergläubische Abscheu. Bei vielen Bespopowzy scheint der Kultus, anstatt reiner zu werden, sich für den Verlust der heiligsten Mysterien des nationalen Glaubens dadurch entschädigen zu wollen, dass es sich um so enger an die kleinlich-beschränkten Andachtsübungen des Volkes anschliesst, und so, aus eben den Ursachen , die ihn eigentlich hätten vergeistigen sollen, um so materialistischer, gröber wird. Heutzutage, wo der Raskol aus seinem, seit Jahrhunderten innegehabten Rahinen, herauszutreten beginnt, neigen die durch kein hierarchisches Band zurückgehaltenen Priesterlosen, gerade durch ihre Verneinung jeder Autorität, zum Rationalismus. Doch dies ist eine Erscheinung allerjüngsten Datums. Lange Zeit wetteiferten die Bespopowzy, mit ihren feindlichen Brüdern, den Popowzy, in der den Riten und der Ueberlieferung bewahrten Treue und sannen stets auf Mittel, trotz ihrer Priesterlosigkeit, ja nichts davon bei Seite zu lassen. In der Geschichte ihrer Wandlungen haben die Streitigkeiten über das Rituale und die Formen des Gottesdienstes stets einen breiten Platz eingenommen. Als Muster solcher Fragen, welche sie lange in Aufregung versetzt haben, möge hier „der Titel des Kreuzes" — d. h. diejenigen Buchstaben, die man über dem Haupte des Gekreuzigten anzubringen pflegt, — dienen; eine ihrer Sekten erhielt davon den Namen Titlowzy. Die eine Partei verwarl die dem INRI unserer lateinischen Crucilixe entsprechenden vier slavischen Buchstaben. Diesen Titel „Jesus von Nazareth, König der Juden", den die römischen Krieger Christus beigelegt hatten, erschien ihnen als eine ruchlose Verspottung, welcher sie — und wäre es auch nur scheinbar — in keiner Weise beistimmen wollten; so setzten sie an Stelle der evangelischen Aufschrift, die griechische Abkürzung des Namen Jesu: ICXC. Nach diesem ist es nicht mehr erstaunlich, dass das einzige Sakrament, welches sie noch beibehalten hatten, die Taufe, zu unendlichen Streitereien und zahllosen Spaltungen An-lass gab. Die einen tauften nach orthodoxem Ritus und Hessen nur die Salbung mit dem heiligen Oel, das sie nicht mehr weihen konnten, weg; andere tauften die Erwachsenen zum zweiten Male, bei Nacht in den Flüssen; einige, in der Meinung dadurch die allein richtige Taufe wiedergefunden zu haben, tauften sich sogar eigenhändig. Die andern Sakramente haben sie mit dem Priesteramte fallen lassen, oder sie haben nur ein Gleichniss derselben bewahrt. So beichteten einige Philippowzy einem Heiligenbild im Beisein ihrer Aeltesten (Starik), die ihnen statt der Absolution die Worte zuriefen: „Mögen deine Sünden dir vergeben sein"! Bei andern Priesterlosen ist der Beichtiger, sei er Mann oder Weib, nur noch ein Rathgeber. Die Linke des Raskol war lange Zeit ebenso rückschrittlich, ebenso antiliberal gesinnt wie ihre Gegenpartei; dies hatte jedoch nicht allein in der Anhänglichkeit der Altgläubigen an die Aeusser-lichkeiten des Kultus, oder in ihren über das Rituale zutage geförderten Spitzfindigkeiten seinen Grund, sondern vielmehr in der Art, wie sie das Reich des Satans auslegten und in ihren Ansichten über Staat, Gesellschaft, Ehe und das Leben im Allgemeinen. Gerade bei den Bespopowzy zeigte sich der Fanatismus am unversöhnlichsten. Wenn sie auch nicht gerade soweit gingen, wie jene Unsinnigen, die sich, um der Herrschaft des Antichrists zu entgehen, selbst verbrannten, so zeigten doch manche ihrer Sekten eine wahrhaft orientalische Furcht vor verunreinigender Berührung. Jeden Contact mit einem ihrer Lehre fernestehenden Menschen, besonders aber mit den „Nikonianern", betrachteten sie als eine Befleckung. Den Theodosia-nern war es verboten mit den Profanen, oder — wie sie sich ausdrückten — mit den Juden (jidowskji), zu essen oder zu trinken. Einer verwandten Sekte, den Pomorzy, machten sie es zum Vorwurf, dass sie dieselben Bäder benutze und aus denselben Gläsern tränken, wie die gewöhnlichen Sterblichen. Die fünfundvierzig Satzungen, welche vun ihren Lehrern 1751 „auf dem Concil von Wetka" aufgestellt wurden, und die man als ihr eigentliches Kirchengesetz betrachten kann, handeln zumeist nur von der Vermeidung unreiner Berührungen. Dies geschieht mit einem fast jüdischen Eifer, und wie der Deute-ronom oder der Leviticus, werfen sie die erhabendsten Sittenlehren mit den kleinlichsten äusserlichen Vorschriften durcheinander. Eine dieser theodosianischen Satzungen verlangt ausdrücklich, dass man auf dem Markte gekaufte Waaren, erst nachdem sie mittelst gewisser Formeln gereinigt wurden, in Gebrauch nehme. Nach einer andern Vorschrift ist es verboten, mit einem rothen Hemde bekleidet ihre Betsäle zu betreten. So sahen vor noch nicht allzulanger Zeit diese radicalen Schismatiker aus, unter denen heutzutage der Rationalismus Fuss zu fassen beginnt. — Die meisten Bespopowzy haben, trotzdem sie die Priester verwerfen, doch das Mönchswesen beibehalten. Sie besitzen Skiten oder Einsiedeleien für beide Geschlechter. Auch hier, wie bei den hierarchischen Sekten, bildeten diese Skiten den eigentlichen Organisationsherd des Raskol. Viele Sekten der Bespopowstschina haben von solchen Skiten ihre Lehre und ihren Namen empfangen. Im Nordwesten, in der Umgebung des Onega, in jenen fast polaren und, durch ihre Isolirtheit, dem Schisma so günstigen Landstrichen, enstand gegen das Ende des siebzehnten Jahrhunderts die erste grosse Gemeinschaft der Priesterlosen, die als die Muttergememde alier übrigen angesehen werden kann. In der Nähe einiger, an den Ufern des Wigg errichteten Einsiedeleien, Hessen sich zahlreiche Dissidenten mit Weib und Kind nieder. So erwuchs tief in den Wäldern eine Art von theokratischer Republik, die in Andreas Denissow einen einsichtigen Gesetzgeber erhielt.1) Peter der Grosse gerieth auf einer seiner Reisen über das rege und arbeitsame Leben, welches in diesem Mir der Raskolniks herrschte, in Erstaunen; dieser grosse Gegner des Schismas hat ihnen auch zuerst gewisse Privilegien gewährt. Die Lehren dieser Skiten fanden im ganzen Pomorie, d. h. in der Gegend zwischen den grossen Seen und dem Weissen Meere, Verbreitung. Davon erhielten die Anhänger dieser Gemeinden den Namen der „Pomorzy", oder „Uferbewohner des Meeres". Unter den Tochteroder Concurrenzgemeinden der „Uferbewohner" gelangte eine durch den Reichthum ihrer Mitglieder und die Strenge ihrer Lehren zum grössten Ansehen unter den Priesterlosen; es ist dies die Sekte der 1) Dieser Andreas Denissow und sein Bruder Simon, ebenfalls ein Haupt des Schismas, waren gebildete Männer von hoher Herkunft; eigentlich hiessen sie Fürsten Myschezky. Sie bilden eine von den Ausnahmen, denen man nur in den ersten Zeiten des Raskol begegnet. Theodosianer (Fedosejewzy), die nach einem, Anfangs des achtzehnten Jahrhunderts im Gefängniss gestorbenen Sakristan (diatschok) also benannt wurde. Die Bespopowstschina bildete keine centralisirte, einheitliche Kirche, sondern eine Art von Conföderation, an deren Spitze diese mächtige Gemeinde der Theodosianer stand. Diese Theodosianer, deren Haupt damals Kowylin war, einer jener russischen Kaulleute, die den praktischen Sinn so wunderbar mit dem Fanatismus zu verbinden wissen, gaben den Priesterlosen ihren materiellen und moralischen Mittelpunkt, den Friedhof von. Preobaschensky. Dieses Institut, das unter Katharina II. während der moskowitisehen Pest, etwas früher als Rogoschski, gegründet wurde, rivalisirte mit dem Kloster der Popowzy und wurde selbst noch mächtiger als dieses letztere. Kowylin setzte es durch, dass das mit dem Friedhof verbundene Krankenhaus von jeder Aufsicht der geistlichen Behörden befreit wurde, und dass der Gottesdienst daselbst nach dem Ritus der Sekte abgehalten werden durfte. Die Gesellschaft erhielt das Kocht, die Administratoren der Anstalt aus ihrer Mitte zu ernennen, und diese wiederum waren nur den Gründern gegenüber verantwortlich. Wegen der, oft gegen die sociale Ordnung gerichteten Lehren der Bespopowstschina, musste Preo-braschenski im Laufe der Jahrhunderte noch mehr Verdacht erwecken und zu noch zahlreicheren Klagen Anlass geben als Rogoschski. Der theodosianische Friedhof wurde als Diebsnest, als Fabrik falscher Banknoten und als eine Hölle aller Laster angesehen. Es mag sein, dass die strengen Feodosejewzy unter dem Schleier der Mildthätigkeit mehr als eine Betrügerei verbargen, und dass der Asketismus gar oft nur den Ausschweifungen als Deckmantel diente. Indessen, um hundert Jahre lang, in einer Zeit wo alle Institutionen von so kurzer Lebensdauer waren, über den Raskol herrschen zu können, musste Preobraschenski, ebenso wie Rogoschski, grosse Eigenschaften, ja grosse Tugenden bergen. Wenn ihre Leiter so ganz jedes Pflichtgefühles bar gewesen wären, wenn sie nicht trotz, oder vielleicht gerade in Folge ihres Fanatismus nach einer tieferen Ueberzeugung gehandelt hätten, so würden diese beiden mächtigen Friedhöfe gar bald wieder zu stillen Wohnungen des Todes geworden sein. Unwillkürlich muss man diese moskowitisehen Kaufleute bewundern, die in einem autokratischen Staate eine freie Gesellschaft unabhängig zu regieren, und einen, für die damalige Zeit aussergewöhnlichen Schatz, — man spricht von ungefähr zwölf Millionen Rubel — ohne jede Controle zu verwalten wussten. Preobraschenski ist endlich, wie Rogoschski von der Polizei und der Staatsgeistlichkeit mit Beschlag belegt worden. Die Rechte des theodosianischen Friedhofes wurden unter Nikolaus aufgehoben. Man liess den Raskolniks das Krankenbaus, aber man nahm ihnen ihre Kirche. Philaretes, der berühmte Metropolit von Moskau, reinigte letztere vom Schisma, und die Bespopowzy des Krankenhauses mussten fürder, in der Kirche ihrer Väter, die Gesänge von „unirten", vom Heiligen Synod ernannten Popen erschallen hören. Kann die moderne Gesellschaft gegenüber den Lehren der Priesterlosen Duldung üben? Jedenfalls Hessen sich die Bespopowzy schwerer mit Vernunft und Civilisation in Einklang bringen als die hierarchischen Altgläubigen. Das eine ihrer beiden Grundprincipien, die Abschaffung des Priesteramtes und der Sakramente, musste sie bezüglich der Ehe zu unsittlichen Consequenzen, das andere, der Glaube an die Herrschaft des Antichrists, zu revolutionären, anarchistischen Schlüssen führen. Lieber die Interpretation und die Anwendung dieser beiden Punkte haben sich die „Uferbewohner des Meeres", die Theodosianer und die „Philippowzy" veruneinigt. Von ihrer Art das eine und das andere dieser Dogmen aufzufassen, von ihren Lehren über Ehe und Familie einerseits, und über die Rechte der Civilgewalt andererseits, muss die Haltung des Staates gegenüber den Bespopowzy abhängen. Werden Häretiker, welche offen predigen, dass Russland seit dem Patriarchen Nikon und dem Zaren Alexis der Herrschaft des Teufels verfallen sei, dem Staatsoberhaupt Unterwürfigkeit, den Gesetzen Gehorsam zollen? Kann man von solchen Leuten etwas anderes erwarten, als offenen Aufruhr oder im Verborgenen gährende Widersetzlichkeit? So von den extremen Sekten der Philippowzy, die keinen anderen Zaren als den Zaren des Himmels anerkennen und keine andere Hierarchie, als diejenige der Engel, und die sich lebendig verbrannten, um den Dienern des Satans zu entgehen; so von den Stranniki, den „Herumirrenden'1, die, um keine Gemeinschaft mit der Regierung des Antichrists zu haben, noch heute jedes Band, das sie mit der bürgerlichen Gesellschaft verbündet, brechen. Diese Unsinnigen haben die Logik des Raskol tür sich; aber in den Religionen ist der Triumph der Logik kein ewiger. Der Aera der Extravaganten, der Fanatiker, folgt die Aera der Politiker und der Gemässigten; den starren Dogmen, die mildernden Compromisse und die abschwächenden Auslegungen. Da die Posaune des Engels immer noch nicht erschallen wollte, und da sich der Weltenrichter keineswegs beeilte, auf den Wolken herabzufahren, so musste man sich in dieser verderbten Welt so gut einrichten, wie es eben gehen wollte. Man be- gann — wie im Abendlande nach dem Jahre Eintausend — wieder aufzuleben und suchte der Offenbarung Johannis und den Kirchenlehrern einen neuen Sinn unterzuschieben. Klein ist heute die Zahl der Raskolniks, die im Herrscher die leibhaftige Incarnation, oder doch wenigstens den Statthalter des Satans erblicken. Die einen erklären das Reich des Antichrists bestehe nur im Geist, die anderen warten, bis er sich in fühlbarerer Weise kundthue; alle aber gehorchen ruhig den Gesetzen, ohne sich um den Ursprung derselben weiter zu kümmern. Diese Leute, die da behaupten, dass die Erde der Herrschaft der Hölle verfallen sei, sind oft ebenso gute Bürger und Unterthanen, wie ihre Landsleute, die direkt unter dem väterlichen Scepter Gottes zu leben vermeinen. Da .jedoch eine grosse Zahl der Raskolniks immerhin, bald offener, bald versteckter, rebellische Lehren aufstellt, so fühlte sich die kaiserliche Regierung, als sie ihre Strenge gegen das Schisma zu mildern begann, natürlicherweise gezwungen, von allen Dissidentengemeinden ein äusseres Zeichen der Unterwerfung zu fordern. Sie verlangte ein solches Huldigungszeichen vom Gottesdienst selber, gleichsam um sicherer zu gehen, dass die Lehren der Sekte nichts Aufrührerisches enthielten. Man verlangte also von den Altgläubigen, wie von der Staatskirche, die officiellen Gebete für den Kaiser; oder, genauer gesagt, wenn allzubedenkliche Vertheidiger der liturgischen Ueberlieferung diese Gebete ausliessen, so wurde dies als Widersetzlichkeit gegen die Staatsgewalt angesehen. Es musste dem Ohr des Russen umso-mehr aulfallen, wenn die Gebete für den Herrscher wegblieben, als gerade diese im Gottesdienst der Staatskirche einen hervorragenden Platz einnehmen. Es handelt sich nicht um ein einfaches .,Domine salvum fac regem oder imperatorem", sondern um eine lange Litanei, in welcher die einzelnen Glieder der kaiserlichen Familie nacheinander aufgezählt werden, und die von den Diakonen mit schöner Bassstimme und ganz besonderer Feierlichkeit recitirt zu werden pflegt. Diese Ektenien ') der russischen Liturgie galten weniger dem bürgerlichen Staatsoberhaupt als dem Beschützer der Kirche, dem Vertheidiger des wTahren Glaubens. Nun weigerten sich die Dissidenten aber die byzantinischen Formeln „allerfrömmster, aller-christlichster Kaiser, rechtgläubiger Fürst etc." auf einen Herrscher anzuwenden, der, nach ihrer Ansicht, der Irrlehre verfallen war. Diese Bitte für den Kaiser bildete im achtzehnten Jahrhundert einen der hauptsächlichsten Trennungsgründe des Pomorzy und der 1) Anna. d. Uebers. Ektenie, Wechselgesang, Responsorium. Theodosianer. Kstere hatten vernommen, dass die Kaiserin Anna ihre am Wyg gelegenen Colonieen inspiciren lassen wolle und impro-visirten desshalb eine Liturgie für den Herrscher; um dieser Conces-sion willen wurden sie von den Theodosianern der Apostarie beschuldigt. Doch waren selbst den Pomorzy Bedenken gegen diese Sache aufgestossen; so wollten sie nur für den ,.Zaren", keineswegs aber für den „Kaiser" beten; da sich, nach den Lehren der meisten Baskolniks, unter letzterem Titel der Antichrist verbirgt. Wenn sich auch viele Raskolniks. sogar Pomorzy, hartnäckig weigern, für den Kaiser zu beten, indem sie behaupten, wenn man nach dem Rituale von Gott für die Herrschaft seiner Gegner den Sieg erflehe, so heisse das ebensoviel, als wolle man den Untergang des alten Glaubens erbeten, so weigern sich doch die meisten Priesterlosen keineswegs, der Staatsgewalt andere Beweise ihrer Unterwürfigkeit zu geben. In den verstocktesten Gemeinden dieser äussersten Linken des Schismas haben schliesslich Vernunft und Versöhnlichkeit die Oberhand gewonnen. Man hat die Theodosianer von Preobraschenski, wie die Altgläubigen von Rogoschski, dem Kaiser Alexander II. Unterwüriig-keitsadressen und seinen Kindern Hochzeitsgeschenke senden sehen. Die öffentliche Toleranz muss nun das Uebrige thun; jedenfalls aber werden fremde oder einheimische Feinde der russischen Regierung bei der Bespopowstschina oder der Popowstschina ebensowenig Unterstützung linden, als, beispielsweise, die Feinde Frankreichs bei den fra n zösischen I * rot ostanten. Zwischen den Priesterlosen und dem Staate, oder, besser gesagt, zwischen den Priesterlosen und der Gesellst halt, bleiben indessen die Begriffe Ehe und Familie noch als offene Fragen bestehen. Für die Bespopowstschina, die das Priesteramt verwirft, giebt es kein Sakrament der Ehe mehr. Dies ist der gemeinsame Punkt aller ihrer Congregationen und zugleich der hauptsächlichste Gegenstand ihrer Meinungsverschiedenheiten. Muss das Verschwinden des Sakramentes nothwendigerweise und unbedingt die Aufhebung der Ehe, ein uligemeines Cölibat zur Folge haben? oder gestatten die Gnade Gottes und die Interessen menschlichen Gesellschaft, der das verloren gegangene Sakrament zu ersetzen? Ueber dieses Hauptproblem haben die verschiedenartigsten Ansichten bestanden und Anhänger gefunden. Die Gemässigteren haben das Eheband beibehalten oder wiederhergestellt. Die Ehe, sagen sie, ist nicht nur ein Sakrament, sondern auch eine, für die Gesellschaft zur Fortpflanzung der Art, und rar das schwache Fleisch zur Verhütung von Ausschweifungen, unerläss- lieh nothwendige, bürgerliche Vereinigung.l) Da sie bei ihren Hochzeiten den Segen des Priesters entbehren müssen, so begnügen sie sich mit dem Segen der Eltern, oder sie lassen das Kreuz und das Evangelium in Gegenwart der Familie küssen, was bei den Russen die stärkste Eidesformel ist. Nach anderen — z. B. einigen Pomorzy, besteht die Wesenheit der Ehe, da das Sakrament abgeschafft ist, allein und einzig in der gegenseitigen Uebereinstimmung der Ehegatten, und das eheliche Leben gilt nur so lange für rechtlich oder legitim, als diese Uebereinstimmung besteht. Die Liebe, sagen einige, ist göttlicher Natur: nur die Einigkeit der Herzen kann über die Einigkeit der Leiber entscheiden. Man ist erstaunt bei bäurischen Sektirern die rafünirtesten Theorieen einiger unserer Romanciers über das göttliche Recht der Liebe und die Abhängigkeit der Ehe vom individuellen Fühlen wiederzufinden. Manche dieser Mushik haben in ihren bescheidenen Isbas die aufregenden Utopien von Jean-Jacquefi und der George Sand praktisch erprobt. Gar manche Dorfbaba1; hat wie die Heloise des Abälard, den Titel der Gattin verschmäht, weil sie es süsser fand, Alles nur allein der Liebe zu verdanken. Unter dem Namen des Ehebandes verwerfen die meisten dieser ßesbratschniks (Ehelosen) die unauflösliche, untrennbare Ehe. Unter sohönklingenden theologischen Vorwänden schütteln Viele recht gern ein Joch ab, das ihnen nur als eine gesellschaftliche Convention erscheint. Gleich einigen sogenannten Philosophen, scheinen diese Krämer und Bauern die alte christliche Ehe als eine längst veraltete Einrichtung zu betrachten. Sie sinnen auf Mittel, wie sie an Stelle dieses tyrannischen Contractes, dem sich weder Mann, noch Weib nach Belieben entziehen kann, eine der menschlichen Natur angemessenere Vereinigung setzen könnten. So geschah es denn, dass einzelne Russen, die sich selber schon längst von jedem traditionellen Glauben frei fühlen, diese unwissenden „Ehelosen" (ßesbratschniks), als die Vorläufer der Zukunft; und die Pioniere des socialen Fortschritts priesen. Unter den Frauen der guten Gesellschaft fand ich manche, die ihre Schwestern aus dem Volke, um dieser edlen Initiative willen, beneideten. Mancher gebildete Russe, der die Vorliebe für „fortschrittliche Ideen" mit seinesgleichen theilt, ist geneigt, diese radicalen Schismatiker zu loben, weil sie die schweren Ehe- x) K. Nadeschdin, Spory bespopowzeff . . . o brake (Dispute der Bespopowstschina .... über die Ehe) Wladimir 1S77. — J. Nilsk, Semeinaja Schisn w russkom raskole (Familienleben im russischen Haskol). 2) Anmerk. d. Uebers. baba, Weib, altes Weib, Mütterchen. ketten durch leichtere, der menschlichen Schwäche angemessenere Hände ersetzen wollen. Man weiss ihnen Dank, dass sie die Gleichberechtigung der Geschlechter und die Emancipation der Frau, die dadurch von der häuslichen Sclaverei befreit wird, zur That zu machen suchen; man bewundert sie, ja es fehlt nicht viel daran, dass man eigentlich stolz auf sie ist. „Ich glaube nicht, dass eure normannischen oder burgundischen Bauern etwas so Kühnes wagen würden," sagte mir ein Student aus Moskau. Thatsache ist, dass die an den direct entgegengesetzten Grenzen des russischen Denkens und Fühlens stehenden, altgläubigen Besbratschniks und die modernen Revolutionäre über die Ehe ähnliche Ansichten vertreten; so berühren sich praktischer Radioalismus und theoretische Negation. So haben einige dieser, in den alten Büchern belesenen Priesterlosen schon zum Voraus das Ideal zur That gemacht, das „der Mann der Zukunft" in „Was thun?"1) von Tschernyschewski der Jugend vorgehalten. Einige von diesen Anhängern des alten Kreuzeszeichens gehen in ihrem Fortschrittseifer so weit, dass sie sogar die Kinder der Gemeinde zur Last fallen und auf allgemeine Kosten, in besonderen Anstalten, erziehen lassen. Die freie Liebe ist schliesslich das Endziel der meisten „Ehelosen". Unter dem Deckmantel der religiösen Vorurtheile vollzieht sich in den tiefen Schichten dieses Volkes ein merkwürdiges K\-periment. In den Dörfern, wo das Herkommen die Erbtheilungen regelt, wo der „Mir" nach seinem Gutdünken das Land unter seine Mitglieder vertheilt, können die „Ehelosen" eine der wichtigsten, dieser Art des Zusammenlebens anhaftenden Schwierigkeiten, nämlich diejenige, die aus der Illegimität der Kinder entspringt, leichter umgehen. Bei den Mushik, wo der Mann nicht ohne das Weib leben kann, weil beide sich zu einer wirtschaftlichen Einheit ergänzen müssen, braucht die Aufhebung der gesetzlichen Ehe nicht notwendigerweise die Zerstörung der Familie nach sich zu ziehen. Diese *) Deutsch im Verlag von Brockhaus (Anm. des Uebers.). -) Anm. des Gebers. .Nikolai (fawrilowitsch Tschernyschewski that sich hauptsächlich auf nationalöconomischem und kirchlichem Gebiete hervor; wegen seiner radicalen Ansichten und seiner einflussreichen Stimme (in den fünfziger Jahren besonders als Redakteur der Zeitschrift „Zeitgenosse") wurde er oft der russische Robespierre genannt. Der oben genannte Roman wurde (1862—GiJ) in der Gefangenschaft geschrieben Er machte in Russland ungeheure Sensation und war lange Zeit das Evangelium des Jungrusscnthuins. Vergl. Alexander von Reinholdt, Geschichte der russ. Lit. (Leipzig, W. Friedrich.) S. 672, 67;5, 717. kann, wenn auch in lockerer Form, weiter bestehen. Doch wissen die „Ehelosen" solche, dem jederzeitigen Widerruf unterworfenen und nur auf dem freien Willen der Contrahenteu beruhenden Verhältnisse stellenweise mit Formen zu umgeben, die ihre Würde erhöhen und gewissennassen auch für dauernden Bestand derselben Gewähr leisten können. Solche äussere Formen bestehen z. B. in der Einwilligung der Angehörigen und in Öffentlicher Bekanntmachung. In einzelnen Gegenden durchwandern die Paare, die öffentlich bekannt geben wollen, dass sie sich zur Gründung eines Hausstandes zusammengefunden haben, die Messen und Märkte, wobei sie sich an der Hand oder an einem Taschentuch führen, als ob sie sagen wollten: „Seht her, wir sind nun eins!" Stellenweise sind auch bei Gelegenheit des Bruches oder der Scheidung gewisse Formen gebräuchlich. Man trennt sich in Gegenwart der Verwandten und Freunde, indem man sich gegenseitig nach russischer Sitte unzählige Verbeugungen macht« Solche Haushaltungen, die eine Laune zerstören kann, sind, wie es scheint, dennoch oft von Dauer und es herrscht darin eine schöne Eintracht, gerade als ob Ehegatten, die sich jeden Augenblick trennen können, um so mehr Geduld mit einander hätten, um so mehr Anhänglichkeit für einander empfanden, als ob in einem Bündnisse, das jederzeit leicht aufgehoben werden kann, um so weniger Spannung herrschte. Es scheint, dass das Falsche und Ungesunde, das solchen Verhältnissen anhaften muss, durch die Einfachheit der Sitten und den Ernst der Ueberzeugung gemildert wird. In Wirklichkeit haben aber, trotz der schönen Aussenseite, trotz allen poetischen Formeln, diese wilden Ehen bei den russischen Sektirern, wie bei den sogenannten Weltverbesserern des Abendlandes, immer ihren wunden Punkt aufzuweisen. Im Grunde läuft es doch immer auf Concubinat hinaus, mit allen seinen Illusionen und Enttäuschungen, mit allen Leiden und Zerwürfnissen, die solchen unsicheren Verhältnissen anhaften müssen. Manchmal fühlen auch die Sektirer selber die Gebrechlichkeit eines solchen Ehebundes und lassen sich, von dem Wunsche beseelt, ihr Verhältniss zu einem gesetzlichen zu erheben, besonders aber dem Drängen ihrer Weiber gehorchend, von dem Popen einsegnen, dem sie doch die Macht eines solchen Segens absprechen. Nachher thun sie dann in ihren Gemeinden für diesen Schritt Busse. Bei manchen Sekten konnte man alle Missbräuche, alle Scandalgeschichten beobachten, die in Ländern, wo die Ehescheidung leicht gemacht ist, vorzukommen pflegen. Eintagsehen wurden leichtsinnig geschlossen und auf unwürdige Weise wieder getrennt. Dies gilt besonders von den Städten, wo der Mann das Weib leichter entbehren kann und wo der Arbeiter in der Familie meistens nur eine Last erblickt. Daher kommt es, dass die Raskolniks, welche ihrer Ehrlichkeit und Massigkeit wegen, im Rufe stehen, moralischer als die übrigen Russen zu sein, im Punkte des Geschlechtsumgangs für unmoralischer gelten. Und das ist nicht immer ohne Grund; geben sich doch viele dieser Eheverächter ganz offen dem ungebundensten Leben hin und nennen die freie Vereinigung zwischen Mann und Weib heilige, christliche Bruderliebe. Selbst auf den Lande sollen, wie man behauptet, Väter ihre eigenen Töchter zu schamlosen Ausschweifungen ermuthigt, sie zu dem von ihnen zu erwartenden Arbeiternachwuchs beglückwünscht und ihnen Alles erlaubt haben, mit alleiniger Ausnahme der Ehe. Manche dieser Anhänger des alten Glaubens sind — wie an andern Orten weltliche Moralisten — dahin gelangt, alles was auf den Geschlechtsverkehr Bezug hat, als ausser der Moral stehend zu betrachten. Wahrscheinlich bilden aber wilde Ehen für die menschliche Gesellschaft einen weit geringeren Uebelstand, als jene Grundsätze, welche die strengsten Sekten, die bis zu den letzten Consequenzen des Schismas gehen wollen, aufstellen. In den Augen mancher Gemeinden der Priesterlosen ist überhaupt jeder Verkehr zwischen Mann und Weib unerlaubt, da das verlorene Ehesakrament in keiner Weise Umgangen oder ersetzt werden kann. Iwan Turgenieff sagte mir einst, es scheine ihm, dass bei vielen Sektirern die theologischen Vorurtheile durch solche asketischen Ideen nur noch zäher und fester sich einwurzelten. Jede geschlechtliche Berührung erscheint ihnen als eine Verunreinigung, und die Ehe, die solches heiligt, als ein Greuel. Wenn sie Ausschweifungen für verzeihlicher .halten als die Ehe, so geschieht es deshalb, weil ernstliche Busse den Sünder aus den Banden der ersteren erretten kann, letztere aber den Menschen auf ewig an die Sünde kettet. Die Theodosianer drücken diese Lehre in einer, durch die kurz und bündige Sprache um so unzweideutigeren Formel aus: schenatji rasschenis, ne schenatji ne schenis! Ehemann, lass dich scheiden — Junggeselle, heirathe nicht! Den Ledigen wurde die Heirath, den Vermählten das eheliche Leben untersagt. „Der Jüngling soll sich kein Weib nehmen, und der Ehemann seiner Gattin nicht beiwohnen;" — so heisst es in einer Art von gereimtem Katechismus — „die Jungfrau soll nicht heirathen und die Ehefrau keine Kinder zur Welt bringen." Eheleute, die dieser Vorschrift zuwider Nachkommenschaft erzielten, wurden aus der Gemeinde ausgestossen, oder L er o y-B o a u 1 ie u , Ruich d, Zaren u, d. Russen. 27 sie mussten sich dernüth ig enden Bussübungen unterziehen. Sektirer, welche nicht die Kraft* besassen, solchen Grundsätzen treu zu bleiben, geriethen in Versuchung, die Früchte ihrer Schwachheit verschwinden zu lassen. Kindsmord ist ein Verbrechen, dessen die Laienmönche von Preobraschenski oft beschuldigt wurden. Man behauptet, dass man in einem in der Nachbarschaft ihres Friedhofes gelegenen Teiche eine Anzahl Kinderleichen gefunden habe.1) Um ihre Glaubensgenossen von solchen Versuchungen zu befreien, gründeten die Theodosianer in Moskau und in Riga grosse Waisenhäuser. Andere dieser Fanatiker büssten, wie man sagt, ihren Fehltritt dadurch ab, dass sie die Frucht ihrer Sünde lebendig begruben. Wenn es die Theodosianer auch stets in Abrede stellten, so bildeten solche Verbrechen doch nur eigentlich die indirecte Consequenz ihrer Lehren. In einem ihrer, als Manuscript vorhandenen Gedichte heisst es : „Die menschliche Seele kommt bei der Zeugung eines Kindes nicht mehr von Gott, dem Schöpfer, sondern vom Teufel." Eine durch Gewerbefleiss und Reichthum mächtig gewordene Gesellschaft kennte nicht bei solchen Ansichten beharren. Einzelne Gemeinden, wie die Moninzy, trennten sich vom Friedhof von Breo-braschenski und führten die Ehe wieder ein. Noch zahlreichere suchten die Annehmlichkeiten der Häuslichkeit beizubehalten, ohne desshalb in ihrer Sekte den Titel eines „Ehelosen" zu verlieren. Die Männer, die sich zu einem solchen traurigen Compromiss hergaben, lebten mit einer Frau, die sie im Hause als Gattin behandelten und deren Kinder sie als ihre eigenen legitimen Nachkommen erzogen. Diesen schmachvollen Wiederherstellern der Ehe gehen die strengen Theodosianer den Namen: Novoscheny, d. h. „Neuvermählte". Die strengen Anhänger des Cölibats und die Vertheidiger der freien Liebe schlössen diesen schwächlichen Novoscheny die Thören ihrer Betsäle und weigerten sich sogar, mit ihnen zu trinken. Doch l) l.ivanow führt in Raskolniki i Ostroschniki I. S. 129 ein dahinzielendes Epigramm an, das sich etwa so übersetzen Hesse: Der grimme König Pharao Erschlug gar viele Kinder, Herodes macht es ebenso — Das waren kleine Sünder: Sie Hessen die Mädel am Leben, — Betrachtet uns daneben: Wir mordeten und begruben Die .Mädel lammt den Buben. konnte diese Strenge nicht immer andauern, es folgte eine Annäherung zwischen den beiden Parteien. Selbst bei den unerbittlichsten Theodosianern zeigt sich eine Wendung gegen den Asketismus und zu Gunsten der Natur und des Familienlebens. Wie die meisten „Ehelosen" verstehen sie unter Cölibat nur das Verbot, eine bürgerliche Ehe einzugehen, fordern aber keineswegs geschlechtliche Enthaltsamkeit. Enter diesen Leuten, die dem Anschein nach ganz Russland in ein immenses Kloster verwandeln wollen, hat die Reaction schon solche Fortschritte gemacht, dass die moskowitisehen Theodosianer vor ein paar Jahren so weit gegangen sind, auch das Mönchswesen aufzuheben, wie das Priesterthum, indem sie sagen, wo es keine Priester gebe, da könnten auch keine Mönche sein und keine Einsegnungen solcher stattfinden.1) Infolge dieses neuen Princips haben verschiedene ihrer angesehensten Mönche, wie Pater Joasaph und Pater Joanniky, die Kutte abgelegt, um sich eine Haushälterin, oder, wie es im Jargon der Sekte heisst, eine „Köchin (striapucha)", zu nehmen ; denn mit diesem durch und durch praktischen Ausdruck bezeichnet der Theodosianer das weibliehe Wesen, das ihm die Gattin ersetzen muss. Nach diesem Namen zu schliessen, scheint es, dass die Frau bei den Lehren der „Ehelosen" wenig gewonnen hat. Dasselbe gilt von den Kindern, die immer die grosse Schwierigkeit jedes solchen Systems ausmachen. Gegen diesen Uebelstand haben die Besbratsch-niks auch kein anderes Auskunftsmittel gefunden, als Waisenhäuser, denen die Eltern ihre Nachkommenschaft anvertrauen können. So dünkt es uns, dass sie das Problem der freien oder wilden Mhe keineswegs in befriedigender Weise gelöst haben. Thatsächlich leben sie eben im Concubinat, wie viele Arbeiter unserer abendländischen Städte. Der ganze Unterschied liegt darin, dass sich trotz allen Verirrungen des Sektengeistes, doch die meisten dieser „Ehelosen" einen religiösen Glauben und eine positive Moral bewahrt haben, und dies verleiht diesen lockeren Verhältnissen, wenn auch nicht absolute Garantie, so doch wenigstens mehr Ehrbarkeit und gewisser-massen auch Aussicht auf Frieden und Dauer. Wenn die Utopie einer freien, des gesetzlichen Bandes entbehrenden Familie ungestraft in unseren Sitten Boden fassen könnte, so würde dies mitunter dem Schutze religiöser Anschauungen möglich sein. Am Herde des Gläubigen wohnt Gott und schützt, als unsichtbarer Zeuge aller Handlungen, das Weib und das Kind des Weibes. J) Jusow, Russkiie Dssidenty S. 100, 101. In den Ehe- und Familienleben, wie in den das Reich des Antichrist und die Unterwerfung unter die Staatsgewalt betreffenden Fragen, ist die Bespopowstschina milder, man möchte fast sagen, zahmer geworden. Ihre Ausschreitungen hat sie mit Leuten gemein, die nichts mit dem alten Glauben zu schaffen haben. Der moderne Priesterlose verwirft die grausamen Lehren seiner Vorgänger; bestreitet ihre Aechtheit, oder doch die Richtigkeit der Auslegung, und wendet sich an die Presse oder an die Gerichte, um das, was er die Verleumdung der Gegner nennt, zu bekämpfen. Nicht mehr die Führer des Schismas proclamiren heute diese moralfeindlichen Maximen, seine Feinde suchen sie aus den Büchern und Manuscripten der Sekte zusammen, um sie gegen diese zu gebrauchen. Mögen nun die theologischen Gegner den Priesterlosen Inconsequenzen vorwerfen, — mehr als ein Kult verdankt seine Fortdauer nur solchen Inconsequenzen. Zwar ist der wilde Geist der alten Bespopowstschina noch keineswegs erloschen, aber er lebt nur noch in einigen ganz extremen Sekten, und besonders in einer der bizarrsten, derjenigen der „Herum-irrenden" oder Stranniki. Die widerlichsten Verirrungen der ersten „Priesterlosen" fanden sich noch im neunzehnten Jahrhundert bei diesen Stranniki. Diese Fanatiker, die auch unter dem Namen der „Fliehenden (beguny)" bekannt sind, nennen sich selber „Pilger". Ein Deserteur, Namens Ephitfl, der später als Mönch in einem theodosianischen Skit lebte, war ihr erster Apostel. Dieser Errantismus entstand gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts aus einem Aufleben, einem revival der Bespopowstschina. Der Glaube an das leibhaftige Reich des Satans bildet den Grundstein der Lehre dieser „Herumirrer". Der „Irrende" verwirft alle Concessionen, alle Inconsequenzen der modernen Priesterlosen als Apostasie und weist in seiner Unstern Lehre jeden Compromiss von der Hand. Er bricht mit den Repräsentanten des Teufels, d. h. mit Staat und Behörden jeden Verkehr ab. Nach Art der alten Propheten zieht er sich in die Einsamkeit zurück, vergräbt sich in die Wälder, wohin die Diener des Antichrists noch nicht vorgedrungen sind. Vorzüglich aber flieht er die Städte, diese verfluchten Bab3?lons, wo die Minister des Höllenfürsten residiren. Der Wahlspruch des Strannik ist das Wort der Schrift: „Wer Vater oder Mutter mehr liebet, denn mich, der ist mein nicht werth. Und wer Sohn oder Tochter mehr liebet, denn mich, der ist mein nicht werth. Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folget mir nach, ist mein nicht werth. (Matth. 10, 37. 38).u In seinem acht moskowitisehen, dem Raskol ureigenthümlichen Realismus nimmt er diese Stelle wörtlich, verlässt Haus und Hof und sucht darin seine Frömmigkeit, dass er keine Heimstätte auf Erden sein eigen nennt. Man muss gestehen, dass diese eigenthümliche Sekte in Russland weniger absonderlich erscheint als anderswo. Sie ist acht russisch und scheint aus der Natur des Landes und den Neigungen des Volkes hervorgegangen zu sein. Der Geschmack des Mushik für herumschweifende Lebensweise ist bekannt, er wurde oft als ein nomadischer Instinkt bezeichnet; die Unendlichkeit des russischen Landes, der niedrige und weite Horizont seiner heimathlichen Ebenen scheint zu unendlichen Wanderungen einzuladen. Aus der Tiefe der Wälder rufen geheimnissvoll lockende Stimmen; der Wald, wie das Meer, hat seine Sirenen. In wenig Ländern fühlt sich der Mensch so stark versucht, die feste Wohnstätte, das enge Gefängniss des bürgerlichen Lebens aufzugeben, um dafür ein wildes, dem ursprünglichen Naturzustand verwandtes Dasein einzutauschen. Ist es erstaunlich, wenn sich in einem solchen Lande bäurische Lehrer fanden, die das sesshafte Leben verdammten und das Vagabundenthum als Ideal der Heiligkeit hinstellten? Wo fühlte sich der Mensch Gott näher als in der Einsamkeit des Waldes oder unter dem freien Himmelsdome V Man hat die Beobachtung gemacht, dass der Errantismus seine meisten Anhänger in der Region der Waldungen und in den nördlichen Gouvernements findet, wo herumziehende Beschäftigungen von jeher im Schwange waren, wo viele Bauern ihre Isbas und Familien verlassen und die Hälfte des Jahres fern vun ihren Dörfern zubringen, um in fruchtbareren Gegenden Arbeit zu suchen. Die localen Gewohnheiten haben der Fropaganda des Strannik vorgearbeitet. So befindet sich der Herd des Errantismus im Gouvernement Jaroslaw und den angrenzenden Gebieten.1) Der Strannik sucht sein Heil einzig in Einsamkeit und Welt-Bucht. Er verlässt Haus, Weib und Kind, und die Gemeinde, wo er gesetzlich eingetragen ist; denn er will weder Familie noch Heimath besitzen. Als Zeichen ihres Bruches mit der Gesellschaft verwerfen die „Pilger- Pässe und jedes ähnliche Schriftstück, das ihre Identität nachweisen könnte; dies ist die erste Bedingung zur Auf- J) Angeführt zu werden verdient, dass in diesem Gouvernement die Bevölkerung zugleich am meisten Belesenheit besitzt, dass ferner sich hier die meisten-Sektirer — besonders Bespopowzy — finden, und dass hier die Sitten am lockersten sind. Unter vier unverheiratheten Mädchen ist je eine Mutter. Siehe Besobrasow, Etudes sur l'öcononne nationale de la Russie II (1886). nähme unter die „wahren Christen". An Stelle eines Reisepasses führt der „Irrende" Schriften, welche die Grundsätze der Sekte enthalten, oder auch nur ein mit einer Aufschrift wie: „Dies ist der wahre, in Jerusalem visirte Pass" versehenes Kreuz bei sich. Es giebt Herumirrende beider Geschlechter. Sie leben in einer Art von Socialisnius, leugnen alle gesellschaftlichen Rangunterschiede und sehen alle Menschen als gleich an. Sich selber betrachten sie als Mönche und nennen sich Brüder und Schwestern. Wie die strengsten Bespopowzy verwerfen sie die Ehe, die sie nur für einen Deckmantel der Sünde halten. Unerlaubte Verhältnisse ziehen sie dem ehelichen Leben vor, unter dem Vorwand, dass der Verheirathete sich auf ewig der Sünde ergebe, während bei den Unverheiratheten die Schwachheit des Fleisches im missbilligenden Urtheil der Leute ihre Strafe und Reinigung linde. Einige unter ihnen leben in eigentlicher Polygamie, indem sie in verschiedenen Ortschaften Maitressen haben; andere wieder schleppen Weiber mit sich herum, die ihr Nomadenleben theilen.1) Wenn sie ohne Existenzmittel sind, kommt es den „Irrenden" manchmal auch auf einen Diebstahl nicht an; sie entschuldigen sich in diesem Falle damit, dass die Welt dem Gesetze des Teufels verfallen und daher jedes der Gesellschaft zugefügte Unrecht nur ein Protest gegen die Herrschaft der Hölle sei.2) Eine solche Lehre kann natürlich nicht von jedem verlangen, dass er sich mit einem Male voll und ganz ihren Grundsätzen unterwerfe. Wie alle Sekten, deren Deumen der Natur Gewalt anthun, mussten sich auch die Stranniki in zwei Classen. in zwei Rangordnungen scheiden. So hatten unsere Albigenser — die ebenfalls an das Reich des Satans glaubten, die Ehe verboten und die Kirche als eine teuflische Einrichtung verwarfen — zwei Grade der Aufnahme: sie unterschieden die „Vollkommenen", die sich den Waldensergesetzen in ihrer ganzen Strenge unterwarfen, und die einfachen „Gläubigen", die auf gewöhnliche Weise leben durften, unter der Bedingung, dass sie mit den „Vollkommenen" in stetem Verkehr blieben.3) Die Stranniki besitzen eine ähnliche Organisation. Sie zerfallen in zwei Kategorien, die eigentlichen „Irrenden", die „Pilger" oder „Waller", welche ein un-stätes Leben führen und die „Sesshaften" oder „Weltlichen", diese ') Anm. d. Uebers. Ein interessantes Bild eines solchen Stranuik-Paares giebt uns Iwan Turgenjefl" in einer kleinen „Lukerja" betitelten Novelle. I »rutsch in Reclam's Universalbibl. Bd. 186Q, 2) Sapiska o strannitscheskoi eresi, Sbornik II S. .*>ü u. s. f. 8) S. Alb. Reville, les Albigeois (Revue des Deux Mondes, 1. Mai 1H74). bleiben in der Welt, zahlen Abgaben und besuchen nöthigenfalls sogar die Kirche. Die Aufgabe dieser letzteren ist es, ihren weiter fortgeschrittenen Brüdern Obdach zu geben; darum erhielten sie den Namen „Herberger" oder „Gastfreunde", Strannoprjimzy. Die eine Classe stellt die Eingeweihten der Sekte, die Profess gethan haben, die andere die Katechumen oder Novizen dar. Nur die ersteren erhalten die Taufe als „Irrende". Diese Taufe wird Nachts an abgelegenen Orten vollzogen und verpflichtet diejenigen, welche sie empfangen haben, das Leben der Heiligen, das heisst ein Pilgerleben zu führen. In ihrem Abscheu vor der menschlichen Gesellschaft und der äusseren Natur, die sie beide als von Gott verflucht ansehen, darf bei einigen Stranniki nur mit dem vom Himmel stammenden Wasser des Regens oder mit demjenigen ganz entlegener Sumpftümpel getauft werden; sie behaupten nämlich, dass die Flüsse und Bäche von den Anhängern des Antichrists verunreinigt seien. Jeder dieser Pilger, ob Mann ob Weib, besitzt seinen Napf, seinen hölzernen Löffel und sein metallenes Heiligenbildchen; sie beten und essen nicht mit den Profanen, nicht einmal mit den Brüdern, die ihnen Obdach gewahren. Sie haben weder Kirchen noch Capellen, sondern halten ihren Gottesdienst in heimlichen Verstecken, oder noch öfter in den Wäldern, vor Heiligenbildern, die sie an den Bäumen aufhängen. Den Herberggebern gestattet man, um ihrer Schwachheit willen, den Eintritt in das „vollkommene" Leben aufzuschieben, ähnlich wie in den ersten Jahrhunderten die Proseh/ten des christlichen Glaubens die Taufe bis kurz vor ihrem Ende aufschoben. Uebrigens ist dies für die Herberggeber nur eine Frist; bevor sie von dieser Erde scheiden, müssen sie sich noch als „wahre Christen" bekennen und Heimath, Weib und Kind verlassen. Wenn sie von einer schweren Krankheit befallen, das Ende herannahen fühlen, so lassen sie sich in den Wald, in die öde Heide oder doch wenigstens in ein fremdes Haus tragen, um daselbst die Taufe zu empfangen und als Pilger, als „Irrende" zu sterben. Während ihres weltlichen Lebens besitzen die Hehler in ihren Isba's oft gut versteckte Schlupfwinkel, worin sich die vorbciwallenden „Irrenden" bergen können. Ihre Hütten sind darauf eingerichtet, die Nachforschungen der Polizei zu erschweren, und haben mehrere Thören und Ausgänge. Beide Classen haben bestimmte Erkennungzeichen. Manchmal giebt der Herberggeber dem Pilger Obdach, ohne ihn zu befragen, ohne mit ihm zu sprechen, ja fast ohne ihn zu sehen. Dank diesen Helfershelfern können diese TJnthätigkeitsapostel ungeheuere Strecken durchwandern und auf ihren Wegen Weltentsagung predigen; sie finden überall ein sicheres Obdach und führen manchmal im Schutze ihres Fanatismus ein ganz beilagliches Leben. Die Frömmigkeit der Hebler gewährt ihnen ein so reichliches Auskommen, dass öfter Charlatane und alte Sträflinge, um von dieser Gastfreundschaft Nutzen zu ziehen, sich dem Leben der fahrenden Propheten widmen.') Unter der Regierung des Kaisers Nikolaus stand der Errantismus in der höchsten Blüthe. Die Verfolgungen brachten ihn nur noch mehr in Schwang. Der Strannik recrutirte sich aus entlaufenen Leibeigenen, aus Sibirien entsprungenen Sträflingen und Deserteuren; denn damals dauerte der Militärdienst über zwanzig Jahre und kam dem bürgerlichen Tode gleich. Die Sekte verbreitete sich in Kasernen und Gefängnissen; sie fand Neophyten und Missionäre unter jener zahlreichen Klasse von Brodiaschi, d. h. von Landstreichern, die keinen Pass besitzen und von der Polizei bis aufs Blut verfolgt werden. Gerade in diesem äussersten Zweige des Bespopowstschina zeigt sich der Raskol recht eigentlich als ein Widerstand des Volkes gegen die Plackereien der Staatsgewalt, gegen den langen Militairdienst, gegen den deutschen Bureaukratismus und die Leibeigenschaft. In einigen Gouvernements des Nord-Ostens wurden jährlich hunderte solcher „Irrenden" arretirt. Da entspannen sich denn zwischen ihnen und der Polizei Gespräche folgender Art. -) „Hast du einen Reise-pass"? — „Ja". Darauf präsentirte der Pilger einen Wisch, der in einem wahrhaft apokalyptischen Jargon abgefasst war und Stellen wie diese enthielt: „Der dich aber verfolgt, bereitet sich einen Platz in der Hölle". „Woher hast du diesen Pass?" fragte der Beamte. — „Er kommt vom König des Himmels, dem allmächtigen Beherrscher des Weltalls", antwortete der Pilger. — „Hast du keinen gesetzlichen Pass"? — „Nein". — „Warum nicht"? — „Weil diese von der Polizei ausgestellten Papiere das Siegel des Antichrists tragen". (Darunter verstehen die Stranniki das kaiserliche Wappen). — „Du willst wühl ins Gefängniss wandern"? fuhr der Verhörende fort. — „Ich bin alles zu dulden bereit, Qualen schrecken mich nicht. Ich fürchte weder die wilden Thiere noch die Diener des Teufels". Und so ging es weiter. Unbewusst ahmte der Strannik vor dem Isprawnik die Redeweise der ersten vor den Proconsul geschleppten Christen nach, wie sie in den Acta martyrorum verzeichnet stehen. Je mehr solcher Unsinnigen man verurtheilte, umsomehr tauchten auf; für viele war l) Das herumirrende Russland, Vagabunden und Diener Christi: Otetschest-wennijia Sapiski, Juli 1876. a) Livanow, Raskolniks i Ostroschniki I, 6, 7. sogar die Verfolgung ein besonderer Anziehungspunkt dieser finstern Lehre. Auch heutzutage ist der Errantismus noch nicht erstorben. Hie und da hört man noch von dem Durchzug eines seiner Propheten sprechen. So predigte gegen Ende der Regierung Alexanders IL ein gewisser Nikonow — er war, wie der Gründer der Sekte, ein ehemaliger Deserteur — den Bauern des Gouvernements Olonez das Evangelium der Landstreicherei. Die Polizei verhaftete ihn im Jahre 1878. Schon zweimal hatte sie diesen Apostel des Vagabundenthums in ihrer Gewalt gehabt, aber das erste Mal entfloh er und das andere Mal befreiten ihn die Mushiks der Umgegend. Um ihn endlich in seinem Schlupfwinkel zu fangen, musste man die Zeit abpassen, wo die Bauern alle bei ihrer Arbeit auf dem Felde waren. Heute kommt es selten mehr so weit. Wenn der Errantismus auch immer noch Lebenszeichen von sich giebt, so scheint es doch, dass auch er sich umzuwandeln beginnt. Selbst der wilde Pilger, der bis dahin alle Verirrungen des zur Bespopowstschina gehörenden Besessenen in sich vereinigte, fängt an menschlicher zu werden. Die Ansichten dieser Intransigenten des Schismas haben sich sonderbar geändert. Manche ihrer Apostel neigen sich, wie man behauptet, einer Art rationalistischem Mysticismus zu. Sie verwandeln die Dogmen der Schrift in Allegorien und verwerfen die Feste und Pasten mit sammt dem ganzen äusserlichen Kult. Dieses Beispiel ist in der Geschichte des Ilaskol keineswegs alleinstehend. Diese Art von Schwenkung der äussersten Linken der Altgläubigen zeigt sich bei einer oder zwei anderen Sekten noch deutlicher. Die Sache ist werth, dass man sie beachtet. — Von den aus dem Schisma des siebenzehnten Jahrhunderts hervorgegangenen Ketzereien erwähnen wir noch die „Stummen", die „Verneiner" und die ,,Nichtbeter". Die Stummen oder Schweigenden, Moltsohalniki, werden schon frühe in Bessarabien, an der untern Wolga und in Sibirien erwähnt. Von dieser Sekte weiss man, wie leicht begreiflich, nur wenig. Schweigsamkeit ist für sie die erste Bedingung zur Seligkeit. Die Moltschalniki verzichten auf die Rede, indem sie vielleicht auch einige biblischen Rathschläge allzu wörtlich auffassen. Haxthausen ') erzählt, dass unter Katharina II. ein Gouverneur von Sibirien, Namens Pestel, sie vergeblich, um sie zum Reden zu zwingen, auf die Folter spannen liess. Er mochte ihnen noch so sehr die Fusssohlen peitschen und brennendes Wachs auf den Leib 1) Studien II, 346. tläufein lassen, er entriss ihnen damit kein einziges Wort. Moderne Gerichtshöfe waren kaum glücklicher. Unter Alexander II, im Jahre 1873, Hessen sich solche „Stumme" beiderlei Geschlechts von dem Gerichte in Saratow zur Deportation verurtheilen ohne mit einem einzigen Worte auf eine der ihnen vorgelegten Fragen zu antworten: sie wohnten dem ganzen Verfahren als völlig theilnahmlose Zuschauer bei. — Vielleicht sind diese „Stummen" nur eine Spielart der „Irrenden". Auch das Schweigen ist eine Manier mit der Welt zu brechen und sich von allen Lebenden abzusondern. Unter den Sektirern der unteren Wolga, die von dem Clerus mit dem Namen Montanisten bezeichnet werden, fanden sich um 1855 Leute, die Schweigsamkeit gelobt hatten und nun. in den Feldern herumirrten und Taubstumme oder Idioten zu copiren suchten.*) Die „Verneiner" sind etwas besser bekannt. Sie behaupten, dass es, seit Nikon und der Abschaffung des Priesterthums, nichts Heiliges mehr auf Erden gebe; Alles, sagen sie, ist in den Himmel getragen worden. So gelangen sie zur Verneinung jedes äusseren Kultes; sie verwerfen Ceremonien, Sakramente und Bilder und verlangen, dass sich der Gläubige direct an den Erlöser wende. Daher werden sie auch „Brüderschaft des Krlösers" genannt. Die in der Bespopowstschina schlummernden Keime der Negation können sich am freiesten bei den „Nichtbetern", den Nemoliaki, entfalten. Hier ist der Raskol am letzten Ziele seiner grossen Schwenkung angelangt, bei den Antipoden seines Ausgangspunktes. Der Gründer der „Nichtbeter" ist, wie man glaubt, ein donischer Kosak, Namens Zimin, der von den Popowz}- zu den Priesterlosen übertrat. Er war ein tapferer Soldat und mit dem St. Georgskreuz decorirt; in folge seiner Lehrthätigkeit wurde er 1837 nach dem Kaukasus spedirt. Man weiss nicht was dort aus ihm geworden. Seine Lehre beruht auf einem originellen Gedanken, auf der Vorstellung von den vier Weltaltern oder Weltjahreszeiten. Diese vier Weltalter sind: der Weltfrühling oder das „vorgottväterliche" Zeitalter, von der Schöpfung bis auf Moses; der Weltsommer oder das Zeitalter des Vaters, von Moses auf Christus; der Weltherbst oder das Zeitalter des Sohnes, von Christus bis zum Jahre 1GG6; der Weltwinter oder das Zeitalter des heiligen Geistes, das mit der nikonischen Häresie begann und bis an das Ende der Tage dauern wird. Dieser theologische Kalender leitet sich offenbar von der bei vielen Raskolniks verbreiteten Idee ab, dass das Reich des Antichrists eine der grossen Epochen der ') Sbornik praw. swi-d. o rask. II, Swod. o Montanski>T sokto. Menschengeschichte bilde; das eigenthümliche daran ist nur, dass für die Nichtbeter die Aera des Antichrists zum Zeitalter des heiligen Geistes wird. Da die Hierarchie die Leuchte des Glaubens verlöschen liess, so ist der alte Kultus abgeschafft. Die Seligkeit kann nicht mehr mit Hilfe materieller Riten erlangt werden. Da ferner alle äusserlichen Ceremonien ihren Werth verloren haben, so soll Gott nur noch im Geiste angebetet werden; nur ein geistiger Kultus ist ihm angenehm. Die Gebete unserer Lippen gefallen ihm nicht mehr; er weiss mit Gebeten, die aus Büchern abgelesen oder auswendig hergeplappert werden, nichts anzufangen. Das einzige Gebet, das Gott wohlgefällt, ist dasjenige, das aus dem Herzen kommt und im Geiste gesprochen wird. Und schliesslich, warum sollen wir überhaupt zu Gott beten? Kennt unser himmlischer Vater nicht alles was uns Noth thut, ohne dass wir ihn darum angehen? Indem sie diesen ihren Grundsatz bis zu seinen letzten Consequenzen verfolgen, verwerfen die Nichtbeter Feste, Fasten, Reliquien, Bilder und sogar das Kreuz, das im Reiche des Geistes nutzlos geworden. Ebenso haben sie auf die Taufe und alle übrigen Sakramente verzichtet. Sie vermählen sich ohne Gebete und Ceremonien, und behaupten, die Uebereinstimmung der Ehegatten und die Einwilligung der Eltern genüge, Sie ver-urtheilen die Riten der Beerdigung als eine Gottlosigkeit, der Leib —■ lehren sie — gehört der Erde und soll ihr einfach und ohne Umschweife überlassen werden. Sie wenden dieses Princip eines Kultus des Geistes auch auf die Heiligen Schriften an, die, nach ihrer Versicherung nur in geistigem Sinne verstanden werden dürfen. Von diesem Grundsatz ausgehend erblicken sie in den christlichen Dogmen und den evangelischen Erzählungen nur Allegorien. Christi Geburt, Leiden, Tod und Auferstehung sind ihnen nur Symbole. So bedeutet die Jungfrau Maria die Tugend, aus welcher das göttliche Wort geboren wird. Aehnlich interpretiren sie die Wiederkunft Christi, das jüngste Gericht und die Auferstehung der Toden, die sich jeden Tag in der Bekehrung der Sünder erfülle. Nach einigen Forschern sollen sie sogar die Unsterblichkeit leugnen und behaupten, nach dem.Tod habe alles ein Ende. *) Dies ist die äusserste Grenze des Raskol. Dieser dichtbelaubte Baum, dessen Wurzeln sich im Aberglauben verlieren, trägt, nachdem er zwei Jahrhunderte hindurch nach allen Richtungen Zweige ge- ') Jusow, Russkie Dissident)', S. 88. trieben, als letzte Frucht, den Rationalismus; die oberste Blume, dieses mit dem Blute der Märtyrer gedüngten Halmes ist der Deismus. Wenn auch nur wenige Priesterlose so weit gehen wie die Nichtbeter, so neigen doch viele von ihnen in Religionssaohen zu einem gewissen Radicalismus. Das Fehlen jedweden Priesterthums, die Streitigkeiten der Sekten, die freie Auslegung der Heiligen Schrift, die den Bespopowzy als letzte Autorität verblieb, treiben sie immer weiter auf dem Wege des Rationalismus. Aus den alten Büchern, die sie hartnäckig beibehalten, schöpfen sie nach und nach ganz neue Ideen; Ideen, die ihre Vorväter in keine geringe Entrüstung versetzt haben würden. Die Erben der Vertheidiger des Buchstabens protestiren mehr und mehr gegen den Buchstabenglauben. Das an-stössigste ihrer Dogmen, die gegenwärtige Herrschaft des Antichrists, ist für Viele zur Triebfeder einer geistigen Wiedergeburt geworden. Da sie es in allegorischer Weise aufzufassen begannen, wandten sie dieselbe Methode auch auf andere Glaubenssätze an. Nicht selten hört man Kosaken des Raskol, in ihrer gegen die Orthodoxen gerichteten Polemik, sagen: „wir leben unter einem neuen Himmel", eine Anschauung, die kühnen Neuerungen aller Art ein weites Feld eröffnet. Im Gegensatz zu ihren Vorfahren, welche die Religion als ein unwandelbares Ganzes betrachteten, an dem auch nicht ein Jota geändert werden durfte, kamen sie so weit, die moderne, dem alten Glauben diametral entgegengesetzte Idee von der Wandelbarkeit auf eben diese Religion anzuwenden. Manche behaupten, dass dasjenige, was in einem anderen Zeitalter für die noch in der Kindheit stehenden Christen ganz zweckentsprechend war, für unsere Zeit und das mündiggewordene Christenthum nicht mehr tauge. Viele verwerfen nun auch den Namen „Altgläubige", oder „Altritualisten", womit sie sich früher so gerne brüsteten, um sich kurzweg als „Christen" zu bezeichnen, indem sie sagen, dass man unter „Altgläubigen" die Anhänger der Kirche oder gar diejenigen des alten Bundes, die Juden verstehen müsse. Viele Priesterlose und sogar viele Popowzy schleudern den ihnen oft gemachten Vorwurf, dass sie die Religion nur in leeren Formen und Ceremonien suchten, mit Entrüstung auf die Geistlichen der Staatskirche zurück. Die Nichtbeter stehen in ihrer symbolischen Aulfassung der Dogmen und Sakramente keineswegs allein da. Es linden sich noch manche Andere, die behaupten, das wahre Abendmahl bestehe darin, dass man sich aus den Worten Christi sättige und nach seinem Gesetze lebe. Einige gehen in ihren Streitereien mit den Rechtgläubigen so weit, dass sie sogar die Autorität der Heiligen Schrift antasten und behaupten, dass man vor allen Dingen an dasjenige Evangelium, welches im eigenen Herzen eingegraben stehe, glauben müsse. So gelangt die äusserste Linke des Schismas schlieslich zu denselben Schlussfolgerungen, wie die von dem entgegengesetzten Pole ausgegangenen radikalen Sekten. Wenn der Mysticismus auch noch nicht ganz aus der Bespopowstschina verschwunden ist, so verbindet er sich doch oft mit einem aufrichtigen Rationalismus. Diese Verbindung von Rationalismus und Mysticismus erscheint sogar als ein religiöser Charakterzug des modernen Russland. Die grosse Masse der Raskolniks wird sicherlich noch lange Zeit brauchen, bis sie sich aller Traditionen und aller Vorurtheile des alten Glaubons entledigt haben wird; aber überall schleichen sich neue, ihren Vätern völlig fremde Ideen bei ihnen ein. In den alten Schläuchen gährt ein neuer Wein und droht sie zu zersprengen. — Siebentes Kapitel. Sekten, die nicht aus dem Schisma hervorgegangen sind: verschiedene Gruppen derselben. Die Mystiker: Chlysty oder Geissler. — Allgemeiner Charakter der mystischen Sekten; Prophetenthum, Menschwerdung Gottes. Heilande und Gottesmütter. — Legenden und Lehren der Geissler. Ihre Hilen. Wie sie die Extase herbeiführen. — Chlysty in den Klöstern. Chlysty unter den gebildeten Classen. — Skakuny oder Springer. Unsittliche Riten. Die Liebe in Christo. — Die blutigen Riten. Die Communion bei gewissen Sektirem. —- Das durch die liturgischen Reformen Nikons hervorgerufene Schisma bildet nur die höhere Etage des russischen „Dissent". Wenn wir aus dem eigentlichen Raskol noch tiefer steigen, tiefer als die Altgläubigen mit oder ohne Priesterschaft, treffen wir auf Sekten, die mit dem religiösen Aufstand des siebenzehnten Jahrhunderts nichts zu schaffen haben, auf Sekten, die einen anderen Ursprung haben und von einem anderen Geiste beseelt sind, manchmal eher gnostisch als christlich, die aber den Volkscharakter in einem ganz neuen Lichte zeigen. Ihr Ausgangspunkt ist nicht ein Bruch mit der Landeskirche im Namen der alten orthodoxen Ueberlieferung, nein, hier handelt es sich um einen Aufstand wider die orientalische Orthodoxie selber, ja manchmal gegen die ganze christliche Ueberlieferung. Das russische Sektenwesen, in seiner Gesammtheit befrachtet, zeigt einen eigentümlichen Contrast; die einen Sekten sind zaghaft kleinlich, die andern radikal; die einen klammern sich an nichtssagende Details, die andern werfen mit einem Male alle Dogmen mit sammt dem ganzen Kultus über Bord, so dass wir hier die beiden entgegengesetzten Extreme neben einander antreffen: engherzigsten Conservatiömus auf der einen, und durchaus revolutionären Neuerungsgeist auf der andern Seite. Dieser Contrast liegt zugleich im russischen Nationalcharacter, der überall leicht in die Extreme verfällt, und in den Einrichtungen der orientalischen Kirche. Wie in der römisch-katholischen Kirche sind auch hier alle Bausteine des Dogmas so fest ineinander genietet, dass man keinen einzelnen Glaubenssatz fallen lassen kann, ohne das ganze Gebäude umzustossen. Trotz allen ihren Verschiedenheiten und Widersprüchen, haben die nicht zum Baskol gehörenden Sekten doch alle eine Anschauung gemein: im Gegensatz zum Schisma des siebzehnten Jahrhunderts halten sie wenig vom Ritual und den Ceremonien. Anstatt sich an den Buchstaben und den buchstäblichen Sinn zu halten, proclamiren sie einen Kultus des Geistes und rühmen sich, ein rein geistiges Christenthum zu bekennen. In dieser Hinsicht können diese, sonst unter sich so verschiedenen, ketzerischen Sekten, als eine Reaction gegen den „alten Glauben" und den Formalismus der Altgläubigen betrachtet werden. Hier befreit sich der moskowitische Geist völlig von den Formen und Ueberlieferungen des Kultus, er durchbricht alle Schranken und giebt sich frei seiner Neigung für logische Schluss-folgerungen hin, denen er bis zu ihren letzten Consemienzen nachgeht Der Ursprung dieser verschiedenen Sekten ist mehr oder minder dunkel. Ihre Wurzeln scheinen sich bis über die Grenzen des heimischen Bodens auszudehnen; sie verlieren sich theils im Morgenlande, theils im Abendlande, in Europa und in Asien, sie knüpfen zugleich an die verlorenen Glaubenssätze der ersten Jahrhunderte unserer Aera und an die blind tastenden ersten Schritte des modernen Denkens an. Manche dieser Häresien lassen sich historisch aus fremden Einflüssen und aus dem Contact mit Europo, vor und nach Peter dem Grossen, ableiten; sie zeigen diese Einflüsse auf einem bis dahin noch sehr wenig bekannten Gebiete, auf dem einzigen vielleicht, wo das russische Volk direct davon betroffen worden. Den bedeutendsten dieser Sekten haben einige Prälaten der orthodoxen Kirche — sei es, um an ihren vermeintlichen Ursprung zu erinnern, oder um gewisser Aehnlichkeiten willen — den Namen des russischen „Quäkerthums" beigelegt. Die also bezeichneten Lehren sind jedoch zu mannigfaltig und, selbst in ihren Nachahmungen zu originell, als dass man sie unter einem fremden Namen bergen könnte. Es macht sich darin, wie in den in den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung entstandenen Häresien, ein eigentümliches Gemisch von Naturalismus und Mysticismus, eine bizarre Amalgamirung von heidnischen und christlichen Anschauungsweisen geltend. Die Aehnlichkeit zwischen diesen, von unwissenden Bauern gegründeten Sekten und den berühmtesten Ketzereien der römischen Welt ist stellenweise so frappant, dass der russische Klerus solchen modernen Sekten oft antike Namen beigelegt hat. *) Die radikalen oder exzentrischen Sekten, die einstimmig den Kultus des Geistes proclamiren, zerfallen in zwei Gruppen, in zwei Lager, je nachdem sie sich auf Einbildung oder Vernunft, auf Verzückungen der Inspiration oder auf berechnende TJeberlegung stützen. Man kann sie daher in mystische und in rationalistische Sekten ein-theilen; erstere neigen zum alten Gnosticismus, letztere zu einer Art moderner Reform; erstere wiederholen und übertreiben oft sogar die merkwürdigsten Verirrungen der verblendetsten llluminaten, letztere erstreben einen gereinigten Kultus, ein von Dogmen und Riten befreites Christenthum, das dem freisinnigen Protestantismus des Abendlandes ziemlich nahe kommt. Es giebt Inseln und Continente — wie zum Beispiel Australien, wo man animale und vegetabile Formen, die eigentlich einer früheren Schöpfungsperiode anzugehören scheinen und die man sonst nur in fossilem" Zustande findet, noch lebend antraf. Russland bietet in Europa eine ähnliche Erscheinung dar. In seinen weiten Gefilden bergen sich noch absonderliche Lehren, unförmliche und monstruöse Ketzereien, die eher dem grauen Zeitalter der Kreuzzüge oder des römischen Kaiserreichs anzugehören scheinen. Und gegenüber diesen Trümmern einer sich selbst überlebenden Vergangenheit tauchen reformatorische, modern-revolutionäre Lehren auf, noch unfertig und gleichsam im embryonalen Zustande, deren Kühnheit aber wie ein gewaltiger Aufschwung zu einer neuen Weltanschauung erscheint; so sieht man, wie der russische Geist, selbst in der Tiefe dieser religiösen Verirrungen, zwischen zwei entgegengesetzten Polen hin-und herschwankt und sich mit einer überlebten Vergangenheit und einer unbestimmten Zukunft abzufinden sucht. Schon dies allein muss solchen durch und durch originellen Bethätigungen des Volkscharakters ein hohes Interesse verleihen. ]) Die „Montany" zum Beispiel, so genannt nach den „Montanisten", einer der grössten Ketzersekten des dritten Jahrhunderte. Swedenie o montanskoi sekte, von einem Bischof von Samara; Sbornik prawitelstw. swed. o raskoln. II, 80. Durch das ungeschickte Stammeln dieser verworrenen Häresien klingt es manchmal, wie ein Ton von dem Dichten und Trachten eines Volkes, das man so oft der Stummheit beschuldigt hat, das aber bis dahin noch kaum in einer anderen Sprache, als in derjenigen der Religion zu sprechen Gelegenheit halle. Die Häresien, welche primitive und archaistische Formen aufweisen, die mystischen Häresien zeitigen als gemeinsamen Charakterzug den Prophetismus, den Glauben an einen immerwährenden, durch Inspirationen und Visionen unterhaltenen Verkehr mit dem Himmel. Nach diesen llluminaten ist die Zeit der Offenbarungen noch nicht zu Hude, oder sie hat für die moderne Welt wieder begonnen. Da es Propheten giebt, so giebt es auch neue Menschwerdungen (Incarnationen) der Gottheit. Das Volk der Juden hat nicht vor allen andern allein das Vorrecht gehabt, Gottes Sohn in seine Mitte herabsteigen zu sehen. Mancher an der Wolga oder Oka gelegene Flecken nimmt denselben Ruhm für sich in Anspruch wie Bethlehem. Die Bauern manch eines weltverlorenen Distriktes horten neue Heilande ein neues Gesetz verkünden. Russland ist unter allen christlichen Ländern dasjenige, wo solche absonderlichen Behauptungen mit dem grössten Cynismus, aber auch mit der grössten Naivität aufgetaucht sind; hier allein vielleicht können sich noch Betrüger oder Hallucinaten mit einem gewissen Erfolg den Namen eines Gut los anmassen. „Ich bin der von den Propheten geweisssagte Gott und zum andern Male auf die Erde herabgestiegen zum Heile der Menschheit; ausser mir aber ist kein Gott — " so heisst es im ersten cler zwölf Gebote des Daniel Philippowitsch, des tleisch-gewordenen Gottes der Chlysty.1) Eine solche kühne Behauptung ist für den bei einem Theil des Volkes herrschenden Geisteszustand charakteristisch; unter diesem hartnäckigen Anthropomorphismus birgt sich gewissermassen ein unbewusstes Heidenthum, ein unausrottbarer Polytheismus, demjenigen nicht unähnlich, unter welchem einst das Evangelium seine ersten Anhänger gewann. Unter den mystischen Sekten sind die beiden wichtigsten, die oft auch als aus einander hervorgegangen betrachtet werden, die der Chlysty, Flagellanten oder Geissler und die der Skopzy, Eunuchen oder Verschnittenen. Die Bezeichnung „Flagellanten" oder „Chlyts\-ist eigentlich nur ein Spottname, der auf einen wirklich be- J) Siebe: Reuzky, Liudi Boschji i skopzy (,,Gottmensehen" und „Verschnittene") Moskau 1872, S. 77, und Sbornik praw. swed. II S. 120. — Ferner: Dobrotworsky, Liudi Boschji und A. Peschersky, W gorach (In den Bergen). stellenden oder nur vermutheten Gebrauch der Sektirer anspielen soll; im Mittelalter hat Europa auch seine „Flagellanten" gehabt. Die Anhänger dieser mystischen Lehre nannten sich selber Gemeinde des Heilands oder Heilande, russisch: christowstschina, daraus machten ihre Gegner zum Spott „chlystowstschina". Meistens aber bezeichnen sich die Chlysty mit den Namen „Gottesmenschen (liudi Boschji)" und „Gesellschaft der Brüder und Schwestern". Während der Klerus sie mit den Quäkern vergleicht, giebt ihnen das Volk auch öfter den Spitznamen „Farmasons" d. h. Francs-macons, Freimaurer. Der allgemeine Name Chlysty lässt sich übrigens auf mehrere Arten von Mystikern anwenden. Der Ursprung dieser „Gottesmensehen" ist wenig bekannt. Nach einigen soll die Chlystowstschina eine uralte Ketzerei, und mit dem griechisch-orthodoxen Glauben von den Bulgaren oder aus dem Orient nach Russland gekommen sein. Nach andern soll sie in Russland selbst gegen Mitte des siebzehnten Jahrhunderts aus dem Contact mit abendländischen Kaufleuten, die damals schon Moskau zu besuchen pflegten, entstanden sein. Nach manchen Schriftstellern wären die Chlysty auf einen deutschen Religionsstifter, Namens Kullmann, zurückzuführen, der als Begünstiger der Ketzerei unter der Regentin Sophie aufgehoben und 1689 in Moskau öffentlich verbrannt wurde. Dieser Kullmann, der in seinen Ansichten viel verwandtes mit Boehm hatte, verwarf die Heilige Schrift, predigte das Reich des Heiligen Geistes und gab sich selber für den Heiland aus. Da er bei seinen Landsleuten wenig Erfolg hatte, soll er sich zu den Russen gewandt und unter diesen mehrere Anhänger gefunden haben. Die dem Volke angehörenden Chlysty behaupten, dass ihre Sekte einheimischen, zugleich aber auch übernatürlichen Ursprungs sei. Sie besitzen über ihre ersten Propheten, einen Deserteur, Namens Daniel Philippowitsch, und einen Leibeigenen der Naryschkin, Namens Iwan Suslow, ihre eigene Ueberlieferung, oder besser gesagt ihr eigenes Evangelium. Dieses Evangelium hat zwar keinen Evangelisten gefunden; denn eines ihrer Grunddogmen gebietet, ihre Lehren nicht schriftlich aufzuzeichnen, dadurch soll der Inspiration die möglichste Freiheit gewahrt bleiben und zugleich sollen dadurch die Mysterien des Glaubens und die Geheimnisse des Gottesdienstes den profanen Blicken verborgen bleiben. Ais ihr Gott auf der russischen Erde erschien, war eine seiner ersten Vorschriften, dass seine Lehren niemals zu Papier gebracht werden sollten, und eine seiner ersten Handlungen, dass er alle seine Bücher in die Wolga warf. Das Lebensbuch, das wir fleissig lesen sollen, ist im tiefen Grunde unserer Ij e r o y - B e a u 1 i e u , Reich d. Zaren u. d. Russen. 28 Seelen eingeschrieben. Nach der Ueberlieferung der Chlysty wurde der wahre Glaube unter der Regierung Pete rs des Grossen Russland offenbart. Diesen wahren Glauben brachte Gott-Vater selber herab, als er, von feurigen Wolken umgeben, auf den Berg Gorodin im Gouvernement Wladimir herniederfuhr und daselbst menschliche Gestalt annahm. Der also fleischgewordene Gott-Vater führte unter den Menschen den Namen Daniel Philippowitsch; seine Anbeter gaben ihm ausserdem noch den gnostisch klingenden Titel „Gott-Zebaoth". Daniel Philippowitsch zeugte mit einer hundertjährigen Frau einen Bauern, Namens Iwan Timofeewitsch Suslow, den er, bevor er in den Himmel zurückkehrte, als seinen Sohn und seinen Heiland anerkannte. Mit dem, den meisten volkstümlichen Sekten eigenen Realismus, nennen sich die Verehrer des Daniel Philippowitsch und des Iwan Timöifeewitsch „Anbeter des lebendigen Gottes". Man mochte fast sagen, dass diese Liudi Boschji ein Bedürfniss empfinden, die Gottheit in einem Menschen zu verkörpern und einen sichtbaren Repräsentanten derselben vor ihren Augen zu haben. Daher treten bei ihnen auch noch eine ganze Reihe solcher Heilande auf, die durch Abstammung oder Adoption gewissermassen wieder untereinander zusammenhängen. .Irde Generation hat den ihrigen, ja jede Gemeinde hat ihren eigenen Heiland in Fleisch und Blut aufzuweisen. Piese grobe Ketzerei scheint manchmal zu denselben Schlussfolgerungen zu gelangen wie das eine oder andere philosophische System mit seinen symbolischen Raffinirtheiten. Nach den Lehren einiger Chlysty scheint es nur vom Menschen abzuhängen, sich mit der Gottheit zu vereinigen und diese in seinen eigenen Gliedern Fleisch werden zu lassen. Diese geistige Incarnation ist bei ihnen gleichsam facultativ; jeder Gläubige kann dazu berufen sein. Der Heilige Geist, der da wehet, wo er will, kann auf alle herabsteigen und Heilande aus ihnen machen. So giebt es denn auch Gemeinden, wro die Sektirer sich gegenseitig anbeten, und wo einer dem andern gewissermassen göttliche Verehrung zollt. Wie Jesus durch seine Heiligkeit Gott wurde, so streben sie darnach, ebenfalls Gottmenschen zu werden. Diese Vergöttlichung des menschlichen Wesens kann beim Weibe ebensogut stattfinden , wie heim Manne. Wenn dieser den Namen eines Heilandes erhält, so nimmt jene den Titel einer „heiligen Jungfrau" oder einer „Muttergottes", Bogorodiza, an. So giebt es eine unzählige Menge von Heilanden und Gottesmuttern, ungerechnet der Propheten und Prophetinnen. Einigen Frauen haben die Chlysty sogar den Titel einer „Göttin (boginjia)" verliehen. In dieser Art mystischer Apotheose liegt ohne Zweifel ein bedeutender Anziehungspunkt der Sekte. Die Legende von ihrem ersten Christ oder Heiland ist eine sonderbare, fast kindische Parodie auf das Evangelium. Iwan Timo-feewitsch wählte sich zwölf Apostel aus, mit denen er an den Ufern der Oka die zwölf Gebote „seines Vaters Zebaoth" predigte. Auf Befehl des Zaren gefangen, wurde dieser neue Christus gegeisselt, gebrannt und auf alle Weise gefoltert, ohne dass es möglich gewesen wäre, ihm durch irgend ein Mittel das Geheimniss seines Glaubens zu entreissen. Schliesslich wurde er bei der heiligen Pforte des Kremel gekreuzigt; Freitags wurde er begraben, aber in der Nacht vom Sonnabend auf den Sonntag auferstand er wieder. Zu dieser dem Evangelium mit naiver Frechheit nachgebildeten Legende hat vielleicht die Hinrichtung Kullmanns den ersten Anstoss gegeben. Aber sie genügte den Anbetern Iwan Suslows noch keineswegs. An einer Passion und einer Auferstehung hatte dieser Mushik-Heiland noch nicht genug; Iwan Timofeewitsch wurde noch einmal gefangen und noch einmal gekreuzigt. Um ein nochmaliges Wiederlebendig-werden dieses zum zweiten Mal Gekreuzigten ganz und gar zu verhindern, sollen die Verfolger den Leichnam ihres Seblachtopförs geschunden haben; aber da kam ein Weib und warf ein Leichentuch über die blutenden Glieder des Gottes, und siehe da, dies Leichentuch ward zu einer neuen Haut und der Heiland der Oka auferstand zum zweilen Male, um noch lange Jahre auf der russischen Erde zu wandeln, bis er schliesslich in den Himmel emporstieg und sieb allda mit seinem Vater vereinigte. Ueber ein Jahrhundert lang widmeten die im Mittelpunkt des Reiches wohnenden Chlysty allen Dingen, die sie an ihre fleischten ordenen Götter erinnerten, fromme Verehrung, so den Dörfern, wo sie zur Welt gekommen, den Häusern, die sie bewohnt hatten, den Stätten, wo sie vor ihren Auferstehungen begraben worden. Obgleich sie im allgemeinen die Ehe als etwas unreines ansahen, erlaubten sie dieselbe doch den Gliedern der Familien Iwan Suslows und Daniel Philippowitschs, damit das Blut, das in den Adern des Erlösers geilossen, nicht versiege. Im Flecken Staroje, 30 Werst von Kostroma entfernt, lebte noch gegen Ende der Regierung Nikolaus' ein Mädchen", Namens Uliana Wassilieff das von den Chlysty als eine Art Gottheit betrachtet wurde, weil sie der letzte Nachkömmling des Daniel Philippowitsch war. Um dem Kultus, der mit ihr getrieben wurde, ein Ende su machen, sah sich die Regierung genöthigt, diese Sektenheilige in ein Kloster zu stecken. Als ihnen kein Familienspross 28* — m — ihres Gottes mehr übrig geblieben, übertrugen die Häretiker ihre ganze Verehrung auf die durch seinen irdischen Wandel geheiligten Stätten. Ein Haus in Moskau, in welchem Daniel Philippowitsch einstmals gewohnt hatte, blieb für sie lange Zeit gewissermassen eine sancta easa1), und der Flecken Staroje, eine Art Bethlehem oder Naza-reth. In letzterem Dorfe gab es einen Brunnen, dessen Wasser sie sich ausschliesslich zur Bereitung ihres Abendmahlbrodes bedienten. Der Transport dieses heiligen Wassers erfolgte im Winter, wo es sich in Eisblöcken leichter fortführen liess. Aus der ungeschickten Legende des doppelten Todes und der zwiefachen Auferstehung des Iwan Suslow lässt sich der Erfolg einer Sekte, die in allen Provinzen des Reiches Pangang gefunden hat, nur schwer erklären. Auch die zwölf Gebote des Daniel Philippowitsch, die sein Sohn Iwan verkündet hat, liefern keine Erklärung für die weite Verbreitung der Sekte; sie bilden eigentlich nur einen Codex der Enthaltsamkeit; das eine verbietet den Genuss gegohrener Getränke, ein anderes die Theilnahme an Hochzeiten und Festlichkeiten. Eid und Diebstahl werden verboten und die geschlechtliche Vereinigung durchaus untersagt.2) Den Jünglingen wird geboten, sich nicht zu ver-heirathen und den Eheleuten, als Bruder und Schwester zu leben. In diesem Punkte reichen die Chlysty den exaltirtesten Priesterlosen die Hand, bei denen sie übrigens manche Anleihe gemacht zu haben scheinen. Hinter zweien der dem Daniel Philippowitsch zugeschriebenen zwölf Gebote verbergen sich aber wahrscheinlich die beiden Hauptursuchen des Erfolges der Sekte; es sind die beiden Vorschriften, von denen die eine den Glauben an den Heiligen Geist gebietet und die andere den Gläubigen absolute Wahrung des Geheimnisses zur Pflicht macht. Glaubet an den Heiligen Geist, das heisst: glaubet an die Inspiration, glaubet an euch selbst, an alle Illusionen der Einbildungskraft; das heisst, mit einer kurzen Formel, den Gläubigen Visionen und Extasen so viel sie wollen, kurz den ') Anm. d. Uebers. Sancta casa, heiüges Haus, gewöhnliche Bezeichnung des von den Engeln nach Loretto in Italien getragenen heiligen Hauses der Muttergottes. ; I >as gegen den Diebstahl — eine beim russischen Bauern sehr häufig vorkommende Schwachheit gerichtete Verbot ergeht sich in merkwürdig kräftigen Bildern, die auf den einfachen Mann recht wohl eine gewisse Wirkung ausüben können. „Ihr sollt nicht stehlen. Wer aber unter euch einen einzigen Kopeken (4 Centimes = 3V5 Pf-) entwendet hat, dem wird man beim jüngsten Gericht diesen Kopeken auf den Kopf legen, und seine Sünde wird ihm erst vergeben werden, wenn dieser Kopeke im Feuer geschmolzen sein wird." ganzen Mysticismus mit all seiner fascinirenden Gewalt versprechen. Diese an und für sich schon verführerische Lehre erhält durch das „Geheimniss" noch einen neuen Reiz. Zu allen Zeiten haben solche mit dem düstern Schleier des Geheimnissvollen umgebenen und flüsternd von Ohr zu Ohr weiter verbreiteten Kulte, wie ein wollüstiger Rausch auf Kopf und Sinnen ihrer Anhänger gewirkt. Es ist allbekannt, welchen Reiz die Schauer der Einweihung und der Zauber verborgener Andachtsübungen einer Religion verleihen, wie sie eine solche mit der ganzen Süssigkeit der Intrigue und allen Wonnen verbotener Regungen umgeben können. „Diese Gebote" — heisst es im Dodekalog des Daniel Philippowitsch — „sollst du geheim halten, und sollst sie weder deinem Vater noch deiner Mutter offenbaren. Ob man dich mit der Knute schlage oder mit dem Feuer brenne, dulde und schweige." Und der Proselyt, der, nachdem er verschiedene Prüfungen bestanden, in die Gemeinde aufgenommen wird, muss schwören, „über alles, was er sehen und hören wird, unverbrüchliches Schweigen zu bewahren, nicht zurückzuschrecken VQI Knute, Feuer und Schwert, sondern alles ohne Klage zu erdulden." Bei einer solchen Zucht begreift es sich, dass diese Ketzereien lange Zeit fast ganz unbekannt blieben. Um sich den Blicken der Profanen noch besser zu entziehen, bleiben die Chlysty — wie die Skopzy und alle rituell aus dem Christenthum berausschreitenden Sekten — im officiellen Kirchenverbande, wohnen den Gottesdiensten bei und empfangen die Sakramente. Der Erfolg der Chlysty scheint weniger in ihrer Moral oder ihren Dogmen, als in ihren heimlichen Biten zu liegen. WTie hinter allen Lehren, die das Tageslicht scheuen, wie hinter den antiken heidnischen Mysterien und den heimlichen Zusammenkünften der ersten Christen, hat man auch hinter den Riten der Chlysty unmoralische Handlungen und nächtliche Orgien suchen wollen. Wenn auch einige ihrer Gemeinden solche Vermuthungen gerechtfertigt haben, so braucht man doch die weite Verbreitung solcher Sekten nicht durch einen so groben Köder zu erklären. In solchen Fällen trügt der Schein sehr oft; und die Mystiker verleiten leicht selbst zu solchen falschen Annahmen, durch die, bei ihnen so beliebten, glühenden Gleichnisse und lebhaft wollüstigen Bilder. Bei den Zusammenkünften der „Gottesmenschen", wie bei den meisten Illuminaten, spielen die Sinne eine Rolle, aber meistens doch nur eine dienende, untergeordnete. Wir haben es hier nur mit einem mystischen Verfahren zu thun. Der Körper muss auf den Geist einwirken, die Sinne sollen die Ex-tase vorbereiten. Manchen Seelen genügt es nicht, sich auf den Schwingen des Gebetes und der Betrachtung der Gottheit zu nähern, in ihrer Ungeduld scheinen ihnen die von der Kirche vorgezeichneten Wege zu lange, die Methode zu langsam: daher suchen sie auf kürzeren Pfaden zu Gott zu gelangen, indem sie zu allerhand künstlichen Mitteln und zu körperlichen Reizungen ihre Zuflucht nehmen. Wenn die Extase allzulange auf sich warten lässt, so sucht man sie durch Sinnenrausch herbeizuzwingen. Man erfindet zu diesem Zwecke mechanische Verfahren und materielle Recepte. Bei den visionären Schwärmern aller Zeiten und Religionen waren die verschiedensten dahin zielenden Mittel im Schwange. Unter dem Vorwand Gott im Geiste zu erfassen, nimmt man seine Zuflucht zum Körper. So können die Mystiker, gerade dadurch, dass sie sich auf einige Zeit in reine Geister zu verwandeln, rein geistig zu werden suchen, in den gröbsten Materialismus verfallen. Dies ist auch bei den Chlysty der Fall. Sie haben, ähnlich wie manche Kulte des Alterthums und wie einige anglosächsische Sekten unserer Tage, in ihrem Gottesdienst der körperlichen Bewegung einen breiten Platz eingeräumt. Der Tanz bildet bei ihnen eine ebenso wichtige Kultushandlung wie der Gesang. Der bei den Gottesmenschen gebräuchliche Ritus besteht in einer kreisförmigen Bewegung, in einer Art von Rundtanz oder Drehung, die in ähnlicher Art, in verschiedenen Ländern, wie z. ß. bei den drehenden Derwischen der Moslem und den amerikanischen Shakers ausgeführt wird. Die Chlysty versammeln sich meistens in der Nacht; wobei Männer und Weiber in weissen Gewändern erscheinen. Nachdem der Gottesdienst durch Absingen von der Sekte eigentümlichen Gesängen und Anrufungen des Gottes Daniel und des Erlösers Iwan eröffnet worden, liest der Oberleiter der Gemeinde Stellen aus der Heiligen Schrift, zum Beispiel aus der Apostelgeschichte die aus dem Propheten Joel citirten Worte Petri vor: „Und es soll geschehen in den letzten Tagen, spricht Gott, ich will ausgiessen von meinem Geist auf alles Fleisch; und eure Söhne und eure Töchter sollen weissagen, und eure Jünglinge sollen Gesichte sehen, und eure Aeltesten sollen Träume haben",1) Darauf beginnt ein Schauspiel, das mehr oder minder demjenigen gleicht, welchem die Reisenden in der Türkei und den mohamedanischen Ländern bei den „tekie's" der drehenden Derwische so gerne beizuwohnen pflegen. Einzelne Adepten fangen an sich im Kreise herum zu bewegen. Die übrigen Theilnehmer ahmen allmählig ihre Bewegungen nach: zuerst drehen sie sich l) Anm. d. I'ebers. Apostelgeschichte 2, 17; Joel l\, 1. nur langsam, dann schneller und zuletzt mit rasender Geschwindigkeit. Männer, Weiber, Alt und Jung, ergreift die ansteckende, frenetische Raserei und reisst alle in denselben Wirbel. Zuerst drehen sie sich unter Singen und Seufzen im Kreise herum, die Männer in der Mitte, die Frauen nach aussen zu. Dann, wenn die Erregung ihren Gipfelpunkt erreicht hat, durchbrechen sie das heilige Rund. Jeder folgt seiner eigenen Eingebung; Frömmigkeit und Verzückung nehmen verschiedene Formen an. Der eine, von convulsiven Zittern erfasst, sucht die Extase in immer gleichbleibender Bewegung; ein anderer stampft mit voller Wucht den Boden, strampelt mit den Füssen und macht Luftsprünge; hier wiegt sich einer in einer Art von rasendem Walzer, dort dreht sich ein anderer mit gekreuzten Armen und geschlossenen Augen, unempfindlich für alles was um ihn herum vorgeht, wie ein Kreisel um sich selber. Manche versetzen sich dadurch, dass sie unaufhörlich auf einen Punkt — z. B. auf eine an die Decke gemalte Taube — starren, in Hypnose. Dabei giebt es bei den Chlysty, wie bei den Derwischen Leute, die in diesen heiligen Hebungen eine so grosse Geschicklichkeit erlangt haben, dass sie bei der Schnelligkeit der von ihnen ausgeführten drehenden Bewegung ganz bewegungslos erscheinen; statt eines Menschen erblickt das Auge nur noch ein unbestimmbares Phantom. Die Gewänder der mystischen Dreher blähen sich auf, die Haare stehen ihnen zu Berge; im ganzen Saale geräth die Luft in wirbelnde Bewegung. In diesem Zustand gewähren die Chlysty einen bizarren, fast fürchterlichen Anblick, der, nicht weniger gewaltig als der Tanz selber, auf die Nerven der Prose-lyten wirken muss. In ihrer Verzückung verlieren die Fanatiker jedes Bewusstsein; so erzählte mir ein hoher Würdenträger, es sei schon vorgekommen, dass die Polizei eine solche Versammlung überrascht habe und bei diesen Unglücklichen eingedrungen sei, ohne dass diese nur eine Ahnung davon gehabt hätten, wer sich in ihrer Mitte belinde, und in ihrem Tanzen keineswegs innegehalten hätten. Sie hören mit diesem Drehen erst auf, wenn sie vor Erschöpfung niedersinken. Wenn einige ohnmächtig werden oder in Krämpfe verfallen, so gilt dies für ein Zeichen, dass der Heilige Geist über die Versammlung gekommen ist. Aus ihrem Munde dringen abgerissene Seufzer, und von ihrer Stirne rinnt der Schweiss, wie vom Körper eines Menschen, der eben einem russischen Dampfbad entstiegen ist. Die Ohnmächten und den von ihren Gliedern rinnenden Schweiss vergleichen diese Unsinnigen dann mit der Schwachheit und dem blutigen Schweisse des im Garten von Gethsemane ringenden Erlösers, und mit dem Auf- und Abwiegen ihrer ausgebreiteten Arme, glauben sie den Flügelschlag der Engel nachzuahmen. — Diese religiösen Walzer führen bei den Chlysty den bezeichnenden Namen „radenie", d. h. Glut, Inbrunst. Sie sind ihnen zugleich göttlicher Genuss und fromme Ceremonie. Es gewährt ihnen einen wollüstigen Reiz, wenn sich ihre Augen frühen, wenn ihr Kopf schwindelt und die beklemmte Brust nur noch mit Mühe athmet. Diese immer schneller werdenden Tänze, diese andauernden Drehungen wirken auf die Kopfnerven ähnlich wie gewisse starke Getränke oder wie Narcotica. Auf die anfängliche Betäubung folgt eine Art Rausch, folgen Hullucinationen, wie sie das Opium oder der Haschisch hervorzurufen pflegen. Die Chlysty selber nennen diese heiligen Tänze ihr geistiges Getränk oder Bier, „duchownoie piwo". Manchmal greifen sie auch noch zu andern Mitteln, besonders zu Ruthen und Geisselung, was den ihnen vom Volke angehängten Namen Geissler oder Flagellanten (Chlysty) gewissermassen rechtfertigen könnte. Man sagt, dass einige sich während ihrer Tänze mit Ruthen schlagen oder sich an der Flamme der Kerzen brennen. Auf das Radenie folgt die Stunde der Weissagungen. Abgerissene, oft unfassbare Sätze, unzusammenhängende und unverständliche Worte werden als himmlische, in unbekannten Sprachen erklingende Offenbarungen be-grüsst. In ihrer Exaltation glauben die Sektirer, der Heilige Geist rede aus ihnen. Damit erklären sie auch den Umstand, dass ihre Propheten ihre Weissagungen meist selber nicht verstehen, ja dass sie sich manchmal gar nicht mehr erinnern können, was sie eigentlich prophezeit haben. Aber manche Chlysty sind mit Verzückungen und Offenbarungen noch nicht zufrieden, sie besitzen auch noch Mittelchen und Recepte, sich Visionen zu verschaffen. Sie tanzen zum Beispiel in ihren Radenija um einen Bottich voll Wasser. Wenn sich dann das Gemach mit den Dämpfen der Ausdünstung zu erfüllen beginnt und das Wasser des Zubers sich in Folge der Bewegung trübt, fallen die Tänzer verzückt auf die Kniee und glauben über dem Zuber eine Wolke und in der Wolke Christus in Gestalt eines herrlichen, lichtstrahlenden Jünglings zu erblicken. In allen solchen Thorheiten spielt die gegenseitige Erregung der Fanatiker, der Umstand, dass sich das Delirium des einen am Wahnsinn des andern durch eine — ich möchte sagen — magnetische Ansteckung aufreizt, eine gewisse Rolle. Solche Ansammlungen von Männern und Weibern, deren einziges Streben dahin geht, sich in Extase zu versetzen, haben stets Nervenzufälle, Convulsionen, Anfälle von Cata-lepsie, kurz alle Erscheinungen des Hypnotismus zur Folge, die von einfältigen Leuten als Zeichen höherer Eingebungen und himmlischer Verzückungen angesehen werden. Aehnliches haben wir im achtzehnten Jahrhundert in Frankreich erlebt, bei den protestantischen Zitterern in den Gerennen und bei den Convulsionären des Friedhofes von Saint-Medard. Die ,,Gottesmenschen" zerfallen in Unterabtheilungen, die man korabl, „Schiff", nennt. Um dieser, den Freimaurerlogen nicht unähnlichen Einrichtung willen, werden wahrscheinlich die Chlysty auch öfter spöttischerweise „Freimaurer"1) genannt. Jeder Korabl, jedes „Schiff" umfasst die Flagellanten einer Stadt, eines Dorfes oder eines Kreises. Jedes besitzt seine Propheten und Prophetinnen, deren Inspiration für die betreffende Gemeinde Gesetz sind, was natürlich sehr zur Verschiedenheit der Glaubenssätze und Riten beiträgt. Gewöhnlich hat jedes Schiff auch seinen eigenen Heiland und seine Muttergottes. So hatte schon der erste Heiland der Chlysty, Iwan Suslow, seine jungfräulich unbefleckte Mutter. Diese Gottesmütter und Prophetinnen, besonders letztere, besitzen keineswegs immer den Reiz der Jugend oder der Schönheit; auch haben nicht alle das Coelibat innegehalten. Einige Chlysty wählen als „heilige Jungfrauen" mit Vorliebe junge, kräftige Mädchen, die sie als eine Incarnation der Gottheit anbeten. Manchmal wollte man, nach dem ihnen erwiesenen Kultus, in diesen Bogorodizy *) eine Personißcation der Zeugungskraft der Natur erkennen. Man hat sie sogar mit der Erde selber zu identiticiren versucht, weil der Name der letzteren in den zu ihrem Preise gesungenen Hymnen öfter wiederkehre. Es scheint, dass die meisten „Schiffe" ihre jeweiligen „heiligen Jungfrauen" eher entdecken als wählen; man huldigt ihnen plötzlich, wie durch höhere Eingebung. Uebrigens nehmen die Illuminaten zu dieser Rolle mit Vorliebe hysterische Weiber, die zu allen Ueberschwänglichkeiten der Verzückung hinneigen; entweder ein junges Mädchen, auf welches 1) Die Freimaurerei wurde von Schwartz und Nowikow in Ruasland eingeführt und entfaltete sich sehr rasch unter Katharina II. und Alexander I. Ihre Logen, die schon unter Katharina geschlossen wurden, Bind unter Nikolaus, zugleich mit den geheimen Gesellschaften, welche deti Aufstand von 1825 vorige reitet hatten, ganz aufgehoben worden. Heute giebt es — wenigstens officiel — keine Freimaurer mehr in Russland. Die maurerischen Embleme sind in den Museen — besonders in Moskau — als archäologische Merkwürdigkeiten ausgestellt. Die russische Freimaurerei scheint übrigens mit mystischen Tendenzen durchsetzt gewesen zu sein. Es wurde öfter die Frage aufgeworfen, ob zwischen ihnen und den Chlysty der gebildeten Classen von Petersburg keine Beziehungen bestanden hätten. — 8) Anm. d. Gebers. „Gottesmutter''. die Tänze ihrer Radenija besonders stark einwirken, oder eine „Kli-kuscha", eine „Besessene", die im bewusstlosen Zustande wilde Schreie ausstösst. Sind nicht gerade Nervenleidende die Heiligen und Prophetinnen, die in eine solche Versammlung am besten passen? Während die Altgläubigen beider Biten seit Peter dem Grossen ausschliesslich im Volke ihre Anhänger fanden, sind einige mystische Sekten, wie die Chlysty stellenweise auch in die höheren «'lassen eingedrungen. Nach den Ukasen und officiellen Actenstücken soll die Chlystowstschina im achtzehnten Jahrhundert in allen Gesell-schaftsclassen, unter Fürsten und Kaufleuten, unter Fremden und Einheimischen, unter Geistlichen und Laien ihre Anhänger gehabt haben. Beachtung verdient, dass diese Lehre, die das Christenthum utnzustossen scheint, sich besonders unter Mönchen und Nonnen und unter den Klosterbauern verbreitete. Vielleicht ist sie sogar im Schatten der Klöster entstanden. Man hat diese Anomalie dadurch zu erklären gesucht, dass man die Lehre der Liudi Boschji als eine Reaction der niedern Klustergeistlichkeit gegen die harte Herrschaft und die religiöse Lauheit des hohen Clerus aufzufassen suchte. Es wäre indessen naturlicher, wenn man darin eher eine Reaction gegen den leeren byzantinischen Formalismus erblicken wollte. Ks ist, als ob man in den stillen Mauern der orthodoxen Klöster von jeher nach der Wassertaufe, im Geheimen, die Taufe des Heiligen Geistes hätte predigen hören. Ganze Männer- und Weiberconvicte, wie das berühmte Uewitschi-KIoster in Moskau, sollen von solchen frommen Hallucinationen erfasst worden sein, und Mönche — besonders aber Nonnen — ihre Zellen den fascinirenden Wonnen der Kadenjia geöflfhel haben. .Man Bagt auch, dass die Propheten der Geissler, vor allen ihr Heiland Suslow, in orthodoxen Kirchen an den Ehrenplätzen begraben worden seien, besonders im Iwanowsky-Kloster. Um dem Aergerniss erregenden Kultus, den man mit den Reliquien dieser Chlysty-Heiligen trieb, ein Ende zu machen, sah Bich die Kaiserin Anna-lwanowna gezwungen, sie ausgraben und durch die Hand des Scharfrichters den Flammen überantworten zu lassen.1) Dieselbe Erscheinung wiederholte sich in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts unter den Kaisern Alexander I. und Nikolaus. Eine Gesellschaft von Mystikern ähnlicher Art wurde im ]) Sbornik prawit. swed. o rask. II 128. Renzky (Liudi Boschji i Skopzy) führt in einem Anhang die Liste des in den Jahren 1745—1752 als Chlysty verfolgten Priester, Diakone, Mouche und Nonnen auf Im ganzen sind es 75, und zwar meistens Nonnen. Jahre 1817 in einer kaiserlichen Besitzung, dem Palais Michael in St. Petersburg, entdeckt. Diese Gesellschaft wurde von der Polizei aufgelöst, zwanzig Jahre später aber aufs neue in einer der Vorstädte der Hauptstadt überrumpelt. Die Versammlungen von 1817 fanden in der Wohnung einer Hauptmannswittwe, unter der Leitung einer Frau Tatarinow statt; letztere hat in den Annahm des russischen Mysticismus eine gewisse Berühmtheit erlangt, Sie wurden von Officieren und hohen Beamten wie von Soldaten und Leuten dienenden Standes besucht. Auch hier wurde den Neuaufgenommenen strenge Wahrung des Geheimnisses zur Pflicht gemacht; das Vorhandensein der Gesellschaft wurde auch nur durch den Zufall entdeckt, dass ein Brief eines ihrer Mitglieder aufgefangen wurde. Beschwörung des heiligen Geistes und Herbeiführung extatischer Zustände bildeten den Gegenstand der geheimen Versammlungen der Tatarinow. Die Adepten nahmen die Gabe der Weissagung, die einst Paulus den ersten Christen verheissen hatte, für sich in Anspruch. Um diese hervorzurufen, griffen sie ebenfalls zu künstlichen Mitteln, wie drehende Bewegung u. dergl. Man hatte sogar den Kultusminister Alexanders L, den Fürsten Galitzyn, im Verdacht, dass er diese extatischen Tänze mit seiner Gegenwart beehrt habe. Für ihn und andere Zuschauer oder Mitwirkende hei diesen heiligen Commödien, handelte es sich wahrscheinlich nur um eine Laune, um eine Art Religionsdilettantismus. Wie die Geissler aus dem Volke nannten sich diese aristokratischen Illuminaten Brüder und Schwestern; diese familiäre Anrede, die in den frommen Versammlungen herrschende Freiheit des Umgangs, das sanfte Gesetz gegenseitiger Liebe und die süssen Schauer, welche gemeinsame Theilnahme an einem Geheimniss immer zu gewähren pflegt, mussten diese mystischen Sitzungen für beide Geschlechter sein- anziehend gestalten. An Stelle der den Volksliedern nachgebildeten Gesänge der bäurischen Chlysty, besass die im Palais Michael tagende Gemeinde in der Schriftsprache abgefasste Hymnen, die den Gedichten Derschawin's nachgebildet, oft aber auch französischen, deutschen oder englischen Dichtern entnommen waren. Diese „gebildeten" Chlysty leiteten ihre Lehre gewiss weniger von den armseligen Vorschriften eines Daniel Philippowitsch oder eines lw;m Suslow, als vielmehr von den abendländischen Mystikern ab. Ihre Lieblingsschriftsteller sollen Madame Gayen und Jung-Stilling gewesen sein. Das war zu jener Zeit, wo der russische Adel den Geschmack an Voltaire's Skepticismus und an dem Materialismus der Encyklopädisten zu verlieren und der entgegengesetzten Richtung, den mystischen und arkanischen Lehren sich zuzuwenden begann, wo Saint-Martin seine Jünger fand und Cagliostro bewundert wurde, wo mit Nowikow die Freimaurerei im Reiche aufkam und wo sich, unter dem Einiluss Joseph de Maistre's, der Jesuitismus in den höchsten Sphären der Petersburger Gesellschaft einzubürgern suchte. In dieser allen fremden Einflüssen so zugänglichen Gesellschaft, auf diesem jungen Erdreich, wo alle europäischen Ideen zu keimen begannen, fand natürlich auch der Illuminismus einen günstigen Boden. Der russische Illuminismus, mag er nun unter abendländischen Ein Hussen entstanden sein oder nicht, zog sich immer mehr auf die untern Schichten der Nation zurück; hier bei einem rohen Volke und auf durchaus realistischem Boden, versank er bald in Materialismus. Alle Verirrungen, auf welche das Dogma von der freien Eingebung hinführen kann, fanden beim Mushik Verbreitung. Unter der Oberfläche des eifrig strengen Asketismus tauchten Gemeinden mit unreinen Lehren, sinnlichem Kultus und obseönen Riten auf. Hier, wie anderswo, konnten sich die Schwärmer, die sich über die menschliche Natur zu erheben wähnten, nicht immer auf der abschüssigen Halde ihrer mystischen Pfade aufrecht erhalten, vom steilen Gipfel des Illuminismus stürzten sie in sonderbare Tiefen. Die „höhere Eingebung'1 schritt über die Moral wie über die Dogmen hinweg, und auf die Verirrungen der Einbildungskraft folgten die Verirrungen des Fleisches. Man suchte die Verzückung im Genuss, in einem Gemisch von Mysticimus und Wollust. Wie einige Naturvölker und einzelne Religionen des Alterthums, so scheinen auch manche Sektirer des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts der fleischlichen Vereinigung der Geschlechter in ihren Kulten einen Platz angewiesen zu haben. Doch darf man darin vielleicht weniger berechnete Schamlosigkeit, als eine gewisse urwüchsige Bewunderung des Mysteriums aller Mysterien der Natur erblicken. In der Kindheit stehende Völker waren fast immer geneigt, der Zeugung einen gewissen religiösen Charactor zu verleihen. Der Act, durch welchen sich das Menschengeschlecht fortpflanzt, und der gewissermaassen das Geschöpf zum Schöpfer erhebt, kann naiven und einfältigen Gemüthern als etwas so Uebernatürliches erscheinen, dass sie gerade dadurch dem Vater alles Lebens das beste Opfer und die schönste Huldigung darzubringen wähnen. Wir haben indessen gar keinen Beweis dafür, dass alle Chlysty die Zeugung vergöttlicht und die Wollust heilig gesprochen hätten. Im Gegentheil, wir dürfen keineswegs glauben, dass alle ihre Gemeinden so „haufenweis sündigten" (swalnji grech). Grund zu solchen Nachreden wird der Gebrauch gegeben haben, dass Brüder und Schwestern, wenn sie von ihren ganze Nächte hindurch dauernden Radenjia erschöpft zusammensanken, wie sie eben lagen, miteinander scliliefen. Diese Gewohnheit musste allerhand schlimme Auslegungen nach sich ziehen; wie sie denn gewiss auch auf allerlei Missbräuche geführt hat, die dem eigentlichen Character dieser nächtlichen Zusammenkünfte wenig genug entsprachen, um so mehr da die Geisse-Inngen mit „den heiligen Nesseln" — wie die Chlysty sagen — nicht nur zur Bezähmung des Fleisches und zur Hervorrufung rein geistiger Verzückungen diente. Aber wenn solche Anklagen auch oft unver-dientermaassen gegen die Geissler erhoben wurden, so folgt daraus keineswegs, dass dies immer der Fall gewesen. Die fast abgöttische Verehrung eines Chlyst für seine „Heilande" und „Propheten" ist so gross, dass er allen ihren Worten, als Eingebungen des Heiligen Geistes, gehorchen zu müssen glaubt, selbst wenn sie der landläufigen Moral zu widersprechen scheinen. In einigen Chlysty-Gemeinden machte — wie bei den „Irrenden" — der theoretische Asketismus einer Art religiöser Unzucht Platz. Sie verachteten den Körper, den sie in ihrer manichäischen Denkungsart oft geradezu als eine Schöpfung des Teufels betrachteten — so sehr, dass sie sich, als plumpe Mystiker leicht überredeten, die von Gott nach seinem Ebenbilde erschaffene Seele könne überhaupt durch keine, noch so unreine Handlung des Körpers befleckt werden. Andern mochte auch die Fleischessünde als ein Mittel gegen geistige Hoffart erscheinen; denn es giebt mehrere Pfade die vom Mysticismus zu unreinen Riten führen. Auch wäre es nicht sehr erstaunlich, wenn in den geheimen Versammlungen der Chlysty — in Volk und Gesellschaft — die reinen Begriffe christliche Milde und Bruderliebe manchmal, wie bei einzelnen Gnostikern des Alterthums, unzüchtigen Handlungen und absolut weltlichen Liebes-h&ndeln hätten als Deckmantel dienen müssen. „Brüderliche Umarmungen" und „englische Küsse" mochten da und dort in das Rituel aufgenommen werden. Die Harmonie der Seelen fand in der Vereinigung der Geschlechter, die geistige Opferhandlung im fleischlichen Liebesopfer ihren Höhepunkt. Nach den vom Heiligen Synod gesammelten Zeugenaussagen , herrschte bei einigen Chlysty-Gemeinden des achtzehnten Jahrhunderts der Gehraach, die heiligen Rundtänze durch ein gemeinsames Abendessen zu be-schliessen; sobald dieses Liebesmahl beendet war, versenkten sich die Brüder und Schwestern in voller Freiheit in die Wonnen der „Liebe in Christo". Aehnliches wurde den gebildeten Chlysty des Palais Michael und den Stanzen und Belizen (Nonnen und Novizen) des Iwanowsky- und des Dewitsohy-Klosters ebensogut nachgesagt, wie den bäurischen Anbetern des Iwan Suslow. Der Mensch — besonders aber das Weib — ist ein gar sonderbar zusammengesetztes Wesen, und Pascal sagt ganz richtig „vom Engel zur Bestie ist nur ein Schritt". In unschuldigen Gemüthern können die unbekannten Mysterien der Wollust eine Art von religiösem Schauer und zugleich einen unwiderstehlichen Taumel erwecken. Es giebt Jungfrauen, die sich der sinnlichen Lust mit um so grösserer Wuth ergeben, jemehr sie sich früher davor gescheut hatten. Der Geschlechtsreiz nimmt gewisse Temperamente so sehr gefangen, dass sie sich nur durch Befriedigung dieses Triebes Ruhe verschaffen können. Andererseits haben raffinirte und blasirte Naturen Freude daran, den Erotismus mit dem Mysticismus zu verschmelzen, es ist ihnen eine Wonne, die Sinnenlust durch den Zauber der Uebernatürlichkeiten zu erhöhen. Bei einzelnen Illuminaten mochten solche gemeinsame Orgien sogar als asketisches Verfahren, als ein Mittel den Körper durch Ueber-sättigung zu schwächen, angesehen werden; die Wollust konnte demselben Zwecke dienen, wie die Kasteiung, und wie diese ebenfalls eine Vorstufe der Inspiration und der Extase werden. Eine der Chlystowstschina verwandte — um nicht zu sagen angehörende — Sekte, die Gemeinde der Skakuny oder „Springer", lieferte ein Beispiel eines solchen schamlosen Mysticismus. Die Skakuny tauchten in der Gegend von Petersburg auf; es scheint, dass diese neue Tollheit durch die neue Hauptstadt, die gleichsam ein nach Europa hinausschauendes Fenster darstellt, in Russland eingedrungen ist. Die Sekte scheint fremden, abendländischen Ursprungs zu sein. Sie trat zuerst unter den 1 innen und den, in der Nähe von Petersburg wohnenden Protestanten auf; die weiter ins Land hinein wohnenden Bauern haben sich dieselbe später angeeignet. Die,,Springer" wurden zuerst unter der Regierung Alexanders I. erwähnt. Sie bildeten eigentlich nur eine Spielart der Chlysty, von denen sie sich fast nur durch die Art der körperlichen Bewegungen unterschieden. Anstatt sich im Kreise zu drehen, hüpften oder sprangen die Skakuny; daher ihr Name „Springer". Auch sie hielten ihre Zusammenkünfte Nachts und geheim ab; im Winter in irgend einer abgelegenen Hütte, im Sommer tief in den Wäldern, Das Haupt der Gemeinde stimmte einen langsamen Gesang an, der immer schneller und schneller wurde. Plötzlich begann er zu hüpfen und alle Anwesenden folgten ihm, unter beständigem Singen nach. Springen und Gesang wurde immer schneller, der Enthusiasmus be-tliätigte sich in immer stärkeren Schreien, in immer höheren Luft- Sprüngen. Mitten in diesem Delirium nahte die Stunde der Offenbarungen. Eine Eigentümlichkeit dieses sonderbaren Gottesdienstes ist, dass er sich paarweise vollzog, indem die Männlein und Weihlein sich meistens von vorn herein zu diesem heiligen Tanze engagirten. Bei den in der Petersburger Gegend ansässigen Skakuny-Gemeinden erklärte der Officiant, wenn der Taumel seinen Höhepunkt erreicht hatte, er höre die Engel singen. Dann hörten die Sprünge auf, die Lichter wurden ausgelöscht und die Pärlein ergötzten sich im Dunkeln an der „Liebe in Christo". In diesen Versammlungen galt jedes Gefühl, jedes Verlangen für inspirirt und seine Befriedigung für recht und billig. Auch Blutschande galt keineswegs für Sünde, da doch alle Gläubigen, wie die Sektirer nieinten, Brüder in Christo seien. Da sie die Liebe für etwas Ueber-natürliches ansahen, so war ihnen die Hingabe an dieses Gefühl ein religiöser Act. Darum betrachteten sie die Ehe auch als eine Gottlosigkeit und Hessen sich nur zum Schein trauen. Um diese ihre Ansichten zu rechtfertigen, mussten die schlüpfrigsten Geschichten der Bibel, wie die Töchter Lolh's und der Harem Salomons herhalten. Neben diesen schmutzigen Gebräuchen waren bei den russischen und finnischen Sektirern der Petersburger Gegend auch noch ekelhafte und gemeine Kiten in Gebrauch. So die Communion, die darin hestand, dass man sich dem Haupt der Gemeinde, welches für den lebendigen Christus galt, näherte. Dieser unverschämte Prophet liess sieb von seinen Jüngern Hände und Eüsse, von den eifrigsten sogar die Zunge küssen. Wie die Chlysty zeichneten sich übrigens auch diese Sektirer durch ihre Nüchternheit aus; den eifrigen „Springer" erkannte man an seinem bleichen Gesicht.1) Alle Anstrengungen des Klerus und der Polizei hinderten die Skakuny nicht, ins Innere des Reiches einzudringen, wo sie sich mit *) Sbornik praw. swod. o rask. II, HF). Die Skakuny mögen, wie die Chlysty oft ungerecht verleumdet worden sein; vielleicht waren sie in Wahrheit nur eine Abart der Quäker. Als unter Alexander I. ihre Versammlungen auf Ansuchen der lutherischen Pfarrer, deren Schällcin das Gros der Sekte bildeten, polizeilich untersagt wurden, führten sie Peschwerde. „Unser (Jottesdienst" — sagten sie in einer an den Kultusminister gerichteten Bittschrift — „besteht im Absingen heiliger Gesänge, in Vorlesungen aus der Bibel, auf welche der Bruderkuss und christliche Liebesbezeugungen folgen, in frommen Reden, die von Predigern, welche eine plötzliche Inspiration unter uns erweckt, vorgetragen werden, endlich in, von einem Zittern des Körpers begleiteten Gebeten, in Kniebeugungen und Fussfällen, Weinen, Seufzen und Anrufungen, wie sie die Worte des Predigers hervorrufen". — den Chlysty vermengen mussten. Die „Springer" in der Gegend von Petersburg und Peterhof waren auseinandergesprengt, die Männer in Gefängnisse und die Weiber in Arbeitshäuser gebracht worden; aber einige Jahre später entdeckte man Skakuny-Gemeinden in den Gouvernements Kostroma, Kiazan, Smolensk und Samara, nördlich, südlich, westlich und östlich von Moskau. Die Skakuny von Riazan umgeben ihre Ausschweifungen mit feierlicheren und geheimnissvolleren Formen. Nachdem der heilige Tanz von einer Anzahl ausgewählter Adepten beider Geschlechter vollzogen worden war, forderte ein Weib, das den Namen einer „Muttergottes'' trug, die jungen Mädchen auf, sich an der Liebe des Heilandes — dieser Heiland war natürlich irgend ein Bauer — zu ergötzen. Das Gleichniss von den klugen und thörichten Jungfrauen parodirend lud die heilige Mittlerin die Versammelten in einem gereimten Gesänge zu einer Art fleischlicher Communion ein. „Nahet euch, ihr Bräute, seht der Bräutigam kommt, euch liebend zu umfangen. Lasset euch nicht vom Schlafe übermannen, wachet, ihr Töchter, und lasset eure Lampen leuchten." Während dieser mystischen Aufforderung zur Ausschweifung neigten sich die frommen Zuhörer und bekreuzten sich vor ihrer Prophetin. An andern Orten liess man diese arkanischen Formen bei Seite und die Unzucht zeigte sich fast in ihrer ganzen Nacktheit. Die „Springer" oder Chlysty des Gouvernements Smolensk legten bei ihren Gottesdiensten alle Kleider ab: dies trug ihnen den Spottnamen ..Amore" oder „Liebesgötter*' ein. Vielleicht eines ähnlichen Gebrauches wegen gab das Volk den im Jahre 1849 in Petersburg entdeckten Nachfolgern des Cercle's der Frau Tatarinow den Uebernamen „Adamiten", den schon eine, den ersten Jahrhunderten angehörende Sekte geführt hatte. Bei vielen dieser Ska-kuny scheint der ursprüngliche mystische Charakter ganz verloren gegangen zu sein; die frommen Gesänge wurden zu Liebesliedern, und die Sekte rekrutirte sich aus jungen Burschen und Mädchen, die nur ausgelassene Vergnügungen darin suchten. Diese Illuminatensekten liefern uns nicht nur Beispiele einer so merkwürdigen Combination von Gegensätzen wie Asketismus und Naturalismus. Einige dieser Schwärmer haben die ausschweifenden Riten auch mit blutigen Ceremonien verbunden, oder sie durch letztere ersetzt. Wie der Wollust und der Zeugung konnte dem Leiden, dem Tod im Kultus eine Stätte angewiesen werden. Zeugung und Tod, die beiden äussersten Grenzen des menschlichen Daseins, das Alpha und Omega des Lebewesens, müssen naturgemäss auf die Einbildungskraft den grössten Eindruck machen; beide erscheinen gleicherweise Völkern, die noch in der Kindheil stehen, gewisser-massen in religiösem Lichte. Zu allen Zeiten gefielen sich überspannte Geister darin, sie dem Schatten ihrer Tempel zuzugesellen. Dies war im Alterthum bei mehreren Kulten des Morgenlandes, besonders in Syrien, der Fall. Warum sollte der Aberglaube in den russischen Isbas nicht ähnliche Erscheinungen hervorgerufen haben? Ueberau betrachtete der kindliche Geist das Blut als das vornehmste Reinigungsmittel. Selbst in hochcultivirten Zeiten, wie im kaiserlichen Rom, nahm das absterbende Heidenthum seine Zuflucht zu den blutbesprengten Altären. Das Opfer, d. h. die Opferung eines lebenden Geschöpfes, war bei allen Völkern der wichtigste und hauptsächlichste Religionsakt, der Religionsakt an sich. Der grosse, einzige Fortschritt des Christenthums bestand ja gerade darin, dass es diese blutigen Opfer abgeschafft und durch die mystische Opferung des Dammes ersetzt hat. Ist es daher erstaunlich, wenn man,— sei es-in Folge eines gewissen Rückschritts, oder einer Art von Atavismus — in den niedrigen Schichten eines noch halb heidnischen Volkes, bei den Nachkommen barbarischer, nur höchst oberflächlich bekehrter Stämme, noch rohe Naturen findet, denen das symbolische Opfer des christlichen Abendmahls nicht genügt, und die heimlich zur alten Opferhandlung in Fleisch und Blut zurückkehren? Ibis hat man zu verschiedenen Malen einzelnen russischen Sektirern, besonders aber den Chlysty, nachgesagt. Man hat sie oft in Verdacht gehabt, dass sie an Stelle des Abendmahlsweines das Blut eines Kindes gebrauchten. Es ist bekannt, dass die verschiedensten Kulte sich schon diesen heiligen Kanibalismus gegenseitig vorgeworfen haben. Die Heiden behaupteten es von den Christen, die Christen wieder von den Juden. Die Mehrzahl der Chlysty verdient höchst wahrscheinlich diese grausame Anschuldigung so wenig als diejenige der Unsittlichkeit. Gewisse Züge lassen uns indessen doch vermuthen, dass nicht alle solchen Geschichten auf reinen Erfindungen beruhen können. Sie stimmen zu sehr mit anderen, nur allzugenau constatirten Gewohnheiten dieser sonderbaren Sekten überein. Die Chlysty, von denen man behauptete, dass sie blutige Riten mit wollüstigen verbänden, schienen das Abendmahl folgendermassen zu begehen. Anstatt, wie die meisten Geissler, nur Wasser und Schwarzbrot zu dieser Ceremonie zu verwenden, bedienten sie sich des Fleisches und Blutes eines Neugeborenen, aber nicht des ersten besten Kindes, sondern des erstgeborenen Knaben eines unver-heiratheten, zur „Muttergottes" (Bogorodiza) erkorenen und als solche in ihren Eadenjia begrüssten Mädchens. „Gebenedeiet seist du unter L e r oy-B e a u 1 io u , Reich d. Zaren u. A, Russen. 29 den Weibern" — sprachen die Prophetinnen zu ihr, indem sie sich vor ihr niederwarfen — „du wirst einen Heiland gebären und alle Könige werden den himmlischen Zaren anzubeten kommen." Während dieser Parodie des englischen Grusses entkleideten die alten Prophetinnen die neue „heilige Jungfrau"; dann wurde sie nackt auf einen, unter den Heiligenbildern angebrachten Altar gesetzt, worauf die Gläubigen nacheinander herantraten, um eine Art von obscönem Kultus mit ihr zu treiben; sie kiissten ihr die Hände, Füsse und Brüste und verbeugten sich unter unzähligen Bekreiizungen vor ihr. Sie nannten sie oberste Himmelskönigin und baten, sie möchten würdig erfunden werden, dereinst von ihrem Körper communiciren zu dürfen, wenn dereinst vom heiligen Geist aus ihr ein kleiner Christus (Christösik) geboren würde. Wenn nun die Bogorodiza in Folge der Badenjia, deren Tänze sie anzuführen hatte, schwanger wurde und ein Kind gebar, so wurde dieses, wenn es ein Mädchen war, wieder eine „heilige Jungfrau"! War es aber ein Knabe, ein „Christösik", so wurde er am achten Tage nach seiner Geburt geopfert. Wenn man einigen Erzählungen Glauben schenken darf, so wurde ihm das Herz mit einer dem liturgischen Speer, womit in der morgenländischen Kirche das geweihte Brod zerschnitten wird, nachgebildeten Lanze das Herz durchstochen. Aus dem mit Mehl und Honig vermischten Herzen und Blut dieses kleinen Christus wurden alsdann die Abendmahlsbrode hergestellt. Dies nannte man mit dem Blute des Lammes communiciren; denn auch diese abscheuliche Scene war von einem düsteren Realismus inspirirt. Diese sogenannten Mystiker mussten einen wirklichen Leib und wirkliches Blut zu ihrem Abendmahl haben. Anden' communioirten, wie man behauptet, mit dem noch warmen Blute ihres kleinen Jesus; aus dem getrockneten und zu Pulver geriebenen Fleisch aber bereiteten sie ihre Kalatschi oder Abendmahlskuchen, An anderen Orten war ein junges Mädchen, eine sog. „heilige Jungfrau" das lebendige und freiwillige Opfer; ihr linker Busen, der ihr unter Tänzen und Gesängen abgetrennt wurde, bildete die eucharistische Speise.1) Wenn es sich hier auch nicht immer um derartige Monstruo-sitäten handelte, so konnten solche Riten doch nur höchst selten in langen Zwischenräumen und in ganz entlegenen Gegenden begangen werden. Sie mussten im modernen Russland immer noch seltener J) Mgr. Philaretes, Istorjia Russkoi zerkwi (Geschichte der russ. Kirche). 5. Folge, III; Haxthausen, Studien I, Cap. 13, S. 345; Livanow, Itaskolniki i Ostroschniki II; S. 276; Rcnzky, Liudi Boschji i Skopzy, 5. 35. vorkommen, als in Amerika der blutige Waudu (Xegerzauberer) oder das Opfer des „hörnerlosen Bockes", das noch bei den Schwarzen auf Haiti gebräuchlich ist. In Russland muss man derartigen Erzählungen auch um so mehr misstrauen, weil im Allgemeinen der Bauer von sehr sanfter Gemüthsart ist. Einzelne Verirrungen des Fanatismus lassen sich indessen kaum anzweifeln, und dadurch wird man auch in Betreff solcher Schauergeschichten weniger skeptisch. Können wir die Wahnwitzigen vergessen, die den Selbstmord durch Schwert und Feuer predigten, oder die Besessenen, welche die Opferung der Kinder empfahlen? Und vielleicht ist das Abendmahl nicht das einzige Sacrament, das der Aberglaube durch blutige Gebräuche wirkungsvoller zu machen suchte. Ich habe erzählen hören, dass — ich weiss nicht mehr in welcher Gegend — überspannte Sektirer, die mit dem Schimpfnamen „Blutsauger" bezeichnet werden, die Lehre aufgestellt hatten, die Neugeborenen mussten mit dem Blute ihrer Mütter getauft werden. Mögen auch solche Erzählungen verdächtig klingen, so giebt es doch noch heutigen Tages eine Sekte, welche die Taufe mit Feuer und Blut in einer noch weitaus widerlicheren Weise prakticirt; wir meinen die ebenfalls mystische, den Chlysty durch Ursprung und Dogmen nahe verwandte Sekte der Skopzy oder Verschnittenen. Achtes Kapitel. Mystische Sekten: die „weissen Tauben", Verschnittene oder Skopzy. — Die Verstümmelung als Mittel zum Asketismus. Die Feuertaufe. Verstümmelung beider Geschlechter. Vcrheirathcte Skopzy. Wie sich die Sekte recrutirt. Mittel zur Propaganda. — Dogmen und Geschichte der Skopzy. Ihre Verwandtschaft mit den Chlysty. Ihr Christus im achtzehnten .Jahrhundert. Ihre I'änthcilung in Logen oder „Schiffe". Millcnismus. Peter III. und Napoleon als Heilande der Eunuchen. — Lieblingsgewerbe der Skopzy. Ihre Vorliebe für Gold, ihre Reichthümer. Der Vortheil, sich Eunuchen zu halten. — Gesetze gegen die Skopzy. Ihr Process. Heilige Skopzy. Mystiker, wie die Chlysty, Illuminaten mit asketischen oder sinnlichen Lehren, welche höhere Eingebungen zur Hauptsache ihres Bekenntnisses machten, hat es zu allen Zeiten und unter allen Völkern, bei denen die religiösen Vorstellungen mich in voller Kraft standen, gegeben. Aber eine Sekte, die aus den entwürdigenden Bräuchen der Sclaverei und des orientalischen Haremwesens ein Religionssystem bildet, die dem Menschen die Castrirung zur mora- 29* lischen Pflicht macht, eine solche Sekte konnte wohl nur in Kussland entstehen. Ks ist nicht schwer, auch für die Skopzy im Heidenthum und im Christenthüm Vorläufer zu finden, es gab deren eine lange Reihe, von den Priestern der Cybele oder Atys angefangen, die sich mehr aus religiösem Symbolismus verschnitten zu haben scheinen, bis hinab zum heiligen Origines, der in der Verstümmelung des Körpers den Frieden der Seele suchte. Dieser Gedanke des grossen Kirchenlehrers begeistert — wenn auch nicht ausschliesslich — noch heute seine russischen Nachahmer. Die Entmannung ist eine Form des Asketismus, es ist die durchgreifendste aller Kasteiungen, die wirkungsvollste aller Hussen. Die Skopzy entfernen in ihrem Hass gegen Sinne und Fleisch den Sitz aller Versuchung mit dem Messer. Nach ihrer Meinung besteht das beste Mittel, der Verzückungen und der Gabe der Weissagung theilhaftig zu werden, darin, dass man den Geist von den Banden des Körpers befreit, indem man mit einem Male alle fleischlichen Begierden unmöglich macht. I in sich ganz in Gott versenken zu können, muss der Mensch den Engeln gleich, muss er geschlechtlos werden. Diese unsinnigen Sektirerträume haben die Skopzy in ihren Hymnen und Gedichten poetisch verwerthet. Anspielend auf solche ideale Hohlheit haben sie sich selber den symbolischen Namen „weisse Tauben (bel-jie golubi)" beigelegt. In den Gesängen rühmen sie sich , weisser als der Schnee zu sein. Sie sind die Reinen und Heiligen, die unsere sündhafte Welt durchschreiten können, ohne sich zu beflecken; sie sind die „Jungfrauen", die, in der Offenbarung, überall dem Lamme nachfolgen. Ausländer haben in der Lehre dieser Feinde der Zeugung die letzte logische Schlussfolgerung des Pessimismus erblicken wollen. Dem äusseren Anschein nach wäre diese Behauptung auch ganz gerechtfertigt: das Leben ist von Natur schlimm, also muss man seine Quelle versiegen machen; die Zeugung ist der Grund aller Hebel, man entferne darum ihre Organe. Und dennoch scheint dies keineswegs der Standpunkt zu sein, auf welchem die russischen Skopzy stehen. Wenn sie sich der Fortpflanzungstliätigkeit berauben, so geschieht dies keineswegs weil sie den trügerischen Schleier der Al;i\a gelüftet, weil sie den Willen zum Leben verleugnet haben und sich nicht zu Helfershelfern der Natur und ihrer Fallstricke hergeben wollen. Nein, ihre küble Kunuchenkeuschheit ist keineswegs der erste Schritt auf dem Wege zur „Verneinung des Daseins". Sie haben nichts von Schopenhauer oder von Buddha; sie sind weniger Pessimisten als Mystiker. Ihr Streben ist nicht auf Aus- ruttung der Art, sondern auf Vervollkommnung des Individuums zur Ehre Gottes gerichtet. Sie behaupten keineswegs, dass das Leben schlecht sei, und suchen sich auch nicht vom Uebel des Daseins zu befreien. Ihre Absichten sind weniger philosophischer als theologischer Natur; sie schreiten keineswegs aus dem allen russischen Sekten gemeinsamen Ideenkreise. In Bezug auf Ehe und Zeugung hat der Sektengeist in Russland Verirrungen entgegengesetztester Art hervorgerufen. Er hat einerseits die freche Zuchtlosigkeit gewisser „Priesterlosen" und die schamlose „Liebe in Christo" mancher Chlysty, andererseits das obligatorische Cölibat einiger „Ehelosen" und die Verstümmelung der „weissen Tauben" gezeitigt. In ihrer Abneigung gegen „das Werk des Fleisches" nähern sich die Skopzy manchen Bespopowzy. Und dies ist nicht der einzige Beziehungspunkt. Man kann zwischen diesen, scheinbar isolirt dastehenden Fanatikern und den Altgläubigen des Raskol mehr als eine Aehnlichkeit heraus linden, und selbst in den am weitesten auseinandergehenden Verirrungen analoge Tendenzen nachweisen. Da ist zuerst der russische Charakter, der beim Skopzy wie beim Theodosianer oder beim „Irrenden", sich immer geneigt zeigt, die Ideen auf die Spitze zu treiben, und der darin-vor keiner Uebertreibung zurückschreckt. Ferner haben wir den alten moskowitisehen Realismus, den wir bis in diese, scheinbar soweit davon entfernten, mystischen Sekten verfolgen können, der sich selbst bei den Illuminaten einschleicht, ihren Asketismus materialisirt, und schliesslich das Seelenheil von einer chirurgischen Operation abhängig macht. Endlich treffen wir noch jenen Buohstabenkultus, jene Vorliebe für wörtliche Auslegungen, das heisst dasjenige, was gewöhnlich dem Mystiker am meisten zuwider ist. Die Skopzy berufen sich auf einen biblischen Text, den man am besten lateinisch hierhersetzen kann: „Sunt enim eunuchi qui de matris utero sie nati sunt, et sunt eunuchi oui facti sunt ab hominibus, et sunt eunuchi qui se ipsos castraverunt propter regnum coelorum: qui potest capere ca-piai, (Vulgata, Matth. XIX, 12)". Ferner sprach Christus: „So dich dein Auge ärgert, reiss es aus und wirf es von dir. — So aber deine Hand oder dein Fuss dich ärgert, so haue ihn ab und wirf ihn von dir" (Matth. 18, 9 u. 8). Die neuen Anhänger des Origines betrachten diesen Rath als strenge Vorschrift, mit derselben Verblendung wie die Raskolniks andere Bibelstellen in ebenso unglücklicher Weise wörtlich auszulegen pllegen. Diese Verse, durch welche die Skopzy den unnatürlichsten ihrer Gebräuche zu rechtfertigen suchen, sind nicht die einzigen, die also buchstäblich von ihnen ver- standen werden, manchem Propheten, Daniel, der Offenbarung' und dem Evangelium Johannis geht es nicht besser. Die Skopzy üben ihren abscheulichen Ritus meistens nicht an kleinen Kindern, sondern an ausgewachsenen, starken Männern aus, also gerade dann, wenn das Opfer am schwersten erscheint, und die Operation am gefährlichsten ist. Manchmal bestehen bei ihnen verschiedene Grade dieser blutigen Weihe; vollständige und unvollständige Verstümmelung; diese Grade heissen „königliches Siegel" und „zweite Reinheit".1) Auch die Frauen entgehen dieser entsetzlichen Taufe nicht immer. Zwar ist für diese die Verstümmelung nicht obligatorisch, dennoch erhalten manche bei ihrer Aufnahme unter die „Tauben" die Wundmale der Sekte und das „königliche Siegel", welches das Zeichen der Zugehörigkeit zu den „Reinen" bildet. Bei ihnen scheinen es die Skopzy mehr auf die Zerstörung des Stillungsvermögens als auf die Zeugungsfähigkeit abgesehen zu haben. Der knospende Busen der Jungfrau wird am-putirt oder entstellt, und die ganze Brust einer abscheulichen Täto-wirung unterworfen. Manchmal werden beide Brüste vollständig entfernt. Bei einzelnen Frauen verirrt sich das Messer des Fanatikers noch weiter. Es werden noch zartere Organe angegriffen und zwar manchmal ohne dass solche von ungeübten Händen gemachte Einschnitte den Unglücklichen, die sie erdulden müssen, die Fähigkeit Mutter zu werden, ganz benehmen. In einigen Prozessen wurden solche Verbrechen an der menschlichen Natur ans Licht gezogen: es wurde über das bei diesen verabscheuungswürdigen Ceremonien zur Anwendung kommende chirurgische Verfahren vor Gericht de-battirt. Es wurden den Richtern alte, achtzigjährige Frauen und junge Mädchen von fünfzehn, siebzehn und zwanzig Jahren vorgeführt, die alle verschiedenartig von den Messern und Scheeren der Fanatiker entstellt waren.2) Die Mehrzahl dieser jungen Schlachtopfer hatte schon in der Blüthe der Jahre die Jugendfrische völlig verloren; ihre Gesichter waren, wie das Antlitz eines Skopz, vor der Zeit welk geworden. Einige sagten aus, dass sie sich der Zeit, wo sie dieser barbarischen Behandlung unterzogen worden, nicht mehr erinnern könnten. Es ist nicht unmöglich, dass man manchmal barbarische Gebräuche, wie sie der Aberglaube unwissender Eltern i) Für die Männer scheint die „erste Reinheit" in der Entfernung der Hoden, die zweite in der Abtragung der Rute zu bestehen. Uebrigens wird die Operation auf verschiedene Weise ausgeführt. Vorgl. z. 11. hn Pr«»zess Kudrin die Aussagen der Acrzte und das Verhör der Angeklagten. Skoptscheskoe Delo: Prozess Kudrinich, Moskau 1871, einzugeben pflegt, mit den Riten der Skopzy verwechselt hat. Solche Weiberverstümmelungen, wie sie die alten Chroniken von den Heiden des alten „Rus" berichten, sollen auch zu unserer Zeit noch bei finnischen Stämmen vorgekommen sein. Auf den ersten Anblick scheint es, dass sich eine solche Religion nur mit Hülfe fremder Proselyten fortpflanzen könne; dies ist jedoch nicht ganz der Fall. Nicht alle Skopzy verdammen bedingungslos Ehe und Fortpflanzung. Da sie sich als Auserwählte Gottes und als Hüter der heiligen Lehre betrachten, so giebt es manche unter ihnen, die sich berechtigt, ja verpflichtet glauben, Kinder zu erzeugen, um diesen den wahren Glauben hinterlassen zu können. In diesem Falle tritt der Vater oft erst, nachdem ihm ein Sohn geboren, in den Stand der reinen Geister ein. Der Knabe wächst nun im vollen Bewusstsein des ihn erwartenden, traurigen Geschickes auf. Ein Mann, der sich zur gegebenen Zeit der blutigen Taufe widersetzen wollte, würde Verfolgung und Rache der Sektirer zu gewärtigen haben; denn diese bilden eine über das ganze Reich verbreitete, streng zusammenhaltende, grosse Vereinigung und erlauben sich, wie die Mitglieder geheimer politischer Gesellschaften, an Verrätbern und Fahnenflüchtigen nöthigenfalls selbst Justiz zu üben. Man kann düstere Geschichten dieser Art hören. So hatte z. B. ein Skopz einen Sohn, der, als er mannbar wurde, aus dem Vaterhause entfloh und sich im Auslände verheirathete. Nach fünfzehn Jahren glaubte ei- in seine Heimath zurückkehren zu können; er wurde indessen von seinem Vater erkannt und — verschwand. Theils um ihr Geschlecht fortzupflanzen, theils aber auch um weniger aufzufallen und zugleich auch, um sich die Annehmlichkeiten einer Häuslichkeit zu verschaffen, verheirathen sich die Skopzy oft; und diese ganz oder doch vorzeitig unfruchtbaren Ehen scheinen nicht selten recht glücklich zu sein, als ob solche kühlen Verhältnisse um so friedlicher wären, je weniger die Leidenschaft daran Theil hat. Wenn man gewissen Erzählungen Glauben schenken will, so soll es unter den „weissen Tauben" auch Ehemänner geben, die gutmüthig genug sind, ihren Weibern zu gestatten, sie auch ferner mit Kindern zu beglücken, deren Urheber sie nicht mehr selbst sein können. Ob sie nun verheirathet sind und einen Erben haben oder nicht, so kann doch der eigene Nachwuchs der Skopzy nicht zur Fortpflanzung der Sekte genügen. Sie müssen Proselyten zu machen suchen und zu diesem Zwecke sparen sie weder Mühe noch List noch Geld. Die Opfer, welche sich die „weissen Tauben" zu diesem Zwecke auferlegen, lassen sich aus ihren Lehren erklären. Wie die meisten russischen Sekten glauben auch die Skopzy an das tausendjährige Reich. Sie erwarten einen Messias, der sein Reich in Russland aufrichten und alle Gewalt der Erde den Heiligen und „Jungfräulichen" überantworten wird. Nun soll aber, nach der Offenbarung Johannis (VI, 10, 11), dieser Messias erst erscheinen, wenn die Zahl der Heiligen erfüllet ist. Damit dieser neue und letzte Christus erscheinen kann, müssen die mit dem Siegel des Lammes gezeichneten Gläubigen die Zahl von 144 000 erreichen. Alle ihre Bestrebungen gehen denn auch dahin, diese apokalyptische Zahl voll zu machen. Die reichen Kaulleute verwenden oft ihr ganzes Vermögen zu Propagationszwecken. Auch verschmähen sie es keineswegs, die Ver-heissungen ewiger Seligkeit durch den plumpen Köder irdischen Wohlergehens wirkungsvoller zu machen. Manchmal sind es arme Leute, oft Soldaten, die sie durch glänzende Anerbieten bestechen; manchmal auch arme Kinder, die sie sich abtreten lassen, um sie in ihren Lehren zu erziehen. Sie machen sich mit Vorliebe an Kinder und eben heranwachsende junge Leute, die sie von der Notwendigkeit „das Fleisch zu tödten" zu überzeugen suchen. Manchmal gelingt ihnen dies auch so gut, dass es schon vorgekommen, dass fünfzehnjährige Knaben sich mit eigener Hand verschnitten haben, um sich dadurch von den aufregenden Gefühlen des Pubertätsalters zu befreien. Manchmal machen sich diese Reinheitsapostel auch kein Gewissen daraus, zur List oder Gewalt zu greifen. Sie erschleichen die Einwilligung ihrer Opfer durch zweideutige Formeln, und enthüllen den ihnen vertrauenden Proselyten erst dann die eigentliche Quintessenz ihrer Lehre, wenn diese ihrem Messer nicht mehr entrinnen können. Zwei Männer, der eine jung, mit frischer Gesichtsfarbe, der andere älter, mit gelbem und widerlich glattem Antlitz, tranken eines Abends in einem Hause in Moskau ihren Thee und sprachen zusammen. „Allein die „Jungfrauen" werden vor dem Thron des Allerhöchsten erscheinen dürfen," sagte der Aeltere. „Wer ein Weib ansiehet und ihrer begehrt, begeht in seinem Herzen einen Ehebruch, die Ehebrecher aber werden nicht in das Himmelreich eingehen." — „„Was müssen wir Sünder denn thun?" " fragte der Jüngling. — „Kennst du," antwortete der Aeltere, „die Worte des Erlösers nicht: Aergert dich dein rechtes Auge, so reiss es aus und wirf es von dir? Was wir thun sollen? das Fleisch sollen wir tödten. Wir sollen den körperlosen Engeln ähnlich werden, und dies kann nur durch die Weisswaschung (belenie) geschehen. — ., „Was versteht man unter Weisswaschung?"" fragte der junge Mann. Statt aller Antwort lud der Alte den Jungen ein, ihm zu folgen. Er stieg mit ihm in einen glänzend erleuchteten Keller hinab. Ungefähr fünfzehn Männer und Weiber in weissen Gewändern waren hier versammelt. In einer Ecke stand ein Ofen, darin das Feuer flammte. Zuerst wurden nun Gebete und Tänze abgehalten, nach Art der Chlysty; dann sprach der Einweihende zu seinem Proselyten: „Nun ist die Stunde gekommen, wo du erfahren sollst, was die Weisswaschung bedeutet." Und ohne dass der Katechumene Zeit behielt, eine einzige Frage zu thun, wurde er von den Anwesenden ergriffen, die Augen wurden ihm verbunden, ein Knebel wurde ihm in den Mund gesteckt, dann wurde er auf die Erde gelegt, und der Apostel drückte ihm mit einem im Feuer glühend gemachten Messer das „Siegel der Reinheit" auf.1) Dies passirte einem Bauern Namens Saltikow, und Aehnliches mag sich öfter zugetragen haben. Der Neuerwählte war während der Operation ohnmächtig geworden; als er wieder zu sich kam, Hessen ihm seine keuschen „Taufpathen" die Wahl zwischen ewigem Schweigen über diesen Vorgang oder augenblicklichem Tod. Den gegen ihren Willen Geweihten bleibt auch, wenn sie einmal operirt sind, eigentlich nichts anderes übrig, als aus der Freigebigkeit der Oberhäupter der Sekte den grösstmöglichsten Nutzen zu ziehen. Man kennt den Zeitpunkt, wo die Eunuchen anfingen, in Russland Gemeinden zu bilden; aber man weiss nicht, ob sich ihre Lehre durch irgend eine dunkle Abstammung an orientalische Religionen anknüpfen lässt. Erst vor nicht allzulanger Zeit sind sie als ausgesprochene Sekte aufgetreten. Diese Häresie, scheinbar die unmodernste von allen, tauchte im achtzehnten Jahrhundert, ungefähr um 1760 oder 1770 auf. Die neue, europäischen Charakter tragende Hauptstadt an der Newa war das Jerusalem des neuen Glaubens. Der Gründer oder Organisator der Sekte, ein gewisser Andreas Seli-wanow, predigte seine Lehre in Petersburg zur Zeit Napoleons I. Er starb erst 1832 unter Nikolaus. Die „weissen Tauben" halten diesen Seiiwanow für den menschgewordenen Gott und erweisen ihm dieselbe Ehre wie die Chlysty dem Iwan Suslow. Eunuchen und Flagellanten haben übrigens in ihren Dogmen und in ihrem Kultus manche Beziehungspunkte aufzuweisen, so dass man die eine Sekte fast als aus der anderen hervorgegangen betrachten kann. Der Skoptschestwo ist nur der letzte Grad, eine Uebertreibung oder eine Reform der Chlystowstschina. Die ersten Skopzy sind aus einer Chlysty-Gemeinde hervorgegangen, und der grausame Asketismus Seiiwanows ist vielleicht M Renzky, Liudi Boschji i Skopzy, S. 157 u. 158. nur eine Reaction gegen die mystischen Ausschweifungen, deren man die Anbeter Iwan Suslows beschuldigt Wie die „Gottesmenschen" gründen die Skopzy ihren Kultus auf Inspiration und Prophetenthum: um die Verzückung herbeizuführen , wenden sie auch ganz ähnliche Mittel, besonders drehende Bewegung, an. Wie die Chlysty nennen die Verschnittenen diese Tänze ebenfalls Radenie (Glut, Inbrunst). In ihren Versammlungen bekleiden sie sich ebenfalls mit langen Leinenhemden und gürten sieh die Lenden mit symbolischen Gürteln. Der geschlechtlose Gott Seiiwanow leitete, als er noch lebte, persönlich die Radenjia seiner Getreuen und zwar in einem Hause in Petersburg, das noch bis in die jüngste Zeit im Besitze eines Skopz war. Bei den Versammlungen der ,.weissen Tauben" haben alle Geweihten Zutritt, selbst wenn sie die „Feuertaufe" noch nicht empfangen haben. Wie die Chlysty unterziehen sich auch die Verschnittenen, um den Verdacht der Behörden weniger auf sich zu lenken, den Gebräuchen der herrschenden Kirche; ähnlich wie jene zerfallen sie auch in geheime Logen, die sie ebenfalls mit dein mystischen Namen „Schilf" (Korabl) bezeichnen. Zur Zeit Seiiwanows hiess das Korabl von Petersburg, dessen Vorsteher der falsche Christus selber war, bei den Gläubigen das „königliche Schilf", während die Tochtergemeinden in ihrer allegorischen Sprache nur als leichte Nachen bezeichnet wurden, die dem grossen Schiffe nachfolgten, dessen Steuermann der lebendige Gott selber war. Die Verschnittenen haben auch ihre Prophetinnen und „heiligen Jungfrauen". Weiber, besonders eine ihrer Prophetinnen, Namens Anna Romanowna, hatten an der Gründung und Ausbreitung der Lehre grossen Antheil. Manchmal sind es auch Weiber, die mit eigener Hand die Männer „in Engel" verwandeln. — Bei den „weissen Tauben" bildet die Entmannung nicht nur einen Akt der Weltentsagung, sie geht aus dem Dogma selber hervor. Ihre ganze Lehre beruht auf einer Auslegung der Erbsünde, wie sie an den verschiedensten Orten schon in ähnlicher Weise aufgetreten is! , die aber Iiis dahin noch nirgends zu so strengen Consequenzen geführt hatte. Nach den Skopzy bestand diese erste Sünde unserer Voreltern im Geschlechtsakt, und diese Sünde kann nur allein durch die Verschneid in ig gesühnt werden. Dadurch verwerfen sie oder stellen sie vielmehr das Grunddogma des Christen! hums, die Erlösung der Menschheit durch Jesum Christum, auf den Kopf. Nicht Jesum, sondern den Eunuchenchristus Seiiwanow betrachten die „weissen Tauben" als den wahren Heiland, der die Welt nicht am Kreuze, sondern durch seine Selbstverstümmelung erlöst hat. An diesem Opfer ihres Erlösers müssen die „weissen Tauben" theilnehmen, indem sie seine That nachahmen. Sie nennen .Jesum wohl einen Sohn Gottes, aber sie betrachten ihn, indem sie das Lvangelium in Ihrer Art auslegen, gewissermassen nur als einen Vorläufer des Koliwanow. Sie machen Christum auch noch zum Urheber einer geheimen esoterischen Lehre. Die Verstümmelung war nach ihrer Ansicht ursprünglich auch der Hauptgegenstand dieser geheimen Lehre Jesu; diese Lehre wurde aber entstellt und ging verloren, darum musste, auf dass die Erlösung des Menschengeschlechtes vollständig würde, ein neuer Christus erscheinen, der den Grundsatz der Verstümmelung in seiner ganzen Strenge lehrte und durchführte. Dieser Erlöser, dessen sichtbare Wiederkunft die „weissen Tauben" immer noch erwarten, offenbarte sich unter Katharina IL Von seiner Herkunft weiss man nichts. Wahrscheinlich war er ein Bauer, welcher sich der Aushebung entzogen hatte. Bevor er Religionsstifter wurde, hatte er lange Zeit das Leben eines Landstreichers geführt. Dann wurde er unter die Chlysty aufgenommen, mit denen er sich eines Tages entzweite. In einer Gemeinde der letzteren, die damals unter der Leitung einer fast hundertjährigen Prophetin, Akulina Iwanowna, stand, wurde der neue Glaube verkündet und der allein wahre Gott in der Person Seiiwanows erkannt. Dieser neugebackene Christus war ohne jede Bildung und konnte weder lesen noch schreiben. Seine Lehren wurden von seinen Schülern, die bald sehr zahlreich wurden, gesammelt. Als Anstifter der neuen Ketzerei wurde Seiiwanow gefangen, geknutet und nach Irkuzk in Sibirien verbannt. Von da kehrte er erst unter der Regierung Pauls I. wieder zurück. Merkwürdig ist, dass sich dieser Bauer, der sich ein Sohn Gottes nannte, sei es aus politischem Ehrgeiz oder religiösem Wahn, zugleich für einen Prinzen und für den Kaiser ausgab. Schwindeleien beider Arten kamen im modernen Russland ziemlich häutig vor; musste doch ein leichtgläubiges und wundersüchtiges, dabei ein geknechtetes und unbestimmte Freiheits-träume hegendes Volk falschen Zaren und falschen Heilanden mit gleicher Naivität Glauben schenken. Doch scheint Seiiwanow der einzige gewesen zu sein, der sich zu gleicher Zeit beide Titel an-masste. Wie sein Zeitgenosse, der Raskolnik Pugaischell' gab sich Seli-wanow für Peter III. aus. Auch heute noch halten die Skopzy diesen Kaiser und den Sektirer für ein und dieselbe Person. Anfänglich, als unter Katharina IL das Volk täglich die Wiederkehr des entthronten Fürsten erwartete, musste diese zweite Schwindelei dem falschen Christus wahrscheinlich nur als Hilfsmittel zur Durchführung der ersten dienen. Vielleicht kam auch Seiiwanow nicht einmal selbst auf den Gedanken, sondern dieser wurde ihm durch die Unwissenheit und die Erwartungen seiner Anhänger nahe gelegt, ja fast aufgezwungen. Sicher ist aber, dass der neue Erlöser noch bei seinen Lebzeiten in den Gebeten, die er an sich richten liess, den Namen eines Gottes aller Götter und eines Königs der Könige annahm. Auch der alten Bogorodiza Akulina Iwanowna erwiesen die „weissen Tauben" zugleich königliche und göttliche Ehren. Den Eingeweihten galt diese Akulina Iwanowna für Niemand anders als die Kaiserin Elisabeth, die sie zur Mutter Peters III. machten. Nach den Skopzy hätte der Kaiser Paul I. den Mann sehen wollen, der sich für seinen Vater ausgab; daher habe er ihn aus dem fernen Sibirien, wohin der falsche Zar verbannt war, zurückkommen lassen. Ueber diese Zusammenkunft ihres Oberhauptes mit dem Kaiser besitzen die Sektirer eine Legende, die auch in ihren Gesängen eine Rolle spielt. Doch scheint diese Ueberlieferung keineswegs auf Thatsachen zu beruhen. Paul L, der den Apostel der Verstümmelung aus Sibirien zurückberief, scheint in ihm nur einen Narren erblickt zu haben. Seiiwanow wurde in ein Irrenhaus gesperrt. Er erhielt seine Freiheit erst wieder unter Alexander I., auf Verwenden eines polnischen Edelmannes, Namens Elinski. der heimlich zu der Sekte übergetreten war, die damals in der Hauptstadt zahlreiche und mächtige Anhänger besass. Achtzehn Jahre lang lebte dieser sonderbare Messias in Petersburg im Hause seiner Jünger, wo er die Ehrenbezeugungen seiner Anhänger in seiner doppelten Eigenschaft als Gott und als Zar entgegennahm, für die Ausbreitung seiner Lehre thätig war und manchmal sogar, wie man sagt, den Proselyten die Ehre erwies, die hauptsächliche Vorschrift des von ihm verkündeten Glaubens eigenhändig an ihrem Körper vorzunehmen. Das Geld der Sektirer und der moralische Zustand der russischen Gesellschaft unter Alexander I. machen es allein erklärlich, wie dieser Fanatiker und zwiefache Betrüger so lange Zeit unbehelligt bleiben konnte. Im Jahre 1820 endlich wurde Seliwanof arretirt und für den Rest seiner Tage in das Kloster von Susdal gesperrt: hier starb er auch im Jahre 1832 hundert Jahre alt. Der kastrirte Gott war schliesslich kindisch geworden. für die Skopzy ist indessen dieser Seiiwanow, oder besser gesagt, der unter obigem Namen zurückgekehrte Peter III., keineswegs gestorben. Er leut in den Einöden Sibiriens, von wo er dereinst an der Spitze der himmlischen Heerschaaren wiederkommen wird, um (las Reich der Heiligen aufzurichten. Es giebt wohl kaum ein absonderlicheres Geschick, als dasjenige jenes holsteinischen Prinzen, der, weil er so gar kein Yrrstfmdniss für Russland besass, seines Thrones verlustig ging, um schliesslich zum Gott der wunderlichsten russischen Sekte zu werden. Manche .Skopzy geben dem wenig Kriegerischen Gatten Katharinas IL, der da kommen soll, um das Reich der Gerechtigkeit aufzurichten, als Stellvertreter Napoleon I. bei, den die Eunuchen merkwürdigerweise ebenfalls als einen der ihrigen für sich in Anspruch nehmen. Andere, mit den Skopzy verwandte Sektirer machen Napoleon zu ihren alleinigen Heiland und erweisen seinen Bildnissen dieselbe Ehre wie die „weissen Tauben" denjenigen Peters III. Bildnisse dieses letzteren Fürsten, wie auch diejenigen Se-liwanows dienen den Skopzy als Krkennungszeichen. Manchmal besitzen sie auch noch andere Abzeichen, so einen gekreuzigten Mönch, der wahrscheinlich ebenfalls ihren neuen Erlöser vorstellen soll. Auch der König David, der vor der Bundeslade hertanzt, ist eine bei den Skopzy und den Chlysty sehr beliebte Figur. Wie sehr sich die Verschnittenen auch zu verstellen suchen, ihr eigenes Aussehen, ihr Antlitz und ihre Stimme verrat hon sie sehr oft. Wie die Sopranisten der römischen Capellen, hat der Skopzy gewöhnlich eine gelbliche Gesichtsfarbe, schwachen oder gar keinen Hart, eine scharfe, spitze Stimme und etwas undefinirbar Weibisches und Unsicheres in Blick und Haltung. An diesen Anzeichen erkennt man die Jünger Seiiwanows anter den Wechslern von Petersburg und Moskau. Manchmal soheini es, als ob allein die Polizei sie nicht sähe. Die Skopzy betreiben in der That sehr oft das Wechslergeschäft. Sie haben gern mit Gold, Silber und Banknoten zu schaffen: in ihren Wechselstuben wurde oft der Grund zu einem Vermögen gelegt, das später in irgend einer andern Industrie bedeutend anwachsen sollte. Woher kommt die Vorliebe der „weissen Tauben" für ein Gewerbe, das sonst fast ausschliesslich von den Juden betrieben wird? Steckt eine religiöse Idee oder politische Berechnung dahinter? Träumen sie davon, die Herrschaft ihres Messias durch ihren Reichthum vorzubereiten? Oder wollen sie sich dadurch nur die Wallen gegen eine käufliche Polizei verschallen? Auf diese, in einem Process aufgeworfene Frage antwortete ein Zeuge, dass die Skopzy Wechsler wären, weil sie nicht genug Kraft besässen, ein anderes Geschäft zu betreiben. Vielleicht wäre die Behauptung richtiger, dass sich die „weissen Tauben" besonders gerne dem Handel mit den edlen Metallen widmen, weil sie besonderes Glück darin haben, da sie ihre Verstümmelung vor gewissen Versuchungen bewahrt. „Wenn ich Banquier wäre" — sagte ein Russe zu mir — „so wollte ich nur einen Skopz zum Kassirer haben. Der Eunuche ist der sicherste Hüter einer Casse, wie eines Harem. Hinter jeder Unterschlagung, hinter jeder Veruntreuung steckt meistens ein Weib; mit den „weissen Tauben" kann man in dieser Beziehung in Frieden schlafen." Dies scheint auch die Meinung mancher Skopzy zu sein. Einer ihrer Führer sagte in einem Processe aus, dass sie sich verstümmelten, weil das Gold die Welt beherrsche und mau daher alles in der Wurzel zerstören müsse, was den Menschen von der Erwerbung dieses kostbaren Metalls ablenken könnte. Der Skopz, der weder Leidenschaften noch Jugend kennt, kann, während seines ganzen Lebens, auf die Erlangung von Reichthümern soviel Beharrlichkeit, soviel Begelmässigkeif und Hartnäckigkeit verwenden, wie sie sonst nur dem Alter, oder wenigstens dem reiferen Alter eigen sind, ohne Weib und ohne Familie, mit nur wenigen oder gar keinen Kindern, kann er viel leichter Ersparnisse machen, wie auch freier seinem Erwerb nachgehen. Es gab schon viele Millionäre unter den Skopzy, die ihre Reichthümcr wieder zur Verbreitung der Sekte verwandten, welche ihnen gelehrige Agenten und zuverlässige Handlungsdiener lieferte. Gewöhnlich geht das Vermögen aus einer Hand in die andere; der Chef der Handlung hinterlässt es nicht selten einem seiner Commis. Die Hinterlassenschaft eines solchen Skopz, der im Jahre 1874 vor seiner Verurtheilung im Gefängniss starb, bildete den Streitpunkt des berühmten Frocesses der Aebtissin Metrophania. Die intrigante Aebtissin behauptete von dem Eunuchen-Millionär, dem sie die Freiheit verschallen sollte, für sechshundert -tausend Rubel Wechsel zu besitzen. Ein Skopzy hat gegen Ende der Regierung Alexanders II. fünf Millionen Rubel zur Errichtung eines Asyls für Kinder und Greise gestiftet. Bei solchen Agitationsmitteln lässt sich der Fortbestand einer so widerlichen Sekte hegreifen. Durch diese grossen Vermögen und die eifrige Fürsorge für die materiellen Interessen nähern sich die Skopzy zugleich den Altgläubigen und andern Raskolniks. So konnte auch diese mystische Sekte par excellence, so konnten diese nach Weissagung schmachtenden Illuminaten doch den positiven, durch und durch kaufmännischen Geist der Grossrussen und des Raskol nicht verläugnen. Es scheint, dass man der barbarischen Religion Seiiwanows leicht dadurch ein Ende machen könnte, dass man die einzelnen Mitglieder vollständig isolirt und sie ohne Nachkommenschaft und ohne neue Proselyten aussterben lässt. Das Mittel wurde lange Zeit hindurch angewandt; trotz aller Strenge des Gesetzes scheint es aber wenig Erfolg gehabt zu haben. Auch diese Lehre iindet eben, wie alle anderen Sekten, im geistigen und moralischen Zustand des russischen Volkes ihre Nahrung. So genügten Gefängniss und Deportation keineswegs, um das Reich davon zu befreien. Unter der Regierung des Kaisers Nikolaus machte man oft Soldaten aus diesen Fanatikern. Maran diente dieser absonderlichen Truppe lange Zeit als Garnison. Heute schickt man sie so weit als möglich nach dem Osten von Sibirien. Dies geschah unter Alexander II. mit dem Kaufmann Plotizyn und den Brüdern Kudrin, von denen der erster*; 1869, die letzteren 1871 verurtheilt wurden. Im ersteren Processe iigurirten ungefähr vierzig Angeklagte, Männer und Weiber, in letzterem ungefähr dreissig. Plotizyn, der mit seiner Schwester arretirt wurde, war das Oberhaupt der „weissen Tauben" des Gouvernements Tambow. Wie die meisten seiner Genossen spielte sich dieser reiche Kaufmann als eifriger Orthodoxer auf. Er hatte auf seine Kosten Capellen erbauen lassen und Spitäler dotirt. In seinem Hause, mitten in der Stadt Morsch an sk, entdeckte man einen geräumigen, durch eine eiserne Thür verschlossenen Keller. Dies war der Operationssaal; das Geschrei der Patienten konnte von aussen nicht gehört werden. Diejenigen, welche der Operation erlagen, wurden gleich auf dem Platze begraben. Die Presse posaunte aus, man habe in einem danebenliegenden Keller einen ungeheuren, mehrere Millionen Rubel betragenden Goldschatz entdeckt. Allein dieser Schatz zerrann bei der gerichtlichen Untersuchung in nichts; die Leichtgläubigkeit des Volkes schrieb sein Verschwinden der Polizei zu. Plotizyn wurde mit zwanzig seiner Helfershelfer zur Deportation verurtheilt. Er wurde an der Küste des stillen Oceans internirt, wo er seine Müsse dazu benutzte, ein Werft für Dampfschillbau zu errichten. Die Verwaltung konnte ein so nützliches Unternehmen natürlich nur begünstigen. Der Deportirte bestieg unter den Augen der Polizei den ersten Steamer, der vom Stapel gelassen wurde, um die Maschine zu prüfen. Sobald er aber an Bord war, steuerte er auf San Francisco zu und ward nicht mehr gesehen. Dies begab sieb im Jahre 1879. Im selben Jahre verurtheilte das Gericht von Jekaterinburg zweiundvierzig „weisse Tauben" beiderlei Geschlechts zur Deportation. Meistens werden die Skopzy in Masse — ein ganzes „Schiff" oder Korabl zugleich — verfolgt und arretirt. Im Jahre 1876 wurden einhundertunddreissig Verschnittene mit einander zu Sympheropel in der Krim vor Gericht gestellt. Es waren Kaulleute, Kleinbürger und Arbeiter. Die zweiundvierzig Verurtheilten von Jeka- terinburg hingegen waren Bauern, die ein durchaus enthaltsames Leben führten. Sie tranken keine alkoholhaltigen Getränke, rauchten nicht und assen kein Fleisch. „Das Fleisch", sagen die Skopzy, „ist verflucht, als die Frucht geschlechtlicher Paarung." Alle beobachteten übrigens die kirchlichen Riten. Keiner von ihnen wollte einen Advocaten annehmen; ihre ganze Vertheidigung bestand in dem Bibolvers, auf welchen sie ihre Lehre gründen (Math. 19, 12). Um den Verfolgungen zu entgehen, sind manche Skopzy nach dem Ausland, besonders nach Rumänien ausgewandert, wo sie unter dem Namen „Lipowaner" mit den Altgläubigen verwechselt werden. Noch keine Massregel hat bis jetzt der Verbreitung der Sekte Einhalt thun können. Ein 1871 im Process der Gebrüder Kudrin vernommener Sachverständiger, M. Belajeff, Professor an der geistlichen Aeadeinie von Moskau, versicherte, dass sieh die Zahl der Verschnittenen keineswegs verringere, sondern im Gegentheil stetig vermehre. Trotz allem kann aber eine Lehre, die ihren Anhängern eine solche Taufe zur Pilicht macht, kaum auf Millionen von Adepten rechnen; man schätzt denn auch ihre Zahl auf kaum mehr als zwei bis dreitausend Seelen. Das Gesetz geht mit Recht gegen die Anhänger des falschen Peter III. vor. Jedem Verschnittenen muss diese Eigenschaft auf dem Passe bemerkt werden; auch steht er unter beständiger Polizeiaufsicht, .ledermann, der Skopzy in Wohnung oder Dienst nimmt, ist gehalten, die Behörde davon zu benachrichtigen. Ein Skopz entgeht, wenn er einmal arretirt ist, kaum der Gefangenschaft oder der Deportation; indessen werden auch viele solche Geschichten durch Geld vertuscht. Während die Eunuchen bis in die hintersten Wrinkel des Reiches verfolgt werden, sieht man sie frei und offen, am hellen Tage auf den „Prospekten"1) der Hauptstadt herumspazieren. In der Börse zu Petersburg gab es noch vor nicht allzulanger Zeit eine Bank, die man die Bank der Skopzy nannte. Es ist allerdings auch wahr, dass verschiedene Ukase erschienen sind, in welchen ofliciell erklärt wurde, dass der oder jener reiche, als Eunuch bekannte Handelsherr in seiner Jugend wider Willen verschnitten worden sei und keineswegs zu den Jüngern Seiiwanows gehöre. Die Art, wie die „weissen Tauben" Propaganda machen, wie sie Kinder zu ihrer Lehre zu verleiten suchen, gestattet kaum mehr, als die Bestrafung der Apostel und Operateure der Sekte. Besonders heut- *) Anm. d. Uebers. Die „Prospecte" in Petersburg entsprechen ungefähr den Pariser Boulevards. zutage, wo diese heikein Fälle den Geschworenen unterbreitet werden, spricht das öffentliche Mitleid sehr oft die blinden Opfer des Fanatismus Anderer frei. Es scheint, dass die Skopzy eine Art Genossenschaft bilden, deren Mitglieder sich gegenseitig unterstützen und helfen. Man behauptet auch diese Eunuchenfreimaurerei besitze ihre eigenen Sendboten, durch deren Vermittelung die „Tauben" von einem Ende des Reiches bis zum andern mit einander in Verbindung ständen. Die Adepten haben auch gewisse Erkennungszeichen, unter andern ein rothes Taschentuch, das sie während der Unterredung aufs Knie legen sollen. Diese grausamen Vertheidiger der Entmannung sind im gewöhnlichen Leben höchst ehrliche und friedfertige Leute. Sie zeichnen sich durch Massigkeit, Rechtschaffenheit und einfache Lebensweise aus. Ihre Versammlungen tragen einen höchst unschuldigen Charakter; man singt keusche Gesänge; ein Schwarzbrod oder ein Kuchen von weissem Mehl dient zur Communion.1) Ihr ganzes Verbrechen besteht in ihrer Lehre und in ihrem Bekehrungseifer für dieselbe; und auch darin scheinen sie noch weniger schuldig, als seinerzeit die italienischen Eltern, welche schnöden Gewinnes wegen ihre Kinder, die zu Sopranisten herangebildet werden sollten, derselben grausamen Operation unterzogen. Man behauptet auch, dass über die Anhänger dieser naturwidrigen Lehre ein neuer, frischerer Wind zu wehen beginne. Einige Schüler Seiiwanows sollen bereits dahin neigen, die Vorschrift des Meisters, wie den evangelischen Text, mehr in einem geistigen Sinne aufzufassen. Keuschheit soll an die Stelle der Entmannung treten. Um wirklich „jungfräulich" zu bleiben, sollen sie auf das Eunuchenthum verzichten wollen. Schon die Polizei des Kaisers Nikulaus hatte „geistige Skopzy" erwähnt, deren Oberhaupt ein früherer Soldat, Namens Nikonow, Seiiwanow persönlich gekannt hatte und sich für seinen Nachfolger ausgab.2) Obgleich er selber verschnitten war, läugnete dieser Reformator dennoch die unbedingte Nothwendigkeit der Verstümmelung. Es wäre ein merkwürdiges Schauspiel, wenn die barbarischste aller russischen Sekten sich so vor unseren Augen in eine harmlose Gemeinde von Laienmönchen verwandeln würde. *) Nach einigen Quellen sollen die Skopzy manchmal mit dem bei der Castrirung eines Kindes flicssenden Blut conimiinicircn; doch ist dies keineswegs bewiesen. ■f Sbornik pravil. svved. II, S. 122-124. Leroy - lleauliou, lieieli d. Zarou u. d. Huuscn. III. Bd. 30 Neuntes Kapitel. Rationalistische oder protestantische Sekten. — Molokaner und Duchoborzy. — Ihr Ursprung und ihre Theologie. Eigenthümliche Lehren über Gott und Seele. — Meinungen dieser Sektirer über Staat und Gesellschaft. Radicalc und socia-listischc Tendenzen. — Die übschtechjie oder Communisten. Verwirklichung ihrer Principien. — Der Stumlisnius. Wie der Geist der Reform, ausgehend von den deutschen Colonien des Südens, zum Mushik vorgedrungen ist. — Lehren und Fortschritte der Stundisten oder russischen Evangelischen. — Die Sabbattisten oder .Tudenchristen. Woher stammen sie? Unitarier mit judaisirenden Riten. Skopzy und Chlysty können eigentlich, wie die amerikanischen Mormonen, nur geringen Anspruch auf den Namen „Christen" machen, diese Sekten sind weniger Abzweigungen als Nachäffungen des Christenthums. Das Volk selbst verstand unter dem Kultus des Geistes etwas ganz anderes als die Geissler oder die Verschnittenen. Der Mushik hat sich, wenn er dem Aberglauben des Ritualismus entfliehen wollte, nicht immer den Verirrungen des Illuminatenthums in die Arme geworfen. Die reformistischen, so zu sagen protestantischen und die rationalistischen Tendenzen werden in Russland von mehreren Sekten vertreten, von welchen einzelne schon ziemlich alt, andere wieder ganz neuen Datums sind. Unter ersteren giebt es besonders zwei nahverwandte, die durch ihre Geschichte und ihre Lehren mehrfach zu einander in Beziehung stehen. Es sind dies die Duchoborzy oder Geisteskämpfer und die Molokani oder „Milchtrinker"; letztere werden so genannt, weil sie auch an denjenigen Tagen Milch gemessen, wo diese Nahrung eigentlich verboten ist. Wenn sie auch die Fasten inne halten, so behaupten sie doch, dass diese hauptsächlich im geistigen Sinne zu verstehen seien. Einige unter ihnen enthalten sich allerdings des Schweinefleisches, der schuppenlosen Fische und der im Alten Testament verbotenen Speisen, sie suchen aber diese Enthaltsamkeit aus hygienischen Gründen zu erklären. Mitten unter dem russischen Volke, das sonst so grosse Achtung vor allen kirchlichen Vorschriften hegt, zeichnen sich die Molokaner und Duchoborzy durch ihre Geringschätzung aller traditionellen Kulturformen aus. Diese russischen Reform irien nennen sich selber „geistige Christen" und verwerfen die meisten äusserlichen Uebungen, Ceremonien und Sakramente als materialistisch und götzendienerisch. In diesen „Geisteskämpfern" und „Milchtrinkern" verkörpert sich die Reaction des Gedankens und des Gefühls gegen den Formalismus der orthodoxen Kirche und der Starowjär. Die Uebertreibung des Ritualismus, wie sie im Raskol und in der herrschenden Kirche um sich gegriffen hat, führt zur Verneinung des Rituals; die Streitereien über die Ceremonien führen zur Verwerfung alles Ceremoniells, das zum Ausgangspunkt aller erdenklichen Zänkereien und Sektenbildungen geworden ist. Die „Raskolniks", sagte einer dieser Formverächter, „lassen sich dafür, dass sie das Zeichen des Kreuzes mit zwei Fingern machen, zum Richtblock schleppen; was uns betrifft, so bekreuzen wir uns weder mit zwei noch mit drei Fingern, aber wir suchen Gott besser zu erkennen." Wie die Linke des Raskol, wie die Bespopowstschina, anerkennen Duchoborzy und Molokani keine Priesterschaft, aber nicht deswegen, weil sie behaupten, dass die Kirche ihre priesterliche Macht verloren hätte, sondern weil ihrer Ansicht nach die „wahrhafte Kirche" keiner Priester bedarf. „Es giebt keinen obersten Priester, keinen Herrn des Glaubens ausser Christus;" sagen die Molokaner.1) „Wir sind allesammt Priester." Derselbe Gedanke findet sich auch bei vielen Bespopowzy, welche ebenfalls behaupten, zum ursprünglichen Priesterthum, zum „Priesterthum des Melchisedek" zurückgekehrt zu sein. Ein einfacher Aeltester oder Presbyter, ohne jeden priesterlichen Charakter, führt in den Versammlungen der Molokaner den Vorsitz. Er hat gar keine Gewalt über die Gemeinde und zeichnet sich während des Gottesdienstes vor den übrigen Mitgliedern nicht einmal durch ein besonderes Gewand oder Amtskleid aus. Gott ist Geist und will im Geiste und in der Wahrheit angebetet werden. Dies ist die Grundlehre der geistigen Christen; und diese Grundlehre suchen sie mit der dem russischen Bauern eigenen Logik consequent durchzuführen. Gott ist Geist, spricht der eifrige Molokaner, darum soll sich der Christ nur im Geiste vor ihm niederwerfen. Gott ist Geist, darum ist jedes Bildniss ein Götzenbild. Die Duchoborzy-Bauern in Neurussland antworteten den von der Regierung zu ihnen gesandten Bekehrern, die ihnen das Bild des Gekreuzigten vorwiesen: „Das ist nicht der Erlöser, das ist eine bemalte Tafel. Wir glauben an Christus, aber nicht an einen Christus aus Kupfer, Gold oder Silber, sondern an den lebendigen Christus, den Sohn Gottes, den Erlöser der Welt." Es giebt kaum etwas einfacheres als der Gottesdienst dieser Sekten. Die Molokaner haben weder Kirchen noch Kapellen; denn nach ihrer Lehre ist das Menschen- b Weroispowedanie Duchownych Christian obyknowcnno nazywaümych Mo-lokanami (Glaubenslehre der geistigen Christen, die gewöhnlich Molokaner genannt werden). Genf, 1865. S. 99-102. herz der einzige Tempel Gottes. Sie nehmen das paulinische „Templum Dei estis" ganz wörtlich. laue Kirche — sagen sie — besteht nicht aus Balken, sondern aus Rippen: ne w brewnach zerkow a w rebrach, des Menschen Brust ist der Tempel Gottes und nicht ein von Menschenhänden errichtetes Gebäude. Sie halten ihren Gottesdienst in irgend einem Hause ab, — und dieser besteht im Vaterunser, in einer Vorlesung aus der Heiligen Schrift-und im Absingen von Psalmen. Der Molokaner weist die ganze mystische Stufenleiter von Gnaden und Sakramenten, welche die Kirche zwischen Himmel und Erde errichtet hat, mit Verachtung zurück und behauptet, dass er sich durch eigene Kraft zu Gott erheben könne. Er lässt die Sakramente ganz fallen, oder fasst sie nur allegorisch auf. Die Wassertaufe hat nach seiner Meinung keine Kraft; nicht das körperliehe Wasser, sondern das lebendige Wasser des göttlichen Wortes thut dem Christen noth. Die Busse besteht darin, dass man seine Fehler bereut; der geistige Christ beichtet Gott oder seinen Brüdern, wie es Paulus vorgeschrieben. Die wahrhaftige Communion des Fleisches und Blutes Christi besteht darin, dass man die Worte des Erlösers liest und darüber nachdenkt. Wenn sie auch zur Erinnerung des Heilands gemeinsam das Brod brechen, so sehen sie darin kein „Mysterium". Ebenso bildet bei den „Milchtrinkern" nicht die Trauungsceremonie das Wesentliche der Ehe, sondern die Liebe und Uneigennützigkeit der Ehegatten. Bei den Hochzeiten begnügen sie sich mit dem Segen der Eltern. Der Kultus der Duchoborzy und der Molokaner ist leicht fasslich; Ursprung und Theologie der beiden Sekten sind in Dunkel gehüllt. Diese russischen Reformirten scheinen indirect aus der Reformation Luthers und Calvins hervorgegangen zu sein. Die zahlreichen Fremden, welche sich seit und sogar schon vor Peter dem Grossen in Russland aufhielten, scheinen gleichsam den Samen von allerhand Häresien an ihren Schuhsohlen ins Land geschleppt zu haben. Für die im Südwesten des Weiches, an den Grenzen Europas, entstandenen rationalistischen Sekten wollte man durchaus russische oder slavische Vorgänger auffinden. Die Molokaner, welche den ursprünglichen Christenglauben bewahrt oder wieder aufgefunden zu haben behaupten, führen ihren Ursprung in Russland bis auf die Söhne Ruriks zurück. Nach einigen Geschichtsschreibern wären die moskowitisehen Häretiker oder Freidenker des sechzehnten Jahrhunderts ihre Vorgänger; besonders ein gewisser Raschkin, der in Moskau im Jahre 1555 verurtheilt wurde. Dennoch aber machten sich erst im achtzehnten Jahrhundert in den beiden Schwestersekten der Duchoborzy und der Molokaner solche protestantischen Tendenzen geltend. Unter ihren Vorgängern wird ein Arzt, namens Dmitri Tweritinow erwähnt, der um 1714 verfolgt wurde, weil er den Calvinismus gepredigt hatte. Der erste Apostel der „Geisteskämpfer" scheint ein alter Soldat oder Unteroffizier, wahrscheinlich fremden Ursprunges — vielleicht war er ein deutscher Gefangener — gewesen zu sein, der um 1740 in einem slohodischen Dorfe der Ukraine auftauchte. Hier wurden Russen, besonders die Kolesnikow, seine Schüler, und diese verbreiteten seine Lehre unter ihren Landsleuten. Die Ukraine, in welcher es damals von Verbannten und Sektirern aller Art — von Russen und Polen — wimmelte, war ein für die Entstehung von Sekten sehr geeigneter Boden. Die Lehre der Duchoborzy von Jekaterinoslaw soll schon um 1791 in einem Glaubens-bekenntniss niedergelegt wrorden sein, das man den ukrainischen Schriftsteller Skorowoda zuschreibt, dessen moralische und religiöse Schriften damals einen grossen Einfluss auf die „geistigen Christen" ausgeübt haben sollen. Aus der Ukraine drang die neue Lehre nach der Gegend von Tambow vor, wo sie in einem Propheten, namens Pobirochin, einen Verbreiter fand. Letzterer scheint ein herrschsüchtiger und heftiger Mann gewesen zu sein, ein Mystiker und zugleich ein Fanatiker, der seine Anhänger als wahrer Despot regierte. Sein Schwiegersohn oder Schwager (ssiat) Uklein, ein Steinmetz, entzweite sich mit ihm und bildete eine besondere Gemeinde, aus welcher die Molokaner von Tambow hervorgegangen sein sollen. Dieser Uklein führte die Lehre im rationalistischen Sinne fort und entfernte die mystischen Elemente daraus. Noch vor Ende des achtzehnten Jahrhunderts waren die Molokaner bis an die Wolga und nach Moskau vorgedrungen. Diese Neuerungen entgingen der Aufmerksamkeit des Klerus und der Regierung nicht. Der Name „Molokani" findet sich schon 1705 in einem Bericht des Heiligen Synod. Paul I, verfolgte diese russischen Reformirten mehr aus politischen als aus religiösen Gründen, da sie durch ihren Radioalismus in Religionssachen auf einen gewissen politischen Radicalismus geführt worden waren. Alexander I. zeigte sich, nachdem er in ihren Dörfern durch die Senatoren Lopuchih und Melezky eine Untersuchung hatte anstellen lassen, duldsamer gegen sie. Die Sektirer, die unter Paul I. gruppenweise nach Sibirien verbannt worden waren, verlangten in einem neuen Lande mit einander vereinigt zu werden. Man wies ihnen darauf um 1800 an der Molotschna, in der Gegend von Melitopel, nördlich vom Asowischen Meer, Ländereien an. Hier bildeten die Duchoborzy eine Art Bauernrepublik, welche ein gewisser Kapustin, ein früherer Corporal, der ihr Gesetzgeber geworden, mit dem den russischen Sektirern eigenen praktischen Sinn leitete. Neben diesen „Geisteskämpfern" wurden Molokaner angesiedelt, die sich als gesonderte Gemeinde constituirten. Die Anhänger dieser beiden Sekten lebten daselbst ungefähr ein halbes Jahrhundert friedlich im Verkehr mit mohamedanischen Tataren und deutschen Wiedertäufern, die sich ebenfalls daselbst niedergelassen hatten und deren Lehren auf die ihrigen einwirken konnten. Dieses „Israel der Steppen" wurde zu verschiedenen Malen von hohen Persönlichkeiten besucht, z. H. von Alexander L, den seine Neigung zum Illuminatenthum nach der Mo-lotschna geführt hatte. Im Jahre 1817 oder 1818 wollten englische Quäker diese asowischen Brüder kennen lernen, die man ihnen als ihre Religionsgenossen geschildert hatte. Sie freuten sich in Russ-land ein neues Ponsylvanien entdeckt zu haben, sie verhandelten durch Dolmetscher mit den angesehensten Duchoborzy, staunten über ihre Bibelkenntniss und erschraken zugleich über die Kühnheit ihrer Speculationen.1) Zwanzig Jahre später besuchte Haxthausen die Ufer der Molotsclma; aber, damals waren die meisten Duchoborzy schon vertrieben. Der Tod ihres Gesetzgebers Kapustin hatte sie in Anarchie gestürzt, und 1841 hatte Kaiser Nikolaus den Befehl gegeben, alle Häretiker, die nicht in den Sohoss der orthodoxen Kirche zurückkehren wollten, nach dem Kaukasus überzuführen. An 8000 Sektirer beider Gemeinden mussten damals nach Transkaukasien auswandern. Dort haben sie Dörfer gegründet, die heute noch blühen. Einzelne Gruppen dieser Verbannten sind bis in die zuletzt vom Zaren eroberten Landstriche vorgedrungen. In der Gegend von Datum und von Kars zählte man 1888 mehrere Tausend derselben, die von Ackerbau und Gärtnerei lebten. Wie so viele andere, waren auch diese „geistigen Christen" die Pioniere der russischen Colo-nisation. Die „Geisteskämpfer" und die „Milchtrinker" unterscheiden sich in mehreren Punkten ihrer Lehre. Die erstere Sekte, die heutzutage numerisch geringere, ist in ihren Glaubenssätzen origineller. Ihr Rationalismus ist stark mit Mysticismus durchsetzt. Man hat zwischen den modernen Duchoborzy und den mittelalterlichen Bogu-mils mehr als einen ähnlichen Zug entdecken wollen. Einzelne 1) Siehe „The Quäkers" von Cuninghum, Edinburg IH08. Liwanow, Raskolniki i Ostroschniki, Band II. Haxthausen, Studien. I., S. 412. Russen, die eifersüchtig jeden abendländischen Einfluss ableugnen, haben von einem geheimen Einfluss der bulgarischen Häresie auf die russische gefabelt. Die Lehre der Duchoborzy erscheint trotz ihrer Dunkelheit als eine der kühnsten Betätigungen des Volksgedankens. Aber von solchen von ungelehrten Bauern gegründeten Sekten darf man auch keine fest normirte Theologie erwarten. Während so der Molokaner, wie die Protestanten, seine Religion nur auf die Bibel begründen will, weist der Duchoborz den heiligen Büchern nur eine secundäre Rolle zu. Dagegen hält er sehr viel auf die Ueberlieferung; er nennt den Menschen „das lebendige Buch", im Gegensatz zu der nur aus todten Buchstaben bestehenden Heiligen Schrift. Er sagt: Christus selber habe der Rede vor der Eeder den Vorzug gegeben. Ein den Duchoborzy hauptsächlich eigentümlicher Zug ist der Glaube an die innere Offenbarung. Nach ihrer Ansicht spricht das göttliche Wort in jedem Menschen, und diese innere Stimme ist der ewige, lebendige Christus. Die meisten Dogmen verwerfen sie oder fassen sie symbolisch auf; so die Menschwerdung Christi, den Erlösertod und die Dreieinigkeit. Hier legen unwissende Bauern die Mysterien in ähnlicher Art aus, wie die Hegelianer. Die Menschwerdung Christi vollzieht sich, so behaupten sie, im Leben eines jeden Gläubigen: Christus lebt, lehrt, leidet und aufersteht im frommen Christen. Sie leugnen die Erbsünde, indem sie behaupten, dass jeder nur für seine eigenen Fehler verantwortlich sein könne. Wenn sie irgend eine ursprüngliche Befleckung zugeben, so verlegen sie dieselbe vor die Schöpfung der Welt und erblicken sie im Abfall der Geister; denn in ihrer halbgnostischen Kosmogonie glauben sie an die Präexistenz der Seele. Wegen dieses Glaubens hat man ihnen ebenso barbarische als folgerichtige Gebräuche zugeschrieben. Als Haxthausen die Körperkraft der Duchoborzy an der Molotschna auffiel, antwortete ihm sein Führer: „Das ist gar nicht sonderbar; denn diese „Geisteskämpfer" tödten alle schwächlichen und missbildeten Kinder unter dem Vonvand, dass die Seele, das Ebenbild Gottes, nur in einem gesunden Körper wohnen dürfe." Einige dieser Bauern sind in ihren Speculationen soweit gekommen, dass sie Gott nur noch eine subjective Existenz zuerkennen und ihn geradezu mit dem Menschen identiliciren. Gott, sagen sie, ist Geist, er ist in uns, wir sind Gott. Wie die Glysty verneigen sich auch die Duchoborzy in ihren Versammlungen vor einander, um so im Menschen die lebendige Form Gottes anzubeten. Der Prophet Pobirochin, einer ihrer Führer im achtzehnten Jahrhundert, soll gelehrt haben, dass Gott selber an sich gar nicht existire und vom Menschen unzertrennlich sei. Die Gerechten müssen gewisser-massen erst Gott das Leben schenken. So sprechen diese Mushik in ihrer Art das „Fiat Deus" einiger unserer Philosophen. „Gott ist der Mensch", wiederholen die Duchoborzy gerne; „die göttliche Dreieinigkeit heisst Gedächtniss, Vernunft und Wille." In Ueber-einstimmung mit dieser Auffassung verneinen sie das ewige Leben, Himmel und Hölle. Die Verheissung des Himmels soll sich schon auf Erden erfüllen; zwischen dem gegenwärtigen Leben und dem zukünftigen besteht kein wesentlicher Unterschied. Die menschliche Seele wird nach dem Tode nicht in eine andere Welt versetzt, sondern sie vereinigt sich aufs neue mit einem menschlichen Körper, um auf Erden ein neues Leben zu beginnen. So treten die Duchoborzy schliesslich aus dem Rahmen des Christenthums heraus. Ihnen ist Christus nur ein tugendhafter Mensch. „Jesus ist Gottes Sohn in dem Sinne, wie wir uns selber Kinder Gottes nennen; unsere Greise — meinen sie — wissen davon mehr zu sagen als er." Ihre Ansicht von der Kirche stimmt mit ihrer Theologie überein. Nach ihrer Meinung ist die Kirche die Vereinigung aller derer, die im Lichte und in der Gerechtigkeit wandeln, welcher Nation sie auch angehören mögen, ob Christen, ob Juden oder Mohamedaner. Eine solche Lehre konnte unier der russischen Bevölkerung kaum viele Anhänger finden. Darum waren auch die Duchoborzy niemals sehr zahlreich. Es giebt deren auch heute nur einige tausend, während die Molokaner nach hunderttausenden zählen. Die Lehre der „Geisteskämpfer" war zu abstract, um unter einem rohen Volke viele Eroberungen machen zu können. Das „geistige Christenthum" konnte beim Mushik nur unter einer zugänglicheren Form Verbreitung finden. Daher die „Milchtrinker". Bei diesen hat sich der mystische Idealismus der Duchoborzy verflüchtigt, und nur der reine Rationalismus ist zurückgeblieben. Die Molokaner legen die Heiligen Bücher kaum weniger frei aus, auch sie stützen sich auf den Grundsatz: „Der Buchstabe tödtet, aber der Geist machet lebendig". Da sie in den entlegensten Gegenden Anhänger besitzen, kann man bei ihnen verschiedene Gruppen und Meinungen unterscheiden. Es scheint, dass sie nicht immer an die historische Wahrheit der evangelischen Erzählungen glauben; aber, ihrer Meinung nach, thut dies auch wenig zur Sache, da man im Evangelium alles im figürlichen Sinne nehmen muss. Die Molokaner sind offene Unitaristen, und der Fremde ist nicht wenig erstaunt bei unbekannten, von der Welt abgeschiedenen Volksgemeinden, das Christenthum eines Newton, Milton und Locke anzutreffen. Man denkt unwillkürlich an den Socinianis- mus, der in Polen Aufnahme fand, zu einer Zeit, wo er im abendländischen Europa so wenig Anhänger zählte; es ist als ob die slawischen Völker des Osten im Verkehr mit Juden und Mohamedanern um so leichter zur hebräischen Auffassung der Einheit Gottes zurückkehren könnten. Man hat die Molokani und die Duchoborzy beschuldigt, dass sie die weltliche Autorität wie die geistliche verwürfen. Man hat ihnen den Lehrsatz unterschoben, Regierungen seien nur für Bösewichte da. Die socialen Ansichten dieser Rationalisten gipfeln in einer Art demokratischer Theokratie. Nach den Molokanern sollen Staat und Kirche nicht getrennt sein, beide sollen ein Ganzes bilden. Die bürgerliche Gesellschaft bildet in Wahrheit die Kirche; und als solche soll sie auf die evangelischen Grundsätze der Liehe, der Gleichheit und Freiheit gegründet sein. Man stösst hier fast in demselben Wortlaut auf den Wahlspruch der französischen Revolution, aber mit dem Grundunterschied, dass die erste Bedingung „Liebe" und der Ausgangspunkt Gott ist. „Denn der Herr ist der Geist" — spricht der Molokaner mit Paulus (2. Corinther 3, 17) — wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit". Der wahre Christ muss von allen menschlichen Pflichten und Satzungen frei sein. Die irdischen Regierungen mögen wohl von Gott eingesetzt sein, aber sie haben nur für die Weltkinder Geltung; denn von den Christen spricht der Herr: „Sie sind nicht von der Welt, wie denn auch ich nicht von der Welt bin" (Ev. Joh. 17, 14). Die Gesetze der Menschen sind nicht für die „Gerechten"; der wahre Christ soll sich nicht diesen veränderlichen Gesetzen unterwerfen, sondern den ewigen Geboten, die Gott selber auf die Tafel des menschlichen Herzens geschrieben hat. So gelangen die Molokaner zur Verachtung der Behörden und der positiven Gesetze. Mit der Bibel in der Hand kommen sie vom theologischen Radicalismus zum politischen. Die .Molokaner und Duchoborzy haben wie die Quäker und die mährischen Brüder, denen sie in manchen Punkten gleichen, eine heilige Scheu vor dem Eid und dem Krieg, da sie die Stellen der Schrift, welche zu schwören und das Schwert zu ziehen verbieten, wörtlich nehmen. Einige unter ihnen haben sich nicht nur dem Militärdienst, sondern auch der Steuerzahlung widersetzt. Wohl hat Christus gesagt: „Gebet dem Kaiser was des Kaisers ist"; aber die geistigen Christen, die nur Gott angehören, sind dem Kaiser nichts schuldig. Gemäss diesen Grundsätzen vermochten manche sich den Steuern und den Rekrutenaushebungen zu entziehen, aber diese Widersetzlichkeiten wurden von Kaiser Nikolaus strenge geahndet. Viele wurden gelmutet und deportirt; andere wurden nach einer öfters von der Selbstherrschaft angewandten Methode in Irrenhäuser gesteckt. Seitdem mussten sich die „Milchtrinker" dem allgemeinen Gesetze fügen. Wie die äusserste Linke des Raskol mussten auch sie zu Com-promissen greifen. So geben die donischen Molokaner zu, dass man sich als Soldat für die Verteidigung des Vaterlandes schlagen dürfe. Andere aber haben sich dem Waffendienst so hartnäckig widersetzt, dass die Regierung sie in den Ambulanzen und zu ähnlichen Hilfsdiensten verwenden musste. Uebrigcns leugnen die Molokaner in der Theorie noch oft die Berechtigung der Gesetze und Behörden, selbst wenn sie sich in der Praxis friedlich denselben unterwerfen. Sie wollen im Kaiser keineswegs den Gesalbten des Herrn erkennen; nochmehr, gestützt auf die Einwände Samuels gegen das Königthum Sauls, bestreiten sie die Nützlichkeit der monarchischen Verfassung. Mit der kaiserlichen Gewalt verwerfen sie Klassenunterschiede, Rang und Titel als dem Evangelium zuwiderlaufend J). Da sie trotz diesen revolutionären Grundsätzen friedlich unter einer Regierung leben, deren Gewalt sie eigentlich bestreiten, so hat man sie oft verdächtigt, dass sie sich nur aus Notwendigkeit dieser Gewalt fügten, und dass sie nur den Zeitpunkt abwarteten, wo die wahren Christen stark genug sein würden, um das Joch der Weltkinder abzuschütteln, alsdann würden sie das Reich der Heiligen aufrichten. Wie die meisten russischen Sektirer haben auch die Molokaner ihre apokalyptischen Träume. Ihr Rationalismus hat sie keineswegs vor den Hoffhungen auf das tausendjährige Reich bewahrt. Auch sie träumen von einer nahe bevorstehenden Erneuerung der Erde und erwarten unter der Bezeichnung des „Reiches vom Antrat" die Herrschaft der Gerechtigkeit und Gleichheit. Man erzählt, im Jahre 1812 hätten die Kosaken eine Deputation der Molokaner oder Duchoborzy angehalten, welche Napoleon befragen sollte, ob er der von den Propheten geweissagte Messias sei. Aus diesen „Milchtrinkern" ist eine Gruppe von Sektirern hervorgegangen, die nicht auf die Errichtung des „Reiches vom Ararat" warten wollten, um ihre Träume von den Umwandlungen des socialen Lebens zur That werden zu lassen. Sie predigten die Gütergemeinschaft und wurden daher „Obschtschie" genannt, was sich, nichtganz genau, durch „Communisten" übersetzen lässt. An ihrer Spitze stand ein gewisser Popow, der im Jahre 1825 sein Apostolat damit begann, dass er sein Vermögen unter die Armen vertheilte. Im l) Kostomarow, Otetscb. Sapiski, März 1801). Gouvernement Samara nahmen ganze Dörfer diese Lehre an, welche russischen Ohren wohl weniger hart erscheint als abendländischen. Um dieser merkwürdigen Propaganda*ein schnelles Ende zu machen, deportirte die Regierung Popow und seine hauptsächlichsten Anhänger nach den transkaukasischen Ländern. Dem Propheten gelang es jedoch, nach langen Jahren des Elends, eine neue Gemeinde um sich zu versammeln. Dies trug ihm eine neue Deportation, diesmal nach den Einöden von Ostsibirien, ein. Man sagt, dass er 18G7 noch in der Gegend des Jenissei gelebt habe. Popow leitete seine Lehre direkt aus den Evangelien und der Apostelgeschichte ab. Seine Schüler wollten dadurch, dass sie Gütergemeinschaft einführten, den ersten Christen ähnlich werden. Wie diese legten sie ihre Reichthümer zu Füssen ihrer Apostel nieder, deren Anzahl sie, um die Nachahmung vollständig zu machen, auf zwölf fixirt hatten. Geld, Däuser, Vieh und landwirtschaftliche Geräthe gehörten allen gemeinsam, ebensogut wie der Acker. Irgend einen persönlichen Besitz gab es nicht. Jedes Dorf musste eine Gemeinde bilden; jede Gemeinde zeriiel aber, um den landwirth-schaftlichen Betrieb möglich zu machen, in Unterabtheilungen, in Arbeitergruppen, denen Vieh und Geräthe zugetheilt worden. Jede Gruppe hatte ihre männlichen oder weiblichen Ordner, von denen einige die Feldarbeit, andere die Hauswirthschaft, die Küche, die Wäsche und die Kleiderkammern zu überwachen hatten. An der Spitze der Gemeinden standen von den Interessenten gewählte Centraibehörden. Um ihre Utopie zu verwirklichen, waren die Obschtschic gezwungen gewesen, ihren Dörfern eine klösterliche Verfassung zu geben. Der Gründer Popow ging sogar soweit, dass er die jedem Molokaner so theuren Rechte der freien Diskussion und Schriftauslegung unterdrückte. Gehorsam gegen die Vorgesetzten erklärte er als die erste und vorzüglichste Christenpflicht, Ungehorsam als die grösste Sünde. Dies lag notwendiger Weise in seinem communistischen System begründet; denn nur durch eine gewissenhafte, fast klösterliche Disciplin Hessen sich diese frommen Phalan-sterien aufrecht erhalten. Dessen ungeachtet wurden aber die Schüler Popows der einer solchen Verfassung stets anhaftenden Knechtschaft bald überdrüssig. Ihr Eifer erkaltete und schliesslich vertheilten sie , ihre Güter unter die verschiedenen Familien. Von allen ihren Einrichtungen ist nichts übrig geblieben als ein Communalspeicher, worein jede Haushaltung den zehnten Theil ihrer Ernten für die Armen abliefern muss. Solche „Communisten", die eigentlich gar keine Communisten mehr sind, linden sich nur noch in Trans-kaukasien, im Dorfe Xikalaiewka. Popow war keineswegs der einzige Apostel des Communismus in Pussland. In Wald, und Steppe wurde dasselbe Evangelium zu verschiedenen Malen verkündet. Gegen Ende der Regierung Alexanders 11. predigte ein Prophet Namens Grigorieff in der Gegend von Samara den Molokanern nicht nur Gütergemeinschaft, sondern auch Weibergemeinschaft, indem er behauptete, Christus habe den Menschen aus allen Schranken und Banden erlöst, darum dürfe der wahre Christ Alles frei gemessen, die Liebe so gut wie alles andere1). Communistische Neigungen traten bei Sektirern verschiedener Richtungen zu Tage. So bei den „Irrenden" : die Ausdrücke „mein" und „dein" sind verflucht, lehrte Eugenius, der Prophet der letzteren. Ebenso bei den Schaloputen, einer Abart der Chlysty, die um 1800 und 1870 die Lehre der Gütergemeinschaft in einigen Dörfern einzuführen suchten. Ausserhalb der Sekten, in welchen der Communismus förmlich gepredigt wurde, waren manche Skiten der Raskolniks wahre Phalansterien, wo Brüder und Schwestern als Gleichberechtigte lebten, gemeinsam arbeiteten und den Ertrag ihrer Arbeit unter sich theilten. In der That, wenn der Communismus überhaupt nicht eine reine Unmöglichkeit ist, so lässt er sich — selbst theilweise — kaum anders als mit Hilfe einer religiösen Disciplin und der allgemeinen Wohlthätigkeit tatsächlich durchführen. Der religiöse Communismus allein hat einige Aussicht auf Bestand, nicht nur weil er auf den Glauben und die Nächstenliebe gegründet ist, sondern weil sein Grundsatz weniger darin liegt, die Güter dieser Welt zu erlangen, sondern ihnen zu entsagen, weil hier nicht die Armen auf die Güter der Wohlhabenden spekuliren, sondern die Reichen mit den Armen theilen wollen. Dies ist einer der wesentlichsten Unterschiede zwischen dem religiösen und dem revolutionären Socialismus; dies würde auch genügen, ersteren da und dort in kleinen, freiwilligen Gemeinden lebensfähig zu machen, während der letztere absei ut unrealisirbar ist. Diese Sektirer und herumziehenden Propheten, welche die menschliche Gesellschaft umwandeln und auf Erden eine Art Gottesstadt gründen wollen, sind allerdings Schwärmer, ihre Bestrebungen sind aber dennoch weniger unmöglich als diejenigen unserer Weltverbesserer, welche dieselben Träume hegen, denen aber kein Gottesglaube Kraft zur Verwirklichung dieser Träume leiht. Vergleichen wir die Schüler Popow's und unsere Communisten, so sind *) Mackenzie Wallace, Busala, 2. Aull., Bd. L, S. 456. die Mushik, die ihre Lehre auf das Evangelium zu gründen vorgeben, eigentlich — die weniger naiven. Soll man, wie einige Russen es anzunehmen scheinen, glauben, dass in diesen obscuren Gesellschaften der Keim einer socialen Umgestaltung liege? Wir denken nicht. Aber nicht wegen der geringen Bildung, der kleinen Zahl oder der Zerstreutheit dieser Bauerngruppen , bei welchen diese Versuche angestellt werden, zweifeln wir daran, sondern weil diese Umgestaltungen sich nur unter dem Schutze der Religion vollziehen lassen und, wenn sie sich in ihrem Schutze verwirklicht haben, diese Religion nicht entbehren können. Wenn aus diesen Anfangen eine grosse Umgestaltung des Eigenthums, der Familie und des Staates hervorgehen sollte, so müsste man — was auch der Traum vieler Raskolniks ist — Russland zuerst in eine Art theokratischer Republik oder in einen klösterlich eingerichtetc n Fö11erativstaat umwandeln. Andererseits aber würde man sich ebenfalls täuschen, wenn man in den mehr oder minder communistischen Neigungen dieser oder jener Sekte nichts weiter als Schlussfolgerungen aus ihren Lehren erblicken wollte. Diese Neigungen finden im Volke selbst, sozusagen im Boden, ihre Begründung1). Soll man dasselbe vom Geist der Brüderlichkeit sagen, der alle diese kleinen Sekfiror-gemeinden durchzieht? Auch seine Keime linden sich im Nationalcharakter und in gewissen Einrichtungen der Gemeinden; voll und ganz aber kann er nur im Schutze des Glaubens seine Blüthe entfalten. Wenn er sich bei den Dissidenten am stärksten erweist, so kommt dies daher, weil bei den Dissidenten gewöhnlich mehr religiöse Gesinnung herrscht als bei den übrigen Mushik. Auch die „geistigen Christen" geben darin den Raskolniks nichts nach. Die Molokaner dulden keine Bedürftigen unter sich; aber auch sie können der Armuth nur durch Mildthätigkeit und dadurch, dass sie sich in Unglücksfällen beistehen, steuern. End dies ist gewiss in kleinen Bauerndemokratien viel leichter als in grossen Fabrikstädten. Dasselbe gilt auch von der „Gleichheit", die manche dieser Sektirer bis zu den widernatürlichsten Uebertreibungen steigern. Die Duchoborzy erklären nicht nur die Geschlechter, sondern auch die Alterstufen für gleichberechtigt. Sie vermeiden sogar die Namen „Vater" und „Mutter", die Kinder nennen ihre Eltern einfach „der Alte" und „die Alte" (Starik, Starucha) oder rufen sie bei ihren Vornamen, Peter, l) Siehe Band I, Buch VIII, Cap. VII. Hans, Martha. Die Frauen bethätigcn ihre Gleichberechtigung dadurch, dass sie wie ihre Männer trinken und rauchen. Her evangelische Rationalismus tritt uns in Kleinrussland in einer neueren und einfacheren Form entgegen als in der Molokanstwo. Der Stundismus — die Russen sprechen das Wort aus wie das deutsche „Stunde", von welchem es abgeleitet ist — ist, wenn auch eine der jüngsten, so doch eine der mächtigsten Sekten des Reiches. Zwei Umstände verleihen dieser allerncusten Häresie ein ganz besonderes Interesse: es ist vielleicht die einzige, die nicht aus der grossrussischen Bevölkerung hervorgegangen ist und die einzige, die sich direkt aus dem abendländischen Protestantismus ableiten lässt. Der Stundismus wurde im Jahre 1867 oder 1870 entdeckt. Er hat sich in einigen Jahren über ganz Südrussland verbreitet. Diese Thatsache musste um so mehr aullallen, als der Kleinrusse bis dahin nur wenig Neigung zum Sektenwesen gezeigt hatte. Bemerkenswerth ist ferner, dass der Süden und nicht der Norden der Ausgangspunkt der rationalistischen Sekten, der „Stunda" wie der Molokanstwo, gewesen ist. Auch in Frankreich hat der Protestantismus im Süden besser Fuss gefasst. Der Stundismus trat zuerst in der Umgebung von Odessa, in Kleinrussland, auf, in einer Gegend wo sich schon seit mehreren Generationen deutsche Lutheraner und Mennoniten niedergelassen hatten. Die Lehre und der Name der „Stunda" kommt von diesen deutschen Ansiedlern. Doch ist dies eine ganz neue Erscheinung; denn gewöhnlich hatten diese Deutschen sehr wenig Beziehungen zu ihren russischen Nachbarn und übten auf den Mushik nur sehr geringen Einfluss aus. Bei diesen zumeist schwäbischen Ansiedlern herrscht der Brauch, dass die frommen Leute zusammenkommen, um gemeinschaftlich die Bibel zu lesen. Diese Vereinigungen heissen in der neuen Heimath wie in der alten „Betstunden" oder kurzweg „Stunden"1), daher erhielten die Russen, die solche Betstunden besuchten oder sie nachahmten, den Spottnamen „Stundisten". Ein Pfarrer aus dem Dorfe Rohrbach kam um 1860 auf den Gedanken, auch kleinrussische Bauern zu solchen „Stunden" einzuladen, nicht etwa um sie zum Protestantismus zu bekehren — denn dies ist durch das Gesetz verboten — sondern, um sie moralisch zu heben. Dieser Pfarrer unterliess auch niemals, wenn er Kleinrussen unter die Brüderschaft der „Gottesfreunde" aufnahm, diese zu crmahnen, ') Mnn hat den Namen „Stundisten'' auch von den bekannten „Stunden der Andacht" ableiten wollen. dass sie desswegen ja nicht aus der orthodoxen Kirche ausscheiden sollten. Aber dieser Rath wurde nicht befolgt. Die Besucher der „Stunden" sogen die protestantischen Anschauungen ein und trennten sich immer mehr von der herrschenden Kirche. Die Wiege des russischen Stundismus scheint in der That das Dorf Raslopol zu sein, welches an die Niederlassung Rohrbach grenzt. Der Bauer Michael Ratuschny, der für den Gründer der russischen Stunda gilt, nahm die Lehre der Anabaptisten oder Mennoniten an und verlangte, das« sich seine erwachsenen Proselyten einer zweiten Taufe unterzögen. Ein anderer Bauer, Gerasim Balaban, läugnet im Gegentheil die Notliwendigkeit der zweiten Taufe und verwirft Riten, welche die russischen Baptisten beibehalten haben. Die Anhänger des Balaban, welche die zahlreichsten zu sein scheinen, nennen sich „evangelische Brüderschaft". Die Theologie dieser evangelischen Brüder, ob sie Baptisten sind oder nicht, scheint keineswegs sehr feststehend. Wie zahlreiche russische Sekten scheinen sie über das Dogma weniger klar zu sein als über den Kultus und die Sittenlehre. Als Bauern, die zuerst an das praktische Leben denken, haben sie mit einer Reform des < ödtesdienstes und der religiösen Gebräuche begonnen und sich wrenig um alles andere bekümmert. Sie haben fast alle Sakramente, einige sogar die Taufe, abgeschafft. Ursprünglich hatten sie wohl einzelne Feste und Riten beibehalten, aber auch diese wurden in der Folgezeit von der Mehrzahl ihrer Genossen wieder fallen gelassen. So zum Beispiel das Osterfest, das bei ihnen zu vielen Streitigkeiten Anlass gab. Wie die Molokaner verwerfen sie jede Art Priesterschaft. Der Gottesdienst der meisten Stundisten besteht nur im Singen von Psalmen oder Chorälen und Vorlesungen aus der Bibel. Jeder hat das Recht das Wort zu ergreifen und den heiligen Text auf seine Art auszulegen; dadurch findet manchmal auch die Polemik in ihren Versammlungen Eingang.]) Der Gebrauch der Lokalsprache, des Malorussischen, in ihren Gottesdiensten scheint viel zum Erfolge ihrer Predigten beigetragen zu haben. Die Stunda hat in derjenigen Zeit die schnellsten Fortschritte gemacht, wo gegen die klangvolle kleinrussische Sprache am strengsten vorgegangen wurde2). Verachtung der äusseren Formen ist derjenige Zug, der dem Klerus hauptsächlich bei der Stunda auffällt. So ist es auch in manchen Gegenden gelungen, den Fanatismus der orthodoxen Volks- v) Kiewskaja Starina (Kicwisehe Alterthümer) April 1882. •) Siehe Rand 1, Buch II, Kap. IV. müssen gegen diese gotteslästerlichen Verächter der Jungfrau Maria und der Heiligen aufzuhetzen. Der Uebertritt zur Stunda thut sich gewöhnlich zuerst durch die Entfernung der Heiligenbilder kund, die in einer russischen fsba den Ehrenplatz einzunehmen pflegen. Die Neubekehrten eines im Gouvernement Kiew gelegenen Dorfes gingen vor ein paar Jahren folgendermassen zu Werke. Sie nahmen ihre Heiligenbilder von der Wand, trugen sie gemeinsam zum Popen und sagten ihm, sie hätten die Bilder nicht mehr nöthig, da sie ihnen zu nichts nützen könnten. Manchmal scheinen aber diese neuen Bilderstürmer mehr von einem Geist der Berechnung und der Sparsamkeit als von religiösen Skrupeln geleitet zu werden; denn manchmal verwerfen diese Bauern die Sakramente und die Dienstleistungen der Kirche wohl weniger als etwas gottloses oder götzendienerisches, sondern vielmehr als eine ganz unnütze Ausgabe. In diesem Punkte zeigen sich die Kleinrussen gerade so praktisch wie manche „Priesterlosen" in Grossrussland; sie suchen eben einfach die Kirchengefälle zu umgehen. Sie fügen sich den Behörden, zahlen regelmässig ihre Steuern, weisen aber, trotz aller Verfolgungen, die Dienste des Klerus zurück; sie scheinen, wie unsere Revolutionäre, die Geistlichkeit als kostspielige Schmarotzer zu betrachten. Dem luxuriösen und pomphaften Kultus der orthodoxen Kirche ziehen sie einen, man könnte fast sagen häuslich-billigen Gottesdienst vor, der fast allein in Vorlesungen aus den heiligen Büchern besteht. Nach der Meinung ihrer Gegner zeichnen sich die „Stundisten" durch ihre Rechtschäffenheit, Massigkeit und Arbeitsliebe aus. Ein Gutsbesitzer aus dem Gouvernement Cherson sagte mir: „Seit unsere Bauern zur Ketzerei übergetreten sind, kann ich sie nur loben; sie betrinken sich nicht mehr, stehlen nicht mehr und kommen allen ihren Verpflichtungen pünktlich nach." Durch ihre Lebensweise und ihre Wohlhabenheit gewinnen diese Evangelischen mehr Anhänger als durch ihre Predigt. Der Mushik bekennt sich zu ihrer Lehre, um an ihrem Wohlstand Theil zu nehmen, wie die Stunda ihre ersten Anhänger durch das Bild wohlhabender Behaglichkeit, welches die deutschen Colonisten darboten, anlockte. Wie die meisten Sektirer halten die Stundisten sehr viel auf gute Schulbildung. Ihre ganze Religion gründet sich auf die Bibel; das Bedürfniss, diese heiligen Schriften lesen zu können, lenkt ihre Aufmerksamkeit auf die Schule. Aus der freien Auslegung der Texte zieht aber auch ein Geist der Freiheit und Unabhängigkeit in ihre Dörfer ein. Die jungen Haushaltungen wollen sich dem patriarchalischen Druck der alten russischen Familie nicht mehr unterordnen. Auch bei den Stundisten bildet die Religion zugleich die volk stimmliche Form der Frauenemancipation. Die „Babas" wollen gleichberechtigte Genossinnen, nicht mehr die Mägde ihrer Männer sein. Unter den Frauen finden sich daher auch oft die eifrigsten Apostel der Sekte. Wie die in denselben Gegenden wohnenden „Milchtrinker" zeigen auch diese neuen Molokaner Gleichheitsbestrebungen und communi-stische Tendenzen. Sie bilden eine Gesellschaft von Brüdern und Schwestern, in welcher alle Mitglieder gleichberechtigt sind. Wie man sagt, soll daselbst auch die gleichmässige Vertheilung des Bodens gepredigt werden, dies wäre in Südrussland, wo die periodischen Landvertheilungen des „Mir" nicht gebräuchlich sind, etwas ganz neues. „Die Erde gehört allen gemeinsam", sprechen diese bäurischen Reformatoren, „und jeder soll nur so viel vom heimischen Boden besitzen, als er bearbeiten kann." Das rasche Umsichgreifen des Stundismus ist eine der merkwürdigsten Erscheinungen des letzten Viertels unseres Jahrhunderts. Weder Ermahnungen der Geistlichkeit, noch polizeiliches und gerichtliches Einschreiten konnten diesen Desertionen aus der orthodoxen Kirche Einhalt thun. Umsonsl griff man, um die Flüchtlinge der herrschenden Kirche wieder zuzuführen, zu Geldstrafen und Ge-fäng'niss. Man kann die Stundisten behandeln, wie man seinerzeit die Molokaner behandelt hatte, man kann sie nach den äusserslen Grenzen des Reiches deportiren, nach dem Kaukasus oder nach Sibirien, und muss dabei noch fürchten, dass dieser neuen Sekte, wie den früheren, sogar die Verbannton wieder als Missionäre dienen. Man hat die Frage aufgeworfen, ob die Stundisten und die Molokaner wohl mit einander verschmelzen könnten, oder ob sich die Stunda zu kleinen Sekten verkrümeln würde. Aber diese Krage ist nur von secundärer Bedeutung, für uns ist es allein wichtig zu zeigen, in welcher Weise solche Lehren beim Mushik Fuss fassen können. Die Sache muss unsere Aufmerksamkeit um so mehr auf sich lenken, wenn wir sehen, dass der Molokanstwo und der Stundismus keineswegs die einzigen Manifestationen dieser Art sind. Wir haben gesehen, wie sich der Rationalismus und die freie Forschung allmählich beim Raskol eingeschlichen haben. Man kann bei den Nachkommen der fanatischen Altgläubigen heutzutage Ansichten hören, die denjenigen der Anhänger der deutschen Wiedertäufer an Kühnheit sehr wenig nachgeben. Auch die Bespopowzy sagen: „Die Kirche, das sind wir." Einige Priesterlose sagen sogar, für den Christen werde das tägliche Brot zum Abendmahl. Der Mensch, der sich redlich von einer Arbeit nährt, communiciro tagtäglich. Die im Ii e r oy-B o a u 1 io u , Kcich d. Zaren u. d, i; • < ... 31 Vordertreffen stehenden Sekten wirken auf den ganzen Raskol zurück. Einige Russen kündigen bereits die bevorstehende Auflösung des Schisma's zu Gunsten der radicalen Sekten an. Der Rationalismus verbreitet sich nach und nach über die düstern russischen Landstriche, die bis dahin in eine Wolke von Mysticismus gehüllt schienen; er durchsetzt die dichten Massen der Landbevölkerung, welche dem Anschein nach allen abendländischen Ideen so schroff gegenüber steht. Die freie Forschung tritt indessen an den Mushik nicht wie an den europäischen Bauern oder Arbeiter heran, d. h. in Gestalt eines widerlichen Materialismus oder eines öden und frivolen Skepticismus, sondern unter dem Schutze der Religion selber und im Namen des Glaubens. Diese sog. Rationalisten sind weit entfernt, das Evangelium, wie ein Kinderbuch, aus welchen der erwachsene Mann nichts mehr zu lernen hat, verächtlich bei Seite zu legen; nein, sogar in ihrem Abfall noch begeistern sie sich an den Worten Christi und suchen darin das Licht und die Wahrheit. Wenn man die atheistische Bevölkerung unserer Städte mit den Kühnsten unter diesen Ketzern vergleicht, so würde der ebengenannte Umstand schon allein genügen, um den Vergleich zu Gunsten des Russen ausfallen zu lassen; denn dieser besitzt noch einen Glauben, an welchen er seine moralische Erkenntniss anknüpfen, auf den er sich in Leiden und Schwachheit stützen kann. Der Mushik bleibt selbst in seiner Auflehnung gegen die Kirche religiös; die Religion ist die Wegzehrung seines Lebens. Selbst wenn er keine überirdischen Paradieseswonnen mehr von ihr erhofft, so soll sie ihm doch in diesem Erdenleben eine getreue Leiterin zum Glück und zur Zufriedenheit sein, wenn auch alle seine Hoffnungen sich vom Himmel auf die Erde herniedergesenkt haben, so soll ihm doch die Religion, die alte Trösterin, die Pforten des irdischen Paradieses öffnen. Die unklare Entwicklung des religiösen Gedankens innerhalb der russischen Sekten beruht weniger auf dem modernen „Abfall" als auf den Reformen des achtzehnten Jahrhunderts. Aber selbst aus dem grossen Schiffbruch aller überlieferten Dogmen hat sich der Mushik den Glauben an Gott und seine unsterbliche Seele gerettet. Es giebt in den niedern Volksschichten neben den reformirten, protestantischen Sekten auch eine solche mit jüdischen Tendenzen, welche älter aber weniger bekannt ist, als die übrigen; es ist die Sekte der Judaisirenden oder der Sabbatisten (Subbotniki). Diese Judenchristen haben den Sonnabend, den jüdischen Sabbat, an die Stelle des christlichen Sonntags gesetzt. Aber kann man diese Sekte, die zu den jüdischen Riten zurückzukehren strebt, wirklich als eine christliche Häresie bezeichnen? Sind die russischen Sabbatisten nicht vielleicht, wie die portugiesischen Marianen, eigentlich Abkömmlinge von Juden, welche vor Zeiten gewaltsam getauft worden, oder um irgend welcher Vortheile willen zum Christenthum übergetreten waren, und die sich, heimlich und in immer sich mehr verwischender Art, von Generation zu Generation den Glauben ihrer Väter überliefert haben? Ein südrussischer Friedensrichter, der in seinem Amte oft Gelegenheit hatte, solche Judenchristen zu beobachten, sagte uns, dass sie ihn stets lebhaft an den israelitischen Typus erinnert hätten. Dies scheint indessen gewöhnlich nicht der Fall zu sein. Die Subbotniki scheinen keineswegs der semitischen Rasse anzugehören. Auch die Sabbatisten, welche wegen heimlicher Zusammenkünfte vor dem genannten Friedensrichter erscheinen mussten, hatten selber keine Ahnung vom Ursprung der Ueberlieferungen, für welche sie eine so zähe Anhänglichkeit zeigten. Allen Fragen und allen Scheltworten des Beamten setzten sie die gewöhnliche Antwort der Raskolniks entgegen: „Dies ist der Glaube unserer Väter." Da der Richter ihnen eine Geldstrafe aufzuerlegen gezwungen war, und er sie daran erinnerte, dass sie im Wie derb etretungsfalle empfindlicher gestraft werden würden, antworteten die Unglücklichen, dass sie nichts weiter verlangten, als die Gebräuche ihrer Vorfahren innehalten zu dürfen. Dafür waren sie alles zu dulden bereit. Die Existenz solcher judaisirenden Sekten ist in Russland nichts neues. Diese Sabbatisten, die sich heute in den unteren Classen der Bevölkerung verlieren, sind die letzten Ausläufer einer Häresie, welche im fünfzehnten Jahrhundert bis in den hohen Clerus eingedrungen war und die ganze russische Orthodoxie in Gefahr zu bringen drohte. Nowgorodische Juden, darunter ein Gelehrter, Namens Zacharias, hatten damals den Christen die Leugnung der Dreieinigkeit, der Erlösung und der Gottheit Christi gepredigt. Unter diesem Einfluss hatte ein Theil der Nowgoroder Geistlichkeit das so vereinfachte Christentum auf eine Art Judaismus zurückgeführt. Man sieht die rationalistischen Sentenzen sind nichts Neues in Russland. Iwan III. verpflanzte die Keime dieser Bewegung von Nowgorod nach Moskau, als er die Priester Dionysius und Alexis aus der alten Republik nach der Hauptstadt der Zaren überführte. Eine Zeitlang waren die Judaisten so mächtig, dass sie einen der ihrigen, den Metropoliten Zo-simus, mit dem höchsten Amt der Kirche betrauen konnten. Doch gelang es ihnen nicht, den Widerstand der Bischöfe zu besiegen. Auf den Concilien von 1490 und 1504 wurden die Häretiker mit dem Bann belegt, und ihre Führer wurden zum Scheiterhaufen oder zu 31* lebenslänglicher Klostergefangenschaft verurtheilt; so schien diese Häresie von der russischen Erde verschwunden. Die Judaisten hatten in Russland den radicalen Sekten, in Polen den Unitariern des sechszehnten Jahrhunderts den Weg gebahnt. Heute linden sich die Sabbatisten hauptsächlich im Süden, in der Nachbarschaft der von polnischen Juden bewohnten Landstriche. Man hat ihre Entstehung oft einer jüdischen Propaganda zuschreiben wollen, aber diese Behauptung muss allen denen, welche die geringe Neigung der modernen Israliten zur Proselytenmacherci kennen, unhaltbar erscheinen.1) Dennoch wurde diese Anklage um 1880 Ursache oder Vorwand der Vertreibung der Juden aus einigen Distrikten der Gouvernements Woronesch und Tambow. Die Sabbatisten selber waren eine derjenigen Sekten, die im neunzehnten Jahrhundert am eifrigsten verfolgt wurden. Alexander L, Nikolaus und Alexander II. haben nacheinander gegen sie gewüthet und waren eifrig bemüht, den Sabbatismus im Süden des Reiches auszurotten, als ob sie befürchtet hätten, dass die Dörfer, in denen er Fuss ge-fasst hatte, ihres Volksthums entkleidet und entnationalisirt werden könnten. Die Mehrzahl dieser Subbotniki ist nach dem Kaukasus deportirt worden. Der Habbatismus bildet, was auch sein Ursprung oder seine Ableitung sei, eigentlich nur eine Abart des Unitarismus. Bibclleser, die das Dogma der Dreieinigkeit verwerfen, mussten immer mehr auf die mosaischen Traditionen zurückkommen und schliesslich dem alten Testament den Vorrang vor dem neuen zuerkennen. Die russischen Sabbatisten haben gewisse jüdische Riten, darunter auch die Beschneidung wieder eingeführt. Sic erwarten den Messias und glauben, dass das Reich Israel mit dem Jahre 7000 nach der Schöpfung seinen Anfang nehmen müsse. Wie die Mormonen, die eigentlich in gewisser Hinsicht auch Judenchristen sind, welche die Polygamie der alten Patriarchenzeit wieder eingeführt haben, sollen die Subbotniki auch gestatten, mehrere Frauen zugleich zu haben, obwohl sie sich gewöhnlich mit einer einzigen begnügen.2) Sie beobachten auch die biblischen Vorschriften über die reinen und unreinen Fleischarten; darin folgen sie aber eigentlich nur einem alten ') M. N. Gradowsky hat in seinen Studien über die Lage der Juden in Russland constatirt, dass kein einziger Israelit in die zahlreichen gegen die Sabbatisten angestrengten Processe verwickelt war. Siehe Raswcd (die Morgen-rOthc) israelitische Revue 1879. S. 421. a) Studie über die russischen Rationalisten, Westnik Europy, Februar 1881. Brauche der russischen Kirche, die selber lange Zeit den Genuss des Blutes und das Fleisch erstickter Thiere verboten hat. Aus den kaukasischen Sabbatisten ist um 1860 eine Gruppe Ultrajudaiisten hervorgegangen, die man mit dem Namen Gery bezeichnet; diese haben einen jüdischen Rabbiner berufen und in ihren Gebeten die russische Sprache durch die hebräische ersetzt.1) Russland ist keineswegs das einzige Land, wo solche Sabbatisten oder Sabbatarier aufgetreten sind. Es giebt deren auch in Ungarn und in Transsylvanien, wo sie ebenfalls, wie in Russland und im alten Polen, mit den Israeliten und den Socianern, den unitarischen, die Dreieinigkeit verwerfenden Christen, vielfach in Berührung gekommen sind. So verachtet die Juden auch sein mögen, so hat doch ihr Zusammenleben mit den Christen zu vielerlei religiösen Synthesen und zu allerlei Versuchen, das alte mosaische Gesetz mit den neuen evangelischen Geboten in Einklang zu bringen, Anlass gegeben. Noch in den letzten Jahren ward in dem auf einer Insel des weissen Meeres gelegenen Kloster von Solowezk ein alter Mann, namens Nikolaus Hin, gefangen gehalten, der in den Bergwerken des Ural ein Evangelium verkündet hatte, nach welchem Kirche und Synagoge von ihren besondern Riten gesäubert und beide in einer neuen unitaristischen Gestalt zusammen-gefasst werden sollten.51) Zehntes Kapitel. Neue Kokten in Volk und Gesellschaft. — Das Andauern Oer Sckten-bildung. Psychologie der Sektirer. Propheten und Prophetinnen. Beispiele neuer Häresien. — SulajefT', der Typus eines modernen Kektirers. Seine Theologie, seine Politik. — Sekten der vornehmen Welt; der Radstockismus und Pase.hkowismus. Der Lord-Apostcl. Evangelische Propaganda in den Salons. Propaganda unter dem Volk. — Graf Leo Tolstoi. Seine intellectuclle Verwandtschaft mit den Dorfpropheten. Analogie in Vorgehen und Ideen. Das (irunddogma des Christenthums; der Nicht-Widerstand gegen das Uebel. — Tolstoi als socialer Reformator. Christ lieber Buddhismus und evangelischer Nihilismus. Sekten entstehen aus Sekten. Sie erneuern sich wie das Gras der Steppe. Immer wieder, fast jedes Jahr, tauchen neue auf. Man muss eigentlich staunen über die Fortdauer dieses Sektengeistes, der *) Siehe Maskinow, Sa Kawkasow (Otetsch, Sapiski 1867). ■') Heber diese Persönlichkeit möge man ein Kapitel aus 11. Dixons „Free Russia", 1. Bd. 5. 22G, 244 vergleichen. sich zehn Generationen nach Peter dem Grossen und dreissig Jahre nach der Aufhebung der Leibeigenschaft immer noch bethätigt. Weder die Reformen Peters des Grossen noch diejenigen Alexanders IL konnten den geistigen Zustand des Volkes umwandeln. Der Zeitraum von fast zweihundert Jahren genügte den Russen nicht, um sich in die Einrichtungen des modernen Staates hineinzufinden. Wohl ist die Leibeigenschaft aufgehoben, aber die Träume des Mushik haben die Emancipation überlebt. Was ihm die Minister des Zaren nicht geben konnten, das erwartet er immer noch hartnäckig von den Abgesandten Gottes. Ferner besitzt dieses ungelehrte Volk neben seinen socialen Bestrebungen, die sein kindlicher Geist gerne in religiöse Formen kleidet, auch noch geistige Bedürfnisse, denen die Kirche bis dahin noch nicht genügen konnte. Was der Mushik beim Popen nicht findet, das sucht er beim Dorfpropheten. Bei den neuen Sektenbildungen, wie bei den alten, gehen Betrug und Fanatismus oft Hand in Hand. Oft lassen sich bei solchen unbekannten Sektenstiftern Lüge und Begeisterung ebensowenig unterscheiden und auseinanderhalten, als bei einem Mahomed oder Joseph Smith. Wie der Toskaner David Lazaretti, der „Santo" des Amiataberges, sind viele dieser kleinen russischen Luthers zugleich oder wechselweise verrückt und besonnen, spitzbübisch und schwärmerisch, leichtgläubig und schlau-berechnend, intrigant und naiv. Das Zusammenfallen des Aberglaubens der Massen mit dem Skepticismus des Jahrhunderts, und die mannigfachen Beziehungen zwischen dem Volksglauben und der individuellen Ungläubigkeit begünstigt mehr als jemals allerlei schlauberechnete Betrügereien auf religiösem Gebiete. Vor allen Dingen muss es auffallen, wie sehr dieses Volk, wie sehr der in manchen Dingen so verständig praktische Mushik in Sachen der Religion und Politik naiv geblieben ist. Noch heute lässt er sich falsche Propheten und falsche Zaren, falsche Heilande und falsche Demetrius, falsche Peter III. und falsche Constantine aufschwatzen, wie zur Zeit eines Pugatscheff und Seiiwanow. Die unverschämtesten Mystiiicationen finden noch dumm-gläubige Anhänger. Im Jahre 1874, zur Zeit unserer ersten Reisen in Russland ist zum Beispiel eine höchst absonderliche Angelegenheit vor dem Friedensrichter zur Verhandlung gekommen. Die Sache ereignete sich in einem an der grossen Strasse von Petersburg nach Berlin gelegenen Districtc des Gouvernements Pskow. Unter den Bauern war das Gerücht entstanden, dass man aus diesem nördlichen Gouvernement fünftausend junge Mädchen nach dem „Lande der Araber" ausführen wolle, um sie daselbst mit „Negern" zu verheirathen. Der durch die Abreise der fünftausend jungen Russinnen entstandene Ausfall solle durch eine Sendung ebensovieler Negerinnen gedeckt werden. Diese Sage hatte die Bewohner des Districtes Opotschka in Furcht und Schrecken gestürzt; man beeilte sich, alle mannbaren Mädchen so schnell als möglich zu verheirathen, und die Hochzeiten folgten in ungewöhnlicher Geschwindigkeit aufeinander. Die Untersuchung ergab, dass diese Fabel von einem Gastwirth, namens Jakowlelf, erfunden und verbreitet worden war, der durch die vielen Hochzeiten den Ertrag seiner Wirthschaft vermehren wollte; denn von diesen zieht die Kneipe ebensoviel Vortheil wie die Kirche. Ein Volk, bei welchem solche Dinge möglich sind, ist für Mystifikationen, die sich mit dem Schleier der Frömmigkeit oder einem übernatürlichen Schimmer zu umgeben wissen, noch viel zugänglicher. In demselben Gouvernement Pskow hatte wenige Jahre zuvor dieser freche, auf Gewinn zielende Betrug in einer religiösen Gaunerei sein Gegenstück gefunden. Im Jahre 1872 wurde in der Gegend von Pskow eine Sekte entdeckt, deren Gründer, ein aus einem Kloster entsprungener Mönch, namens Seraphin, sich mit Vorliebe an junge Mädchen heranzumachen pflegte. Seine Proselyten wurden die „Geschorenen (Strischenizy)" genannt, weil Seraphin ihnen die Haare abschnitt, um sie zu verkaufen. Der cynische Prophet missbrauchte das Vertrauen seiner Schülerinnen nicht nur aus Habsucht, sondern man hatte ihn auch beschuldigt, er lehre, das ewige Seelenheil beruhe darin, dass man recht tapfer drauf los sündige ; denn dadurch, dass man die durch Christus erwirkte allgemeine Sündenvergebung ausnutze, vermehre man den Ruhm des Erlösers. Es war Seraphin gelungen, die absonderlichsten Legenden um seine Person zu verbreiten. Er galt für unverwundbar und man glaubte von ihm, er könne sich allen Verfolgungen dadurch entziehen, dass er sich plötzlich verwandle. Solche Gauner lassen die gegen falsche Wunder gerichteten Paragraphen der russischen Gesetzbücher begreiflich erscheinen. Neben den Charlatanen giebt es Seher. In einem Lande, wo das Volk noch an Hexerei glaubt und wo die Idioten — oder wie man sagt die „Unschuldigen" — für von Gott begeisterte Menschen gelten, müssen auch Hellseher und Visionäre zahlreich sein. Bei manchen grenzt das Illuminatenthum an Tollheit und man ist wenig erstaunt, wenn man die Polizei diese „Gottgesandten" als Verrückte einsperren sieht. Verschiedene sind schon durch das Irrenhaus gegangen, so besonders Adrian Puschkin und sein Schüler Korobow. Diesem Puschkin, einem Kaufmann aus Perm, genügte das Wort der Heiligen Schrift nicht, er legte daher seine Lehre in einer Reihe von symbolischen Gemälden nieder. Im Leib des Mannes und des Weibes, den er als lebendiges Abbild der ewigen Wrahrheit betrachtete, hatte er eine Offenbarung entdeckt. Er richtete zahlreiche Briefe an das Ministerium und an den Zaren, worin er zu beweisen suchte, dass die Zeit gekommen sei, „das Land, das Eigenthum Gottes, unter Alle zu vertheilen." Dies trug ihm eine fünfzehnjährige Haft in einer Zelle des am weissen Meer gelegenen Klosters von Solowezk ein. Erst im Jahre 1882 wurde er daraus entlassen. Dieser wunderbare Messias fand in einem Arzt, namens Korobow, einen „Zeugen", der aus Russland entfloh und in Genf ein Blatt herausgab, welches er das erste ofiicielle Organ der Kinder Gottes nannte. Die herumziehenden Apostel, Betrüger und Illuminaten zeichnen sich gerne durch die Absonderlichkeit ihrer Lehren aus; einer überbietet immer den andern an Ueberspanntheit. Das Prophetenthum ist ein den meisten extremen Sekten, älteren und neueren Datums, gemeinsamer Charakterzug. In der Redeweise der Sektirer, wie in der Sprache der Bibel bezieht sich übrigens das Wort Propheten-thum keineswegs ausschliesslich auf die Enthüllung der verborgenen Zukunft; oft verkünden die Propheten kaum etwas anderes als die nahebevorstehende Erfüllung der Drohungen und Verheissungen der Schrift. Diese Vorhersagungen sind eigentlich nur eine Predigt; höchstens sucht der Redner seinem Vortrag manchmal einen Anschein von Verzückung und höherer Inspiration zu geben. Ein Russe, dem es nicht ohne Schwierigkeiten gelungen war, unter die Zuhörerschaft einer berühmten Prophetin aufgenommen zu werden, erzählte uns, dass er vollständig enttäuscht war, als er daselbst nichts anderes als Declamationen über das zukünftige Reich Christi zu hören bekam und sah, wie die Anwesenden diesem alten, abgedroschenen Zeug mit ebensoviel Respect lauschten, wie ganz neuen und unerwarteten Offenbarungen. Das einzige, was diesen banalen Prophezeiungen ein gewisses Relief verlieh, war der Rythmus der Rede, die sich in einer Art von Versilication oder Cantilene bewegte. Oft ist der Prophet auch nur eine Art Improvisator, ein Talent, das sich im Norden lange Zeit im Volke erhalten hat. Manchmal giebt der Seher nur nichtssagende Formeln zum Besten, von denen schliesslich immer der eine oder der andere der Anwesenden irgend einen Ausspruch auf Bich beziehen kann; manchmal auch halten sie unendlich lange Reden, in denen sich immer etwas linden mag, das ganz oder theilweise in Erfüllung gehen kann. Bemerkenswert!! ist auch die grosse Zahl der Prophetinnen und die hervorragende Rolle, welche das weibliche Geschlecht Oberhaupt bei den meisten Sekten spielt. Ks giebt „heilige Jungfrauen" wie es „Heilande" giebt; beide gehen oft paarweise zusammen und der erste Impuls geht nicht seltener vom Weibe aus als vom Manne. Um 1880 zum Beispiel gründete eine Prophetin, namens Xenia Iwanow, in der Gegend des Don eine asketische Sekte, deren Mitglieder sich der Ehe und des Fleischgenusses enthielten. Aber nicht nur bei den Illuminaten und den Mystikern spielt das Weib eine hervorragende Rolle, sondern auch, wenn auch in geringerem Masse, bei den Altgläubigen und den Raskolniks aller Gattungen. Die Religion ist fast das einzige Gebiet, auf welchem sich das Weib des Bauern mit dem Gatten als gleichberechtigt fühlt. Sklavin oder Magd in allen übrigen Dingen, ist sie in der geistlichen Sphäre nicht nur frei, sondern oft absolute Herrin. A. Petschersky sagt irgendwo: „Wann Axinia mit ihrem Manne über einen profanen Gegenstand streiten wollte, so würde sie von dem Gatten übel heimgeschickt werden; aber wenn es sich um Skiten und religiöse Dinge handelt, so ist dies eine ganz andere Sache. Hier ist nicht mehr der Mann das Oberhaupt, sondern die Frau; in solchen Fragen entscheidet sie und wagt es sogar, ihren Gatten derb auszuschelten." Aus diesem Umstand haben mehrere Autoren eine unerwartete Schlussfolgerung abgeleitet. Würden wohl bei einem Volke, welches das Weih als ein niedriger stehendes Geschöpf betrachtet, die dogmatischen Fragen den Frauen überlassen werden, wenn es die Männer überhaupt für werth hielten, sich eingehender damit zu beschäftigen! Alles, was zur Frömmigkeit gehört, ist für den Bauern eine Haushaltungsangelegenheit und geht als solche zuerst die Frauen an. In dieser Behauptung spiegelt sieh die Neigung gewisser Küssen wieder, ihre den Volksclassen angehörenden Landsleute als religiös indifferent, als unbewusste Skeptiker hinzustellen. Diese Ansicht ist indessen durch den Einfluss, den die Baba's auf Schisma und Häresie ausgeübt haben, keineswegs erwiesen. Der Einfluss der russischen Frau macht sich eben da geltend, wo dem Weibe freier Spielraum gelassen wird; bei der Bauersfrau in religiöser, wie bei der Studentin in politischer Propaganda. Es ist dies eine ganz gleichartige Erscheinung, die zufällig zugleich an den beiden entgegengesetzten Polen des nationalen Lebens auftritt. Russland ist übrigens nicht das einzige Land, wo den Frauen der Geist der Proselytenmacherei innewohnt. Bei allen Religionen spielt das schwache, das fromme Geschlecht eine hervorragende Rolle. Auch die angelsächsischen Sekten haben ihre Prophetinnen, und auch hier, in einer weniger unwissenden (iesellschaft, legen sich Schwärmerinnen übernatürliche Kräfte bei und lassen sich fast göttliche Verehrung erweisen. Die amerikanischen Chlysty, die Shakers in den Vereinigten »Staaten, habeil oft eine „Mutter" oder eine „Braut des Gotteslammes" an ihrer Spitze. Selbst in England standen die Shakers von New-Forest noch unlängst unter Leitung einer gewissen Mistress Girling, deren Visionen der Gemeinde als Glaubensregel dienten. Diese unermüdliche Sektcnbildung ist eigentlich ein, selbst in seiner Mannigfaltigkeit höchst einförmiges Schauspiel. Alle diese dunklen Lehren, die sich weder durch Unterweisung, noch durch öffentliche Darlegung lixiren können, haben etwas unfertiges an sich, das sie zu immerwährenden Umänderungen und Wandlungen antreibt. Sie gleichen den Sanddünen, die der Seesturm oder Wüstenwind unaufhörlich zusammenträgt und wieder verweht. Diese verworrenen Ketzereien sind manchmal nur ein Ausdruck der Zeitbestrebungen. Jedes Ereigniss im Volksleben giebt Anlass zu neuen Sektenbildungen, die dann jeweilig wie eine Eormulirung der Bedürfnisse und Besorgnisse des Volkes erscheinen. So erzeugte die Aufhebung der Leibeigenschaft, die doch, da sie dem Volke den hauptsächlichsten Grund zur Unzufriedenheit raubte, wie es schien, dem Sektenwesen einen herben Stoss hätte versetzen sollen, selbst wieder neue Sekten. Die durch die Rückkaufbedingungen des Landes unter den Bauern entstandenen Unzufriedenheiten haben in einigen Gegenden religiöse Gestalt angenommen. „Die Erde ist Gottes", lehrten die Bauernpropheten, „und Gott will, dass alle seine Kinder frei und ohne Zinsen zu entrichten, ihrer gemessen sollen". Ein ander Mal weigert sich der Bauer im Namen irgend einer vorgeblichen Offenbarung, die Steuern zu entrichten, indem er da die Religion und den Himmel vorschützt, wo unsere Revolutionäre sich hinter das Naturrecht zu verschanzen pflegen. Diese Art der Steuerverweigerung wiederholte sich oft im Süden und im Norden und gab zu den merkwürdigsten Debatten Anlass. „Warum wollt ihr keine Steuern zahlen"? fragte ein Beamter die donischen Bauern. — „„Weil das Ende der Welt herangekommen ist"". — „Wer hat euch das weissgemacht"? — »„Die Kunde kam uns vom siebenten Himmel"". — „Und durch wen"? — „„Durch Johannes den Täufer und die heilige Barbara"". Und so ging das Verhör weiter bis der falsche „Johannes" herausgefunden und eingesteckt war. In einem Distrikt des Ural wurde vor einigen Jahren als Grund der Weigerung die Erscheinung eines ein goldenes Buch tragenden Mannes angegeben, den kein einziger der Sektirer gesehen hatte, an welchen aber alle glaubten. Man kann die Verlegenheit der Polizei und der Richter bei solchcrmassen lautenden Widersetzlichkeiten leicht begreifen; sie wissen sich eben nicht anders zu helfen, als dass sie die Verbreiter solcher himmlischen Botschaften verhaften. Diese Beispiele beweisen, dass die religiösen Ausschreitungen dem Russen oft als Deckmantel für sehr weltliche Dinge dienen müssen, die Hoffnungen dieser naiven Häretiker sind keineswegs immer nur auf das unsichtbare Paradies gerichtet. Die mystischen Träumereien des Mushik haben manchmal eine gar merkwürdige Aehnlichkeit mit den revolutionären Utopien der atheistischen Arbeiter an der Seine oder an der Spree. Die Methode ist verschieden, das Ziel ist dasselbe. Die Mehrzahl der in den letzten dreissig Jahren entdeckten Sekten ist radikal. Fast alle verwerfen das Priesteramt und die kirchlichen Riten; sie zerfallen dabei in die beiden Richtungen, die wir schon bezeichnet haben. Chlysty und Molokaner haben zu gleicher Zeit Nacheiferer und Fortsetzer; nur hat sich zwischen beiden Gruppen das frühere Verhältniss umgekehrt. Der halb-gnostische Mysticismus treibt nur noch schwache Schösslinge. So entstanden im Jahre 1870 in den Städten Troiza und Zlotoust die Pliazuny oder „Tänzer", eine Art Chtysty, welche die Kirche immer in höchst ostensibler Weise besuchten. So ferner im District von Beleff der „Glaube von Tombow", so genannt nach seinem Gründer, einem Unteroffizier, dessen Lehre an diejenige der Skopzy erinnern soll. Um 1880 finden wir in der Provinz des Don die „Samobog" (autodieux, self-gods, Selbstgötter), welche davon ihren Namen erhalten haben, dass sie, wie die Duchoborzy auf die Vergötterung des Menschen verfielen. Im Jahre 1808 in einem Dorfe des Gouvernement Tambow, ferner die Truschawery, die sich allein als die „Reinen", alle anderen Menschen aber als unrein und der Hölle verfallen betrachteten: ihr Führer ein Kleinbürger Namens Panow, gab sich für Christus aus. Um 1866 linden sich im Gouvernement Saratow die Tschislenniki oder „Zähler", die ihren Namen von der Art, wie sie die Festtage aufeinander folgen liessen oder „zählten" erhielten. Sie stellten die ganze Tageordnung der Kirche auf den Kopf, verrückten alle kirchlichen Feiertage, verlegten den Ruhetag zum Beispiel vom Sonntag auf den Mittwoch und feierten auch Ostern den „heiligen Mittwoch". Bei allen diesen Veränderungen beriefen sie sich auf ein vom Himmel gefallenes Buch. Nach diesen „Zählern", deren Oberhaupt ein einfacher Mushik war, giebt es weder Abendmahl noch Priesterschaft; jeder Mensch hat das Recht Beichte zu hören und den Gottesdienst abzuhalten. Auch ihnen wurde, wie dem Mönch Seraphim von Pskow, nachgesagt, dass sie ,,das Seelenheil durch die Sünde" lehrten. Die protestantische Tendenz lindet im Stundismus, dessen schnelle Fortschritte wir schon erwähnt haben, seine Vertreter. Mehr oder minder analoge Häresien sind im Norden und im Centrum des Reiches zu Tage getreten. Ich will nur eine erwähnen, die in den niedrigen Klassen der Städtebevölkerung von Kaluga entstand und 1871 entdeckt wurde. Der Gründer dieser Sekte, der in den Traktirs (Restaurants) und Schenken predigte, war wie J. Shmith, der Moses der Mormonen, seines Zeichens ein Schuster. Fr hiess Tichanow, und seine Lehre näherte sich derjenigen der „Nichtbeter". Wie diese verwarf er die Sakramente und lehrte, dass Taufe, Beichte und Abendmahl nur im Geiste und ohne Mithilfe einer zwischen (»ott und den Menschen stehenden Zwischenperson, vollzogen werden sollten. Weiter lehrte dieser Handwerker, dass die wahre Religion nur einen geistigen Gottesdienst gestatte, und dass selbst das Gebet, das Wort der Lippen, zu materiell sei, um Gott gefallen zu können. Die Sehnsucht der Seele nach Gott und die Seufzer des Herzens bilden das einzige Opfer, das einzig wahre Gebet des Christen. Die zidillosen und langanhaltenden Seufzer, womit die Schüler des Schusters von Kaluga Gott zu dienen suchen, haben ihnen auch den Namen Wosdychanzy oder „Seufzer" eingetragen. Aus dieser sonderbaren aus einem strengen Spiritualismus hervorgehenden Schluss-folgerung, in dieser Art von Verwechslung zwischen Athem und Geist, zwischen dem geistigen und leiblichen „Seufzen" können wir auch bei diesen geistigen Christen wieder einmal den naiven russischen Realismus erkennen. Von allen im letzten Viertel unseres Jahrhunderts aufgetreteneu Sektirern ist vielleicht Sutajeif der merkwürdigste. Er ist der bekannteste und verdient es auch zu sein, selbst wenn er nicht der Lehrer eines Leo Tolstoi gewesen wäre, den er zu den herrlichsten Schöpfungen begeisterte. Sutajeff ist ein Mushik aus dem Gouvernement Twer. Man kann ihn als Typus jener nordrussischen Bauern betrachten, die einsam im Evangelium nach der Wahrheit suchen. Sie bilden sich ihre Religion aus der Heiligen Schrift und können kaum lesen. Von den Versen, die sie, einen nach dem anderen, mühevoll entziffern, gewinnt jeder einzelne für sie eine ganz besondere Wichtigkeit; auf jeder Seite glauben sie eine neue, den Menschen bis dahin noch ganz unbekannte Wahrheit zu entdecken. Sutajeff war schon verheirathet und kannte das Alphabet noch nicht. Während er im Winter in Petersburg als Steinmetz arbeitete, lernte er, fast ohne jede fremde Hilfe, lesen, nur um in den Evangelien den wahren Glauben zu suchen. Eines Tages, im Jahre 1880, meldete der „Bote von Twer" die Entstehung, einer neuen Sekte, der „Sutajewzy". Es hiess, dass die Schüler Sutajeffs, wie die Stundisten, die Sakramente verwürfen; dennoch hatten diese nurdrussischen Bauern, im Gegensatz zu den russischen Anabaptisten, in gar keinem Verkehr mit protestantischen Ansiedlern gestanden. Bei ihnen war alles russich und ursprünglich. Sutajeff war nach der Aussage des Priesters seiner Heimath-gemeinde der frömmste Bauer und eifrigste Kirchgänger. Als er sich gegen seinen Seelsorger autlehnte, war er schon üher fünfzig Jahre alt. Ein Streit über die bei der Beerdigung eines seiner Enkel entfallenden Sportein führte zum Bruch. Als mau ihn fragte, warum er die Kirche nicht mehr besuche, antwortete er: „Weil man nicht besser herauskommt als man hineingegangen und weil dort für Geld Alles zu haben ist. üeberdies — meinte er — trage ich die Kirche in mir selbst". Seine ganze Lehre leitet sich von diesem den Mystikern und den Rationalisten des Volkes gleich theo reu Grundsätze ab. Vergeblich liess ihn der Pope seines Dorfes durch einen Erzpriester vermahnen. Das Evangelium in der Hand, diskutirten Sutajeff und die Seinen mit dem Geistlichen, „Wir sind" — sagten sie — „neue, wir sind wiedergeborene Wesen. Wir wandelten im Irrthum, nun sind wir wissend geworden". Man schickte ihnen den Polizeibeamten, diesen schafften sie sich mit einem Zehnrubelschein vom Halse. Als man Sutajeff vorwarf, er bilde eine Sekte, antwortete er: „Wir bilden keine Sekte, wir wollen nur wahre Christen sein", —■ „„Und worin besteht dieses wahre Christenthum""? — „In der Liebe". Dieses eine Wort fasst seine ganze Religion in sieb, für ihn besteht das ganze Gesetz in Liebe und Wohlthun. Dieser Mushik erstrebt nichts anderes als „ein neues Leben, eine Neugestaltung des christlichen Lebens". Der Bauer von Twer hält ebensowenig von asketischer Strenge als von mystischen Schwärmereien, Die ganze Lehre dieses Idealisten ist nur auf das praktische Leben gerichtet. Darin ist er ganz Busse. Das praktische Leben will er umgestalten durch Nächstenliebe, und er rechnet dabei auf das PJvangelium, welches Frieden und Gerechtigkeit unter den Menschen wieder aufrichten soll. Als ihn Prugawin fragte: „Was ist Wahrheit"? antwortete er: „Gegenseitige Liebe im gemeinsamen Zusammenleben". Auch darin verläugnet er seinen Nationalcharakter nicht; er kümmert sich weniger um sein eigenes Seelenheil, als um das Wohlergehen seiner Brüder und das Heil der Gesellschaft. Seine ganze "Religion besteht in Ausübung der Gerechtigkeit; nur das, wodurch der Mensch besser sein und besser leben lernt, ist nützlich und heilig. Er hält Ritual und Sakramente für üherilüssig, weil er noch niemals gesehen hat, dass die Menschen dadurch tugendhafter geworden wären. Ebenso hartnäckig verwirft er das Priesteramt. Es wird ihm ein Enkel geboren, er weigert sich, ihn taufen zu lassen; ein anderer Enkel stirbt ihm, er will ihn in seinem Garten begraben, weil die Erde überall gleich heilig sei; und da mau ihm dies verbietet, versteckt er den Leichnam unter der Diele. Er segnet den Ehebund seiner Tochter selber ein, und da man ihm sagt: „Du erkennst die Ehe nicht an", antwortet er: „Ich verweigere nur der lügnerischen Ehe meine Anerkennung. Wenn ich mich mit meiner Frau zanke oder prügle, so ist dies keine Ehe. weil keine Liebe unter uns waltet." Wenn er seine Kinder zusammen-giebt, ermahnt er sie nur, nach dem Gesetze Gottes zu leben und alle Menschen als ihre Brüder zu betrachten. Dies ist das Evangelium dieses „geistig Armen"; und mit der doppelten Logik des Glaubens und der Unwissenheit leitet er aus diesem Grundsatz der allgemeinen Menschenliebe, ohne es selber zu wissen, Consequenzen ab, welche Staat und Gesellschaft umstürzen können. Dieser Steinmetz macht sich anheischig, die ganze Welt zu reformiren, wenn er bei seinem Dorfe den Anfang macht. Er hält dies sogar für das Hauptsächlichste; denn in seiner Art glaubt auch er an das tausendjährige Reich. Wie alle diese einsamen Leser des neuen Testamentes hat er lange WTinternächte hindurch über der Offenbarung Johannis geschwitzt. Er wartet auf das neue Jerusalem; er will ihm den Weg bahnen. Das einzige Ziel seines Apostolates heisst: auf dieser armen, vom Laster und Elend besudelten Erde das Reich Gottes aufrichten. Sein Glaube an das jenseitige Leben ist dagegen höchst schwach. „Was da drüben ist", sagt er und deutet dabei auf den Himmel, „das weiss ich nicht. Ich bin noch niemals im Jenseits gewesen; vielleicht giebt es daselbst nur Finsterniss." Auch wiederholt er immer: „Hienieden muss das Reich Gottes erfüllet werden." Wie lässt sich aber dies Reich Gottes verwirklichen? Ein Mushik denkt sich das sehr einfach; man braucht nur die Gütergemeinschaft einzuführen und das Eigenthum, welches Neid, Diebstahl und Hass erzeugt, abzuschaffen. Dieser Communismus soll als Schutzmittel gegen die Sünde dienen; die Gütergemeinschaft soll den Egoismus ertödten. Die Reichen sollen „die Erde wieder herausgeben". Sie werden es auch freiwillig thun, sobald man sie überzeugt haben wird; denn der Apostel will keinem seiner Brüder Ge- walt anthuri: im Reiche Gottes soll Niemand Zwang erleiden. Um diese grosse Revolution zu Stande zu bringen, braucht er nur ein wenig Erleuchtung des Geistes, ein wenig Liebe im Herzen. Wie das Eigenthum verdammt Sutajeff auch den Handel und das Geld als demoralisireml. Er hatte sich fünfzehnhundert Rubel erspart, — er vertheilte sie unter die Armen; er besass Schuldscheine — er verbrannte sie. Mit dem persönlichen Eigenthum und dem Oelde verschwinden die Gerichte, die nun nutzlos werden, ferner die Steuereinnehmer und Beamten, die nur auf Kosten des Volkes leben, schliesslich auch das Militär; denn, da alle Menschen Brüder sind, wird auch der Krieg abgeschafft. Wenn der Starschina (Schulze) seines Dorfes einzuziehen kummt, antwortet ihm Sutajeff mit Bibelsprüchen. Der Starschina macht sich dadurch bezahlt, dass er dem widerspenstigen Steuerpflichtigen eine Kuh pfändet. Wenn der Reformator vor Gericht gestellt wird, opponirt er mit dem Worte Gottes gegen die „Menschensatzungen". Aehnlich hält er es mit dem Militärdienst. Sein jüngster Sohn, Iwan, wird einberufen; man befiehlt ihm den Fahneneid zu leisten, aber der junge Rekrut erwidert, dass das Schwören verboten sei; mau befiehlt ihm ein Gewehr zu nehmen; er weigert sich, indem er sagt: „Es stehet geschrieben: Du sollst nicht tödten," — „Dummkopf", antwortet ihm ein gutmüthiger Offizier, „es ist ja jetzt kein Krieg und du wirst deine Zeit in der Kaserne zubringen." Aber alle Vernunftgründe halfen nichts. Man wirft den Widersetzlichen ins Gefängniss, man setzt ihn auf Wasser und Brot; er verweigert jede Nahrung. Nach drei Tagen musste man ihn, um ihn nicht Hungers sterben zu lassen, aus der Dunkelzelle hervorziehen. Man schickte ihn nach Schlüsselburg in eine Strafcompagnie. Ein Soldat der Escorte, welche den Ungehorsamen begleiten sollte, wird von den Heden des Gefangenen gerührt und bekehrt sich zu seiner Lehre. Sind das nicht Züge, wie sie die Acta Martyrorum aufweisen? Die Unterthanen des Zaren und die Unterthanen der Caesaren, obgleich sie durch so viele Jahrhunderte von einander getrennt sind, zeigen hier denselben Geist, dasselbe Herz. Fast alle Gedanken des Bauern von Schewelino über Religion und Politik finden wir — beinahe Zug für Zug — beim Grafen Tolstoi wieder. Was der Romancier lehrt, setzt der Mushik in die Tkatum. Ueber Staat und Regierung kann ein Sutajeff nur höchst verworrene Gedanken haben. Seine Politik ist ganz russisch und leitet sich zum Theil aus ganz kindlichen, zum Theil aus theologischen Anschauungen ab. Für ihn giebt es in der Regierung Gute und Böse. Die Bösen, das sind die Beamten, mit denen er zu thun hat, die Tschinowniks aller Art, welche Steuern erheben und ins Gefängniss führen. Die Guten: das ist der Zar, den man nicht sieht, der Zar, der in der Ferne thront. „Wenn der Zar wüsste!" sagt Sutajeff mit Vielen seinesgleichen. Eines Tages reist er nach Petersburg, „er will es dem Zaren sagen." Verlorene Mühe! Man lässt ihn nicht vor. Der unglückliche Reformator muss im verrichteter Dinge in sein Dorf zurückkehren, und wirft sich nun selber Mangel an Ausdauer vor. Sutajeff hat nur ein paar hundert Anhänger, die Bauern aber, welche mit seiner Lehre sympathisiren, ohne dass sie dieselbe frei zu bekennen wagen, zählen nach Tausenden. Die Propheten , welche in den niedern Schichten des Volkes ein ähnliches Evangelium predigen, sind Legion. Die schlichten Naturmenschen empfinden nicht allein das Bedürfniss einer religiösen Umgestaltung. Auch in den oberen, gebildeten und verbildeten Classen linden sich Gemüther, die nach der Wahrheit hungern und denen die faden, überlieferten Gerichte, welche ihnen die orthodoxe Kirche in schweren goldenen Schüsseln reicht, schon längst überdrüssig geworden sind. Darin gleichen sich Ende und Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. Wie zu den Zeiten der Frau von Krüdcner und Speransky's zeigt die halb und halb von der Orthodoxie losgelöste Petersburger Gesellschaft manchmal die Neigung und das Bedürfniss „daneben" zu glauben.1) Wie zur Zeit als man für Saint-Martin und Swedenborg schwärmte, lassen sich auch heute noch solche Feinschmecker ihre geistige Nahrung von auswärts kommen. Gegen Ende der Regierung Alexanders II. hat die elegante Welt von Petersburg ein Gegenstück zur Stunda des südrussischen Mushik geliefert; man könnte es fast den Salonstundismus nennen. Aber in der Kaiserstadt konnte der Seelenbeweger nicht ein einfacher Pfarrer oder ein ganz gewöhnlicher deutscher Colonist sein. Eine so blasirte Gesellschaft brauchte einen andern Propheten. Das Wort Gottes ward ihr denn auch durch einen englischen Lord verkündet. Bei diesem, dem Lord Radstock, war die Sache innerer Beruf; er hatte sein Apostolat seinerzeit schon auf der Schule zu Eton begonnen und später in der Armee der Königin fortgesetzt. Er hatte Bich sogar auf der Durchreise in Paris in einigen Däusern hören lassen. Aber erst in Petersburg sollte dieser adelige Missionär seine reichste F'rntc halten Er kam rasch „in Mode". Seine familiären ') lv M. de VogüY:: Le Roman russja, S. 31. Busspredigten machten sogar den spiritistischen Ritzungen, die damals gerade „en vogue" waren, starke Concurrenz. Er predigte in den Soireen und beim „five o'clock tea" wie die Volksheiligen beim Samowar in den Schenken. Und zwar unterrichtete Lord Bad-stock die russischen Damen meistens in französischer Sprache. Die Skeptiker hatten den „Lord-Apostel1'1) gut verspotten; die evangelische Saat keimte auch auf den Teppichen der Salons. Lord Radstock fand in einem Herrn Paschkow, einem reichen und eleganten Gutsbesitzer, der in seiner Jugend als vorzüglicher Walzertanzer berühmt war, einen unbezahlbaren Gehülfen. Eine Dame, die früher öfter mit ihm getanzt hatte, erzählte mir, wie er sie eines Abends, während einer Mazurka, zu katechisiren versuchte. Zu Herrn Paschkow gesellten sich noch andere Edelleute, besonders der Graf Korf und sogar ein früherer Minister, der Graf Alexis Bobrynsky. Es wäre ungerecht, wenn man in dem Paschkowismus oder Radstockismus nichts weiter als eine Modelaune erblicken wollte. Lord Radstock war 1878 und 1879 in Petersburg aufgetreten, in einer Zeit der Verwirrung, beim Beginn der nihilistischen Krise, wo viele verirrte Gemüther nach einem Tröster und Führer ausblickten. Weder Lord Radstock noch Herr Paschkow wollten eine neue Lehre erfinden. Sie vermieden jeden dogmatischen Streit und beschränkten sich ganz auf die Auslegung des Evangeliums. Dieser weltliche „Re-vival" hatte hauptsächlich darum Erfolg, weil er einen, vom orthodoxen Glems noch unlängst missachteten geistigen Bedürfniss entgegen kam. Da die Priester die Predigt vernachlässigten, predigten die Laien an ihrer Stelle. Die „Paschkowiten" treten keineswegs aus der Kirche aus; sie liefern einen Beweis, wieviel Raum innerhalb der Mauern dieser alten Kirche, aus Mangel an einer über die Lehre entscheidenden Autorität, für allerhand thatsächliche Freiheiten vorhanden ist. In der That besitzt die Lehre dieser Evangelisch-Orthodoxen eine protestantische oder calvinistische Färbung; sie beruht auf der Rechtfertigung durch den Glauben, und dadurch unterscheidet sie sich von derjenigen eines Sutajeff, der die ganze Religion in den Werken bestehen lässt. Die Radstockiten glauben ihrer Erlösung gewiss zu sein, wenn sie sich in inniger Vereinigung mit dem Heiland fühlen. „Haben Sie Christus gefundenV" fragte Lord Radstock jeden seiner Zuhörer: Suchet so werdet ihr linden." Während der englische Lord nur auf die höhern J) Lord Apostol, Titel eine« satyrischen Romans des Fürsten Mesehtsehersky. Ij o ro y - B eau 1 i o u, Reich >l. Zaren 11. d, l!u •n. III. lid. 32 Kreise wirken konnte, suchte Herr Paschkow sein Apostolat auch auf das eigentliche Volk auszudehnen. Er versammelte in seinem Hotel in Petersburg Leute aus allen Ständen, denen er und seine Freunde „Christus suchen" lehrte. Dieses Wort Gottes, das zugleich den gebildeten und den ungebildeten Classen gespendet wurde, war für Russland etwas ganz neues; denn hier waren ja die höheren Stände niemals gewohnt gewesen, dass man ihnen dieselbe geistigt! Nahrung bot, wie dem Volke. Aehnliche Versammlungen fanden in Moskau und anderen Städten statt, und zwar meistens unter dem Patronat von Damen, die sich darin gefielen, Gäste und Dienerschaft — letztere natürlich respectvoll hinter den ersteren sitzend — in ihren Salons zu vereinen. Herr Paschkow beschränkte sich nicht darauf, Arheiter und Hauern durch seine eigene Rede zu evangelisiren, er liess für sie auch manche von jenen, bei den englischen Pietisten so beliebten „tracts" (Traktätchen) übersetzen. Traktätchen und Predigten wurden in tausenden von Exemplaren gratis verbreitet. So wurde Herr Paschkow unter den Dissidenten sehr schnell populär. Die Sektirer, die sich vorübergehend in der Hauptstadt aufhielten, versäumten nie, ihn zu besuchen. Die Söhne Sutajeffs sandten von Petersburg aus die paschkowitischen Broschüren an ihren Vater. Herr Prugawin hat solche Opuscula im Kaukasus, im Ural und sogar in Sibirien angetroffen. So lange der Paschkowismus auf die höheren Gesellschaftsclassen beschränkt blieb, beunruhigte sich die Regierung keineswegs darüber; denn wenn es in Russland irgend noch eine Freistatt giebt, so ist dies der Salon. Eine andere Sache war es aber, als die Propaganda aus dem Gebiet der entblössten Schultern und schwarzen Fräcke in dasjenige des Armiak und des Tulup1) überging. Das Volk hörte eben in seiner natürlichen Logik manchmal auf, dem Clerus diejenige Hochachtung zu erweisen, die ihm die an alle möglichen Com-promisse gewöhnten, gebildeten Classen schon aus Höflichkeit und guter Erziehung nicht verweigerten. Es kam vor, wie mir einer meiner Freunde erzählte, dass Bauern, welche Paschkow über die Nutzlosigkeit der Ceremonien und Kirchenvorschriften hatten reden hören, wenn sie nach Hause kamen, nichts Eiligeres zu thun hatten, als alle ihre Heiligenbilder zum Fenster hinaus zu werfen. Die kaiserliche Regierung unterliess denn auch nicht, gegen die aristokratischen Prediger Massregeln zu ergreifen. Herr Paschkow ward aus Peters-* ') Anm. d. Uebers. Armiak, langer breiter Bauernrock. — tulup, Schafpelz, den die russischen Mauern trügen. bürg verwiesen. Zuerst wurde er auf seine Güter internirt, spül er gab man ihm den Wink, er möchte das Ausland bereisen. Auch Graf Korf musste die Hauptstadt verlassen. Die von diesen Herren zu. Propagationszwecken gegründete Gesellschaft wurde im Jahre 1 HSI aufgelöst; ihr Organ „Das evangelische Sonntagsblatt" wurde verboten. Der Oberprokuror des Heiligen Synod, Herr Dobedonoszeff, behandelte diese weissbehandschuhten Apostel kaum mit grösserer Schonung als die Propheten im Schafpelz. In seinen Jahresberichten heisst es: „Sogar in den höchsten Gesellschaftskreisen fanden sich Unsinnige, welche vom Glauben ihrer Väter abladen, um eine neue, von herumreisenden Sektirern verbreitete Lehre anzunehmen." Herr Pobedonoszeff klagte sie aber nicht nur an, weil sie den einfachen Mann in seinem Glauben irre machten, sondern warf ihnen auch noch vor, sie böten den volkstümlichen Sekten, besonders den Stundisten, moralische und materielle Unterstützung. Die elegante Welt hält in Ifusslaiid nie lange gegen allerhöchste Ungnade Stand. So ist der Paschkowismus der Salons auch schon im Niedergang begriffen. Doch scheint es, dass die Gewaltmassregeln die evangelische Propaganda, wenigstens in der Provinz, nicht ganz unterdrücken konnten. So verurtheilte zum Beispiel 1886 das Gericht von Nowgorod zwei Männer, weil sie „die Ketzerei I'asehkows" gepredigt hatten. Das folgende Jahr wurde aus derselben (legend das Auftreten eines Apostels gemeldet.1) Der Oberprokuror beklagt sich in einigen seiner Schriften über die Proselytenmacherei einiger Gutsbesitzer.2) Wenn es aber auch diesem, dem Laienstande angehörenden Oherhirten der russischen Seelen gelingen sollte, alle Wölfe in Schafkleidern von seinen Hürden zu vertreiben, so würden doch gar viele Lämmlein zurückbleiben, die, ohne es selber zu wissen, von protestantischen Ideen angesteckt sind. Wenn auch Lord lladstock nicht gekommen wäre, um die Petersburger Aristokratie zu erbauen, so wäre der halb mystische, halb rationalistische Protestantismus doch kaum weniger häufig aufgetreten, bei den orthodoxen Christen aus dem Volk und der Gesellschaft, kurz bei allen, die Lämpchen vor den Heiligenbildern anzuzünden pflegten. Soll aber Russland das lebendige Wort, welches, im Salon wie in der Isba, alle die nach Wahrheit und Gerechtigkeit hungern, so ') Westnik Ewropy, Juni 1880, Febr. 1887, ebenso März 1888. 'J So legte Herr PobedonOSzeu*'das Auftreten des Paschkowismus im (Jon-verneinen! Woronegn einer (Jcncnilswittwe, Fniu Tscherkow und ihrer Propaganda zur Last. — r>oo — heiss ersehnen, der Fremde verdanken? Sollte ihm diese Gabe nieht eher von einem seiner eigenen Söhne gereicht werden, und wer wäre geeigneter dazu als einer jener grossen Schriftsteller, ein Dostojewsky oder Tolstoi, einer jener Herzenskündiger, die in sich den Volksmann und den Gesellschaftsmcnschen zu vereinigen wissen und alles auszudrücken suchen, was den Geist der Küssen bewegt? Beide, Tosto-jewsky und Tolstoi haben versucht, diese ersehnte Offenbarung auszusprechen; und beide haben, jeder auf seine Weise, dieselbe Botschaft der Liebe verkündet. Der leithafte Glaube eines Dostojewsky verlor sich in einer Art apokalyptischem, die ganze Menschheit umfassenden Mysticismus von ergreifender Gefühlswarme, der aber im Ganzen doch zu unbestimmt war, als dass sich eine eigentliche Lehre davon ableiten liesse. Dies ist ganz anders bei Tolstoi. Woniger bescheiden oder naiver, wie er ist, scheute er sich nicht, ein neues Christenthum zu lehren. Unter diesem Gesichtspunkt müssen wir uns mit ihm beschäftigen und ihm einen Platz unter den zeitgenössischen Sektirern, zwischen Sutajeff und Paschkow anweisen. Bei Tolstoi ist Alles ursprünglich, russisch, national. Man nehme ihm seinen heimathlichen Boden, und er bleibt ein Räthsel. Um die religiösen und socialen Ideen eines Leo Nikolajewitsch Tolstoi zu verstehen, muss man ihn im Zusammenhang mit dem russischen Leben und unter seinen Bauern betrachten, mit denen er stets so gerne und so viel Umgang gepilogen hat. Dieser Aristokrat gehört zum Geschlecht der Seher nnd der Heiligen des Baskol. Seine Religion ist aus demselben Boden emporgewachsen wie die ihre und hat auch einen ausgesprochenen Erdgeruch bewahrt. Man kann die Artikel seines Credo im Stammeln der Dorfapostcl wiedererkennen. Man könnte fast sagen, dass er die unzusammenhängenden Lehren der volkstümlichen Sekten eondensirt und in ein System gebracht habe. Er giebt uns die Synthese, die Summe dieser Bestrebungen ; damit soll keineswegs gesagt sein, dass der grosse Romancier nur ein Spiegelbild, nur ein Echo des Mushik sei, — im Gegentheil, wenige Menschen haben mehr Individualität als er; auch ist er stets geneigt, empfangene Ideen von sich zu weisen und sich seinen Glauben selber zu bilden; — aber trotz seiner Herkunft, trotz seiner Erziehung, ist er eben ein Geist vom selben Schlage wie seine Bauern, ein Mann vom selben Blut wie die Dorfpropheten. Er ist, wenn man so sagen darf, nichts anders als ein Molokaner, ein Sutajeff, der zufällig die Universität besucht hat. Gerade herausgesagt ist auch dieser grosse Dichter ein Naturmensch. Wohl kennt er die abendländische Kunst, Literatur und Wissenschaft, aber bei alledem ist er eben doch ein ganzer Vollblutrusse geblieben. Auf religiösem, wie auf socialem Gebiete ist Leo Nikolajewitsch fast ebenso ursprünglich-unbefangen wie ein Sutajeff, Auch er glaubt , dass das Wort des Heiles, jener heilige Talisman, der alle Wunden der Menschheit heilen soll, noch entdeckt werden kann; und um diesen Talisman zu finden, glaubt er, brauche man nur das Evangelium aufzuschlagen und sich aufmerksam, andächtig darein zu vertiefen. Auch er ist auf theologischem und ökonomischem Gebiete ein Autodidakt, der einsam in stiller Nacht, beim Lichte der Petroleumlampe, nach der Wahrheit sucht. Wenn ihm auch alles das, was Andere vor ihm gefunden haben, nicht unbekannt ist, so vergisst er es doch gerne. Es kümmert ihn wenig, dass die schon so alte Menschheit schon so viele Jahrhunderte lang über dem heiligen Buche und den ewigen Räthseln gebrütet hat; er macht, wie alle Russen, gerne tabula rasa. Er meint Alles durch eigene Erkenntniss erforschen zu können und glaubt, dass überhaupt Alles noch zu finden sei. Einen Augenblick lang wundert sich Tolstoi wohl, dass er zuerst gefunden, wonach Millionen von Christen vor ihm vergeblich gesucht hatten; deswegen erscheint ihm seine Entdeckung aber keineswegs zweifelhaft. Er besitzt noch die naive Zuversicht des Jünglings und des Mannes aus dem Volke, die da meinen, es liesse sich Alles entdecken und jede Frage beantworten. Er macht sich seine eigene Religion, „Meine Religion", wie er zu sagen pllegt; und wie gestaltet sich diese?— wie diejenige der volkstümlichen Reformatoron. Es ist dieselbe Methode, dasselbe Verfahren. Er schlägt das Evangelium auf und durchforscht es, wie ein ganz neues Buch, das erst gestern vom Himmel gefallen; und erblickt unbekannte Wahrheiten, einen verborgenen Sinn darin. Wie Sutajeff war auch er schon fünfzig Jahre alt, als er darauf verfiel, in dem alten Buche nach der wahren Lehre Christi zu suchen. Der grosse Unterschied besteht einzig darin, dass er sich nicht der russischen oder kirchen-slavischen Uebersetzung bedient, sondern auf das griechische Original zurückgreift. Er frischt seine classischen Studien wieder auf und zieht die besten Wörterbücher zu Käthe, aber dieser ganze wissenschaftliche Apparat ändert in Wirklichkeit nichts an der Art, noch an den Resultaten seiner Exegese. Wie sein Vorläufer aus dem Volke folgt er dem Text Vers um Vers. Seine Auslegung ist meistens wörtlich, und seine ganze, manchmal sehr sinnreiche Gelehrsamkeit, dient ihm nur dazu, zu beweisen, dass der wörtliche Sinn der einzig annehmbare ist. Er kümmert sich wenig darum, dass ein so ver- standenes Christenthum nicht mehr die grosse, allgemeine, allen Menschen zugängliche Religion sein kann, sondern zu einer Art asketischer Lebensregel für wenige Auserwählte herabsinken muss. Das Christenthum, sowie es von der Kirche gepredigt wird, hat die Menschheit nicht umgestalten können, und dies würde ihm an sich schon genügen, um über die Kirche den Stab zu brechen; denn Tolstoi erwartet, wie seine Brüder aus dem Volke, nichts geringeres vom Evangelium, als eine vollständige Umgestaltung der menschlichen Gesellschaft. Tolstoi ist nicht immer so religiös gewesen, oder vielmehr, er war es lange Zeit unbewusst. In seinem sechzehnten Jahre sagte ihm einer seiner Schulkameraden, man habe nun die Entdeckung gemacht, dass es keinen Gott gebe. Er sagt selber: „Dreissig Jahre lang war ich Nihilist in des Wortes verwegenster Bedeutung, d. h. ein Mensch, der an nichts glaubt". Wie hat er sich bekehrt? Er hat es uns in „Mein Glaube" erzählt, aus seinen Romanen hätten wir es nur errathen können. In seinem Lewin l) lässt er uns an seinen Seelenkämpfen theilnehmen, zugleich aber können wir voraus ahnen, woher ihm das Heil kommen wird. Der Pessimismus war für Tolstoi die bittere Frucht des Nihilismus. Todesgedanken verfolgten ihn und warfen ihren Schatten auf alle seine Lebensfreuden. Wie sein Lewin trug er sich mit Selbstmordgedanken. Wo fand er nun Trost? Da, woher er die Stolle zu seinen Romanen schöpfte, beim Mushik. Er entdeckte, dass das Lebensräthsel dem Gebildeten eigentlich viel verworrener erscheine, als dem Manne aus dem Volk. Was ihm bedrückte, das existirte für Millionen von Menschen gar nicht. Was keine Wissenschaft ihn lehren konnte, das wusste seine alte Amme ganz gut; sie hatte den Glanben und kannte keinen Zweifel. Dies ist der leitende Gedanke Leo Nikolajewitsoh's, auch wieder ein ganz russischer Gedanke. Um das Leben zu verstehen, muss man bei den „geistig Armen" in die Schule gehn. Wie seine Helden nahm sich Tolstoi einen Mushik zum Vorbild, in ihm fand er die gesuchte Offenbarung. Doch kehrte Tolstoi wohl zur Religion, keineswegs aber zur Orthodoxie zurück, und darin auch zeigt er sich als Schüler der russischen Bauern. Wohl hat Christus dies Räthsel des Lebens enthüllt, aber die Kirche, die seine Worte rein bewahren sollte, hat seine Lehre entstellt. Unter den Händen von lügnerischen *) Anm. d. Uebers.: Gestalt aus Tolstoi'» Roman „Anna Karenina" (deutsch 1884 von Paul Graft), lieber Tolstoi und seine Werke vergleiche Alexander vonßcinholdt, Geschichte der russ. Litteratur (Leipzig, \V. Friedrich) S. 722 u. s. f. Commentatoren ist das Christonthum Christi verloren gegangen und ist nun schwerer wiedcrzulinden, als wenn die Evangelien in verbranntem, halbzerstörtem Zustande, wie die in Pompeji ausgegrabenen Manuseripte, auf uns gekommen wäre. Und was hat denn nun dieser. Sarmate entdeckt, das Griechen, Lateiner und Germanen nicht vor ihm gefunden hätten? Die evangelische Moral, die fünfzehnhundert Jahre lang unter der Last weltlicher Compromisse begraben lag. Er las die Bergpredigt und fand, dass der Urgrund der christlichen Lehre darin bestehe, dass man dm BOsen, den Gottlosen, keinen Widerstand leiste. Jene Gebote voll entmuthigender Erhabenheit, die Byzanz und Rom nur im Schatten der Klostermauern auf einige freiwillig aus dem Weltgetriebe entflohene, beschauliche Gemüther anzuwenden wagte, er will sie, ohne Unterschied, jedem Christen auferlegen. In ihnen liegt nach seiner Meinung das ganze Christenthum. Der Schlüssel zu seiner Lehre liegt in den Worten des Evangelium Matthäi: „Ihr habt gehört, dass da gesagt ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Uebel". Dies ist der Angel- und Mittelpunkt von Jesu Lehre. „So dir Jemand einen Streich giebt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar". Dies ist das höchste Gebot des Meisters. Kann man sich darnach als Christ bekennen und dabei Polizei und Gefängnisse einrichten? Kann man als solcher an der Organisation des Eigenthums-reohtes, der Gerichte, des Staates, der Armee, kurz an Dingen arbeiten, die der Lehre Christi direkt zuwiderlaufen? Christus lehrt: „Ihr sollt nicht schwören", und Tolstoi erklärt, auf den griechischen Urtext gestützt, dass dies soviel heissen will, als wenn geschrieben stände: „Ihr sollt keine Gerichte haben". Jesus lehrt: „Ihr sollt nicht tödten". Dies kann nur eine Auslegung zulassen: „Ihr sollt keine Armeen halten, keinen Krieg führen". Jesus sprach: „Ihr sollt nicht schwören". Dies bedeutet: „Ihr sollt weder vor Gericht eure Aussagen durch einen Schwur bekräftigen, noch dem Zaren den Fahneneid leisten". Und so geht es weiter; alle evangelischen Ermahnungen werden als strenge, unbeugsame Gesetze hingestellt. Der geheimnissvolle l'alhe des „Eathenkindes" ') lehrt, dass sich das Uebel weder durch Justiz, noch durch Gefängnisse, noch durch Todesstrafen aus der Welt schallen lasse; denn Uebelthun kann durch Uebelthun nur vermehrt werden. Das Böse wächst, jeniehr die Menschen es zu verfolgen suchen. „Iwan der Tölpel" soll uns zeigen, dass eine ') Andere CJestalt Tolstoi's. Der Uebers. Nation, die sich nicht vertheidigt, von ihren Nachbarn nichts zu fürchten habe. Um die Eindringlinge zu entwaffnen, braucht das Überfallene Volk seinen Feinden nur alles zu überliefern. Wenn der Kusse Frieden hält, so wird ihn weder der Türke noch der Deutsche belästigen. Das so verstandene Evangelium ist die Verneinung des Staates, der Gesellschaft, der Civilisation. Doch darum kümmert sich Tolstoi nicht. Der Staat ist ihm so gleichgültig, wie dem Raskolnik, der darin nur das Reich der Hölle erblickt. Als richtiger Altrusse schreckt er auch vor keiner, aus seiner Lehre entspringenden Consequenz zurück. Dem Verfasser von „Mein Glaube" erscheinen Kirche, Staat, Bildung, Wissenschaft nur als leere Idole, welche schon von Jesus, den Propheten, und allen wahrhaft Weisen „als das Uebel und die Quelle aller Verderbniss" verworfen worden sind. Auf seine Art glaubt auch er an das Reich des Satans. Auch er will die verderbte Gesellschaft umstürzen und das irdische Leben erneuern. Dies glaubt er durch die Anwendung der evangelischen Vorschriften zu erreichen. Die Menschen brauchen nur als Brüder zusammenzuleben; dann haben wir das Reich Gottes, allda ist „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen". Sind diese Gedanken in Russland neu? Finden wir nicht auch hier, was wir schon bei so manchen Dorfpropheten gefunden? Haben Molokaner und Duchoborzy im Grunde nicht dasselbe gepredigt? Wollten diese nicht auch durch Brüderlichkeit und Gleichheit das Reich Gottes auf Erden gründen? Haben sie nicht lange vor Tolstoi den Eid verboten und gelehit, dass die Kinder Gottes sich an Gerichte und Menschensatzungen nicht zu kehren hätten ? Haben sie nicht, wie die eifrigen Christen immer und überall, wie die Quäker, wie die Mennointen Krieg und Militärwesen verdammt? Ja, es ist sehr viel Altes in diesen Neuerungen. Tolstoi ist höchstens ein gewisser Schimmer von Milde und Sanftmuth eigen. Aber auch dies findet sich schon beim Mushik, der schon lange vor ihm lehrte, dass das Christenthum in der Liebe bestehe. Um zu wissen „Wovon die Menschen leben" J) wartete Sutajeff nicht auf die Ollenbarungen des Propheten von Jasnaja Poljana. Zwischen den Bauern von Twer und dem Grafen besteht eine grosse Aehnlichkeit. Im Grunde ist es dieselbe Lehre, und wenn sie einer vom andern entliehen hat, so war es jedenfalls nicht der Bauer. Tolstoi hat Sutajeff besucht; er hat mit ihm über die Leiden *) Titel eines Werkes von Tolstoi. Der Uebers. des Volkes gesprochen. Von ihm hat er das Geheimniss, wie den Unglücklichen zu helfen sei. Der ungebildete Mushik und der aristokratische Dichter, welch sonderbares Paar, besonders in einem Lande, wie Russland, wo die Standesunterschiede so tiefgreifend sind! Tolstoi macht auch gar kein Hehl daraus, dass er derjenige von beiden ist, der mehr vom andern empfangen hat; und was könnte auch ein Mann der Gesellschaft einen Mann aus dem Volke lehren? Was der Edelmann an seinem Schreibtisch in schönen Phrasen niederlegte, das hatte der Steinmetz schon lange praktisch erprobt. Sutajeff s Leben, noch mehr als sein Wort, war für Tolstoi eine Offenbarung. Er wusste, dass Sutajeff's Sohn sich lieber einsperren liess, als dass er ein Gewehr getragen und einen Eid geleistet hätte. Er wusste ferner, dass Sutajeff keinen Verschluss und keine Schlösser duldete, dass er Scheunen und Schränke offen stehen liess, und wenn er bestohlen wurde, nichts eiligeres zu thun hatte, als seine Diebe in Freiheit setzen zu lassen. Sutajeff war der Lehrer, Tolstoi der Schüler, der gelehrte Evangelist, der die Lehre aufzeichnete , er war der Plato des bäurischen Sokrates. Es besteht noch eine Aehnlichkeit zwischen Tolstoi und den Volksheiligen. Auch Tolstoi ist, wo es sich darum handelt, die Bergpredigt wörtlich auszulegen, auf seine Art nicht weniger Rationalist als Sutajeff" oder die Molokaner. Auch er kümmert sich wenig um das Dogma. Seine Religion befasst sich nur mit dem praktischen Leben. Sutajeff weiss nicht, was da drüben im Himmel ist; Tolstoi leugnet das zukünftige Leben überhaupt. Selbst als Christ bleibt er noch Nihilist. Nach ihm ist nicht der Mensch, sondern nur die Menschheit unsterblich; und auch das wahre Christenthum kennt, nach seiner Meinung, keine andere Unsterblichkeit. Jesus, sagt er, hat immer den Verzicht auf das persönliche Leben gepredigt; die individuelle Fortdauer widerstreitet also seiner Lehre. Das Fortleben der Seele nach dem Tode ist, wie die Auferstehung des Fleisches, nur ein mit dem Geiste des Evangeliums ganz unvereinbarer Aberglaube. Wie Sutajeff, die Duchoborzy und so viele Andere, erwartet Tolstoi die Seligkeit in diesem Lehen. Hienieden möchte er das himmlische Jerusalem auferbauen. Dazu braucht Christus nicht erst auf den Wolken herabzufahren; er glaubt weder an Prophezeiungen noch an Wunder. Er glaubt an das tausendjährige Reich, aber in der Weise eines Comte oder Fourier. Der Unterschied besteht einzig darin, dass ihm weder Wissenschaft, noch Reichthum, noch Politik den Schlüssel zu seinem Paradiese verschaffen sollen; denn «lies alles erachtet er für machtlos dem Menschen das Heil zu gewähren. Er erhofft die Umgestaltung der Menschheit nur von der inneren Wandlung des Menschen; und darin erscheint er gewiss weiser als alle Weltverbesserer, die seine Utopien bespötteln. Wie seine Kinder aus dem Volke, sucht er den Weg nach den „weissen Wassern", nach den geheimnissvollen Bclowody, wo es weder Popen, noch Esprawniki, noch Steuereinnehmer, noch Rekrutirungsofiiciere giebt. Und er kann sich rühmen, den Weg zu diesem Eldorado gefunden zu haben. Um in das wiedergefundene Paradies einziehen zu können, würde ihm die Menschheit nur auf diesem Wege zu folgen haben; sie müsste nur den Pfad der Sünde verlassen und Liebe üben. Wenn die Menschen als Brüder unter einander lebten, würden weder Gensdarmen, noch Soldaten, noch Gerichte nöthig sein. Der Irrthum liegt nur darin, dass er glaubt, dass die Menschheit in ihrer Ge-sammtheit jemals den schmalen Pfad der Entsagung wandeln, dass ein ganzes Volk jemals durch die enge Pforte der Selbstverleugnung schreiten könne. Tolstoi vergisst mit der menschlichen Natur zu rechnen, er verkennt das alte Dogina vom Abfall, das unsere Schwäche versinnbildlicht. Manchmal scheint es, als ob er glaube, der Mensch sei von Natur gut, und es genüge, ihn von allen Banden zu befreien, um ihm diese ursprüngliche Güte zurückzugeben. In seinem unbegrenzten Vertrauen auf die dem Menschen innewohnende Gewissensstimnie duldet er keinerlei Zwang. Was die Gläubigen nur von der göttlichen Gnade erhoffen, das erwartet er von der Natur, von eben der Mensohennatur, die er in seiner ganzen Lehre verleugnet. Worin besteht nun das socialpolitische Ideal dieses Mystikers, der ein, allen Trieben des „alten Adam" so entgegengesetztes Leben empfiehlt? Gewissermassen besteht es in einer Bückkehr zur Natur; allerdings sollen aber vorerst aus Natur und Mensch die mächtigsten, eingefleischtesten Instinkte eliminirt Weiden. Die Menschheit soll allem entsagen, was den Ruhm, die Schönheit und Sicherheit des Lebens ausmacht. Tolstoi nimmt gewissermassen das Rousseau'schc Paradoxon wieder auf. Nur ist bei ihm das abstrakte Geschöpf der Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts zu einem lebendigen Wesen geworden; der „Naturmensch" ward zum Mushik. Wie Rousseau glaubt auch Tolstoi, dass der Mensch, um glücklich zu sein, sich nur von den eiteln Bedürfnissen der Civilisation loszumachen brauche. Von Fortschritt, Industrie, Wissenschaft und Kunst will er nichts hören; das sind ihm leere Worte. Aber Leo Nikolajewitsch schöpft seinen Hass gegen die Civilisation, welcher er noch schlimmer zu Leibe geht als Jean-Jacques, nicht aus seiner eigenen Menschenscheu, oder aus enttäuschter Eitelkeit, sondern aus dem Mitleid mit den Leiden des Menschengeschlechts. Wie viele volkstümliche Reformatoren, ist er überzeugt, dass die Armuth des einen Theiles der Menschen vom übermässigen Reichthum der anderen herrührt. Auch ihm gilt jeder Rentier als ein Schmarotzer, der „wie eine Blattlaus die Blätter des Baumes zerstört, auf welchem sie sitzt, und der ihr Nahrung beut". Auch er hält den Capitalzins für eine Ungerechtigkeit. Er kann nicht genug über diesen „fantastischen Rubel" spotten, von welchem man jährlich ein paar Kopeken abbröckelt, ohne dass er jemals kleiner wird. Er geht so weit, dass er aus seinem Staate sogar das Geld verbannt, weil es dem Menschen gestatte, sich die Arbeit eines andern anzueignen, und weil es eine neue, die „unpersönliche" Sklaverei hervorrufe, die viel härter und unmenschlicher sei, als die persönliche Sklaverei des Alterthums. Wenn nicht jedes Hauswesen die zum Leben nöthigen Producte hervorbringen kann, so sollen diese wenigstens in natura ausgetauscht werden. Jeder Mensch soll von seiner Hände Arbeit leben. „Im Sohweisse deines Angesichtes sollst du dein Brot essen", sagt die Schrift. Auch hier geht Tolstoi weiter als Rousseau; aber ihm ist die Arbeit nicht nur eine Pllicht, sondern ein moralisches Heilmittel, noch mehr, ein Mittel- des „Heils". Auch dies ist ein Gedanke, den er mit manchem Sektirer aus dem Volke theilt. Auch die Molokaner stellen die Arbeit als eine religiöse Pllicht hin und sagen, dass sie dem Menschen 80 nöthig sei, wie Brot und Luft. Man hat behauptet, Tolstoi empfehle aus hygienischen Gründen die Handarbeit als das beste Gegengewicht gegen die Kopfarbeit. Das ist nicht ganz richtig. Dieser Gedankenarbeiter hat vor der Körperarbeit dieselbe Achtung, er findet denselben Geschmack an der Muskelthätigkeit, wie der gemeine Mann. In manchen seiner Erzählungen ergiesst er seinen schärfsten Spult über die unfruchtbare Kopfarbeit. Ihm gilt der Ackerbau als Arbeit „par excellence"; jeder Mensch sollte davon leben. Auch das ist echt russisch. Tolstoi hat auf seine Kosten die kleine Schrift eines Sabbatisten herausgegeben, worin aus der Bibel bewiesen wird, dass jeder Mensch wenigstens fünfunddreissig Tage in jedem Jahre den Acker bauen sollte. Die für Geist und Körper gleich schädliche Fabrikarbeit sollte abgeschafft werden, ebenso wie die Städte. Tolstoi hat vor diesen Sündenhabels dieselbe Abneigung wie ein „Irrender". Man soll die Städte verlassen, wo man „consumirt ohne zu produ-ciren", aufs Land ziehen und allen künstlichen Bedürfnissen des städtischen Lebens entsagen. Dem Pauperismus ist leicht abzu- helfen, Sutajeff löst diese Frage mit einem einzigen Wort: man muss nur die Armen aus den Städten auf die Jsba's der Bauern vertheilen. Der Reformator hat seine Lehre selber praktisch erprobt, wenigstens soweit, wie dies einem Russen seines Standes möglich ist. Wenn er sein Vermögen nicht unter die Armen vertheilte, so hielt ihn nur die Sorge für seine Familie und auch die Erwägung davon ab, dass man gewöhnlich mit Almosen nichts besser macht. Tolstoi lebt auf dem Lande; er arbeitet, legt in Heu- und Kornernte selber mit Hand an, und seine robuste Gesundheit befindet sich gut dabei; denn dieser Philosoph hat nichts Ungesundes, nichts von einem Nervenleidenden an sich. Er ist kein Epileptiker, wie Dostojewski. Wie der russische Bauer betreibt er im Winter ein Handwerk. Er ist Schuster und seine Stiefel verkaufen sich sehr gut. Eines Tages entdeckte er bei einem Bekannten ein Paar davon in einem Glasschrank, der mit folgender Aufschrift versehen war: „Stiefel, die der Graf L. Tolstoi verfertigt hat." Er ist nicht nur Schuster, er bessert auch Oefen aus; die meiste "Vorliebe aber zeigt er doch immer für die Landarbeit. Die breite Hand, die „Krieg und Frieden" geschrieben, hat schon oft kraftvoll den Pflug geführt. Aber ob-schon Tolstoi die Bücherschreiber bedauert, so hat er doch seine Feder nicht weggelegt. Er säet nicht nur Roggen und Hafer, sondern auch Gedanken, dieser Arbeiter auf dem Felde des Geistes. Er sucht den noch uncultivirten (ieist seiner Brüder aus dem Volke urbar zu machen und streut die Wahrheiten, die er gefunden, mit vollen Händen auf den noch jungfräulichen Boden der russischen Bauerndistrikte aus. Man hat Tolstoi oft mit Schopenhauer verglichen. Man hat in seiner Lehre einen indischen Duft entdecken wollen, als ob alle religiösen Bestrebungen Russlands in einer Art christlichen Buddhismus gipfelten. Dies ist wahr und falsch zugleich. Durch den Pessimismus, welcher den Ausgangspunkt seiner Lehre bildet, durch seine Gleichgültigkeit gegen den Fortschritt, seine Vergötterung der De-müthigen, seine Philosophie der Entsagung, seine Religion der Mild-thätigkeit ohne Gott, durch sein schwächliches Dogma, welches gebietet, „dem Uebel nicht zu widerstreben", nähert sich Tostoi allerdings dem Buddhismus. Man könnte glauben, der Reformator von Tula sei auf dem fabelhaften Gipfel des Berges Meru geboren. Aber die Aehnlichkeit ruht fast ausschliesslich in den Dogmen, in der Theorie. Nirgends zeigt sich aber gerade die Verschiedenheit des russischen und des indischen Geistes klarer, als in diesen scheinbar gleichen Glaubenssätzen und Systemen. Tolstoi mag noch so eitrig die Erlösung im Aufgeben der Persönlichkeit suchen, in dem Augenblick, WO es scheint, als ob er sich in die Tiefen des Buddhismus hinabstürzen wolle, dreht er ihm durch seine Auffassung des praktischen Lebens entschlossen den Bücken. Das Vorbild des kraftvollen Schnitters von Jasnaja Poljana kann kein abgezehrter Fakir oder ein einsamer in die Betrachtung seines Nabels versunkener Rischi sein. AVenn er auch verbietet, dem Uebel zu widerstreben, so empfiehlt er desshalb keineswegs Unthätigkeit und passive Seelenruhe. Seine Lehre ist mehr mystisch als asketisch; sie verherrlicht die That und sucht die Beschaulichkeit. Der Busse entgeht dem Buddhismus durch seine Arbeitsliebe und seine Freude an der Anstrengung und der körperlichen Thätigkeit. Daran erkennt man den Nordländer. Wenn er die Menschen auffordert, die Stallte zu (liehen und den Bequemlichkeiten des Lebens zu entsagen, so will er deswegen seine Schüler nicht in die Wüste führen, um daselbst Busse zu thun, oder in eine enge Klosterzelle stecken, wo sie ihre Zeit mit Beten and Fasten todtschlagen sollen. Noch weniger sollen sie in den Höhlen der Viharas die Ruhe der Nirvana kosten. Tolstoi halt überhaupt nicht viel von Fasten und Beten. Ebenso predigt er, der doch sonst die evangelischen Kathsehläge so gern wörtlich versteht, keineswegs das Cölibat: er ist nicht, wie der Skopz oder wie Schopenhauer, ein Gegner der Fortpflanzung; er ermahnt allein den Mann, nur ein Weib zu lieben. Nach ihm besteht die Erlösung von allen Hebeln des Lebens in Thätigkeit, in physischer, wenn nicht zu sagen in animalischer Kraft entfall ung. Welch glückliche IncoUsequenz! Dieser Nordländer, dieser Slave, der sieh schon auf dem besten Wege zum Quietismus befindet, lässt sich vom eigenen Temperament ge-wissermassen düpiren und gelangt direkt zum Gesetze der Thätigkeit, zur Erlösung durch die Arbeit. Dies ist nicht der einzige Unterschied zwischen dem „Tolstoiismus" und dem Buddhismus; beide Lehren unterscheiden sich nicht nur durch die Heilswege, sondern auch in der Auffassung des „Heils" an sich. Der Buddhist strebt vor allen Dingen nach individueller, persönlicher Erlösung: Tolstoi, wie die meisten Russen, denkt mehr an die Befreiung der Menschen in ihrer Gesammtheit, an die Umgestaltung der Gesellschaft. Und dieses Heilswerk möchte er hienieden vollbringen; denn dieses Leben erscheint ihm nur dann schlecht, wenn es nicht durch die Liebe seine Weihe erhält. So ist die Lehre Tolstoi's wohl weniger ein christlicher Buddhismus als ein christlicher Nihilismus. Er ist nicht nur als Theologe, als Philosoph, sondern auch als Socialreformator Nihilist. Wie Sutajeff ist er — wenn sich überhaupt zwei so heterogene Worte vereinen lassen — ein evangelischer Nihilist. In vielen Punkten stimmt er mit den politischen Nihilisten überein, die, auf ihre Art, auch Männer „des Glaubens" sind. Ein russischer Flüchtling sagte mir: „Seine Abneigung gegen jederlei Kampf abgerechnet (und auch diese Gefühle linden sieh bei vielen unserer Freunde) kommen die Ideen Tolstoi's den unsrigen sehr nahe." Lawrow hat einen Artikel gesehrieben, worin er dies zu beweisen sucht. In Wahrheit giebt es Kaum einen grösseren Umstürzler als diesen Apostel der Milde und Wohlthätigkeit. Er übertrifft manchmal die Bakunin's und Kropot-kin's. Keiner seiner Landsleute hat den Capitalismus härter angegriffen; keiner war ein eifrigerer Internationalist. „Was mir einst schändlich und schlecht erschien" — kann man in ,Mein Glaube' lesen — „der Verzicht auf das Vaterland, der Kosmopolitismus, erscheint mir nun gut und gross." Ueber das Heer, die Justiz und Gesetzgebung hat er dieselben Ansichten wie Kropotkin. Mit diesem glaubt er. das beste Mittel die Verbrechen aus der Welt zu schallen, bestände darin, dass man die Gefängnisse dem Erdboden gleich mache und die Gesetzbücher verbrenne. Man braucht nur zwei im selben Jahre (1880) in französischer Sprache erschienene Bücher zu vergleichen. ,,Ma Religion (Mein Glaube/' von Tolstoi und „Paroles dun revolle (Worte eines Aufständischen)" von Kropotkin; die Schlüsse sind in beiden analog. Und ist dies erstaunlich? Nein; denn der revolutionäre Graf und der theosophische Gottesleugner sind beide „Seher" und „Gläubige". Beide haben dasselbe Gesicht geschaut. Wie Bakunin and Kropotkin ist auch Tolstoi Anarchist, d. h. Anhänger der „An-archie". Er würde vor einer der äusseren Formen haaren Gesellschaft keineswegs zurückschrecken. Schaff! jede Art von Regierung ab, und aus dem, was man Unordnung nennt, wird die „freie Ordnung" hervorgehen! Er würde an ganzen Völkern mit Freuden denselben Versuch machen, wie auf seinem Gute in Jasnaja Poljana. Sobald die Menschen sich selbst überlassen wären, glaubt er, würde, wie bei seinen Mushiks Friede und Gerechtigkeit unter ihnen herrschen. Auch hier zeichnet sich Tolstoi vor anderen Nihilisten aus. Nicht nur weil er vom Dynamit absieht, sondern weil er seine Hoffnung auf eine von den meisten Socialisten ganz verkannte Macht, auf die Religion und die christliche Bruderliebe gründet. Das Evangelium soll der Hebel sein, womit er die Menschheit in das neue Paradies emporzuheben trachtet. Wenn man das persönliche lnter- esse eliminiren könnte, so würde sich leicht eine neue Gesellschaft, ein ganz neues Wirtschaftssystem gestalten lassen. Audi darin ist dieser religiöse Visionär, wie seine ungelehrten Vorläufer, weniger Träumer, als manche revolutionäre Schwärmer, Nach ihm ist die Verwirklichung der gesellschaftlichen Regeneration in die Hand des Menschen gegeben. Um auf dieser armen Erde das Himmelreich aufzurichten, brauchten die Menschen nur die Bergpredigt zur That Werden zu lassen. Aber wir müssen nochmals wiederholen, das Unmögliche von Tolstoi's Lehre liegt weniger in seinem evangelischen UniversalmiHcl, als darin, dass es sich eben nicht auf ein ganzes Volk, und wäre es auch das russische, anwenden lässt. Und doch lud Tolstoi in seiner Thorheit gewissermassen recht. Er kann sagen, dass diejenigen Menschen, die verblendet genug sind, ihm nicht folgen zu wollen, die eigentlichen Narren seien. Trotz all diesen Unmöglichkeiten und Uebertreibungen liegt in der Lehre Tolstoi's doch ein gesunder Kern. Er sucht das „gelobte Land" innerhalb des Menschen. Er fühlt die Ohnmacht der Revolutionen , die Unzulänglichkeit von Gesetzen und Wissenschaft zur Umgestaltung der Gesellschaft. Er lehrt, dass man das Laster unterdrücken muss. wenn man das Unglück aus der Welt schaffen will. Er behauptet, dass jeder sociale Fortschritt auf einem moralischen fort schritt beruhen müsse. Und dies ist das Heilsame an seiner Lehre, Dieser Volksfreund schmeichelt dem Volke nicht. Er predigt die Emancipation durch Bekehrung. Es ist wahr, Tolstoi glaubt, in der Geschichte, in Krieg und Frieden, nur und ausschliesslich an das Volk, an die unbekannten Massen, an die unbewussten Kräfte, an das unendlich Kleine, an die Kraft des Atoms. Er Weiss nichts von einem Heroenkultus: der russische Geist — sagt er — anerkennt keine grossen Männer. In seinen Augen gewinnt der Soldat die Sehlacht und nicht der General.1) Aber wenn er auch alles nur dem Manne aus dem Volke zutraut, so vergöttert er den gemeinen Mann doch keineswegs. Er steht demokratischen Verhimmelungen ebensofern wie dem „heroes1 worship". Wenn Tolstoi auch die Bauern vor dem gebildeten Menschen herausstreicht, so sind seine Bauerncharaktere doch keineswegs geschmeichelt. Seine Dorfgeschichten sind keine Idyllen, seine Bauern ■) Siehe den schönen Vortrag von Alb. Sorel: Tolstoi historieu. lievue Hirne, 11. April 1888. gleichen oft, wie sich Taine so bezeichnend ausdrückt, „mystischen Schnapsbrüdern'*. Man lese nur die „Macht der Finsterniss", da zeigt uns Tolstoi die Bauern „in der Sünde verstrickt", wie ekle Thiere. Wodurch soll sich nun dieser Mushik erheben, den er uns bald als so tiefstehend schildert, bald wieder als leuchtendes Bel-spiel vorführt? Durch die Nächstenliebe und durch den Glauben, Sein Lieblingsheld ist Akim, der alte Mistbauer, dessen Bede nur noch ein Stottern ist; je niedriger der Mensch steht, um so mehr gefällt sich Tolstoi darin, gerade an diesem Beispiele die Züge hervorzuheben, «eiche die wahrhafte Grösse der Menschen ausmachen, die Charakterziige eines gewissen Moralgefühls. Er will in der dichten Finsterniss, die auf seinen Bauern lastet, das kleine Licht des Gewissens zeigen, das, wenn auch mit schwachem Schimmer, doch immer noch die Nacht ihrer Seelen erhellt. Die Triebkraft zur Wiedergeburt dieser Unglücklichen ruht in ihren eigenen Herzen, und nur von da kann ihnen die wahrt1 Erleuchtung kommen. Der Apostel des Volkes zu sein, darin sucht Tolstoi die Mission seines Alters. Auch er „ist zum Volke zurückgekehrt", aber glücklicher als die Revolutionäre, die ihm vorangegangen, gelang es ihm die Sprache des Mushik zu reden und von diesem verstanden zu werden. Er kehrte zum Volk zurück, nicht um seineu Hass und seine Begierden zu schüren, sondern um es Entsagung und Liebe zu lehren. Racine schrieb, als er der Bühne entsagt hatte, biblische Tragödien, welche er von jungen Edelfräuleins vor dem „gmml Roi" aufführen liess. Tolstoi .schreibt, nachdem er dem Rennau entsagt, volksthüm-liche Erzählungen, die er durch Kolporteure für wenige Kopeken verbreiten lässt, ohne selber auf irgend ein Autorenhonorar Anspruch zu erheben. Tin Jahre 1886 sagte er noch zu Herrn Danilewsky: „Es ist noch nicht lange her, da gab es in Russland nur ein paar tausend Leser, heute giebt es deren Millionen; und diese Millionen stehen nun da vor uns wie hungrige Vöglein mit offenen Schnäbeln und sagen: ,Ihr Herren Schrifsteller, spendet uns doch ein wenig Nahrung, uns, die wir hungern nach dem lebendigen Worte!'" Und nun reicht er, der Verfasser von „Krieg und Frieden-, den Hungernden das Futter, das ihnen am zuträglichsten ist, einfache, volkstümliche Erzählungen und Legenden. Die Exemplare verkaufen sich Millionenweise; denn Tolstoi spricht zum Volke nach seinem Herzen. Er hat seine Legenden dem Glauben seines neuen Leserkreises anzupassen gesucht, darum verschmäht er, trotz seinem Rationalismus, weder das Wunder noch das Uebernatürliche. So öffnet er, selbst wo der Schriftsteller in ihm im Christen untergegangen zu sein scheint, der rassischen Literatur neue, acht nationale, acht volkslhüinliehe Hahnen. Auch rein künstlerisch betrachtet sind diese Werke nicht ohne Schönheit. Er hat das alte, evangelische Öleichniss wieder zu Ehren gezogen, was nur ein Kusse thun konnte, der für Hussen schreibt. So schafft er, indem er nur für die Erbauung seiner Brüder arbeiten will, wider Willen noch Kunstwerke. Heute machen selbst die grössten Schriftsteller keine religiösen Revolutionen mehr. So hat auch Leo Nikolajewitsch weniger Anhänger als die Apostel im Kaftan und Tulup. Seine Lehre entbehrt zu sehr des dogmatischen Halts, um einer Sekte, einer Kirche, als Gerippe dienen zu können. Die Adepten, welche seine Lehren that-Bächlich erproben, sind selten. Da und dort versucht einmal ein Gutsbesitzer, nach seinem Vorgang auf seinen Gütern mit seinen Bauern als Bauer zu leben. Aber wenn sich auch Russland nicht zu „seinem Glauben" bekehrt, so kann es sich seinem Einfluss doch nicht entziehen. Die Gedanken Leo Nikolajewitsch's fliegen, als Fabeln und Legenden leicht verhüllt, wie befiederte Samenkörner in alle Winde hinaus. In dieser kindlichen, mit wunderbarer Naivität umgebenen Gestalt wird der „Tolstoismus" gewissermassen zu einem Gedicht der Menschenliebe und enthält eine ideale Wahrheit, wäre es auch nur der alte banale Satz, dass weder Wissenschaft noch materieller Fortschritt, noch Geld, noch Maschinen an und für sich der Menschheit wahres Glück gewähren können. Dies ist eine alte Wahrheit, die man einem Volke an der Wende unseres Jahrhunderts wohl wieder ins Gedäehtniss rufen darf; und wenn Tolstoi dies in seinen Kindergeschichten thut, so ist er darum noch nicht selber kindisch geworden. I ..■!■■> !'• 1-a ii i ic ii , liric-li 1 s _ Hülfstruppen, die er nicht selber herbeibeschworen, denen er aber mehr Erfolge verdankte als seinen Predigten. Der Geist des Jahrhunderts, weltlicher Sinn, Luxus, Geschmack am Wohlleben, Mode und alles was darum und daran hängt, machen dem Schisma mehr Seelen abspenstig als die Diener Gottes. Die Schenke, Fabrik, Werkstatt, Zeitungen, Eisenbahnen, Militärdienst untergraben die alten Sitten und sind die gefährlichsten Feinde des alten Glaubens. Die beste Taktik, um diesen zu brechen, wäre, wenn man sich einfach auf das Umsichgreifen der modernen Lebensweise, der modernen Anschauungen, kurz der Civilisation verlassen würde; denn manche dieser plumpen Häresien gleichen Kcllerpflanzen, die nur in der Dunkelheit gedeihen und das Licht nicht ertragen können. Die besten Kämpfer gegen den Raskol sind weder der Pope noch der Ts* hinownik, sondern die europäische Cultur und die Freiheit, unter ihrem Einfluss werden von all den unklaren Sekten nur die wahrhaft berechtigten und lebensfähigen standhalten. Ein Russe sagte einst: „Wenn der Raskol zweihundert Jahre angedauert hat, so kommt dies daher, weil das russische Volk tausend Jahre verschlafen und verträumt hat." Darin liegt eine gewisse Wahrheit; wie viele dieser eigentümlichen Sekten scheinen nur Träume eines schlummernden Volkes? Lasst das Volk aufwachen, und die eitlen Träume der Nacht werden von selbst zerrinnen. Der Fanatismus der Dissidenten ist eine Folge der zwei Jahrhunderte andauernden Verfolgung und Eedrüngniss. Wenn man sie mit Kirche und Staat aussöhnen wollte, so müsste man zuerst ihre Beschwerden abstellen. Dies hat die Regierung schliesslich auch eingesehen und belindet sich wohl dabei. Leider aber ist sie auch hier bei halben Massregeln stehen geblieben und wagte es so wenig, volle Religionsfreiheit zu gewähren, wie sie sich früher scheute, in der Verfolgung des Raskol bis zum Aeussersten zu schreiten! Der Mangel an Consequenz in der Gesetzgebung und den Regierungsmassregeln schreibt sich zum grossen Theil auch daher, dass man alle diese heterogenen Sekten unter einem gemeinsamen Namen zusammenzufassen pflegte, wodurch der Schein einer Gleichmässigkeit erweckt wurde, die zur Anwendung gleicher Massregeln gegen die ungleichartigsten Sekten führte. Hierarchische Altgläubige und anarchistische Priesterlose, Chlysty und Molokaner, rückschrittlich-conser-vative und revolutionär-radioale Sekten, alle wurden unter dem Namen „Raskolniks" in einen Topf geworfen, alle wurden mit derselben, den jeweiligen Verhältnissen keineswegs Rechnung tragenden Strenge verfolgt. Als man sich endlich aber entschloss, zwischen so ungleichen Lehren einen Unterschied zu machen, so liess die amtliche Einteilung auch gar viel zu wünschen übrig und machte die Verwirrung stellenweise nur grösser. Die dissidirenden Gemeinden wurden in zwei grosse Classen eingeteilt: ,,in schädliche und in weniger schädliche Sekten", als ob es sich hier um Gradunterschiede der „Schädlichkeit" handle. Dies war mehr ein geistlicher als ein weltlicher Gesichtspunkt. Und auch heute gelten nicht nur diejenigen Sekten, welche die politische und moralische Ordnung bedrohen als „schädlich" oder gefährlich, sondern hauptsächlich diejenigen, welche die Grunddogmen der Orthodoxie angreifen. Neben den Skopzy, den Chlysty und den „Irrenden" liguriren auf den officiellen Listen auch noch die friedfertigen Molokaner und die unwissenden Sabbatisten unter den „Gefährlichen", so dass die Regierung in der Unterdrückung der Häresie von ganz verschiedenen Prin-cipien, bald von socialen, bald von confessionellen auszugehen scheint. Die Verwirrung wird durch einen weiteren Umstand noch vermehrt, durch den Mangel an einer feststehenden Gesetzgebung oder vielmehr durch den Mangel an Uebereinstimmung zwischen den einzelnen Gesetzen und den verschiedenen Regulativen ihrer Anwendung. Eis in die jüngste Zeit wurde das Vorgehen gegen die Sektirer durch eine zwiefache Regel bestimmt: einerseits durch die offenen Bestimmungen des Reichsgesetzbuches, andererseits durch geheime, aber wandelbare Vorschriften der Regierung, die oft mit dem geschriebenen Gesetz keineswegs im Einklang standen. Daher entstanden Widerspruch und Zusammenhanglosigkeit in den Erlassen, Willkür und Käuflichkeit in der Ausführung dieser Erlasse. Unter Nikolaus lag Alles, was den Raskol betraf, in den Händen eines geheimen Ausschusses, der durch seine geheimen Erlasse das Vorgehen gegen die Dissidenten leitete. Die Raskolniks, welche das Reglement, nach welchem sie abgeurteilt wurden, nicht kannten, waren auf diese Weise allen Erpressungen des niedrigen Beamtentums und der Priesterschaft, wehrlos überliefert. Die Tschinowniks trieben ihre Unverschämtheit teilweise so weit, dass sich die Raskolniks von Strafen, die überhaupt gar nicht existirten, loskaufen mussten. Diese Zustände wurden unter den Reformen Alexanders IL unhaltbar. Die Frage des Raskol war seit seiner Thronbesteigung, eine der hauptsächlichsten Sorgen dieses Zaren. Im October L858 befreite ein, nach der misslichen Gewohnheit der Petersburger Büreau-kratie, geheim abgefasstes Rundschreiben die Raskolniks provisorisch von den schreiendsten Ungerechtigkeiten. Zu gleicher Zeit wurde eine Commission niedergesetzt, welche eine Reform der Gesetzgebung nach dieser Richtung erwägen sollte. Diese Reform kam aber erst 18S."! und 18S1 unter Alexander III. zur Ausführung. Bis zu diesem Zeitpunkt bliebet] die Dissidenten rechtlieh in ihrer bürgerlichen und ■ religiösen Freiheit beschränkt; den Bauern waren die Gemeindeämter unzugänglich und die Kaufleute waren des Gilderei Iiis beraubt; das Gesetz verbot ihnen vor Gericht gegen die Rechtgläubigen auszusagen, ausserdem durfton sie die Reichsgrenze nicht überschreiten; endlich war es ihnen noch vor ganz kurzer Zeit gesetzlich verboten, neue Bethäuser zu errichten oder die alten zu re-pariren, nur der direkt über dem Altar liegende Theil des Daches durfte ausgebessert werden. In Russland kann allerdings die Willkür die Strenge der Gesetze um vieles mildern; zudem kennen die Raskolniks gar wohl den Spruch der da heisst: „Das Gesetz gleicht einem schlaff gespannten Seile, die Grossen springen darüber und die Kleinen kriechen unten durch." Eine Hauptaufgabe für den Gesetzgeber, zugleich eine Haupt-Schwierigkeit bestand darin, den Dissidenten einen Civilstand zu geben. Die Regierung Alexanders Ii. hat dies im Jahre 1874, wenigstens für die elf oder zwölfhunderttausend in den officiellen Listen aufgeführten Raskolniks versucht. Dies war eine sehr delicate Sache. Bis dahin hatte allein der Klerus über Geburten und Sterbefälle Register geführt; ebenso galten nur kirchliche Trauungen als gesetzlich. Dadurch wurden die Dissidenten nach dem Rechtsbegriff zum Concubinat gezwungen, und ihre Kinder galten als Bastarde. So befanden sich die Raskolniks in derselben schlimmen Lage wie die französischen Brotestanten seit Ludwig XIV. Dadurch verschluss das Gesetz denselben Sektirern die Ehe, denen es die Ehelosigkeit zum Vorwurf machte. In ganzen Dörfern wurden Jahre hindurch weder Trauungen noch Geburten eingetragen. Die Bauern adoptirten nur gefundene Kinder, die ihnen von Weibern, welche vom Aullesen solcher ausgesetzten Waisen lebten, zugetragen wurden. Dies waren in Wirklichkeit natürlich ihre eigenen Kinder, welche die Hebammen einfach, nachdem sie nach den Riten des Raskol getauft waren, den filtern wiederbrachten. Durch diese gesetzliche Fälschung der Statistik gerieth sogar die Sittlichkeit des Landes in Europa in Verruf; weil alle Kinder der Raskolniks auf den officiellen Listen als uneheliche figuriren mussten. Wie war aus dieser Lage herauszukommen? Zwei Wege boten sich dar, von denen leider der eine fast so unmöglich war wie der andere: man musste entweder die Trauungsfornien der Dissidenten als legal anerkennen, oder für diese eine Civilehe einführen. Der ersten Lösung stand vor allen Dingen das Interesse der Kirche im Wege, forner der eigentlich unberechtigte Klerus des Popowzy und die Ge-hräuche der Bespopowstschina, da manche Sekten der letzteren bekanntlich weder Priester noch Ehe anerkennen. Gegen die Einrichtung der Civilche erhoben sich nicht nur die Grundsätze der Kirche und die Gewohnheiten dos Volkes, sondern auch die Vor-urtheile der Dissidenten selber, die gerade in diesem Punkte mit ihren Gegnern ganz einig gingen. Man stand vor folgendem, etwas merkwürdigen Problem: Es galt einen bürgerlichen Akt der Trauung zu finden, der keine Civilche und ganz unabhängig von jeder kirchlichen Trauungseeremonie war. Der Gesetzgeber suchte dies Alles dadurch zu erreichen, dass er für die Baskolniks polizeiliche Specialregister einführte. Die Ehen der Dissidenten sollten auf eine einfache Erklärung der Getrauten und der Trauungszeugen hin eingetragen werden, ohne dass der betreffende Civilstandsbeamte sich um die religiöse Trauungseeremonie weiter kümmerte. Der Staat aber schloss die Ehen nicht, sondern nahm nur officiell Akt davon. Den Anforderungen der Gesellschaft war Genüge geleistet, ohne dass dadurch die Maximen der Kirche verletzt wurden. Der theologische Grundsatz, dass die Ehe ein religiöser Akt sei, blieb unangetastet, und die Ehen der Dissidenten genossen gesetzlichen Schutz, selbst wenn sie durch keinerlei kirchliche Ceremonie eingesegnet worden waren. Der polizeilichen Eintragung ging ein Aufgebot von sieben Tagen voran; Ehescheidungen konnten nur von Laiengerichten ausgesprochen werden, die nach den auch für die Orthodoxen in Kraft stehenden Gesetzen urt heilten. Man glaubte dadurch allen Sektircrn den Weg zur Ehe zu bahnen ohne irgend eine Sekte prinzipiell anzuerkennen. Dieses Gesetz schien eine wahre Wohlthat für die Raskolniks und doch wollten es sich die meisten nicht zu Nutze machen. Die einen aus Misstrauen gegen die Polizei, welche die Register zu führen hatte, andere, weil sie sich der Freiheit, ihre Ehe nach Gutdünken wieder aufzulösen, nicht begeben wollten. Der Misserfolg dieses Gesetzes von 1874 zeigt, wie viele, rein legale Schwierigkeiten der lfaskol darbietet. Die Regierung hat nun Mühe, nachdem sie die Raskolniks so lange auf alle mögliche Weise belästigt hat, die Dissidenten von ihrem guten Willen zu überzeugen. Es braucht noch viele Jahre der Toleranz, um dieses Jahrhunderte alte Misstrauen zu überwinden. Eine Zeit lang glaubte man die völlige Emancipation der Altgläubigen würde eine der ersten Regicrungsthaten Alexanders III. sein. Die Raskolniks hatten das Glück ihre Rechte zu einer Zeit erweitert zu sehen, wo alle anderen Freiheiten in Russland beschnitten wurden. Sie waren fast die einzigen im Reiche, die unter der durch die revolutionären Attentate hervorgerufene Strenge der Regierung nicht zu leiden hatten. Und das war nur gerecht. Niemand hat sich von allen Complotten ferner gehalten als die so lange Zeit verfolgten und von der Polizei ausgebeuteten Dissidenten. Wie zur Zeit eines Herzen und eines Kelsieff blieben ihre Ohren für alle Lockungen der Aufwiegler taub. Nach im Process des Adrian Micha! luff und des Dr. Weimar gefallenen Aussagen sollen „Nihilisten" bei diesen Glaubensrevolutionären ähnliche Versuche gemacht haben, wie dreissig Jahre früher, die Londoner Flüchtlinge. Aber Leute wie Scheliahow und Sophie Perowsky konnten unter den Raskolniks, welche doch glauben, dass Russland vom Antichrist regiert werde, keine Anhänger linden. Wenn die Raskolniks auch Revolutionäre sind, so sind sie dies doch in ganz anderer Art, als die aus der „Intelligenz" hervorgegangenen Aufwiegler. Es könnte ja sein, dass die russischen Dissidenten dereinst eine ähnliche politische Rolle spielen werden, wie die englischen Nonconformisten; heute aber sind sie noch weit davon entfernt. Trotz allem Hass gegen „die Söhne der Hölle" neigt der Russe im Geiste doch immer zum Zarenkult. Wenn sie auch das ganze Reich verdammen, so bleiben sie dem Zaren ergeben. Der Herrscher weiss das auch sehr gut und vertraut ihnen; die Leibkosaken Alexanders II. waren meistens Altgläubige und mehrere von ihnen wurden an jenem verhängnissvollen 1. März bei der bekannten Katastrophe verstümmelt, einer blieb sogar todt, Die Loyalität der Raskolniks ist so wenig zweifelhaft, dass während der nihilistischen Krise, ein Mann, der inzwischen auch verschwunden ist, Zitowitsch, Direktor des Bereg1) unter den Dissidenten die Elemente zu einem conservativen „dritten Stande" suchte, den er der radicalen „Intelligenz" entgegensetzen wollte. Was hat nun Alexander III. für diese kaisergetreuen Glaubens-revolutionäre gethan? Die Maigesetze von 1883 und 1884 haben ihnen Rechte verliehen, welche ihnen das russische Gesetz bis dahin verweigert hatte. Zum ersten Male wurde ihnen gestattet, sich zum Zwecke des Gottesdienstes frei zu versammeln. Die Gesetze, welche die bürgerlichen Rechte der Dissidenten beschränkten, wurden aufgehoben. Sie dürfen nun wo sie wrollen im Reiche wohnen und auch ins Ausland reisen. Sie dürfen sich in die Kaufmannsgilden einschreiben lassen, dürfen Ehrenämter bekleiden und können öffentliche >) Anm, d. Uebers.: Eine Zeitschrift. Auszeichnungen empfangen. Dies ist etwas, aber nicht Alles! Sie werden wohl nicht mehr als Rebellen gegen den Staat betrachtet, aber ihre Emancipation ist keineswegs eine vollständige. Sie haben bürgerliche Gleichberechtigung, aber noch keine Religionsfreiheit. Die Rechte, die ihnen Alexander HI. gewährte, konnten sie sich für Geld auch früher von dem bestechlichen Beamtenthura erkaufen. Die Raskolniks haben nichts weiter gewonnen, als eine genaue Umschreibung ihrer legalen Stellung; zudem sind die ihnen zuerkannten Rechte besonders, wo es sich um religiöse Dinge handelt, nicht allzu gross und manchmal recht zweifelhafter Natur.1) Die neuen Gesetze sind nicht so fest gefügt, dass die Willkür des Beamtenthums nicht durchschlüpfen könnte. Die Dissidenten dürfen ihren Gottesdienst abhalten, müssen sich aber Beschränkungen gefallen lassen, die man weder den Juden noch den Mohamedanem, noch den Heiden auferlegt. Jede öffentliche Ceremonie ist ihnen untersagt; ihre Priester dürfen die Todten nicht einmal zum Friedhof begleiten. Die Hehnath verweigert den Altgläubigen Rechte, die ihnen die Fremde stets zuerkannt hat, Als Bessarabien an Kussland zurückfiel, bedurfte es eines eigenen Ukases, damit die Dissidenten von Ismail und Kagul fortfahren konnten, ihre Glocken zu läuten. Die Raskolniks haben auch noch nicht das Recht, auf ihre Kosten, wo sie wollen, Capellen zu bauen. Die Regierung kann ihnen die Eröffnung, ja sogar die Ausbesserung ihrer Betsäle untersagen; sie kann ihre Priester oder „Vorleser" ausweisen und den Druck und Verkauf ihrer Messbücher verbieten. Kann man also behaupten, dass das Schisma Religionsfreiheit erlangt habe? Ausserdem darf man nie vergessen, dass alle diese den Raskolniks gewährten Rechte sich nur auf eine ganz geringe Minderzahl derselben beziehen. Mehr als neun Zehntel aller Dissidenten sind Widerwillen als Orthodoxe eingeschrieben, werden immer noch als Ueberläufer behandelt und bleiben allen Strafen ausgesetzt. Die Emancipation ist noch keineswegs vollständig. Es bleibt noch viel zu thun. Und doch finden viele weltliche und geistliche Behörden, dass man schon zu viel gethan habe. Herr l'obedonoszeff, Oberprokurator des „Heiligen Synod", giebt in jedem seiner Jahresberichte der Furcht Ausdruck, dass die den Raskolniks gemachten Concessionen zum Schisma ermuthigen könnten. Die Führer des Raskol benützten dieselben nur dazu, um ihre Anhänger zu überzeugen, dass der Staat schliesslich doch die Wahrhaftigkeit des alten Glaubens werde an- *) Siehe eine Studie von Kuwa'izefF im Juriditscheskji Weatnik. April 1886. erkennen müssen. Bei all den von der Gesetzgebung aufrecht erhaltenen Beschränkungen müsste man allerdings eine gute Portion Optimismus besitzen, wenn man an eine solche Bekehrung der Regierung glauben wollte. Seit dem Inkrafttreten der neuen Gesetze sollen auch viele verschämte Raskolniks, die früher die Kirche besuchten und die Priester bezahlten, die Dienste des Popen zurückweisen. Darüber beklagen sich nun Priester und Oberprokuror. Das grosse Hinderniss für die völlige Freigebung des Raskol ist immer die Furcht der Orthodoxen, dass das Volk in Schaaren die Kirche verlassen und dem Schisma zulaufen könnte. Anstatt dass sich die Regierung dem Raskol gegenüber auf den rein weltlichen Standpunkt stellt, fährt sie fort, die Sache vom geistlichen Standpunkt aus zu beurtheilen. Der Raskol bleibt ihr eine Landplage, ein gefährlicher Irrthum, dessen ferneres Umsichgreifen der Staat verhindern muss. Herr Pobedonoszeff spricht in seinen jährlichen Berichten an den Kaiser vom Raskol wie ein Bischof und bedient sich gegen die Dissidenten der stärksten und beleidigendsten Ausdrücke des theologischen Wortschatzes. Und nicht nur die unsittlichen oder excenfrischen Sekten werden auf diese Weise officiell gebrandmarkt, sondern auch die aUerunsohuldigsten, die in jedem andern Lande völlige Freiheit geniessen würden, wie besonders der Stundismus. In einzelnen Dörfern ist es unter Alexander III. vorgekommen, dass der niedere Clerus im schönen Vorein mit der Polizei die Bevölkerung ungestraft zu allerhand Ge-wallthätigkeiten gegen die Stundisten aufgereizt hat. Diesen russischen Reformirten verweigern Regierung und Gesetze jede Freiheit. Die Geistlichkeit, die in der Verfolgung der Ketzerei nur die ihr zukommenden Sportein vertheidigt, ruft gegen die Neophiten der „Stunda" die Polizei und die ganze Strenge der Gesetze an. Im Jahre 1884 zum Beispiel wurde ein zur Stunda gehörender Bauer, Namens Strigum, in Odessa vor Gericht gestellt, nur weil er behauptet hatte, die Heiligenbilder seien eigentlich nichts anderes als Götzenbilder. Solche religiöse Vergehen werden, wie in Criminal-fällen bei geschlossenen Thüren verhandelt und als Geschworene dürfen nur Orthodoxe figuriren. Obgleich im obengenannten Falle die Geschworenen auf mildernde Umstände erkannt hatten, wurde Strigum doch zu drei Jahren und neun Monaten Gefängniss verurtheilt. Aehnliche Processe kommen jedes Jahr vor. Wo Stundisten und Molokaner nicht vor Gericht gestellt werden, überlässt man sie den Massrcgeln des Beamtentums, die noch schärfer treffen und weniger Aufhebens machen. Wenn der alte Raskol nach zwei Jahrhunderten des Leidens auch eine gewisse Freiheit erhingt hat, so Ideilten doch die in neuerer Zeit entstandenen Sekten, die eigentlich die Strenge des Gesetzes am wenigsten verdienen, allen Verfolgungen ausgesetzt. Das Verbrechen der Ketzerei oder der Aposlasie ligurirt immer noch in den Gesetzbüchern, und die Redeweise des dem Laienstande angehörenden Oberprokurors des Heiligen Synod ist keineswegs dazu angethan, dem Klerus und der Polizei Milde und Toleranz einzuflössen. Wenn man ermessen will, wie viel noch zur Emancipation der Dissidenten fehlt, so braucht man nur die Lage der Raskolniks gegenüber der russischen Kirche mit- derjenigen der Xonconlbrmisten gegenüber der anglikanischen zu vergleichen. Die Frage des Raskol wird erst dann gelöst sein, und das Volk wird erst dann völligen Religionsfrieden erlangen, wenn Stundisten und Molokaner ebensoviel Freiheit gemessen wie die Quäker oder die Baptisten in England, Dieser Tag ist noch nicht angebrochen, selbst für die kleinen Gruppen von Altgläubigen noch nicht, die vom Gesetze als solche anerkannt werden. Denn auch diese Privilegirten können ihren Gottesdienst eigentlich noch nicht frei ausüben. Es giebt ein Recht, ohne welches die religiöse Freiheit unvollständig bleibt, dasjenige, Gründungen zu machen und Kirchen und Geistlichkeit zu dotiren. Nun wird aber vom russischen Gesetz gar keine den Dissidenten gehörende Anstalt als juristische Person betrachtet, in Folge dessen können keinerlei gesetzlich gültige Verfügungen zu Gunsten ihrer Kirchen gemacht werden. So wurde 1887 das Testament eines Kaufmanns, Namens Tschubykin, der dem Kirchhof von Gromow, einer Besitzung der Petersburger Popowzy, einige hunderttausend Rubel zur Gründung eines Hospitals hinterlassen hatte, von den Gerichten cassirt. Wenn trotz dieser Einschränkungen die Raskolniks dennoch ihre Herbergen und ßetsäle besitzen, so kommt dieses daher, dass sie dasselbe Verfahren anzuwenden pflegen, das hei den religiösen Congregationen in Frankreich und Italien in ähnlichen Fällen üblich ist. Das Vermögen der Dissidenten gemeinden ist auf den Namen von vier oder fünf Vertrauensmänner, die gewissermassen ein Syndicat bilden, eingetragen. Wenn einer dieser Societäre stirbt, so wählen die Ueber-lebenden einen ihrer Beligionsgenossen an seine Stelle. Auf diese Weise werden bei den Raskolniks aller Gattungen manchmal recht beträchtliche Vermögen hinterlassen. Zur Ehre der Regierung muss man indessen sagen, dass sie die Dissidenten niemals und durch keinerlei Edicte in ihren Werken der Wohlthätigkeit gestört hat. Wenn wir für den alten Raskol und all die verworrenen Häresien des Mushik volle Freiheit verlangen, so geschieht dies nicht, weil wir von der freien Entfaltung all dieser Sekten eine religiöse oder eine sociale Wiedergeburt erwarten. Nichts spricht dafür, dass aus diesem vielfach verschlungenen Gestrüpp von Sekten jemals ein hochstämmiger, breitästiger Baum hervorgehen werde, der eine Welt beschatten könnte. Bussland erscheint uns allerdings wie ein Laboratorium religiöser Ideen und socialer Reformen. Warum sollte sich nicht in den Köpfen und Herzen dieser Dorfpropheten ein neues Evangelium ausbilden, welches vielleicht nach einigen hundert Jahren unwissende Apostel dem stolzen Europa predigen werden? Manche Denker — Russen und Europäer — glauben, dass Russland zu einer hohen religiösen Mission berufen sei. Die mystische Denkungsart des russischen Volkes, sein Durst nach lebendiger Wahrheit, die ganze Richtung seiner Einbildungskraft, das jugendlich Kühne seiner Gedanken, sein Geschmack an gefährlichen Experimenten, sein Glaube, „sein instinktives Misstrauen gegen menschliche Intelligenz, seine Verachtung für alles Abstrakte und alles, was sich nicht direkt auf das moralische und materielle Leben anwenden lässt,"1) alles dies sind Charakterzüge, welche seinen dahingehenden Beruf darzulegen scheinen. Das Ideal dieses Volkes — es gehört zu den Völkern, die noch Ideale besitzen — ist zugleich ein religiöses und ein sociales; es vermag das Göttliche nicht vom Menschlichen zu trennen. Es ist, als ob sich der „russische Gedanke", dieser verschwommene, von den Patrioten nur unklar geahnte Nationalgedanke, durch die Religion verwirklichen sollte. Wo gäbe es überhaupt sonst noch für dieses ungeheure Russland eine historische Rolle, die mit seiner Ausdehnung im Einklang stände! Auf den Gebieten der Philosophie, der Kunst und selbst der Politik2) ist fast schon Alles gesagt, Alles versucht worden. Es ist wenig wahrscheinlich, dass die jüngste unter den europäischen Nationen der Welt auf diesen Gebieten noch neue Offenbarungen wird erringen können. Aber auf dein mystischen Felde der Religion, das in den letzten Jahrhunderten noch wenig bebaut worden, ist es leichter Entdeckungen zu machen. Doch ist dies vielleicht nur scheinbar. In Wirklichkeit könnten vielleicht religiöse Neuerungen ebenso misslich sein, wie philosophische oder politische. Und wenn auch die Aera der grossen geistigen Umgestaltungen noch nicht geschlossen sein sollte, wenn ein neuer Glaube, von ') Wladimir Solowieff, „In Russie et l'Eglfee universelle", 1. Theil (1882). -) S. Bd. II, Buch VI. Capitel IV. den tiefen Schichten des Volkes ausgehend, noch einmal die civili-sirte Welt überfluthen könnte, so spricht nichts besonders dafür, dass gerade Russland dazu den ersten Anstoss geben müsste. Wohl scheinen sich in diesem räthselhaften Russland neue religiöse Formen herausbilden zu wollen; aber ist denn die russische Nation die einzige, wo alles gährt und arbeitet? Und wenn auch diese Gährung sich in der ganzen Menschheit bemerkbar macht, muss die neue Zeit desshalb schon so bald herankommen? Der Himmel kann der modernen Welt das so ungeduldig ersehnte Lebenswort vielleicht noch lange vorenthalten. Muss überhaupt das Wort nach welchem die bedrängte Menschheit dürstet, erst ausgesprochen werden. Ist es nicht vor zweitausend Jahren schon verkündet worden, und ward es nicht seit dieser Zeit von allen Seiten so sehr beleuchtet und commontirt, dass sich kaum noch etwas Neues darüber sagen lässt? Kann Russland, wie Tolstoi und Sutajeff es behaupten, das Christenthum neu erklären, kann es neue, ausserhalb der Tradition stehende, nationale Formen dafür finden? Auch dies wird sich kaum behaupten lassen. Dieses Volk sollte nicht darein seine Ehre setzen, ein neues Christenthnm zu erfinden, sondern darein, sich den evangelischen Geist zueigen zu machen. Hierin könnte Russland noch originell sein und unser alterndes, allmählich in das Heidenthum zurücksinkendes Abendland überraschen. Dies fühlen instinktiv auch viele seiner gelehrten und ungelehrten Autoren, alle kümmern sich weniger um Dogmen als um die evangelischen Tugenden. Ihr oft unbewusstes Ideal liegt in der Anwendung der Moral Christi auf das öffentliche und das Privatleben, auf die Beziehungen der einzelnen Menschengruppen, der Völker und der einzelnen Individuen zu einander. Diese Gläubigen mochten alle socialen und politischen, ja sogar die internationalen Fragen allein durch Milde und Sanftmuth lösen. Was Heilige und Weise ersehnt, was Könige und Inquisitoren mit Hülfe des Richtblockes und des Scheiterhaufens vergeblich versucht haben: die Errichtung eines wahrhaft christlichen Staates, das hofft dieses Volk zuversichtlich ausführen zu können, und es verlässt sich dabei allein auf die Nächstenliebe. Spotten wir darum nicht über seine Jugend. Glücklich ist die Nation, die ihre Aufgabe darin erblickt, das Evangelium in Fleisch und Blut des Volkes übergehen zu lassen, sozusagen den socialen Kern aus dem Evangelium herauszuschälen und dadurch ein Reich des Friedens und der Bruderliebe aufzubauen; und übel berathen müsste derjenige sein, der es davon zurückschrecken wollte. Aber hüten wir uns vor der alten Utopie des tausendjährigen Reiches. Die Erde wird nie zu einem Paradies werden. Aucii der Russe wird seine Träume von Liehe und Gerechtigkeit niemals voll verwirklicht sehen. Unter Wesen von Fleisch und Rlut ist dies schlechterdings unmöglich. Manche Rassen glauben auch, durch ihre rationalistischen Sekten ermuthigt, Kussland sei dazu berufen, das Christenthum durch das Aufgeben aller christlichen Dogmen und Formen zu retten. Auch dies ist eine Illusion, welche die Erfahrung leicht zertrümmern könnte. Den Geist des Christenthums bewahren, den eigentlichen, göttlichen Kern, die Sittlichkeit und Nächstenliebe, das Evangelium gewisser-massen vergeistigen, das haben vor den Russen schon Manche versucht. Ich kenne kaum ein kühneres Unternehmen als dasjenige, in der Religion die Seele vom Körper zu trennen. Letzteren zu Grunde gehen lassen, damit erstere frei werde. Dies mag einem einzelnen Menschen vielleicht auch einmal gelingen; aber niemals einem ganzen Volke in seiner Gesammtheit. Zerlireidiet das Cefäss! der darin enthaltene Wohlgeruch wird sioh verflüchtigen — und was bleibt dann? Viertes Buch. Religionsfreiheit und Dissidentenkulte. Erstes Kapitel. Die Nationalkirehe und die fremden Kulte. — Privilegien der orthodoxen Barche. Ihre historische Berechtigung. Das Jahrhunderte alte Band, welches die russische Nation mit der Orthodoxie verknüpft, — Das den fremden Kulten aus nationalen und politischen Gründen entgegengebrachte Misstrauen. System der den Religionsgenossenschaften auterlegten Beschränkungen. Verbot gegen das Pro-selytenmachen. — Was man in Russland unter Gewissensfreiheit versteht, üfficielle Theorie dieser Freiheit. Das Recht Anhänger anzuwerben ist nicht darin begriffen. Dieses Recht ist ausschliesslich der Nationalkirche vorbehalten. — Wie die Staatskirche ihr Privilegium der Rekehrung ausnützt. Die Art ihrer Propaganda und die Pseudo-Orthodoxen. Die Russischen Missionen. Ausser den zwölf bis fünfzehn Millionen Raskolniks, die sich gegen die Staatskirche auflehnen, zählt der Zar noch über dreissig Millionen Unterthanen, die der morgenländisch-orthodoxen Kirche überhaupt nicht angehören; es sind: Protestanten, Katholiken, Armenier, Juden, Mohamedaner, Buddhisten. Bis auf Peter den Grossen war Russland, mit Ausnahme einiger mohamedanischen Tartaren stamme, ein ausschliesslich orthodox-christlicher Staat. Mit der Ausdehnung der Reichsgrenzen in Europa und Asien trat die Notwendigkeit ein, den Kulten der annectirten Staaten gesetzliche Berechtigung zu gewähren. Bei jeder neuen Eroberung hatten sich die Zaren verpflichtet, die Religion der neu einverleibten Provinzen zu achten. Dabei blieben sie aber nichts destoweniger doch immer die rechtgläubigen Zaren und wachten eifersüchtig darüber, dass ihre Kirche bei ihren alten Unterthanen immer die alleinberechtigte blieb. Daraus erklärt sich die confes- Leroy- Beauliou, Keich d, Zareu u. d. Bussen. III. Bd. 34 sionelle Politik Russlands. Die orthodoxe Kirche blieb immer die eigentlich russische Kirche, und ihr allein wurden alle Gnadenbeweise und alle Rechte zuerkannt. Die anderen, durch Kroberungen in Russland heimisch gewordenen Kulte dürften nur von den unnec-tirten Völkerschaften ausgeübt werden, niemals aber von den Russen des eigentlichen Alt-Russlands. Der Pole durfte Katholik bleiben; der Tatare. Mohamedaner; der Deutsehe. Protestant; der Jude, Jude; aber der Russe musste unter allen Umstünden orthodox bleiben; und jeder Erfolg, den die Orthodoxie auf den Gebieten der dissidircnden Kulte zu verzeichnen hatte, wurde als ein Zuwachs des eigentlichen Russenthums begrüsst. Zudem mussten die dissidirenden Kulte, indem sie einem autokratischen Staatswesen einverleibt wurden, dem System der Selbstherrschaft Rechnung tragen. Auch England besitzt, wie Russland, eine Nationalkirehe; woher schreibt sich die so durchaus verschiedene Haltung der beiden Länder gegenüber den andern Confossinnon? Sie entspringt zum grössten Theil wohl aus der Verschiedenheit ihrer politischen Einrichtungen. In England trägt nur ein einziger Kultus officiellen Charakter; die andern werden einfach vom Staat ignorirt. In Russland sind alle geduldeten Kulte (mit Ausnahme des Raslod) staatlich anerkannt, und bei allen macht sich die Einmischung des Staates fühlbar. Das russische System ähnelt mehr dem französischen, nur mit dem Unterschiede, dass es in Frankreich weder Staatsreligion noch Selbstherrschaft giebt. Die Petersburger Regierung duldet, ja unterstützt sogar alle Kulte, aber nur unter der Bedingung, dass sie sich dem autokratischen System fügen und in keiner Weise auf das Gebiet der herrschenden Kirche überzugreifen suchen. Kein Staat anerkennt so viele Religionen; es ist als ob sich alle grossen Confessionen des Erdballs in Russland Rendezvous gegeben hätten. Das Gesetz erklärt alle für frei, und gewährt ihnen nicht nur — wie früher in Rom oder in Spanien — persönliche Gewissensfreiheit, sondern erlaubt ihnen auch jede äusser-liche Entfaltung des Kultus. Auf dem Newskyprospect erheben sieb in unmittelbarer Nähe der griechischen Kathedrale „Unserer lieben Frau von Kasan" eine lutherische, eine katholische und eine armenische Kirche, was der berühmtesten Strasse der Hauptstadt schon den Witznamen „Toleranzstrasse" eingetragen hat. Auch in der Messstadt von N'ischni-Nowgurod sind Kirehe und Mosehoe glekhm&SSig vertreten. Das russische Volk ist von Natur tolerant, und wenn in Russland die Glaubensfreiheit beschränkt ist, so ist dies mehr der Politik als einem religiösen Rigorismus zuzuschreiben. Es liegt dies an der Regierungsform und an einem gewissen nationalen Miss-trauen. Es ist bekannt, dass die russische Kirche nicht nur eine Staatskirche, sondern wesentlich auch eine Nationalkirche ist; sie ist durch Geschichte und Gewohnheit so sehr mit dem russischen Geiste verwachsen, dass es fast scheint, als ob man mit dem Austritt aus ihrem Verbände aufhöre ein Russe zu sein. Der Regierung und dem Volke erscheint noch heute der orthodoxe Glaube als die beste Bürgschaft für patriotische und loyale Gesinnung. In diesem Sinne hat Moskau die Erbschaft von Byzanz angetreten; auch letzteres erblickte im orthodoxen Glauben den eigentlichen Kitt des griechischen Kaiserreichs. In dieser Beziehung gleicht Russland auch der Türkei, wo bis vor kurzer Zeit noch die Religion die Stelle des Nationalbewusst-seins vertrat und sich mit diesem vielfach vermengte. Im modernen Europa erscheint diese acht morgenländische Ueberlieferung wie ein Anachronismus; im „heiligen Russland" aber hat dies alles seine geschichtliche Begründung. Das alte Moskowien ist nur bei seinen europäischen und asiatischen Feinden auf andere Religionen gestossen. Darin liegt ein nicht unbedeutendes Hinderniss für den inneren Zusammenhang und besonders für eine liberale Entwickelung des Reiches. Es ist nicht gut, wenn ein Staat, der aus verschiedenen Religionen angehörenden Völkerschaften zusammengesetzt ist, seine nationale Einheit auf eine Kirche gründet. Der schwer zu bewerkstelligende Ausgleich zwischen den Religionen muss den Ausgleich der Nationalitäten, die politische Assimilation verzögern. Für die dissidirenden Provinzen ist die Russilicirung gleichbedeutend mit Religionswechsel; der Russe aber, der aus der russischen Kirche auszutreten wünscht, müsste sich dabei gewissermassen entnationalisiren. Die officiellen Benennungen sind für die Stellung der hetero-doxen Kulte der herrschenden Kirche gegenüber sehr bezeichnend. In der Regierungssprache heissen alle nicht orthodoxen Confessionen fremde, oder „ausländische" Bekenntnisse (inostrannyia ispowedanija). Eine solche Benennung lässt fast ein Drittel aller russischen Unterthanen dem heimischen Patriotismus verdächtig erscheinen. Das Reich sollte eine solche Bezeichnung um so eher fallen lassen, als sie eigentlich historisch begründet erscheint; denn die heterodoxen Kulte finden sieh nur in ursprünglich fremden Provinzen, oder in Gegenden, die lange Zeit unter fremder Herrschaft gestanden haben. Sie bilden zu beiden Seiten Russlands zwei ungleichmässig breite, von Norden nach Süden laufende Streifen, und fallen oft mit den ethnographischen Grenzen zusammen. Vom bottnischen Meerbusen 34* bis zur österreichischen Grenze wohnen Protestanten, Katholiken und Juden; im Osten längs dem Ural, der Wolga und im Kaukasus Mo-liamedaner. unlermisehl mil einzelnen heidnischen Stämmen. Die dissidirenden Kulte zählen im ganzen Reich an fünfunddreissig Millionen Bekenner, wovon über zwanzig Millionen auf das europäische Russland fallen.1) Jede dieser Religionen ist in einem gewissen Gebiet vorherrschend: der Protestantismus in Finnland und den Ostseeprovinzen, der Katholicismus in Polen und Litthauen, der Islam in mehreren Distrikten des Ural, der Krim und des Kaukasus. Es versteht sich von selbst, dass eine solche territoriale Vertheilung der Kulte, das Zusammenfallen eines Glaubensbekenntnisses mit einer Provinz, einer Rasse, ja oft mit einer besondern Sprache, der Regierung manche Verlegenheit bereiten muss. Zwischen England und Irland besteht in dieser Beziehung ein weit geringerer Gegensatz als zwischen Russland und vielen seiner annootirten Provinzen. Für den Russen sind die Worte „Katholik" und „Pole" fast gleichbedeutend; ebenso „Deutscher" und „Protestant!" Aus solchen nationalen Vorurtheilen lässt sich die Haltimg Russlands gegenüber den nicht orthodoxen Confessionen erklären. Sie erseheinen der russischen Regierung als die Träger fremder Nationalitäten und sie fürchtet von ihnen eine Entnationalisirung der russischen Provinzen. Der in den östlichen Provinzen herrschende Islam muss sie an die langjährige Tatarenherrschaft erinnern, der Katholicismus und der Protestantismus in Weissrussland,Litthauen und denOstseeprovinzen gelten ihr eben als polnische oder germanische Importationen. Sie kann diese Bekenntnisse in den Gegenden, wo sie einmal Wurzel gefasst haben, nicht ausrotten, aber sie thut alles, um ihnen das Kindringen in das eigentliche allrussische Gebiet zu verwehren. Daraus erklärt sich die ganze religiöse Gesetzgebung in Russland. Wenn der Gewissensfreiheit Zwang angethan wird, so handelt es sich dabei weniger um kirchlichen Fanatismus, als unfeine gewisse patriotische Aengstlichkeit in Volk und Regierung, Die Vertheilung der Confessionen auf die einzelnen Provinzen und die unterschiedlichen Nationalitäten musste den Staat beunruhigen. Das beste Heilmittel hätte vielleicht aus dem natürlichen Umsichgreifen des Uebels selber hervorgehen können. Wenn man den l) In Sachen der Religion wie der Nationalität darf man sich nicht zu sehr auf die russische Statistik verlassen, denn, wie wir sehen werden, führen die officiellen Listen viele Christen und sogar Mohamedaner als Orthodoxe auf, die keineswegs damit einverstanden sind. verschiedenen Religionen freie Ausbreitung gewährt hätte, so würden sie vielfach ineinander übergeflossen sein, sie würden sich gegenseitig vermengt und so ihre geographischen und ethnographischen Grenzen allmählich verwischt haben. Die dissidirenden Kulte würden mit ihrer Verbreitung im eigentlichen Russland ihren fremden, ausländischen Charakter verloren haben. Aber ein solcher natürlicher Ausgleich musste einer Regierung, welche die nationale Einheit von jeher in der kirchlichen Einheit erblickt hatte, zu langsam und auch zu gewagt erscheinen. Russland befolgte das gerade entgegengesetzte System, und jedes andere Volk würde an seiner Stelle wohl dasselbe gethan haben. Das Ziel der russischen Gesetzgebung ging dahin, die fremden Kulte auf ihre historischen Grenzen zu beschränken. Jeder war frei, den Glauben seiner Väter zu bekennen; aber strenge verboten war es den heterodoxen Confessionen, irgend wie neue Anhänger zu gewinnen zu suchen. Nur die orthodoxe Kirche darf geistliche Eroberungen machen, allen anderen Bekenntnissen ist dies untersagt. Das Gesetz sagt ausdrücklich: Nur die orthodoxe Kirche hat das Recht Proselyten zu machen. Es ist immer erlaubt, in die Staatskirche einzutreten, niemals aber, daraus auszutreten, Die confessionellen Gesetze füllen zahlreiche Kapitel des zehnten, vierzehnten und fünfzehnten Bandes der umfangreichen russischen Gesetzsammlung, des Swod sakonow. Jedes Kind rechtgläubiger Eltern bleibt an die orthodoxe Kirche gefesselt, ebenso die Kinder, welche aus Mischehen hervorgehen. In letzterem Falle müssen sich die Eltern formal dazu verpflichten, ihre Kinder im orthodoxen Glauben zu erziehen. Wenn auch einige abendländische Kirchen den Ehesegen ebenfalls nur unter ähnlichen Bedingungen ertheilen, so er-theilt doch das Gesetz der westeuropäischen Staaten solchen geistlichen Zumuthungen keineswegs seine Sanction"; die Ehegatten können sich den Anforderungen der Kirche unterwerfen oder nicht, wie es in ihrem Belieben steht. In einem Lande, wo die kirchliche Trauung die einzig gesetzliche ist, verhält sich dies natürlich anders, hier bleibt die Eintragung der Ehe in die Kirchenbücher für das Bekenntniss der Ehegatten und ihrer Kinder auf ewig bindend. Diese Bestimmungen ziehen, ganz abgesehen davon, dass sie der Gewissensfreiheit Zwang anthun, noch die misslichc Folge nach sich, dass sie die Verschmelzung der einzelnen Religionen und in Folge dieser , auch die Verschmelzung der einzelnen Nationalitäten innerhalb des Reiches unendlich erschweren, Ein Artikel des Codex verbietet den Orthodoxen jeden Religionswechsel; ein anderer fixirt die auf ein solches „Verbrechen" ent- fallenden Strafen. Der Gläubige, der aus der orthodoxen Kirche auszutreten strebt, soll zuerst vom Geistlichen väterlich ermahnt, dann aber dem Consistorium und schliesslich dem Synod angezeigt werden; er kann zu kirchlichen in einem Kloster zu verbüssenden Strafen und Bussübungen verurtheilt werden. Die Apostasie zieht den Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte nach sich. Ein Russe, der den nationalen Glauben abschwürt, verliert das Recht Vermögen zu besitzen und Erbschaften anzutreten. Seine Verwandten dürfen sich seiner Güter bemächtigen und ihn um sein Erbe bringen. Da die Staatskirche gesetzlich das Vorrecht geniesst, Proselyten zu machen, so darf man sie in dieser Thätigkeit in keiner Weise hindern,. Es ist ein Verbrechen, wenn man Jemand zum Austritt aus der orthodoxen Kirche verleitet, ebenso, wenn man Jemand vom Eintritt in dieselbe abzuhalten sucht. Wenn ein Russe aus der Staatskirche desertirt, sind sein Vater, seine Mutter und seine nächsten Verwandten gezwungen, ihn sofort zu denunciren. Civil- und Militärbehörden haben strenge Ordre, über die Ausführung dieser Gesetze zu wachen. Es genügt aber noch nicht, dass den im Schosse der Orthodoxie geborenen Russen der Austritt aus der Staatskirche verwehrt werde; die dissidirenden Kulte und die mit diesen so eng verwachsenen Nationalitäten, welche immer das Misstrauen der moskowitisehen Patrioten wachrufen, dürfen nicht durch neue Bekehrungen anwachsen. Daraus entspringt eine andere Massregel. Die einen Dissidenten dürfen auch bei anderen Dissidenten keine Proselyten nun dien ; denn das Monopol, welches die Staatskirehe i.a Sachen der geistlichen Propaganda besitzt, duldet keinerlei Concurrenz. Die Staatskirche betrachtet das Reich als ihr ausschliessliches Arbeitsfeld, sie allein hat das Recht, hier das Evangelium auszusähen. Juden, Mohamedaner und Heiden dürfen nur durch die officielle Pforte der Orthodoxie in das Christenthuin eintreten. Sie sollen auf diese Weise nicht nur zu Christen, sondern gleichzeitig auch zu Russen gemacht werden. Der litthauisohe Jude, der mitten unter einer katholischen Bevölkerung lebt, darf nicht zum katholischen Glauben übertreten, der transkaukasische Mohamedaner, der unter Armeniern lebt, darf nicht von diesen die Taufe empfangen; dazu würde eine eigene Bittschrift an das Ministerium des Innern nöthig sein, und dieses berücksichtigt in seinen Entscheidungen nur allein das Staatsinteresse. Ein rassischer Nichtohrist darf nur mit einer, für jeden einzelnen Fall nachzusuchenden kaiserlichen Erlaubniss zum Protestantismus oder zum Katholicismus übertreten. Dieses Gesetz führt stellenweise zu ganz absonderlichen Vorschriften, So sind in Transkaukasien die Armenier ermächtigt, an schwerkranken und sterbenden Hohamedanern die Nothtaufe vorzunehmen; wenn der Kranke wieder aufkommt, so bedarf die Bekehrung aber der nachträglichen Bestätigung des Gouverneurs. Dies sind die russischen Gesetze. Kann man von ihnen behaupten, dass sie die Gewissensfreiheit wahren? Besitzt überhaupt ein Mensch, der seine Religion nicht wechseln darf, Religionsfreiheit? Giebt es eine Freiheit, wo es keine Wahl giebt? In Petersburg behauptet man eben, dass das Recht Proselyten zu machen keineswegs für die freie Ausübung der Kulte nöthig sei. Diese Ansicht wurde sogar in eine Formel gebracht. Ein Mann, der den Muth seiner Ideen besitzt, Herr Pobedonoszeff, hat Europa die Theorie dieser russischen Freiheit verkündet. Die evangelische Allianz hatte dem Kaiser Alexander III. eine Bittschrift überreichen lassen, worin die abendländischen Protestanten um vollständige und gleichmässige Religionsfreiheit für alle christlichen Confessionen nachsuchten. Alexander III. überwies dies Gesuch an seinen alten Lehrer, Herrn Pobedonoszeff, und dieser antwortete darauf durch einen an den Präsidenten des schweizerischen Centralcomitö's, Herrn Naville, gerichteten offenen Brief. In diesem Schreiben behauptet der Oberprokuror: „Nirgends in ganz Europa gemessen die heterodoxen Confessionen so vollständige Freiheit wie in Russland. Europa weigert sich beharrlich, dies anzuerkennen. Und warum? Einzig darum, weil bei Ihnen die Glaubensfreiheit gesetzlich mit dem unbeschränkten Recht der Propaganda vorbunden ist. Daher Ihre Beschwerde gegen unsere Gesetze, die nur das Recht, die Leute von der orthodoxen Kirche abspenstig zu machen und den Glauben zu wechseln beschränken." Nach der Meinung des Oberprokurors sollen diese Gesetze die Staatskirche nur gegen ihre Feinde schützen. Die abstrakte Frage, das Recht der Bekehrung betreffend, lässt er ganz beiseite und legt dar: Russland schöpfe seine ganze Lebenskraft aus dem orthodoxen Glauben; darum sei es einfach eine heilige Pflicht, alles beiseite zu räumen, was irgendwie die Sicherheit, der orthodoxen Kirche gefährden könnte; denn diese Kirche sei eine wesentliche Bedingung seiner nationalen Existenz. „In Russland — schliesst Herr Pobedonoszeff — haben die abendländischen Confessionen ihre' Herrschaftsgelüste noch keineswegs abgelegt und sind stets bereit nicht nur die Macht, sondern auch die Einigkeit unseres Vaterlandes anzugreifen. Russland kann nicht gestatten, dass sie für ihre Sache frei Propaganda machen; wir können niemals zugeben, dass unsere Landeskinder aus der Landeskirche herausgelockt und in die fremden Confessionen eingereiht werden. Dies erklärt Russland frei und offen in seinen Gesetzen und stellt alles Uebrige Dem anheim, der die Geschicke der Staaten lenkt." Aus diesem merkwürdigen Documente kann man ersehen, dass Russland nicht sobald aufhören wird, seine Staatskirche mit der Macht der Gesetze zu schützen. Ein solches System mag sich durch politische Gründe rechtfertigen lassen; denn die Politik war ja in ihren Mitteln nie sehr wählerisch; ob ein solches Verfahren aber sehr erbaulich ist, dies ist eine andere Frage. Wenn man nun gar behaupten will, dass solche Gesetze der Glaubensfreiheit nicht hohnsprechen, so beweist man dadurch nur, dass man gar keine Ahnung davon hat, was eigentlich Freiheit ist. In dieser Beziehung ist das Schreiben des Vertrauten Alexanders III. sehr lehrreich: wir ersehen daraus, dass Religionsfreiheit in Russland darum so schwer zu erstreben ist, weil die officielle Welt daselbst keinen Schimmer von der Sache hat. Schliesslich behauptet man noch — und ich habe es mit eigenen Ohren gehört — dass Russland das einzige Land sei, wo wirkliche Religionsfreiheit herrsche; denn das Recht zu bekehren sei der wirklichen Religionsfreiheit eben hinderlich. Warum verbietet man denn der Staatskirche nicht gleicherweise, wie den anderen Confessionen, die Proselytenmacherei. Die herrschende Kirche hat übrigens wenig Grund, auf diesen staatlichen Schutz sehr stolz zu sein. Die Regierung des Zaren zeigt dadurch wenig Vertrauen zur Kraft der Wahrheit, ebensowenig scheint sie auf das Recht ihrer Kircke und den Eifer ihrer Geistlichkeit zu bauen. Gesetzbuch und Oberprokuror des Heiligen Synod gestehen einfach durch alle diese Manipulationen ein, dass die kaiserliche Kirche, sobald sie sich selber überlassen bleibt, unfähig ist, sich aus eigener Kraft gegen ihre Concurrenten, Protestanten, Katholiken und Raskolniks zu wehren. Um ihnen Stand halten zu können, muss sie sich hinter das Gesetz verschanzen. Arme Kirche! Der Staat, der ihr seinen bewaffneten Arm und seine Gefängnisse zur Verfügung stellt, vergisst, dass er sie dadurch entkräftigt und entwürdigt. In der Religionsfreiheit, wie sie Herr Pobedonoszeff versteht, spricht die brutale Gewalt immer das letzte Wort. An Stelle einer geistigen, nur auf Glauben und Liebe gegründeten Kirche, möchten die russischen Gesetze eine körperliche, materielle Kirche setzen, die sich auf das Strafgesetz stützt. Ihre Thüren — spricht Axakow — werden nicht mehr von den Engeln Gottes, sondern von Gendarmen und Polizeispionen bewacht. Die Wächter zwingen wohl keinen Menschen hineinzugehen, aber sie haben strenge Ordre, Niemand herauszulassen. Russland verwirft das compelle intrare, übt aber das prohibe egredi. Und bei Gelegenheit scheut sich die Regierung auch nicht, ihre Unterthanen geradezu in den officiellen Schafstall hineinzutreiben. Russland sucht aber die fremden Kulte nicht nur zu umsohUessen, sondern auch zurückzudrängen. Zur orthodoxen Propaganda wird in jeder Weise ermuthigt. Ihr ist alles erlaubt. Laien und Geistliche müssen ihr absolut freies Feld lassen. Es giebt einige, unter dem Patronat von Mitgliedern des kaiserlichen Hauses stehende Gesellschaften, die sich die orthodoxe Propaganda zur Aufgabe machen. Die russischen Missionen sind ebensogut ein politisches wie ein religiöses Unternehmen. Die Regierung stellt ihnen, neben der offenen Gewalt, die stärksten Lockmittel zur Verfügung. Jedes Jahr veröffentlicht der Oberprokuror die Liste der orthodoxen Eroberungen. Christus sprach: „Ihr sollt Menschenüseher werden"; Russland befolgt dies Gebot dadurch, dass es die Angelleinen seiner Apostel mit fetten Ködern versieht. Noch unlängst suchte man in Asien und sogar in Europa die Heterodoxen dadurch anzulocken, dass man ihnen Ländereien und Steuerfreiheit versprach. Uebrigens ist in einem Lande, wo alles von der Regierung abhängig ist, der Vortheil der Landeskirche anzugehören für Jedermann leicht ersichtlich. Es giebt Belohnungen für Bekehrer und Bekehrte; es existirt sogar eine Art Tarif für solche geistlichen Heldenthaten. Jeder Christ, der hundert Juden oder Andersgläubige zur Taufe bewegt, hat ein Anrecht auf den St. Anna-Orden. Die Resultate dieses Verfahrens sind leicht ersichtlich. T>ie meisten von der Staatskirche registrirten Bekehrungen sind rein äusser-licher Natur. In Russland kommt es überall nur auf den äusseren Schein an, und dadurch wird jeder wirkliche Fortschritt gehemmt. Von den „Gläubigen", die in den Matrikelbüchern der Popen ligu-riren, sind Viele weder Orthodoxe noch überhaupt Christen. Sie sind weniger Anhänger als Gefangene der Kirche. Für viele ist die Orthodoxie nur eine Art von gesetzlich, geduldeter Leibeigenschaft; wie der Bauer früher an die Scholle gebunden war, so ist er jetzt an die Kirche gefesselt, krepostnje, wie man auf russisch sagt; und diesmal ist es in Wahrheit eine Leibeigenschaft der „Seelen" (duschi). Unter den in den olieiellen Berichten aufgeführten Convertiten giebt es Tausende, die noch in der zweiten und dritten Generation hartnäckig an ihrem früheren, ursprünglichen Kultus festhalten. Nach dem eigenen Geständniss der Missionare und des Oberprokurors, sind die Proselyten oft schwerer der Kirche zu erhalten als zum Eintritt in dieselbe zu bewegen. Heimlicher oder offener Wiederabfall vom Staatsglauben kommt sehr häufig vor. Diese neuen Elemente befinden sich im seihen Fall wie die Raskolniks, welche das Gesetz an die Kirche fesselt. Daher die falschen Orthodoxen, die falschen Christen, die schlechten Russen. Die staatliche Proselytenmacherei muss die Landeskirche corrumpiren. Die Heuchelei wird staatlich gross gezogen und zum Meineid wird strafrechtlich, unter Androhung von Geldbussen und Gefängniss, gezwungen. Diese Pseudo-Orthodoxen erkaufen sich die Nachsicht des Popen und das Stillschweigen des Isprawnik, wie die Raskolniks, für Geld. So führt das gesetzliche Privilegium der Staatskirche zur Demoralisation der Geistlichkeit und dos Volkes. Aus dem vom officiellenApostolat gesäeten ,,wahren Glauben" erwächst gar oft der Unglaube und oft gewinnt die Politik nicht mehr dabei, als die Religion. Der der Kirche durch die zweifelhaften Bekehrungen zu Gute kommende Zuwachs wird durch den heimlich fortglimmenden, gegen die Regierung gerichteten Hass der russischen Dissidenten und ihrer fremden Beligionsgenossen nur allzusehr wieder in Frage gestellt. In vielen (legenden tritt beim geringsten Anstoss unter manchen Orthodoxen der Heide oder der Mohamedaner zu Tage. In Kasan haben Tataren, die schon seit vielen Generationen Christen waren, darum petitionirt, wieder zum Islam zurückkehren zu dürfen. Und ist dies etwas verwunderlich, da so viele Mohamedaner und Heiden, Tataren, Tscheruwachen, Kalmüken, Burjaten. Finno-Türken und Mongolen in Europa und Asien mit Gewalt oder List zur Taufe getrieben wurden. Die „Engrosbekehrungen" ganzer Stämme sind noch keineswegs aus der Mode gekommen. Hier ein Beispiel aus den Berichten des Herrn Pobedonoszeff. Die Sache passirte unter Alexander III. in der Mission des Transba'ikal. Die Missionare suchen gewöhnlich die Stammeshäupter zu gewinnen, und diese müssen dann den Stamm nach sich ziehen. Ein sibirischer „Fürst", Namens Gantimurow, veranlasste die Orotschonen, welche seine Ländereien bewohnen, sich am Ufer des Samter zu versammeln, um sich impfen zu lassen. Daselbst hielt ihnen ein Missionar eine Rede über die Nützlichkeit der Impfung und schloss damit, dass er sie ermahnte, ihre Seelen durch die Taufe zu reinigen. Fürst Gantimurow unterstützte die Rathschläge des doppelten Apostels der Impfung und der orthodoxen Kirche, und die Folge war, dass dreissig Leute zuerst geimpft und dann auf der Stelle in den friedlichen Wellen des Samter getauft wurden."1) Diese Art für das Heil des Körpers und der Seele zu gleicher Zeit zu sorgen, verleiht diesen Massenbekehrungen, bei denen man sich eigentlich in die Zeiten Wladimirs oder Karls des Grossen zurückversetzt glauben könnte, einen acht modernen Charakterzug. Oft werden auch Geschenke an die Neugetauften vertheilt. daher lassen sich — ganz wie die Sachsen Karls des Grossen — manche Proselyten mehrere Male taufen. Danach darf man sich nicht wundern, wenn diese sogenannten Christen wieder zum Islam oder zum Lamaismus zurückkehren. Hei Vielen tritt das Heidenthum in seiner gröbsten Form als Schamanenthum auf; ja die Schamanen selber sind sehr oft getauft. Der Clerus hat eingesehen, dass das Taufwasser allein die Menschen noch nicht zu Christen machen kann. Um alle diese verschiedenen Stämme an eine orthodoxe Kirche zu fesseln, hat der Heilige Synod, seit 1883, den Gebrauch der einheimischen Sprachen neben dem Kirchenslavischen beim Gottesdienste gestattet. So wird nun die griechische Liturgie in den Sprachen der Tartaren, der Tschuwaschen, Tscheremissen, der Mordwinen, der Wotjäken, der Burjäten, der Jakuten, der Tungusen und der Samojeden celebrirl. In Uebersetzungen in die orientalischen Sprachen rivalisiren die Brüderschaft des heiligen Georg und die Mission von Kasan mit der Bibelgesellschaft in London. Zudem haben Missionare angefangen unter den asiatischen Völkerschaften Schulen zu gründen. Das ist ein richtiges Vorgehen, die allein wahre Propaganda. Nur durch Belehrung und Predigt wird Kussland aus seinen vielen getauften Götzendienern endlich Christen machen. Die russischen Missionare haben schon den Beweis geliefert, dass sie bei Gelegenheit auch ohne Zwang oder List verfahren können. In ihrem Glaubenseifer sind sie schon über die Grenzen des Deiches hinausgegangen. Wir reden hier nicht von den Versuchen, die gemacht wurden, um die katholischen Slaven in Oesterreich und der Türkei von Born loszulösen. Dies ist ein rein politisches Unternehmen; die Zeitungen und die Subsidien der Moskauer Comite's haben mehr theil daran, als die Predigt des Evangeliums.') Aber *) Siehe den Jahresbericht des Oberprokurors über das Jahr 18*3. -) Die Politik sprach vielleicht auch mit, als 1889 eine Mission nach Abys-sinien entsandt wurde. Uebrigens thut man in Petersburg, als ob mau die die Russen haben auch versucht, den Chinesen, Koreanern und Japanesen das Evangelium zu predigen. Trotz den vielfachen Beziehungen der beiden Völker zu einander hat in China die Mission von Peking sehr wenig Erfolge zu verzeichnen. Bei den Koreanern waren die russischen Missionare glücklicher; aber die meisten koreanischen Convertiten sind Ansiedler, welche auf russischem Gebiete wohnen. In Japan haben die Missionare am meisten Erfolg gehabt; Japan ist der eigentliche Ruhm der russischen Kirche. Sie hat sogar einen Bischofsstuhl daselbst errichtet und zählte 188S zwölf- lös fünfzehntausend japanesische Proselyten, die circa zweihundert Bethäuser und ein Seminar mit über hundert Zöglingen besitzen. Leider wurde das Gedeihen dieser religiösen Colonie durch zwischen den eingeborenen Neophiten und ihren europäischen Lehrern entstandene Streitigkeiten gestört. Das Abendland hat kaum ein Recht, Russland wegen seinem im eigenen Reiche in Anwendung gebrachten Bekehrungsverfahren zu verurtheilen. Die Hälfte des christlichen Europa wurde seinerzeit auf ähnliche Weise bekehrt. Es ist dies allerdings schon tausend Jahre her; aber manche Gegenden zu beiden Seiten des Ural sind eben im achten und neunten Jahrhunderl stecken geblieben. Bei vielen Stämmen des Ural und des Altai kann der europäischen Civilisation nur durch das Christenthum Eingang verschafft werden. Darum können wir es, obschon wir allem Glaubenszwang Feind sind, Russland kaum verdenken, wenn es für die Ausbreitung des Christen-thums Sorge trägt. Aber die russische Proselytenmacherei begnügt sich eben damit nicht; sie wirft sich nicht nur auf die ungebildeten Heiden, oder auf die gewissennassen gebildeten nicht christlichen Religionen der Mohamedaner, Buddhisten und Juden, sondern auch auf Protestanten und Katholiken. In diesen, gegen die andersgläubigen christlichen Kirchen gerichteten Feldzüge, bei welchen die Civilisation absolut nichts gewinnen kann, entfaltet sie gerade den grössten Eifer. Ein russischer Bischof sagte einst: Unsere confessionellen Scheidewände sind keineswegs himmelhoch. Aber dies scheint nicht die Meinung der in Russland herrschenden Partei zu sein. Es ist wahr, ihr orthodoxer Eifer bekümmert sich mehr um die Erde als um den Himmel. Nur aus politischen Gründen lassen die Zaren äthiopischen Jacobiten als Religionsgenossen betrachte, die man nur zur ursprüng-Reinheit des orthodoxen Kultus zurückzuführen brauche. nicht jeden nach seiner Faeon selig werden. Eine schöne, breite, gut gepflasterte kaiserliche Strasse soll die Eussen ins Paradies führen; aber sie ist nicht nur gut chaussirt, sondern überdies zu beiden Seiten mit Gräben und Pallisaden umgeben, damit, wer sich einmal auf diesem Wege des Heils befindet, nicht mehr davon abschwellen kann. Es giebt ja wohl noch ein paar officiell anerkannte, zum selben Ziele führende Seitenwege, aber sie sind schlecht unterhalten, aufgebrochen und ausgefahren; zudem gestattet man nur den unterworfenen Stämmen, den Nichtvollrussen darauf zu wandeln. Das ist die Stellung der herrschenden Kirche im Vergleich mit den „fremden Kulten". Zweites Kapitel. Fremde Kulte: die christlichen Confessionen. — Die Armenier. Der „Katho-likos" von Etsehmiadzin und die „poloschenjia". — Die Protestanten. Lutherthum und Germanenthum. Mischehen. — Die Katholiken. Latinismus und Polenthum. Das römisch-katholische „Collegium". Papstthum und Selbstherrschaft. Eine Messe ohne Priester. Aufhebung der Klöster. Die Einführung der russischen Sprache an Stelle der polnischen in die Kirche. — Die Uniirten und die orthodoxe Propaganda. Die zur Zurückführung der unirten Griechen angewandte Methode. — Die Vereinigung beider Kirchen. Daraus entspringende Vortheile für Kussland. Hindernisse, die sich derselben in den Weg legen. Vergleichen wir einmal die Beziehungen des Staates zur orthodoxen Kirche mit denjenigen zu den anderen Kulten des Reiches. Hier kann man am besten erkennen, was von den Constitutionen der herrschenden Kiivhe Sache der Religion, was Sache der Politik ist. Wie die Landeskirche sind auch die dissidirenden Kulte demjenigen Princip unterworfen, das ganz Russland beherrscht, dem Princip der Autokratie. Keine Confession kann sich diesem allgemeinen Gesetze entziehen; der Klerus vermag dies ebensowenig wie die übrigen Klassen Der Herrscher nimmt in den fremden Kirchen nicht weniger Rechte für sich in Anspruch als in seines eigenen. Der grosse Unterschied besteht nur darin, dass die orthodoxe Kirche ihrer ganzen Tradition nach sich viel leichter in diese Notwendigkeit fügen kann, und dass für sie die staatliche Bevormundung nicht nur Knechtschaft, sondern auch Schutz bedeutet. Die Regierung sucht allen Kulten des Reiches eine ähnliche Organisation zu geben, wie sie die Staatskirche besitzt. Darin erblickt sie einen doppelten Vortheil: erstens soll ihr dadurch eine innere russische, vom Ausland ganz unabhängige Leitung gegeben werden, sodann sucht sie ihre Angelegenheiten zu centralisiren, um sie um so leichter in der Gewalt zu haben. Dies macht sich hauptsächlich bei den christlichen Confessionen fühlbar. Katholiken, Protestanten und Armenier haben sich den Gepflogenheiten der russischen Verwaltung fügen müssen. Jede Confession besitzt, wenn auch unter anderem Namen, eine Art über ihrem eigenen Klerus stehender „Synod", der aus Laienelementen und Vertretern der Staatsgewalt zusammengesetzt ist; jede besitzt ferner ihre eigenen Consistorien mit ähnlichen Functionen wie die Consistorien der Landeskirche. Die Kirchenverfassung Peters des Grossen ist eine Art Prokrustesbett, dem sich alle Kirchen nach einander anzupassen hatten, manche sind dabei übel zugerichtet worden. Am leichtesten fügte sich die armenische Kirche der russischen Kirchenordnung. Sie nähert sich auch in ihren Einrichtungen, ihrer Liturgie und ihrer Disciplin der griechischen Kirche am meisten. Die Armenier unterscheiden sich von den Griechen — und auch von der lateinischen Kirche — hauptsächlich dadurch, dass sie nur die drei ersten Concilien anerkennen. Sie verwerfen das Chalcedonische Concil und gelten darum für Eutychianer, obschon sie selber dies bestreiten. Thatsächlich ist der nun über fünfzehnhundert Jahre alte Streit zwischen Griechen und Armeniern mehr politischer als religiöser Natur. Wie überall im Orient niaskiren diese theologischen Streitereien politische, nationale Rivalitäten. In Russland, wie in der Türkei, nehmen die Armenier eine höhere Stelle ein, als sie ihrer Zahl nach eigentlich sollten. Sie zählen vielleicht eine Million oder anderthalb, das heisst also ungefähr den dritten Theil aller Haikans; denn die Geographen sind über die Gesammtzahl dos armenischen Volkes keineswegs einig. Russland, welches ihr geistliches Oberhaupt in seiner Mitte birgt, ist heute die erste armenische Macht. Dies verleiht ihm in Asien einen neuen Anhalt; denn es kann sich daselbst zum Beschützer der Armenier aufwerfen, wie unlängst in Europa zum Beschützer der Griechen. Im Vertrag von San Stefano liess Russland schon eine Klausel zu Gunsten der unter türkischer Oberhoheit verbleibenden Armenier ein-fliessen. Diese Beschützerrolle wird Russland auch sehr leicht, um so mehr als die Pforte, mit Ausserachtlassung des Artikels 61 des berliner Vertrags, versäumt hat, zwischen sich selbst und dem russischen Kaukasus ein selbstständiges Armenien zu errichten. Wenn auch nicht Selbstständigkeit oder gar politische Freiheit, so hat Russland diesen europäischen Asiaten wenigstens Schutz und Sicherheit zugesagt. So sind denn auch schon viele Armenier aus den Staaten des Sultans in diejenigen des Zaren übergesiedelt, da sie die russische Ordnung der türkischen Unordnung vorzogen. Der „christliche Jude" — wie man den Armenier seiner mehr als semitischen Eigenschaften wegen nennt — befindet sich im Kaukasus so wohl, dass man in Tiflis schon befürchtet hat, ganz Trans-kaukasien würde von diesem mehr als übelberüchtigten Volke überschwemmt werden. Doch haben sich, wie in der Türkei, durchaus nicht alle Armenier dem Schacher zugewandt; einige sind auch in die Verwaltung oder die Armee eingetreten. Im letzten Orientkriege standen an der Spitze der russischen Truppen in Kleinasiem die armenischen Generäle Lazareff und Loris Melikoff, und es ist bekannt, mit welcher Gewalt dieser letztere gegen Ende der Regierung Alexanders II. bekleidet war. Nur wenige armenische Unterthanen des Zaren sind mit der römischen Kirche unirt. Die Mehrzahl derselben gehört der grossen armenischen Kirche an, die auch die gregorianische genannt wird, nach dem heiligen Gregor Illuminator (des Erleuchter), der ihr im vierten Jahrhundert Verfassung und Liturgie gegeben hat. Den Gipfel ihrer Hierarchie bildet der hundertundzweiundachtzigste Nachfolger des „Erlcuchters", welcher den Titel eines „Katholikos" führt. Dieser Oberpriester, dem der ganze nicht unirte armenische Klerus untergestellt ist, hat seinen Sitz in dem an den Sagenreichen Abhängen des Berges Ararat gelegenen Klosters von Etschmiadzin. Kaiser Nikolaus war darauf bedacht, diesen traditionellen Mittelpunkt der armenischen Kirche der persischen Herrschaft zu entreissen. Mit dem Kopfe der Hierarchie hält der russische Adler die ganze armenische Nation in seinen Fängen. Dadurch, dass Russland den bescheidenen armenischen Vatican in seiner Gewalt hat, treten auch die auswärts wohnenden Haikans in eine Art von kirchlichem Vasallenthum zu Russland. Es liegt hier im Kleinen ein ähnliches Problem vor wie in Rom, als die weltliche Herrschaft der Päpste fiel. Die russische Regierung hat dieses Problem zu ihrem Vortheil gelöst. Sie hat die Stellung des „Katholikos" durch die Statuten von 1836 geregelt. Nach der Ueber-lieferung soll der „Katholikos" von den Abgeordneten aller armenischen Diöcesen der Erde gewählt werden. Die kaiserliche Regierung führt bei dieser Wahl den Vorsitz, und sie begnügt sich nicht damit, die Voten der einzelnen Diöcesen zu reglementiren, die einen anzunehmen oder die andern zu verwerfen. Der Zar hat sich überdies das Recht vorbehalten, nicht immer, dem Kanon gemäss, denjenigen Prälaten, der die meisten Stimmen auf sich vereinigt hat, zu proklamiren, sondern nach freiem Gutdünken auch denjenigen, welcher nach diesem die meisten Stimmen erhielt. Die Poloschenjia betrachten die Wahl der Diozösen gleichsam nur als eine Aufstellung von Kandidaten, unter welchen der Kaiser den „Katholikos" auswählt. Nun stelle man sich einmal vor, der König von Italien könnte von den zwei Cardinäleu, welche die meisten Stimmen des Conclave erhalten hatten, nach Gutdünken den einen zum Papst ernennen! Auf diese Weise ist Russland sicher, dass auf dem Patriarchenstuhle von Etschmtadzin immer ein der Regierung ergebener Priester sitzt. Nikolaus I. und Alexander II. hatten immer denjenigen bestätigt, welcher die meisten Stimmen erhalten hatte. Alexander III. hat 1885 mit diesem Brauche gebrochen; er verlieh den Stuhl von Etschmiadzin dem Kandidaten der Minderheit. So ward der Katholikos zu einem russischen Würdenträger, der vom Zaren ernannt wird. Die nicht russischen Armenier, welche die Mehrzahl ausmachen, können gegen die Statuten von 1836 und die Wahl von 1885 protestiren so viel sie wellen, es nützt ihnen nichts, sie müssen sich eben fügen. Oder sie hätten denn einen Gegenpapst, einen „Antikatholikos" ernennen müssen; sie schreckten indessen vor dem aus einer solchen Massregel entspringenden Schisina zurück. Der Wald modus des obersten Priesters ist nicht die einzige Aenderung, die Russland mit der armenischen Kirchenverfassung vorgenommen hat. Man hat dem Katholikos nach petersburger Art einen vom Zaren ernannten, aus Bischöfen und Archimandriten zusammengesetzten Synod und neben diesem Synod noch einen dem Laienstande angehörenden Prokuror heigegeben, dessen Einmengung in die kirchlichen Angelegenheiten der Geistlichkeit allerdings wenig behagt. Der Klerus beklagt sich auch darüber, in Russland nur leise, im Ausland offen und laut, aber er ist viel zu politisch, um sich mit der russischen Macht in einen Conflikt einzulassen. Unter Alexander III. erhielten die Armenier einen neuen Grund zur Klage gegen die russische Bureaukratie. Sie besassen einige Pfarrschulen, die von Privatleuten gegründet worden waren und vom Klerus verwaltet wurden. Die Oberleitung dieser Schulen wurde dem „Katholikos" entzogen. Es ist dies auch eine der Centralisirungs- und Russilicirungsmassregeln, die gegenwärtig im ganzen Reiche durchgeführt werden. In einem autokratischen Staate kann kaum irgend eine Kirche selbständige und unabhängige Schulen besitzen. Auch beklagen sich die Armenier, dass das Armenische überall durch das Russische verdrängt werde; sie fürchten, dass ihre Sprache schliesslich zu einer reinen Kirchen spräche herabgedrückt werde. Es ist in Petersburg schon mehrere Male der Wunsch laut geworden, die armenische Kirche mit der Staatskirche zu vereinigen, so dass nur einige Ritualunterschiede zwischen beiden bestehen bleiben würden. Dann hätte die Orthodoxie, wie Rom, ebenfalls ihre unirten Armenier. Diese Pläne scheitern aber gewöhnlich am Misstrauen der Armenier, welche dadurch ihre Nationalität und zugleich auch ihre kirchliche Selbstständigkeit zu compromittiren fürchten. „Die Vereinigung mit der russischen Orthodoxie — sagte mir ein armenischer Bischof — wäre nur das Arorspiel unserer gänzlichen Uussilicirung. Wir brauchen nur auf unsere georgischen Nachbarn zu schauen, wenn wir wissen wollen, was uns dann erwartet. Ihre Kirche ist mehrere Jahrhunderte älter als die russische, und doch hat man in ihrem Gottesdienste das Georgische durch das Kirchen-slavische ersetzt". Auch bei den Protestanten ist die Religion nicht immer einzig und allein im Spiel. Der Protestantismus war lange Zeit hindurch die meist begünstigte unter allen fremden Confessionen; sie war auch am frühesten staatlich anerkannt worden. Sie liess sich auch relativ leicht nach den Satzungen der Landeskirche ummodeln, besonders da Peter der Grosse seine Kirchenverfassung zum grossen Theil bei den Protestanten entlehnt hatte. Lutheraner und Calvinisten besitzen ihre Localconsistorien; an ihrer Spitze steht ein Generalconsistorium, welchem ein kaiserlicher Prokuror beigegeben ist. Die Protestanten sind fünf bei sechs Millionen stark und zum grössten Theil Lutheraner. Ueber zwei Millionen davon entfallen auf Finnland, wo die lutherische Kirche Landeskirche ist. In diesem letztgenannten Grossherzogthum geniesst die lutherische Kirche volle Freiheit, sie wird von drei Bischöfen verwaltet, und ihre Geistlichkeit bildet einen der vier Stände der Tagsatzung. Südlich vom finnischen Meerbusen liegt aber die Sache schon anders. In den drei baltischen Provinzen bilden die Lutheraner numerisch und gesellschaftlich noch heute die herrschende Religion; aber dennoch hat der Protestantismus hier schon viel von seinem alten Glänze eingebüsst und ist auf den Rang eines geduldeten Kultus herabgedrückt worden. Als Peter der Grosse 1721 Esthland und Livland dem Reiche einverleibte, garantirte er diesen Provinzen die Aufrechterhaltung aller Rechte und Privilegien ihrer Kirche. Katharina IL machte 1795 der Provinz Kurland dasselbe Versprechen. Alle drei 1. eroy-Beaulleu, Kelch d. Zaren u. «1. Küssen. 35 Provinzen haben sich immer loyal und unterwürfig gegen den Zaren gezeigt, so dass man nicht behaupten kann, dass, wie in Polen, Aufstände und Empörungen die Herrscher von dem gegebenen Versprechen entbunden hätten. End dennoch wurde in allen drei Provinzen die zugesicherte Religionsfreiheit beschränkt. Der Protestantismus musste der Russilicirungspolitik zum Opfer fallen. Denn gerade hier galt das Lutherthum als der stärkste Bundesgenosse des Deutschthums. Die Glaubcnscinheit war beinahe das einzige Band zwischen den so verschiedenartigen Bevölkerungselementen der Ostseeprovinzen, zwischen den nur schwach vertretenen Deutschen und den beiden unterdrückten Nationalitäten der Letten und Esthen1). Wenn man diese letzteren vom Glauben der „Ritterschaft" loslöste, so wurde dadurch der deutsche Adel und die deutsche Bürgerschaft isolirt und von der Landbevölkerung gänzlich abgeschnitten. Die Vorkämpfer der russischen Orthodoxie haben sich mit um so mehr Eifer auf die Rückgewinnung von Livland geworfen, als sie behaupten, dass dies, wie Weissrussland und Litthauen, ein ursprünglich orthodoxes Gebiet sei, und dass Russland die Aufgabe habe, diese Gegenden von der Befleckung des Abendlandes zu reinigen. Ihre Geschichtsschreiber glauben den Beweis erbracht zuhaben, dass in diesen nebeltrüben Landen der griechische Glaube vor dem lateinischen und in Folge dessen viel früher als die deutsche Ketzerei bestanden habe. In einigen Gegenden besuchen die lutherischen Bauern, lettischer und esthländischer Abstammung, noch jetzt in der Osternacht die orthodoxen Kirchen. Ob indessen die orthodoxen Missionare in Livland eine neue Eroberung machen oder nur den alten Glauben wiederherstellen wollen, daran ist wenig gelegen. In Glaubenssachen sprechen historische Erinnerungen nicht mit, sonst mussten ja schliesslich die Russen selber wieder zum Kultus von Perun zurückkehren. Der erste ofiicielle Feldzug gegen das Lutheranerthum fand schon unter Nikolaus statt. Um 1840 wurden über hunderttausend lettische und estnische Bauern durch den Grafen Protassow zur Orthodoxie bekehrt Sie hatten sich durch die Hoffnung, vom Staate Land zu erhalten, ködern lassen. Dieser orthodoxe Kreuzzug, der unter Alexander II. unterbrochen worden war, oder wenigstens einzuschlafen drohte, wurde unter Alexander III. wieder aufgenommen. Unter dem vorigen Herrscher betrug die jährliche Durchschnittszahl der Convertiten einige hundert; heute zählen sie jährlich nach J) Siehe Band I, zweites Buch, fünftes Kapitel. Tausenden. Ganze Pfarrgemeinden verlassen auf einmal die lutherische „Kirka" (Kirche). Herr Pobedonoszeff verwahrt sich dagegen, bei diesem Bekehrungsamte dieselben groben Lockmittel anzuwenden, die seinem Vorgänger, Protassow, zum Vorwurf gemacht werden. Im Jahre 1887 verboten die orthodoxen Behörden der Geistlichkeit, den Neophiten materielle Vortheile zu versprechen. Aber wenn diese Bekehrungen auch nicht immer um des Geldgewinnes willen erfolgen, so sind doch gewöhnlich sehr weltliche Motive dabei im Spiel. Die kaiserliche Kirche verdankt ihre Proselyten weniger der Beredsamkeit ihrer Missionare, als dem Rassen- und Klassenhass. Die Bekehrer wissen zum Beispiel die Abneigung der lettischen und estnischen Bauern gegen die deutschen Gutsbesitzer sehr geschickt für ihre Zwecke zu benutzen. Sie stellen den Bauern den Abfall vom „deutschen Glauben" als eine Befreiung aus der deutschen Knechtschaft dar. Wenn noch nicht alle Letten und Esthen vom Protestantismus abgefallen sind, so liegt dies hauptsächlich daran, dass sie durch ihren LJebertritt zum „russischen Glauben" ihre Nationalität zu com-promittiren glauben. Dieses Gefühl findet sich hauptsächlich bei den Letten, welche cultivirter sind als ihre finnischen Nachbarn, die Esthen. Darum sind wohl auch bei ihnen die Bekehrungen seltener. Ein lettischer Patriot meinte: „Um uns von den Deutschen zu unterscheiden, möchten wir uns doch nicht mit den Russen vermischen". Aus diesem Grunde neigen sich viele zu den Wiedertäufern. Das Abhalten von Gottesdiensten in der Volkssprache dient den Orthodoxen als ferneres Mittel zur Propaganda; so haben sich auch die deutschen lutherischen Pfarrer vielfach entschliessen müssen, zu dem barbarischen Idiom ihres geistigen Schällein ihre Zuflucht zu nehmen. Uebrigens suchen die russischen Proselytenmacher nicht allein auf das Nationalgefühl der baltischen Bauern zu wirken. Die dem Laienstande angehörenden Apostel machen sich nicht immer ein Gewissen daraus, auch die officiell verbotenen Köder in Anwendung zu bringen. Jeder weiss, dass der Uebertritt zur orthodoxen Kirche das beste Mittel ist, um bei den Behörden gut angeschrieben zu sein. Ich hörte von einem Kerl erzählen, der, um sich dem Gefängniss zu entziehen, kein anderes Recept anwandte. Durch dieses einfache Mittel kann sich jeder Protektoren erwerben. Ausserdem wird noch durch eine Prämie, für welche der Bauer stets sehr viel Sinn hat, zur Bekehrung angereizt. Der Senat hat neuerdings alle nichtlutherischen Bauern von der lutherischen Kirchensteuer befreit. Nichts scheint gerechter. Aber dennoch liegt die Frage keineswegs 35* so einfach. Die Lutheraner behaupten, dass dieser sogenannte Kirchenzehnte nicht auf der Person, sondern auf dem Grund und Boden ruhe, und dass er infolge dessen abgelöst werden müsse. Nach einem von den Gutsbesitzern in Uebereinstinnnung mit ihren Pächtern aufgestellten Tarif können die Natural/.insen mit Geld abgelöst werden. Nun behaupten die Gutsbesitzer, dass es keineswegs gerecht sei, wenn sich die Bauern einfach durch den Uebertritt zur Staatskirche von diesen Abgaben befreien. Um ihnen die Lust dazu zu benehmen, haben einige Gutsbesitzer den Kirchenzchnten selbst übernommen und ihren Bauern dafür den Lehenszins erhöht. Eine Hauptsorge der Regierung besteht darin, überall orthodoxe Schulen und Kirchen zu errichten. Da nun die Ritterschaft, welche allein fast den ganzen Grund und Boden besitzt, sich der Errichtung solcher orthodoxen Anstalten auf ihren Territorien widersetzte, SO musste man zur Expropriation schreiten. Wenn es sich um eine orthodoxe Kirche oder Schule handelt, darf die Regierung sofort jeden Platz, mit alleiniger Ausnahme der Wohnhäuser expropriiren lassen. Der eifrigste Lutheraner muss in diesem Kalle schweigend zusehen, wie sich die Popen auf seinem eigenen Grund und Boden festsetzen, und unter seinen eigenen Hauern Propaganda machen. Ebenso waren die meisten Schulen auf dem Lande seinerzeit vom deutschen Adel errichtet und den Pfarrern unterstellt worden. In den drei Ostseeprovinzen, die ohne allen Zweifel die beste Schulbildung in Russland besitzen, bestanden über zweitausend lutherische Schulen. Alexander III. hat diese lailicirt um sie zu russificiren: er unterstellte sie dem Ministerium des öffentlichen Unterrichts. Dies war der härteste Schlag für den Protestantismus. Dies ist indessen eine Massregel, wie sie sich andere Staaten gegenüber der Geistlichkeit, heisse sie nun wie sie wolle, ebenfalls erlauben. Anders verhält es sich mit dem Oesetz über die Mischehen. Der Kaiser Nikolaus hatte Gesetze erlassen, welche geboten, dass die aus Ehen zwischen Protestanten und Orthodoxen entspringenden Kinder im griechischen Glauben erzogen werden mussten. Alexander II. hatte den Livländern die Freiheit, ihre Kinder nach eigenem Gutdünken zu erziehen, wieder zurückgegeben. Dies war allem Anschein nach eine ebenso kluge als humane Massregel; denn es muss doch im Interesse des Staates liegen, dass sich die verschiedenen Nationalitäten möglichst verschmelzen. In Russland aber ist eine solche Freiheit ein Privilegium. Alexander III. hat es 1885 wieder aufgehoben und geboten, dass die drakonischen Gesetze Nikolaus' in ihrer ganzen Strenge auf Alle gleichmässig angewandt werden seilen. Ebenso hatte Alexander IL tausenden von Bauern, die durch falsche Versprechungen in die orthodoxe Kirche hinübergelockt worden waren, die Rückkehr in den Protestantismus gestattet. Auch in diesem Falle gebot Alexander III. strenge Handhabung der Gesetze. General Zinowieff, Gouverneur von Livland, liess 1887 bekannt machen, dass alle in die orthodoxe Kirche eingeschriebenen Personen, welche ihre Kinder nach lutherischem Ritus erzögen, mit (iefängniss bestraft werden sollten, und dass ihnen, „nach Paragraph 158 und 190 des Strafgesetzes, ihre Kinder entzogen und anderweitigen Personen zur Erziehung überwiesen werden könnten". Der Pfarrer, der solche Orthodoxe zu den Sakramenten zulässt, setzt sich selbst den härtesten Strafen aus; Herr Pobedonoszeff nennt dies in seinem Schreiben an Herrn Naville: „die gütliche Annäherung der Landeskinder an das Mutterland hintertreiben". Für dieses „Verbrechen" sind schon viele Pastoren abgesetzt, eingesperrt und deportirt worden. Die heterodoxen Geistlichen — Katholiken und Prolestanten —- müssen sich die biblische Parabel vom guten Hirten ganz und gar aus dem Sinne schlagen und dürfen sich keineswegs einfallen lassen, ihren verirrten Schäfiein nachzugehen. Wenn Russland die von Peter dem Grossen und Katharina IL dem Reiche einverleibten Gebiete moralisch und geistig zu erobern suchte, wer wollte ihm das verübeln? Heute aber muss man uns noch gestatten, an dem eigentlichen Werth des Russificirungssystems zu zweifeln. Frankreich suchte seinerzeit die protestantischen und katholischen Elsässer keineswegs durch solche Manipulationen zu gewinnen. Die Russificirungspolitik könnte gar leicht ihr Ziel verfehlen und die nationalen Bande lockern, anstatt sie fester zu knüpfen. Bis jetzt zeigten sich in den Ostseeprovinzen allerdings partikularist isohe Tendenzen, aber eine separatistische Partei, Trennungsgelüste, sind bis jetzt noch nicht aufgetaucht. Wenn dergleichen entstünde, könnte sich Herr Pobedonoszeff als ein Förderer solcher Ideen betrachten, Der Katholicismus wurde unter allen in Russland geduldeten christlichen Confessionen am meisten misshandelt. Er hatte mit den Antipathien der Regierung und des Volkes zu kämpfen. Da er historisch mit Polen verknüpft ist, wie die orthodoxe Kirche mit Moskowien, so hatte er das besondere Glück alle möglichen Arten von Misstrauen und Feindseligkeiten hervorzurufen. Der Russe hasst den Katholicismus eben so sehr seiner Cultur als seiner Nationalität wegen; als Russe bekämpft er in ihm das Polenthum, als Slave den Latinismus, der ihm von jeher als dem slavischen Geiste feindlich erschien. Das russische Reich zählt neun bis zehn Millionen Katholiken, d. h. mehr als Belgien und Irland zusammengenommen. Diese Zahl vergrössert sich, trotz der ofliciellen Propaganda, regelmässig durch die Vermehrung der Bevölkerung. Diese Katholiken sind nicht sünimtliche Polen oder Litthauer, es giebt darunter auch nicht polonisirte Klein- und Weissrussen. Viele dieser letzteren geben sich indessen gerne für Polen aus. Hier wendet sich die officiell grossgezogene Confusion zwischen Religion und Nationalität gegen die Regierung selbst. Der weissrussische Bauer, der den „Kostil"1) besucht, antwortet jedem, der ihn darum befragt, er sei ein Pole, weil für ihn die Begriffe „Katholik" und „Pole" ganz gleichbedeutend sinda). An diese weiss- und kleinrussischen Katholiken wendet sich die officielle Propaganda am häufigsten; da sie wohl weiss, dass sie bei den andern wenig Chance hat. Der von Moskau und Petersburg aus gegen die römisch-katholische Kirche geführte Krieg musste diese den Polen und Litthauern gerade um so theurer machen. Gerade diese Sucht des Russen, den Katholicismus in den westlichen Provinzen des Reiches auszurotten, hat Polen, welches Ende des achtzehnten Jahrhunderts schon ganz seeptisch geworden war, im neunzehnten Jahrhundert zu einem der ultramontansten Länder gemacht. Jeder gegen den nationalen Glauben geführte Schlag befestigte ihn nur um so tiefer in den Herzen der Polen. Und auch heute noch braucht man nur die in den polnischen Kirchen knieende Menge zu betrachten, um zu erkennen, wie tief hier der katholische Glaube Wurzel geschlagen hat. Der Katholicismus liess sich von allen Kulten des Reiches am schwersten den Formen der russischen Verwaltung anpassen. Dennoch sollte auch die römische Kirche, wie alle andern Confessionen, eine nach dem Muster des „Sehr Heiligen Synod" zugeschnittene Verfassung erhalten. Die kaiserliche Regierung hat über die Bischöfe eine Art „Synod", das „römisch-katholische Collegium" gesetzt, das seinen Sitz in Petersburg hat und vom Erzbischof von Mohileff, dem Primas des Reiches, präsidirt wird. Dieses Collegium, dem Rom nur weltlich-administrative Machtbefugnisse zuerkennt, besteht aus Delegirten, welche in den Diocösancapiteln gewählt und von der Regierung bestätigt werden. Zudem wurden die katholischen Diocösen, M Kosti'l, vom polnischen Kosciol, katholische Kirche. ») Siehe Wladimirow, Westnik Europy, März 1881, Seite 307. nach Art der orthodoxen Eparchien, mit Consistorien versehen, deren Mitglieder vom Bischof vorgeschlagen und von der Regierung bestätigt werden. Dieser ganze bureaukratische Mechanismus liess sich nur schwer mit der katholischen Hierarchie in Einklang bringen; auch hat die römische Curie immer ihre Bischöfe von diesem Drucke zu befreien gesucht. Gregor XIII und Pius IX haben sich oft über die Knechtung des Episcopats durch die Diocösanconsistorien und das Petersburger Collegium beklagt, Sie verwahrten sich gegen die Anwesenheit des kaiserlichen Prokurors und der vom Ministerium ernannten Laiensekretäre in den geistlichen Versammlungen. Auch Leo XIII. hat in seinen Verhandlungen mit Russland nie aufgehört, für die Bischöfe die freie Verwaltung der Diocösen zu fordern. Man kann daraus ersehen, wie misslich sich jeder modus vivendi zwischen Petersburg und dem Vatican gestalten muss. Die Schwierigkeiten, welche durch die katholische Auffassung des Begriffs „Kirche" und die russische Auffassung des Begriffs „Staat" zwischen der Regierung und dem heiligen Stuhl entstehen, sind in Russland schwerer zu lösen als in irgend einem andern Lande. Daher kommen die langwierigen, oft unterbrochenen, dann wieder aufgenommenen Unterhandlungen zwischen Petersburg und Rom. Selbst wenn sich zwischen den Vertretern des Papstes und denjenigen des Zaren Vereinbarungen erzielen lassen, so halten diese meistens den Thatsachen gegenüber nicht Stand; denn der Papst kann keine dem Canon zuwiderlaufende Einmischung der Laien in Kirchenangelegenheiten dulden, und die kaiserliche Regierung will nicht auf ihre administrativen Gepflogenheiten verzichten. Die russische Regierung suchte den Katholicismus auf den Stand eines einfachen Ritus, der sich nur durch Kirchenzucht und Liturgie von der Orthodoxie unterscheidet, herabzudrücken. Dadurch dass Russland den freien Verkehr der Bischöfe mit dem Vatican behinderte, dadurch, dass er dem Episcopat einen vom Zaren abhängigen Synod überordnete, raubte es dem katholischen Glauben seine Wesenheit, die eigentliche „Katholicität." Schon gleich nach der ersten Theilung Polens suchte Katharina II. mit Hilfe des Bischofs Siestrencewitsch ihre katholischen Unterthanen enger an das Reich zu fesseln und ihre Beziehungen zu Rom zu lockern, so dass zwischen Rom und den russischen Katholiken nur noch das Band der Com-munion, nicht mehr aber dasjenige der Jurisdiction bestehen sollte. Zum Glück für die Päpste verlangten in keinem Lande die Katholiken hartnäckiger als in Polen, mit dem heiligen Stuhl in Verbindung zu bleiben. Die Zaren konnten ihren katholischen Unterthanen keine polnische Nationalkirche bieten; denn jeder Versuch, sie von Horn los zu lösen, musste scheitern. Da die russischen Katholiken von jeher mehr „Katholiken" als „Russen" waren, so waren sie eben zu keinem Schisma zu bewegen. Die Regierung hat dies auch eingesehen. Wenn einige Berather der Kaiser Nikolaus oder Alexander II. von einer, von Rom unabhängigen latino-slavischen Kirche geträumt haben, so scheint es doch, dass das kaiserliche Kabinet diese Hirn-gespinnste fallen liess. Der katholische Kultus zählt zwölf Diocösen: sieben in Polen und sechs weitere im Reiche. Ihre Bischofstühle sind oft vakant. Es vergehen meistens Jahre, ehe die verstorbenen Bischöfe wieder ersetzt werden; zudem sind von den lebenden immer einige deportirt oder, fern von ihren Diöcesen, internirt, wie unlängst der Bischof von Wilna, Mgr. Krynüewieeki, in Jaroslawl. Bischöfe und Priester beklagen sich darüber, dass sie sich in ihrem Amte nicht frei bewegen können. Die Civilgewalt mengt sich gerne in die Diocösanverwaltung und scheut sich auch nicht, Priester, die sich gegen die bischöfliche Autorität auflehnen, zu unterstützen. Die Bischöfe werden von der Regierung scharf bewacht und können keineswegs frei mit dem Heiligen Stuhl verkehren. Sie können sogar ihre gewöhnlichen Visitationen nicht ohne besondere Erlaubniss des Gouverneurs der Provinz vornehmen« Der katholische Klerus ist nicht nur zu wenig frei, er ist auch der Zahl nach ungenügend, und die Regierung verhindert seine Ergänzung. Seit ungefähr dreissig Jahren hat man die Zahl der Diocösen, der Seminare und der Kirchen systematisch verringeit. Der Priesterniangel kommt aber nicht daher, weil die jungen Leute vor einem Beruf zurückschrecken, der sie nur allzuleicht nach Sibirien bringen kann, sondern daher, weil der Zutritt zum Priesterthum sehr erschwert worden ist. Es giebt ja wohl noch Seminare und in Petersburg sogar, unter dem Namen einer Academie, eine Art katholisch-theologische Eacultät. An diesen Anstalten giebt es staatliche Stipendiaten, aber die Zahl der Seminaristen ist beschränkt und zudem wird nicht jedem, der dazu Lust hat, der Eintritt in die Seminare gestattet. Zuerst muss man, um aufgenommen zu werden, eine äusserst strenge Prüfung bestehen; und wenn man die Prüfung bestanden hat, braucht man erst noch eine besondere Erlaubniss, die nicht jedem gewährt wird. Die Regierung zeig! sieb besonders gegen die Polen misstrauisch und sucht sie überall durch Samogiten zu ersetzen. Zahlreiche Pfarreien haben heinen Kaplan, oder werden von einem Wanderpriester bedient, der sie nur von Zeit zu Zeit besucht. In manchen Gegenden müssen die Katholiken, wenn sie nicht jeden Gottesdienst enthehren wollen, in Ermangelung eines Priesters, die Hymnen und Gesänge von Laien singen lassen. Ich habe unter Alexander IL einmal einem solchen Gottesdienst ohne Priester beigewohnt, Es war dies an einem Fastensonntag in Nowgorod, wo es, wie in ganz Grossrussland, keine einheimischen Katholiken giebt. Man hatte mir eine ausserhalb des Wolkow, hinter dem Kremel gelegene, römisch-katholische Capelle bezeichnet. Sie befand sich im ersten Stockwerk einer niedrigen und finstern Scheune. Es waren daselbst ungefähr hundert Personen vereinigt, unter wehdien sich drei oder vier Frauen befanden. Die Mehrzahl der Anwesenden bestand aus litthauischen und polnischen Soldaten, denen sich noch einige in der Stadt internirte Polen beigesellt hatten. Der mit einem weissen Tuch und zwei brennenden Kerzen geschmückte Altar schien für die Messe hergerichtet. Da ich erstaunt war, dass der Priester nicht erschien, antwortete man mir, dass keiner kommen würde. Es gab in Nowgorod wohl einen polnischen Bischof, der hier schon mehrere Jahre internirt war, aber es war ihm verboten, öffentlich zu amtiren. Die Gläubigen, welche alle mit Büchern versehen waren, begannen nun die Messe zu singen, indem sie unter die lateinischen Gebete polnische Choräle mischten und nach einander vor dem stummen Altar niederknieten. Denselben Abend erfuhr ich beim Gouverneur, dass die elende Baracke, die als Capelle diente, einzufalle]! drohte, und dass der Platzcommandant seine Soldaten nicht mehr hinein gehen lassen durfte. Diese Messe, ohne Priester, in einem alten, Einsturz drohenden Schuppen versinnbildlichte so recht die Lage der katholischen Kirche in Russland. Aber oft gewährt man den Gläubigen nicht einmal den Trost, gemeinsam zu singen und zu beten. In einigen Provinzen des Westens wurde es ihnen verboten, sich in der Kirche zum Gebet zu versammeln. So zwang 1888 der Gouverneur von Minsk, ein gewisser Trubezkoi, die Aelteston der katholischen Gemeinden, ihre Kirchen zu schliessen, und verbot ihnen, in Abwesenheit des Priesters, irgend einen Gottesdienst abhalten zu lassen. Allerdings wurde dieser Beschluss dadurch begründet, dass einige Katholiken bei solchen Zusammenkünften polnische Gebete gesungen hatten, und „diese Sprache ist in jenen Pfarreien verboten". Die Klostergeist liehen können den Ausfall der Weltpriester nicht decken. In Folge des Aufstandes von 1863 sind die meisten Klöster aufgehoben worden. In denjenigen, welche nicht geschlossen wurden, ward die Zahl der Mönche oder Nonnen durch einen Ukas beschränkt. Sie dürfen entweder gar keine Novizen mehr aufnehmen, oder nur dann, wenn die Mönche bis auf eine gewisse Zahl zusammengeschmolzen sind. In Litthauen wurden die schönsten Klöster den Katholiken entzogen. So das Kloster von Poschaisk, das im siebzehnten Jahrhundert für die Camaldulenser erbaut worden war und nun dem orthodoxen Bischof von Kowno als Residenz dient. In manchen Flecken wurde der katholische „Kostil" mit einer grünen Kuppel versehen und in eine orthodoxe „Zerkow" (Kirche) umgewandelt. Die Jesuiten, welche Katharina IL berufen hatte, um ihnen die Erziehung der Aristokratie anzuvertrauen, sind heute streng aus dem Reiche verbannt. Als man 1878—1879 einige Dominikaner an die Sauet Katharinenkirche in Petersburg berief, so liess es sich die Regierung vom Ordensoberhaupt der Predigermönche unterschriftlich bestätigen, dass die gesandten Mönche wirklich Dominikaner und nicht etwa Jesuiten seien. Noch unlängst wurde einem gelehrten Jesuiten, welcher wissenschaftliche Forschungen in den Bibiotheken vornehmen wollte, der Eintritt in Russland verweigert, obgleich er von Geburt ein — allerdings katholischer — Russe war. Es fiel mir in den polnischen Kirchen auf, dass die Priester meistens ihre Predigten ablasen. „Wundern Sie sich nicht darüber — sagte man mir — die Predigten müssen der Censur unterbreitet, folglich geschrieben und abgelesen werden." Auch die bischöflichen Erlasseunterliegen derCensur. Und dies ist nicht die einzige Beschränkung der Religionsfreiheit. Auch darf der Klerus in Predigt und Katechismus nicht immer die Landessprache anwenden. Früher war es den Geistlichen der fremden Kulte verboten, russisch zu predigen, man fürchtete, sie könnten dadurch unter den Russen Anhänger gewinnen. Heute gebietet die Regierung das, was sie früher verbot. Heute ordnet sie die religiösen Bedenken den politischen Erwägungen unter und sucht die russische Sprache in den katholischen Gebeten und den protestantischen Predigten einzubürgern. Die Regierung lässt russische und lutherische Gebetbücher drucken, selbst auf die Gefahr hin, diese Lehren dem Volke dadurch zugänglich zu machen. So haben an einigen Orten die Stundisten mit einer russischen Ausgabe der protestantischen Psalter sehr wirkungsvoll Propaganda gemacht. Nicht nur das religiöse, auch das nationale Gefühl der Katholiken widersteht gewöhnlich der Einführung des Russischen in den Gottesdienst. Die katholischen Gebetbücher sind ins Russische übersetzt worden, aber zu diesen Fobersetzungen, die theils von Orthodoxen, theils von Katholiken, die sich bei der Regierung belieb! machen wollten, besorgt wurden, haben die Gläubigen kein rechtes Zutrauen. Auch machte mich ein Priester darauf aufmerksam, dass es in polnischer Sprache sehr viele, acht katholische Werke aller Gattungen gebe, während die russische Sprache nur solche Werke aufzuweisen habe, in denen mehr oder weniger ein antirömischer Geist zu Tage trete. Zudem ist selbst ausserhalb des eigentlichen Polens die polnische Sprache die Muttersprache oder wenigstens die Adoptivsprache der meisten Katholiken des Reiches. In Litthauen, ja sogar in Weiss- und Kleinrussland ist das officielle Russisch nicht einmal Volkssprache und dem gemeinen Manne oft kaum geläufiger als das Polnische. Man kann auch leicht begreifen, dass die Polen, welche in den westlichen Provinzen die Mehrzahl der Bevölkerung bilden, darüber ungehalten sind, dass man ihre Sprache, die durch so viele Heilige die Weihe erhalten, durch diejenige des schismatischen Unterdrückers verdrängen will. Um allen diesen Widersetzlichkeiten ein für allemal ein Ende zu machen, hat sich die kaiserliche Regierung an den Heiligen Stuhl gewandt, Aber das ist eine sehr delikate Sache. Der Vatican möchte einerseits dem Zaren sehr gerne gefällig sein, er kann sich andererseits aber auch wieder nicht entschliessen, die Beschwerden der Polen einfach unberücksichtigt zu lassen. Zudem denkt der Heilige Stuhl nur zu wühl daran, dass er in Irland zum Beispiel oft schlimm gefahren ist, wenn er den englischen Interessen allzubereitwillig dienen wollte. Ebenso widerstrebt es ihm die getreuen Anhänger der Kirche einer Regierung preiszugeben, welche immer nur daran gearbeitet hat, die Pulen dem katholischen Glauben abspenstig zu machen. Wenn man dir Kirche zu einem Mitlid der Bussilicirung machen wollte, so würde dies ein sehr schwerer Schlag für den Katholicismus der Polen sein. Die meisten Katholiken können auf die Forderungen der Petersburger Bureaukratie erwidern, dass die Regierung, die sie zwingen will, russisch zu beten, sie nicht einmal als Russen behandelt. Die polnischen Katholiken der Westprovinzen stehen unter Ausnahmegesetzen, denen sie sich nur dann entziehen können, wenn sie den römischen Glauben verlassen. Warum sollen denn die Polen, die man officiell immer als Fremdlinge betrachtet, in der Sprache des Zaren mit ihrem Gotte reden? Das ist nicht logisch. Wenn man uns als Russen behandeln will, — meinen sie — dann soll man damit beginnen, dass man uns volle bürgerliche Gleichberechtigung giebt. Davon hat nun die Regierung Alexanders III. gerade das Gegentheil gethan. Alexander 11. hatte den polnischen Katholiken das Recht entzogen, Land zu besitzen oder solches zu pachten. Dieses Gesetz seines Vaters hat Alexander III. nicht nur nicht gemildert, sondern, durch einen Ukas vom December 1884, verschärft. Wer in Westrussland ein Gut kaufen oder durch Erbschaft oder Schenkung übernehmen will, muss Russe sein, und als Russe gilt nur der < hrthodoxe. Jede moderne Regierung gewährt ihren Unterthanen bürgerliche Gleichberechtigung und Zutritt zu den öffentlichen Aemtern; in Russland sind die Juden und Katholiken davon, wenn auch nicht de jure, so doch de facto ausgeschlossen. Bei denjenigen Aemtern, die man ihnen nicht ganz verschliesst, können sie höchstens die niedrigsten Staffeln der bureaukratisohen Leiter erklimmen. Sehr wenigen gelingt es wirklich emporzukommen. AVenn ein Katholik, wie Herr von Mohrenheim, zum Gesandten ernannt wird, so ist er wenigstens von Geburt Ausländer. In einigen Verwaltungszweigen, wie zum Beispiel im Unterrichtswesen, ist die Ausschliessung der Katholiken bis zum Aeussersten durchgeführt, Unter Alexander III. wurde beschlossen, in den westlichen Provinzen, selbst da, wo die Orthodoxen die .Minderzahl der Bevölkerung ausmachen, nur solche als Lehrer zuzulassen. Aber man schliesst die Katholiken nicht nur von den öffentlichen Aemtern aus, man sucht ihnen auch die Privat-carriero zu verlegen. Ich habe von Eisenbahndirektoren der Westprovinzen erfahren, dass die Regierung sie vertraulich um die Ueligionsstatistik ihrer Beamten gebeten habe, weil man behaupte, dass sie zuviele Katholiken und Juden beschäftigten; zugleich habe man ihnen den Wink gegeben, dass sie sich dadurch höheren Ortes sehr leicht unbeliebt machen würden. Es war davon die Rede, dass man den Nichtorthodoxen jede Beschäftigung bei den Eisenbahnen verbieten wolle. Solche Verordnungen erfolgen nicht direkt durch kaiserliche Ukase; die Sache macht sich so, nach und nach, anter dem stetigen Druck des Beamtenthums. Die Art wie man das Kreuz schlägt ist und bleibt das Zeichen der Nationalität in Russland. Neben den anerkannten Katholiken giebt es auch solche, welche die Regierung einfach als Orthodoxe betrachtet. Ihre Lage ist die denkbar kläglichste. Die Ausübung ihrer Religion ist ihnen gänzlich untersagt. Man stelle sich vor, was es für einen Katholiken bedeutet, wenn er des Priesters entbehren muss, der allein Macht hat zu binden und zu lösen. Solche Pseudoorthodoxen giebt es zu Zehn-tausenden in Litthauen, Weissrussland und Polen. Obgleich sie aus Ueberzeugung Katholiken sind, so werden sie doch, wie sich der Oberprokuror ausdrückt, „gezwungen, in der Orthodoxie zu beharren." Herr Pobedonoszeff beklagt sich beinahe jedes Jahr über den Un- gehorsam dieser Opfer der officiellen Proselytenmacherei. Von den 1863—1870 bekehrten Bauern verlangen viele hartnäckig zur lateinischen Kirche zurückzukehren. Wie sollte man darüber erstaunen, da doch so viele Bekehrungen einfach durch Versprechungen und Einschüchterungen bewerkstelligt, und oft ganze Pfarreien, auf Verlangen einzelner Individuen der orthodoxen Kirche einverleibt wurden? Die Missionare bestanden zumeist in Beamten, Polizeiagenten, oder gar in Soldaten. Die russischen Blätter haben unter diesen Aposteln sogar einen mohamedanischen Commissär aufgeführt! *) Oft wurde nur die zufällige Anwesenheit bei irgend einer orthodoxen Ceremonie als TJebertritt zur Staatskirche aufgefasst, so dass manche Leute ihren Glauben gewechselt haben, ohne dies selber zu wissen. Daraus ist leicht ersichtlich, dass das Volk in manchen Gegenden gar nicht mehr weiss, zu welchem Glauben es eigentlich gehört. Auch nach den Berichten des Oberprokurors sollen manche Bauern die lateinische und die griechische Messe gleichmässig besuchen. Sie liegen sozusagen auf der Grenzscheide beider Kirchen. Es giebt solche, deren Vorfahren vor mehr als fünfzig Jahren schon zur Orthodoxie bekehrt wurden, die aber nichtsdestoweniger noch immer den ursprünglichen Glauben ihrer Väter nieht vergessen haben. Wenn man aber näher zusieht, so besuchen die meisten dieser scheinbar doppelgläubigen Bauern die griechische Messe gezwungen, die katholische aber aus Neigung. Dies ist so wahr, dass in Pfarreien, wo die Orthodoxen nominell weit zahlreicher sind, die Kirche der Popen leer bleibt, während es im katholischen „Kostel" erdrückend voll ist.2) Viele Beamte machen auch kein Hehl daraus, dass viele bjelorussischen oder malorussischen Bauern zur lateinischen Kirche zurückkehren würden, wenn sie nur dürften. Desswegen soll man ja eben, nach der Meinung dieser Patrioten, dem Westen die Religionsfreiheit verweigern. Kein besseres Mittel giebt es, um die Hauern dem Beiz der katholischen Kirche zu entziehen, als wenn man möglichst alle „Kosteis" der Nachbarschaft schliesst. So liess 1886 oder 1887 der Gouverneur von Warschau in der Kirche von Terespol den Gottesdienst verbieten, aus Furcht, die lateinische Messe könnte alte Uniaten anlocken. Alexander III. hat im Docember 1886 sogar verordnet, dass in allen von Uniaten bewohnten Orten ') Siehe Westnik Europy, März 1881, S. 3G6-367. 2j Diese Thatsache wird von vielen Orthodoxen bestätigt. Unter andern von Wladimirow in der Russkaja Starina und von Kojalowitsch im Zerkownyi Westnik. Siehe: Novoi, 14. Juli 1887. die nichtorthodoxen Kirchen nur mit ganz specieller Erlaubniss der orthodoxen Geistlichkeit geöffnet werden dürften. In den von Katharina II. anektirten polnischen Provinzen fanden sich zwei bis drei Millionen dieser Unirten, oder „Griechisch Unirten", meistentheils Weissrussen und Kleinrussen, wrelche die Oberhoheit des Papstes anerkannten, obgleich sie den graeco-slavischen Ritus beibehalten hatten. Diese „Unirung" war auf dem Concil von Brzeak (1595) erfolgt, und galt damals als ein Meisterstück Roms und der Jesuiten. Es war dies eine Art Brücke zwischen den beiden Kirchen. Zugleich wurde dadurch ein Bindeglied zwischen den Slaven des Ostens und denjenigen des Westens geschaffen, wodurch gewissermassen die moralische Einheit der seit Jahrhunderten durch die Religion getrennten slavischen Welt wieder hergestellt werden konnte. Man könnte beinahe sagen, dass darin eine Art praktischer Panslavismus lag, aber ein Panslavismus zu Gunsten Roms und des Abendlandes. Dies konnte Moskau nicht angenehm sein. Die Polen hatten in der Unirung ein Band zwischen den griechischen und den katholischen Unterthanen der Republik erblickt; Russland musste eine zwischen orthodoxen Grussrussen und ihren westlichen Glaubensgenossen errichtete Schranke darin erblicken; Was die polnische Politik erstrebt hatte, das musste die russische Politik wieder zu zerstören suchen. Sie hat ein ganzes Jahrhundert auf diese Zerstörung verwandt, Katharina II. und Nikolas haben die „Unirten" des Reiches, Alexander II. hat die „unirten" Polen zur orthodoxen Kirche „wieder zurückgeführt". Es ist dies vielleicht auf dem ganzen Erdball das einzige Gebiet, welches seit der Reformation von den Päpsten aufgegeben worden ist. So raubten Kaiser Nikolaus und sein Oberprokuror Protossow, ein früherer Jesuitcnzögling, dem römischen Stuhl über zwei Millionen geistliche Unterthanen. „Ihr seid Russen, — sagte man den Unirten — ihr folgt dem griechischen Ritus, darum müsst ihr, wie alle anderen Russen, in den Schooss der russisch-griechischen Kirche zurückkehren". Man hatte den Erzbischof Jos. Siemaszko an die Spitze der Unirten gestellt, und dieser hatte, als er den Bischofsstuhl bestieg, wie er in seinen Memoiren selber gesteht, nur die eine Absicht, die unirte Kirche zu zerstören. Aber obgleich der hohe Klerus der Unirten, welcher mit Rücksicht auf diese Eventualität eigens ergänzt worden war, mit der Regierung unter einer Decke steckte, so vollzog sich diese, mit vieler Geduld zwölf Jahre lang vorbereitete Vereinigung doch nicht ohne Widerstand. Die Knute und Sibirien mussten das Beste thun. Die Russen entschuldigen sich allerdings damit, dass das Verfahren, durch welches seinerzeit die Vereinigung der Unirten mit Rom zu Stande gekommen war, kaum ein besseres war. Aber gesetzt der Fall, dies verhielte sich so, so müsste man doch sagen, dass sich aus dem sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert entlehnte Massregeln im neunzehnten recht sonderbar ausnehmen. Jedenfalls besteht ein Unterschied zwischen der vom alten Polen und der vom modernen Russland angewandten Methode. Polen hatte, trotz allem Eifer, nicht unirte Orthodoxe sammt ihren Kirchen, Brüderschaften und Geistlichen innerhalb seiner Grenzen bestehen lassen, während Russland die Unirten bis auf ihre letzten Reste ausgerottet hat. Auf Befehl des Zaren durfte es keine Unirten mehr geben. Ihre Kirche wurde durch einen einfachen Ukas aufgehoben, als ob es sich um irgend eine Präfektur gehandelt hätte. Vom russischen Boden war die unirte Kirche also verschwunden; unter Alexander II. wohnten aber im Königreich Polen noch 260 000 Unirte, die ihre gesonderte Kirchenverwaltung hatten. Nach dem Aufstand von 1863 glückte es Mitulin und Tscherkassky im Herzen der lekitischen Polen einen Kern Ruthenen oder Malorussen zu entdecken, welche den griechischen Ritus bewahrt hatten. Hies war ein Anhaltspunkt für die Russificirungspolitik. Aber diese jenseits des Buy wohnenden, rings von Katholiken umgebenen Unirten, zeigten sich sehr anhänglich an Rom. Man ging ihnen daher nicht direkt zu Leibe. Der Graf D. Tolstoi nahm die ränkevolle Methode Protassovv's wieder auf. Diese letzten Unirten hatten einen Rom sehr ergebenen Bischof; dieser wurde zuerst entfernt. Zudem gab es Basilianermönche, die dem Schisma feindlich gesinnt sind, unter ihnen; ihr Kloster wurde geschlossen. Im beständigen Wechselverkehr mit den Katholiken hatten die Unirten von Chelm verschiedene, dem griechischen Ritus fremde Gebräuche in ihren Kirchen um sich greifen lassen; sie hatten Orgeln, Ministrantenglöckchen und Sitzbänke in den Gotteshäusern; sie trugen Skapuliere und Rosenkränze; alles dies wurde abgeschafft, indem man vorgab, den Ritus wieder in seiner Reinheit herzustellen. Nachdem so die Kirchen der Unirten den orthodoxen Zerkow's schliesslich bis zum Verwechseln ähnlich geworden waren, sagte man den Leuten: „Wir haben dieselben Kirchen, dieselbe Liturgie; darum müssen wir auch dieselben Geistlichen und denselben Glauben haben." Um diese Reinigung der Riten zu bewerkstelligen, hatte man aus Galicien ruthenische, russenfreundlich gesinnte Priester herberufen. Die Bauern beunruhigten sich wohl über alle diese Aenderungen, die ihnen als Neuerungen erschienen. „Wir wollen den Glauben unserer Väter behalten," sagten sie dem Generalgouverneur, einem Grafen Kotzebue. Man erwiderte ihnen, dass man ja eben den Glauben ihrer Väter wieder herstellen wolle. Die Peitsche der Kosaken brachte die Halsstarrigsten zum Schweigen. In vielen Ortschaften musste man das Militär zu Hilfe rufen, um die Orgeln und die Bänke aus den Kirchen wegführen zu können: in einigen Dörfern wurde sogar auf die Weiber, welche den Eingang ihrer Kirche ver-theidigten, geschossen. Nachdem so äusserlich alles gleich gemacht und die dem päpstlichen Stuhl ergebenen Priester entfernt worden waren, liess man 1875 durch von Geistlichen und Laien unterzeichnete Bittschriften um die Vereinigung mit der orthodoxen Mutterkirche nachsuchen. Manche dieser Unterschriften waren durch List oder durch Gewalt erlangt worden. Das Alles ging wie gehext. Wenn die Regierung die unirte Kirche aufheben wollte, so hätte sie doch ihre letzten Mitglieder zur römischen Kirche übertreten lassen können. Anstatt dessen wurden alle Unirten miteinander und ohne Unterschied in die Orthodoxie hineingetrieben. Diese ganze religiöse Eroberung wurde wie eine politische Annexion betrieben, und dabei wurde den Betroffenen nicht einmal das Recht gewährt, für diese oder jene Kirche zu optiren. Tausende von Unirten weigerten sich den officiellen Akt, der sie an die herrschende Kirche bindet, anzuerkennen. Man hat alle Buttel gegen sie angewandt, die Louvois seinerzeit gegen die Protestanten in Anwendung brachte und hat sie obendrein noch mit Kosakeneinquartirungen bedacht; und dies alles geschah Ende des neunzehnten .Jahrhunderts und unter einem Herrscher, der mit Recht für human und liberal gilt, Geldstrafen, Kerker, Geisselung, Einziehung des Vermögens, Deportation, Folter, Alles, mit alleiniger Ausnahme der Todesstrafe, wurde über sie verhängt. Die widerspenstigen Priester wurden abgesetzt und verbannt. Mehrere hundert Laien wurden nach den Grenzen Asiens, in die Provinzen Cherson und Orenburg deportirt, Diejenigen, welche sich nicht fügten, befinden sich heute noch dort, Oft wurden sogar die Familien getrennt; der Vater wurde hier, die Mutter dort und die Kinder wieder anderswo internirt. Der Grundbesitz der Rebellen wurde eingezogen und kam unter den Hammer. Die früheren Unirten. die im Lande \eiblieben sind, müssen Geldstrafen zahlen, wenn sie die orthodoxen Feste nicht mitfeiern und die vorgeschriebeneu Sakramente nicht von der Hand des Popen empfangen. Ihre Kirche ist abgeschafft und die katholische Kirche ist ihnen untersagt. Sie dürfen ihren Durst nach Wahrheit nur aus der staatlich beglaubigten Quelle stillen und nicht etwa aus der nächsten schöpfen; obgleich ihnen das Wasser der ersteren verpestet, dasjenige der letzteren vielleicht rein erscheint. Viele von ihnen verzichten deshalb auf jedes Sakrament. Einer meiner Freunde, ein orthodoxer Russe, sah wie ein Weib dem eigenen Kinde den Schädel an einer Mauer zerschellte, weil sie nicht wollte, dass es vom Popen getauft werde. Anderorts haben sich Eltern mit ihrem Kinde, das man mit Gewalt taufen wollte, durch Kohlengas erstickt. So ziehen auch viele das legale Concubinat der orthodoxen Wie vor. Sie lassen sich dann in der Fremde heimlich von einem galizischen Priester trauen; ihre Kinder bleiben Bastarde. Herr Pobedonoszeff constatirte ganz kühl, dass es allein im Gouvernement Siedice 2365 solcher „krakauer Ehen" gebe. Zudem wird an der östreichischen Grenze auf religiöse Contrebande sehr strenge gefahndet. Rom kann viel leichter Missionare nach dem Innern des chinesischen Reiches als in die Gegend von Chelm in Russisch -Polen schicken. Dennoch haben sich einzelne Priester dorthin gewragt; als Bauern oder Colporteure verkleidet, hörten sie Beichte und nahmen Trauungen vor, bald im Walde, bald in irgend einem andern Versteck; die meisten wurden aber entdeckt und ausgewiesen oder eingesperrt. Wenn die Polizei einen Unirten nur mit einem „Ksjondz" d. h. mit einem katholischen Priester reden oder in einer katholischen Kirche beten sieht, so kann der Priester sofort deportirt und die Kirche sofort geschlossen werden. So müssen die römischen Katholiken bei den Verfolgungen der Unirten mitbüssen. Früher kamen Ehen zwischen unirten Griechen und Katholiken sehr häufig vor; viele Unirte besuchten auch die katholische Kirche. Tausende waren von einem Ritus zum andern übergegangen. Seitdem die Unirten mit der Orthodoxie vereinigt sind, lingen aber die Popen an, nach Familien, welche zur lateinischen Kirche übergetreten waren, zu fahnden. Mit Hilfe der Kirchenbücher haben sie genaue Untersuchungen angestellt, und behaupten nun, dass alle Familien, die erst seit 1836 den griechischen Ritus verlassen haben, als zur orthodoxen Kirche gehörig zu betrachten seien. Es hält nun allerdings für die Betreffenden oft schwer zu beweisen, dass keiner ihrer Vorfahren zu tief in's Taufbecken (nach griechischen Ritus) eingetaucht worden ist. Bei der Thronbesteigung Alexanders III. schöpften die Unirten wieder neuen Muth. An manchen Orten, besonders in Biala, wiesen Ij e r o y-B e a u 1 i e u , Reich d. Zaren u. d. Russen. 30 viele, als sie dem neuen Zaren den Eid leisten sollten, die Assistenz des Popen zurück. Aber die Hoffnung dieser Unglücklichen erblasste rasch. Bis dahin hatten sie geglaubt, dass der Kaiser keine Kennt-niss von ihren Leiden habe. Herr Pobedonoszeff, der allmächtige „Oberprokuror," hat sie eines Besseren belehrt. Er hat die Gegend von Chelm bereist und an Ort und Stelle die Mittel studirt, womit man die Widersetzlichen bezwingen kann. Damit die Vereinigung der Unirten mit der Orthodoxie ihre richtige Weihe erhalte, musste sogar die Person des Zaren in die Sache hineingezogen werden. Im September 1888 begab sich Alexander III. feierlich in das Münster von Chelm. „Ew. Majestät Besuch — sprach der Erzbischof Leontius in seiner Anrede an den Kaiser — wird den orthodoxen Glauben in den Herzen der in den Schooss der Kirche zurückgekehrten Landeskinder befestigen. Das Volk ward mit seinen eigenen Augen sehen, dass dieser Glaube der Glaube seines Herrschers ist und dass es daran festhalten muss." So spricht der Klerus. Diese Bekehrer haben eben nur ein einziges Argument: sie suchen das Volk zu überzeugen, dass es zum Glauben seines Herrn und Kaisers zurückgeführt worden ist, und dass es sich nun nicht mehr davon entfernen darf. Die Unterdrückung der unirten Kirche konnte den Katholiken über das Schicksal, welches die drei Millionen Österreich-ungarischer Ruthe-nen zu gewärtigen hätten, sobald sie unter russische Herrschaft fallen würden, die Augen öffnen. Dies ist ganz dazu angethan,die römischeKurie gegen die Einführung orientalischer Riten und der slavischen Sprache in die katholischen Kirchen sehr misstrauisch zu machen. Es ist bekannt, dass die Kroaten, Slowenen und Czechen in ihrer Liturgie das Lateinische durch das Kirchenslavische ersetzen möchten. Leo XIII. hat auch den Montenegrinern diese Concession gemacht. Wenn der Vatikan aber zögert, auch andern Stämmen dasselbe Zugeständniss zu machen, so beruht dies wohl nicht zum geringen Theil auf seinen mit Russland gemachten Erfahrungen. Leute wie D. Tolstoi und Pobedonoszeff müssen im Vatikan die Furcht erwecken, dass das Kirchenslavische nur das Schisma, den endgiltigen Abfall von Rom vorbereiten soll. Wird Russland, welches seine letzten Unirten so schlecht behandelt, sich selber mit Rom vereinigen? Es giebt Katholiken und sogar Russen , die dies gar nicht für unmöglich halten. Es war dies nicht nur der Traum des grossen slavischen Patrioten, des Bischofs Strossmayer, auch ein Moskowite, Wladimir Solowieff, erblickte darin geradezu Russlands providenziellen Beruf. Ist es nicht die Be- Stimmung des Zarenreiches, das Abendland mit dem Morgenland zu verschmelzen und, wie Axakow und die Slavophilen es wollten, eine christliche, weder lateinische noch byzantinische, sondern wahrhaft öcumenische Kultur zu gründen? Russland „das dritte Rom", welches die beiden ersten in sich vereinigen wird. Es soll die acht- oder neunhundertjährige Mauer zu Falle bringen, welche die beiden Kirchen so lange getrennt hat. Nur so kann es die Weltmission erfüllen, die es sich so gerne zuschreibt. Die beiden Kirchen einander wieder nähern, hiesse nicht mit der slavischen Tradition brechen, sondern im Gegentheil dieselbe wieder aufnehmen; denn die heiligen Brüder Cyrillus und Methodius, deren tausendjährige Gedenkfeier die griechischen und lateinischen Slaven um die Wette feierten, hatten mit Rom in Verbindung gestanden; in Rom werden auch die Gebeine des heiligen Cyrillus noch heute aufbewahrt. Russland würden aus einer Vereinigung mit Rom politische und religiöse Vortheile erwachsen. Es wäre dies vielleicht das einzige Mittel, wodurch seine Kirche Würde und Unabhängigkeit erlangen könnte. Wäre es nicht das beste Mittel, die Polen und die westlichen Slaven an Russland zu ketten? Es wäre vielleicht die einzige Art, wie sich, wenn auch nicht die politische, so doch die moralische Einheit des Slavcnthums erzielen Hesse? Dies scheint so augenfällig, dass allein der Gedanke daran, die Gegner Russlands und des Panslavismus mit Angst und Schrecken erfüllen könnte. Man denke sich einen Vertrag zwischen Rom und Moskau, man denke sich den Papst mit dem Zaren Hand in Hand gehend, welch furchtbare Allianz! Doch die Feinde Russlands können sich einstweilen noch beruhigen. Der Pact zwischen Vatican und Kremel ist noch nicht geschlossen, die Religion ist nicht das einzige, was die Schlüssel Petri und den russischen Adler trennt. Der religiöse Streit, obgleich er durch das Unfehlbarkeitsdogma geschürt wurde, beruht übrigens weniger auf eigentlichen Glaubenssätzen, sondern mehr auf dem Jahrhunderte alten Hass, der im Volke so tief Wurzel geschlagen hat, dass die Staatskirche durch eine eventuelle Aussöhnung mit Rom nur den Raskol zu verstärken fürchtet. In dieser Beziehung gleicht die Orthodoxie dem Protestantismus, der Hass gegen das Papstthum wird von vielen Orthodoxen als die eigentliche Seele der morgenländischen Kirche betrachtet; die protestantischen Tendenzen eines Theiles des Clerus haben diesen anti-römischen Geist noch erstarken machen. Aber das hauptsächliche Hinderniss dieser Vereinigung liegt doch nicht in der Glaubenslehre, sondern in dem, was W. Solowieff den „Nationalismus" nennt, 36* in der Neigung alles Russische in den Himmel zu liehen und gegen BÜles, was irgendwie fremd erscheint, Front zu machen. Es schmeichelt dem exclusiven Nationalgefühl des Russen, auch durch die Religion vom Abendlande geschieden zu sein. Die Annäherung an das Abendland, die Peter der Grosse auf dem Wege der Civilisation angebahnt hat, wünscht der Russe keineswegs auf das Gebiet der Moral auszudehnen. Ihm scheint es, dass die Isolirtheit zur Grösse Russlands passe. Die römische Suprematie anerkennen — selbst unter Beibehaltung einer autonomen Kirche -- hiesse sich vor dem altersschwachen Abendlande, von welchem der Slave nichts mehr zu entlehnen braucht, neigen. WTenn Moskau dadurch auch die Einheit der Slaven bewerkstelligen könnte, so würde dies nur unter Verleugnung des eigentlichen Slaventhums geschehen. Man kümmert sich wenig darum, dass ein solcher religiöser Nationalismus dem ausgesprochen kosmopolitischen Geiste des Christenthums widerspricht: Bussland will alles in sich selbst sein, es betrachtet sich als eine Welt für sich, oder, besser gesagt, als den Schwerpunkt der zukünftigen Weltgestaltung, Es glaubt sich zur intellectuellen und politischen Hegemonie des Continentes berufen; darum passt es ihm wenig, in die katholische Einheit einzutreten und so zu einem Theil eines grösseren Ganzen zu werden. Es befrachtet sich lieber als ein einheitliches Ganze und will der eigentliche Erbe Christi, das „allerehristliebste" Volk an sich sein. Ein anderes Hinderniss bildet, neben der Vergötterung der Nationalität, die Vergötterung des Staatsgedankens. Der Staat ist ein eifriger Gott, der keine anderen Götter neben sich duldet. Das, was in den Augen des Denkers die Ueberlegenheit der katholischen Kirche ausmacht, was sie gewissermassen, gegen ihren eigenen Willen, freisinnig erscheinen lässt, besteht darin, dass sie der Allmacht des Staates, dieses hauptsächlichsten Tyrannen der modernen Gesellschaft, Grenzen setzt. Dies genügt um sie bei der Selbstherrschaft ebensowohl wie bei der Demokratie verdächtig zu machen. Die Zaren brauchen eine Kirche, die sie, wie den Reichsapfel, in der Hand halten können. Die russischen Selbstherrscher sind keineswegs geneigt, ihre Nationalkirche einer fremden Autorität unterzustellen und die Macht, welche sie im Laufe der Jahrhunderte über ihren Clerus erlangt haben, einzubüssen oder mit einer andern Macht zu theilen. Zwischen Autokratie und Papstthum, zwischen dem, was die Katholiken den Caesaropapismus der Zaren nennen und der cosmopolitischen Autokratie der Päpste muss naturgemäss Antipathie, um nicht zu sagen eine vollständige Unverträglichkeit bestehen. Beide Mächte dehnen ihre Gewalt viel zu weit aus, als dass sie nicht beständig mit einander in Conflikt kommen sollten. So lange das Selbstherrscherthum besteht, ist jedes Bündniss zwischen Russland und dem päpstlichen Stuhl schwierig, andererseits aber konnte ein solches auch wieder nur durch einen allmächtigen Willen zu Stande kommen. Die Politik beherrscht im Orient alle kirchlichen Fragen. Darum wird der Staat, welche Gestalt auch die Civilgewalt annehmen möge, niemals freiwillig seine Autorität über den Clerus aufgeben. Eine „autocephale" Nationalkirche wird immer gelehriger sein als eine mit Rom vereinte Kirche. In Rumänien, Serbien und Bulgarien und sogar in Griechenland liegen die Sachen ganz gleich wie in Russland. Im ganzen Orient ist das Hinderniss, welches sich der Verbindung mit Rom entgegenstellt, mehr politischer als religiöser Natur. Der Hierarchie kann man leicht beweisen, dass sie nur dann vollständig vom Staate unabhängig sein wird, wenn sie ihre kirchliche Selbständigkeit aufgiebt Um aufrecht vor dem Zaren oder dem Könige zu stehen, müsste sich der Clerus vor dem Papste neigen; aber wenn die orthodoxe Geistlichkeit dies auch einsehen könnte, so würde ihr die Regierung — ob autokratisch ob Constitutionen — doch kaum freie Wahl lassen. Der vorzüglichste Vortheil, den der (Jurist in der „Union" fände, die Unabhängigkeit seiner Kirche, muss dem Politiker unbequem erscheinen; denn er zieht es vor, die Kirche in Abhängigkeit zu sehen. Viele Russen fürchten sich vor der „Union" nur darum, weil dadurch Russland dasjenige erlangen würde, was ihm so viele Jahrhunderte gefehlt hat, eine geistliche Gewalt. Dieselbe Gesinnung findet sich bei den kleinen Orientstaaten. Bulgaren, Rumänen und Griechen würden nicht immer vor dem Gedanken zurückschrecken, sich dem Abendlande zu nähern und mit Rom Frieden zu schliessen. Ja es giebt Augenblicke, wo sie gerne das religiöse Band, das sie an Russland knüpft, brechen würden, um den moskowitisehen Einfluss im Orient zu schwächen. Nur die Furcht, eine mit dem Staate rivalisirende Macht aufkommen zu lassen, hält sie davon zurück. In diesem Sinne könnte man sagen, dass die Stärke der orthodoxen Kirche auf ihrer Schwäche beruht. Die Völker und Regierungen geben ihr den Vorzug, weil sie keine Furcht vor ihr haben. Drittes Kapitel. Nichtchristliche Kulte. — Die Juden: ihre grosse Anzahl. Verschiedene Ge-sichtspunkte der Juden frage. Antisemitische Wirren. Wie diese nicht immer ursprünglich vom Volke ausgegangen. — Kussische und polnische Juden. Ihre Sitten, ihre Frömmigkeit, das jüdische Leben. — Gesetzliche Stellung der Israeliten. Beschränkung ihrer bürgerlichen Rechte. Verbot im Innern des Reichs zu wohnen. Verbot Ländereien zu pachten oder zu kaufen. Verbot auf dem Lande zu wohnen. — Die Juden und die Handarbeit. Die Juden und die städtischen Gewerbe. Beschränkungen, den Handel mit geistigen Getränken betreffend. Beschränkungen der Zahl der zu den höheren Schulen und den Universitäten zugelassenen Juden. — Folgen dieser Ausnahmegesetze. Wie sie ihren Zweck verfehlen. Der russische Westen und der jüdische Parasitismus. Vortheile der Judenemancipation unter nationalen und ökonomischen Gesichtspunkten. — Die Mohamedaner. Widerstandsfähigkeit dos Islam in Europa und Asien. Gesetzliche Lage und religiöse Organisation der Mohamedaner des Reiches. Die orthodoxe Propaganda und der Islam. — Die Buddhisten. Das Zurückgehen des Buddhismus in Europa. Wie er sich in Asien zu halten sucht Die Lamas und die christliche Propaganda. Geringer Einfluss des Buddhismus auf den russischen Geist. Das russische Gebiet war unter den ersten Nachfolgern Peters des Grossen den Juden noch verschlossen: heute zählt Russland mehr Juden als irgend ein anderer Staat. Dies ist eine Hinterlassenschaft Polens, das gegen Ende des Mittelalters der Mittelpunkt von Israel geworden war. Vielleicht die Hälfte aller Juden des Erdballs sind Unterthanen des Zaren. Es giebt deren im Reiche drei bis vier, nach einigen sogar fünf Millionen. Ihre wirkliche Anzahl ist unbekannt; die Angaben der Statistik sind nicht stichhaltig. Es giebt entschieden mehr Israeliten in Russland als Schweizer in der Schweiz oder Holländer in den Niederlanden. Diese vier Millionen Juden sind nicht über das Reich zerstreut. Die Juden sind im Verhältniss zu den Christen, in deren Mitte sie wohnen, um so zahlreicher, weil die grösste Mehrzahl der Sohne Abrahams in den früher polnischen Provinzen und zwei oder drei benachbarten „Guberuien" eingepfercht ist. In diesen westlichen Provinzen giebfs manchmal 15, 20, ja sogar 25 Proccnt Juden. Da sie meistens in den Städten und Flecken wohnen, so stellt sieh dieser Procentsatz für die Stadtbevölkerung noch bedeutend höher. In vielen Städten Polens, Litthauens und Kleinrusslands sind die Juden in der Mehrzahl. Manche Flecken und selbst Städte von 20,000, 30,000 und 50,000 Einwohnern, wie z. B. Berditseheff und Balta sind schmierige Jerusalems, wo sich die einzelnen Christen unter den Söhnen Jacobs geradezu verlieren. Da die Juden hier zahlreicher sind als irgendwo anders, und da sich die Regierung darauf steift, sie in einem gewissen Gebiet zu cantonniren, so musste sich die Judenfrage in Russland brennender gestalten als in jedem andern Lande. Aber auch hier, wie in Deutschland, in Oesterreich-Ungarn, in Rumänien und selbst in Algier ist diese Frage mehrseitig; man kann sie unter drei hauptsächlichen Gesichtspunkten betrachten, deren relative Wichtigkeit nach den verschiedenen Ländern variirt. Es ist zugleich eine religiöse, eine nationale und eine wirtschaftliche Frage. In Russland wie im übrigen Europa bilden gegenwärtig religiöse Antipathien den geringsten Factor des Antisemitismus. Wenn auch die Volksbewegungen gegen die Israeliten meistens zur Osterzeit zum Ausbruch kommen, so hasst das Volk im Juden doch viel weniger den Nichtchristen, als den Fremdling und den schamlosen Ausbeuter seiner Arbeitskraft, Europa hat die Judenkrawalle, welche die ersten Regierungsjahre Alexanders III. entehrten, noch nicht vergessen. Diese wilden Scenen waren nichts Neues. Der Jude hat, so lange er die Ufer des Dniepr und des Niemen bewohnt, allzusehr beim Volke verhasste Gewerbe ausgeübt, als dass er sich nicht mit dem Erbhass der Nation hätte beladen sollen. Unter der polnischen wie unter der russischen Herrschaft war der Jude das traditionelle Werkzeug jeder öffentlichen oder privaten Vollstreckung. Er war der Mühlstein, unter welchen der Edelmann oder der Staat das Volk zermalmte. Noch heutzutage ist der Jude in Kleinrussland der indirecte Agent des Fiscus. Wenn in den Dörfern der Stanowoi ein Stück Vieh eines rückständigen Steuerzahlers zu verkaufen kommt, so bringt er gleich den Juden mit. Zu diesem hundertjährigen Hass gegen den Pächter der Fiscal- oder Seigneurialrechte kommt noch der Groll des zahlungsunfähigen Schuldners gegen seinen Gläubiger und der Neid des Händlers gegen seinen geschickteren oder glücklicheren Concurrenten, ganz abgesehen von der herben Verachtung, welche die Volksmassen einer Rasse, die sich von jeher allen Arten von Erpressungen gewidmet hat, entgegenbringen müssen. Trotz diesen vielfachen Keimen des Hasses scheinen die antisemitischen Krawalle beim Beginn der Regierung Alexanders III. keineswegs ein directer, spontaner Ausbruch der Volkswuth gewesen zu sein. Der Aufstand gegen die Juden war zum Theil ein Rückschlag der antisemitischen Bewegung in Deutschland. Was in dem einen Reiche auf Zeitungsartikel und Wahlbewegungen beschränkt blieb, das artete im andern zu offener Gewalt gegen Eigenthum und Personen aus. Auch die russische Presse hatte einen Feldgzug gegen die Juden eröffnet; denn den russischen Patrioten bereitet dieser fremde, im heimischen Fleische steckende Pfahl gar viele Schmerzen. Der Fall war um so schwerwiegender, als der Angriff von solchen Blättern ausging, welche direct unter der Regierung standen, oder doch die Censur zu passiren hatten. Es war einige Monate nach dem tragischen Ende Alexanders IL; das aufgeregte Russland suchte instinctiv nach einem Sündenbock. Einige junge Israeliten beiderlei Geschlechts hatten an den Verschwörungen gegen den Zaren Theil genommen. Die Presse überlieferte den „krätzigen, räudigen" Juden dem Zorne der Volksmassen. Das Volk liess an ihm zu gleicher Zeit seine patriotische Rachsucht und seinen Privathass aus. Die entnervte und von dem Gespenst unzähliger Complotte verfolgte Regierung liess es geschehen oder schloss die Augen. Man hätte sagen können, die Männer, welche die Macht in den Händen hatten, seien glücklich gewesen, in diesen Stunden der Bedrängniss eine Ablenkung der politischen Unruhen und der terroristischen Verschwörungen gefunden zu haben. In vielen Städten fanden die Judenkrawalle an festgesetzten Tagen, in ähnlicher Weise , um nicht zu sagen nach demselben Programme statt. Die Sache fing mit der Ankunft der Agitatoren an, die mit der Eisenbahn zugereist kamen. Oft wurden sehen am Tage zuvor Placate angeklebt, worin die Juden als Förderer des Nihilismus und als die eigentlichen Mörder des Kaisers Alexander II. bezeichnet wurden. Um die Massen zum Aufstand zu bewegen, lasen die Agitatoren auf öffentlichen Plätzen und in den Schenken antisemitische Zeitungen vor und stellten dem Volke die Artikel als wahre Ukase dar, worin befohlen sei, die Juden zu schlagen und zu plündern. Sie versäumten auch niemals zu bemerken, dass diese Ukase nur darum nicht veröffentlicht worden seien, weil die Juden die Behörden bestochen hätten. Dies ist ein Köder, auf welchen das Volk fast immer anbeisst, besonders wenn es dabei seine Begierden und seine Rachsucht befriedigen kann. Und wirklich verbreitete sich überall das Gerücht, der Zar hätte gestattet, die Juden drei Tage lang zu brandschatzen. In vielen Ortschaften war die Sorglosigkeit der Polizei und die Gleichgültigkeit der Behörden, gewissennassen auch die Theilnahmlosigkeit der Truppen, welche, die Waffen im Arm, gemüth-lich der Plünderung der Judenviertel zusahen, ganz dazu an-gethan, diese Legende zu bestätigen, besonders bei einem Volke, das, wie G. Samarin sagt, der Regierung nur dann Glauben schenkt, wenn sie Gewalt braucht.1) Mehr als einmal wurden die Juden, die ») Siehe Bd. I, Buch VII, Kap. IL sich zu vertheidigen suchten, arretirt und entwaffnet; diejenigen, welche vor ihren Hausthüren mit dem Revolver in der Hand Wache zu halten wagten, wurden wegen widerrechtlichen Waffen!ragens verfolgt, Es gereicht der Mehrzahl der Mitglieder der orthodoxen und katholischen Geistlichkeit zur Ehre, dass sie , im Gegensatz zu den weltlichen Tschinowniki, die meuterischen Massen zu beruhigen suchten. Einige suchten die Plünderer dadurch aufzuhalten, dass sie sich mit den Heiligenbildern ihnen entgegenwarfen. Manche Rabbiner und Zaddiks fanden unter dem Dach der Popen Schutz. In vielen Städten und Flecken durfte man mehrere Tage lang straflos auf die Juden Jagd machen. „Alles in Allem haben sie einen kleinen Denkzettel wohl verdient", sprachen gewisse Beamte ganz laut und offen. In Kiew wohnten die Civil- und Militärbehörden der Verwüstung der jüdischen Häuser bei, als ob es sich um ein Schauspiel handle; die Soldaten schienen die Meutererbanden zu escortiren. Balta, eine Stadt von 20,000 Einwohnern, wovon die grosse Mehrzahl Juden sind, wurde wie eine eroberte Festung dreissig Stunden lang der Plünderung preisgegeben. Von über tausend Judenhäusern blieben kaum vierzig verschont. Im Gegensatz zu diesen Vorgängen rührte sich da, wo sich die Behörden entschlossen zeigten, das Volk nicht. So genügte in den nordwestlichen Gouvernements, wo die Juden am zahlreichsten sind und wo sie eigentlich am meisten Hass erwecken sollen, eine einfache Erklärung des Gouverneurs, des Generals Todleben, worin er kundthat, dass er keine Wirren dulden werde. Man wusste, dass der Held von Sebastopol sein Wort zu halten pflege, und der Antisemitismus verhielt sich ruhig. In den südwestlichen Provinzen waren die Juden der Volksrache preisgegeben; es kamen herzzerreissende Scenen. vor. Die Häuser, welche nicht mit einem Kreuze bezeichnet waren, wurden von der Menge erstürmt. Man schlug die Tinnen ein, zertrümmerte die Schaufenster der Läden und alles Holzwerk; die Möbel Wurden zu den Fenstern hinausgeworfen, das Gesehirr zertrümmert, die Wäsche zerrissen, alles mit einer halb kindischen, halb wilden Zerstörungswut!]. Besondern Spass fand der Pöbel daran, die Federbetten auszuleeren ; ganze Wolken von Flaum und Federn flogen in den Strassen herum. An vielen Orten überwog die blinde Zerstörungswut!] die - Raubgelüste der Menge. Bauern, welche mit Karren vom Lande hereingekommen waren, um ihren Beutetheil gleich nach Hause zu führen, wurden von den Meutern in diesem Geschäft gestört. In einigen Flecken demolirte man, nachdem die Möbel zertrümmert waren, auch noch die Häuser, hob die Fussböden aus und die Dächer ab und liess nichts als die nackten Mauern stehen. Die Wuth des Volkes verschonte weder die Synagogen noch die Friedhöfe. Mit besonderin Vergnügen wurden die Gräber entweiht und die Rollen der Thora besudelt und geschändet. Natürlich hatte sich die Menge zuerst auf die Schenken und die Verkaufsstellen von geistigen Getränken geworfen. Die Fässer wurden eingeschlagen; der Schnaps floss auf den Strassen; auf dem Bauche liegend besoffen sich die Leute in der Gosse. An manchen Orten gaben die Weiher in ihrem Freudentaumel zwei- und dreijährigen Kindern Schnaps zu trinken, damit sie sich immer an diesen schönen Tag erinnern möchten. Andere Mütter führten ihre Kinder zu den zerstörten Judenhäusern und sprachen: „Denket an das, was den Juden widerfahren ist." Die Wuth der Menge richtete sich mehr gegen das Eigenthum als gegen die Personen; vielleicht wollte man die Juden dadurch gerade an ihrer verwundbarsten Stelle treffen. Viele.Juden wurden misshandelt, manche zu Krüppeln gehauen, einzelne starben auch an den Folgen; aber fast kein einziger wurde auf dem Platze getödtet, keiner gelyncht, zerrissen. Was bei anderen, sogenannten civilisirteren Völkern als eine reine Unmöglichkeit erschienen wäre, das geschah hier; es floss kein Blut. Die Menge gebärdete sich barbarisch, aber nicht blutdürstig. Es fand kein Gemetzel statt; dies mag an dem von Natur gutmüthigen Charakter des Volkes liegen, vielleicht auch trugen die Meuterer Scheu, den vorgeblichen Ukas des Zaren zu überschreiten, da dieser nur befahl die Juden zu plündern und zu schlagen, nicht aber sie zu tödten. Mitten unter diesen Schreckens-scenen konnte man noch einzelne Züge der angeborenen Gutherzigkeit und zugleich der Leichtgläubigkeit der Russen beobachten. Im Dorfe (Mechow überfielen die Bauern eine arme Judenwittwe, die ihnen ihr Leid klagte und um Gnade bat. Die Mushiks, die sich keines Ungehorsams gegen den Zaren schuldig machen wollten, wagten es nicht, die arme Frau ganz unbehelligt zu lassen, darum zerbrachen sie ihr wenigstens die Fensterscheiben, „um ihre Pllicht zu thun," wie sie sagten.1) So sanft und gelehrig auch ein Volk erscheinen mag, diejenigen, welche seine Wuth entfesseln, wissen nie, wie weit sich die Massen hinreissen lassen. Die Behörden, die zuerst durch die Finger gesehen hatten, fingen an zu fürchten, die ursprünglich nur gegen die jüdischen Händler gerichtete Bewegung könnte sich auch gegen n Russkii Ewrei, 25. .Juni 1881. andere Klassen, gegen den Adel, die Gutsbesitzer, die Beamten kehren. Der Antisemitismus drohte in eine rein socialistische Bewegung auszuarten. Die terroristische Partei suchte diesen aus purer Loyalität entsprungenen Wirren eine revolutionäre Wendung zu geben. Es kam mir ein in kleinrussischer Sprache abgefasstes Rundschreiben zu Gesicht, worin dem Volke dargethan wurde, der Jude sei nicht der einzige Bedränger; Zweck des Aufrufes war, die Wuth der Massen gegen die Polizei und die Tschinowniki zu lenken. Es war Zeit, dass wieder Ordnung geschaffen wurde. Von den Patrioten wagten einige, die, wie Katkow, keineswegs als Semiten-freunde gelten konnten, den Schutz der Gesetze für die Juden anzurufen. Der Leiter der „Moskauer Zeitung" fühlte wohl, dass es nicht möglich sei, in einem grossen Reiche eine ganze Rasse und einen Kultus einfach zu proscribiren. Endlich entschloss sich die Centraibehörde zu interveniren. Die Anstifter der Wirren wurden gefangen genommen; die meisten allerdings bald wieder in Freiheit gesetzt Die Mehrzahl der Haupträdclsführer liess man entwischen. Die verhängten Strafen waren nur unbedeutend, manchmal lächerlich gering, und dies in einem Lande, wo man die Bauern, trotzdem dass die Todesstrafe abgeschafft ist, bei der geringsten Meuterei einfach aufzuhängen pflegt. Die eigentliche Strafe ging aus den Wirren selbst hervor. Da die Juden ruinirt oder doch für den Augenblick verschwunden waren, so fehlte es an Käufern für die Feldfrüchte, diese mussten also zu Schleuderpreisen verkauft werden, während in den Städten, wo die Läden zerstört und die Kauileute entflohen waren, die Lebensmittelpreise unverhältnissmässig in die Höhe gingen. Die russischen und polnischen Juden sind von den französischen Israeliten sehr verschieden. Höchstens die elsässer Juden könnten uns ein Bild von ihnen geben. Nur eine kleine Zahl von ihnen hat sich die moderne Cultur angeeignet. In compakten Massen zusammen lebend bilden die Juden in Weiss-, Klein- und Neurussland ein Volk im Volke. Sie sind nicht nur eine Confession, sondern ebensosehr eine eigene Nationalität. Sie unterscheiden sich durch alle ihre Lebensgewohnheiten von den Christen. Sie tragen ihr National" kostüm, den langen Kaftan oder Leviticus, der auf allen mitteleuropäischen Märkten bekannt genug ist. Sie sprechen ihre eigene Sprache, den „Jargon", ein verdorbenes, mit hebräischen Worten ; untermischtes Deutsch. Sie besitzen ihre eigene Literatur, ihre Zeitungen in russischer, deutscher und hebräischer Sprache ; manchmal haben sie auch eigene Theater und eigene Schauspieler. Mit Ausnahme einer kleinen Elite, die äusserlich die Lebens- weise der gebildeten Europäer führt, beobachten diese Millionen Abrahamssöhne strikt das mosaische Gesetz. Sic hängen nicht weniger an ihrer Religion und an ihren Riten, als die umwohnenden, orthodoxen oder katholischen Bauern. Viele, sogar manchmal die Aermsten, benutzen ihre Messeständen zum Studium der Thora und des Talmud. Neben der „Schule" oder Synagoge, die sie fleissig besuchen, hauen sie noch schmutzige Bot- und Lehrhäuser, die mjeschtschanim oder beth-hamidrasch heissen. Wie man anderwärts Spiel- oder Musikvereine gründet, so bilden sie in den Städten des Westens Vereine, deren Zweck darin besteht, gemeinsam die hebräischen Bücher zu lesen und zu erklären. Tn Wilna, das in Litthauen den Ehrentitel „Mutter in Israel" führt, bestanden unlängst über zwanzig „Chewroth-Poalim" oder israelitischer Arbeitervereine, die alle ihre eigenen „Klausen" oder Kapellen besassen. Die Metzger von Wilna unterhalten überdies noch eine „Jeschiba" (höhere Tal-mudschule), die von ungefähr hundert „Bochurim" (Jünglinge, Talmudstudenten) besucht wird. Aehnlich verhält es sich in Warschau, Berditscheff und den andern Centren des jüdischen Lebens. Diese frommen Vereinigungen werden von der den Juden wie den Christen eigenthümlichen Idee getragen, dass ein gemeinschaftlich von mehreren Personen verrichtetes Gebet mehr Wirkung habe. Gewöhnlich wird in Gruppen oder „Minjaniin" gebetet, jeder Minjan zählt wenigstens zehn Erwachsene männlichen Geschlechts; denn bei den Juden, wie bei den Mohamedanern scheint die Religion; oder besser gesagt, die Frömmigkeit, mehr Sache der Männer als der Frauen zu sein. Die Mitglieder jedes Minjan kommen dreimal täglich zusammen; dabei tragen sie ihre Betbeutel, welche den „Tephilim" (Gebetsriemen) und den „Taleth" (Gebetsmantel) enthalten. Im Sommer versammeln sich die Eifrigsten schon bei Tagesanbruch, um drei Uhr Morgens, zum ersten Gebet. Jede „Chewra" (Verein) hat ihren eigenen „Maggid" (Vorleser, Prediger) den sie auf eigene Kosten unterhält, Manche dieser Religionslehrer der verschiedenen Grade, „Maggid" (Prediger), „Raw" (Rabbi), „Talmid" (Schüler, Talmudstudent) leben, wie früher alle Rabbiner, noch heute von ihrer Hände Arbeit. Die aus den officiellen Schulen hervorgegangenen, von der Regierung ernannten oder bestätigten Rabbiner gemessen oft nur geringes Vertrauen. Die grössten Fanatiker unter den Juden, die Kabbalisten oder „Chassidim" (geistig fromme) haben überdies noch ihre „Zaddik", eine Art israelitischer Marabus, die sie mit abergläubischer Verehrung umgeben und mit den Gaben ihrer Leichtgläubigkeit bereichern. So blüht das jüdische Leben mit seiner eigenthümlichen, aus zwanzig Jahrhunderten der Abgeschlossenheit hervorgegangenen Kultur, in den schneeigen (Jeülden des Nordens, durch die Abneigung und Verachtung der „Gojim" vor allen äusseren Einflüssen beschützt. Neben dem christlichen Mittelalter giebt es in Russland noch ein jüdisches Mittelalter mit all seinen Traditionen und Gebräuchen der alten Ghetto's. Dieses Leben „more j udaico" führen die drei oder vier Millionen Juden ganz ebenso unter dem schwarzen, russischen, wie früher unter dem weissen, polnischen Adler. Sie besitzen ihre Friedhöfe und ihre Synagogen, die oft an Glanz und Reichthum mit den orthodoxen Kathedralen wetteifern; sie haben ihre eigenen Schlächtereien für das „koschere" Fleisch und ihre Bäder, wo sie und ihre Frauen sich den gesetzlichen Reinigungen unterziehen können. Sie besitzen ferner ihre eigene Gemeindeorganisation und sie dürfen sogar bei ihren Religionsgenossen gewisse Taxen erheben, die zum Unterhalt ihrer Gründungen bestimmt sind. Ihr Kultus darf so frei ausgeübt werden, wie jeder andere Ritus. Das Gesetz legt ihnen nur dieselben Beschränkungen auf, wie den übrigen Dissidenten: sie dürfen keine Proselyten machen und sich dem orthodoxen Bekehrungseifer in keiner Weise widersetzen. Im Jahre 1887 wurden in Warschau ein Vater und eine Mutter gesetzlich verfolgt, weil sie ihre Tochter, eine Frau Lysakow, dem orthodoxen Glauben abspenstig zu machen suchten. Im selben Jahre wurde in Charkow ein alter Jude, Namens Tichtenstein, arretirt, weil er einmal, nachdem er sich früher schon hatte taufen lassen, wieder eine Synagoge besucht hatte. Es vergeht kaum ein Jahr ohne ähnliche Prozesse. Solche Dinge, die überall unerhört scheinen würden, sind in Russ-land ganz gewöhnlich. Es ist dies hier das allgemeine Recht, und die Gerichte bringen die Gesetze bei Juden, Protestanten und Katholiken in gleicher Weise zur Anwendung. Wenn die Juden auch religiöse Freiheit gemessen — soweit diese überhaupt mit den russischen Gesetzen verträglich erscheint — so besitzen sie doch weder bürgerliche Freiheit noch Gleichberechtigung. Die jüdischen Unterthanen des Zaren sind speciellen Gesetzen unterworfen, die theils aus religiösem, theils aus nationalem und wirthschaftlichem Misstrauen hervorgegangen sind. Diese äusserst complicirte Gesetzgebung umfasst über tausend Artikel, die in den fünfzehn Bänden des Swod Sakonow, des russischen Corpus juris zerstreut sind. Diese immer wieder umgeänderten Gesetze bilden gegenwärtig ein fast unentwirrbares Chaos. Sie sind im Reiche nicht gleich, wie im alten Königreich Polen, wo den Juden noch die polnische Toleranz und die französischen Ueberlieferungen des Grossherzogthums Warschau zu Gute kommen. Zu diesen Gesetzen kommen noch die ministeriellen Erlasse und die geheimen Kundschreiben, welche sie vervollständigen und modiliciren, sie bald mildern und bald verschärfen. Seit länger als einem Jahrhundert ist in Folge der Theilung Polens die Judenfrage in Russland eine schwebende und Russland hat sie bis jetzt noch nicht zu lösen vermocht. Die Zusammenhanglosigkeit der gegenwärtigen Gesetzgebung wird von allen anerkannt; jede Regierung verspricht sie umzuarbeiten: Alexander III. hat nach Alexander II. diese Keform einer Commission zum Studium überwiesen, die jahrelang unter dem Vorsitz des Grafen Fahlen tagte. Man hat 1888 verkündet, dass ihre Arbeiten beendet seien; mögen sie sich nicht auf* die Anhäufung eines Berges von Material beschränken, sondern der Frage eine, eines grossen Reiches würdige Lösung geben. Die Juden werden heute als Fremdlinge behandelt; oder, besser gesagt, man betrachtet sie als Inländer, wenn es sich um Pflichten, als Ausländer, wenn es sich um Rechte handelt. Dieses Princip ist wohl in der Gesetzgebung nicht ausgesprochen, aber der Gesetzgeber hat immer von diesem Gesichtspunkte aus verfahren. Die Juden müssen sich gesetzlich allen Lasten und Pflichten der Nationalrussen, den Steuern und dem Militärdienst unterziehn; aber die vollen Bürgerrechte sind ihnen vorenthalten. Die ursprünglichste, primitivste aller Freiheiten, diejenige des freien Domicils und der Freizügigkeit, existirt für den Juden nicht. Er darf sich nicht aufhalten wo er will: das Recht in allen Theilen des Reiches zu wohnen und zu reisen, das allen andern Unterthanen des Zaren zugestanden wird, ist den vier Millionen Israeliten vom Gesetz vorenthalten. Nur das alte Polen und einige benachbarte Gouvernements von Klein- und Neurussland sind den Juden erschlossen. Diese Gegenden gleichen einem ungeheuren Ghetto, in welchem die Juden strenge eingeschlossen sind. Das ganze übrige Reich, das heisst ganz Grossrussland, das ganze alte Moskowien, fast alle russischen Besitzungen in Europa und in Asien sind ihnen verschlossen. Von diesem Gesetze ausgenommen sind nur einzelne Bevorzugte, die nur eine verschwindende Minderheit ausmachen. Es scheint, dass die Zaren das heilige Russland dadurch, dass sie die Juden in den alten polnischen Provinzen, da, wo sie dieselben schon vorgefunden hatten, internirten, vor dem israelitischen Aussatz, vor der Judenpest bewahren wollten. Da man die Juden als eine Pest betrachtete, hat man sie in die westlichen Provinzen, wie in ein Lazareth eingesperrt. Auch innerhalb des Kreises, in welchen sie cantonnirt sind, giebt es noch Städte und Ortschaften, wo die Juden nicht wohnen dürfen. So ist es ihnen seit 1858 verboten, näher als fünfzig Werst an die preussische oder östreichische Grenze heranzurücken. Dieses Verbot, das durch die Furcht vor jüdischen Schmugglergeschäften hervorgerufen wurde, konnte nicht lange in der Praxis aufrecht erhalten werden; aber rechtlich besteht es immer noch und wird manchmal mit einer Strenge gehandhabt, die um so härter erscheint, da seine Bestimmungen ausser Uebung gekommen scheinen. In einigen Gegenden liess man die Juden sich ruhig in diesem Grenzrayon ansiedeln und vertrieb sie dann plötzlich wieder durch eine administrative Verordnung. So im Jahre 1881 in Wolhynien. Hier brachte die Ausweisung tausende von Familien ins Verderhen. Und dennoch war diese Ausweisung keine vollständige. Die Armen wunden unbarmherzig vertrieben, die Reichen verbargen sich. Es verhält sich natürlich mit den Juden ebenso, wie ehedem mit den Raskolniks, die Ausnahmebestimmungen machten sie einfach der Polizei tributpflichtig. Israel ist für den „Isprawnik" oder den „Sta-novvoi" eine leichte Beute. Der Jude ist vom Gesetz wie von einem starken Netz umgeben, aus welchem er nicht entschlüpfen kann. Auch der Geschickteste ist niemals sicher, vor dem Gesetze rein dazustehen; die Polizei kann ihn immer irgendwo fassen. Dies ist so wahr, dass die Tschinowniks und die ganzen Verwaltungsbehörden sich gegen die Judenemancipation sperren, weil es in ihrem Interesse liegt, den Juden in diesem Netz von Gesetzen und Bestimmungen festzuhalten. Im Herzen der den Juden angewiesenen Gegenden selbst nimmt die Metropole Westrusslands, die heilige Dnieprstadt, Kiew, das Recht für sich in Anspruch, „diesen Judenhunden" verschlossen zu bleiben. Nur einzelne, ganz bestimmten Klassen angehörende Juden dürfen sich daselbst aufhalten; und auch diese dürfen nur in einer Vorstadt wohnen. Die durch die Anwesenheit von Juden in Kiew hervorgerufenen Rechtsstreite könnten viele Bände füllen. Vor einigen Jahren, als ich Russland bereiste, war ein Jude aus Odessa in einem der ersten Hotels von Kiew abgestiegen. Sobald der Gastwirth den Pass des Fremden gesehen hatte, der, wie es für alle Juden obligatorisch ist, die Bemerkung „Hebräer (Ewrei)" aufwies, warf er den Ankömmling auf die Strasse. Kiew rühmt sich jährlich mit verschiedenen solchen Judenaustreibungen. Diese Gesetze über das Aufenthaltsrecht der Juden geben zu den auffälligsten Unregelmässigkeiten Anlass, Sie stellen den Juden noch unter den Verbrecher; denn diesem sind gewisse Städte, und besonders die Hauptstädte nur für einige Jahre nach Verbüssung seiner Strafe verschlossen. Allerdings gestattet der Gesetzgeber wenigstens einigen dieser Darias des Deiches, sich in den inneren Provinzen aufzuhalten. Ks sind dies einerseits die Juden, welche ein Universitütsdiplum, irgend einen akademischen Grad besitzen, andererseits die Kaufleute der ersten Gilde, das heisst diejenigen, welche eine sehr hohe Gewerbesteuer bezahlen. Dieselbe Vergünstigung wird den in eine Gewerkschaft eingetragenen Handwerkern gewährt, aber nur für einen vorübergehenden, zeitweiligen Aufenthalt. Aber wenige machen Gebrauch davon; denn sie wagen es nicht, sich in Städten niederzulassen, wo sie beständig mit Ausweisung bedroht sind. Ein israelitischer Künstler oder Gelehrter, der kein Diplom besitzt, kann rechtlich nicht in den Hauptstädten wohnen. Wenn man das Gesetz wörtlich nimmt, so hat z. B. der grösste russische Bildhauer, Anto-kolsky, correspondirendes Mitglied des „Institut de France", nicht das Hecht in Petersburg zu wohnen. Es ist nur natürlich, dass die Israeliten den Bing, in welchen man sie einpferchen will, zu durchbrechen suchen. Dabei müssen sie manchmal zu den wunderlichsten Mitteln greifen. Hier nur zwei Beispiele. Ein junger Mann, dem sein Doctortitel freies Aufenthaltsrecht gewährte, musste, um seine alten Eltern bei sich in Petersburg haben zu können, seinen Vater als seinen Diener und seine Mutter als seine Köchin anmelden. Ein junges Mädchen, das nach Moskau gekommen war, um die Stenographie zu erlernen, konnte sich nur dadurch vor Ausweisung schützen, dass sie sich als öffentliche Dirne einschreiben liess; denn nur die prostituirton Jüdinnen dürfen im Reiche wohnen wo sie wollen. Sie wurde aber bald darauf doch ausgewiesen, weil sich bei einer ärztlichen Untersuchung herausstellte, dass sie thatsächlich das Gewerbe, welches ihr den Aufenthalt in der Hauptstadt ermöglichte, nicht ausübte. Zu wieviel Missbräuchen solche Bestimmungen führen müssen, ist leicht ersichtlich. Glücklicherweise wird in Bussland die Strenge der Gesetze durch die Käuflichkeit der Beamten gemildert. Die Willkür schwächt ihre Härte. Die Polizei gewährt den Gemassregelten — natürlich für Geld — immer und immer wieder Aufschub der Vollstreckung des Urtheils. Die Anwendung der Gesetze variirt nach Zeit und Ort; bald lassen sie sich, wenn für den Beamten etwas dabei herausspringt, zu Gunsten des Reiches biegen und kneten wie man nur will, bald aber befehlen ministerielle Rundschreiben wieder, dass sie in ihrer ganzen Strenge gehandhabt werden sollen. unter der Regierung Alexanders III. wurden nach den antisemitischen Wirren tausende von Juden knall und fall aus Ortschaften, wo man sie früher geduldet hatte, zum Beispiel aus Kiew, Orel und selbst aus Moskau vertrieben. Geniessen die Juden wenigstens in den Provinzen, in welchen sie internirt sind, dieselben Rechte, wie die übrigen Unterthanen des Zaren? Keineswegs. Sie sind einiger wesentlicher Rechte beraubt. In den westlichen Provinzen, wo man sie zu wohnen zwingt, ist es ihnen verboten Ländereien zu kaufen. Dieses Verbot wurde 1864 erlassen oder wieder hergestellt. Einige hatten die Aufhebung der Leibeigenschaft benützt, um liegende Güter zu erwerben. Darüber entstand grosse Aufregung, und der Ankauf von Ländereien wurde ihnen untersagt. Manche pachteten Güter auf viele Jahre hinaus und bewirtschafteten diese selbst oder gaben sie den Bauern in Unterpacht. Auch dies wurde ihnen durch das „provisorische Reglement" von 1882 verboten. Es ist ihnen untersagt ausserhalb der Städte Land zu pachten oder zu kaufen; sie dürfen weder Gutsbesitzer noch Pächter sein. Man behauptet, dass die jüdischen Pächter in ihrer Iiiinden Geldgier den Boden aussaugen; aber in dieser Beziehung geben ihnen die Kulaki (Gewaltleute, d. h. Wucherer) und die Händler in Grossrussland nichts nach. Gewiss würde der Jude weniger Raubbau treiben, wenn er Besitzer der liegenden Gründe wäre. Heutzutage darf er den Pächtern und den Bauern Geld leihen, aber er darf keine Hypothek nehmen, darum muss er einen höheren Zinsfuss verlangen; er darf die Ernten aufkaufen und in Getreide spekuliren, er darf aber nicht selbst Landwirth sein. Nach dem Gesetz kann er nur Makler sein; und es ist in der That bekannt genug, dass in jenen weiten Geiilden des russischen Westens alle Transaktionen durch den Juden gehen. Man sagt, der Jude liebe die Feldarbeit nicht. Wenn der Gesetzgeber den Israeliten den Grundbesitz untersagt, so will er damit hauptsächlich verhindern, dass der Adel und die Bauern vom Volke Gottes ausgebeutet und um ihren Besitz gebracht werden. Der Jude ist in der That nicht Ackerbauer. Dies ist im Osten Europa's, wo das Städteleben noch wenig entwickelt ist und die Landwirtschaft die Haupteinnahmequelle des Volkes bildet, eine der hauptsächlichsten bei der Semitenfrage zu Tage tretenden Schwierigkeiten. Warum hat der Jude seit Jahrhunderten den Pflug verlassen? Die Erklärung dafür liegt in seiner Geschichte. Es sind Le r o y - B e au Ii o u, llcich d. Zaren u. d, Hussen. III. Bd. 37 nun bald zweitausend Jahre, seit der Jude vom Mutterboden entwöhnt wurde. Das ganze Mittelalter hindurch war er in den Ghetto's der Städte eingepfercht. Nun ist es aber eine bekannte Thatsache, dass die Stadtbevölkerung niemals mehr zur Feldarbeit zurückkehrt. Nirgends wird der Städter wieder Bauer. Dies ist ein historisches Gesetz. Der Jude macht darin keine Ausnahme vor den übrigen Kassen. Der Mensch gewöhnt sich nicht mehr an die harte Arbeit des Ackerbau's, wenn er sie einmal verlassen hat. Der Jude würde meistens dazu auch körperlich zu schwach sein. Seine Muskelkraft ist geschwächt; das städtische Leben, die Eingeschlossenheit in den Ghetto's, die von einer Generation der anderen vererbte Armuth, alles das machte ihn degeneriren. Die russische Militärstatistik liefert dafür den Beweis. Bei den Rekrutenaushebungen müssen mehr Juden für dienstuntauglich erklärt werden als Küssen oder Knien. Viele junge Israeliten, die sich stellen, haben nicht die erforderliche Grösse und ungenügenden Brustumfang. Die Rasse litt allzulange unter wirtschaftlicher und dadurch auch unter körperlicher Misere. Die grösste YVohlthat, die man den Juden im östlichen Europa erweisen könnte, bestünde darin, dass man einen Theil derselben wieder an die Landarbeit gewöhnen würde. Dadurch wäre die Judenfrage schon halb gelöst. Auch die russische Regierung hat um 1810 und 1840, ja die Israeliten selber haben es stellenweise versucht, aus dem Juden wieder einen Bauern zu machen. Alexander I. und Nikolaus haben an verschiedenen Orten jüdische Bauerncolonien angelegt. Allerdings könnt«! man von solchen engherzig verwalteten Regierungscolonien, wo den Colonisten der Landbau von früheren Unterofiicieren vermittelst Peitschenhieben beigebracht wurde, nicht viel erwarten. Das Verbot des Grundbesitzes ist allerdings kein geeignetes Mittel, die Juden zur Feldarbeit zurückzuführen, ebensowenig, wie das Verbot, auf dem Lande zu leben. Und doch wurden gerade diese Verbote in Russland mehrfach erlassen und durch das „provisorische" Reglement Alexanders III. 1882 aufs neue bestätigt. Seit 1882 dürfen sie sich gar nicht mehr ausserhalb der Städte und Flecken niederlassen. Dies haben sich die Rathgeber des Zaren ausgedacht, um die Antisemitenkrawalle unmöglich zu machen, als ob die Judenhetzen nicht von den Städten ausgegangen wären. Uebrigens sind alle diese Massregeln gegen die Juden zweischneidig: sie schädigen den Christen, den sie schützen sollen, ebensosehr wie den Juden. In manchen Gegenden ist der Verkauf- oder der Mietpreis der Ländereien gesunken, während die Landwirthe zu gleicher Zeit ihr Kapital theurer verzinsen müssen und ihnen überhaupt der Credit erschwert wird. Wenn die Regierung die Juden von den Bauern fernhalten und von der Landwirtschaft ausschliessen will, so muss sie dieselben dadurch an die Städte zu fesseln suchen, dass sie ihnen alle städtischen und bürgerlichen Gewerbe freigiebt. Aber nein; selbst auf diesem engumgrenzten Gebiete kommt ihre Thätigkeit mit Ausnahmegesetzen, Ministererlassen und geheimen Rundschreiben in Conflikt. An Beschäftigung im Staatsdienst dürfen sie gar nicht denken; das Gesetz erklärt sie für alle öffentlichen Aemter mit wenigen Ausnahmen untauglich. Sie können als Ingenieure in den Staatsdienst treten; in Wirklichkeit gelingt dies aber fast keinem bei seinem Glauben verharrenden Juden. Wenn sie irgend eine Aussicht auf Anstellung haben wollen, müssen sie damit beginnen, dass sie sich taufen lassen. Sie können auch Militärärzte werden; in Specialbestimmungen wurde aber schleunigst wieder dafür gesorgt, dass die Juden höchstens fünf Procent aller derartigen Posten inne haben dürften. Die besoldeten und unbesoldeten Ehrenämter sind ihnen meistens schon von vorn herein verschlossen. Ein Jude kann weder Bürgermeister noch Dorfschulze werden. Die Juden dürfen immer nur höchstens den zehnten Theil der Geschworenen und höchstens den dritten Theil der Gemeinderäthe bilden, und dies sogar in Städten, wo sie die Mehrzahl der Einwohner ausmachen. Diese Einschränkungen verfolgen sie sogar bis in die Privatstellungen. So hat man ihnen unlängst den Dienst auf den Eisenbahnen untersagt. Ein Charakterzug mag zeigen, in welcher Weise die Behörden die den Juden gewährten Rechte auflassen. Das Gesetz erkennt den Juden, welche ein Apothekerdiplom besitzen, das Recht ZU, sich überall im Reiche niederzulassen; dennoch haben die Petersburger Behörden alle jüdischen Apotheken schliessen lassen. Sie entschieden einfach, dass das Recht sich in Petersburg niederzulassen für die jüdischen Apotheker noch keineswegs dasjenige, auch Apotheke! zu eröffnen, in sich schliesse. Dies stimmt ganz mit der in Russland in solchen Fällen üblichen Rechtspflege überein. Den Juden gegenüber steift man sich auf den, dem Prinzip jeder Gesetzgebung zuwiderlaufenden Grundsatz, dass alles, was nicht förmlich erlaubt ist, verboten sei. Hier noch ein anderes Beispiel der ihrer Thätigkeit auferlegten Beschränkungen. Das Gesetz gewährleistet den Kaufleuten der ersten Gilde absolute Freizügigkeit innerhalb der Reichsgrenzen, sie werden 37* mit den eigentlich russischen Händlern auf eine Stufe gestellt. Dennoch untersagen ihnen die Behörden einzelne Handels- und Industriezweige. So wurde ihnen der Handel mit geistigen Getränken und das Gewerbe der Schnapsbrennerei ausserhalb des den Juden angewiesenen Gebietes untersagt. Im Westen sind viele Juden Gastoder Schenkwirthe; unter Alexander III. war davon die Rede, ihnen diese Gewerbe auch in den ihnen angewiesenen Gegenden zu verbieten. Wenn das Verbot auch nicht durchging, so hat man auf indirektem Wege, durch Schankordnungen u. s. w. oft dasselbe erreicht. Man wirft den jüdischen Schenkwirthen vor, dass sie zur Trunksucht verleiteten; aber dies ist doch eigentlich mehr Sache des Wirths als des Juden. Die Statistik beweist überdies, dass der Alkoholismus gerade in denjenigen Provinzen, wo es keine Juden giebt, die meisten Opfer fordert. Ein altes, von Alexis Michailowitsch herrührendes und von Nikolaus 1835 bestätigtes Gesetz verbot den Juden, Christen in ihren Dienst zu nehmen. Dieses Gesetz, das ursprünglich durch religiöse Erwägungen hervorgerufen worden, wurde nur auf die Dienerschaft ausgedehnt. Man gestattete den jüdischen Kaufleuten in ihren Geschäften Christen zu beschäftigen. Dennoch haben unter Alexander III. die Behörden hin und wieder den Juden verboten, Christen in ihren Comptoiren oder Fabriken anzustellen. Dadurch wurde ihnen jede Industrie lahmgelegt. Aber ebenso wurde den bei Juden angestellten Christen dadurch das Brot entzogen. Eine solche Massregel konnte keinen Bestand haben. Das verjährte, noch vom Vater Peters des Grossen herstammende Gesetz, wurde 1887 lahm gelegt. Heutzutage kann der Jude so viele Christen beschäftigen wie er will, er darf sie nur nicht — und das mit Recht — an der Ausübung ihrer religiösen Pflichten hindern. Dagegen hat eine neue, bedauerliche Beschränkung die mosaischen Russen betroffen. Die Regierung Alexanders III. hat die Zahl der zu den höheren Schul an stalten und den Universitäten zugelassenen Juden beschränkt. Und was wäre geeigneter, die Juden mit den andern Klassen zu verschmelzen, als eine gemeinsame Erziehung? Was könnte sie leichter von ihren ererbten Vorurtheilen, von ihrem Talmudismus befreien, als gerade die klassische Bildung und das Universitätsstudium? Die Lernbegier, die man bei anderen Rassen lobt, wird den Söhnen Jacobs als Sünde angerechnet. Es ist That-sache, dass in vielen Städten die Gymnasien beider Geschlechter tatsächlich von Semiten überschwemmt wurden. In Odessa, derjenigen Stadt, wo die Juden am meisten prosperiren, hatten die russischen Gymnasien fünfzig bis siehenzig Procent Juden aufzuweisen. Die Regierung hat nun beschlossen, diesem „Skandal" ein Ende zu machen. Es scheint dass der LTnterrichtsminister darin eine Gefahr für die nationale Kultur erblickt hat. Es wurde also dekretirt, dass von nun an kein Gymnasium mehr als zehn Prunn 1 israelitischer Schüler aufnehmen dürfe, und dies selbst in denjenigen Städten, wo die Juden fünfundzwanzig und dreissig Procent der Bevölkerung ausmachen. In den Schulanstalten im Innern des Reiches darf die Zahl der israelitischen Schüler nicht fünf Prooent übersteigen; in den beiden Hauptstädten wurde sie sogar auf drei Procent herabgedrückt. Dieselbe Massregel wurde auf die Universitäten ausgedehnt. A uch hier wird nur ein lächerlich kleiner Procentsatz zum Studium zugelassen. Im Jahre 1887 hatten sich zum Beispiel fünfundsiebzig junge Leute an der Universität Dorpat inscribiren lassen, davon wurden nur sieben immatrikulirt. Man kann sich den Schmerz und die Wuth dieser Studenten denken, denen man auf diese Weise den Zugang zu den wenigen, ihnen überhaupt offen stehenden liberalen Berufsarten sperrt. Und dann beklagt man sich noch, dass sich unter den Nihilisten Israeliten beiderlei Geschlechts linden ! Sollen sie durch solche Massregeln vielleicht Russland und den Zaren lieben lernen? Wenn die Berather des Zaren mit den Förderern der Revolution im Einvernehmen ständen, könnten sie ihrem Herrscher kaum Rathschläge geben, die besser dazu geeignet wären, das gebildete Proletariat zu kräftigen, aus welchem sich bekanntlich die Revolutionspartei rekrutirt. Man darf dabei nicht vergessen, dass solche Mass-*regeln für den Juden drückender sind als für jeden andern; denn mit dem Universitätsdiplom wird ihm auch das Recht der Freizügigkeit entzogen. Diese ganze Specialgesetzgebung verfehlt durchaus ihren Zweck. Sie ist ganz dazu angethan, bei dem Juden gerade diejenigen Fehler recht eigens grosszuzüchten, die man ihm mit bestem Grund zum Vorwurf machen kann. Der Jude wird dadurch auf sich selbst angewiesen, von dem anderen Rassen abgeschlossen und zu einem Volk für sich. Man macht den Juden zweierlei Vorwürfe, Vorwürfe nationaler und wirtschaftlicher Natur. Zuerst zeiht man sie der Abgeschlossenheit, man wirft ihnen vor, dass sie mitten in unserer Civilisation und durch alle Zeitalter hindurch ein Volk für sich, mit eigenen, selbstischen Gewohnheiten, Gesetzen und Moralbegriffen, mit stark ausgesprochenen Sonderinteressen bilden wollen. Dieser Vorwurf erscheint oft gerechtfertigt, wenigstens was die orientalischen Juden betrifft; sind aber die gesetzlichen Schranken, die man zwischen ihnen und den Christen errichtet hat, alle Anstrengungen, die man machte, um sie in einzelne Provinzen, in einzelne Berufsarten und Schulen einzuschliessen, die Bestimmungen, die ihnen die höchsten Bildungsanstalten unzugänglich machen, scheint dies alles nicht geradezu darauf angelegt, die Juden in ihrer Abgeschlossenheit und ihren talmudistischen Vorurtheilen zu erhalten, ihren Hass gegen die Gojim zu nähren? Können sie dadurch ein anderes Nationalgefühl gewinnen als das jüdische, können sie ein anderes Vaterland lieben lernen als Israel oder ihren „Kanal?"1) Man macht es ihnen zum Verbrechen, wenn sie sich solidarisch fühlen, wenn sie sich Zusammenthun wollen unter Leitung ihrer Häupter, oder ihres heimlich zum Zwecke der Ausbeutung der Christen wieder hergestellten „Kanal". Man vergisst, dass ihnen diese cor-porative Verfassung Jahrhunderte lang aufgedrängt wurde; dass sie vor der Revolution überall regelmässig bestand; dass sie durch das Uebel-wollen und die Verfolgungen der Nachbarn erstarkte; dass sie in Russland selber, wie überall im Mittelalter, vom Staate aus fiskalischen Interessen lange aufrecht erhalten wurde; dass die russischen Gesetze von Katharina II. bis Nikolaus die Juden solchen eigenen Gemeindevertretungen direct unterstellten; dass man den jüdischen Consistorien sogar das Recht verliehen hatte, die Juden, die zum Militärdienst angehalten wurden, selber zu bezeichnen, und dass, selbst heute noch, trotzdem dass der „Kanal" ofüciell aufgehoben ist, die jüdischen Gemeinden fortfahren, gewisse obligatorische Taxen, wie die sogenannte Korbsteuer (korobotschnyja) zu erheben. Wenn sie aufhören sollen aneinanderzukleben und eine kompakte Masse zu* bilden, so muss sie eben das Gesetz nicht mehr dadurch, dass es sie von den Christen isolirt, zu solcher Abgeschlossenheit zwingen. Aehnlich verhält es sich in der wirtschaftlichen Krage. Dadurch dass man die Thätigkeit der Juden beschränkt, sie von den liberalen Berufsarten, von der wissenschaftlichen Forschung ausschliefst und sie an jeder intellektuellen Thätigkeit hindert, verurtheilt man sie ja gerade zu denjenigen Geschäften, deren Ausübung man ihnen zum Vorwurf macht. Man beklagt sich, dass sie fast ausschliesslich Händler, Makler, Wechsler, Colporteure, Wucherer oder Kneipwirte seien; aber es bleibt ihnen ja kaum eine andere Wahl. Man wiederholt immer, die Juden seien Parasiten, und dabei sucht man sie gerade in den für parasitisch geltenden Geschäftszweigen festzuhalten. rj Anm. d. Uebers. Jüdische Gemeindeverwaltung, Ferner behauptet man, der Jude verabscheue jede wirklich pro-ductive Arbeit; er sei im Wesentlichen nur ein Schmarotzer, der von der Arbeit Anderer lebe und sich daran bereichere. Dies ist, wenigstens in einem gewissen Sinne, sehr wahr. Der Jude ist meistens nur Vermittler zwischen dem Producenten und dem Consumenten; und je weniger solcher Vermittler es giebt, um so besser befindet sich die Gesellschaft. Aber darf man daraus als Kegel schliessen, dass jeder Kaufmann, jeder Händler, jeder Vermittler ein Schmarotzer sei? Sollte dies nicht auch für den Christen oder den Arier zutreffen? Und bildet schliesslich die Circulation der Güter nicht eine wesentliche Function des socialen Körpers, wie die Säfte-circulation eine Function des thierischen Organismus bildet? Der Jude, sagt man, sucht die Handarbeit zu umgehen. Auch das ist wahr; aber ist das etwas speciell semitisches? Sehen wir nicht, dass sich heutzutage fast in allen civilisirten Ländern der Mensch in Stadt und Land von der Muskelthätigkeit zu befreien sucht? Leider ist heute die Abneigung gegen alle Körperarbeit und die Neigung für den Handel, für die „Stellen" keineswegs auf das Volk Israel beschränkt. Obgleich diese allgemeine Scheu vor körperlicher Anstrengung gewiss ein Uebelstand ist, darf man deshalb mit gewissen Socialisten behaupten, die Körperarbeit sei die allein productive? Die russischen und die abendländischen Antisemiten scheinen dies stillschweigend anzunehmen. Uebrigens erscheint dieser Vorwurf in Russland übel angebracht. Hier können die Juden, wie überall, wo sie in dichten Massen bei einander wohnen, nicht alle vom Handel leben. Vielleicht die meisten dieser Söhne Sems nähren sich von ihrer Hände Arbeit im Schweisse ihres Angesichts, wie die Söhne Japhets. Es giebt wenige Handwerke, die in diesem sarmatischen Israel nicht von den Söhnen Abrahams ausgeübt werden; viele und manchmal die bescheidensten und gröbsten sind fast ausschliesslich in ihren Händen. Viele Juden sind Schneider, Schuster, Schlosser, Tischler, Gerber, Kutscher, Ofensetzer, Metzger, Dachdecker, Maler, Färber; und obgleich sie den Handwerken, die weniger Körperkraft als Geschicklichkeit erfordern, den Vorzug geben, so sind manche doch auch Zimmerleute, Schmiede, Maurer oder Erdarbeiter. Die meisten Steinhäuser der westlichen Städte sind von jüdischen Händen erbaut. Der Wohlstand der Handwerker liegt den israelitischen Gemeinden sehr am Herzen. Ich habe in Warschau besonders die für jüdische Lehrlinge der verschiedenen Handwerke eingerichteten Werkstätten besucht. Leider kann es der technischen Unterweisung nicht allein gelingen, den jüdischen Handwerker dem Elend zu entreissen. Der jüdische Handwerkerstand ist im Verhältniss zu den Bedürfnissen der Stadt- und Landbevölkerung des Westens viel zu zahlreich und fällt daher sehr oft dem ehernen Gesetz von Angehot und Nachfrage zum Opfer. Diese kleinen Gewerbtreibenden machen sich gegenseitig eine mörderische Concurrenz, unter welcher auch der christliche Arbeiter leidet. Die Mehrzahl arbeitet zu lächerlich niedrigen Preisen. In wenig Ländern wird die Handarbeit schlechter bezahlt. Auch sind neun Zehntel dieser russischen Juden arme Schlucker. In engen, ungesunden Wohnungen, ohne Luft und Licht zusammengedrängt, mehrere Eamilien manchmal in einem Zimmer — und die Eamilien sind meistens noch zahlreich — so werden diese armen mageren Jüdchen, die sich schon mit zwanzig Jahren und noch früher verheirathen, eine Beute aller aus der Noth hervorgehenden Plagen und Krankheiten. Ihre Körper und Seelen können dem tödtlichen Einfluss der äussersten Armuth nur durch Massigkeit, Zähigkeit und Religionseifer einen gewissen Widerstand entgegensetzen. In Wahrheit ersticken die Juden in den ihnen gesetzlich zugewiesenen Gebieten. Man müsste ihnen, damit sie leben könnten, neue Landstriche eröffnen, wo die Nachfrage nach den Producten der städtischen Handwerker grösser wäre. Es besteht tatsächlich im Westen Ueber-fluss an Kaufleuten, Kleinkrämern und kleinen Handwerkern, während gerade diese Berufsclassen im Centrum und im Osten des Reichs oft mangeln. Man nehme eine Karte von Russland zur Hand. In den Judengegenden sind die Städte viel dichter gesät, als in den anderen Provinzen des Reichs. Ein Blick in die statistischen Tabellen genügt auch, um sofort zu erkennen, dass hier eine Gleichgewichtsstörung vorliegt; es ist eine künstliche Vertheilung der städtischen Bevölkerung, die durch das Gesetz, wie durch einen Wall, in den westlichen Provinzen eingedämmt wird und nicht frei in die benachbarten Gegenden überfluthen kann. Um das Gleichgewicht wieder herzustellen, müsste man dem Ueberschuss der jüdischen Bevölkerung neue Gegenden erschliessen. Dies liegt ebensogut im Interesse der christlichen Bevölkerung des Westens. Alexander III. hat Commissionen ernannt, welche die Judenfrage in den Westprovinzen studiren sollen; fast alle haben sich dahin ausgesprochen, man möge die Grenzsperre für die Juden fallen lassen. Wie könnte es auch anders sein. Die Westprovinzen sind von Juden überfüllt. Nun hat man ihnen aber von jeher vorgeredet, die Juden seien Schmarotzer, Blutsauger, sie glichen einem verheerenden Heu- sclirockensehwarme; natürlich sind nun diese Provinzen selber wenig darüber erbaut, dass man sie dieser Landplage einfach überantwortet hat. Es scheint, als ob Russland die Polen, Litthauer, Letten, Rumänen, Kleinrussen und Weissrussen als diejenigen Landeskinder, die ihm am wenigsten am Herzen liegen, den Juden zum Weideplatz angewiesen hätte. Trotz allen Uebelständen, welche die Anhäufung des jüdischen Elementes auf einem engumgrenzten Gebiete nach sich ziehen mochte, hat dieser „Heuschreckenschwarm", der sich nun schon seit einigen Jahrhunderten auf dem russischen Westen niedergelassen hat, das Land doch noch nicht kahl gefressen. Noch grünt die Erde und die goldenen Aehren wiegen sich im Sonnenschein. Manche Provinzen, besonders in Wcissrussland, stehen, obgleich sie zu den weniger fruchtbaren des Reichs gehören, wirthschaftlich doch keineswegs hinter denjenigen, welche vom jüdischen Parasitismus verschont blieben, zurück. Im Gegentheil, manche dieser westlichen „Gubernien" nehmen, was die Entfaltung von Ackerbau und Gewerbfleiss betrifft, entschieden eine bevorzugte Stellung ein; als Beweis mag das Königreich Polen dienen, das, trotz seinem mittelmässigen Boden, eine der reichsten Gegenden des Reichs geworden ist. Zwei Einwände von ungleichem Werthe, der eine nationalpolitischer, der andere wissenschaftlicher Natur, stehen dem Plane, dem Juden das Innere Russlands zu erschliessen, entgegen. Vom nationalen Standpunkt aus könnte man befürchten, dass die Juden durch ihre enorme Fruchtbarkeit die ihnen zugänglich gemachten Landstriche entnationalisiren könnten. Eine solche Furcht könnte in einem kleinen Staatswesen, wie zum Beispiel in Rumänien berechtigt erscheinen; die Rumänen könnten wohl fürchten, dass ihre eben wieder erstehende Nationalität in der Fluth fremder Elemente untergehen möchte. In dem Ungeheuern Russland haben indessen solche Befürchtungen keinen Sinn ; aus einem solchen Koloss lässt sich niemals ein Judenstaat gestalten. Im Gegentheil, die Juden würden sich, wenn sie sich über das weile Reich zerstreuten, leichter entnationalisiren lassen. Je dünner, je weniger compakt die Juden zusammenkleben, um so leichter würden sie allmählich russiücirt werden. Her wirthschaftliche Einwand fällt schwerer ins Gewicht. Den Israeliten Grossrussland eröffnen, hiesse, wie man behauptet, das Land der jüdischen Speculationssucht, dem jüdischen Wuchersystem preisgeben. Die Zeit ist lange vorbei, wo Peter der Grosse behauptete, ein einziger seiner moskowitisehen Händler könne es mit vier Juden aufnehmen. Und dennoch haben die russischen ,,Kupzy" kaufmännische Talente bewiesen, die sie weit geeigneter erscheinen lassen, den Kampf mit den Juden aufzunehmen, als die Weiss- oder Kleinrussen. Eines aber steht fest; für Kussland und den russischen Handel wäre eine kräftige Concurrenz der mächtigste Sporn. Nur diese letztere kann ihm den Unternehmungsgeist verleihen, der in Russland immer noch fehlt, und dessen relative Seltenheit eine der Ursachen bildet, warum der russische Handel demjenigen jenes anderen Kolosses der modernen Welt, demjenigen Amerika's so sehr nachsteht. Der Nationalreichthum würde sicher dabei gewinnen; würde also das Volk dabei verlieren? Würden Bauern und Arbeiter mehr durch das verhasste Capital bedrückt werden? Wer das russische Leben kennt, dem muss dies sehr unwahrscheinlich erscheinen. In Bezug auf die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen hat der russische Arbeiter nichts zu verlieren; die Dorfindustrie — die Buschindustrie (Kusternaja), wie sie der Russe nennt — bildet eigentlich nur eine einzige, fest organisirte Ausbeutung des Arbeiters durch die Vermittler und die Vorkäufer. Die Erpressungen und die Böswilligkeit dieser Wucherer übersteigt alle Grenzen, wie Besobrasow versichert. ,,Was an Markttagen in gewissen Industriecentren, wie in Pawlowo, dem russischen Sheffield, vor sich geht, spottet jeder Beschreibung.1) Die Menschen gleichen wilden Thieren, die sich gegenseitig verschlingen.'' Hier, im Herzen Russlands, fern von den jüdischen Parasiten, erheben die orthodoxen Makler hundert Procent und darüber auf Vorschüss.....Lei als Commissionsgebühren. Ebenso steht es auf dem Lande und in den Bauerngemeinden. Die„Kulaki" und die „Mir-Fresser" brauchen von den jüdischen Wucherern nichts mehr zu lernen.2) In manchen Gemeinden besitzen viele Mushik«, die durch die Indien Zinsen ganz und gar ruinirt sind, ihre Aecker nur noch dem Namen nach; in Wirklichkeit sind sie die Leibeignen ihrer Gläubiger. Wenn Grossrussland den .luden erschlossen wird, so bedeutet dies für den Arbeiter eine Herabsetzung des Zinsfusses. Man sagt, der Jude demoralisire das Volk. Was sagt die Statistik dazu? Die Zahl der Delikte und Verbrechen ist in den westlichen Gouvernements verhältnissmässig schwächer als in den östlichen. Zudem kommen Verbrechen bei den Israeliten seltener vor, als bei den Christen. Dagegen wird eingewendet, dass die 1) Wladimir Besobrasow, Ktudes sur l'Economie natinale de la Rüttle, Bd. II, 2 Th., 8. 173 u. 174. 2) Siehe Bd. 1, Buch VIII, Kap. I. Juden das Gesetz zu beugen wissen; aber dies thut in Russland ja alle Welt. Uebrigens suchen die Juden hauptsächlich jene willkürlichen, vexatorischen, gegen sie erlassenen Spezialgesetze zu umgehen: in diesem Falle liegt der Delikt eher auf Seiten der Gesetzgebung. Bei diesen Gesetzumgebungen stehen Polizei und Behörden den Juden redlich bei. Demuralisirend für die Behörden sowohl als für die Juden, sind eben gerade nur jene Ausnahmegesetze, deren Durchführung in allen Fällen so schwierig ist. Man kann eben aus einer nur eingebildeten geographischen Linie keine chinesische Mauer machen. Das beste wäre, man würde diese ganze peinliche Gesetzgebung abschaffen, und die .Juden den allgemeinen Gesetzen unterstellen, die man ja mit aller Strenge gegen sie handhaben könnte. Nun kommt der grösste Einwand. „Unsere russischen Juden," hört man in Petersburg und Moskau sehr oft, „verdienen nicht, als Nationalrussen behandelt zu werden. Sie selber betrachten Bich als Fremdlinge. Sie lieben Russland nicht, sie hängen nur an einem Vaterlande, und dies heisst Israel." — „Wann hat sich denn" — erwidern darauf die Juden — „Russland gegen uns wie ein Vater* land benommen? Wie sollen wir ein Land liehen, das uns als Feinde behandelt ?" Als Beweis für den geringen Patriotismus der Juden gilt ihre Abneigung gegen den Militärdienst. Die Blutsteuer ist eine derjenigen Flüchten, um welche sie sich auf alle Weise herumzudrücken suchen. Kein Kultus und keine Rasse liefert in diesem Punkte so viele Widersetzlichkeiten. Dies ist einigermassen begreiflich. Man erkennt den Juden die meisten bürgerlichen Rechte ab, und dabei verlangt man, dass sie mit derselben Bereitwilligkeit, mit derselben Selbstverleugnung wie die Yollbürger die schwerste aller Pflichten auf sich nehmen sollen. Keine Pflichten ohne Rechte. Will man von den Juden ebensoviel verlangen wie von den Russen, so muss man sie eben als Russen behandeln. Noch unlängst gab es gar keine List, die ein polnischer Jude nicht angewandt hätte, um der Rekrutirung zu entgehn. Man darf dabei aber auch nicht ausser Acht lassen, dass der Militärdienst für einen streng talmudistischen Juden besonders misslich ist: denn in der Kaserne oder im Lager lassen sich alle die kleinen und kleinsten Vorschriften des mosaischen Gesetzes kaum beobachten. Die Antipathie des russischen Juden gegen den Militärdienst wurde natürlich durch das Cantonnirungssystem noch vermehrt. Die ersten Soldaten, die unter den Juden ausgehoben wurden, waren zehnjährige Knaben, die für immer ihren Familien entrissen und mit Gewalt getauft wurden. Noch unlängst war die Armee eine eigentliche Schule der Proselvtenmacherei. Auch darf man nicht vergessen, dass dem Juden jedes Avancement abgeschnitten ist. Sie können nicht Ofiiciere werden; die Gesetze untersagen ihnen auch den Eintritt in die Militärschulen. Der jüdische Soldat, der viele Jahre lang unter dem russischen Adler gedient hat, darf ja nicht einmal nach seiner Entlassung da wohnen bleiben, wo er in Garnison gestanden hat. Im Jahre 1886 wurden 832 000 junge Leute ausgehoben, darunter befanden sich 15 000 Juden, also soviel, dass man ein ganzes Armeecorps daraus hätte bilden können. Unter den 45 000 Juden fanden sich 4000 Widersetzliche, d. h. ungefähr zehn Procent. Früher war dieser Procentsatz viel höher, er stieg bis auf dreissig und vierzig Procent, Um zu verhindern, dass die Christen nicht indirekt unter der jüdischen Abneigung gegen den Militärdienst leiden möchten, wurde 1876 durch einen Ukas bestimmt, dass untaugliche junge Leute, oder solche, die sich der Aushebung durch irgend welche .Mittel zu entziehen wussten , immer nur durch solche des gleichen Glaubens ersetzt werden sollten. Aber auch diese confessionelle Solidarität erschien als ungenügend. Seit 1886 werden die Angehörigen der jüdischen Refraktäre überdies noch zu bedeutenden Geldstrafen verurtheilt. Für die Aushebungen von 1886 betrugen diese Geldstrafen 1 200 000 Rubel, d. h. circa drei Millionen Mark. Dieses Mittel scheint gewirkt zu haben; denn im Jahre 1887 fiel in den Provinzen Mobilen und Minsk der Procentsatz der Refraktäre von 68 und 60 auf 5 und 16 Procent. Aber auch diese Massrege] gehört zu den Ausnahmegesetzen, und Russland wird die Judenfrage niemals durch solche lösen können. Das Königreich Polen könnte einen Beweis dafür liefern. Ein Gesetz von 1864, als Polen noch eine selbständige Verwaltung besass, hatte die Juden den anderen Landesbewohnern gleichgestellt. Die Provinzen an der Weichsel hatten sich nicht darüber zu beklagen. Es ist dies diejenige Gegend des Reiches, wo Juden und Christen am friedlichsten beisammen wohnen. Die Judenkrawalle waren daselbst verhältnissmässig selten, und selbst in Warschau scheinen sie durch fremde Elemente hervorgerufen worden zu sein. Die „Polen des mosaischen Ritus" haben sich ihren katholischen Landsleuten für ihre bürgerliche Emancipation erkenntlich gezeigt; sie haben sich zeitweise sogar zu einem gewissen polnischen Patriotismus aufgeschwungen, was um so verdienstvoller war, weil es sich hier um eine von vorn herein verlorene Sache handelte. Die Russen, die dem Juden vorwerfen, dass er sicli keinem Vaterlande anhänglich zeige, haben sich öfter schon über die polnischen Sympathien der an der Weichsel wohnenden Juden beklagt. Russland soll sie eben nur als Hussen behandeln, und die Juden der Düna und des Dniepr werden nach und nach mosaische Hussen werden. In Petersburg, in Odessa und selbst in Wilna haben sich viele schon vollständig russificirt. Sebald der Jude dieselben Rechte besitzt, wie der Christ, wird er sich gerne dem Russen nähern, besonders weil es ihm nur vortheilhaft sein kann, sich die Herren des Reiches günstig zu stimmen; und der Semite schaut bekanntlich sehr auf seinen Vortheil. Wir können es nicht genug betonen: das grösste Hinderniss der Verschmelzung der Juden mit den Russen bilden die Ausnahmegesetze. Sebald diese Schranke sinkt, werden die andern von selbst fallen. Zwar darf man diese Verschmelzung nicht in allzu kurzer Zeit erwarten, wenn sie vollständig sein soll, so erfordert sie Jahrhunderte. Rivalität und Eifersucht der Rassen und Religionen werden naturgemäss noch manche Generationen hindurch bestehen; denn es giebt kein Mittel, welches einen Staat solcher Reibereien überheben könnte, und je ausgedehnter ein Staatswesen ist, um so mehr ist es solchen ausgesetzt. Aber diese Conflikte werden viel weniger heftig iiilirenn, sobald die Christen einmal lernen werden die Juden christlicher zu behandeln. Die Annäherung wird um so leichter erfolgen, je weniger künstliche Hindernisse das Gesetz ihr entgegenstellen wird. In Russland, wie in Frankreich und anderswo, lässt sich diese Frage .nicht anders lösen als durch Freiheit und bürgerliche Gleichberechtigung. Russland kann die Juden nicht in Masse ausweisen, wie dies seiner Zeit in Spanien geschah; dies ist nicht mehr zeit-gemäss, nicht einmal in einem autokratischen Lande. Auch die Auswanderung wurde in Erwägung gezogen; aber dies ist eben auch keine Lösung. Es müsste ein neuer Moses erstehen, um Israel aus diesem modernen Aegypten wegzuführen. Und dann, wohin sollte er es führen? Die russische Presse konnte ihnen die Auswanderung empfehlen, die Bevölkerung konnte sie durch allerhand Chikanen dazu drängen, es nützte nichts, die Juden haben ihren neuen Exodus noch nicht begonnen. Ein paar Tausend sind weggezogen, Millionen sind geblieben.1) Sie wollen oder können den Boden nicht verlassen, auf welchem sie geboren sind und den ihre *) Der Antisemitismus bat eine regelmässige Auswanderung nach den Vereinigten Staaten eonstatirt; aber diese jährliche Auswanderung einiger tausend russischer Judenfamilien vermehrt nur die Israeliten in Amerika, ohne ihre Zahl in Russland zu schwächen. Väter Jahrhunderte lang bewohnten, bevor die grossrussischen Hussen daselbst erschienen. Die Juden sind nun einmal da in den Grenzprovinzen des Reiches, ihre Zahl mehrt sich jährlich; schon allein aus politischen Interessen darf sie Russland sich eigentlich nicht zu Feinden machen. Was gewinnt Russland dabei, wenn die vier Millionen Juden mit ihrer Antipathie den Widerstand der Deutschen und der Polen noch verstärken? Hier noch eine letzte Bemerkung, die wir nicht ohne eigene Beschämung aussprechen. Es giebt im Abendlande und auch in Frankreich seit einigen Jahren Männer, die, ohne Zweifel im besten Glauben, gesetzliche Massregeln gegen die Juden anstreben. Hier in Russland haben wir nun ein Reich, wo diese Ausnahmegesetze, die früher allgemein waren, noch heute bestehen. Haben sie etwas genützt? Anstatt die Judenfrage aus der Wrelt zu schaffen, haben sie dieselbe nur zugespitzt, die Parteien sind nur erbitterter geworden. Diese einem anderen Zeitalter angehörigen Gesetze haben veraltete, barbarische Gewaltmassregeln im Gefolge. Ein Blick auf Bussland sollte eigentlich genügen, um Europa gegen die etwas verjährten Recepte der Antisemiten vorsichtig zu machen. Russland, das in der Bekämpfung des Islam Jahrhunderte lang seinen weltgeschichtlichen Beruf erblickte, zeigt sich gegen den Koran wohlwollender und gerechter als gegen den Talmud. Russland zählt heute zu den mohamedanischcn Grossmächten und steht in dieser Hinsicht nur der Türkei und England nach. Den fünfzig bis sechzig Millionen mohamedanischer Unterthanen Englands kann es bis jetzt allerdings erst ungefähr zehn Millionen entgegenstellen; aber der Islam ist nicht nur die herrschende Religion in einem grossen Theil seiner asiatischen Besitzungen, sondern er zählt auch in Europa, auf altrussischem Gebiet und bis in den Westen, bis nach Litthauen hinein, noch einzelne Anhänger. Die .Mohamedaner fanden an Russland nicht immer einen so toleranten Herrn, wie an Frankreich oder an England. Getreu seinen byzantinischen Ueberlieferungen, verfehlte es nicht, auch bei den Schülern des Propheten sein System der I'roselytenmacherei in Anwendimg zu bringen, wenigstens hei den europäischen Mohamedanern, den Tataren, die schon seit Jahrhunderten unter seiner Herrschaft stehen. Man kann indessen nicht sagen, dass diese Versuche viel gefruchtet hätten. Der Islam bleibt sich überall gleich; man kann ihm an der Wolga ebenso wenig beikommen wie am Nil. Sich selbst überlassen würde er fortfahren an der Grenze Europa's und Asien's Anhänger zu gewinnen, wie in Indien und in Afrika. Die halbheidnischen Völkerschaften des Wolga-Gebietes zeigen oft mehr Neigung für Mobamed als für Christus. Viele Tschuwaschen sind nach der Taufe wieder zum Koran zurückgekehrt. Da sich Allah im Siege offenbart und das Gottesgericht der Schlachten die Mission des Propheten bestätigen sollte, so drängt sich einem die Frage auf, ob die Kraft des Islam nicht gebrochen sei, sobald der Gläubige einmal vom Ungläubigen besiegt worden. Kann diese Religion, deren Seele der Fanatismus ist, dem demora-lisirenden Gefühl einer Niederlage Stand halten? Die an der Wolga wohnenden Tataren beweisen, dass der Moslem Jahrhunderte lang unter christlicher Herrschaft verharren kann, ohne an Allah zu zweifeln; ja er wird sogar ein treuer und ruhiger Unterthan und verlangt von seinem ungläubigen Herrn nichts weiter, als die freie Ausübung seiner Religion und seiner Sitten; denn Religion und Sitten sind ihm Eins. Es ist bekannt, wie selten und wie schwer der Moslem sich zum Evangelium bekehrt. Wir haben schon oben die hauptsächlichsten Gründe dieses Verhaltens angegeben: er glaubt, dass sein Glaube dem christlichen überlegen sei.1) Dasselbe glaubt er auch von seiner Moral; denn die Moral des Koran ist nach seinen Sitten zugeschnitten. Uns erscheint diese Moral allerdings etwas locker; dennoch beschützt sie ihn von einem der verderblichsten Laster der modernen Völker. Das Verbot der geistigen Getränke ist eine Wohl-that für den Muselman, deren Grösse und Tragweite ihm täglich durch einen Vergleich mit seinen orthodox-russischen Nachbarn vor Augen tritt. Die christliche Propaganda hat nur bei den unlängst zum Mohamedanismus bekehrten Völkerschaften, bei welchen der Islam noch nicht seine unvertilgbaren Spuren zurückgelassen, einige Aussicht auf Erfolg. Die russischen Missionare hatten auf die Kirgisen ihre Hoffnung gesetzt, weil diese nur laue Mohamedaner sind und die Moscheen nur selten besuchen, ähnlich wie sich die Jesuiten in Algier geschmeichelt hatten, die Kabylen gewinnen zu können. Aber auch auf die Kirgisen hat die orthodoxe Predigt bis jetzt keinen grossen Eindruck gemacht, und es ist mehr als zweifelhaft, ob sich dies später ändern wird; denn die Kirgisen werden, jemenr sie das Nomadenleben aufgeben, um so eifrigere Mohamedaner; sie saugen die Grundsätze des Islam in den Mektab's und den *) Siehe Band I, Buch II, Kap. 2, das dort über die Tataren Gesagte. Medressen ein, welche tatarische oder sartische Mullahs in ihren Auls J) eröffnen. Was die Tataren betrifft, die an der Oka oder an der WTolga mitten unter Russen leben, so widerstreben diese jeder Propaganda, Von den kasanischen Tataren waren circa 45 000, d. h. kaum der zehnte Theil, zeitweise bekehrt; aber, wie seinerzeit die spanischen Morisken, blieben sie nach Gesinnung und Sitten doch stets Muselmänner. Die ineisten feiern den Freitag in gleicher Weise wie den Sonntag. Der Pope kann in ihren Dörfern den Gottesdienst so viel er will in tatarischer Sprache halten, sie gehen deshalb doch nicht in die Kirche; höchstens betreten sie dieselbe um sich trauen oder um ihre Kinder taufen zu lassen. Manchmal bezahlen sie den Priester, damit er sie auch von diesen Ceremonien dispensire. Wir haben schon gesagt, dass sie nicht selten auch mit einer gewissen Ostentation zum Islam zurückkehren. Um sie dem Einflüsse des Mullah's3) zu entziehen, suchte sie Nikolaus I. von ihren moslemitischen Stammesgenossen abzusondern und in besondern Dörfern zu vereinigen. Aber alle Eingriffe der Regierung hindern doch nicht, dass solche Rückfälle bei Tataren und Tschuwaschen mit einer gewissen Regelnlässigkeit vor sich gehen. Die Berichte des Herrn Pobedonoszeff an Kaiser Alexander III. vertuschen dies auch keineswegs. „Diese Apostaten", behauptete der Oberprokuror im Jahre 18853), „zeigen sich taub gegen die Rathschläge ihrer christlichen Seelsorger. Während der Mahnreden, die man sie anzuhören zwingt, bemühen sie sich, nicht an das zu denken, wovon die Rede ist, damit ihnen auch ja nicht der leiseste Zweifel in Bezug auf ihren Glauben aufstossen möchte." Die Kirche überliefert diese verhärteten Muselmänner, nachdem sie dieselben vergeblich durch Milde zu gegewinnen suchte, der weltlichen Macht, die mit der ganzen Schärfe der Gesetze gegen sie vorgeht. Viele dieser Rückfälligen wurden nach Sibirien deportirt. Im Jahre 1883 wurden tatarische Bauern aus dem Dorfe Aposow vom Gerichte in Kasan verfolgt, weil sie den orthodoxen Glauben abgeschworen hatten. Die Angeklagten erklärten, dass sie immer Mohamedaner gewesen seien; dennoch wurden sieben von ihnen, als Abtrünnige, zur Zwangsarbeit verurtheilt. So hat der Islam noch unter Alexander III. seine Märtyrer in Russland. Aehnliche Vorgänge haben aus den Tataren in Kasan die 1) Anm. d. Uebers.: mcktab bedeutet Elementarschule; medrass, höhere Schule; aul, Dorf. 2) Anm. d. Uebers.: mullah, arabischer Geistlicher. a) Bericht über das Jahr 1885, veröffentlicht 1886. eifrigsten und fanatischsten Moslem gemacht. Dies ist die gewöhnliche Folge des Zwanges. Es ist um so bedauerlicher, als diese Tataren bei ihren Religionsgenossen in hohem Ansehen stehen. Sie liefern eine grosse Zahl Mullah's für das ganze Reich. Die Regierung sucht ihren Einfluss abzuschwächen. Es wäre allerdings einfacher gewesen, sich die Leute nicht durch unnütze Härte und Intoleranz zu entfremden. Man kennt die Solidarität der mohamedanischen Welt. Das Verfahren RussiancU gegen die Tataren an der Wolga ist wenig geeignet, das Vertrauen der in- und ausländischen Mohamedaner zu erwecken. Der Tatare von Kasan trifft in Mekka mit dem Sarten von Samarkand, mit dem Türken von Erzerum und dem Afghanen von Kabul zusammen. Allerdings hütet sich Russland bei seinen asiatischen Mohamedanern, besonders in dem neueroberten aralo-caspischen Gebiete, Bekehrungsversuche anzustellen. Es würde aber jedenfalls doch klüger sein, wenn es den hunderttausend Mekkapilgern, die sich jährlich auf dem Berge Arafat versammeln, nicht Gelegenheit gäbe zu erzählen, dass es in seinen Staaten eine Gegend giebt, wo der Zar die „Gläubigen" verfolgt. Glücklicherweise rivalisirt Russland in Asien nicht nur mit der Türkei und mit England, sondern auch mit China. Was letzteres Land betrifft, so kann der Vergleich nur zu Gunsten Russlands ausfallen. Die Mohamedaner dürfen nur daran denken, wie die „Söhne des himmlischen Reiches" ihre Brüder von Kaschgar behandelt haben, um Allah zu danken, dass sie Unterthanen des weissen Zaren sind. Im Kaukasus und in Centraiasien ist der Islam noch mehr als an der Wolga oder in der Krim zum Kampf gerüstet. Fast überall haben die Mohamedaner eine zahlreiche Geistlichkeit, wenn man das Wort Geistlichkeit überhaupt auf eine Religion anwenden will, die keinerlei Vermittler zwischen den Gläubigen und der Gottheit kennt. Die Mullah's sind gewöhnlich die gebildetsten Leute in ihren Gemeinden. Viele von ihnen sind in den orientalischen Wissenschaften bewandert. Die Mehrzahl ihrer Moscheen und ihrer Schulen werden, wie überall im Orient, aus dem Vermögen der Wakufs1) unterhalten. Allein im Turkestan giebt es über fünftausend Mektab's oder moha-medanische Elementarschulen, ungerechnet die Medressen oder höheren Schulen. Die Mullah's sind nach mohamedanischer Sitte zugleich Prediger und Lehrer; sie fungiren auch als Richter und Schiedsrichter; denn die Moslem haben, selbst in Europa, ihr eigenes D Anm. d. Uebers.: Unter wakuf verstellt man im Orient das steuerfreie Gut der Moscheen und milden Stiftungen. L e r oy - K eutil i «ii, lieieli n den Küssen genommen orthodoxen Zaren die grüne Fahne des Propheten entfalten und so die asiatischen Mohamedaner um sich schaaren sollten. Dies würde auch England, selbst unter Mithülfe des Sultans, kaum besser gelingen. Von beiden christlichen Mächten könnte höchstens jede einzelne die ihr untergebenen Mohamedaner in ihren Reihen mit sich führen. Doch dürfen weder Russen noch Engländer jemals vergessen, dass der Moslem, wenn er sich auch dazu herbeilässt, für und mit den Kafirs1) zu fechten, nur den siegreichen Fahnen treu bleibt. Der Buddhismus zeigt, wenigstens in Europa, nicht dieselbe Widerstandsfähigkeit wie der Islam. Er ist, wie wir glauben, die einzige von allen in Russland bestehenden Religionen, deren Bekennerzahl sich vermindert. Dies ist woniger eine Folge der schon so oft erörterten geheimnissvollen Verwandtschaft zwischen dem Christenthum und dem Lamaismus, als der Verzettelung der einzelnen Stämme, welche den Glauben Buddhas nach Europa verpflanzt hatten. Die Kalmüken an der untern Wolga sind von ihren asiatischen Religionsgenossen ganz und gar abgeschnitten. Vor nicht allzulanger Zeit waren sie noch Buddhisten, jetzt sind die meisten getauft. Die Buddhareligion wird wahrscheinlich im zwanzigsten Jahrhundert ganz nach Asien zurückgedrängt sein, und die Winde Europas werden dann keine jener merkwürdigen Gebetsmühlen mehr zu treiben haben. Der Leib des letzten Lama's der Kalmüken wurde im December 1886 mit grossem Pomp bei Wetliauka, in der Steppe, verbrannt. Er erhielt keinen Nachfolger; die Würde eines Lama, die bis dahin vom Staate anerkannt worden war, wurde offi-eiell abgeschafft. Dadurch sind die buddhistischen Kalmüken ohne religiöses Oberhaupt. Die orthodoxe Propaganda befasst sich auch mit dem asiatischen Buddhismus, aber am Altai und am Baikalsec, wo der Lamaismus an den mongolischen Buddhisten einen Rückhalt hat, hält er allen Angriffen Stand. Die Buddhisten im asiatischen wie im europäischen Russland, die noch nach einigen Hunderttausenden zählen, sind fast alle mongolischer Rasse. Die Jünger Cakya-Muni's haben aus den wilden Horden des Tschingiskhan das sanfteste Volk gemacht. Die religiöse Predigt, die schon so viele Wunder gewirkt, hat wohl selten eine so vollständige Umwandlung zu Stande gebracht. Der Buddhismus hat die mongolischen Barbaren nicht nur gezähmt, er hat sie sozusagen entmannt. Der Buddhismus ist vielleicht in den nordischen Eisregionen J) Anmerk. d. Uebers. Die „Ungläubigen" d. h. Nicht-Mohainedaner weniger entartet als in Tonking oder in Japan. Die sibirischen Bu-riaten haben oft gebildete und in den heiligen Büchern wohl unterrichtete Lama's. Sie besitzen eine stark organisirte Hierarchie, die mit gmsscr Machtvollkommenheit ausgerüstet ist und ziemlich hohe Einkünfte bezieht. An ihrer Spitze steht ein Gross-Lama, der „Chambo-lama", dem eine Domäne von 500 Hectaren zugewiesen ist; zudem erhebt er noch von den 35 ihm untergebenen „Dazan's" oder Diöcesen eine Art Kirchenzehnten. Die „Schiretui" genannten Häupter jedes Dazan und die von ihnen abhängigen einfachen Lamas sind ebenfalls mit Land dotirt und haben zudem einen gewissen Antheil am Zehnten. Der Dazan vom Gussino-Sce besass noch unlängst ein buddhistisches Seminar, das ungefähr vierzig Zöglinge enthielt, von welchen jeder fünfzehn Deriatinen Land zur Verfügung hatte. Diese Priesterschaft kämpft energisch gegen die orthodoxe Propaganda. Sie macht den christlichen Missionaren sogar die noch dem Schamanenthum anhängenden Eingeborenen streitig. Die Jünger Buddhas nehmen, ganz wie die Jünger Christi, feierliche Zerstörungen der Fetischbilder und Zaubergeräthe der Schamanen vor. Wenn die Regierung dem Bekehrungseifer der Lama's nicht so mannigfache Schranken setzte, so würde das Schamanenthum gar bald aus dem Altai und von den Ufern des Biakalsec's verschwunden sein. Abeider Pope zieht eben den Zauberer dem Lama vor, denn mit dem erstem hofft er leichter fertig zu werden als mit dem letzteren. Um die Buddhisten zu unterwerfen, sucht die orthodoxe Propaganda im Verein mit der Regierung, ihre Priesterschaft und ihre Stämme nach und nach aufzulösen. Die Missionare Hessen die Eröffnung neuer Pagoden verbieten; sie wagen es manchmal sogar die alten zu schliessen. Zugleich sucht man die Zahl der Lama's zu reduciren und ihren Einfluss zu mindern. Man bemüht sich, die bekehrten Buriaten der Gewalt ihrer noch heidnischen Stammeshäupter zu entziehen; zugleich sucht man diese Stammeshäuptlinge auf alle Weise zur Taufe zu überreden. Die Lama's kümmern sich übrigens oft sehr wenig um das Verbot, neue Pagoden zu eröffnen; sie errichten solche manchmal sogar in den „Uluss" (Lager) der getauften Nomaden. Nicht selten gelingt es ihnen auch, ihre früheren Be-ligionsgenossen wieder zu ihrem Glauben zurückzuführen. Der Glaube der Buriaten ist so stark, dass viele von ihnen sich weigern, sich mit den Popen überhaupt in irgend ein Wortgefecht einzulassen. Im Gegensatz zu den Mohamedanern werden aus den Buddhisten oft vorzügliche Christen. Einig«' scheinen aus voller Ueberzeugung Siddhärta um Jesu willen verlassen zu haben. Frühere Lama's, in der mongolischen Literatur bewanderte Männer, sind Priester und eifrige Missionare des Christenthums geworden. Die Asiaten, die durch den Buddhismus schon an ein gewisses Ritual gewöhnt sind, werden hauptsächlich durch die Pracht der christlichen Ceremonien gepackt. Wenn man gewissen Berichten Glauben schenken darf, so bringt die Messe mit ihren Chören — die man wohlweislich in mongolischer Sprache singt — mehr Bekehrungen zu Staude, als die Predigt. Obwohl man immer geneigt ist, zwischen dem Buddhismus und dem slavischen Mysticismus eine geheimnissvolle Verwandtschaft anzunehmen, so hat doch die indische Lehre auf die Landsleute eines Tolstoi und Dostojewsky keineswegs denselben Zauber ausgeübt, wie auf die Engländer, die Amerikaner und die Deutschen. Wenn manche Russen, wie die beiden genannten grossen Romanschreiber, mit einem gewissen latenten Buddhismus behaftet erscheinen, so ist dies mehr instinetiv, unbewusst. Aber die Lehre Buddha's, die in England und Amerika Anhänger fand, hat in Russland niemals Proselyten gemacht. Ich kenne nur eine einzige Ausnahme, eine Dame, Frau Blawazky. Diese Russin erklärte den Buddhismus nicht nur für die höchste Religion, sondern wollte darin auch noch den „Syncretismus" des Morgenlandes und des Abendlandes, die Verschmelzung zwischen der modernen Wissenschaft und der antiken Theurgie entdecken. Frau Blawazky durchstreifte Indien, nachdem sie alle Genüsse dieser Welt ausgekostet; sie unterredete sich daselbt mit Brahmanen und Fakirs und brachte die Grundzüge einer hermetischen Theosophie, die in beiden Welttheilen „Geweihte" zählt, von diesem abenteuerlichen Zuge nach Hause. Viertes Kapitel. Sehluss. — Religiöse und moralische Einheit des Staates — Ein grosses Reich bedarf der Religionsfreiheit. Es ist dies die einzige Freiheit, die sieh decre-tireu lässt. — Warum nicht anzunehmen ist, dass Russland die religiöse Freiheit früher erlange als die politische. Hiermit sind wir am Schlüsse unserer weitläufigen Untersuchung der religiösen und sittlichen Zustände des ungeheuren Zarenreichs angelangt. Nun wollen wir die Schlussfolgerung ziehen. Aber ist dies denn noch nöthig? Geht diese nicht aus den Thatsachen hervor? Müssen wir uns bei den religiösen Einrichtungen Russlands dieselben Fragen vorlegen wie bei den politischen?1) Müssen wir uns fragen, oh nun, fast zweihundert Jahre naoh Peter dem Grossen, Russland wirklieh ein europäischer, ein moderner Staat sei? Die Antwort kann nicht zweifelhaft sein. Tu der Religion, wie in der Politik zeigt sich Russland als ein Staat des „ancien regime". Seine Sitten und seine Gesetze machen es zu einem solchen. Das Princip der Gewissensfreiheit, das von allen civilisirten Staaten anerkannt wird, hat hier noch keinen Eingang gefunden. In dieser Beziehung steht das grosse Russland hinter allen Staaten Europa'« und Amerika's weit zurück; und dieser Mangel ist um so bedauerlicher, als gerade die Religionsfreiheit vielleicht der sicherste Gradmesser der intellee-tuellen Entwicklung eines Volkes ist. Russland ist in Religionssachen, wie in der Politik in alten Grundsätzen, bei verschimmelten Pro-ceduren, kurz in der guten alten Zeit, wo der Staat in jeden Topf gukte, über das Gewissen der geliebten Unterthanen wachte und den Irrenden mit väterlichem Zwang auf den rechten Weg zurückführte, stecken geblieben. Es wäre ungerecht, wenn man sagen wollte, Russland befindet sich noch im Mittelalter, aber im Vergleich mit anderen Ländern ist es eben immer noch unendlich zurück. Besonders beschämend aber erscheint es, dass es, wenn man es mit ihm selbst vergleicht, heute, am Ende des neunzehnten Jahrhunderts in Sachen der Toleranz weiter zurück ist, als am Ende des achtzehnten. Dieses Reich, das die Kulte Asiens und Europa's in seinen weiten Grenzen beherbergt, träumt noch von einer staatlichen Einheit auf religiöser Basis. Dadurch fühlen wir uns bei diesem anseheinend so jungen Volke plötzlich in die Zeiten Philipps IL oder Ferdinands von Oesterreich, oder besser noch nach Byzanz, ja sogar in die antiken Staaten versetzt; denn wir haben es' hier mit einem alten, viel tausendjährigen Begriff zu thun. Diese archaistische Idee ist beim russischen Volke ein Zug der Kindheit. Der Einheitsgedanke besitzt gewiss seine Grösse, obschon er sich meistens als ein trügerisches Fantom entpuppt, und man begreift wie diese Idee der beständige Traum grosser Männer und grosser Nationen sein konnte. Es ist recht und ehrenhaft, wenn eine Kirche diesen Einheitsgedanken zu verwirklichen sucht; aber die geistige Einheit hat nur dann einen Werth, wenn sie eine reale ist. Es muss eine innerliche, lebendige und freie, nicht aber eine äusserliche, hinfällige, nur scheinbare auf Gewalt oder Furcht gestützte Einigkeit sein. 1) Siehe Band II, Buch VI, Capitel 3. Von den alten Inquisitoren bis auf unsere modernen Jacobiner herab, haben wenige Ideen der Menschheit so viele Leiden gebracht, als gerade dieser Gedanke der religiösen Einheit des Staates, der einen immerwährenden Vorwand zur Tyrannei bildete. Die Einheit des modernen Staatsgedankens kann nur in der möglichst freien Befriedigung der moralischen und der materiellen Interessen des Volkes erstrebt werden. Die Religion ist eine Art Uniform, die Kussland allen seinen Unterthanen, ohne Rücksicht auf die Verschiedenheiten der Rassen, der Temperamente oder der Gewohnheiten aufdringen will. Ebensogut könnte man aber alle Reichsangehörigen, den Lappländer wie den Georgier in das rothe Hemd und den Tulup des Mushik kleiden. Dazu ist aber Russland viel zu gross, es reicht an zu verschiedene Klimate, es beherbergt zu verschiedene Rassen, als dass sich Geist und Körper in eine solche Uniformirung fügen könnten. Seit seiner ungeheuren territorialen Ausdehnung und seit der inneren Spaltung seiner eigenen Kirche ist die religiöse Einheit in Russland nur noch eine gesetzliche Fiction. Die Mannigfaltigkeit ist nun einmal eingedrungen; es wäre also gewiss am besten, man würde sie ruhig anerkennen und, da die Einheit doch nun einmal unwiderbringlich verloren ist, gerade diese Vielheit für die nationale Intelligenz, für den Staat und sogar für die Religion nutzbar machen. Bei vollständiger Religionsfreiheit würde die Staatskirche an Tiefe viel mehr gewinnen als sie an Gebiet verliert. Die Begriffe Russe und orthodoxer Christ sind geschichtlich zu sehr in einander verwachsen, als dass die Kirche Massendesertionen des Volks oder „der Intelligenz" zu befürchten hätte. Um den Preis einiger kleinen Niederlagen, die ihr höchstens die Seelen kosten könnten, die ihr so wie so nicht mehr angehören, würde sich die Orthodoxie von allen entehrenden Flecken reinigen und sich aus der Erniedrigung erheben, die sie schändet. Die Interessen der Orthodoxie, wie diejenigen der übrigen Kulte beruhen weniger auf der Opposition, als es sich die Bureaukraten einbilden; die Würde des einen Kultus kann mit der Emancipation der anderen nur wachsen. Die verschiedenen Confessionen würden wider Willen solidarisch sein. Die Staatskirche würde im Wettstreit und im Kampfe mit den übrigen Kulten einen Sporn erhalten, der mehr werth wäre, als alle Privilegien, Wann zeigte sich die französische Kirche mächtiger und glänzender als damals, wo die Protestanten in Frankreich sich frei bewegen durften? Mit der Aufhebung des Edictes von Nantes und der Zerstörung von Port-Royal begann ihr Verfall. Eine Priesterschaft, die ihre Schäflein in den Mauern der weltliehen Gesetze gefangen hält, braucht wenig Tugend und Wissen. Die grÖBSte Inferiorität Russlands besteht eben im Mangel an religiöser Freiheit. Dieser Mangel ist verletzender als derjenige der politischen Freiheit; denn die religiöse Freiheit ist wesentlicher und dabei viel leichter zu gewähren. Von allen sogenannten „modernen" Freiheiten ist sie die dem Individuum unentbehrlichste und die dem Staatswesen am wenigsten gefährliche. Sie ist vielleicht die einzige, die niemals Enttäuschungen im Gefolge hatte, wenigstens da, wo sie nicht durch den verkehrten Fanatismus und die Inconse