DAS REICH DER ZAREN UND DIE RUSSEN VON ANATOLE LEROY - BEAULIEU. AUTORISIRTE DKUTSCHE, MIT SC 11L U SS R EM E RKITNt Kussland und das russische Volk bei sich zu Hause, unter sich selbst, in seinem nationalen Leben und in seiner Entwicklung. Der Leser wird vielleicht in diesen Schilderungen mitunter eine Art des Zauderns der Hand, eine zu wenig sichere Zeichnung, zuviel Abschwäohung von Schatten und Licht linden; aul einigen Blättern wird er selbst eine gewisse Zusammenhanglosigkeit und scheinbare Widersprüche zu linden meinen. Es wäre mir ein Leichtes gewesen, jedem Vorwurf der Art vorzubeugen. Ich hätte nur vorgefasston Ansichten oder dem System zu folgen gehabt, das Alles vereinzelt und den innern Zusammen- hang der lebendigen Thatsachen bei Seite lässt. Ich hätte nur weniger Gewissenhaftigkeit auf das Verständnis« der oft noch unbestimmten Züge, auf die wechselnde Farbe, auf den beweglichen und flüchtigen Gesiehtsausdruck meines Modells verwenden müssen. Kurz, ich hätte hierzu nur die eine Seite der Dinge ins Auge zu fassen, in volles Licht zu stellen und alles Andere im Schatten zu lassen gebraucht; mein Bild hätte dadurch mehr Belief und mehr Glanz erhalten, aber es wäre weniger wahr gewesen. Das heutige Russland hat thatsäcbüch in Sitten nnd Gesetzen, in der Nation und im Staate die Einheitlichkeit und Einfachheit keineswegs mehr, die es noch unter Alexander I. und Nikolai kennzeichneten. Das Russland von heute, das Russland der Reformen ist ein Land, in dem Alles auf dem Wege der Veränderung ist, ohne dass die Umwandlung auf irgend einem Gebiete schon ganz Vollzügen wäre. Der letzte Herrscher, ein dem öffentlichen Wohl ganz hingegebener aber den verschiedensten Einflüssen zugänglicher Fürst, ohne die Bestimmtheit und Klarheit der Anschauungen Peters des Grossen, geneigt, vor den Werken seiner eigenen Hand zu erschrecken, unsicher darüber, welchen Weg er gehen, wo er Halt machen solle und daher gleichsam vom Schicksal bestimmt, das Opfer seiner zahlreichen Reformen zu werden: Alexander II. hat bei all seinen edlen Eigenschaften und Indien Plänen last überall in der Institution wie in der Regierungspraxis den Stempel seiner eigenen Unsicherheit und des .Mangels an Uebereinstimmung unter seinen Rathgehern hinterlassen. In Russland hat bekanntlich die Regierimg viel für das Aeusscre, viel für den Schein gethan, oder — was dasselbe ist — die in St. Petersburg erlassenen Gesetze linden im Innern des Reiches durchaus nicht immer Respect, der Wille oder die Absieht des Herrschers durchaus nicht überall Gehorsam, Zwischen den Maximen der Regierung und der Thätigkeit ihrer Beamten, zwischen der Theorie und der Wirklichkeit besteht immer eine grosse Kluft. Diese Spall eng ist durch die Reformen selbst vielfach nur noch grösser, nur noch häufiger geworden. Hieraus entspringt dem Ausland gegenüber die Schwierigkeit, das neue Russland zu schildern: die Inconsequenzen und Widersprüche, die man dem Schriftsteller zum Vorwurf zu machen versucht ist, entspriessen dein Lande, der Regierung und einer Periode des Ucbergnngs. April L881. Inhalt des ersten Bandes. Erstes Buch. Natur, Klima und Boden. Erstes Kapitel. Warum es schwierig ist, Russland kennen zu lernen. — Beschreibung des russischen Bodens. Worin unterscheidet sieh Russland vom westlichen Kuropa, worin ist es europäisch V.............. Zweites Kapitel. Ib'e beiden grossen Zonen in Russland. — Die Zone der Wälder und die wahllose Zone. — Unterabteilungen der letztem. — Das Land der Schwarzerde. — Die Steppen. — Zeitweilige Steppen. — Kwige Steppen. Drittes Kapitel. Homogcnoi'tät Russlands. Diese weiten Ebenen waren zu politischer Einheit bestimmt. — Ungleiche Dichtigkeit der Bevölkerung. Wie die Bevölkerung lange Zeit auf ganz künstliche Weise vertheilt wurde. Relative Wichtigkeit der verschiedenen Regionen; die llauptgruppcn und die Nebengruppen.................. Zweites Ruch. Die Racen und die Nationalität. Erstes Kapitel. Ist das russische Volk ein europäische! Volk? Hat Russland eine homo-geue Bevölkerung? Wichtigkeit dieser doppelten Frage. — Das ethnographische Museum in Moskau. — Gründe der Mannigfaltigkeit der Racen auf dem gleichförmigen Boden. Gründe der noch unvollkommenen Verschmelzung. - Warum die ethnographischen Karten nur ungenügende Daten gehen.............* . . Zweites Kapitel. We drei wichtigsten Volkselcmentc Russlands. — Die Finnen. — Hat dieses Element in Westeuropa ein AnalogonV Verschiedenheil und Vor- einzelung der noch bestehenden finnischen Gruppen. — IhrAntheil an der Bildung des russischen Volks. — Der russische Typus und der finnische Stempel. — Ist diese Verwandtschaft für Russland ein Grund zur Inferiorität V Befähigung der Finnen zur Civilisation.....47 Drittes Kapitel. Das tatarische oder türkische Element. Tataren und Mongolen. — Die Kalmücken. — Wieviel tatarisches Blut ist den Russen eigen V — Die Tataren in Russland und die Araber in Spanien. — Langsame Ausscheidung des tatarischen Elements. — Ethnischer Einfluss der türkischen Stämme vor den mongolischen Invasionen. — Verschiedene Typen der heutigen Tataren. Ihre Sitten und ihr Charakter......58 Viertes Kapitel. Das slavische Element und die russische Nationalität. — Slavcn und der Panslavismus. Die Slaven und die Letto-Litthauer. — Wie entstand das russische VolkV Seine verschiedenen Stämme. — Ihre Unterschiede nach Ursprung und Charakter. — Die Grossrussen. — Die Weissrussen. — Die Kleinrussen. — Die Ukränophilie......72 Fünftes Kapitel. Russland und die historischen Nationalitäten seiner westlichen Grenzmarken. Hindernisse der Rusaißcation. — Die Deutschen und der deutsche Einfluss. — Antipathie gegen den „Ncmctz". — Die Deutschen in den Ostseeprovinzen und in Bolen. — Die polnische Frage, Gegenseitiges Interesse der Russen und Polen an einer Versöhnung. — Plebejische Nationalitäten und demokratische Politik.....93 Dritte» Buch. Das nationale Temperament und der nationale Charakter. Erstes Kapitel. Nutzen und Schwierigkeit des Studiums des Nationalcharakters. — Russland ein Land, in dem die äussere Umgehung am meisten auf den Menschen einwirkt. — Einige Wirkungen des Klimas. — Der Norden und die Trägheit der Kälte. — Der Winter und die Unterbrechung der Arbeit. — Mangel an Sinn für körperliche Thätigkeit. — Die gewöhnliche Mangelhaftigkeit der P>nährung, die Trunksucht, die Hygiene und die Sterblichkeit. — Die Kälte und der Schmutz des Nordens. — Sind die nördlichen Länder der Sittlichkeit besonders günstig ? . . . 107 Zweites Kapitel. Der russische Charakter und der Kampf gegen das Klima. — Der Norden keineswegs das natürliche Vaterland der Freiheit. — Resignation, Passivität und Abhärtung gegen Leiden. — Praktischer Sinn und reale Instincte. — Eindrücke der Natur; ihre Trübseligkeit — Ihre Grösse und ihre Annuth. — Wirkungen dieses Gegensatzes. — Die sogenannten - TX — Nomadciigclüste clor Russen. — Di« Monotonie Grossrusslauds und der Mangel an Originalität.................19 Drittes Kapitel. Die Abwechselung in der russischen Natur liegt in dem Wechsel der Jahreszeiten. — Wie die Gegensätze von Winter, Frühling, Sommer auf das Volkstemiicrament eingewirkt haben. — Der russische Charakter ist extrem, wie das Klima. — Seine Widersprüche. — Seine Biegsamkeit. — Seine Fähigkeit der Aneignung. — Eine historische Personitication des Nationalcharakters.................132 Viertes Kapitel. Der russische Charakter und der Nihilismus. — Ursprung und Wesen des Nihilismus; seine drei Entwicklungsphasen. In welchen Puuclou er mit dem Nationalcharakter zusammenbangt. — Combination von Realismus und Mysticismus. — In welchem Sinne der Nihilismus eine Sectc ist. — Mittel der Propaganda. — Radicalc Instincte des russischen Geistes. — Die slavische Frau und die Frauenfrage in Russland 144 Vierten "Buch* Die Geschichte und die Elemente der Civilisation. Erstes Kapitel. Hat Russland ein historisches ErheV Ist es wahr, dass es sich in den Grundlagen seiner Civilisation vom Westen unterscheidet? Verschiedene Theorieen, Die Slavophilen und die Occidentalen. Ursprung und Ziele der Slavophilen. — Worin die Schutzredner einer nissischen Civilisation mit den Lästerern Russlands übereinstimmen. — Geheime Aehnlichkeit der Slarophilie und des Nihilismus. — Die drei Auffassungen von der Geschichte und den nationalen Aufgaben...........168 Zweites Kapitel Das älteste Russland und Europa, Züge der Verwandtschaft und Aehnlichkeit. Unähnlichkeiten. — Die Waräger. Das Christentum und die byzantinische Erziehung. — Die Theilfürstenthümer und die Verlegung des nationalen (Jentrums. — Die grosse Kntwcgung der russischen Geschichte......................IH2 Drittes Kapitel. Die tatarische Herrschaft, ihr Einfluss auf die Sitten und den Nationalcharakter. Die Souveränität und der politische Zustand. — Ursachen und Eigenart der moskowitischen Selbstherrschaft. — Worin unterschied sich Russland im siebzehnten Jahrhundert von dem Westen? — Lücken in der russischen Geschichte...........1!»2 Viertes Kapitel. Von der Rückkehr Russlands zur europäischen Civilisation. Vorläufer Peters des Grossen. — Charakter und Verfahren des Reformators. — Folgen und Fehler der Reform. Geistiger und gesellschaftlicher Dualismus. — Wie hat die Autokratie dem Anscheine nach ihre historische Aufgabe gelöst?..................210 Fünftes Buch, Die sociale Rangordnung. Die Städte und die städtischen Classen. Erstes Kapitel. Die ('lassenunterschiede in Russland; worin sie ausser lieh und oberflächlich, worin ticferliegend und dauernd sind. — Der Stoss, den die alte sociale Rangordnung durch die Aufhebung der Leibeigenschaft erhalten hat. — Alle neueren Reformen zielen dahin, die Scheidungen der Classen zu vermindern. — Wie in dieser Beziehung das Werk Alexanders II. dem Werke der französischen Revolution gleicht, worin es von demselben abweicht. — Charakter und Ursprung aller dieser socialen Unterscheidungen. — Privilegirte und nichtprivilegirte Classen. — Mangel an Solidarität zwischen den ersteren. Mangel au llomogeneität in jeder derselben. — Nebeuclassen.............2M Zweites Kapitel. Missverhältnise zwischen der städtischen und der landlichen Bevölkerung. — Relativ geringe Zahl der Städte in Russland und in den meisten slavischeu Ländern. — Erklärung dieser Erscheinung. — Grunde gegen die Zusammcnströmung der Bevölkerung. — Die Städte und ihre Bewohner vor Peter dem Grossen. — Anstrengungen Beters und Katharinens, ein Bürgerthum zu schaffen............245 Drittes Kapitel Classification der Stadtbevölkerung seit Katharina II. — Der Handwerker und der Moschtschanin oder Kleinbürger. Städtisches Proletariat. — Wie sich dasselbe in der Regel den Charakter des Landvolks erhalten hat. — Die Kaufmannsgildeu und ihre Privilegien. — Wie die Aufhebung der Leibeigenschaft ihnen den Zugang zum Grundbesitz geöffnet hat. — Die Ehrenbürger. — Russland vor Kurzem noch ohne diejenigen Gewerbe, aus denen das westeuropäische Bürgerthum sieh ergänzte. — In wieweit die Reformen dazu beitragen, ein Bürgerthuin nach Art des europäischen zu schaffen............255 Sechstes Bach. Der Adel und der Tschin. Erstes Kapitel Der Adel und die Bauern erscheinen als l'ersoniiicationen eines doppellen Russlands, als zwei gleichsam übereinander geschichtete Volkselemente. Nach ihrem Ursprung, wie nach der Weise ihrer Ergänzung weicht die russische Dworänstwo von allen ähnlichen Institutionen des Westens ab. — Persönlicher und erblicher Adel. - - Grosse Zahl der Kilelleule — Die russischen Titulaturen. — Die Nachkommen lluriks und Ge- (limins. - Warum bildet dieser hohe Adel nicht eine Aristokratie? Russisches Familieurecht. Gleiche Theilung der Güter unter die männlichen Erben. Politische Folgen dieses Systems. — Versuche, ein Eratgeburtsrecht und Majorate einzuführen..........268 Zweites Kapitel Woran lag es, dass das Monopol des Grundbesitzes dem Adel keine politische Macht verleihen konnte? — Geschichtliche Gründe für diese Anomalie. Die Drushina der Knäsen und der freie Dienst der Bojaren. — Alte Auffassung vom Grundbesitz: Die Wotschina und die Pennslje. — Der Zarcndieust, die einzige Quelle der hohem Lebensstellung. — Die Rangstreitigkeiten und die Mestnitschestwo. — Warum aus dieser keine wirkliche Aristokratie hervorgehen konnte. — Der Rangordnung der Familie folgt die Rangordnung der Individuen. — Die Rangliste! und die vierzehn Classen des Tschin............. 388 Drittes Kapitel. Wirkungen der Rangliste auf den Adel. - Der Beamte und der Gutsbesitzer einst in der Person des Dworänin verschmolzen, fallen im Adel der Gegenwart hautig aus einander. Daher zwei entgegengesetzte Strömungen in dem letztern. — Der radicale Geist im Adel und das Tschinownikthum. — Der revolutionäre Dilettantismus. — Die höbe Gesellschaft und die aristokratischen Zirkel. — Der Gebrauch des Französischen als gesellschaftliches Unterscheidungszeichen. — Der Mangel an Nationalität und der Kosmopolitismus........299 Viertes Kapitel. Die persönlichen Privilegien der Edelleute und die Prärogative ihres Standes. - Was die Aufhebung der Leibeigenschaft zugleich mit dem Monopol des Grundbesitzes dem Adel genommen hat. — Die Dworänstwo von der Expropriation bedroht. — Wie sie in der Praxis alle ihre Privilegien verloren hat, ohne derselben gewaltsam entkleidet worden zu sei». — Wichtigkeit der den Adelsversammlungen seit Katharina II. ortheilt.cn Vorrechte. — Warum die Adelsvcrsammlungeu keinen Vortheil aus diesen Vorrechten haben ziehen können. — besitzt Russland Flemenie au einer politischen Aristokratie?...............:m Siebentes Buch* Der Bauer und die Aufhebung der Leibeigenschaft. Erstes Kapitel. We russische Literatur und die Apotheose des Mushiks. - Verschiedene (lassen von Hauern. — Ursprung und Gründe der Leibeigenschaft. Die Proline und der Obrok. - Lage der Hauern vor der Freigebung, — Napoleon III. als Refreier der Leibeigenen........ Zweites Kapitel. Kragen, die als Folge der Emancipatinn aufgetaucht sind — Ansprüche und Enttäuschungen des Adels. — Die Ackergesetze. — Konnte man die Leibeigenen freigeben, ohne ihnen Land zu verleihen:' — Gründe für die Landzutheilung an die Bauertl.............337 Drittes Kapitel. Modus und Bedingungen des Landkaufs. — Vorschüsse des Hcichsschatzcs Augenblickliche Lage dieser Operation. — Verzögerung in den letzten Jahren der Regierung Alexanders 11. — Wie in der hrohne noch eine halbe Leibeigenschaft fortbestand, die erst unter Alexander III. aufgehoben wurde. — Warum der Grundbesitz den Freigegebenen oft zur Last wird. — Ungleiche Behandlung der Bauern in den verschiedenen Regionen. — Das taxfreie Viertel. — Enttäuschung des Bauern. Wie er sich die Freiheit gedacht..............850 Viertes Kapitel Erfolge der Emancipation. — Warum die Sitten und die gesellschaftlichen Zustände weniger von ihr berührt wurden, als es ihre Gegner wie ihre Anhänger vorausgesetzt hatten. — Die Enttäuschungen und ihre Gründe. — Wirtlischall liehe Resultate. — Wie sehr dieselben in den verschiedenen Regionen schwanken. — Die Emancipation hat oft die Existenzbedingungen des Herrn mehr verändert, als die des Bauern. — Moralische und sociale Folgen................ . 868 Achtes Buch. Der „Mir", die bäuerliche Familie und die Dorfgemeinden. Erstes Kapitel. Die Emancipation und das Bauerland. — ist der „Mir" eine slavische Institution V — Alter und Ursprung des Gemeindebesitzes in Russland. — Verschiedene Ansichten hierüber. — Verschiedenheit des moskowiti-Bchen und des westlichen Russlands vom agrarischen Slandpunct aus 887 Zweites Kapitel. Die Dorfgemeinden haben ihr Vorbild in der Familie. — Die Gemeinde, als erweiterte Familie betrachtet. — Verwandtschaft der Dorfgemein-schaften mit den Familiengemeinschaften. Die patriarchalischen Sitten des Mushiks und die alte bäuerliche Familie. — Autorität des Familienhaupts. — Gütergemeinschaft. — Die Emancipation hat die Familienbande gelockert. — Zunahme der Familientheilungen, ihre materiellen .Missstande und ihr moralischer Nutzen. Knechtschaft der Frauen. — Fortschritt des Individualismus und seiue Folgen......808 Drittes Kapitel. Dorfgemeinden. Modus der Thcilung und der Zutheilung des Landes. — Grosse Gemeinden und freie Nutzung unbesiedeltcr Ländereien. — Der „Mir" in der Gegenwart und die periodischen Thcilungen, — Theiluugeu - XIT1 nach Seelen und nach Tjäglo's. — Theilungsfristen. — Missstände der häufigen Theilongen. — Die Zutheilung durch das Doos. Ein Theil der Mängel, die dem Mir zugesprochen werden, fällt auf die Grösse der geschlossenen Dörfer zurück. Kolgen der allzu grossen Parcellirung 41« Viertes Kapitel Theorie und Praxis im Mir. — Die materielle Gleichheit der Landan-theilc ist nicht immer Gleichheit der Thcilung. — Reparation nach Arbeitskräften und Hülfstnitteln der Arbeiter. Monographie einer Gemeinde. Familien ohne Seelen, starke, mittlere, schwache Familien. - Willkür uul Ungerechtigkeiten. — Der Wucher. Die „Landfresser". Bäuerliche Oligarchie. Bauern ohne Land und landisches Proletariat......................434 Fünftes Kapitel Anhänger und Gegner des Gemeindebesitzes. — Häufige Debertreibungen in beiden Lagern. — Hängen die dem Mir mit Rechte vorgeworfenen Mängel nothwendig mit dem Gemeindebesitz zusammenV Viele von ihnen sind die Kolgen der solidarischen Haft und des liscalisclien Systems Die Lage, in welche die Emancipation und der Landkauf die Gemeinden versetzt hat. Ausdehnung des bäuerlichen Landantheiis, — Der Mir ist in Wirklichkeit noch nicht Eigenthümer des Grund und Bodens. Die Dorfgemeinden werden erst nach Ablösung der Ankaufsannuitäten in normalen Zustand treten.........44 Schlussbemerkungen des l'obersetzers..........." ' f Erstes Buch. Natur, Klima und Boden. Erstes Kapitel. Warum es schwierig ist, Russland kennen zu lernen. — Beschreibung des russischen Bodens, Worin unterscheidet es sieh vom westlichen Europa, worin ist es europäisch ? Unkenntniss des Auslandes ist einer der Hauptfehler Frankreichs, eine der Hauptursachen seiner Missgeschicke gewesen. Gegen diesen groben Fehler unserer Erziehung Studien wir jetzt ein Heilmittel: wir entschliessen uns, unsere Kinder die Sprachen unserer Nachbarn lernen zu lassen; soll aber unsere Kenntniss vom Auslande uns von ernstem, politischem Nutzen sein, so darf sie sieh nicht auf die Völker beschränken, welche uns Grenznachbarn sind. Wie das alte Griechenland bildet das moderne Europa eine Familie, deren Glieder selbst inmitten ihrer Kämpfe alle in einem gegenseitigen Abhängig-keitsverludtniss stehen. Die Interessen der auswärtigen Politik sind allgemeine, die der innern Politik sind es kaum weniger. Unter den europäischen Staaten gieht es einen, der trotz seiner entfernten Lage mehr als einmal mit grossem Gewicht auf dem "Westen gelastet hat. Er ist an die Grenzen Asiens gebannt, aber zwischen ihm und uns liegt nur Deutschland. Fr ist der ausgedehnteste Staat Europas, er zählt die grösste Bevölkerung und ist am wenigsten bekannt: in gewisser Hinsicht sind der muhamedanische Orient und die beiden Amerika es mehr. Die Entfernung kann uns von Russland nicht mehr trennen, aber Sitten, Einrichtungen, Sprache haben hohe Schranken zwischen ihm und dem übrigen Europa er- Le riiy-Biiftulie«, Reich d, Zaren u. massen Mittelasiens; zwischen dem schwarzen Meer und dem Kaspisee erreichen sie die gigantische Mauer des Kaukasus, dessen Fuss zum Theil unter dem Niveau des Meeres liegt und dessen Gipfel die des Montblanc um 800 Meter überragen. Im Nordwesten hat Russland im Ladoga- und Onegasee die grössten Seen Europas, in Sibirien, im Baikal und Balkasch die grössten Asiens, im Süden, in dem Kaspi- und dem Aralsee, die grössten der Erde. Seine Flüsse stehen im Verhältniss zu seinen Ebenen; in Asien Ob, Jenissei, Lena, Amur; in Europa Dnjepr, Don, Wolga, die Centraiader Kusslands, ein Fluss der in seinem an Krümmungen reichen Lauf eine Länge von nahezu. 1000 Lieues erreicht und nicht mehr europäisch ist. Neun Zehntel des russischen Gebiets sind fast noch im bevölkert, und doch zählt Russland schon eine Bevölkerung von mehr als 100 Millionen Seelen, doppelt soviel als die volkreichsten christlichen Staaten beider Frdhälftcn. Nur das europäische Russland zwischen Eismeer und Kaukasus genommen, gehört dieses Land wirklich zu Europa? Sind blos die Verhältnisse ins Grosse gerückt, und ist nichts dort anders, als der .Massstab der Dimensionen, oder genügt diese wunderbare Ausdehnung noch nicht, um lfussland von unserm westlichen Europa zu unterscheiden? Sind nicht auch die Bedingungen der Civilisation durch die unermess-liche Frweiterung des Gebietes bestimmt, das sie zu durchdringen hat? Der Gegensatz der Verhältnisse allein wäre schon ein Grundunterschied zwistdien dem alten Europa und Russland, aber ist er der einzige? Entspringen diesem ersten Gegensatz nicht andre, gleich wichtige, sind geographische Structur, Hoden, Klima Russlands europäisch? Statt wie Afrika durch einen schmalen Streifen an den allgemeinen Stamm der alten Welt gebunden zu sein, bildet Europa eine dreieckige Halbinsel, deren breite Basis sieh ganz an Asien anlegt und mit ihm zu einem Ganzen sich vereinigt. Zwischen beiden zieht sich nur eine Bergkette von geringer Breite und Höhe hin und unterhalb dieser Kette, die nichts trennt, ein breites Thor, das nichts vorschliesst. So an Asien gelöthet, hat Russland dessen äussere Gestaltung beibehalten. Zwei grosse Züge unterscheiden Europa vor allen Thailen der Erdkugel und machen es zu der natürlichen Heimath der Civilisation: zuerst seine Gestaltung, in welche Meere tief einschneiden und die Montesquieu „in kleine Stücken zerschnitten," Humboldt „peninsular, gegliedert nennt, ferner ein gemässigtes Klima, wie es nirgend unter gleicher Breite herrscht, ein Klima, das zu grossem Theile die Folge dieser Bodengestaltung ist. Ganz anders ist die Structur Russlands. In seiner grössten Ausdehnung sich an Asien schliessend, im Norden und Nordwesten durch Meere begrenzt, «leren Eismassen seinen Ufern wenig von den Vortheilen der Küste übrig lassen, ist Kussland eines der geschlossensten, und ganz vorzugsweise continen-talen Landgebiete der Erde. Mit der zerstückten, gegliederten Gestaltung Europas fehlt dem russischen Gebiete das europäische, d. h. das maritime und gemässigte Klima. Es hat ein Continental es Klima, das heixst ein ebenso extremes in der Strenge des Winters wie in der Glutli des Sommers. Aueh die mittleren Temperaturen sind dort irreleitend. Die Linien der Isothermen wenden sich im Sommer gegen den Fol und ziehen sich im Winter nach Süden, so dass der grössere Theil Russlands im Januar zur kalten, im Juli zur heissen Region gehört. Die Ausdehnung des festen Landes allein verdammt es zu extremen Jahreszeiten. l>il> wie der Wolga, zeigen dieselben Anschwemnuingslager, dieselbe Horizontalität des Hodens und der geologischen Schichten. Auf beiden Seiten bleibt die Vegetation ähnlich. Kaum unterscheidet das Vorkommen eines einzigen Baumes, der Arve der Alpen, (pinus Cembra) die transuralischen von den cisuralischen Wäldern. Man muss ins Herz Sibiriens, zum obern Jenissei und zum Baikalsee vordringen, um bei einer andern Bodengattung eine neue Natur, eine andre Flora und eine andre Fauna zu finden. Die Erhebung des Ural hat die Aehnlichkeit und Einheitlichkeit der beiden Regionen die er trennt, nicht zerstört. Statt Grenze oder Schranke ist er für die beiden Kussland nur die Fundgrube der werthvollsten mineralischen Schätze. In seinen vulkanischen oder metamorphischen Gesteinen bietet er ihnen die Adern und Metalle, die den regelmässigen Lagerungen ihrer weiten Ebenen fehlen. El trennt sie nicht mehr als der Fluss, dem man seinen Namen gegeben, und wenn einmal das westliche Sibirien stärker bevölkert sein wird, wird der Ural gleichsam die Centralaxe, der Mittelgrat der beiden grossen Reichshälften sein. Als ein Ganzes betrachtet, das aus zwei analogen Hälften be- steht, erscheint also Russland als unserm Europa durchaus fremdartig, ist es deshalb asiatisch, muss es im Namen der Natur an die alte Welt, zu den in Schlaf versunkenen oder stationären Völkern des äussorsten Ostens zurückverwiesen werden? Nein, keineswegs, Russland ist ebensowenig asiatisch, als europäisch. An Bodenbesehaffen-heit und Klima, an allen natürlichen Bedingungen unterscheidet es «ich nicht weniger von dem historischen Asien, wie von dem eigentlichen Europa; es war keineswegs ein reiner Zufall, dass die asiatischen Civilisationen in ihm zu Grunde gingen. An beiden Abhängen des Ural belegen, bildet Russland für sich allein eine besondere Kegion mit speciellen physikalischen Merkmalen, eine Region, die all ■ nördlichen Ebenen des alten Continents umfasst, die zu weit nach Süden reicht, um eine boreale genannt werden zu können, die man aber die russische Region nennen darf und die von den Wüsten Centraiasiens bis über den Polarkreis hinaus, von den Mündungen der Donau bis zu den Quellen des Jenissei und der Lena fast die ganze colos-sale Niederung des Nordens der alten Welt, das Nicder-Europa und Nieder-Asien Humboldts umfasst. Mit grösserem Rechte als dem alten Asien oder dem westlichen Europa darf Russland an Natur und physikalischen Bedingungen Nordamerika verglichen werden, jenem Amerika, das es durch Sibirien erreichen wird. Mit seinem Klima der Extreme und seinen unermesslichen Hamm erhältuissen war es eines jener allzu rauhen Länder, eine jener auf allzu weitem Plane liegenden Regionen, um die Wiege der Civilisation werden zu können. Ungeeignet, dieser die erste Pflege angedeihen zu lassen, ist es doch eines von den Ländern, die wunderbar geeignet sind, >ie entgegenzunehmen. Wie Nordamerika und Australien bietet Russland — seine äussorsten Landstriche ausgenommen — Europa einen empfänglichen Boden und ein Feld zur Entfaltung menschlicher Thätigkeit in grösstem Massstabe. Mit seinem unfreundlichen Himmel, seinen magern Wählern und entblössten Steppen, seinem Mangel an Stein und Raumaterial scheint Russland eine elende Stätte für die europäische Cultur: aber der Mensch bedarf weniger der freiwilligen, reichen Gaben des Bodens als der Leichtigkeit, sich dieselben zu eigen zu machen, ihn seinen Bedürfnissen zu unterwerfen und sozusagen zu zähmen. Viele schönere Landstriche in beiden Erdhälften bieten der Civilisation einen weniger sichern Boden. Es giebt in der neuen Welt ein Reich, dem die Wälder und Savannen Südamerikas eine fast ebenso reiche, unbegrenzte Entwicklung öffnen, wie die Russlands. Seine tropische Lage. Seine Ströme, die grössten der Erde, die Feuchtigkeit, die ihm die Passatwinde bringen, geben dort der Vegetation und dem Leben in allen seinen Formen eine unvergleichliche Kraft. Flora und Fauna sind von bewundernswerter Mannigfaltigkeit und Mächtigkeit; aber eben diese Fruchtbarkeit der Natur ist dem Menschen feindlich, weil er die Herrschaft über sie nicht zu gewinnen weiss. Kräuter und Wälder, wilde Thiere und Tnsecten machen den Hoden Brasiliens ihm streitig. Die Natur ist dort allzu reich, allzu unabhängig, als dass sie sich leicht auf die Bolle der Dienerin beschränken Hesse, und selbst wenn der Mensch hier wie in Indien sich materiell des Bodens bemächtigt haben wird, wird er Gefahr laufen, moralisch unter dem Joch zu bleiben, entnervt durch das Klima, Sclav der Eindrücke einer Natur, die ihn nur klein erscheinen lässt. Ganz anders steht es mit Rassland: hier freilich decken die Wälder weit geringere Flächen, und keine Vegetation spriesst unter ihrem magern Laubwerk-, nichts von jenen Lianen, nichts von den schönen Parasiten in allen Formen und Farben, die den tropischen Wald undurchdringlich machen. Die Fauna ist wie die Flora arm für ein su ausgedehntes Reich; wenig Insecten, keine Schlangen, keine wilden Thiere — nur einige Wölfe in den Wäldern, einige Bären in den Einöden des Nordens. Ausserhalb der grossen Wüsteneien findet man vielleicht auf der ganzen Erdkugel kein so weites Gebiet, in dem das Leben so wenig Mannigfaltigkeit und Kraft zeigte. Nur die unbelebte Natur, nur das Land ist gross, das Leben ist schwach, arm an Arten, gering an Erzeugnissen, ausser Stande, den Kampf gegen den Menschen zu bestehen. Von diesem wichtigen Gesichtspunkte aus ist Russland freilich so europäisch, wie irgend ein Theil Europas. Das Land dort ist fügsam und leicht in Dienst zu nehmen. Im Gegensatz zu den prachtvolleren Regionen beider Hemisphären ist es für freie Arbeit geschäffen. Die russische Scholle ver-. langt nicht Sclavenarbeit, es bedarf hier der Neger Afrikas und der chinesischen Kuli nicht. Die russische Scholle verzehrt nicht die Kraft dessen, der sie bebaut; sie droht seinem Geschlechte nicht mit Entartung, sie schafft keine Creolen. Der Mensch begegnet auf ihr nur zwei Hemmnissen : der Kälte und dem ausgedehnten Raum, — der Kälte, die leichter zu besiegen ist als die äusserste Hitze und minder gefährlich unserem Geschlecht und unserer Civilisation — dem Raum, der heute schon ein halb unterworfener Feind Russlands ist und in Zukunft ihm ein grosser Bundesgenosse sein wird. Zweites Kapitel. beiden grossen Zonen in Russland. — Die Zone der Wälder und die waldlose Zone. — Unterabtheilungen der Letztem. — Das Land der Schwarzerde. Die Steppen. — Zeitweilige Steppen. — Ewige Steppen. Der Hauptcharakter Russlands ist Einheit in der Unermesslieh-keit. Wer die äussorsten Grenztheile des weiten Reiches, die gefrorenen Tundren des Nordens mit den glühenden Wüsten am Gestade des Kaspisees, die Seeen und Granitbecken Finnlands mit den heissen Terrassen der Krimküste vergleicht, ist im ersten Augenblick überrascht von der Schärfe der Gegensätze. Es scheint; als müsse zwischen diesen Grenzen, zwischen Lappland, wo das Rennthier, und den kaspischcn Steppen, in denen das Kameel lebt, der Zwischenraum so gross sein, dass es unterschiedlicher Regionen bedarf, um dm auszufüllen. Das ist jedoch keineswegs der Fall. Russland hat selbst in Europa in seinen äussersten Grenzlanden die Proben aller Klimate. Die Gebiete, die am meisten abgetrennt erscheinen, Finnland, die Krim, der Kaukasus sind indessen nur Annexe des Reiches, natürliche Annexe, doch vom eigentlichen Russland sehr verschieden. Zwischen den Vorbergen der Karpathen und dem Ural dehnt sich em Land aus von einer Gleichartigkeit des Klimas und der äussern Form, die sich unmöglich auf gleich ausgedehntem Gebiet in gleichem Grade noch einmal linden Hesse. Von der gewaltigen Mauer des Kaukasus bis zur Ostsee zeigt dieses Reich, das an sich grösser ist, als das übrige Europa, vielleicht weniger Verschiedenartigkeit, als westliche Nationen, deren Gebiet zehn- oder zwölfmal kleiner ist. Ks ist die Gleichartigkeit der Ebene. Der Westen ist gemässigter, mehr europäisch, der Osten ist dürrer, mehr asiatisch, der Norden ist kälter, der Süden heisser; aber gegen die Winde vom Pol ungeschützt, kann der Süden nicht in Landschaft noch Vegetation so sehr vom Norden sich unterscheiden wie in Frankreich, Spanien, Italien. Russland hat seine Sommer, aber man möchte sagen, es hat keinen Süden. In dieser fundamentalen Einförmigkeit, gegenüber dieser Gleichartigkeit der Gestaltung und des Klimas erscheinen jedoch mehrere Regionen als von der Natur selbst mit besonderer Schärfe gezeichnet. Diese durch ein Zusammenfallen besonderer Merkmale und wie durch ein physikalisches Gesetz markirten Regionen lassen sich zu zwei grossen Gruppen, auf zwei grosse Zonen, die das ganze europäische Russland umfassen, zurückführen. Beide gleich eben und mit fast gleich extremem Klima bieten diese Zonen doch im Gegensatz zu ihren Aehnlichkeiten den merkwürdigsten Oontrast. Was Huden, Vegetation, Feuchtigkeitsverhaltnisse und die meisten physikalischen und ökonomischen Bedingungen betrifft, erreichen ihre Verschiedenartigkeiten fast das Mass vollkommener Gegensätzlichkeit. Wenn man die unbewohnbaren Grenzstriche des Nordens bei Seite lässt, theilen diese beiden Regionen fast gleiehmässig das Reich, indem sie es von West nach Ost quer durchschneiden, den Oral übersteigen und in Asien ihre Fortsetzung linden. Die eine ist die Kegion der Wälder und Moore, die andere die waldlose Region, die Zone der Steppen. Aus dem Gegensatz dieser beiden Zonen, aus dem natürlichen Dualismus der Steppe und des Waldes sind im Laufe von Jahrhunderten der historische Antagonismus und der heute beendet«1 Kampf der beiden Hälften Russlands, der Kampf des sesshaften Nordens und des nomadisirenden Südens, des Russen und Tataren, dann der Kampf des in den Waldregionen des Centrums gegründeten moskowitischen Staats mit den Söhnen der Steppe, den freien Kosaken, hervorgegangen. Die Waldzone ist trotz ihrer andauernden Verminderung durch Eutholzung noch die ausgedehnteste gehliehen. Sie bedeckt den ganzen Norden und die Mitte Russlands und zieht sich in immer schmäler werdendem Streif von West nach Ost, vom Gouvernement Kiew bis zu dem von Kasan. Im äussersten Norden jenseit des Polarkreises .wie auf den Gipfeln der Gebirge kann kein Baum der Intensität oder Dauer des Frosts widerstelm. Auf beiden Seiten des Ural giebt es nur Tundren, weite, traurige Einöden, in denen Moos den fast immer gefrorenen Boden bedeckt. In diesen Breiten ist keine Cultur möglich, kerne ändert» Weidekost als Moos, kein Zuchtthier als das Renn, dessen einzige Heimath diese Nordlande geworden sind. Jagd und Fischfang sind die einzige Thätigkeit der wenigen Bewohner dieser eisigen Wüsteneien. Im Norden des europäischen llusslands, dem die Nähe des atlantischen Oceans und der tiefe Einschnitt des weissen Meeres ein wenig Wärme zutragen, beginnen die Wälder vom 65. oder 66. Breitengrad. Vom weissen Meere erstrecken sieb diese Wälder, von sumpligen Lichtungen unterbrochen, bis über Moskau hinaus und in die Umgegend von Kiew.1) Von Nord nach Süd folgen sich die Baumgattungen in derselben Ordnung wie in unsern Alpen vom Gipfel zum Fusse der Berge. Die Lärche und Kiefer erscheinen zuerst im Norden, dann die Tanne und die Birke. Zu der Birke, der Kiefer und *) Die Verhältnisszahl der Wähler, die im Allgemeinen von Südwest nach Nordost zunimmt, schwankt zwischen ',]() und To"/,, der gesummten Bodcnflüchc. der Tanne, den drei gewöhnlichsten Baumarten in Russland, gesellen sich die Erle und die Espe; weiter im Süden /eigen sieh Linde, Ahorn» Linie und endlich die Eiche. Es giebt in diesen Regionen besonders im Nordosten, Dank dem Mangel an Verkehrswegen ausgedehnte Urwälder, aber auch dünn bestandene, zerstreute Gehölze, die von weiten Flächen unterbrochen werden, wo nur mageres Gesträuch fortkommt. Der grössere Theil dieser Wähler hat mindestens im Nordwesten vom weissen Meer bis zum Niemen und Dnjepi flachen, schwammigen und moorigen Boden, den dürre Sandflächen unterbrechen. Die höchsten Plateaus, das Waldaigebirge, erreichen nicht die Höhe von 1300 Meter. Diese Region ist wasser- und quellreich; von ihr gehen alle grossen Flüsse Russlands, die Hauptzullüsse seiner vier Meere aus. Das geringe Bodenrelief lässt hier zuweilen die Bildung bleibender und bestimmter Sammelkessel nicht zu. Kein Kamm theilt die Bassins, und mitunter vereinigen sich bei der Schneeschmelze die Zuflüsse der verschiedenen Meere in weiten Sümpfen, Auf dem kaum abgedachten Boden haben die Flüsse nur trägen, unbestimmten Lauf, die Wassel- verlieren sich bei der geringen Bodenneigung in endlosen Mooren oder sammeln sich in zahllosen Seeen, von denen einige ausgedehnte Becken sind, wie der Ladoga, ein wahres, kleines Binnenmeer, andre nur schmutzige Teiche, wie die 1100 Seeen des Gouver-" nients Archangel. In dieser ganzen Zone lässt der Winter, der die eine Hälfte des Jahres einnimmt, der Vegetation und Cultiir wenig Zeit. Der Boden bleibt oft über 200 Tage schneebedeckt, die Flüsse thaucn erst im Mai oder gegen Ende April auf. Liesse nicht der nordische Frühling We Vegetation gleichsam in plötzlicher Explosion hervorbrechen, so wäre alle Bearbeitung des Bodens vergeblich. Gerste, dann Roggen sind die einzigen Ceroalien dieser undankbaren Landstriche. Der Weizenbau ist selten und von geringem Ertrag, Flachs ist, die einzig*' Pflanze, die dieser rauhe Himmel wirklich gedeihen lässt. Hier sorgt die Erde nicht für die Nahrung ihrer Bewohner. Obgleich die Bevölkerung über weite Strecken dünn gesäet ist, obgleich sie kaum 10 Bewohner auf den Quadratkilometer zählt und oft noch tief unter diese geringe Ziffer herabsinkt, so erlangt sie doch von dem Boden, den sie baut, nicht das genügende Brod. Sie ist gezwungen mit einer Reihe kleiner Industrien das Leben zu fristen, das der Landbau ihr versagt. Spärlich und weit zerstreut wächst die Bevölkerung nur in kaum bemerklichem Masse; sie ist auf dem Punkte ihrer grösstmögliohon Ziffer angelangt. Von dieser ganzen nördlichen Hälfte seines europäischen Gebietes kann Russland eine Vermehrung seiner Bevölkerungszahl wie einen Zuwachs seines Reiehthums nur durch Beihülfe der Industrie erhoffen wie in der Region von Moskau oder in der des Ural. Ganz aiiilere Aussichten für die Zukunft eröffnet die waldlose Zone, die von beiden die originellere und weniger europäische ist. Weniger ausgedehnt, als das Waldgebiet ist sie durch unverständige Entholzungen, welche dem Boden Schutz und Feuchtigkeit, entzogen haben und das Klima, schlecht machen, unaufhörlich ausgedehnt worden. Sie nimmt den ganzen Süden Russlands ein, erstreckt sich mit wachsender Breite von West nach Ost von den alten polnischen Provinzen her, wendet sich dann stark nach Norden zu den Meridianen der Wolga- und des Ural, um endlich in den Oeden Asiens ihre Fortsetzung zu linden. Diese Zone ist, noch flacher, als die der Wälder; auf einem Räume, der mehrmals grösser ist, als Frankreich, zeigt, sie keine Hügel von 100 Meter Höhe. Im Westen senden die Karpathen eine Reihe von Granitblöcken, die den Lauf der Flüsse zusammendrängt und sie wie den Dniepr mit Katarakten verstopft, doch fast ohne dem Lande eine Abwechselung zu geben. Bald dehnt sieb der Boden in welligen Ebenen aus, bald zeigt er die vollkommene Horizontale des Meeres in der Ruhe, Bisweilen neigt er sich ein wenig gegen das schwarze oder das kaspische Meer, bisweilen fallt er steil ab und bildet über einander liegende Plateaus von verschiedenem Niveau, Stufen von verschiedener Höhe, die aber wiederum flach sind. Nichts begrenzt diese dem Auge endlosen Flächen, als der Horizont, der mit ihnen verschwimmt. Keine Erhebung, wenn es nicht in gewissen Gegenden kleine künstliche Aufschüttungen, Kurgane, sind, unzählige runde Hügel von 6 bis 12 und 15 Meter Höhe, die bisweilen in regelmässiger Linie angelegt sind, als ob sie einen Weg durch diese Einöden weisen sollten, — Gräber erloschener Völker oder Malzeichen verlorener Wege, von deren Höhe der Hirt der Steppen weithin seine Heerde überwacht.1) In diesen Ebenen kein Berg und kein Thal. An den Umrissen der Plateaus sich hinziehend, rinnen die Flüsse sehr oft am Fusso einer Art von Barre hin; aber diese Harren, die nach einem allgemeinen Gesetz der Dniepr, der Don und die Wolga auf ihrem rechten Ufer haben, sind in der Regel nichts als der Abhang einer hö- 11 Kurgane oder Mogili finden sich auch im Norden, in Sibirien, wie in ItuHshind. Zahlreiche Ausgrabungen haben in den letzten .Jahren jeden Zweifel an der Bestimmung dieser tuniuli zu Gräbern gehoben. heren Stufe, die auf ihrer Höhe ebenso einförmig und flach ist, wie die Niederungen des andern Ufers, die im Frühjahre unabsehbares Wasser bedeckt, Die Hache und Rinnsale, die aus der Schneeschmelze sich bilden, waschen den Boden aus und bilden doch ebensowenig Thäler, als die grossen Flüsse. Sie ziehen gewöhnlich in tiefen Einschnitten mit steilen Abfallwänden hin. wahre Gräben, die mau erst bemerkt, wenn man an ihrem Abhang steht, und in denen die Dörfer vor dem Wind der Ebene Schutz suchen. Das Fehlen der Bäume ist das bezeichnende Merkmal dieser ganzen Zone. In dem nördlichen Theile ist die Entwaldung ohne allen Zweifel eine That der Menschenhand; bisweilen ist sie erst neu, zu unsern Lebzeiten vollzogen. Weiter im Süden in den eigentlichen Steppen scheint dagegen die Natur die Schuld zu tragen. Boden und Klima, Mangel an Wasser und Schutz haben diese unermess-liehen Regionen dir Steppen fast allen Baumwuchses beraubt. Die TOTeinzelten Bäume, die wild wachsen, werden in den Grund der Gräben zurückgedrängt, die den Flüssen zum Hotte dienen. Die •'heue ist oft mit einer fruchtbaren Erdschicht bedeckt, die vielleicht ZU leicht, jedenfalls allen Winden zu sehr ausgesetzt ist, als dass Bäume in ihr wurzeln könnten, und der in der Regel kreidige Untergrund i*! einer Waldvegetation wenig günstig. TJeberdies ist er mit salzigen Substanzen versetzt, in denen nur magere Uüschel von Kräutern fortkommen. Ueberau hindert die Trockenheit das Wachsthum der Bäume und in einer Art circulus vitiosus vermehrt die Entwaldung wiederum nur die Trockenheit. Diese von den grössten Flüssen Europas durchzogene Region leidet an Wassermangel. Die Sonne geizt mit Hegen, der Boden mit Quellen. Dieser Mangel nimmt von Norden nach Süden, von Westen ,l:l('h Osten zu. Oft spärlich, immer unregelmässig — mindestens der Qualität nach - fallen die Regen nur im Frühling und Herbst, Im Sommer tritt der nackte, von einer asiatischen Sonne erhitzte Roden seine Feuchtigkeit einer Atmosphäre ab, die sie ihm nicht Wiedererstattet; die Wolken halten sich in einer Höhe, die ihren Dämpfen nicht möglich macht, sich zu Wasser zu verdichten. In gewissen Distrioten des äussorsten Südens hat man ganze Jahre, ja Perioden von 18 Monaten ohne einen Tropfen Regen vorübergehen sehen. Die durchlassende Kreide, die zumeist den Untergrund der Steppen bildet, absorbirt die Feuchtigkeit, ohne sie in Quellen wiederzugeben. Die Unterschiede der Niveauverhältnisse sind so unbedeutend, dass selbst in dem porösesten Boden sich eine genügende Wassermenge nicht ansammeln kann, um perpetuirliche Quellen — IG — /.nr Oberfläche zu bringen. Wie die ouadi der Wüste bleiben die Flussbetten oder bolki, die das Gebiet der Steppe wie Geleise durchziehen, oft während des grössten Theiles des Jahres trocken, und die Mäche, die im Grunde dieser Rinnen fliessen, liegen oft zu tief, um die Vegetation zu erfrischen. Der Wassermangel ist im Sommer oft so gross, dass in vielen Dörfern die Bauern aus Mangel an Quellen oder Bächen den flüssigen Schmutz der von Staub geschwärzten Lachen trinken, in welchen sie die Frühlingswasser sammeln. Diese südliche Zone, die um ihres Breitengrades willen scheinbar eines gemässigteren Klimas sich freuen müsste, ist vorzugsweise das Land der stark contrastirenden Jahreszeiten. Sie erlebt in demselben .Jahr den Frost des Nurdens und die Gluth des Südens und unterliegt abwechselnd der atmosphärischen Herrschaft Sibiriens und Centraiasiens, der Eisfelder des Nordens und der Sandwüsten des Südostens. Unter der Breite von Baris und Wien haben die Länder im Norden des schwarzen und des kaspischen Meeres im Januar die Temperatur von Stockholm, im Juli die von Madeira. Zwei extreme Jahreszeiten folgen einander hier fast ohne Uebergang, da Frühling und Herbst nur wenige Wochen dauern. Diese Gegensätzlichkeit der Jahreszeiten verschärft sich — wie der Mangel an Feuchtigkeit — je weiter man von Westen nach Osten, von Europa nach Asien gelangt, bis zum kaspischen Becken und den Ebenen Turkestans. Von West nach Ost zeigen die Isothermen zwischen ihren Sommer- und Winterdirectionen eine wachsende Divergenz. In diesen südlichen Gegenden sind die AVinter kürzer als im Norden, aber keineswegs weniger streng. In Astrachan, unter dem Breitengrade Genfs, geschieht es nicht selten, dass die Veränderungen des Thermometer-standes gegen 70 und selbst 75 Grad der hundertgradigen Skala umfassen. Die Nähe Sibiriens und Centraiasiens lässt den Kaspisee die Aufgabe der grossen Wasserflächen, das Klima zu moderiren, nicht erfüllen. An den Küsten dieses Binnenmeeres fast am Fusse des Kaukasus unter dem 11. Parallelkreise, also in der Höhe von Avignon, sinkt die Kälte bis zu 30 Grad C. unter den Gefrierpunkt; dafür kann sich im Sommer die Hitze bis zu 40 Grad über denselben erheben. An den Grenzen Asiens, in den glühenden Steppen der Kirgisen, unter dem Breitengrad des Centrums von Frankreich bleibt das Quecksilber bisweilen ganze Tage lang gefroren, während im Juli das Thermometerglas in der Sonnenhitze springen könnte. Im Innern des Continents, in Sibirien und Turkestan erreichen diese extremen Temperaturen ihr Maximum. In der Nähe des Aralufers giebt es zwischen der schärfsten Kälte und der grössten Hitze Intervalle]] von 80, vielleicht 90 Grad C. So haben die russischen Heere auf ihren eontralasiatisehen Expeditionen hier wechselnd den schärfsten Winter und den glühendsten Sommer überwinden müssen. Auch im Norden des asowsehen und schwarzen Meeres bieten die Jahreszeiten noch besonders starke Gegensätze. Auch hier übersteigt der Abstand zwischen dem kältesten und dem hoisseston Tage des Jahres bisweilen 70 Grad.1) Selbst die Krim, die zwei Meere kühlen, ist vor diesem entsetzlichen Gegensatz des Klimas nicht geschützt. Um eine so ungleiche Verlheilung der Wärme in den verschiedenen Jahreszeiten entstehen zu lassen, mussten die flache Bodengestal-tnng, die contineutalen Einflüsse und die Entwaldung zusammenwirken. Diese Gegensätze der Temperatur sind in Kussland eines der sieh dem civilisirten Leben entgegenstellenden Hindernisse; eine unüber-steigliche Schranke sind sie fast nirgendwo. Man darf nicht vergessen, dass es das gemässigte Klima ist, was der Europäer von allen Vorzügen Europas am seltensten in den schönsten seiner Colonieen wiederfindet. Die andern Continente weisen oft aus analogen Gründen denselben Mangel auf, wie Russland; das Klima im Norden der vereinigten Staaten gleicht in dieser Beziehung sehr dem des südlichen Russlands; die meist bevölkerten Staaten der Union, Neuengland, Newyork und IVnns\Ivanion, haben fast dieselben Extreme zu erleiden, wie die Steppen am schwarzen Meer. Wenn auch von Bäumen entblösst, entbehrt das südliche Russland doch keineswegs der Vegetation. In einem grossen Theile dieses ausgedehnten Gebildes ersetzt der Reichthum des Bodens die Spärlichkeit der Gewässer. Wo die atmosphärischen Bedingungen nicht allzu ungünstig sind, ist die Fruchtbarkeit des Bodens oft wunderbar. Nach Bodengestaltung, Cultur und Bevölkerung ist die ganze Zone der Entwaldung auf natürliche Weise in drei verschiedene Regionen, in drei Streifen getheilt. die sich von Nordost nach Südwest ziehen. Der erste ist die Region des Ackerbaues der Schwarzerde, der zweite die Region der fruchtbaren, der dritte die Region der sandigen und der salzführenden Steppen. Der erste Streifen ist eines der fruchtbarsten und zugleich eines der ausgedehntesten Ackerländer der Erde. Er nimmt den oben) Theil der Zone der Entwaldung ein, wo diese die Zone der Wälder und Seeen berührt. Da es noch an dem Fem htigkeitsreichthum dieser partioipirt und unter ihrem Schutze steht, unterliegt das Eand ') Lc Play, Dcscription du bassin In Donets; Voyage du prince Demidof dans le sud de la Etusaie. t. III. I. c m y - I! ea ullo u, Keich <1. Zaren u, U. Itusson. 2 der „Schwarzerde" weit weniger ungünstigen klimatischen Verhältnissen, als die Steppen des üussersten Südens. Die Region der Schwarzerde dank! ihren Namen (Tschornosiom) einer schwärzlichen Humusschicht von 50 Centimeter bis 1 \'., Meier Tiefe. Diese Dammerde besteht hauptsächlich aus Mergel, einem kleineren Theil fetten Thons und organischen Stullen. Sie trockne! rasch und verwandelt sieb dann in feinen Staub, aber nimmt auch gleich rasch Feuchtigkeit auf und gewinnt bei Regen das Aussehen eines kohlschwarzen Teigs. Die Bildung dieser Schicht von wunderbarer Fruchtbarkeil wird durch die langsame Zersetzung der in Jahrhunderten angesammelten Steppen-kräuter erklärt. Der Tschornosiom) dehnt sich in langem Streifen über die ganze Breite des europäischen Kusslands aus. Von Fodolien und Kiew in Südwesten reicht er nach Nordost bis Uber Kasan hinaus und tritt. nachdem der Ural ihn unterbrochen, im Süden des Gouvernements Tobolsk in Sibirien wieder zu Tage. Der Tschornosiom hat in seinem nördlichen Theil noch einige Waldungen. Gegen den Süden hin nehmen dieselben jedoch ab, um allmälich ganz zu verschwinden. In den grenzenlosen Flächen erscheinen die letzten Gruppen von Eichen, Eschen und Ulmen wie kleine in der Unermesslichkeil sich verlierende Inseln. Die Bäume stehen vereinzelt du, selbst das Gebüsch verschwindet. Nur Ackerland, Felder ohne Hude breiten sich unabsehbar über hunderte von Meilen wie eine riesige Beauce von 600 000 bis 700 00(1 Quadratkilometern l). Schlecht, mit meist primitivem Geräth bebaut, ist diese Kegion neben dem Roden des Missisippi eine der gT088en Getreidekammern. die der modernen Welt gestatten, aller Hungersnoth zu spotten. Die Fruchtbarkeit dieses noch jungen Rodens erschien fast unerschöpflich, und lange Zeit konnte der Fandmann glauben, niemals irgend eine Düngung des Hodens vornehmen zu müssen. Jetzt bat man freilich eingesehen, dass diese Fruchtbarkeit genährt werden muss, in mehreren Gouvernements erheben sieh schon Klagen über die Erschöpfung lies Tschornosiom und die Eandwirthe prophezeien, dass der reichste Boden der Welt endlich ruinirt sein wird, wrenn die Methode seiner Bebauung nicht geändert wird. Die Fruchtbarkeit hat diese Zone zur volkreichsten Kusslands gemacht. Die Schwarzerde ') [Vr Verfasser verweist den Leser hier auf das Bulletin ile hi Societe des agriculteure de France (döc, 1881), das einen Bericht über die Veitheilung des Tschornosiom und die Kartographie des russischen Gebietes nach den Arbeiten von Ts<|iak und Dokutschajew enthält. Z&Mt bereits im Mittel 38 bis 3fl Bewohner auf den Quadratkilometer, • ja in einigen (legenden des Westens gar mehr als HO. Die Bevölkerung wächst mit dem Verkehr, den ihr Eisenbahnen eröffnen und mit der Ausdehnung des Ackerbaues auf die nächstliegenden Steppen. Dank der Schwarzerde — kann man sagen — gravitirt das Reich mehr und mehr vom Norden gegen den Süden hin. Zwistdien der Schwarzerde und den südlichen Meeren liegen die eigentlichen Steppen, der Strich der Schwarzerde erhält häufig auch diesen Namen, der also schliesslich auf jede von Daumen enthlösste Ebene angewandt wird. In den Steppen erreichen die Abdachung des Hodens, der Mangel jedes Daumwuchses und die Dürre des Sommers 'hr .Maximum. Sie bedecken mit einer Senkung gegen das schwarze, 'las asowsche und das kaspische Meer die Niederungen des Dnjepr "nd Don. der Wolga und des Ural. Noch sich selber überlassen oder halb wild, wenig oder gar nicht bebaut ist die Steppe eine leere Fläche "hne Daum, ohne Schatten, ohne Wasser. Auf der unabsehbaren Ebene würde man tagelang vergeblich einen Strauch, ein Haus suchen: aber auch allen Baumwuchses entkleidet, ist die Steppe doch keineswegs überall die unfruchtbare Wüste, die der Westen sieh unter diesem Namen vorstellt. In diesen weiten Strecken, die in Europa allein 900 000 bis 1 00(1 otio Kilometer einnehmen, sind unter der gleichen Bezeichnung Bodenarten von sehr verschiedener Qualität zu-sammengefasst, und bei einer gewissen Gleichartigkeit ihres Aussehens durch ihren Untergrund selbst zu sehr verschiedeneu Schicksalen bestimmt. Die Steppen theilen sich ihrer Natur nach in zwei durch •h'n Boden scharf geschiedene Typen, in Steppen mit vegetabilen Bodenbestandtheilen, die mehr oder weniger dem Tschornosiom analog S'M,1 und in sandige, steinige oder salzhaltige Steppen. Die ersteren, in Europa das.grösste Gebiet bedecken, bieten ein Feld, dessen sich die Cultur nur zu bemächtigen braucht: die zweiten scheinen ihr für immer Widerstand zu leisten. Soll unter dem Namen der Steppe eine unbebaute und (hie Fläche verstanden sein, so verdienen j«ne ihn nur zeitweilig, diese aber dauernd: die einen sind vorübergehend Steppen, weil keine oder nur wenige Mensiben dort vorhanden, die andern sind Steppen auf ewig und um ihrer Natur willen.1 Die fruchtbaren Steppen nehmen den grössten Theil des Landes zwischen dem Tschornosiom, den sie fortsetzen und dem schwarzen ') „Zufällige Steppen, — ewige Steppen", sagt Tutzmanii In seinem Memoire, das (|,.|U Soppens: Beiträge rar Kenntniss des rassischen Reiches, St. Petersburg XL beigefügt ist. Schünow braucht den Ausdruck: ,.schwar/erdige und nicbtschw«Tzerdige Steppen". | statistisches Jghrb. 1*71). 11iitl asowschen Meere ein. Hie ziehen sieh vom Dujestr und Bug zum Don und Kuban, am untern Laut' aller Flüsse hin, die sich in jene beiden ergiessen, bleiben etwa 100-Lieues vom Delta der Wolga entfernt, aber steigen wieder gegen Nordosten zwischen dem grossen Strom und den südlichen Flippen des TJralgebirges aufwärts. Der Untergrund ist gewöhnlich mit einer vegetabilischen Schicht, die dem Humus der Schwarzerde analog ist, bedeckt. Wo sie sich selbst überlassen sind, entwickeln sie prachtvolle natürliche Fruchtbarkeit Auch ohne Baumwuchs haben sie ihre besondere Vegetation, ihre besondere Flora, die in ihrem freien Wachsthum die schönsten Wälder nicht vermissen lässt. Im Frühling bedecken sie sich mit Kräutern und Pflanzen aller Art, die ihnen das Ansidien eines Meeres von grünen Kräutern geben. Nicht mit den Wüsten Afrikas, mit den Uranien Amerikas lässt sich dann die Steppe vergleichen. Die Natur zeigt dann eine oft ausserordentliche Ueppigkeit. In ihrem wilden Wachsthum erreichen die Kräuter eine Höhe von 5 und Ii, in Regenjahren bisweilen von noch mehr Fuss. Sieht man sie im Sommer, so versteht man die Sagen der Ukräne, die von berittenen Kosaken erzählen, welche sich auf ihren abenteuerlichen Zügen im (iesl nipp der Steppe versteckten. Diese Ueppigkeit der llerbaeeen kann als eine der Ursachen für das Fehlen der Wälder betrachtet werden. Die hohen Gräser würden bei ihrem raschen Wachsthum die jungen Häume ersticken. In Wirklichkeit bilden die eigentlichen Gräser, die Gramineen, keineswegs allein die Steppenflora. Sie sind es nicht, was der Steppe die Ueppigkeit des Aussehens giebt, sondern höhere Pflanzen, die über sie hinauswachsen. Dolden- und llülsengewächse, Karden, Lippenblumige, Compositum deren Blüthenstengel die Steppe mit tausend Farben schmücken. Wie im Norden die bleibenden, zeigen diese vergänglichen Wälder in den Arten wenig Mannigfaltigkeit. Fs sind gesellige Pflanzen, von denen eine jede weite Strecken bedeckt und grösstenteils jährige I'Hunzen, da andere nur schwer ein Klima vertragen, das die Winter der Ostseeküste mit den Sommern der Mittelmeergestade in sich vereinigt. Im Widerspruch zu den bestehenden Vorstellungen ist die Steppe keineswegs ganz ohne, llolzgewäohse, es linden sich dort, einige Straucharten, selbst einige Bäume, doch nur klein und verkümmert, wie der wilde Birnbaum, den die Lieder der Kosaken zum Symbol verkannter Liehe gemacht haben. In dem kurzen Frühling dieser Hegion entwickelt sich die Vegetation der Steppe, \\ ie die dos Nordens von L'ussland, in wunderbarer (leschwin-digkeil. Sie zieht aus den Frühlingsregen die Kraft des Widerstands gegen die intensive Hitze des Sommers, aber erliegt der Dürre, wenn die Regen nicht zu rechter Zeil eintreten. En einzelnen Gegenden und einzelnen Jahren dauert diese prachtvolle Pflanzenwelt nur einige Monate: im Juli ist Alles welk. Alles von der Sonnenghith verbrannt und die Indien Stauden, die einen Ocean von (irün bildeten, streuen ihre nackten Stengel über das Land: die Steppen sind zu dürren Pampas geworden. Aber ihr alter Schmuck ist auch in dieser Form dem Menschen nicht verloren. Diese Kräuter, die die Sonne in ihrer vollen Reife verbrannt, bieten den Heerden ein gleichsam natürlich bereitetes Heu, das sie den Rest des Jahres über nährt. Tn jedem Jahr verschwindet im Winter alle Vegetation; was der Sonne widerstanden, geht unter im Schnee. Diese jungfräuliche steppe mit wildem Pflanzenwuchs, die Steppe der Geschichte und Dichter, zieht sieb in immer engere Grenzen zurück, um bald vor dem Findringen des Ackerbaues ganz zu verschwinden. Die l'kräne der Kosaken und Mazeppas mit allen ihren Legenden hat bereits ihre alte und wilde Schönheit verloren. Der Pflug hat sich ihrer bemächtigt, die öden Ebenen, in denen sich die Armee Karls XII. verlor, stehen in regelrechtem Anbau. Die Steppe Gogols wird bald wie die Prairie Coopers nur noch eine Erinnerung sein. Auf allen Seiten von dem Ackerbauer in Angriff genommen, ist sie dazu bestimmt, nach und nach von dem Mushik erobert und der benachbarten Zone des Tschornosiom zugetheilt zu werden. Zwischen beiden Zonen lässt sich schwer eine genaue Grenzlinie ziehen, da die eine stelig auf Kosten der andern wächst. um diese endlich ganz in sich aufgehen zu lassen. Wie der Geschichte so der Natur gegenüber gilt es, die Ursachen ihrer ungleichartigen Entwickelung zu suchen. Jahrhunderte und Jahrtausende lang ist diese Steppe die grosse Heerstrasse aller Wanderzüge von Asien nach Europa gewesen: bis zum Ende des 18. Jahrhunderts waren sie den Einfallen der Nomaden der Krim, des Kaukasus, der untern Wolga ausgesetzt, Um sie der Cultur zu offnen, bedurfte es nichts Geringeren, als der Unterwerfung der Krimtataren, der Nogais vom Ufer des asowschen Meers, der Kirgisen vom Kaspisee. So lange sie nicht den Nomaden entrissen worden, waren diese unermessliohen Ebenen zu einer nutzlosen Fruchtbarkeit unter der Herrschaft von Asiaten verdammt. Der grössere Theil des Schwarzerdedistricts war Jahrhunderte lang nur eine Fortsetzung der Steppe; beide werden von Neuem verschmelzen, wenn die fruchtbaren Steppen ganz unter das Joch der Cultur gelangt sein werden. Ausser dem Mangel an arbeitenden Kräften haben noch zwei andere Umstände die Urbarmachung dieser grasreichen Niederungen verhindert, zwei Imstande, die einander bedingen: die Dürre und das Felden des Waldes. Dem ersten dieser Mangel ist, es schwer Abhülfe zu schaffen; um seinetwillen bleiben die fruchtbarsten dieser Ebenen immer nach Jahren des Ueberflusses Jahren der Ertraglnsigkcit ausgesetzt. Daher die zahlreichen Nothstande oder vielmehr die zahlreichen Hungersnöthe in Provinzen, die man zu andern Zeiten als die Kornkammern des Reiches betrachten kann. Das Fehlen von Bäumen ist vielleicht ein grösseres Hindemiss für die Entwicklung der Bevölkerung, die zugleich des Heiz- und des Baumaterials beraubt ist. Zum Heizen hat man nur die Siengel der hohen Steppenkräuter und den Mist der Heerden, der so der Erde entzogen wird. Dergleichen Hülfsmittel könnten einer dichten Bevölkerung nicht genügen, doch werden Bahnen und Wege, Kohlen-und Anthracitminen allmählich diese Missstände heben. Hub; herbeiführen oder ersetzen und den Dünger dem Ackerbau freigeben. Bei diesen Mängeln hat ein Theil der fruchtbaren Steppe doch einen be-nierkonswerthen Vorzug vor dem ganzen übrigen Kussland voraus. An den Mündungen grosser Flüsse belegen, nahe dem schwarzen Meer haben sie nach Europa hin die leichtesten Ausgangsthore. Sie sind die einzige Region im Reiche, denen ein allezeit freies Meer leicht erreichbar ist. Zwischen den urbaren Steppen und dem eigentlichen Tschornosiom bilden die Art der Bebauung und die Dichtigkeit, der Bevölkerung den einzigen Unterschied, der sich mit einiger Sicherheit feststellen lässt. In ie Aufhebung dieses Privilegs durch das (leset/ über die allgemeine 'hiplliclit von l*7| hat die Auswanderung einer Anzahl dieser Colonisten zur im Staate, dessen Lintert hauen sie sind, haben diese Kolonisten sieh durch mehrere germanische Eigenschaften ausgezeichnet, durch Ordnungssinn, Familiengeist und Sparsamkeit, Sie haben sich in der Isolirung ihrer kleinen Gemeinden sozusagen eine häusliche Civilisation geschaffen. Sie bildeten Ackerbaucolonien, die dem Politiker wie dem Philosophen sehr merkwürdige Seiten bieten, und gelangten zu einem reehtschalfenen und bescheidenen Wohlstand, aber ohne sich darüber hinaus erheben zu können. Ihr materieller Einfluss auf das russische Volk ist fast null, ihr moralischer noch geringer.]) Wenn Deutschland einen so grossen Antheil an der Entwicklung Kusslands gehabt hat. so dankte es dies wed weniger jenen bäuerlichen Golonieen, die allein auf sich selbst zurückgezogen leben, als dem deutschen Adel der baltischen Provinzen und den deutschen nach Petersburg berufenen Gelehrten. Sehr anders ist die Rolle der griechisch - slavischen Einwanderei- gewesen. Wenn sie auch noch nicht ganz mit dem russischen Volke verschmolzen sind, so bilden sie doch nicht wie die Deutschen einen besondern Körper im Reiche. Die Verwandtschaft der Sprachen ist für die Slaven, die Glaubenseinheit für fast alle ein Zug nach Vereinigung zwischen den Eingewanderten und ihrem neuen Vaterland gewesen. Es linden sich unter ihnen fast alle christlichen Stämme des Orients: Griechen, Humanen, Serben, Dalmatier, Bulgaren, Armenier, Ruthonen, frühere türkische oder östreichisclic Unterthanen, die dereinst durch politische oder religiöse Sympathien nach Uussland gezogen wurden. Diese Einwanderung, die zeitlich mit dem ersten nationalen Erwachen jener kleinen orientalischen Völker zusammenfiel, hat in dein Masse der politischen Befreiung derselben im Geburtslande allmälich aufgehört. Die Mehrzahl dieser I Vdonioen hat sich im Süden und in der Krim niedergelassen; sie sind meist wie die der Deutschen dort- und strichweise gegründet. Die Umgegend Odessas hiess >ogar. bevor sie den Namen Neurussland trug, nach ihren serbischen Colonisten Neuserbien, Viele dieser Orientalen haben in der Krim oder an den benachbarten Küsten die von tatarischen oder nogaischen Auswanderern verlassenen Ländereien besetzt, so dass zwischen dem russischen und dem türkischen Reiche ein Doppelstrom von Ein- und Auswanderung entstanden ist, in dem das eine die Folge gehabt. Viele von ihnen sind nach unfruchtbaren Versuchen, sich in Brasilien oder anderswo niederzulassen , wieder nach Knssland zurückgekehrt. l) Hei Besprechung der russischen Seelen wird sieh bei Anlass der Stuiidisteii Gelegenheit finden, eine ganz neue Ausnahme von dieser Regel anzuführen. Christen. das andere die Muhamedaner anzog. Diese kleinen orientalischen Colonieen, die bisweilen im Feldbau kaum den deutschen nachstehen, haben der Schifffahrl und dem Handel des Südens den ersten Impuls gegeben und ihnen zugleich Handelsleute und Matrosen geliefert. Die Häfen des schwarzen und asowschen Meeres. Odessa, Cherson, Mariopol, Taganrog, waren lange Zeit und sind theilweise noch halbgriechische Städte, Welches nun auch ihre Verdienste seien, weder Deutsche noch Orientalen können einen breiten Platz unter den Millionen von Einwohnern und Millionen von Hektaren bebauten Landes in Anspruch nehmen, aus denen der Süden und Osten Kusslands wenigstens ein Jahrhundert lang Reichthum gezogen haben. Der grosse Colonisator des russischen Hodens ist das russische Volk, der Mushik. Wie einfach erscheint diese Thatsache, und welche Schwierigkeiten, welche nachtheiligen Bedingungen aller Art bringt sie doch, näher betrachtet, mit sich. Statt der unternehmungslustigsten Männer der entwickeltsten Staaten Europas, wie in Amerika und Australien, hier ein Hauernvolk, das gestern noch leibeigen war, statt aller politischen und bürgerlichen Freiheiten, statt Unabhängigkeit und fast königlicher Stellung des Individuums hier ein autokratischer Staat, eine nörgelnde und beunruhigende Verwaltung, eine Gemeindesolidarität, die den Menschen 1111 den Menschen bindet und den Arbeiter an die Scholle fesselt. Den Russen war eine doppelte, in sich kaum vereinbare Aufgabe gestellt: die europäische Civilisation sich anzueignen und sie gleichartig in öde Känder zu tragen. Sie hatten zugleich ein Volk zu erziehen und ein Land urbar zu machen. Knd sie mussten diese Colonisation unter Umständen durchführen, die überall am meisten die eoloniale Ausdehnung abweisen, mit stehenden Heeren und langem Kriegsdienst, mit einer engen Centralisation und einer allmächtigen Bureaukratie, Diese Art Gegensätzlichkeit hat mehr als schlechter POden und ungünstiges Klima dahin gewirkt, dass ihre Entwicklung langsamer sich vollzog und weniger fruchttragend wurde, als die ln Nordamerika. Sie hat die europäische Einwanderung der steppe gehalten und wird sie in Zukunft immer mehr aus ihr entfernen, ß-ussland mag immerhin an beiden Abhängen des Kral die fruchtbarsten Ländereien besitzen, die nur der Pflugschar harren, die ( °lonen des Westens werden ihren Weg dorthin nicht nehmen. Selbst seme Nachbarn im skandinavischen Norden ziehen ihm das amerikanische far-west und die Einöden Canadas vor. Russland ist ein Land von junger Colonisation. Dieser Umstand, ich wiederhole es, darf nicht aus dem Auge gelassen werden. Viele seiner Eigentümlichkeiten, seiner privaten und öffentlichen Mängel entspringen dieser einlachen ThatSache. Hier lieg! der Grund zu dem positiven, realistischen Sinn der meisten Hussen; hier der Grund des allzuoft gerügten Mangels an Originalität in den höchsten menschlichen Leistungen und jene Oberflächlichkeit in Allem, was nur ein Luxus der Intelligen/ und Civilisation ist. Diese Fehler linden sich mehr oder weniger auch bei den Amerikanern und bei allen neuen Völkern, bei denen mehr als anderwärts die Forderungen des praktischen Lehens jeder andern, geistigen Sammlung vergehen. Russland ist eine Colonie von ein- «'der zweihundert Jahren und zugleich ein tausendjähriges Reich. Ks gleicht Amerika und gleicht der Türkei. Dieser Gegensatz allein kann das Verständniss für seinen nationalen Charakter, wie für seine politische Lage öffnen. Ks ist zugleich ein neues und ein altes Land, eine alte halbasiatische Monarchie und eine junge europäische Colonie; es ist ein Janus mit doppeltem Gesicht, vorn das occidentale, hinten das orientalische, alt und verlebt auf der einen, jung, ja fast kindlich auf der andern Seite. Dieser Dualismus ist der Grundzug der Contraste, die uns überall im Privatleben, im Charakter, im Staat überraschen, Contraste. die so häufig sind, dass sie die Hegel werden und dass man in Russland den Widerspruch zum Oesetz machen könnte. Alles hal hiezu beigetragen: die geographische Lage Russlands zwischen Asien und Europa, seine in beiden fussende Stellung, das Gemisch noch im verschmolzener Racen, eine historische Vergangenheit, Um die zwei Welten sich streiten, und deren Phasen die heftigsten Gegensätze zeigen. Das Gesetz der Gegensätze beherrscht Alles. Daher die Verschiedenartigkeit der über Russland gefällten Urtheile, die meist nur deshalb falsch sind, weil sie nur eine Seite trollen. Das Gesetz der Gegensätze limlei sich uberall: in der Gesellschaft in Folge der tiefen Kluft zwischen den hohen und niederen Classen, in der Politik und Verwaltung in Folge der liberalen Velleitäten der Gesetze und der dauernden Trägheit der Gewohnheiten. Es tritt sogar im Individuum zu Tage, in seinen Ideen. Empfindungen, Manieren. Gegensatz überall in Form und Wesen, Menschen wie Nation: er zeigt sich bei genauerer Prüfung in allen Dingen, wie er dem ersten Blicke sich aufdrängt, in der Kleidung, in den Häusern, in diesen Städten von Holz mit breiten Parallelstrassen, die zugleich den neuen Städten Amerikas und den kleinen Handelshäfen der Levante ähnlich sehn. Dieser Dualismus, der alle Bedingungen des Lebens beherrscht, übt auf die materielle und politische wie auf die moralische Entwicklung Russlands unmittelbaren Einfluss aus. Als militärische Monarchie und .junge Colonie hat es die Schwächen dieser beiden, ohne doch die Kräfte derselben zu besitzen. Als Staat einer neuen Welt mit zu bevölkernden und zu bebauenden Oeden ist Russland doch durch seine Berührung mit Europa denselben Lasten der Heere und Finanzen unterworfen, wie unsre alten, seil Jahrhunderten volkreichen und oivilisirten Staaten. Als unter Lincolns Präsidentschaft den Vereinigten Staaten eine Seeessiun dn»bte, hatten sie nieht Bö sehr die Verminderung ihres Territoriums als vielmehr die radieale Veränderung ihrer politischen und wirtschaftlichen Lage durch die Knlstehung zweier rivalisiien-der Staaten auf demselben Continenl zu fürchten. Die Geographie hat Russland in die Lage gebracht, wie sie die Seeession des Südens und Westens den Vereinigten Staaten gegeben hatte. Wäre es wie Amerika durch einen Ocean von Europa getrennt, so hatte es eine leichtere und sicherere Entwicklung; es brauchte nieht seine Kraft für zwei gegensätzliche Aufgaben zu theilen. Die Missstände dieser materiellen Lage sind durch moralische Nachtheile wesentlich gesteigert: Russland hat zugleich die Aufgabe Europas und die Amerikas und besitzt in seiner Bevölkerung schlechteres Werkzeug als Amerika und Europa. Es gleicht einem Schauspieler, der die Bühne betreten muss. bevor er seine Rolle lernen konnte, oder einem Manne, der als Kind keine Erziehung erhalten hat und sie nun mitten unter den Arbeiten und Kämpfen des reiferen Alters vervollständigen muss. Die Russen sind ein Volk in der Phase des Werdens und das in moralischem wie in materiellem Sinn. In keiner Hinsicht dürfen sie gerechterweise den Nationen des westlichen Europas verglichen werden. Diesen gegenüber ist Russland in der Lage einer sich fbrmirendcn, UOch zerstreuten Armee angesichts einer Armee, deren Cadres voll-Ständig und deren Truppenkörper zusammengezogen sind. Ks kann QGute Völkern gegenüber schwach sein, die uach hundert Jahren mit ihm sich nicht werden messen können. In dieser Beziehung hat der bulgarische Krieg die Eindrücke des Krimkrieges nicht verwischt. Auch heute noch ist die Kraft Kusslands geringer, als seine .Masse, geringer als seine Bevölkerung. Die Russen fühlen das besser, als joder Andere, aber sie wissen auch, dass Zeit und Arbeit eines Tages l,in' Macht, auf der Höhe ihrer natürlichen Mittel und der Ausdehnung 'hres Ländergebietes erheben wird. Zweites Iiueh. Die Racen und die Nationalität. Erstes Kapitel. rst das russische Volk ein europäisches Volk? Hai Russland eine homogene Bevölkerung? Wichtigkeit dieser doppelten Krage. Das ethnographische Museum in Moskau. — Gründe der Mannigfaltigkeit der Racen auf dem gleichförmigen Boden. — (Jründe der noch unvollkommenen Verschmelzung. - Warum die ethnographischen Karten mir ungenügende Daten geben können. Als neuentdecktes, jungfräuliches Land, noch unbewohnt odei- nur von wenigen Nomadenstämmen durchzogen, könnte Kussland uns beinahe dasselbe Schauspiel, wie die Vereinigten Staaten oder Australien bieten. Es wäre dann eines der Länder, in denen die Civilisation, die alten Institutionen, die ihre Kindheit beschützten, verlassend, sieh einen neuen Boden, eine breitere und unabhängigere Bahn schafft. Der europäischen Colonisation anheimgegeben, wäre Russland rasch in den Wettstreit mit Amerika getreten, denn, wie Adam Smith bemerkt, gleicht seit dem 18, Jahrhundert nichts dem rapiden Emporblühen einer Colonie, die — einmal fest gegründet — auf freiem Roden sich ein durchaus neues Haus bauen kann. Es ist seine bereits alte Bevölkerung mit ihren alten Sitten und alten Ueberlieferungen, was Russlands Inferiorität geschaffen hat, dieselbe indigene Bevölkerung, die Bussland der Auswanderung des Westens verschliesst und ihm die Vortheile des wunderbaren Wachsthums colonialer Ländereien vorenthält, In scharfem Contrast zu dem westlichen Europa gestellt, war der russische Duden unfähig, eine Wiege der europäischen Cultur zu werden, aber sie aufzunehmen, ist er vollkommen geeignet. Ist es ebenso mit den Völkern, die diese weiten Ebenen bewohnen'? Die natürlichen Bedingungen bestimmen allein das Schicksal eines Landes nicht, sie vermögen nichts ohne den Menschen, ohne die Eace, welche dasselbe bewohnt. Die Natur hat in Russland die Bildung eines grossen Reiches vorgezeichnet; hat die Geschichte ein Volk hierhergeführt, das fähig wäre, eine grosse Nation zu bilden? Wir müssen dieselbe Frage in Betreff des Volkes, wie des Landes stellen, (iehört es zu Europa oder zu Asien? Hat es mit uns die Verwandtschaft gemeinsamen Ursprungs, der ihm eine angeborene Befähigung für unsere Civilisation verleiht, oder ist es an Blut und Erziehung der europäischen Familie fremd, ist es von Geburt ab dem Loos verfallen, ein asiatisches Volk unter dem geliehenen Bock zu bleiben, den es Europa entnommen? Diese Frage, welche die Russen wie ihre Gegner von allen Seiten mit gleicher Leidenschaft behandelt haben, begreift nichts Geringeres in sich, als die nach der Befähigung des russistdien Volks zur Civilisation. Man hat zu unserer Zeit in gewissen Ländern die Ethnographie und das Racenstudium eine ebenso falsche wie zweideutige Rolle spielen lassen, indem man ihnen das Urtheil im Prooess der Nationalität zuzuschieben suchte, den jedenfalls die Ethnographie allein nicht entscheiden könnte.1) Diese parteiischen Uebertreibungen dürfen die Tragweite ähnlicher Untersuchungen nicht übersehen lassen. Um ein Volk, zumal ein neues Volk kennen zu lernen, muss man die Elemente kennen lernen, aus denen es zusammengesetzt, die Racen, aus denen es hervorgegangen ist. In Russland diese Frage stellen heissl fragen, ob die westliche Civilisation von Peter dem Grossen auf den wilden moskowitischen Schössling geimpft werden konnte, oder ob sie auf diesem fremden Stock nicht gedeihen kann, weil ihm der europäische Saft fehlt. Neben diese Frage der Abstammung und der Lehenskraft des russischen Volkes stellt, sich die andere, für die Politik gleich wichtige, die der Cohäsionskraft des ausgedehnten Reiches. Die natürliche Einheitlichkeit des Grund und Bodens genügt nicht, um die politische Einheitlichkeit sicher zu stellen, es bedarf hiezu auch der materiellen ,m benachbarten Racen gehört zu haben.-; Diese ürstärnme scheinen Vu|' der Einwanderung der ersten Arier den ganzen Norden und die Mitte unseres Welttheiles besetzt gehabt zu haben. Diese erloschenen Racen haben nicht etwa blos in den unterirdischen Döhlen, unter t eberrosten von Mammiferen einer älteren geologischen Schicht, s.....lern auch in den Gesichtszügen der europäischen Völkerschaften ***e Spuren ihres vorübergehenden Daseins hinterlassen. Von späteren Invasionen überdeckt und gleichsam unter den verschiedenen Schichten Äscher Anschwemmungen begraben, sind diese Ureinwohner Europas hir die grosse Welt verschwunden; das Auge des Anthropologen aber glaubt bisweilen auf den Gesichtern der Zeitgenossen in den civili-Sl|t''n Ländern unseres Westens noch die lebendigen Züge jener ersten Europäer zu erkennen11). ) Voigt, z. B, die Revue anthmpologique III (1874) No, 1 u. :'>. J Vergl. n. ,\. Allgemeine Ethnographie von Dr. Fr, .Müller, Wien 1K7:} l>. 67. ) Wir können hierbei auf dga>teppon eingedrungen. Mit Benutzung der altererbten Neben-hnhlerschaff der mongolischen und tatarischen Stämme nahm RuSS-1:11111 diese neuen Ankömmlinge mit Erfolg in seinen Kriegen gegen die Türken und die krimschen Khane in seinen Dienst. Aber die Versuche der Petersburger Regierung, sie in unmittelbare Abhängig- keit zu bringen, bestimmten die Mehrzahl derselben, den Weg nach ihrer Heimath zu suchen. Sie brachen in Masse auf und boten dem L8. -Jahrhundort das Schauspiel der grossen Völkerwanderungen des alterthums. Em Winter 1770 überschritten 2 bis 300 000 Kalmücken mit ihren Heerden die Eisdecken der Wolga und des Ural. Das eintretende Thauwetter hielt die übrigen zurück, die sieh dann entr schlössen, in Russland zu bleiben, während ihre Stammesgenossen trotz der Angriffe der Kirgisen ihre alten Heimstätten an den Grenzen des chinesischen Reiches erreichten. Die in den kaspischen Steppen unter russischer Herrschaft verbliebenen Kalmücken sind jetzt noch Buddhisten. Ihr Oberhaupt isi ein Grosslaina, den seit dem Anfang dieses Jahrhunderts der Zar ernennt und dessen Residenz in der Nähe von Astrachan ist. Eine Thatsache, die für ihr Schicksal bestimmend gewesen, ist. dass die drei Hauptzweige der uralisch-altalschen Race sich in die drei Eauptreligionen des alten Continents gespalten haben. Der Finne ist Christ, derTürke eiler Tatar Muhamedaner. der Mongole Buddhist geworden. In dieser ethnologischen Theilung der fülle giebt es nur wenige Ausnahmen. Neben anderen Umständen muss in dieser Verschiedenartigkeil der Glaubensbekenntnisse der Grund zu den so verschiedenen Geschicken jener drei Gruppen und speciell der finnischen und tatarischen gesucht werden. Den einen hat die Religion für die europäische Lebensweise vorbereitet, den andern ihr ferngehalten. Im Islam hatte der Tatar eine frühere und mehr nationale Civilisation gefunden: er baute blühende Städte, wie das alte Sarai und Kasan und gründete in Europa und Asien mächtige Reiche. Im Islam hat er eine glänzendere Vergangenheit gehabt, aber ist er auch einer schwereren Zukunft ausgesetzt; der Glaube an Muhamed, der ihn davor geschützt, von Europa verschlungen zu werden, hat ihn zugleich der modernen ( Üvilisation ferngehalten. Die Tataren sind es. die lange Zeit den Russen den Namen der Mongolen eingetragen haben, und die Tataren selbst haben auf ihn nur ein zweifelhaftes Recht. Angesichts der von einer Art asiatischen Peters des Grossen neuerdings in Japan unternommenen Reform, ist es unsicher, ob dergleichen Epitheta immer eine Beleidigung enthalten: sie müssen in ihrer Anwendung auf die Russen aufgegeben werden, nicht weil sie beleidigend, sondern weil sie durch ein .Missverstehen entstanden sind. Die Russen haben in ihren Adern kaum einige Tropfen mongolischen Blutes, haben sie mehr tatarisches in denselben? Wenn es keine andern tatarischen oder türkischen Invasionen als die des LI. — m ~ Jahrhunderts in Russland gegeben hätte, so wäre die Lösung dieser Frage leicht. Man würde sieh rasch davon überzeugen, dass das russische Volk vielleicht weniger tatarisches Blut in sieh tragt als das spanische maurisches oder arabisches. In Spanien haben die Araber viel längere Zeit geweilt, sie haben ein viel grösseres Stück des Landes besetzt gehabt, sie haben sich in grösserer Zahl dort festgesetzt und halten die Halbinsel in ihrer unmittelbaren Oberhoheit gehalten. In Russland sind die Tataren, die im 13. Jahrhundert eindrangen, seit dem 16. an die Grenzen zurückgedrängt worden. Sie haben überhaupt nur über die Hälfte des europäischen Russlnuds geherrscht, und auch den grösseren Theil dieses Gebietes haben sie nicht unter unmittelbarer (lewalt. sondern unter ihrer mittelbaren Oberhoheit gehalten; sie haben die russischen Fürstenthümer nicht zerstört, sondern sich damit begnügt, sie tributpflichtig zu machen. Die Araber haben die schönsten Landstriche Spaniens, die noch heute die fruchtbarsten und bevölkertsten des Landes sind, besetzt; die Tataren haben sich über die noch am wenigsten bewohnten Theile Russlands ausgebreitet, über die Steppen des Südens und Ostens. Nach der Mitte des Reiches hin haben sie sich nur an den Flussläufen, die Wolga und ihre Zuflüsse emporsteigend, vorgeschoben, Wie es noch ihre derzeitige Vertheilung zeigt. Auch drangen diese asiatischen Einwanderer nicht in die Mitte des russischen Landes ein. Die Russen hatten damals kaum das Centralbassin der Wolga und den Ort erreicht, wo die Oka bei Nishni - Nowgorod in die Wolga Hiesst. Sie waren mitten unter finnischen Völkerschaften, deren I eberbleibsel wir in den .Mordwinen. Tscheremissen, Tschuwaschen sehen und von denen sich die meisten, wie namentlich die letzten. z" Tataren machen Hessen. Die Türken Russlands halten nicht, wie die Araber Spaniens eint! reiche und gewerbthätige Bildung geschaffen; sie haben sich nicht in 'brer Gesammtheil sesshafl gemacht und Ackerbau getrieben, sondern blieben zum Theil Nomaden. Sie hatten nur wenige Städte und die grössten derselben waren im Verhältnisse zu denen der Mauren Andalusiens klein. Lei einem drei- oder vierfach grösseren Territorium hat die goldne Horde schwerlich jemals die Bevölkerungsziffer des Kalifats von Cordova auch nur annähernd erreicht. Die Analyse beider Sprachen legt ähnliche Schlüsse nahe. Der Stempel, den das Arabische auf das Spanische gedrückt, ist unvergleichlich erkennbarer :|'S der, den das Türkische dem Russischen gegeben. Raben die tatarischen Muselmanen vielleicht mehr zur Bildung des russischen Volkes beigetragen, weil das orthodoxe Moskau ihnen ihre Religion und ihr neues Vaterland Hess, statt wie das katholische Castilien die Muhamedaner auszutreiben? Das Gegentheil ist wohl das Wahrscheinlichere. In Russland wie in Spanien bleiben die Gründe der Scheidung zwischen Siegern und Besiegten in den Zeiten der Herrschaft wie der Unterwerfung des Kreuzes dieselben; sie liegen vornehmlich in der Religion , die zwischen beiden Racen eine schwer zu übersteigende Schranke errichtete; von der einen zur andern gab es vor wie nach der Befreiung des nationalen Bodens nur einen Weg, den Abfall. Wenn Predigt und Vortheil unter den Muhame-danern Russlands, besonders unter den Murzo- und Tatarenfürsten Bekehrungen zu Wege brachten, so musste das weit mehr unter den Muhamedanern Spaniens geschehen, die in langen Jahren dem rücksichtslosesten Prosclytenthum bis zu dem Moment ausgesetzt waren, wo sie ihren Glauben nur um den Preis ihrer Güter und ihres Vaterlandes sich wahren konnten. In Russland sind die .Muhamedaner nie vor eine solche Wahl gestellt worden. Um in ihrem Staate die Macht des tatarischen Elements zu mindern, brauchten die Zaren nicht zu derartigen Barbareien zu greifen. Was zum ewigen Schaden Spaniens dort gewaltsam geschah, vollzog sich in Russland langsam, schrittweise. Dieses konnte einfach die Natur wirken lassen. Neben dem Proccss der Aufzehrung und Assimilirung der finnischen Kleinente vollzog sieh in Russland durch Jahrhunderte ein Proccss der Ausscheidung und Beseitigung der tatarischen und inuha-medanischen Elemente, die es sich nicht assimiliren konnte. Seit ihrer Unterwerfung hat eine grosse Zahl von Tataren Russland verlassen, da sie nicht Untorthauen der Ungläubigen sein wollten, deren Herren sie gewesen waren. Vor den Erfolgen der christlichen Wallen wichen sie freiwillig in Länder zurück, in denen noch das Gesetz des Prophoton herrschte. Nach der Zerstörung der Khanate von Kasan und Astrachan suchten sie sich in der Krim und den benachbarten Steppen, in der sogenannten kleinen Tartarei des Ks. Jahrhunderts, zu concentriren. Nachdem Katharina iL die Krim erobert, nahmen sie ihren Auszug nach dem Reiche ihrer osmanischen Brüder, nach der Türkei und Circassien hin, und noch in unsern Tagen hat nach dem Kriege von Sebastopol und der Unterwerfung des Kaukasus die Auswanderung der Tartaren und Nogaler gleichzeitig mit der der Tscherkessen wiederum in grossem Massstabe begonnen. Man kann berechnen, dass seit der Eroberung Katharinas II. in der Krim die bereits zur Zeit der Zarin um mehr als die Hälfte verminderte tatarische Bevölkerung in unseren Tagen um mehr als zwei Drittel — ea — reducirt ist. so dass sie nicht mehi ein Fünftel dessen beträgt, was sie vor der Annexion an Kussland war. Von 1860 bis 1863 sind gegen 300000 Tataren aus dem Gouvernement Taurien ausgewandert und wurden TIS Auls oder Dörfer verlassen, von denen drei Viertel unbewohnt blieben, wie auf den Karten Spaniens die despoblados, welche die ausgetriebenen Mauren zurückliessen. Nach der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht Ks7d hat dieser Exodus von Neuem begonnen. Abgesehen von jeder Absorbirung und jeder Vermischung sind die Tataren durch Niederlage und freiwilliges Exil auf diese Weise dahin gelangt, nur noch kleine Gruppen, nur ungefährliche lnsolchen in den Ländern zu bilden, die sie Jahrhunderte lang beherrscht haben, und das selbst in der Krim, wo sie vor 100 Jahren die ein/ige Bevölkerung bildeten. Neuere Beispiele zeigen uns die natürliche und freiwillige Abnahme des tatarischen und muhamedanischen Elementes in Kussland: das naheliegt inle Beispiel der europäist heu Türkei. WO vor der Befreiung der DönaufÜrstenthÜmeT die Muselmanen nur ein Drittel oder ein Viertel der Bevölkerung ausmachten, zeigt, dass die Tataren selbst zur Zeit ihrer Herrschaft in ihrem eignen Reich in der numerischen Minderzahl sein konnten. Der Weg. den die Eindringlinge nahmen, nnd die gegenwärtige Lage der tatarischen Gruppen an den Plussläufen in den schon von Kinnen besetzten Landstrichen lassen annehmen, dass sie nur in der Umgebung ihrer Wolgahauptstadt und in den Vl,b der Natur zum Hirtenleben bestimmten Gegenden, wie die Krim und die südöstlichen Steppen, in der Mehrzahl gewesen s'n,l- Die Ziffer der Heere der Chans darf selbst zur Zeit ihrer Herrschaft über die Zahl ihrer Ohterthanen keine Täuschungen er*ecken. Zu diesen tatarischen Heeren drängte sieh jeder taugliche Mann: wo es Fanatismus und Patriotismus nicht thaten, genügte der Köder des Gewinns, um jeden an seinem Platz auf den Heereszügen zu halten, deren Hauptzweck Kaub war. Ein krim-S('her Chan konnte 100000 Krieger zusammenbringen, ohne eine Million Uhterthanen zu haben. In das Kentrum Kusslands haben die Tataren nieht anders als mit bewaffneter Hand eindringen können. »0 blieb Moskau ihnen gegenüber (in Bezug auf Bevölkerungszahl i 111 einer gleichen Lage, wie lange Zeit Serbien, Ungarn, Rumänien ,U1(1 Griechenland gegenüber den Türken, die in allen diesen Gegenden nur zerstreute Colonien besassen. Will man den Einfluss des tatarischen Elements auf die Küssen erkennen, so muss man die Griechen u,,d Slaven der Türkei ins Auge fassen, und gleicher Weise sind die T" a LUTKen Russlands zu beachten, wenn man sieh von der Zukunft der (Kilianen in Europa vor dein Verlust ihrer letzten europäischen Besitzungen ein Hihi machen will. Selten hat es zwei so gleichartige Verhältnisse gegeben, wie Kussland unter dem tatarischen und die südlichen Slaven unter dem türkischen Joch. Tn beiden Fällen dieselben Racen und dieselben Religionen, die Betheiligten fast dieselben unter verschiedenen Namen, — nur die Bühne eine andere. Bei allen Analogien haben die Russen einen grossen Vortheil vor den Bulgaren und Serben voraus; sie waren Vasallen und Tributpflichtige, nie aber unmittelbare ünterthancn der Türken. Auch wird sicherlich an den Ufern der Wolga keine grössere Mischung der beiden Racen stattgefunden haben, als an denen der Donau. Und wenn durch Heirath, Sclaverei, Kaub und Polygamie, durch aufrichtige oder gezwungene Bekohl *ungen eine Mischung stattgefunden, geschah dies wohl zur Zeit ihrer Unterjochung auf Kosten der Slaven und durch alle diese Kanäle wurde leichter christliches Blut in die Adern der Muselmanen als muhamedanisch.es Blut in die der Christen eingeführt. Mau hat oft die Bemerkung gemacht, wie selten von jeher Bekehrungen von Muhamedanern zum Christenthum vorkommen. Man hat weniger Aufmerksamkeit darauf gerichtet, dass der umgekehrte Kall, der Kebertritt vom Christenthum zum Muhamedanismus sehr viel häufiger gewesen ist. Das ganze westliche Asien, Syrien und Kleinasien, ganz Nordafrika, Aegypten und die Berberei geben nur allzuviel Zeugnisse hiefür. In Europa selbst, dessen äusserste Theile allein vom Islam berührt worden sind, stammen die bosnischen Begs, die alhanesischen „wahren Gläubigen", die Pomaken oder muhamedani-schen Bulgaren, die Muselmanen der Krim und Kandia's, die griechischen oder gothischen Ursprungs sind, von christlichen Apostatin ab, während es schwer wäre, ein niuhamcdanisches Volk oder auch nur einen muhamedanischen Stamm zu nennen, der jemals das Christenthum angenommen hätte. Der Grund liegt nicht darin allein, dass der Islam für gewisse Kacen oder für eine gewisse Lebensweise besonders geeignet scheint, sondern auch umgekehrt in dem Dogma und sozusagen in dem Alter der beiden Religionen. Der Islam ist eine jüngere Lehre, als das Christenthum und grossentheils direcl gegen dasselbe gerichtet. Er ist. dogmatisch genommen, ein einfacherer Klaube iiinI mindestens dem Anschein nach strenger monotheistisch, freier von jedem Anthropomorphismus. Der Muselman wandert aus oder stirbt aus vor dem Christen, er bekehrt sich nicht, und die Mischung beider Racen kann kaum durch rebergang der einen zum Glauben der andern sich vollziehen. Freilich haben in Russland Beispiel und Gewinnsucht, private und oflicielle Proselytenmacherci seit 3 oder 400 Jahrhunderten mehr als eine Eroberung unter den Tataren zu Gunsten des Christenthums gemacht.') Einige der grossen russischen Geschlechter sind aus dieser Quelle hervorgegangen und haben bei der Taufe den Titel Murza mit dem russischen „Knäs" vertauscht, aber solche Abfälle sind, wenn sie auch in Gruppen geschahen, doch verhältnissmässig immer selten gewesen. Sie fanden in Bevölkerungen statt, die bereits mit ihren neuen christlichen Herren oder ihren alten finnischen Untergebenen vermischt waren. Ausserhalb Russlands und in ihrer eigentlichen Heimath müssen die Tataren in gewissem Masse der Kreuzung mit kaukasischen Racen erlegen sein, zuerst in Turkestan, wo seit undenklicher Zeit zahlreiche tränier, wie die Tadschiks und Saiden, lebten, dann auf den Wegen ihrer Wanderung, namentlich aber im Kaukasus, WO die Gemeinsamkeit der Religion die Verbindungen erleichterte, Welche die Schönheit der Tscherkessinnen den Wolgatürken ebenso wünschonswerth machen musste, wie den Türken am Bosporus. Wenn in die Adern des russischen Volks allmälich ein bemerkbarer Theil tartarisohen Blutes Eingang fand, so stammt er wühl Weniger von den Horden des Batu und den Eindringlingen des 13. Jahrhunderts, als von den stammesverwandten Völkern, die Jahrtausende 'i,ng. von den Scythen des Alterthums bis zu den Chasaren, von den ^etschenegen bis zu den Kumanen oder Polowzen des Mittelalters den SiUlen Russlands bewohnt oder durchzogen haben. Unter den ^gemeinen Namen der Scythen haben die Alten, wie sie es oft ''baten, Völkerschaften zusammengefasst, welche untereinander keinerlei Philologische Verwandtschaft hatten. Es scheint, als habe es unter diesen Scythen arische Stämme gegeben, aber die Mehrzahl derselben N>i,r offenbar linnisch-türkischen Ursprungs. Noch sicherer lässt sich das von den Chasaren, Kumanen und andern Nomaden sagen, die s"'h bis zu dem grossen Mongoleneinfall um den Süden Russlands ^Witten, Lange Zeit waren diese erloschenen Völker im alleinigen »esitz jener weiten Landstriche, von denen Griechen und Römer nur den Küsten säum kannten. Muss man daraus seh Messen, dass sie die «"•fahren der dünnen Bevölkerung jener noch halbwüsten Ebenen Sind? ])ilS; Territorium aller dieser Barbaren, der Scythen Herodots ') Ungefähr ein Elftcl der Tataren des Gouvernements Kasan (40000 von ' 'M') wurden im 1H. .Jahrhundert von den russischen IVlinnlcn getauft: sie j-'nd dem N'ainen nach (.'bristen, aber trotz ihrer Taute noch nicht rnssilioirt, "' l;il'pten ihre Sprache und ihre hesondern (iehräiiche, nieist auch den (Hauben '»i den Koran. n e r oy . B e a mit eu, Reich d. Zaren u. d. Küssen. 5 - GG — wie der Tataren des Rubruquis war die holzlose Zone der Steppen, in der die Bevölkerung jetzt noch entweder sehr dünn gesäet oder neu ist. Cm diese Flüchen der Cultur zu gewinnen, mussten zuerst die Nomaden von ihnen verdrängt werden. Die Scythen und alle ihre finnisch-türkischen Sippen waren Hirtenvölker, die mit ihren Karren und Heerden in den Steppen diesseit der Wolga und des Don dasselbe Leben führten, das beute noch jenseit diese]' Flüsse ihre kirgisischen Brüder führen. Alle diese vom Westen so gefürchteten und aus der Geschichte so rasch verschwundenen Völkerschaften waren ebenso wenig zahlreich, als die asiatischen Stämme derselben Race, die heute noch bei der gleichen Lebensweise verharren. Line Hungersnoth, eine Epidemie, eine Schlacht genügten, um sie verschwinden zu machen. Sie vernichteten sich gegenseitig fast ohne andere Spuren zu hinterlassen, als ihren Namen. Das scytbische oder tatarische Element muss in der südlichen Hälfte Russlands gesucht werden; vom Westen und Norden her, aus den waldreichen tiefenden drangen dagegen allmälich und gleichsam unter unsern Augen die jetzigen Bewohner des südlichen Kusslands ein. Gross war der Finfluss der Tataren, doch mehr in geschichtlichem als ethnologischem Sinne; er hat seinen Schwerpunkt mehr in der Eroberung, als in der Mischung der Racen. Doch wo es sich um Abweichung eines landläufigen Vorurtheils handelt, darf man sich nicht in das entgegengesetzte Extrem verlieren: der Antheil der Tataren an dem AVerden des russischen Volkes ist gering, aber keineswegs null gewesen. An mehr als einem Punkte hat es eine Mischung zwischen den i ürkischen und den sla\ ischen Stämmen gegeben, aus denen die Küssen hervorgegangen sind — an den Ffern des Dnjepr, als die Fürsten von Kiew die Reste derPolowzen oder der Petschenegen aufnahmen, — an demselben Fluss, am Don und an der Wolga unter den Kosaken, die in Krieg wie Frieden off in engen Beziehungen zu ihren muhamedanischen Nachbarn und Feinden standen. Wie dem auch sei, der ethnologische Einfluss der Tataren in den südlichen Regionen ist geringer gewesen, als der der Finnen in den nördlichen, umsomehr, als die Tataren selbst oft mit den Finnen sich vermischten. Die Türken Russlands haben soviel Verschmelzungen erfahren, dass es vom physischen Standpunkt aus unmöglich ist, sie unter eine und dieselbe Bezeichnung zusammenzufassen. Ihr Gesicht zeugt oft von Racenmischung, und in kleinen Bezirken, bei verhältnissmässig geringer Volkszahl sind die Typen bisweilen sehr vorschieden. In der Krim allein, wo die Auswanderungen sie auf weniger als 100000 reducirt haben, findet man eine grosse Mannigfaltigkeit. In den nördlicheren Steppen lebte noch vor Kurzem der Nogai mit platter Nase, geschlitzten Augen, fast mongolisch-kalmückischem Gesicht. Auf den Bergen der Südküste hat der Tatar ein ovales Gesicht, geschwungene Augenbrauen, eine grade oder adlerartige Nase, ganz kaukasisch arischen, fast griechischen Typus. In beiden Fällen zeigt sich die Wirkung der Mischung. Der Nogai, der jetzt zum Kaspisee zurückgedrängt ist, hat sich stark mit dem Mongolen gekreuzt, der Tatar der Küste stammt grossentheils von Griechen des Littorale oder von Gothen des Innern ab. die sich vor der tatarischen Invasion in die Berge geflüchtet hatten und erst ein- oder zweihundert Jahre vor der russischen Herrschaft sich zum Islam bekehrten. Kauz ähnliche Km erschiede sind nach Provinzen. Städten und Klassen, nach dem Krade der .Mischung mit den unterworfene]! Racen bei den ottoma-nisclien Türken nachzuweisen, sodass heute der tatarische Völkerzweig noch weniger anthropologische Iloniogenei'tät aufweist, als der linnische. Die Krim und was man noch im vorigen Jahrhunderl die ..kleine Tatarei" nannte, ist wohl der Boden, auf dem man am leichtesten Sitten und Wesen der Tataren studiren kann. Vor noch nicht hundert Jahren waren sie hier die Herren und fast die einzigen Bewohner. In Folge der wiederholten Auswanderung sind sie jetzt daselbst zwei, J;> vielleicht dreimal geringer an Zahl, als die russischen und ausländischen Kolonisten, die sich an ihre Stelle gesetzt haben; in einigen Thailen der Halbinsel erkennt man jedoch, dass sie hier immer noch ZU Hause sind. In den der Kultur unzugänglichen Steppen im (entrinn und im Norden setzen sie ihr Nomadenleben fort. In der fruchtbaren Gegend haben sie noch ihre Städte, deren hauptsächliche und. Vielleicht alleinige Einwohnerschaft sie bilden, wie Karasu-Basai und Bachtschi-Sarai, die alte Chanenstadt. Im engen und frischen Thal, v,,o grünenden Karten und den Marinoii'ontainen des Schlosses diu' Girei umgeben, lebt dort eine muselmanische Bevölkerung von reinerem Grientalismus, als in den Städten der europäischen Türkei oder in ,u'n liafenplätzen Kleinasiens. Dort herrscht noch das alte (leset/ däsMohamed in aller Strenge und nichts erinnert an den Kall der tata-j'ischen Macht, als die Einsamkeit der Säle des Schlosses, die noch jetzt Ausstattung'und Gerathe aus (hu-Zeit des letzten der Chane bergen. Die Türken von Bachtschi-Sarai und Karasu-Kasar sind Kaufleute Und Ackerbauer. Ebenso ist es mit denen der Wolga. Auf frucht-oarem Hoden haben sie ihr Nomadenleben aufgegeben und sind in den Städten Gewerker oder Kaufleute, auf dem Lande Feldbauer geworden. In Kasan, der ältesten Hauptstadt des mächtigsten der drei 5* aus dem Zerfall der goldnen Horde hervorgegangenen Chanate, bewohnen die Tataren eine Slobode, d. h. eine Vorstadt am Fasse ihrer allen Stadt und fernab von dem Kreml, den ihnen die rechtgläubigen Zaren genommen haben. Ihre Stadt hat ein reinliches, ruhiges und gedeihliches Ansehn. Sic haben dort ihre Moscheen und ihre Schulen ') mit den von dorGemeindo gewählten Mullahs, die nach muhamedanischer Sitte ihre Schiedsrichter oder Richter sind. In Kasan wie in der Krim betreihen die Tataren als Specialität gewisse orientalische tleworbthätigkeiton, wie die Herstellung von Gegenständen aus Feder und Maroquin: Stiefel, orientalische Pantoffel, Sättel, Futterale, Scheiden. Sie haben oft die Muskelkraft sich bewahrt, die sprichwörtlich den Türken eigen ist: auf der Messe von Nislmi-Nowgorod sind die Lastträger Tataren. Der Grosshandel Steht ihnen ollen, und mehr als einer ihrer Kaufleute in Kasan ist zu bedeutendem Reichthum gelangt. So verschiedenartig sie moralisch und physich entwickelt sind, pflegen sie meist arbeitsam und sparsam zu sein und sich durch sittliches Familienleben und verwandtschaftliche Treue auszuzeichnen. In all diesen Eigenschaften stehen die Türken Russlands denen des ottonianisehen Reiches keineswegs nach, deren private Tugenden zu rühmen die Reisenden nicht müde werden. Für gewisse Verwendungen ziehen selbst die Russen die Tataren ihren Landsleuten vor. Reinlicher, ehrlicher, massiger als diese, werden sie in manchen Gewerben besonders gesucht und haben sie sich für bestimmte 'Hurtigkeiten, die das höchste Vertrauen und die grösste Ehrlichkeit erfordern, ein gewisses Monopol erworben. Die hohen russischen Familien, die an der Küste der Krim ihre Villen haben, nehmen vertrauensvoll Tataren in ihre Dienerschaft auf, und in den Restaurants von Petersburg sind Tataren aus dem Gouvernement Räsan die fashionabelsten Kellner, sodass der ausländische Reisende, der sein französisches Diner bestellt, ohne sein Wissen von den Nachkommen der Paladine des Dshingischan und Batu bedient wird. Dil' Eigenschaften der Tataren entstammen zum Theil ihrer Religion, die Massigkeit zu strenger Pflicht macht, aber auch ihre Fehler und die Umstände, die ihren Fortschritt hemmen, gehen *) In diesen wie in allen inuselmanischen Schulen ist das Arabische des Koran die (irundlage des Kntcrrichts, wobei dessen Text oft ohne das Verständnis* des Sinnes gelernt wird. Diese barbarische Methode ist ein grosses ] I inderniss für die Entwickebing der Tataren. Auch macht die Regierung lobenswerthe .Anstrengungen, um den Unterricht in tatarischer Sprache einzuführen, bis derselbe in russischer Sprache ertheilt werden kann. aus derselben Quelle hervor. Nur in einem Punkte erscheint die Race untergeordnet, sie entbehrt der Originalität. Die alten Städte der Tataren sind untergegangen. Um die Denkmäler ihrer Berrschafl zu sehen, muss man in das Herz Turkestans, nach Samarkand gehen, und auch dort findet man nur Dauten in persischem Geschmack und Stil. In Russland ist nichts seltener, als Bauten aus der Zeit der Chane. Ausser dem unbedeutenden Palast von Bachtschisarai, der verhältnissmässig später Zeit angehört, giebt es in der Krim nur einige Moscheen, deren schönste wenig bemerkenswerth sind. Kasan weist eine bizarre vierstöckige Pyramide aus Backstein auf, die bei den Tataren grosser Verehrung geniesst, doch nach der christlichen Eroberung entstanden zu sein scheint. In einer Stadt, die zur Zeit der Invasion Tamerlans von den Tataren selbst zerstört wurde, in Bolgary am linken Wolgaufer habe ich die interessantesten orientalischen Kuinen Kusslands gesehen, zweierlei Grabmäler mit Kuppeln, die bald eingestürzt sein werden, und deren elegante arabische Bauart ein wenig ;|n die schönen Gräber bei Kairo erinnert. Die Nachahmung der arabischen oder der persischen Kunst tritt bei den Türken an der Wolga und in Kontraiasien in Architektur wie Poesie an die Stelle der Originalität. Solcher Mangel muss ihre ganze Kultur von der Berührung mit dem Kremden abhängig machen, und ihre Religion macht es ihnen unmöglich, über die Civilisation, die sie von ihren nmsolmanisehen Nachbarn erhalten haben, hinauszugehen, ohne ihre I Qabhängigkeit zu verlieren. Im Grunde liegt die grosse Schuld, die grosse politische Inferiorität des Islam weder in seinem Dogma, noch in seiner Moral. Bondern in der Vermengung des Geistlichen und Weltlichen, des '■''ligiösen und bürgerlichen Oesetzes. Da der Koran zugleich Bund "»d Gesetzbuch ist und das Wort des Propheten an Stelle des Rechtes «teht, sind Gesetze und Sitten für alle Zeit durch die Religion geweiht Darum allein schon ist die muselmanische Civilisation ge-zwungonorweisc eine stationäre. Der Fortschritt ohne Begrenzung, der das Wesen unserer christlichen Civilisation ausmacht, Kt unmöglich; wie gross auch die scheinbare Geschwindigkeit ihrer Entwicklung •seK als Ganzes ist die Gesellschaft zu Unbewoglichkeit gezwungen. Diese Inferiorität des Islam ist mehr eine öffentliche als eine private, sie berührt mehr die Nationen als die Individuen, denn unter fremdländischem Einfluss können Muselmanen Ideen und Sitten annehmen, •he aus dem Schosse ihres Volkes nicht hätten hervorgehen können. Es kftun den Muhamedanern gehen, wie es innerhalb der christlichen Gesellschaft den Isrealiten gegangen ist, die nicht weniger durch das religiöse Gesetz gefesselt sind, und die, wenn sie ein geschlossener Volkskörper gehlieben wären, sich nur mit grosser Anstrengung zu einer vollkommeneren Civilisation hätten erheben können, als die der muselmanisohen Völker. Für sie wie für die Jaden kann die christliche Herrschaft eine Wohlthat, die geistige Befreiung sein, die aus der politischen Knechtschaft hervorgeht. So haben die russischen Tataren dort wo sie in der Minderheit sind und dem Andrang des Fremdländischen am meisten erlagen, das äussere Kennzeichen des Islam, den Schleier und die Abgeschlossenheit der Frauen, aufgegeben; im Centrum der Krim, in Baktsehisarai ist der Schleier noch in strengem Gebrauch, an der Südküste haben die Muhamedanerinnen ihn abgelegt. Dieselben Einflösse verdrängen die Polygamie, wie sie der Solaverei ein Ende gemacht haben. So neigen die zu kleinen Gruppen isolirten Tataren dazu, die gleichen Phasen durchzumachen wie die Juden, die zwar ihren Colins beibehalten, aber allmählich unsere Lebensweise annehmen. Der Islam wird kein grösseres Hindernis 8 für ihren Eintritt in unsere Civilisation sein, als der .Judaismus, der weit mehr durch enge rituelle Satzungen beschränkt ist. Ohne sich mit der Masse der Bevölkerung zu verschmelzen, ihre besondern Sprachen für längere oder kürzere Zeit sich erhaltend, worden die in Russland bleibenden Muhamedaner dort eine ebenso friedliche und arbeitsame Ciasse bilden, wie die andern, und fast dieselbe Rolle wiii die Juden und Armenier spielen, jedoch mit dem Unterschiede, dass sie auf dem Lande und in den Städten leben, und den Ackerbau wie den Handel treiben und daher ihre grössere Anzahl in den östlichen Provinzen nicht zu den Missständen führen wird, wie in den westlichen die Menge der Juden, die fast alle Stadtbewohner sind und Kleinhandel treiben l). Politisch genommen bereiten schon jetzt die Tataren im europäischen Russland der russischen Regierung nicht mehr Verlegenheit, als die jüdischen und finnischen Unterthanen. Man kennt ihr Verhalten beim Krimkrieg; obgleich sie damals in der Krim mehr als die Hälfte der I levölkerung bildeten, haben sie den feindlichen Truppen, unter denen ihre Glaubensgenossen und gewissermassen ihre Landsleute vom Bosporus sich befanden, fast keinerlei Dienst gethan. Der Krieg in Bulgarien, der Fall von Khiwa und die Unterwerfung der übrigen Chanate in Turkestan haben ihnen die letzten Illusionen genommen. Mehr noch l) Die polonisirton Tataren in Litthaueii, die seit Jahrhunderten Ihre Sprache verloren, ihre Itcligion aber behalten haben und meist Gerber und I laudier sind, zeigen, was einst die russificirten Tataren an der Wolga sein können. als die Finnen in kleine, zerstreute Gruppen getheilt, von allen Seiten von Russen eingeschlossen, bilden die Türken Russlands kein Volk mehr; für sie ist die Religion an die Stelle der Nationalität getreten und die häutigen Auswanderungen befreien sie von den Fanatikern. Ueberall in Europa, selbst dort, wo sie am längsten herrschten, ge-rathen die Tataren in die Minderheit und dieses Verhältniss wird sich durch die Colonisation des russischen Ostens in wachsendem Masse steigern. Im Gouvernement Tauris, der alten „kleinen Tatarei wo ihrer zur Zeit der Belagerung Sewastopols noch 300 000 waren, hat sie die Auswanderung auf weniger als 100 000 reducirt; sie sind nur noch in den nördlichen Steppen der Krim und in einigen Thälern des südlichen Gebirges in der .Mehrzahl. Russland hat mit Einschluss der Bewohner des nördlichen Kaukasus in Europa nur II 200 000 muhamedanische Unterthanen. Ohne den Kaukasus, dessen beiden Abhänge zu einem geschlossenen politischen Bezirk zusamnieiigefasst sind, beträgt die Ziller der Muselmanen 2500000 und von dieser Ziller sind noch die Baschkiren und die tatarisirten Stämme, in denen das finnische Blut vorherrscht, abzuziehen, wenn man die Zahl der Wirklichen Tataren, der Abkömmlinge des Volkes der goldnen Horde erhalten will.1) Weniger als 1200 000 .Menschen bilden den ganzen Rest dieser türkischen oder tatarischen Race. die so lange über Russland geherrscht und Europa in Schrecken erhalten hat. In Russisch-Asien sind die Kirgisen ihre Stammes- und Glaubensgenossen, der grösste aller türkischen Volkszweige, in Turkestan die Turkmenen oder Turkomanen und die Osbegs; im Kaukasus die Sunniten und Schiiten der Kura und des Araxes, die Kumuks und einige andre kleine Stämme, in Sibirien haben endlich einige Muhamedaner mehr oder minder Anspruch auf den Namen der Tataren, wie auch einige andere jetzt christliche und zu drei Viertel russilicirte Stämme.8) In Europa ubersteigen sie nur in einem einzigen Gouvernement,in Ufa, die Hallte der Bevölkerung und das durch «las Vorhandensein der Baschkiren in einem halbasiatischen und der Colonisation eben erst ge-"Hneten Uralgouvernement. In den übrigen Gouvernements, in denen S]{- am zahlreichsten sind, Kasan, Orenburg, Astrachan, erreichen die J Die statistischen Verzeichnisse geben ein wenig mehr als 1 Million Lcasan-?~er Tataren an, von denen 450 < um in dem < ioiivernenicnl dieses Namens leben. Nach Rittig sind die Krimtataren auf 80000 reducirt. ") Wir zählen hier weder die Tunguscii, noch die .Mandschu, noch auch die Jakuten, die man zu den Völkern türkischer Wurzel rechnet, die aber durch 'ntfcrmmg und Religion von der tatarischen (iruppe getrennt geblieben sind, Muhamedaner nicht ein Drittel der Gesammt - Bevölkerung. An der unteren Wolga selbst ist, die Majorität auf die Christen übergegangen. Viertes Kapitel. Das abwische Element und die russische Nationalität. — Slaven und Panslavis-iiius. Slaven und Letto-Iätthauer. — Wie entstand das russische Volk? Seine verschiedenen Stämme. — Ihre Unterschiede nach Ursprung und Charakter. — Orossrussen. — Weissrussen. — Kleinrussen. — Die Ukränophilie. Ueber Finnen und Tataren, deren ethnologische Bolle in Russland sehr verschiedenartig gewesen, steht die Race, die die andern unterworfen oder in sich aufgenommen hat, deren Name stolz an jedes russische Ohr schlägt, die slavische Race. l'eber Wohnsitze und Ursprung der Slaven ist jeder Zweifel ausgeschlossen. Wie die Romanen, die Celten, die Germanen bilden sie einen Theil jener grossen arischen oder indo-europäischen Race, welcher die Herrschaft der Welt zugefallen scheint. Für diesen gemeinsamen Ursprung zeugen ihr natürlicher Typus, ihre Sprachen, ihre ältesten Traditionen. Wie das Griechische, Lateinische und Deal sehe sind die slavischen Sprachen eigentlich nur Dialecte des indo-ouropäisohen Idioms, dessen älteste bekannte Form das Sanskrit ist. Wie die Sagen und Legenden Deutschlands wiederholen und ergänzen auch die der Slaven die Stolle, aus denen die Mythen Indiens und Griechenlands entstanden sind.1) Ebensowenig wie wir sind die Slaven Asiaten, und wenn sie es sind, sind sie es wie wir. Ihre Niederlassung in Europa geht weit über jede historische Epoche zurück. Man weiss nicht, wer früher Asien verhissen hat, Slaven oder Germanen. Jedenfalls sind ihre Wanderungen in kurzem Zwischenraum erfolgt. Den Grad der Verwandtschaft zwischen den grossen arischen Stämmen, die Europa unter sich getheilt haben, zu bestimmen, ist schwer. Die Philologen wollen ein engeres Band zwischen Slaven und Germanen entdeckt haben, aber l) In den volksthümlicben Traditionen und legendären (Slaubonshcgritlcn halien einige (Seiehrte eine deutliche Uehereinstimmung zwischen !•'raukreich, Wales und Irland einerseits und den slavischen Völkern andererseits zu entdecken genieint, als hätten in vorhistorischen Zeiten Celten und Slaven lange mit einander in Berührung gestanden. wenn auch der Sprache nach die Slaven sich ein wenig mehr ihren germanischen Nachbarn nähern, so nähern sie sich dem Charakter nach mehr den West- und Südeuropäern. Arier, wie wir, gehören die slaven. wie die Celten, Hellenen, Romanen und Germanen zum westlichen Zweige, den man auch den europäischen Zweig der Arier nennen könnte. Seit den ältesten Zeiten findet man sie in Europa an der Weichsel und am Dnjepr sesshaft. Bei dem Dunkel, dass über der ältesten Geschichte liegt, ist es schwor, den ursprünglichen Typus der slavischen Stämme zu entdecken. Ob Celten, ob Germanen, ob Slaven. das klassische Alterthum fasste sie alle als fremde Völker unter dem Namen der Barbaren /.u-Bammen, Bebilderte sie mit denselben Farben, schrieb ihnen gleiche Sitten zu, was zu der Annahme führen könnt«', dass diese Stämme sich damals nicht so sehr unterschieden, wie sie es in der Folge ge-than haben, und mehr Züge ihres gemeinschaftlichen Ursprungs festhielten. Nach diesen Schilderungen, dm oft auch auf die Barbaren anderer Racen passen,- geheinen die alten Slaven. die wir unter den Namen der Anten. Wenden, Slovenen und zuweilen Sarinaton und Scythen kennen, gross und stark gewesen zu sein und graue oder hlaue Augen, braune, rothe und blonde Haare gehabt zu haben, Einzelheiten, die sich noch häufig bei den Hussen wiederfinden.1) Die vorhistorische Archäologie giebt uns keine genaueren Aufschlüsse. Wie die Germanen scheinen auch die östlichen Arier im Laufe der Jahrhunderte oxosse Veränderungen erlebt zu haben. Die ältesten waber in slavischen Ländern in der Umgegend von Krakau haben ,m* zum Beispiel Schädel von langer Form oder doli«dioeephale vom feinsten arischen Typus geliefert. Viele noch bestehenden slavischen ') Uns Bild der ersten Slaven Kusslands wird man vielleicht im .Museum 'ltT Kreinitatfc in St. Petersburg auf den bewundernswürdigen Geschmeideetücken Wehen dürfen, die in den Tumuli der Krim vor den Thoren der alten Hauptstadt des kymmerischen Bosporus l'antikapäum gefunden worden sind. Auf pddnen Oürtelschnallen oder an silbernen Schalen werden nach mehr als _'U Jahrhunderten der sevthische Heiter und Bogenschütze in hohen Stiefeln, anliegenden l5,'iiik1eid,.m und kurzer Tunika, die an das russische Hemd erinnert, wieder '''"'"di»-. Ausser den griechischen Schmuckgegenständen, die ebenso hoch über 'K'Uen von Pompeji stehen, wie die Kunst Athens über der Korns, zieren ähnliche «CHtalten auch minder feine Schmucksachen, die in den Oräbern der südlichen •I*''» gefunden sind und Arbeiten von Scvthon selbst zu sein scheinen, die M'»weit von der griechischen Kunst schon ergritten waren, dass sie sie nachahmten. A,,t allen diesen (ieschmeiden linden sich Typen, die verschiedenen Kacen anzugehören scheinen, bald offenbar Arier, bald eine Mischung von linnisch-lürki-WWm Blute bezeugend. Völker haben diese Form verloren, die vor Kurzem noch für ein charakteristisches Merkmal der indo-europäischen Race galt, oder sie besitzen sie nur in geringerem .Masse, als die Mehrzahl der romanischen und germanischen Völker. Auch werden sie in den ausschliesslich auf die Schädelform sieb gründenden ethnologischen Classificationen bisweilen neben die Kinnen unter die brachycephalen oder kurzschiid-ligen Völker gesetzt, während ihre arischen Brüder mit den Semiten der doli» hocephalen Classe zugetheilt sind. Wie mangelhaft auch eine solche Classification sei, sie hat den Vortheil, zu zeigen, dass auch bei Kreuzung mit den Finnen die Russen sich nicht soweit von den übrigen Slaven entfernt haben, als man annimmt.*) Die intelleetuellen Fähigkeiten dieser Race, welche den Romanen und Germanen die Welt streitig macht, zu skizziren ist schwierig. Nur in einer langen Arbeit der Civilisation, in Literatur, Kunst, politischen Einrichtungen zeichnet sich der Geist der Racen und der Nationen. Die Mehrzahl der Slaven ist zu neu in einem Leben der Unabhängigkeit und in der europäischen Cultur, als dass ihre nationale Individualität sich ebenso plastisch hervorheben könnte, wie die ihrer Rivalen. Lange Zeit von den Völkern des Westens verachtet, die von ihrem Namen — Schwollen — das Wrort Sclave herleiteten, mit Geringschätzung von ihren Nachbarn in Deutschland behandelt, die in ihnen nur einen „ethnologischen Stoff" sehen wollen, haben die Slaven ihre untergeordnete Rolle wohl nur ihrer geographischen Lage zu danken. Da sie im Osten, gleichsam am Eingangsthor Europas, in dem ausgedehntesten und den Einfallen von Asien am meisten ausgesetzten Theile ihre sitze genommen haben, waren sie natürlich die zuletzt civilisirten und zugleich die wenigst lief civilisirten. Weil sie keine Ansprüche auf die ('ultur des modernen Europas erheben konnten, haben einigv Slaven Rechte auf das Alterthum geltend gemacht. Serbische und bulgarische Schriftsteller sind auf den Gedanken gekommen, den grössten Theil der griechischen Civilisation vom thraeischen Orpheus *) Vgl. die kraniologische Classification, die ein schwedischer Gelehrter Anders Ketzins in seinen ethnologischen Schriften, Stockholm 1864, giebt. Es ist Übrigens bekannt, dass in unseren modernen Itaeeii. die alle aus Mischungen hervorgegangen sind, zuviel (iewicht auf dieses Merkmal gelegt ist, und dass nach den neuesten Forschungen eine grosse Zahl von Deutschen namentlich in Süddeutschland Wie auch eine grosse Zahl von Franzosen hrachyccphal sind. Wichtiger wäre, wenn, wie einige Gelehrte behaupten, die Slaven einen kleineren Kopf und ein weniger umfangreiches Gehirn hätten, als die westlichen Europäer, aber wenn dies auch bewiesen wäre, so würde sich die Thatsache aus dem verhältnissmässig grösseren Alter der westliehen Cultur genügend erklären. bis zum makedonischen Alexander als ein Erbtheil der Slaven zu reclamiren. Derartige Ansprüche, die auf bulgarische Volkslieder von zweifelhafter Aechtheit sieb Btützten, fassen leider mehr auf Patriotismus als auf Wissenschaftlichkeit.x) Wie der Schule Roms und Griechenlands fast ganz fremd, s" sind sie auch durch ihre Lage, ihre Sprache und ihre Religion mein- dder minder den hauptsächlichsten Werkplätzen der Intelligenz des modernen Europa ferngeblieben und haben an dessen Arbeit niolit den gleichen Antheil nehmen können, wie die beiden andern grossen europäischen Familien. Es lässt sich nicht in Abrede stellen, die antike wie die moderne Civilisation, deren sie selbst sich erfreuen und zu deren Apostel sie sich im Orient machen, ist fast ohne sie entstanden. Die Küssen und die Südslaven haben nicht einen Stein zu derselben herangetragen und der Dan halte leicht auch der Mitwirkung der westlichen Slaven Kolens und Böhmens entrathen können. Hätte es keine Slaven gegeben und wäre Europa beim Böhmerwald °der bei den Kramer Alpen zu Ende, so wäre doch die civilisation ""'ht weniger vollständig, während man sie verstümmeln würde, wollte ■ttan aus ihr die Arbeit einer der grossen romanischen oder germanischen Nationen streitdien. Auf die äusserste Mark der Christenheit "''diesen, haben die Slaven dieser nur mit den Wallen dienen können, [udem sie von (ler Sau und Donau bis zum Dnjepr und bis zur Wolga >hre Kreuzen schützten. Kehlt dieser Kace der Geist? Keineswegs. Ks verdient bemerkt /u werden, dass es Slaven waren, welche dem Westen den Weg "mieten in den beiden grossen Bewegungen, die unsere moderne Zeit '"'i'beiführten, in der Renaissance und in der Reformation, in der Knt-äsekung der Weltgesetze und in der Rückforderung der Freiheit für das menschliche Denken. Der Pole Kopernikus war der Vorgänger öalilei'g, der Tscheche Johann Huss der Vorgänger Luthers. Das Slm| für du, Slaven Ehrentitel, doch wird der Besitz derselben ihnen \"n den Deutschen angestritten, denn das Unglück wollte, dass eine ttvalisirende Kace sich in dem Heimathland ihrer grossen Männer bioderliess und diese ihnen bis auf den Namen abstreiten konnte, ^"'hf man die .Jahrhunderte alten Kehergrill'e Deutschlands und das lavische Grundelement der Bevölkerung Satdisens und Kreiissens in I 1 Diese» System i>( besonders entwickelt von Ycrkowitsch in einer Sainm- \vTi eii geblieben. Ein anderer Umstand, der gleichfalls die Geschichte der 1 kräne betrifft, der fremde Ursprung oder die Entnationalisirung eines grossen Theils der oberen Classen, die bald polnisch, bald grossrussisch sind, begünstigt ebenso die demokratischen Instincte des kh'inrussisehon Volkes. Aus diesem doppelten Grunde ist der Kleill-riisse vielleicht politischen Aspirationen weniger verschlossen und daher revolutionären Verführungen zugänglicher, als sein grossrussischer Bruder '). Man hat den Kleinrussen wie den Weissrussen. also fast einem Drittel des russistdien Volkes Namen und Wesen der Hussen absprechen wollen. Km sie von den Grossrussen zu scheiden, hat man für sie verschiedene nationale Benennungen gesucht. Bald hat man den russischen Namen den Grossrussen vorbehalten, und den übrigen 'l Dies bestätigen offenbar mehrere l'rocesse in den Jahren 1879 — B mehrere Bauern der l'kräne mit verwickelt waren, 82, in (Ich lateinischen Namen Ruthenen oder den ungarischen Rossniaken gegeben, die beide nur Transcriptionen und Synonyme des Namens sind, den man ihnen nehmen wollte. Bald hat man im Gegentheil hierzu den Titel Russe für die Slaven Klein- und Weissrusslands, als der ersten Centren des Reiches, der Nachfolger Bnriks, in Anspruch genommen, und ihn Grossrussland abgesprochen, dem man den Namen Moskowiten auferlegte. Diese Wortklaubereien, die nicht von Kleinrussen, sondern von Bolen begonnen wurden, haben an den That-saohen nichts geändert, Sie haben nur bezweckt, zwischen das unglückliche Polen und Russland unversöhnliche Ansprüche zuschieben, die den Stärkern dahin geführt haben, die Nationalität des Schwachem nicht anzuerkennen, wie vordem auch Polen die Nationalität seiner alten russischen Unterthanen nicht anerkannt hatte. Es genügt hier zu constatiren, dass die Bezeichnungen Ruthene, Rossniak, Rossine, wie auch Russe und Russiane, die unterschiedlos von den alten Schriftstellern und Reisenden für einander gebraucht werden, im Grunde nur Formen desselben Namens sind, der ein und dieselbe Nationalität, mindestens in den Grenzen des Reiches bezeichnet1). Zur Zeit der 'tatarischen Invasion noch von Grossrussland getrennt, ist Kleinrussland fünf Jahrhunderte lang ohne tiefere Folgen Polen und Litthauen unterworfen gewesen. Die glänzende Oberlläche, der Adel von Kiew, Wolhynien und Podolien allein ist polnisch geworden a). Dank vor Allem dem griechischen Ritus ist der Kern des ') Heute hüben diese verschiedenen Nionen, besonders der der Ruthenen, der gewöhnlich den ühirten gegeben wird, einen bestimmteren Sinn angenommen. Mau unterscheidet übrigens bei den Kleinnissen drei Typen mit drei llnupt-dialccten, den der Ebene der l'kr/ine, den von Polesion oder von der Widdrogion von Kiew und den von Galizien und I'odolien. ~2) Die russischen Statistiker haben schon hinge die Bemerkung gemacht, dass in den südwestlichen Provinzen I'odolien, Wolhynien und Kiew, die von den Polen gewöhnlich als polnische betrachtet werden, in Wirklichkeit die Polen numerisch den .Inden nachstehen. Die gleiche Beobachtung ergiebt sich in Litthauen und WYissrussland, d. h. in allen in den drei Theilungen ;.....ectirten Provinzen. Nach Tschubinski, der hierüber sehr detaillirte statistische Tabellen veröffentlicht hat, gäbe es in den Gouvernements Podolien, Wolhynien und Kiew zusammen nicht 100 000 Polen. Tragen wir auch den IVbcrtreibungon der russischen Angaben Rechnung, so bleibt doch die Zitier der wirk lieh polnischen Bevölkerung eine sehr geringe. In diesen drei kleinnissischen Gouvernements betrug die Zahl der Katholiken, unter denen sich gewiss nichtpolonisirte Kleinrussen befinden, kaum -100 000, also nicht einmal ein Siebentel der (iesatnmt-bevölkerung (ii,!U Dagegen erhob sich in denselben M Gouvernements die Zahl der Juden auf 750000 also fast auf das Doppelle der Katholiken. S. Tra- Volkes, die bedeutende Mehrzahl der Bewohner Kiews und derUkräne ebenso russisch geblichen, wie das Volk von Nowgorod oder Moskau. Ob das Idiom des Kleinrussen den Namen einer Sprache, statt den eines Dialects verdient, darauf kommt wenig an; so war es auch mit dem Provonealischen: wenig kommt auch darauf an, ob das klein-russische oder ukränische Volk Recht hat, als Nation und besondere Nationalität betrachtet zu werden. Diese von den Gelehrten wie von den ukränophilen Patrioten viel diseutirte Frage gehört zu denen, die mit ethnologischen oder linguistischen Gründen zu entscheiden wir nicht uns erlauben wollen, denn in unsern Augen liegt die Nationalität nicht in der Kace noch in der Sprache, sondern im Volksbewusstsein. Ausser allem Zweifel steht, dass der Kleinrusse dem Westen und den Polen gegenüber ebenso Russe ist wie der Grossrusse. Wenn einige Geister, wie der Dichter Schewtschenko ') und die Ukränophilen dahin verdächtigt worden sind, von einer Erhebung Kleinrusslands zu einer ebenso von Kussland als von Polen unabhängigen Nation zu träumen, und die Entwürfe Khmelnitzki's und Maseppa"s wieder aufnehmen zu wollen, so haben derartige Träume bei den Kleinrussen nicht viel mehr Widerhall gefunden, als im Jahre 1870 im südlichen Krankreich die Pläne einer Riga des Südens. Kie heutigen Schriftsteller Kleinrusslands sind fast einstimmig darin, alle secessionistischen Tendenzen zu missbilligen, und der berühmteste unter ihnen, der Historiker Kostomarow hat Maseppa, den letzten Mann, der ernstlich unternahm, dieTJkräne von Russland loszureissen, 8treng verurtheilt. Die Ukränophilen und die kleinrussischen Poeten sind Kussland nicht gefährlicher, als es für die französische Einheit das Wiedererwachen der provencalischen Literatur und jene felihros des Südens sind, bei denen eine argwöhnische Polizei auch bisweilen filehr als eine kecke Redensart rügen dürfte. Bei ihren Parteigängern selbst beschränken sich die des Separatismus bezichtigten Tendenzen Meist auf Wünsche der Decentralisation und der provinziellen Autonomie, auf Klagen über die Unterdrückung der alten Freiheiten durch Peter den Grossen und Katharina IL und auf Abwehr der Kureaii-kratie und des Tschinownikthums, die von Moskau und Petersburg ""lM>'tirt sind. Die radicaKb ■n der Kkränophilen gehen nicht Über V;ui.\ de lexprdition ethnogr. »tut. dans la Russie occidcntale, section du Snd-Gnert'j von Tscimhinski vol. VII, 272 — 290. ') Geber Schewtschenkb, der ursprünglich Leibeigener, dann wechselnd Be-üienter und Soldat, gleichzeitig .Maler und Dichter war, siehe die interessante Studie von Durand, Rev. «I. deux Mondes, 15. Juni 7(>. föderalistische Träume hinaus, wobei sie behaupten, dass nur der Föderalismus den zahlreichen Völkerschaften verschiedenen Ursprungs im weiten Reiche Genüge leisten könne1). In jedem Fall sind die ungeschickten Hemmnisse, welche die Staatsgewalt der Verbreitung der kleinrussischen Literatur und Presse, und selbst dem Gebrauch des allein vom Volke verstandenen Dialects entgegengesetzt, wenig geeignet, beim Kleinrussen die autonomistischen Neigungen zu ersticken, die man auf diese Weise in ihrem Keim zu zerstören meint3). Ks ist ein sehr bedeutender Theil des nationalen Genius, den die russische (Jensur durch die Proscription eines Idioms, das von mehr Menschen gesprochen wird, als das serbische und bulgarische zusammen, dem Stillschweigen und der Verborgenheit weiht; es ist ein sehr bedeutender Theil des russischen Volkes, vielleicht der für Kunst und Dichtung meist begabte Theil, den die Petersburger Kureaukratie jedes Ausdrucksmitteis, jedes Lehrmittels beraubt. Weniger als anderwärts dürfen sich aber in Russland die Verächter der unterdrückten Sprachen und Krovinzialdialecto Illusionen machen: die Volkssprache, die oft im Laufe der Zeit unterzugehn bestimmt ist, lässt sich in wenigen Jahren nicht verdrängen, Ks ist leichter, ihren Gebrauch durch Ordonnanzen zu hindern, als in der Praxis die officielle Literatursprache an ihre Stelle zu setzen. Die Hand, die unter dem Vorwando ein breiteres Fenster zum Ausblick in die Welt zu öffnen, die bescheidene Luke schliesst, durch die das Licht einfiel, verurtheilt Millionen menschlicher Geschöpfe in der Zwischenzeit zur Nacht der Unwissenheit. Die Unterschiede der Kace, des Dialects, des Charakters, welche die beiden' russischen Hauptstämme bezeichnen, sind nicht grösser, ') S. besonders Hromada von Dragomanow und desselben Verfassers „Das historische Polen und die großrussische Demokratie." Genf 1882 (russ.). *) Ein tVnsurerlass von 1876 verbietet den Druck jeder kleinrussischen Schritt, sei sie Original oder Kebersetzung. Die Kleinrussen, die in der Volkssprache schreiben wollen, müssen an die ruthenischen .Journale Galiziens, wie Rrawda, Djelo oder Drug in Lwow oder Leopol (Lemberg) sich wenden. Trotz des Misstrauens, das ihre russophüeu Tendenzen in Wien gegen sie wecken, trotz der politischen Prozesse, die namentlich 1882 gegen sie erhoben wurden, haben die Ruthencn in (lalizien unter österreichischer Herrschaft und polnischer Suprematie mehr Freiheit, als in der Ukräne unter der Regierung des Zaren (s. Dra-gomanow „Zur Frage der kleinrussischen Literatur". Wien 1871« und unsern Artikel in der Rev. d. d. M. 1. Febr. 1877). Die Regierung Alexanders III. hat freilich 1881 —83 ein wenig die Zügel locker gehissen gegen die frühere. Einige kleinrussische Publicationen wurden genehmigt und einige luthenische Zeitschriften aus Gnlizicn im Reiche zugelassen. als die, welche zwischen dem Norden und Süden der westlichen Stauten bestehen, deren alte oder neue Einheit am festesten gegründet ist. Was die Race selbst betrifft, in deren Namen die Ethnologen aus der Schule Duschmskis sie trennen wollen, stehen die russischen Stämme einander näher, als man annimmt. Wenn der Grossrusse mehr Mischung mit den Finnen hat, so hat sie der Kleinrusse vielleicht mehr mit dem Tataren, von denen seine kiewsehen Fürsten ganze Stämme und seine Kosaken der Steppe zahlreiche Flüchtlinge und Abenteurer aufgenommen haben. Weit davon entfernt, in natürlichem Antagonismus zu stehen, sind Klein- und Grossrusse durch zahlreiche Rande mit einander vereinigt, durch die Geographie, die dem schwächeren Theile eine isolirte Existenz nicht gestatten würde, durch die historischen Traditionen und die gemeinsamen Antipathieen, durch die Interessen, durch die Religion, die noch über beide die grösste Gewalt hat. endlich durch die doppelte Verwandtschaft der Sprache und des Ursprungs. Sie ergänzen sich gegenseitig und geben ihrem gemeinsamen Vaterlande jene Zusammensetzung von Charakter und Geist in der Einheit, welche die Grösse aller grossen Völker der Geschichte geschaffen hat. Fünftes Kapitel. Russland und die historischen Nationalitäten seiner westlichen Grenzmarken. Hindernisse der Russiflcation, — Deutsche und deutscher Einfluss. — Antipathie gegen den „Njemetz". — Die Deutschen in den Ostsoeprovinzen und in Polen.— Die polnische Frage. — Gegenseitiges Interesse der Russen und Kolen an einer Versöhnung, Plebejische Nationalitäten und demokratische Politik, Die russische Nation hält das Innere des Reichs besetzt, ohne selbst mit Kinsohluss der Klein- und Weissrussen doch dessen Rahmen ausfüllen zu können. Nur stellenweise am schwarzen und weissen Meere und durch die Ukräne nach der Ostgrenze Galiziens hin erreicht das russische Volk selbst die Grenzen Russlands. In fast aUen seinen Marken sitzen rings um dasselbe her in zwei Haupt-streifen Völkerschaften fremden Ursprungs: der eine zieht sich im Osten gegen Asien hin und besteht aus Kinnen, Baschkiren, Tataren, Kargisen, Kalmücken, der andere beträchtlichere aber ebenso wenig m sich homogene streckt sich im Westen gegen Europa, an der verwundbarsten Planke des Reiches hin. wo Russland allein auf mächtige Nachbarn stösst. Dort dürfte wohl einmal ein Grand zu ernsten Sorgen für die Regierung in St. Petersburg liegen. Ks muss hervorgehoben werden, dass das Hauptelement und der eigentliche Kern der Nation, der Grossrusse selbst, diese westlichen Völkerschaften verschiedener Racen nur an einem einzigen, und zwar an dem wenigst ausgesetzten Punkte, an dem linnischen Meerbusen, und mit einem der ärmsten und mindest bevölkerten Landstriche berührt. In der Mitte und im Süden, zwischen dem alten Moskowien und den Eroberungen Peters des Grossen und Kaibarina IL, zwischen Grossrussland einerseits und Livland, Litthauen, Polen andererseits wohnen Weiss- und Kleinrussen, die, da sie sozusagen nur Russen zweiten Grades sind, weit weniger geeignet sind, Andere zu russilieiren. Dieser Uebelstand wird durch die Spärlichkoit der Bevölkerung Weiss-rUsslands und der Pinskor Sümpfe in dem anstossenden Theile Klein-rüsslands noch verschlimmert. Diese beiden Landstriche bilden gleichsam zwischen den hevölkertsten Regionen des alten Moskowien einerseits und seinen Eroberungen der letzten zwei Jahrhunderte andererseits eine Art halböder Bucht, die trotz der schönen Trockenlegungsarbeiten in den Sümpfen des Pripet ') -Rieh nur langsam ausfüllen dürfte. Die Polen, Litthauer, Letten und Deutsche im Westen sind so durch eine doppelte Schranke vor der Russilicirung geschützt, was den langsamen Fortschritt dieser verstehen lässt. Noch ein anderer Grund erklärt diese Erscheinung. Die Bevölkerung strebt wie das Wasser naturgemäss nach dem Leeren hin und will ihr Niveau erreichen: nicht gegen Westen und Europa, sondern nach Osten und Asien hin, nicht den Provinzen mit einer oft dichteren Bevölkerung, als das Innere des Reiches sie hat, sondern den östlichen, noch dünn bewohnten Landstrichen strömt naturgemäss der Keberschuss der russischen Bevölkerung zu. Den 60 oder (55 Millionen Russen gegenüber bildet die nicht russilicirte Bevölkerung im europäischen Kussland ausser Pinnland, dem Königreich Polen und dem Kaukasus, nicht mehr als 10 bis 12 Millionen Seelen, die in mehr als 10 Völkerschaften und fast ebensoviel Sprachen und Religionen zerfallen. Mit Einschluss des Königreichs Polen und Pinnlands steigt diese Ziller auf 20 oder 22 Millionen und noch um 2 oder .'1 Millionen mit Einschluss des kaukasischen Kabels, das mehr wie eine Kolonie betrachtet werden ') Die in dieser Gegend ausgeführten Arbeiten bilden eine der schönsten Unternehmungen dieser Art in Kuropa 1888 erstreckte sieh die Oorrection he reits auf 1500000 Hektare. musste und allein fast soviel Völker und Stämme zählt, als das ganze übrige Reich,1) Alle diese Völkorgruppon sind zu schwach, zu zersplittert, um irgend ein Anrecht auf Unabhängigkeit zu haben: sie werden sich durch die blosse Thalsache der fortschreitenden Civilisation. welche überall den kleinen Stämmen und den enggeschlossenen Sprachgebieten ungünstig ist, leicht assimiliren lassen. Viele dieser „Allogenen", wie die Finnen im Innern oder die Georgier in Transkaukasien sind dem Zaren eben so ergeben, als seine rus* sischen Unterthanen im engern Sinn. Andre, wie die 2 000000 Esten und Leiten der Ostseeprovinzen linden in der russischen Regierung einen Schutz gegen die aristokratische oder bürgerliche Oligarchie der 160000 Deutschen. Diese letzteren selbst und ihre Stammesgenossen im Innern sind trotz der Versuchungen von aussen, daran intoressirt, Unterthanen eines Staats zu bleiben, in dem sie ungeachtet ihrei kleinen Zahl einen SO breiten Platz einnehmen, WO sie dank dem Alter ihrer Civilisation, dank gewissen germanischen Eigenschaften, ihrer Arbeitsliebe, ihrem Sinn für Ordnung und strengere Lebensweise, dank auch der Kameradschaft, den gesellschaftlichen Beziehungen und den Einllüssen bei Hofe hohe Stellen in der Armee und im Staatsdienst einnehmen, so dass im grossen slavischen Kaiserreich die deutsche Kace noch die privilegirte zu sein scheint*). Diese Art der Suprematie der Deutschen, die sich bald im Öffentlichen, bald im privaten Leben zeigt, muss bei den Russen Misstrauen und Eifersucht wecken, die bisweilen zu lauten Protestes fähren. Man erhebt sich gegen die Herrschaft der Deutschen, die bezichtigt werden, in der Verwaltung wie in den Rechtshändeln eine Art von Corporation zu bilden, deren Glieder sich auf Kosten des ') Nach Rittich war die Bevölkerung des Kaukasus schon vor den durch den Berliner Vertrag sanetionirten (iebietserwerbungen in Iii Hauptgruppen ge-thoilt, die 68 verschiedene Dialecte sprechen. -) Das Verhältnis» der Deutschen steigt andauernd von den niedern zu den '"''"''■ii Dienststellen im Civil wie Militair. Ein Ausruf des damaligen Diron-° gers Alexanders III. bei einer Audienz des hohen (»eiieralstabs ist bekannt: "'lehdci,, ihm soeben mehrere Generale mit deutschen Namen vorgestellt worden, ' 1 der < irussl'ürst beim erstell russischen Namen: „Endlich!" Ks waren übrigens die Anlhipathieen des künftigen Alexanders III. und seiner Gemahlin Deutschland und die Deutschen mehrere Legenden im l'nilauf, welche rauzosen, die sie ernst nahmen, verdriesslicheii I'namiehndichkcitcii aussetzten. ^s einmal ■/,. B. einer unserer Botschafter, nach einem officiellen Diner dem t'Harewitsoh für die Sympal Ideen dankte, welche derselbe während des Krieges OD 1870—71 den Franzosen bezeigt halte, drehte der Thronfolger ihm ohne J«e Antwort den Rücken. Staates und der Privaten gegenseitig unterstützen. In Petersburg und besonders in Moskau ermuntert die Presse von Zeit zu Zeit Russland, sich vom politischen und ökonomischen Joch des Njemez1) zu befreien, von einem Joch, dessen Gewicht einige Patrioten sehr übertreiben, und das sie ebensowenig ganz abschütteln, als geduldig tragen zu können scheinen. Zu der doppelten Verletzung der individuellen Eigenliebe und des nationalen Stolzes gesellt sich dem Deutschen gegenüber die alte Antipathie zwischen slavischem und teutonischem Wesen und Denken. Zu verschiedenen Malen hat namentlich nach dem Berliner Congress diese uralte Antipathie sich in der russischen Gesellschaft auf seltsame Weise Luft gemacht, in mehr oder minder pikanten Spötteleien über den Accent oder die Manieren der Deutsehen, bisweilen auch in kindischer Weise. in Schaustellung einer mehr oder minder ernsten Geringschätzung der deutschen Literatur, Kunst und Production, in affectirter Gnkenntniss oder in künstlicher Verstümmelung ihrer Sprache, sodass es mir, dem Franzosen, mehr als einmal geschah, dass ich die Eroberer von Elsass-Lothringen gegen ihre rassischen Alliirten in Schutz nehmen musste. Dieser Widerwille gegen die Deutschen, der in periodischen Ausbrüchen sich Luft schafft, könnte übertrieben und lächerlich erscheinen, wenn ihn nicht politische Besorgnisse rechtfertigten, die durch die Wiedererstellung des deutschen Meiches und durch die eroberungssüchtigen Instinkte der germanischen Race hervorgerufen worden sind. Alexander DI. wäre nur dem nationalen Instinkt gefolgt und hätte der Neigung seiner Unterthanen nur entsprochen, wenn er es unterlassen hätte, seinen Oheim Wilhelm zum Tage von Sedan zu beglückwünschen und die Zerstückelung Frankreichs zu erleichtern, und bei unbefangener Prüfung ergiebt sich, dass Deutschland sicherlich für Russland gefährlicher, als für Frankreich ist. Bei uns begegnet das Reich der Hohenzollern einer geschlossenen Nationalität, die schwer zu durchbrechen ist und für germanische Assi-milirung keine Möglichkeit bietet. Anders steht es gegen Osten hin wo Deutschland in Preussen sich von Jahrhundert zu Jahrhundert vergrössert hat. Nun, die Russen spüren keineswegs Lust, ihren westlichen Nachbar auf ihre Kosten an der Weichsel, dem Niemen und der Düna seine hundertjährigen Eingriffe in das Gebiet der Slaven und Letto-Litthauer fortsetzen zu sehen. Es giebt im russischen Reich keine deutschen Provinzen. Dieser oft von den Deutschen und selbst von uns zur Bezeichnung der drei l) «Njemez, ursprünglich stumm, sprachlos, dann fremdländisch, deutsch. Ostseeprovinzen gebrauchte Ausdruck ist durchaus falsch, und es ist sehr verständlich, dass die Russen hierin keine Zweideutigkeit dulden wollen. Die statistischen Untersuchungen haben schon lange erwiesen, dass in diesen vorgeblich deutschen Provinzen, Livland, Estland und Kurland, die Deutschen in Wirklichkeit nicht den zehnten Theil der Bevölkerung bilden, die vielmehr ihrer immensen Majorität nach im Süden aus Letten, im Norden aus Finnen besteht. Das moderne Nationalitätsprincip, das übrigens sobald es ausserhalb des nationalen Gewissens steht, nur ein neues Werkzeug zur Unterdrückung bietet, dürfte von diesem Standpunkt aus keinerlei Vorwand für die Ansprüche der Deutschen liefern. Aber in einem Lande sind weder Zahl, noch Race, noch Sprache Alles. Die Deutschen mögen immerhin an der untern Düna in verschwindender Minorität sein, sie haben dort allzulange durch Waffengewalt, Handel, Religion und Alles, was die Civilisation begründet, ihre Herrschaft geübt, um dem Lande nicht ihren Stempel aufzudrücken. Die .Marke der Hansa ist überall in den Städten, der Charakter des feudalen Deutschlands überall auf den Landgütern erkennbar, die noch im Besitze der Erben der Schwertbrüder sind. Was Sitten, Geschichte, Traditionen betrifft, ist das baltische Land viel deutscher, als es Elsass-Lothringen 1870 war. Es hat selbst ohne Paradoxie gesagt werden können, dass diese russischen Provinzen, die von Letten und Finnen bevölkert sind, die deutschesten Länder des Continents seien, so sehr hat sich dort das Deutschland des Mittelalters lebendig erhalten. Sehr natürlich, dass die russische Regierung, die sie seit zwei Jahrhunderten besitzt, die baltischen Provinzen trotz der Capitu-lationen oder Privilegien, die Peter der tirosse den Livländern bei der Einverleibung des Landes bewilligte, zu entgermanisiren und zu •UOdernisiren sucht. Sehr natürlich, dass Petersburg und Moskau, zur Verringerung des deutschen Uebergewichts den frühern linnischen und lettischen Leibeigenen zur Hülfe ruft. Aber überall Verlangl ein solches Unternehmen ganz besonders der Klugheit, Geduld und Mässigung, Der deutsche Geist und der deutsche Einfluss haben im Boden ZU tiefe Wurzeln geschlagen, um leicht aus demselben gerissen werden zu können, und die Anhänglichkeit eines Landes ist schwerlich zu gewinnen, ohne den Gewohnheiten und Traditionen desselben Rechnung zu tragen. Den Eingebungen der wildesten Russilicatoren folgend ist die Petersburger Regierung unter dem Vorwand, das baltische Land sich zu assimiliren, in die Gefahr gerathen, es sich zu entfremden, in die tiefahr, dort eine separatistische Partei zu schaffen, indem sie Loroy-Beaulieu, Keich d. Zaren u. d. Russen. 7 die herrschenden ('lassen und jene Deutschrussen in Aufregung setzte, die stets dem Zaren treu gewesen sind und von Barclay de Tolly Ins auf Todleben, von Ostermann bis auf Nesselrode ihr mehr als einen berühmten General oder ausgezeichneten Minister geliefert haben. An der Düna wie an der Weichsel und am Dnjepr ist das beste Mittel zur Sicherung der russischen Herrschaft, diese Milde zu üben, die localen Traditionen und Sitten nicht zu vergewaltigen, wenigstens nicht soweit, als sie mit dem Geiste des Jahrhunderts und der Aufrechterhaltung der Reichseinheit vereinbar sind.1) Doch nicht blos in den Ostseeprovinzen haben die Russen den Germanismus zu überwachen; in Wirklichkeit ist ihnen dort der Njemez wohl kaum am gefährlichsten. Kurland, Livland, Estland sind durch geographische Lage an das grosse Reich gekettet, dessen Küstenland sie bilden und dem ihre Häfen zum Ausgangsthor dienen. Von Wusslaml getrennt, wären diese Provinzen gleichsam vom Conti-nent abgeschnitten und kämen in eine ähnliche Lage wie das österreichische Dalmatien, bevor die Besetzung Losniens und der Herzegowina ihm einen Hintergrund gegeben hatte. Auch lebt die Mehrzahl der Deutschen Russlands nicht in den Ostseeprovinzen. Unabhängig von ihren Handelscolonien in den Städten und ihren Aekercohmien auf dem Lande, die gleichmässig von einem Ende des Reiches zum andern ausgebreitet sind, sind die Deutschen allmälich in die Nachbarprovinzen Preussens und Oestreichs, in Polen, Litthauen, Kleinrussland eingedrungen.2) An vielen Orten bemächtigen sie sich langsam des Bodens und der.(Kapitalien trotz der Concurrenz der indigenen Juden, die ihnen vorkommenden Falles, wie in Posen, zu Hülfstruppen dienen und die Germanisation erleichtern könnten. Namentlich sind im Königreich Polen die Deutschen schon verhältniss- ') Vielleicht hat keine andere Frage in Europa zu einer so grossen Zahl von Schriften aller Art Anlass gegeben, wie diese Frage der baltischen Provinzen, die wir hier im Finzclnen nicht untersuchen können. Fs wäre StofV genug, eine ganze Bibliothek aus den Büchern und Brocbüren zu bilden, die in russischer und vornehmlich in deutscher Sprache durch Samarin's „Grenzmarken Russlands" hervorgerufen sind. a) Die Statistik über die Bewegung der Reisenden an der europäischen Grenze des Reichs giebt hierüber merkwürdige Aufschlüsse. In den letzten 10 .Jahren 1871—1HK1 sind in Russland eingegangen 8 768 229 I »eutsche, ausgegangen .'5 1,'Jli !)!tkJ, also eine I )if!ereiiz von ,".21 2*57 Fers, oder im Jahresdurchschnitt mehr als 32 000 zu Gunsten des Eintritts. Stellt man die Oestreicher neben die Deutschen, so ergiebt sich für dieselbe Periode ein Febcrschuss des Fäntritts gegen den Austritt von 267621 Gest reichern. massig zahlreicher, als in den baltischen Provinzen, die doch für ihren Hauptmittelpunct gelten. Zu der polnischen Frage, die seit einem Jahrhundert so oft in verschiedenem Sinne entschieden wurden ist, tritt thatsächlich noch eine deutsche Frage. Das ist zum Theil Schuld der russischen Politik, die in ihrer Furcht vor dem Polonismus den Germanismus begünstigt hat, indem sie beispielsweise dem Deutschen dort Grundbesitz gestattete, wo sie denselben dem Polen und Juden verwehrte. „Ich fürchte weniger die Deutschen als die Polen," schrieb X. Milutin beim Beginn der Insurroction von 18(13.l) Milutin würde heutzutage wohl nicht mehr so sprechen. Sehr scharfsichtige Patrioten erkennen an, dass Russland die drängende polnische Frage nicht zu gleicher Zeit gegen die Polen und gegen die Deutschen entscheiden dürfe, ebenso wenig, als sich die Polen schmeicheln dürfen, sie gleichzeitig gegen die Deutschen und gegen die Hussen entschieden zu sehen. Der Russe, der durchaus die Entnationalisirung des Weichselgebiets durchführen will, wie der Pole, der jeden Ausgleich mit Russland von sieh weist, sie beide kommen in die Gefahr, für die Preussen zu arbeiten, die es nicht vergessen haben, dass Preussen vor Russland in Warschau geherrscht hat. Bs giebt viele Hussen, die um dieser ewigen polnischen Frage ein Ende zu machen, das ganze eigentliche Polen2) oder wenigstens die Hälfte des Königreichs im Westen der Weichsel gern Deutschland mit dem Vorbehalt überliessen, eine Compensation auf Rechnung Oestreichs oder der Türkei zu erlangen. Eine solche Combination Ware freilich das „finis Poloniae"; aber wenn sie unlängst auch noch oft empfohlen wurde, würde sie heute wohl nur wenige Parteigänger linden. Aussur dem natürlichen Widerwillen dagegen, ein altes, slavisches Band dem Germanismus zu opfern, ausser dem Bedenken, eine Grenze hart vor den Thoren Warschaus zu ziehn oder diese Hauptstadt Preussen zu überlassen, begreifen die Russen wohl, dass sie den Deutschen in verhängnissvoller Weise die Versuchung nahelegen *) Ungedruckter Brief N. Milutins an Tschcrkasski 8/20 Febr. 18(55 (?) *2) Das Königreich Polen oder Congresspolen ist bekanntlich ans den Theilen des allen (Jrosslürstonlhunis Warschau gebildet, die dem Kaiser Alexander I. abgetreten und von ihm mit einer Constitution beschenkt wurden. In den Augen üer Küssen bildet dieses Königreich des Kongresses allein das ganze russische Polen; sie berufen sich auf die Geschichte mal Ethnographie, um den Provinzen, üie Katharina II. in den drei Theilungen des 18. Jahrhunderts annectirte, den polnischen Namen abzusprechen. würden, ganz Pulen allmälich zu absorbiren, wenn sie ihnen erst gestatten, sieh im Herzen desselben festzusetzen. Warschau wäre für die Preussen nur eine Etappe; einmal an der Weichsel festsitzend, könnte sie ihre Begehrlichkeit auf den Rest des Königreichs, auf Litthauen, Kurland, Livland ausdehnen. Sie würden dann — allein oder im Bunde mit Oestreich — Provinz für Provinz, sozusagen Blatt für Blatt, das ganze alte Polen verschlingen können. Die Polen müssen nicht weniger als die Russen jede Gebietsabtretung an die Erben Friedrichs II. fürchten. Das Unglück Polens ist. dass mit allen ihren glänzenden Eigenschaften mit ihrem edlen ritterlichen Sinne und ihrem kühnen Patriotismus die Polen doch nach den Theilungen des IS. Jahrhunderts ebenso wie vor denselben wenig politischen Geist gezeigt haben. Indoss scheint in dieser Beziehung das langandauernde Missgeschick nicht ganz an ihnen verloren zu sein; sie sind praktischer, positiver geworden und nicht mehr den grossen Traumgebilden und Chimeren von ehemals so zugeneigt. Viele begreifen, dass für ihre Nationalität die russische Herrschaff unendlich viel weniger zu fürchten ist, als die deutsche, und dass Warschau sich nicht der Illusion hingeben darf, sich beiden vollkommen entziehen zu können. Die Vereinigung des russischen Polen mit dem östreichischen Galizien, wie sie einige Patrioten träumen, ist nur eine Utopie, deren Realisirung schon die Geographie in den Weg treten würde. Die Errichtung eines ,,Congresskönigreichs" im Vasallen- Oder Bundesverhältniss zu Deutschland, nach einem Projoct, das bei unsern Nachbarn bisweilen vorgeschoben wird, ist nichts weiter als eine trügerische Luftspiegelung, hinter welcher der Untergang im Deutschthum lauert. Eine fünfte oder sechste Thoilung wäre das Schlimmste, was Polen widerfahren könnte, und die Patrioten haben nur zu beklagen, dass Frankreich 1S15 die Propositionen Alexanders L verwerfen Hess und Posen dem Königreich Preussen und der Germanisation auslieferte. Päd rächtet man, was die Geschichte aus Schlesien, Posen und dem alten Preussen gemacht hat, so kann man sagen, dass die russische Herrschaft für Weichselpolen, für Warschau und Masowien die beste und vielleicht die einzige Garantie gegen die Germanisation ist. Die Polen, die jede Versöhnung mit Russland für unmöglich erklären, scheinen mir eine Art politischen Selbstmordes zu begehen. Man fühlt dies mehr und mehr an den Ufern der Weichsel, und das Ilderesse der Zukunft lässt über den Groll der Gegenwart hin-wegsehn. Die Furcht vor Deutschland wiegt den Hass gegen Russland auf. Die ökonomischen Erwägungen wirken in gleichem Sinne wie die politischen. Vom materiellen Standpunkt aus hat Polen Alles von der bleibenden Vereinigung mit dem grossen slavischen Reiche zu gewinnen, das seiner Industrie die weitesten Ausgänge öffnet. Das russische Polen hat sich seit der Insurrection von isii.'l bedeutend verändert. Es ist unvergleichlich viel reicher, als (ializien oder Posen1). Der Ackerbau hat sich gedeihlich entwickelt, der Bauer ist Eigenthümer von Grund und Hoden geworden und freut sich eines Wohlstandes, der ihm bisher unbekannt war. Die Städte haben sich mit Fabriken gefüllt, Warschau hat seine Einwohnerzahl verdoppelt, andre wie Lodz, haben sie in fünfzehn Jahren vervierfacht, oder verfünffacht. Die Steigerung der Tarife, deren Höhe, wie wir glauben, ein Hinderniss in der Kntwickelung Kusslands ist, ist ein erheblicher Vortheil für Polen gewesen, das durch Nalur und Geschichte die günstigsten Produotionsbedingungen besitzt. Ein grosser Theil des Reiches ist der polnischen Industrie tributär, sie selbst freilich ist oft in den Händen Deutscher. Jede Zollschranke zwischen Polen und Pussland würde die Industrie des Königreichs tödten, die nur schwer die Concurrenz Schlesiens und Westfalens ertragen könnte. Die materiellen Interessen sind heutzutage eine starke Kette; indem Puss-hmd die Zollgrenze zwistdien dem Königreich und dem Reiche aufhob, hat es — vielleicht ohne das vorherzusehn, die Polen durch dies einzige Hand an sich geknüpft, das keine polnische Hand zerschneiden möchte. ■) Die beiden, oft einander entgegengesetzten Triebfedern, die sieh die Entwickelung der Individuen wie der Völker streitig machen, die materiellen und positiven Interessen und die abstracte Deberlegung Stimmen also darin überein, das widerstrebendste der dem Scepter des Zaren unterworfenen Völker dem russischen Reiche wieder näher zu lühren. Trotz der aufregenden Erinnerung der Vergangenheit und der ungeschickten Hussilicirungsversuche, wie sie seit 186-1 gemacht Werden, lindet die Lnvorsöhnlichkeit in den polnischen Herzen immer weniger Widerhall. Die Versöhnungspolitik Wjelopolskis, die, zum Unglück beider Völker, um 1800 so wenig Anhänger fand, würde heute eine ausserordentlich grosse Majorität vereinigen a). ') S. Ii. ,\. 1 >ie statistischen Angaben von Shuononko und Amitschin. 2) Wenn wir diese schmerzhafte und eomplicirte polnische Frage hier nur oberflächlich berühren, so sind an anderm Orte ihre Hauptpunkte von mir dargelegt worden. S. Un homme d'Etat russe d'aprcs sa eorrespondance inedito. 8) Nach der russischen Statistik erreicht die Zahl der Polen im Reich fcMUm 6 Millionen. Sie, sind im „Königreich des Wiener Congrosse*" in grosser Mehrzahl, 70 bis 100% der Gesammtbevölkcrung, in verschwindender Das Bebel liegt darin, dass in den nissischen Grenzmarken, wie in Gestreich und in der Türkei, diese N^itionalitätsfragen durchaus nicht so einfach sind, wie sie es in der Theorie scheinen. Mit dem besten Willen von der Welt ist es oft unmöglich, sie zur Zufriedenheit aller Interessenten zu entscheiden. Ausser den Regionen mit deutlich ausgesprochener Nationalität und fortlaufenden geschichtlichen Traditionen giebt es gemischte, von verschiedenartigen, einander feindlichen Bevölkerungen bewohnte Landstriche. Ein Beispiel hiefür bieten die baltischen Provinzen, doch sind sie nicht das einzige im Reiche. Der grösste Theil des alten Polens, die in den drei Theilungen von Russland annectirten Provinzen sind mehr oder minder in demselben Fall. Das ist eine der Thatsachen, welche die Zerstückelung der Republik erleichtert und jede Versöhnung zwischen den alten und den neuen Herren des Landes schwierig gemacht haben. Das grosse Hinderniss für die Verständigung der Russen und Polen sind die Ukräne auf dem linken Ufer des Dnjepr und namentlich Litthauen gewesen, die den Russen für russisch, den Polen für polnisch galten, da die einen, vornehmlich die reichen und gebildeten Classen, die Grundbesitzer und die Bürgerschaft, die andern die ländlichen Classen, die Bauern, die von Alexander IL befreiten Leibeigenen ins Auge fassten. In dem grössern Theile des alten Polens ausserhalb des Congress-königreichs verschärfen sich wie in den drei baltischen Provinzen die nationalen Gegensätze in Klassenkämpfen. Die Nationalitäten und bisweilen die Bekenntnisse sind dort gewissermassen übereinander gesetzt. Während die höhern Classen, der Adel und die Grundbesitzer von Race oder Tradition Deutsche oder Polen sind, ist die Masse des Volks litthauisch, weissrussisch und kleinrussisch, die Juden nicht gerechnet, die, im Allgemeinen Handelsleute, für sich eine Classe der Gesellschaft und zugleich eine Nationalität bilden. Die »Schwierigkeiten einer solchen Lage und die Versuchungen, die sie der staatlichen Gewalt an die Hand giobl, sind offenbar. Um die historischen, patricischen oder bürgerlichen Nationalitäten, die noch durch Vermögen und Erziehung die Herrschaft haben, im Schach zu halten, ist die russische Regierung dahin gelangt, eine Stütze bei den kleinen ländlichen, sozusagen plebejischen l) Nationali-Minderzahl in den andern Theilen des alten Polens, t'ni die wirkliche .Stärke des „Polonismus" zu finden, niuss man zu diesen ursprünglichen Polen eine gewisse Anzahl von Litthauern, Klein- und Weissrussen und selbst von Deutschen und .luden zählen, die nicht oder minder polonisirt sind. J) Der Ausdruck stammt, wenn ich nicht irre, von Dragomanow: Das bist: Polen. täten zu suchen, die vor Kurzem noch im Auslände unbekannt waren und ihrer selbst noch kaum bewusst sind. Dem Schweden Finnlands, dem Deutschen Livlands und Kurlands, dem Polen Litthanens und der Ukräne hat sie den Finnen, Esten, Letten, Samogitier, Weissund Kleinrussen entgegengesetzt, und sich so der Ethnologie und des Nationalitätsprincips bedient, indem sie es gegen seine Gegner drehte und das nationale Gefühl bei Bevölkerungen schürte, bei denen es mitunter seit Jahrhunderten erloschen war, mit dem Vorbehalt, es einmal wieder zu ersticken, sobald es zu anspruchsvoll werde. Dies ist eine der Ursachen der Bauernpolitik, der demokratischen, — wie Einige sagen — soeialistischon Politik, die mehr als einmal von den Zaren in den unterworfenen Provinzen, besonders im alten Polen geübt worden ist. Russland hatte an seinen Westgrenzen zwei oder drei Irlande, die unter das Regime von Agrargesetzen zu stellen, es um so mehr versucht war. je verdächtiger ihm nach Traditionen und Ursprung die Grundeigenthümor waren. Was es unter Alexander II. in Litthauen, Podolien und Polen selbst gethan, möchten gewisse Patrioten in den Gstseeprovinzen, auf Kosten der "deutschen Barone zum Vortheil der lettischen und estnischen Bauern wiederholen sehen.') In einer Zeit, wo Nationalitätsconllicte und (■lassenhader soviel Erbitterung wecken, ist es leicht ersichtlich, welche Gefahren für den socialen Staat eine Politik in sich tragen müsste, die sich darin gefiele, zwei der ernstesten Ursachen des Antagonismus, welche die Bewohner desselben Bodens entzweien können, zu schärfen und die eine durch die andere zu nähren. Die inneren Schwierigkeiten Russlands und die geographische Lage der Provinzen, die solchen Entzweiungen ausgesetzt wären, würden ein derartiges Spiel noch gefährlicher für das Deich machen. Die russische Regierung, die durchaus kein Interesse daran hat, die Leidenschaften der verschiedenen Racen zu nähren, würde nur ihren Vortheil finden, wenn sie dahin wirkte, dass dieselben in Frieden mit einander leben. Nachdem der Zar sich zum Protector der Kleinen und Niedrigen, zum Schutzpatron der lange geknechteten Majoritäten aufgeworfen, könnte er auch gezwungen werden, umgekehrt die herrschenden Minoritäten gegen jene zu 1J Ihn die Haltung der russischen Regierung zu würdigen, darf mau nicht aus dem Auge verlieren, da.ss bei der Aufhebung der Leibeigenschaft da« ganze Reich Agrargesetzen unterworfen wurde, die mehr oder minder die frühern Leibeigenen begünstigten; die Osteeeprovinzen allein sind dem entgangen, weil die Emancipation dort unter Alexander I. und nach andern Princdpieti durchgeführt wurde, S. Buch VI. Oap. IL vertheidigen. Nichts wäre nachtheihger für Hussland, als wenn sieh die Volksaufstände, wie die gegen die Juden, gegen die Deutschen wiederholten, oder wenn den bäurischen Jacquerieen gegen die baltischen Harune in Livland und gegen die Pane in Litthauen und Polen Heistand geleistet würde. Dem Reiche liegt daran, nicht zu gestatten, dass die Rivalitäten der Racen zu Classenkämpfen ausarten und so der revolutionären Agitation oder der Einmischung des Auslands Möglichkeit bieten. Das Sicherste ist für eine Regierung wie für eine Dynastie, zwischen den verschiedenen Nationalitäten und den verschiedenen (Massen das Schiedsgericht zu üben, ohne die einen den andern zu opfern. Wenn auch für Russland in seinen europäischen Grenzmarken, wie in den Grenzländern Asiens diese Aufgabe oft schwor ist, so ist diese Schwierigkeit nur tue unvermeidliche Folge seiner Grösse. Um dem zu entgehen, müsste es auf die Annexionen der beiden letzten Jahrhunderte, auf die Eroberungen Alexanders I., Katharina IL, selbst Peters des Grossen verzichten. Will Russland die Integrität seines Gebildes aufrechterhalten, so muss es allen Völkerschaften, die es bewohnen, die Sicherheit verbürgen. Um seine Autorität über die verschiedenen Völker seines weilen Hesitzes zu befestigen, ist, noch das beste Mittel, dass es ihrer Nationalität, ihrer Sprache, ihrer Religion Achtung erweist, ihnen jeden Grund zur Abneigung fernhält und es der Zeit, der Vernunft, den Interessen, der natürlichen Anziehungskraft eines grossen Staates überlässt, sie immer enger an das Reich zu binden. Zu seinem Unglück entbehrt Russland des mächtigsten Heizes für die modernen Völker, des kräftigsten Magnets, um jene an sich zu ziehen: der Freiheit. Nun. man kann, meine ich, ohne Anspruch auf Prophetie, voraussagen, dass es nur dann sicher ist, all* seine europäischen Grenzlande und Marken sich zu erhalten, wenn es das grosse Werk gel hau und sie politisch dem übrigen Europa gleichgestellt hat.1) ') Gewiss ein schwieriges Problem. S. Hand II, Buch VI, Cap. III. Drittes Buch. Das nationale Temperament und der nationale Charakter. Erstes Kapitel. Nutzen und Schwierigkeil des Studiums des Nationalcharakters. Russland ein Land, in dem die äussere t'mgchung am meisten auf den Menschen wirkt. Einige Wirkungen des Klimas. Der Norden und die Trägheit, der Kälte. Der Winter und die Unterbrechung der Arbeit. Mangel an Sinn für körperliche Thäti^keit. Die gewöhnliche Mangelhaftigkeit der Ernährung, die Trunk SUeht, die Hygiene und die Sterblichkeit. — Die Kälte und der Schmutz ites Nordens. — Sind die nördlichen Länder der Sittlichkeit besonders günstig? Die Anfänge eines Volkes und das Land, das es bewohnt, kennen gelernt zu haben, ist nicht genügend. Man muss sich auch von dem Einfluss Rechenschaft ablegen können, den die Natur auf den Menschen übt. Aus dieser Einwirkung der äussern Welt und aus der historischen und religiösen Erziehung geht der Nationalcharakter hervor; wie die Thätigkeit des Einzelnen, so entspringt die Politik der Völker ebenso dem Temperament, wie den Interessen. Dass es von dem Charakter der Völker keine Kenntniss gehabt, hat Frankreich seit einem Jahrhundert schwer büssen müssen. Dieser Fehler hat nicht weniger als andre vielleicht mehr in die Augen springende, den nach schönen Erfolgen rasch eintretenden Sturz des zweiten wie des ersten Kaiserthums vorbereitet. Unkenntniss von dem englischen und spanischen Charakter war unter Napoleon L, Unkenntniss vom italienischen und deutschen Charakter unter Napoleon III. der Grund der falschen Rechnungen, der trügerischen Politik, die uns dreimal zur Invasion und zur Zerstückelung geführt haben. Wer über unsere neuesten Missgeschicke grübeln will, wird darin eine ihrer Ursachen erkennen.]) Hätten wir gewusst, wieviel Ueberlegung, Geduld und Reife unter dem Seheine der Unbeständigkeit und Frivolität in dem allzuoft des Leichtsinns geziehenen italienischen Volke lebe, wir hätten ihm nicht unsere Unterstützung blos unter der Drohung geliehen, sie ihm bald wieder zu entziehen, und ganz Frankreich hätte sichs zur Aufgabe gemacht, uns die Freundschaft eines Landes zu gewinnen, das durch soviel Lande der Verwandtschaft an uns geknüpft ist. Hätten wir gewusst, wieviel Rauhheit und Härte, aber zugleich wieviel Solidität und Entschlossenheit, wieviel geheime Begehrlichkeit aber auch praktischer Geist, Ordnungssinn und Disciplin in diesem deutschen Volke stecke, das allzulange um seines Idealismus und seiner Zusammen-hanglosigkeit willen verspottet wurde, wir hätten uns nicht seineu Einigungsbestrebungen in den Weg werfen und den furchtbarsten Feindseligkeiten aussetzen lassen. Der Charakter eines Volkes hängt wie der eines Menschen vom Temperament oder Blut, von der natürlichen Umgebung und von der moralischen Erziehung ab, von alledem abgesehen, was beim Einzelnen das Lebensalter, beim Volke die Civilisationsstufe mit sich bringt. Unter diesen drei Ordnungen von Einflüssen — Race, Natur, Geschichte — hat man beim Studium der Nationen bald der einen, bald der andern den Vorrang zugewiesen. Alle drei sind wichtig; aber da die Völker noch gemischteren Blutes sind, als die Einzelnen, so ist Alles, was sich auf Racen und Anerbung bezieht, um seines dunkleren und zweifelhafteren Ursprungs willen schwerer zu bestimmen. In Russland selbst ist oft darüber gestritten worden, ob der Charakter des Grossrussen, ob das, was diesen von den westrussischen Stämmen unterscheidet, seiner Vermischung mit Pinnen und Tataren, oder nicht vielmehr seiner Niederlassung auf einem neuen Boden zuzuschreiben sei. Beide Ursachen mussten gleichzeitig wirken; die letztere, als die andauernde, musste die mächtigere sein. Zwei Gründe gaben ihr bei den Russen besonderes Ueborgewicht. Es ist eine der Wirkungen der Civilisation, dass sie die Einflüsse des Klimas und des Bodens neutralisirt, indem sie den Menschen Uber deren Angriffe hinaushebt; in Russland, wo die Cultur jünger und folglich weniger tiefgreifend ist, ist die Masse des Volkes der Natur 1) S. unsere Studie über die Politik Napoleons III. und über die Victor Kinamiels im Buche: Un cinpereur, un roi, un pape (Paris, Charpenüer.) näher, ihrer Macht mehr unterworfen geblieben. Ueberdies ist unter nordischem Himmel die Herrschaft des Klimas unbeschränkter, das Joch des letztern schwerer abzuwerfen. Der russische Boden ist für den Menschen keine freundliche Heimstätte, die für ihn von der Natur bereitet und gleichsam gefällig ausgestattet wäre; er ist eine Eroberung, die mit bewaffneter Hand gemacht und behauptet wurde. Wie hätte in einem solchen Lande mit noch wenig vorgeschrittener Civilisation die Natur nicht dem Temperament wie dem Charakter des Volkes einen unverwischbaren Stempel aufprägen müssen? Auf den monotonen Reisen im Bahncoupe oder auf dem Dampfer, wie auf den raschen Fahrten im Schlitten oder im Tarantas, in langen Wintern ächten oder an langen Sommertagen fühlt der Reisende das Bedürfnis«, eins mit dem andern zu vergleichen: das russische Land und den russischen Menschen. Es bestehen zwischen beiden soviel deutliche Aehnliehkeiten, dass man nicht zu fürchten braucht, bei X o b eneinanderstellung beider sich in eine leere Untersuchung zu verlieren. Wenn es schwer ist, zu der verborgenen Quelle der Leidenschaften und Neigungen hinabzusteigen, so wird es doch dem Beobachter durchaus klar, dass eine grosse Zahl von Vorzügen und Mangeln, die man gewöhnlich der Race, der Geschichte, der Religion zuweist, beim Russen der Natur zugeschrieben werden muss. Um den Antheil der Natur an der Bildung des russischen Charakters abzuschätzen, muss man zur nördlichen Hälfte des jetzigen Russlands, zu der Zone sich wenden, die des Grossrussen Wiege und des alten Moskowiterreichs Kern war. In Folge der tatarischen Einfälle ist diese Region ganz auf den Norden über dem fünfzigsten Breitengrad beschränkt. Da linden sich ausser den (einst) halb-republikanischen Städten Nowgorod und Pskow, die in jeder Beziehung bei Seite gelassen zu werden verdienen, Twer, Jaroslaw, Kostroma, Wladimir, Susdal, Räsan, alles alte Hauptstädte russischer Fürsten, die gleichsam einen Kreis um Moskau beschreiben. Es ist das ein Wesentlich continentales Landgebiet, kälter und von extremerem Klima aas Petersburg, mit einer mittleren Wintertemperatur von !• bis — 10, im kältesten Monat im Durchschnitt von —11 bis —12 Grad C, also l.'j—14 Grad tiefer als in Paris. Es ist zugleich, mit Ausnahme von Skandinavien und Schottland, die beide von zwei Meeren bespült und erwärmt werden, die einzige Region beider Hemisphären, die dem Polarkreise so nahe eine sesshafte und ackerbautreibende Eevölkerung hat. Lei solcher Entfernung vom Moore und vom Aequator ist sie nur um ihrer geringen Bodenerhebung willen bewohnbar. Dass die Wirkung eines solchen Klimas auf Lehen und Körper des Menschen eine ausserordentliche sein muss, verstehen wir, aber sie im Einzelnen nachzuweisen, wird uns schwer. Seit einem oder zwei Jahrhunderten ist in Europa viel über die politischen Wirkungen des Klimas verhandelt worden; wenige Gegenstände giebt es, die so oft wiederkehren und von denen wir doch weniger wüssten. Im gegenwärtigen Stande unserer Kenntnisse können wir nicht einmal wissenschaftlich die directen Einflüsse der äussern Natur auf den Organismus und das Temperament bestimmen. Montesquieu hat es zuerst versucht, eine politische Theorie der Klimate aufzustellen, aber dieser Versuch, der sich auf ungenaue Reisebeschreibungen und unvollständige Beobachtungen stützte, war verfrüht. Seit dem letzten Jahrhundert hat die Wissenschaft viele Kragen gelöst, auf diese aber hat sie ein neues Licht nicht geworfen. Die allgemeinste Einwirkung der Kälte auf das vegetabilische und animalische Leben ist die Schwächung, bisweilen die Aufhebung der Leliensthätigkeit. Der Saft stockt in den Pflanzen, das Blut beginnt langsamer in den Adern der Thiere zu (Hessen. Viele dieser Letztern verleben den Winter in einem Zustande der Schlafsucht und legen sich in den kältesten Monaten in ein zeitweiliges Grab. Der Mensch entgeht diesem lethargischen Tode, der neben ihm die Winter-schlafthiere, wie den Bär umfangt; er entgeht ihm durch seine Arbeit und seine Zivilisation ebenso, wie durch seine Constitution, ohne jedoch einer ähnlichen Erstarrung des Hildes und Lebens, wie sie in der Natur so allgemein ist, sich ganz entziehen zu können. Montesquieu liess die Länder des Nordens die Heimath der That-kraft, des Muthes, der Freiheit sein. Zutreffend vielleicht für die Länder, wo die Kälte gemässigt auftritt, ist dieses Axiom doch für die andern sehr anfechtbar. Die äusserste Kälte im Norden gelangt zu gleichen Wirkungen, wie die äussersle Hitze im Süden, so dass dem Winterschlaf jenes in den heissesten .Jahreszeiten und Stunden der tropischen Gegenden der Sommerschlaf entspricht. Lunge und Thä-tigkeit anregend, solang er in gewissen Grenzen bleibt, wirkt der Frost niederschlagend, sobald er einen zu niedrigen Grad oder eine zu lange Dauer erreicht. Er kann dann zu.einer gewissen physischen und moralischen Trägheit, zu einer Passivität des Körpers und der Seele führen. Der Reiz Wirkung der ersten Fröste kann die Erstarrung der grossen Kälte folgen. Sommer wie Winter, Nord wie Süd haben ihre eigene Trägheit; das Feuer wirkt in demeinen denselben Zauber, wie der Schatten im andern und ladet ebenso wie dieser zur Ruhe und zum Sichgehenlassen ein. Schon das tiewicht der Kleider macht schwerfällig, ihr langer Zuschnitt fällt zur Last. So muss man vielleicht auf das Klima die Indolenz, die Weichheit, die Apathie schieben, die den Russen bisweilen nur zu sehr zum Vorwurf gemacht und oft dem slavischen Blute zugeschrieben werden. Der Norden besitzt indess einen grossen unermesslichen Vorzug. Wenn die Kälte zur Ruhe lockt, zwingt sie doch selten dazu: Bewegung ist eines der Mittel gegen sie. Statt die Bedürfnisse zu mindern, mehrt sie der Norden und reizt dadurch zur Arbeit. In der Mitte Russlands, in der Breite von Petersburg oder Moskau wird die Draussenkälte übrigens doch nur sehr selten so unerträglich, dass sie den Hussen zwänge, sich wie der Lappe oder Eskimo in seine Hütte zu vergraben. Bei Windstille — und bei grosser Kälte herrscht solche in der Regel - ist eine Temperatur von 25 bis 30 Gr. unter dem Gefrierpunkt sehr wohl zu ertragen; — 10 bis 12 Gr., die mittlere Temperatur der kältesten Monate, geben oft ein sehr schönes, sogar oft ein sehr günstiges Wetter. Unter jenen Breiten ist es die Bewegung der Luft, der Wind and nicht der Grad der Temperatur, was die Empfindung der Kälte hervorbringt und sie beschwerlich macht. Der Winter hat seine Arbeiten wie seine Vergnügungen. Er ist in Russland wie überall die Jahreszeit der Städte, der Gesellschaft, der Feste. Auf dem Lande ist er die Zeit der Transporte, was dort, wo die Entfernungen das grösste Hinderniss bilden, ein wichtiges Ding ist. Im Sommer stehen dem Bauer nur Strassen zur Verfügung, die ungenügend an Zahl und Zustand sind; im Winter bauen Schnee und Frost ihm prächtige Wege, auf denen es dann lebendig wird. Bisweilen verzögert Mangel an Schnee die Schlittenbahn, und schafft dadurch eine grosse Calamität. in den Zeiten wechselnden Frust- und Thauwetters, im Herbst und Frühling, ist der Bauer am häutigsten zum Leben im Hause gezwungen. Die lange Müsse des Winters hat in den nordischen Provinzen alle die Gewerbe geschatlen, von denen so viele Dörfer leben, und die den Wanderhandel und die zahlreichen Messen zu Wege gebracht haben, wo die Producte der bäuerlichen Industrie ihren Absatz linden. Im Winter fertigen die Bäuerinnen jene rothon und blauen Spitzen an, die man jetzt in Frankreich nachahmt, und jene zierlichen Tücher, Polotenza, mit farbigen Stickereien, deren Motive oft den Eisblumen entnommen zu sein scheinen, die der Prost auf die Fensterscheiben zeichnet. Ausser der unmittelbaren Wirkung der Kälte auf den menschlichen Organismus bringt der Norden noch einen Umstand mit sich, der die Bedingungen zur Arbeit ungünstiger macht, als in den gemässigten Ländern, es ist der Wechsel und der heftige Gegensatz der Jahreszeiten. Wenn es schwer ist die physiologischen Wirkungen des Klimas im Einzelnen zu bezeichnen, so fallen einige der wirth-schaftlichen Wirkungen etwas deutlicher in das Auge. Ein englischer Historiker, Buckle, hat die Bemerkung gemacht, dass die unter hohen Hielten lebenden Völker nicht gleiche Lust und gleiche Energie zur Arbeit besitzen, als die unter milderem Himmel wohnenden. Er sehreibt diesen Fehler der aufgezwungenen Unterbrechung der Arbeit im Winter zu, der durch die strenge Witterung und die Kürze der Tage in jedem Jahr die Kette der bäuerlichen Beschäftigungen ganze Monate hindurch stocken macht. „Warum schläfst du, Mushik?" heisst es in einem Volksliede, in welchem dem Bauer vorgeworfen wird, dass er auf seinem Ofen schlummere, indess das Elend sich vor seiner Thür niedergelassen. Wenn er schläft, geschiehts, weil er nach eingeführter Ernte, beendeter Herbstsaat und eingetretenem Schneefall auf den Feldern keine Arbeit mehr findet. Das Aussetzen der Arbeit giebt seinem Wesen etwas Zusammenhangloses und Unbeständiges, was der Beharrlichkeit und den Gewohnheiten der Etegelmässig-keit Abbruch thut. Der Norden setzt dem Landbau und der Industrie besondere Schwierigkeiten entgegen, indem er sie von einem zugleich rauhen und launenhaften Klima abhängig macht, und vielleicht erstrecken diese Missstände ihre Wirkung auch auf den Volkscharakter. Hätte man hier nicht auch das Recht, die Natur für gewisse Neigungen und Fehler verantwortlich zu machen, die häufig dem slavischen Temperament vorgeworfen worden sind? Die Ausländer, die in Russland Arbeitgeber waren, haben im Allgemeinen bemerkt, dass der Russe, wie die Bewohner des Südens, mehr zu einer einzelnen kräftigen Anstrengung als zu einer langen und sich gleich bleibenden Arbeit fähig war. Bei grösserer Lebhaftigkeit, die wahrscheinlich ein Erbtheil des slavischen Blutes ist, zeigt er zuweilen weniger Rührigkeit, als die nordischen Völker germanischer Race; er zeigt sogar oft in den niedorn wie in den höhern Classen weniger Lust an körperlicher Bewegung. Er scheint diese nur in den raschen Schlitten- und Wagenfahrten gernzuhaben, deren Geschwindigkeit den Ausländer bisweilen in Erstaunen setzt, die aber vielleicht den weiten Entfernungen und der Kälte zugeschrieben werden müssen, welche beide zu schleunigem Erreichen des Zieles drängen und hastiges Fahren zur Gewohnheit machen. Heftige Hebungen oder Spiele, Kraft stücke oder Sport unter irgend welcher Form haben scheinbar für diese Söhne des Nordens nicht mehr Anziehungskraft als für die modernen Völker des Südens. Selbst der Schlittschuhlauf steht bei ihnen weniger in Gunst, als in Ländern, wo er weniger leicht zu üben ist. In dieser wie in vielen andern Beziehungen könnte man den Russen den Antipoden des Engländers nennen. Man ist oft über die geringe Neigung der russischen Bauern zu körperlicher Deining und Thätigkeil erstaun! gewesen; bei ihren zahlreichen Festen scheint ihr Haupt vergnügen Ruhe und Unbeweglichkeit zu sein. Das Lieblingsspiel bietet ihnen die Schaukel, die sie aber nicht wie unsere Rinder kühn in die Lüfte schwingen, sondern in der sie sich sanft wiegen. Ihre üblichsten Tänze, wie der Chorowod, ein Reigen mit tiesang, der von altheidnischen Riten herzustammen scheint, sind langsam und von monotoner Gemächlichkeit, Klima und Race haben wahrscheinlich an dieser Art Trägheit oder Indolenz des Körpers und des Geistes einen gewissen Antheil, die Diät des Volkes aber sicher einen grossen. Die physiologische Hauptwirkung der Kälte ist, dass sie die Respiration beschleunigt, in den Lungen und im Blute eine intensivere Verbrennung hervorbringt, und dass sie folglich zur Erhaltung der Lebenswärme kräftigere Ernährungsmittel fordert. Je näher man dem Pol kommt, um so mehr bedarf der Mensch einer kohlenstoff- und stickstoffreichen animalischen Nahrung. Nun steht in den Ländern des äussorsten Nordens wegen der Kälte selbst die Fruchtbarkeit desBodens selten im Verhälfniss zu den Forderungen des Klimas. Nirgend ist das fühlbarer, als in der nördlichen Hälfte Kusslands, die wenig für Getreidebau geeignet und in Bezug auf Viehzucht Hindernissen ausgesetzt ist, wie sie die gemässigten Länder nur wenig kennen. In dieser ganzen Region gewährt die Erde dem Menschen nur schwer die Nahrung, die der Himmel für ihn fordert; ein derartiger Mangel an Gleichgewicht zwischen den Bedürfnissen und den Mitteln zu ihrer Befriedigung hat für das Temperament des russischen Volkes verhängnissvolle Folgen gehabt. Die Masse der Nation ist Jahrhunderte lang zu einer magern Kost verurtheilt gewesen. Unter nordischem Klima hat sie wie ein Volk des Südens gelebt; der Con-sum von Fleisch, Speck und selbst von gesalzenem Schwein beginnt erst jetzt im Volke sich zu verbreiten. Wenn auch seit der Aufhebung der Leibeigenschaft auf diesem Gebiet ein erheblicher Fortsehritt Stattgefunden, so geniesst doch die weitaus grösste Zahl des Volkes nur an Feiertagen Fleischkost, Der Hauptbestandteil der Nahrung sind immer noch Boggenhroil, Grütze und Schtschi, eine Alt Suppr, die Nationalspeise par e\eellonce. Man thut getrocknete Pilze und gefrorenen oder gesalzenen Fisch hinzu, zwei Artikel, deren Consum nirgends so stark ist, wie in Russland. Eine aus dem Süden stammende Religion mit vier Fastenzeiten und mit orientalischen Fasttagen, deren Strenge die Jahrhunderte nicht gemildert haben, hat das von der Natur gegebene TJebcl noch vermehrt. Aber die Forderungen des Klimas Hessen sich nicht ganz abweisen: das Getränk hat für den Mangel an Nahrung entschädigt. Die Hussen haben zwei Nation algetränke, den Kwass, eine Art leicht gegohrenen Koggenwassers, und den Thee, dessen Gebrauch in Russland fest ebenso allgemein ist, wie in China.1) Die Theemaschine, der kupferne Samowar, ist immer das erste Hausgeräth der Wirth-schaft, es giebt keine so arme Hütte, die ihrer entbehrte. Der Thee ist besonders in einem Lande, wo das Wasser oft von mittelmässiger Beschaffenheit ist, von grosser Aushülfe, aber unter diesem Himmel keineswegs ein genügendes Stärkungsmittel. Man giesst Kornbranntwein, die helle Wodka (Diminutiv von woda, Wasser) hinzu. Es ist schon lange die Beobachtung gemacht, dass die Trunksucht mit den Breitengraden zunimmt. Der Genuss des Alkohols ist bei dem russischen Bauer ebenso natürlich, als die Massigkeit bei dem Sicilianer oder Andalusier; das ist mehr ein Mangel des Klimas, als ein Lasier des Menschen. So lange er keine bessere Kost hat, wird der Mushik im Branntwein ein ungesundes, aber schwer zu ersetzendes Stärkungsmittel suchen. Was am meisten zu beklagen ist, das ist nicht, dass man den Gebrauch des Branntweins nicht bannen, sondern dass man ihn nicht massigen kann, dass man an einem Tage der Ausschweifung Quantitäten der Wodka consumiren sieht (die Russen trinken die Liqueure nicht, sondern stürzen sie mit einem Schluck hinunter), die — weise vertheilt — der Gesundheit des Bauern nützen könnten, statt ihn zum Thier zu erniedrigen. Man hat in der That die Unmässigkeit der Unterthanen des Zaren arg übertrieben. Der Russe trinkt weniger, als der Schwede, vielleicht weniger, als der Engländer, Deutsche und Franzose. Viele Mnshiks, die sich an jedem Feiertag betrinken, bleiben wochenlang ohne einen Tropfen Alkohol. Der Consum hatte übrigens in der zweiten Hälfte der Regierung Alexanders IL bemerkbar abgenommen — ohne Zweifel in Folge der Rechtserweiterungen, vielleicht auch J) Nach dem russischen Namen Tschai zu schliessen, der wie der portugiesische Name cha aus dem Chinesischen stammt, ist der Thee den Russen unmittelbar aus China zugegangen. Fs giebt in Russland noch zwei vom Volke viel gebrauchte Getränke, das eine, Med (Honig) ist der bei den Harbaren so beliebte Meth, das andere, das Hier, das naeb seiner Etymologie und dem Namen, das es im Russischen wie im Polnischen hat (piwo von pit, trinken), den Slaven schon seit dem hohen Alterthuiu bekannt gewesen sein muss. — Iis — der moralischen Erhebung der früheren Leibeigenen l). Ungeachtet dieses Fortschritts bleibt die Trunksucht mit allen ihren Lastern und bösen Folgen noch eine Plage des flachen Landes. Im Allgemeinen sind die Dörfer um so ärmer, je mehr Kabaks oder Schänken sie haben. Auch bemühen sich Beamte und Privatleute, die Zahl der letztern zu beschränken. Die Bauern sind nicht immer taub gegen die Lehren der Massigkeitsapostel. Einige Genieinden verbieten jede Schänko auf ihrem Gebiet, und zur Zeit der Ermordung Alexanders II. schlössen mehrere Dörfer als Zeichen der Trauer über den Tod des Zar-Befreiers ihre Kabaks. Vormals wären solche Massregeln von der Verwaltung nicht mit günstigem Auge angesehen worden, da diese gefürchtet hätte, dass eine der reichsten Quellen der Staatseinnahmen versiegen könne. Die auf das Nationallaster gidegte Steuer bringt tatsächlich mehr als 200 Millionen Rubel ein, fast den vierten Theil der Einnahmen des Gesammt-Bud-gets, so dass gesagt werden konnte: Russland bezahlt seine Schulden, wenn es sich betrinkt Man rechnete 1882, dass der Branntwein der Nation jährlich eine halbe Milliarde Rubel koste, während sein reeller Werth nichl 50 Millionen überstieg, und der Ueberschuss zwischen den Händlern und dem Staate getheilt wurde. Obgleich die Regierung an dem Wodkaverkauf in erster Reihe interessirt ist, hat sie «loch in der letzten Zeit nichts unterlassen, um den Bauer von dem -loch der Trunksucht zu befreien. Einer der ersten Regierungsacte Alexanders III. war die Berufung einer Art Mässigkeitsparlaments, dessen Sitzungen im Herbst 1881 Russland und selbst den Mushik stark beschäftigten'2). Leider vermag wohl keine gesetzgeberische Massrege] ein Lehel zu unterdrücken, das zu gleicher Zeil mit dem Klima, mit der Rohheit des Volks, mit der Monotonie seiner Existenz und mit der Arinuth seiner Rost zusammenhängt. Die traurigen hygienischen Verhältnisse des Volkes wirken auf den ökonomischen Zustand desselben zurück. Die Aermlichkeit seiner ') Von lSb:> bis 1879 hatte trotz der Bevölkerungszunahme der Branntwein- consuni um 7% abgen........en. Die Zahl der Schänken hatte sich noch Stärker vermindert; sie war von 257(XX) im Jahr 1868 auf 139 (XX) In 1879 gefallen, freilich um 1881 wieder auf 146000 WO steigen. Kür ein so ausgedehntes Reich ist das noch eine geringe Zitier. S. z. I?. O. Nowikow: The Temperanco Movement in Russin, Ninteenth Century. Sept. 1882. s) Hier will ich die Reflexion eines Hauern aus dein Gouvernement Grodno citiren : „Der Zar ist ermordet, der Branntwein wird billiger werden.1' In Wirklichkeit ist das Jahr der Ermordung Alexanders II. durch eine Zunahme der Schänken und des Alkoholcönautns gekennzeichnet. I. e r o y - H o u u 1 i o u , lteich d. Zaren 11. tl. Kuaatiii. 8 Ernährung schwächt die Arbeitskraft des Bauern und nimmt ihm mit der Energie der Arbeit die Lust und das Verlangen nach ihr. An magere Kost gewöhnt, begnügt er sich mit derselben: wie der Südländer deckt er oft seine Faulheit mit der Anspruchslosigkeit seiner Lebensweise. Eine so karge Diät muss unter solchem Klima einen beklagens-werthen Einfluss auf die Gesundheil und Lebensdauer üben. Die Wirkungen zeigen sich in der Statistik. Man begegnet hier zwei Extremen, abermals eine von den Anomalieen, die uns in Kussland den Contrast als Gesetz erscheinen Hessen. In diesem Lande ist die Mortalität die grösste, die mittlere Lebensdauer die kürzeste, und zugleich giebt es in ihm doch die meisten Fälle einer Langlebigkeit, in welcher das menschliche Dasein die äusserste Grenze erreicht. Dieser Gegensatz ist namentlich in den nördlichen Gegenden autlallend. Im Gouvernement Nowgorod zum Beispiel sind bei einer Bevölkerung von 1000000 Seiden im Laufe eines Jahres (1881) 2t) Hundertjährige gestorben, was noch mehr lebende voraussetzt L. Dagegen ist in ganz Russland die Zahl der Menschen, die das 35. Lebensjahr überschreiten, verhältnissmässig kleiner als in Frankreich: die Zahl derer, die das 00. Jahr überschreiten, ist zweimal geringer-). Die Mortalität trifft ganz, besonders die Kinder. Unter diesem ') I'anuitnaja Knigu Nowgorodskoi (iubernii IST:). Fni Jahr 1K78 gab der Oberprocureur des Heil. Synod- in seinem Bericht dir 1875 an, dass 21 >2 Tod es -Hille bei einem Lebensalter von lOO und mehr Jahren in der orthodoxen Bevölkerung stattgefunden hätten. Man wird vielleicht sagen, dass in Russland wie in Brasilien, wo die Statistik ebenfalls viele Fälle der Langlebigkeit anführt, die Civilstandsregister im letzten Jahrhundert nicht regelmässig genug geführt seien, als dass man solchen Ziffern volles Vertrauen schenken könnte. Auf IIKHt Kinw. zählt man in Russland nicht ganz 50, in Frankreich beträchtlich mehr als 100, die das (>(). Bebensjahr überstiegen haben. In den nördlichen < iouveruements. wie in Jaroslaw, ist die Zahl der Sechzigjährigen grösser, sie erreicht G3 pro Mille (Stat. .Ihr)». 1871 u. 79). Die hohe Ziffer der Mortalität ist um so auffallender, als geillde in den nördlichen Nachbarländern, in den skandinavischen Reichen, die Sterblichkeit das Minimum erreicht. In dieser Beziehung stehen Russland und Skandinavien au den entgegengesetzten Huden der Scala. Nach Dr. Bcrtillon gäbe es in Norwegen auf l(KK) Personen jährlich 18, in Russland jährlich .'$»'>, also doppelt soviel Sterbetalle. Die letzte Ziller, die alten statistischen Angaben entnommen ist, scheint übertrieben. Nach dem Jahresberichte des Departements für Medieinalwcsen beim Ministerium des Innern für 1877 überstieg die Mortalität in Russland durchschnittlich nieht 32,60 pro Mille oder 3,25 "/o- Jedenfalls zeigt der Vergleich mit Skandinavien, dass durch eine bessere Hygiene und eine bessere Kost die mittlere Lebens dauer bedeutend gesteigert werden könnte. Klima Bind die ersten Lebensjahre schwerer, das Kind bedarf mehr der Fliege und es ist schwieriger, ihm diese Pflege angedeihen zu lassen. Das Kind leidet unter der Schwierigkeil, frische Luft zu athmen, unter der künstlichen Ernährung und selbst unter den grossen Entfernungen, die zur Zeit der Landarbeiten die Mutter zwingen, es auf viele Stunden zu verlassen. Die schwächlichen sind zu frühem Tod verurtheilt, die kräftigeren werden alljährlich Proben ausgesetzt, die vielen verhängnissvoll werden. Die Hand des Todes hält unausgesetzt ihre Auslese, wirft die Sehwachen bei Seite und lässt nur die Stärkeren für das Leben und die Fortpflanzung übrig. In einer Bevölkerung, die einer solchen natürlichen Zuchtwahl unterworfen ist, müsste scheinbar eine kräftige Constitution allgemein sein: das ist unglücklicherweise weitaus nicht immer der Fall. In diesem Lande des hohen Wuchses und der häufigen Langlebigkeit, wo man Menschen von fast ti Fuss Länge über hundert Jahr leben sieht, ist die Kraft oft mehr scheinbar, als wirklich vorhanden. Das Klima, das in wenigen Jahren den Granit zerbröckelt, übt auf die Dauer eine niederdrückende, entnervende Herrschaft aus. Die Anlage zu lymphatischen Leiden ist in Russland sehr verbreitet. Skro-phel kommen häufig vor, ansteckende Krankheiten, die leicht zu erlangen und schwer zu heilen sind, sind allgemein. Nicht die scharfe Kälte, noch der Gegensatz zwischen ihr und der Gluth des Sommers bringen die grösste Gefahr, sondern die Lebergangsjahreszeiten, Frühling und Herbst mit ihrem oft monatelang herrschendem Wedisel von Frost und Thau und ihren schroffen Temperaturveränderungen, welche an einem Tage mitunter 20 Grad betragen. In diesen Gegensätzen und in der Unbeständigkeit des Klimas liegen die alle Krankheiten und Epidemieen fördernden Vorbedingungen, welche durch ungenügende Ernährung noch gesteigert werden. Dank der grösseren Trockenheit der Luft sind Brustkrankheiten wenigstens im Centrum und im Westen seltener, als in England. Dagegen richten Kinder-blattern. typhöse Fieber. Puerperalfieber, Diphtherie und andere Krankheilen in dieser schlecht genährten und schlecht wohnenden Bevölkerung periodische Verwüstungen an 1). '• Kür den grössten Theil derjenigen Bevölkerung, zu deren gewöhnlicher Kost Fleisch gehört, verliert dieses Nahrungsniittel durch den Process seiner Conservh'Ung vielleicht einiges an Qualität. In Russland lässt man beim Beginn des Winters das Kleiseh und den Fisch für den Bedarf der Jahreszeit gefrieren; das erleichtert besonders den Transport und die Anschaffung von Vor rätheil; aber nicht unmöglich ist es, dass dieses Fleisch, das man zum Zweck der Bereitung wieder aufthauen lässt, weniger gesunde Kost bietet, als frisches Fleisch. Wenn die höhern Classen eine der nördlichen Breite besser entsprechende Kost haben, so beraubt sie doch ihre Lebensweise oft dieses Vortheils. Nirgend ist die natürliche Ordnung in Wachen und Schlafen in dem Masse über den Haufen geworfen, nirgend macht man so sehr die Nacht zum Tage: vielleicht ist auch dies eine mittelbare Felge des Klimas, das im Norden abwechselnd den Tag und die Nacht verschwinden lässt oder den einen auf Küsten des andern masslos in die Fänge zieht. Zu dem entkräftenden Finlluss des Klimas treten Gewohnheiten, die ganz dazu geeignet sind, die nervöse Reizbarkeil zu steigern. Auch die Schutsmittel, zu denen die Kälte zwingt, sind ungesund. Im den Winter zu ertragen, muss man in einer schweren, dicken, verdorbenen und selten erneuerten Atmosphäre leben: zum Schutz vor der Kälte muss man im Voraus Wärmematerial anhäufen und sich im Hause durch Feuer und Oefen ein künstliches Klima schaffen, das fast so heiss ist, wie diu-Sommer im Süden Furopas. de niedriger die Temperatur draussen ist. um so höher muss sie drinnen steigen. Hinter ihren Doppelfenstern, die für die ganze .Jahreszeit fest verkittet werden, verwandeln die Bewohner der Städte ihre Zimmer in warme Treibhäuser, wo sie dieselbe Luft mit den tropischen Gewächsen athmen, mit denen sie ihre Wohnungen zu schmücken liehen. In seiner Isba von Holz, die oft von einem Mistwall umgeben ist, drängt sich der Bauer mit seiner ganzen Familie um den gewaltigen (den, der zur Nachtzeit allen zur Lagerstätte dient. Aus dieser entnervenden Atmosphäre geht es täglich in die eisige Ausseiduft hinaus: wenn Blut und Glieder mit Wärme versorgt sind, muss die Lunge mit Luft versorgt werden. So lebt man mehrere Monate lang in stetem Wechsel der Stubenluft und Strassenluft in einem Abstand von 10 bis '>') Grad Celsius, wie wenn man an demselben Tage mehrmals aus dem Sommer des Südens in den Winter des Nordens, von den I'tbrn des rothen zu denen des weissen Meeres geworfen würde. Das Klima ist der Reinlichkeit kaum günstiger, als der Gesundheit. Die Häuser, deren Oell'nungen der Winter hermetisch Sohliesst, sind schwer in Reinlichkeit zu erhalten. Die Oefen, die allein zur Heizung dienen, können in den Zimmern, in denen sie keine Oeffnung haben, die Luft nicht reinigen. Die reichen und wohlhabenden Familien helfen diesem Lehel durch die Grösse der Wohnräume ab, in denen die Yerbindungsthüren offen bleiben und häutig Räucherun-gen stattlinden. Der Bauer aber ist dazu verdammt, in einer erstickenden Atmosphäre voll Miasmen zu leben. Die heisse und vernestete Luft seiner Hütte weckt Myriaden von Insecten, Parasiten aller Art wuchern dort. Draussen versinkt der Unflath, der um das Haus geschüttet wird, im Schnee, um im Frühjahr seinen Gestank Wiedel auszuströmen. Auch in den Städten kann der Koth nieht in den Rinnsteinen abfliessen, da Eis diese füllt; der Frost macht ihn eine Zeit lang unschädlich; er erhält sich lange, um an den ersten warmen Tagen die Luft mit gesundheitsgefährlichen Ausdünstungen zu schwängern. Nichts gleicht dem Gestank des Auf-thauens in den russischen Städten. Der Schnee, der unter den Schlitten wie Sand oder zerstussenes Glas aussah, verwandelt sich in dicken, ekelhalten Koth, dessen Spuren man an den Füssen in die Häuser trägt. Was Wunder, dass unter solchen sanitären Bedingungen das Volk eine Beute aller Epidemieen werden und selbst die Pest noch in Russland auftreten kann Schon die Nothwendigkeit, sich in dicke Kleidung zu hüllen, ist für das Volk ein Flinderniss der Reinlichkeit. Der Bauer schläft in Kleidern und bleibt Tag und Nacht in demselben Schalst ulup. Freilich nimmt er allwöchentlich, am Samstag vor der Sonntagfeier, gleichsam zu einer Art Puriücation ein Dampfbad, doch ist er leider gezwungen, seine Kleider voll Ungeziefer wieder anzuziehen. Im AVinter entkleidet er sich nur an diesem Tage, und wechselt nur an ihm Wäsche, wenn er solche trägt; oft, wenn er kein zweites besitzt, wäscht er selbst nach dem Bade sein Hemd, bevor er es wieder anzieht. Jedes Dorf hat seine Schwitz-Badstuben, elende Holzbaracken, in denen der Dampf dadurch erzeugt wird, dass Wasser auf einen toben Steinofen gegossen wird; einige schräge Bretter dienen den Badenden zum Lager, eine Faust voll Rinde oder Lindenruthen vertreten die Stelle der Schwämme oder der Haarhandschuhe. Ob dieser Gebrauch nun von den Griechen, den alten Slaven oder den Finnen stamme a). er dient) wahrscheinlich mehr der Gesundheit, als der Reinlichkeit Dieses Dampfbad, dem oft ein Bad im Schnee oder im Eiswasser folgt, ist ein energisches Reizmittel in einem entkräftenden Klima; ') Die Berührung mit Asien ist in dieser Beziehung eine weitere Gefahr; die russischen Jahrbücher melden von häufigen Postepidomieeu. l>ic von Astrachan im Jahr 1870, die wahrscheinlich in Folge des armenischen Feldzuges aus der asiatischen Türkei eingeschleppt wurde, brachte den grossen Nutzen, dass s'e die Aufmerksamkeit der Regierung und der localen Verwaltungsbehörden auf die schlechte Volkshygiene lenkte. ä) Die Dampfbäder, die heute noch bei den Finnen in Finnland gebräuchlich sind, scheinen bis in ein hohe« Alterthum hinaufzureichen. Es geschieht ihrer oft in der Kaiewahl Erwähnung, s. z. B. die 4. und 50. Rune (Uebersetzung von Leouzon Le Duc). es ist das einzige, das sich der Mushik ausser dem Alkohol gewähren kann; es vertritt ihm die Mineralbäder, zu denen aus gleichen Gründen die Hussen der höhern Classen so gern ihre Zuflucht nehmen. Die Ansicht, die den Ländern des Nordens eine grössere Moralität zuspricht, ist nicht immer besser begründet als die, welche ihnen eine grössere Reinlichkeit nachsagt; das eine wie das andere hängt weniger von dem Breitengrad, als von dem Grade der Civilisation ab. In Russland ist das Klima wenn nicht der Moralität, so doch der Feinheit der Sitten wenig günstig. Die grosse Zahl und die Vorzeitigkeit der Fheschliessungen mindern die Zitier der natürlichen Kinder, was übrigens ein sehr mangelhafter Massstab für die Tugend der Völker ist. Bs muss hierbei bemerkt werden, dass aus verschiedenen Gründen die Zahl der illegitimen Geburten in dem nördlichen Russland bedeutend grösser ist, als die im südlichen, obgleich das erstere viel weniger Städte aufweist'). Die Abgeschlossenheit im Winter, die langen Nächte, die Anhäufung der Familie in demselben Räume um denselben Heerd, das gemeinschaftliche Schlafen auf dem breiten Ofen, der für das ganze Haus die Lagerstätte abgiebt, sind der Heiligkeif des häuslichen Lebens wenig günstig. Folgt1 dessen sind noch in jüngster Zeit bisweilen schwere Laster gewesen, wo mehrere Haushaltungen zusammen unter dem Dach eines Familienhauptes lebten. Auch wenn die Geschlechter bei den Bädern streng getrennt sind und sich dabei keine der Scenen abspielen, welche alte Reisende ihnen zum Vorwurf gemacht haben2), hat dieser so gesunde Gebrauch im Allgemeinen wohl dazu beigetragen, den Bauer in einer gewissen Rohheit zu erhalten. Bei beiden Geschlechtern scheint das Schick-liehkeitsgefühl geringer, die Schamhaftigkeit weniger scheu als im Westen; Männer wie Frauen setzt die Nacktheit weniger in'Verlegenheit. Im Sommer hat der Reisende dies oft zu seinem Erstaunen wahrzunehmen. An den Flüssen, unter Andern in den Städten und Itru'fern am Don und an der Wolga, sieht mau nicht selten, zumal am Sonnabend, den Gewohnheit und Religion noch zum Badetage machen, Mädchen und Frauen ohne irgend welche Bekleidung sieh ') Einer der < iriinde für die hohe Verhältnissziflcr der natürlichen Kinder im Norden ist die Abwesenheit einer grossen Anzahl von Männern, die in der Mitte dr~ Reiches Arbeil suchen, so dass die weil.liehe Bevölkerung die mann liehe stark übersteigt. Die mittlere Zahl der illegitimen Geburten in Russland — ungefähr Ö% 'st übrigens, abgesehen von Griechenland, eine der niedrigsten in Europa. 2) Z. B. der Abbe Ghappe d'Autrerocbe, dem in ihrem Antidote zu antworten Katharina IL sich die Mühe gab. trappweise an wenig entlegenen Orten, bisweilen sogar unter den frequentesten Brücken baden. Wenn im Norden das Temperament kälter und, wie es heisst, die Sinne stumpfer sind, so findet man oft genug auch weniger Zartheit in den Empfindungen und Beziehungen. Zweites Kapitel. Der russische Charakter und der Kampf gegen das Klima. — Der Norden keineswegs das natürliche Vaterland der Freiheit. — Resignation, Passivität und Abhärtung gegen Leiden. — Praktischer Sinn und reale Inst biete. — Eindrücke der Natur, ihre Trübseligkeit. Ihre (}rosse und ihre Annulh. Wirkungen dieses Gegensatzes. — Die sogenannten Nomadengelüste der Russen. — Die Monotonie (Jrossrusslands und der Mangel an Originalität. Der unmittelbare Einfluss des Klimas auf den Organismus und die Gewohnheiten, auf die physischen und ökonomischen Bedingungen des Lebens ist weder der einzige, noch der nachhaltigste. Die Natur übt mittelbar durch die Leidenschaften, die sie weckt und durch die Kräfte, die sie ins Spiel zieht, einen beträchtlichen Einfluss auf die Ideen, auf die Anschauungen, auf den ganzen Charakter aus. Die erste Wahrnehmung, die der Boden Grossrusslands uns aufdrängt, ist, dass das Lehen dort mehr als irgend anderswo ein Kampf gegen die Natur ist, ein Kampf Brust an Littst mit einem überall gegenwärtigen, nie besiegten Feinde. Unter diesem Himmel kann der Mensch nicht wie in gemässigten Ländern seinen Gegner vergessen; er kann über ihn nicht vollständig siegen, und muss, selbst wenn ei jeden Fussbreit Landes ihm streitig macht, oft einer höhern Macht weichen. Daher mehrere der Züge, die dem Anschein mich dem russischen Volkscharakter widersprechen. Dieser Krieg ist vor Allem eine Schule der Geduld, der Ergebung, der Unterwerfung. An das Joch der Natur gewöhnt, hat der Grossrusse um so geduldiger das.loch der Menschen getragen, jenes hat ihn gelehrt, sich diesem zu beugen. Die Tyrannei der Natur hatte ihn für die absolute (lewalt vorbereitet. Die alte Theorie, welche die Völker des Nordens für die Freiheit, die des Südens für die Knechtschaft bestimmte, lässt sich nicht ohne Vorbehalt aufrecht erhalten. Unter einer gewissen Freite, bei einem Zusammentreffen gewisser natürlicher Bedingungen kann der Norden > die Seelen beugen, wie die Körper, und die Civilisation allein wird dann im Stande sein, sie wieder aufzurichten. Der grosse Vorzug des Nordens ist, dass diese befreiende Wirkung der Civilisation. bei ihm immer noch möglich ist, während in den tropischen Ländern der Enderfolg noch zweifelhaft erscheint. Line der Eigenschaften, die das Klima und der Kampf gegen die Natur am meisten beim Grossrussen entwickelt haben, ist der passive Math, die negative Energie, die vis inertiae. Die Unemplind-lichkeit gegen Leiden ist, seit lange das Ideal des Grossrussen. Dieses Gefühl trat in einem alten Nationalspiel zu Tage, in einer Art bäuerlichen Laustkampfes, der statt eines Wettkampfs der Kraft oder Geschicklichkeit, ein Wettkampf der Geduld war, da nicht derjenige Sieger blieb, der seinen Gegner niederwarf, sondern der, welcher mehr Schläge empfangen hatte, ohne um Gnade zu bitten. Leben und Geschichte haben den Grossrussen zu einem Stoicismus herangebildet, dessen Heroismus er selber nicht begreift, einem Stoicismus, der einem Gefühl der Schwäche nicht dem des Stolzes entspringt und mitunter allzu einfältig und naiv ist. um würdig zu erscheinen. Niemand kann leiden wie ein Kusse, Niemand sterben wie er. In seinem ruhigen Äluthe vor dem Leiden und dem Tode liegt etwas von der Resignation des verwundeten Thieres oder des gefangenen Indianers, aber zugleich eine Art freudiger religiöser L'eberzeugung. Ich bin dem russischen Dauer zum ersten Male in Palästina im Jahre 1868 beim Beginn der Lasten im März begegnet. Ich cam-pirte unter dem Zelt am Ufer der Teiche Salomos, nicht weit von Bethlehem. Die Nacht war unruhig: eines der um diese Jahreszeit in Syrien häutigen Unwetters mit Legen und Wind war ausgebrochen. Ein Trupp russischer Pilger, die das heilige Land zu Fuss, den Stab in der Hand, ohne anderes Gepäck, als den Bettelsack und den Suppennapf durchziehen, hatte uns eingeholt. Ks waren Alles Bauern, Manner und Weiber, die Mehrzahl im vorgeschrittenen Lebensalter l). Durch die Entbehrungen der langen Heise und des langen Marsches ermüdet, suchten sie bei unsern Zelten und am Fusse zerfallener Mauern Schutz gegen Regen und Wind. Mit Tagesanbruch wollten sie das griechische Kloster von Bethlehem erreichen; aber obgleich die Entfernung bis dahin nur wenige Kilometer betrug, machten Kälte und Ermüdung es mehreren unmöglich, es zu erreichen. Wenn ') Wirthsehaftssorgen und Geineindeautoritäten gestatten den jungen Deuten diese langen Pilgerschaften im Innern .oder Auslände, wie sie der .Mann aus dem Volke noch so liebt, nicht. ihnen die Kräfte versagten, Hessen sie sich zur Erde fallen, die andern gingen schweigend vorbei und gaben sie auf, wie sie sich selbst aulgaben. Wir folgten ihnen gleich darauf, selbst vor Kälte erstarrt und ermüdet, um eine Zuflucht im lateinischen Kloster von Bethlehem zu suchen. So traf ich zwei von diesen Mushiks, die sich unter einem Eelsblock auf dem Fusspfad hingelegt, der zum Bach geworden war. Ich versuchte es vergeblich, sie aufzurichten, mit Rum wiederzubeleben, auf das Pferd zu ziehen; sie schienen nur sterben zu wollen. Als wir nach Bethlehem gelangt waren, konnten wir nach ihnen aussenden, man hatte am Morgen schon einen russischen Mann und zwei russische Frauen auf den nahen Wegen todt gefunden. Mit demselben Gefühl, demselben ruhigen und sanften Fatalismus Hessen sich die russischen Soldaten zur Zeit des Krimkrieges quer durch die Südlichen Steppen führen; sie marschirten bis zur Erschöpfung und starben zu hunderttausende]) an den Wegen ohne einen Schrei der Empörung, fast ohne Klage und Murren. Und mit derselben Geduld und resignirten Energie haben sie in den Balkankämpfen die äusserste Kälte und Hitze, die äusserste Ermüdung und den äussersten Hunger ertragen. Der russische Soldat ist der ausdauerndste in Europa; in dieser Beziehung lässt er sich nur mit seinem alten Feinde, dem türkischen Soldaten vergleichen. Beide besitzen eine Leidensfähigkeit, die den Völkern des Westens fremd ist. Dabei ist das russische Volk von Natur das mindest kriegerische der Welt. Es ist zu keiner Zeit kriegslustig gewesen. Welche Eroberungen es auch gemacht hat, die lnstinote des Eroberers hat es nicht. In seinem Wesen friedliebend, sieht es im Kriege nur eine Zuchtruthe, der es sich aus Gehorsam gegen Gott und den Zaren unterwirft. Aus dem Kampfe gegen das Klima, der den Grossrussen so sehr zur Resignation herangebildet hat, sind demselben zwei einander entgegengesetzte Eigenschaften zu Theil geworden. Wie der Krieg mit der Natur ihm eine besondere Verbindung von Kraft und Schwäche, von Hartnäckigkeit und Elasticität zu eigen gemacht hat, so hat er 'hm auch eine merkwürdige Mischung von Härte und Gutmüthigkeit, yon Gefühllosigkeit und Güte gegeben. Indem die rauhe physische Welt ihn gegen sich selbst hart machte, lehrte sie ihn oft gegen Andere weich sein. Er weiss, was Schmerz heisst, und fühlt deshalb Mitleid mit dem seines Nächsten und hilft nach Massgabe seiner Kräfte. Familiensinn, Wohlthätigkeit gegen die Armen, Mitleid für die Unglücklichen jeder Art gehören zu den ausgeprägtesten Zügen des Volkscharakters. Im Gegensatz zu einem vulgären Vorurtheil ist der Kusse unter rauher Schale meist ein liebreicher, sanfter, selbst zärtlicher Mensch; aber begegnet er einem Hinderniss, tritt er mit einem Gegner in den Streit, so gewinnen Ilohheit und Härte in ihm die Oberhand. An einen Kampf ohne Waffenstillstand gegen die unerbittliche Natur gewöhnt, hat er sich den grausamen Gesetzen des Krieges angepasst und wendet sie an, wie er sie erduldet, mit Unbeugsamkeit. In den Kämpfen, in welchen die Existenz Russlands selbst in frage scheint, zeigt sich dieser Gegensatz. In anderen Fällen bleibt, wie wir im französischen Eeldzug von 1814 und im Krimkriege es gesehen, der Russe der edelmüthigste Feind. Als Privatmann sanft und zum Erbarmen bereit, kann er als Soldat oder als Mann des Staats in nationalen oder bürgerlichen Kämpfen unerbittlich sein; aber nach dem Siege wird er oft ebenso naiv gut, wie er sich vorher unbefangen hart gezeigt. In dem Lande, dem das traurige Vorrecht wurde, seine Grausamkeiten auf sich ZU ziehen, in Polen, habe ich bisweilen rührende Züge von diesem Gegensatz in seinem Charakter erzählen hören, liier ein Beispiel, das mir von Polen mitgetheilt worden ist. In einer der traurigen Insurrectionen, deren Folgen noch so schwer auf diesem armen Lande lasten, erlaubte sich ein russischer Dnteroffioier, der bei einer polnischen Familie cinquartirt war, das Kind des Hauses zu küssen. In den Augen der Mutter, einer exal-tirten Patriotin, wie alle polnischen Frauen es sind, war dieser russische KUSS eine schimpfliche Befleckung; sie befand sich damals in gesegneten Umständen und hatte die Unklugheit, dem Kühnen ein Ohrfeige zu geben. Statt aufzubrausen oder bei seinem Vorgesetzten Klage zu führen, hielt der Russe die andre Wange hin und liess sich zur Thür hinausweisen. Haid darauf verliess er die Stadt und schickte später, als er durch einen Kameraden von der Geburt des neuen Kindes gehör! hatte, diesem kleine Taufgeschenke. In der Regel versieht der Kusse den Widerstand nicht wohl, den nicht die Hoffnung auf Erfolg ermuthigt; wie er selbst dem Verhäug-niss sich beugt, findet er es recht, wenn auch Andre sich vor demselben beugen. Wenn er auch den Cultus der Gewalt nicht übt, so hat er doch Respcct davor. Man iindet etwas von dieser Vereinigung der Gefühle bei den Deutschen, besonders bei den Preussen, bei den letztem jedoch ist die liebenswürdige Seite mehr exclusiv, nach innen gerichtet, mehr ein Familienegoismus, die rohe und brutale Seite dagegen tritt mehr nach aussen hervor und ist von einem Dünkid des Wesens begleitet, der den Russen fremd ist. Die Anlage, die der Kampf gegen die kalte und unversöhnliche Natur bei dem Grossrussen am meisten entwickelt hat, ist der praktische und positive Geist; durch ihn unterscheidet er sich vor Allem von dem Kleinrussen, wie von den westlichen und südlichen Slaven. Diese vorherrschende Eigenschaft zeigt sich überall bei ihm, und Alles dient dazu, sie zu erklären. Nach einer Demerkung eines seiner Schriftsteller1) sind es die jahrhundertelangen Bemühungen, Grossrussland zu cultiviren, gewesen, unter denen die Anlage sich ausbildete, in jedem Ding den unmittelbaren Zweck und die reelle Seite des Lebens zu sehen. Daher dieser Geist der Auskunftswege, diese Fruchtbarkeit an Hülfsmitteln, dieses Verständniss für Menschen und Dinge, Eigenschaften, die den Grossrussen auszeichnen. Tritt diese Lichtung in den Sitten, der Politik, der Literatur deutlich zu Tage, so offenbart sie sich nicht minder dort, wo sie scheinbar am wenigsten vorhanden sein musste, in der Poesie und der Religion. Die grossrussischen Volkslieder zeigen wenig Sinn für Abstractionen und Per-soniticationen irgend einer Art. Kein Volk hat einen weniger metaphysischen Geist, keines beschäftigt sich weniger mit dem Grundwesen der Dinge. Seine Lieblingswissenschaften, die es am meisten anziehen, sind die physikalischen, die Naturwissenscharten und die socialen Wissenschaften. In der ganzen Nation, in den gebildeten Kreisen, wie in den kenntnisslosen Massen herrscht ein mehr oder minder bewusster Positivismus. Die Eigenschaft, die der Dauer am höchsten schätzt, ist der gesunde Menschenverstand, das Schlimmste, was er dem Polen nachsagen kann, ist, dass er ihn einen Kopf ohne Gehirn nennt. Es giebt wenig Völker, denen die Sentimentalität so ganz abgeht, und die sich das mehr zum Verdienste rechnen. Der Anspruch auf praktischen Verstand geht manchmal bis zu einer Art von Brutalität. War es nicht ein Russe, der den Ausspruch llial. ein Stück Käse sei mehr werth, als Puschkin? Diese realistischen Instincte treten in der Literatur und in allen Künsten, besonders in der Malerei hervor, in der Kritik, in der Geschichte, in der Philosophie oder richtiger in dem Fehlen aller Philosophie und Metaphysik. Wie der Glassicismus des vorigen Jahrhunderts war die Romantik der ersten Hälfte des neunzehnten trotz des Genius von Puschkin und Lermontow nur von aussen importirt. Heule und schon seit lange gehört die Nationalliteratur fast ausschliesslich dem Realismus oder Naturalismus an. Von allen fremden Schriftstellern ') Kawelin, Gedanken und Bemerkungen über die russs. (iesch. Kurop.-Bote 1864. ist der meist gelesene und meist verstandene Zola, den einer der russischen Etomandichter, Boborikin, den Herkules des Naturalismus nennt, und der lange mehr Bewunderer unter den Russen gezählt hat, als in seinem eigenen Vaterland. Nichts ist so eomplicirt, wie der Charakter eines Menschen und gar wie der Charakter einer Nation; nach der Schilderung der einen Seite, bedarf es einer Schilderung der andern, wenn nicht ein falsches Bild gegeben werden soll. Die Natur, die auf den Menschen in so viel verschiedenen und mittelbaren Formen einwirkt, leitet ihn auch in Russland wie überall nicht immer in der gleichen Richtung. Sie beeinllusst nieht allein das Temperament durch Klima, Diät und Kürperbeschaffenheit, den Charakter durch Noth, die sie ihm auferlegt und durch Kräfte, die sie reizt; sie wirkt auch in nicht minder mächtiger Weise auf die Einbildungskraft und die ganze Seele durch die Anblicke und Bilder, die sie bietet, und durch die Eindrücke, die sie weckt. Wie die Natur nirgend einfacher, nirgend einheitlicher erscheint, als in Russland, sind auch ihre Eindrücke nirgend deutlicher. Einer der ersten, die der Reisende empfangt, ist ein Gefühl der Schwermut!). Diese Schwcrmuth ergiesst sich vom Himmel und aus der Luft; die nordischen Völker sind alle mehr oder minder von ihr ergriffen; in Russland entsteigt sie zugleich dem flachen und einförmigen Hoden. Der Süd- oder Kleinrusse ist ihr nicht weniger unterworfen, als der Nordrusse1). Die russische Seele ist melancholisch. Wenn die unheilbare Langeweile, die Hypochondrie oder der englische Spleen seltener vorkommen, als in England, so ist das ein Verdienst des rauheren, weniger feuchten und nebligen Klimas; vielleicht ist auch die Schwer-müthigkeit des Russen verdeckt oder zerstreut durch seinen Geselligkeitstrieb, eine der gewöhnlichsten Eigenschaften der Slaven, die durch die Abgeschlossenheit des Winters und die langen Nächte in Russland die grösstc Entwicklung erhalten hat. Der Sinn des Russen für Vergnügen und Aufregungen, seine Reiselust, seine Leidenschaft für das Spiel selbst, seine Neigung zum Trunk sind oft nur — wie bei andern nordischen Völkern eine Anstrengung, sich zu zerstreuen oder eine innere Leere auszufüllen. In der Volkspoesio und der Volksmusik, den Pesni und Liedern Grossrusslands, die Herzen tönende Thränen nannte, in diesen Weisen mit dem langsamen Rythmus und in der Molltonart bricht die Me- ') Tschubinski, Arbeiten der ethnogr. etat. Expedition in Westrussland. Südwestl. Theil. Band VII, pag. 346. lancholie des Bodens und des Klimas am deutlichsten hervor. Zwischen den russischen Gesängen und den canzoni von Neapel und Sieilien, die von Sonnenstrahlen durchdrungen scheinen, liegt der Abstand der Antipoden. In den Volksliedern färbt ein Ton süsser Schwermut h den realistischen Untergrund des Volkscharakters mit elegischen Nuancen; in der Literatur und Kunstpoesie nimmt diese Schwermuth einen schärferen und bittereren Geschmack an. Von Lermontow und Puschkin bis zu Nekrassow und Turgenjew ist die Poesie aller Schulen von ihr getränkt; man erkennt sie im Leben wie in der Dichtung aller dieser Poeten, die meist jung und auf tragische Weise geendet haben. „Schwermuth, Skepticismus, Ironie, das sind die drei Saiten der russischen Literatur1, schrieb einst Herzen, der sich selbst als Beispiel hätte citiren können: „Unser Lachen", fügte er hinzu, „ist nichts als ein krankhaftes Grinsen'''). in der That ist die sarkastische Lustigkeit Gogols oft herzzerreissender, als die düstersten englischen Humoristen. Diese Art Melancholie, die «las Klima gegeben und das politische Regime genährt hat, zieht bisweilen die russische Seele zu einem Mysticismus hinüber, der über ihre realistischen Instincte den Sieg behält oder sieh mit ihnen auf bizarre Weise verbindet, wie es mehr als eine Volksseele, mehr als ein nationaler Schriftsteller, wie Shu-kowski, Gogol, Dostojowski bezeugen. Zwischen dieser natürlichen Schwermuth, die mitunter Anwandlungen von Lustigkeit unterbrechen, und demjenigen Pessimismus, der in mehr als einer unwissenden Secte, wie in dem Nihilismus der literarisch gebildeten .Jugend scharf zur Erscheinung kommt, ist es ebenfalls nicht schwer, einen Zusammenhang zu linden. Heim Namen des Volkes vereinigt sich diese unbewusste Melancholie oft mit einem resignirten Fatalismus, und in Folge dessen mit einer Ruhe und einem Gleichmut!], die überraschen. In den Spielen, im Gedränge, selbst in der Trunkenheit ist der Grossrusse gemeiniglich friedfertig und nicht lärmend. Unter den Männern wie unter den Kindern sind Streit und Kampf selten. Die Masse ist schweigsam wie die Natur, wie der Schnee der Städte, der den Hall der Schritte erstickt, Dm ihre Empfindungen besser zu verstehen, vergegenwärtigen wir uns die Jahrhunderte alten Findrücke der westlichen Einwanderer während ihrer langsamen Ansiedlung auf dem Roden Grossrusslands. Vor diesen Strecken, die grenzenlos erschienen wie das Meer, fühlte ') Das russische Volk und der Sochdisinns, der Mensch sich klein. Das Bewusstsein seiner Kraft sank vor der Weite der Erde, die ihn umgab und die er Ins auf unsere Tage nicht auszufüllen vermochte. Diese Seeen und Moräste ohne Grenzen und ohne Zahl, diese Flüsse, deren Ufer keine Drücke verbinden konnte, diese Wälder ohne Fnde, diese Stoppen ohne andern Horizont, als den Himmel — alles dies mahnte ihn an seine Inferiorität. Will man die äusseren Hauptzüge der russischen Natur nnalysircn, so erkennt man, dass alle Kindrücke derselben sich in einem Gegensatz treffen: die Bilder, die Grossrussland dem Menschen bietet, zeigen ihm seine eigene Kleinheit, ohne ihm die Vollgewalt der Natur zum Bewusstsein zu bringen. Kinzig durch ihre Ausdehnung macht die Erde den Menschen dort klein. Sie bietet ihm, was die Phantasie ausdehnt um! schlaff macht, ohne ihm, wie der Süden, zu liefern, was sie füllt und bereichert, was sie zu jener reichen Poesie heranbildet, die wir in den Dichtungen Indiens und Griechenlands bewundern. Flach und nackt, glanzlos und todt giebt diese Natur dem (leiste wenig Ansporn, der Dichtung und Kunst wenig Nahrung. Sie ist wenig geeignet, zu kraftvollen Gedanken und glänzenden Dildern anzuregen. Selbst die magere Fruchtbarkeit des russischen Dudens lässt ihn oft geringere Wirkung üben, als die Wüste in ihrer Nacktheit, wo wenigstens nichts den Eindruck dos dnermesslichen mindert. Das alte moskowitisohe Land entbehrt aller grossartigen Erscheinungen, die den Geist erheben oder in Staunen setzen können; es hat weder Borge noch Meer und ermangelt so des Findrucks, den das Leben des Meeres und der Berge auf die Individualität übt, Seine niedrigen, dünn bestandenen Wälder haben wenig Majestät; die Mehrzahl seiner vielen Seeen hat flache 1'1'er wie Pfützen. Russland kennt die grossen Hintergründl1 der Nordländer nicht: es hat weder wogengepeitschte Küsten, noch schroff abfallende Inseln, weder Golfe, noch buchtenreiche Mords, noch Granitfelsen und Gletscher, noch Bergströme und Wasserfälle. Ks besitzt nichts von jener gewaltigen Nordlandnatur, welche die wilde Mythologie des Nordens geboren hat: es besitzt wenig von dem, was die Persönlichkeit anzustacheln pflegt. Die russische Natur hat zwei entgegengesetzte Grundformen: Die WCite und die Leere, die Ausdehnung des L'aumes und die Aei'in-liehkeit seines Inhalts. Auf unemlli hon Strecken zeigt sie weder Wechsel der Formen noch Wechsel der Farben. In der lebenden wie in der todten Natur bleibt sich der Mangel an Grösse und Kraft gleich. Das Malerische fehlt oder ist auf ein so geringes Mass beschränkt, dass es dem ersten Flick des Fremden völlig entgeht. Die Reise über diese Strecken mit ihren warzenartigen Erhebungen, wo Städte und Dörfer selten sind, weckt fast dasselbe Gefühl des Ueber-drusses, wie eine Seefahrt. Man kann auf weiten Eisenbahn- oder Dampfschifffahrten die Augen .am Abend schliessen und am andern Morgen sie wieder öffnen, ohne wahrzunehmen, dass man vom Fleck gekommeil ist. Nur einige an Fluss- oder Seeufern treppenartig aufsteigende Städte, wie Kiew, die beiden Nowgorod, Pskow, Kasan bieten mit ihren alten Mauern und ihren farbigen Kuppeln aus der Ferne einen imposanten Anblick dar. Aber auch die Grösse der Flüsse thut ihrer Schönheit Abbrach; vergebens erhebt sich auf einem der Flussufer eine bisweilen mit grossen Bäumen bestandene Terrasse, die Abhänge sind in der Regel zu niedrig für die Breite des Flusses und verschwinden vor dieser. Dieses Missverhältniss schadet den schönsten Partieen am Dnjepr, am Don und an der Wolga, wie zum Beispiel in dem grossen Knie der letztem zwischen StawTopol und Sysran, wo die „Mutter Wolga" sich eine Dahn quer durch einen Zug von schroffen Hügeln bricht, die wohl so hoch sind, wie die am Rhein, an der Donau und am Nil. Der Muss. der breiter ist, als jene Anhöhen hoch, lässt sie klein erscheinen und mindert ihre landschaftliche Wirkung. Tu Russland leidet Alles unter dem Mangel eines rechten Verhältnisses zwischen dem verticalen Querschnitt und dem horizontalen Plan der Landschaften. Das wirklich Malerischste sind wohl die stillen Teiche in einsamen Wäldern, die Schluchten, welche die Schneeschmelze in die Steppe gehöhlt hat, die bewaldeten Einschnitte, durch die sich still ein langsamer Fluss windet. Auf dem Boden ohne Relief breitet sich eine Vegetation von wenig Mannigfaltigkeit und wenig Fülle aus. Die Natur wiederholt überall dieselben Arten, dieselben Gesträucher, dieselben Räume. Die Gleichartigkeit der Lebensbedingungen erzeugt die Einförmigkeit der lebenden Wesen, die Rauhheit des Klimas bewirkt die Schwächlichkeit derselben. Die freie Natur zeigt in Grossrussland dieselbe Monotonie, wie sie anderwärts der Mensch der ihm unterworfenen Natur verleiht; sie hat aber nicht deren kraftvolles und gesundes Aussehen. In dieser Beziehung unterscheidet sieh die bewaldete Zone, die den grössten und ältesten Theil Gi'ossrusslands einnimmt, wenig von der abgeholzten. Die Wälder sind vielleicht von ärmlicherem Aussehen als die Steppe, die doch im Frühjahr ihren üppigen Kräuterwuchs hat. Die schönen Bäume sind selten und linden sich nur in einigen bevorzugten Gegenden der Mitte und des Westens. Es sind dieselben Holzarten, wie in Schweden und Norwegen, alter sie haben hier nicht die gleiche Mächtigkeit. Statt die Fruchtbarkeit, den Reichthum, die Energie einer ewig jungen Natur zu zeigen, machen diese Wälder den Eindruck der Kraftlosigkeit, der Dürftigkeit, der Erschöpfung. Haid sind die Bäume schwächlich und verkrüppelt, bald sind sie dünn und lang, ohne hoch zu sein, und werfen nur spärlichen Schatten auf den nackten Boden unter ihnen. Am meisten fällt der ewige Contrast der Fichte mit ihrem röthlichen Stamm und der Birke mit ihrer weissen Binde ins Auge, — die Fichte gerade und nackt mit magerer Krone, die Birke mit dünnem Gczweige und hellem Laub. Die Felder bieten noch geringeren Wechsel in ihrem Aussehen, als die Wälder. Der Boden erhält von den Händen des Menschen hier nicht das Leben und die Mannigfaltigkeit, die sie ihm anderwärts mitunter geben. Das bebaut«1 Land hat dieselbe Eintönigkeit, wie die natürliche Vegetation. UeberaU nur wenig von den wechselnden, nebeneinanderliegenden Gulturen, die unsern westlichen Aeckern ein so Lebhaftes Aussehen verleihen. Es ist, als ob sich dasselbe Feld ins 1 nendliche ausdehne, unterbrochen allein von weiten Brachfeldern. Nirgends ein Dorf, nirgends ein Haus, noch ein einsamer Bauernhof. In der Steppe wie in den Wäldern fürchtet der Busse scheinbar im Grenzenlosen, das ihn umgiebt, allein zu sein. Der Gemeindebesitz, der hei den Bauern besteht, vergrössert den natürlichen Mangel; er beraubt Russland jener Gelläge und Hecken mit den übermüthigen Formen, die zu dem Beize Englands und der Normandie so viel beitragen. Daher zum Theil die traurige Geschmacklosigkeit, die ver-driessliche Langeweile dieser Ländereien in Gemeindebesitz, deren Felder ungetrennt oder in lange gleiche und symmetrische Streifen zertheilt sind. Die Vorliebe für den Gemeinhedesitz, für die Association und für das, was der Busse das Artellwesen nennt, ist oft auf die Rechnung des slavischen Blutes geschrieben worden. Es ist wahrscheinlicher, dass die eigentlichen Quellen hiervon weniger in der Baue, als einerseits in der Natur, andererseits in dem Grade der Civilisation liegen. Das Bestehen der Ackergemeinschaften in Grossrussland, dieses Bedürfnis* der gegenseitigen Annäherung und Aneinanderschliessung, um leben zu können, ist sicherlich nicht ohne Zusammenhang mit jener kalten Unermesslichkeit gewesen, in der sich der vereinzelte Mensch wie verloren und ohnmächtig fühlte. Aus denselben Wurzeln ist eine Neigung nach entgegengesetzter Dichtung hervorgegangen die Sucht nach Abenteuern, nach Reisen, nach Vagabundiren, was das Ausland an den Hussen mit dem grossen Wort „Nomadentrieb" bezeichnet. Dass der Bauer die Landarbeit so wenig liebt, dass er so geringe Anhänglichkeit für den undankbaren und traurigen Hoden des alten Moskowiens besitzt, erklärt sich leicht, doch mussten hierfür, wenn der Mushik auch diesen Vorwurf zuweilen verdient, zu gutem Theile die Institutionen, die Leibeigenschaft und die Form des Grundbesitzes verantwortlich gemacht werden. Es giebt noch einen andern Grund für diese Erscheinung, der ebenfalls mittelbar mit dem Boden Zusammenhang! und die Anhänglichkeit an die Wohnung, an den häuslichen Herd mindert, nämlich die Materialien der Wohnungen, besonders der Isba des Mushiks, und die daraus folgende Häufigkeil der Brandschäden. In Russland, besonders im nördlichen Russland, das an Gestein arm, an Waldungen reich ist, in dem Russland, das der Historiker Solowiew im Gegensatz zu unserm „Europa von Stein", das „Europa von Holz nennt" sind alle Dörfer von der Hütte des Bauern bis zur Kirche und zu dem alten Herrenhaus von Tannenholz erbaut. Ein Gleiches war bis vor kurzem noch in den meisten Städten, selbst in den Hauptstädten der Fall. In einem solchen Lande ist das Feuer, der rothe Hahn, wie die Russen gewöhnlich sagen, für das Individuum wie für die Gesellschaft ein furchtbarer Feind. Vergeblich sind zur Verringerung der Gefahr die Häuser der Dörfer in gewisser Entfernung von einander erbaut; jedes Haus hat fast die vollkommene Sicherheit, eines Tages abzubrennen, es ist dies nur eine Frage der Zeit. Die Chancen für die Dauer eines Wohngebäudes können nach den verschiedenen Regionen mit derselben Genauigkeit berechnet werden, wie die der menschlichen Lebensdauer, und sind oft bedeutend kürzer. Wie eutmuthigeml diese Aussicht auf einen Feuerschaden ist, die über der ganzen Existenz schwebt, wie sie jede Schmückung des Hauses und demzufolge jede Behäbigkeit und jeden Fortschritt hemmt, ist augenscheinlich. Wozu sein Herz an diese vergängliche Hütte von Holz hängen, die der erste Windstoss und der erste Funke vernichten können? Auch lassen die Bauern oft in nachlässiger Sorglosigkeit ihre Isba schief bis zum Umstürzen auf dem Fundamente hängen, als warteten sie nur darauf, dass sie eine Heule der Flammen werde, um sie dann erst wieder aufzurichten. Unabhängig von der Feuersgefahr ist die Leichtigkeit, mit welcher der Mushik des Nordens sich ein Haus baut, wenig geeignet, ihm sesshafte Neigungen einziillössen. Die meisten Bauern waren bis jetzt noch wenigstens im Stande, in wenigen Wochen sich selbst ihr Haus zu bauen; ein Beil war alles, was sie hiezu brauchten. Zur Zeit, als das Land weniger entwaldet war, konnte die Isba, wenn sie auch geräumiger und behaglicher war, fast ebenso leicht aufgestellt werden, wie die Gurbi der Araber. Vielleicht liegt hierin eine Iiorny-lioaulioii, Koicb d, Zaren u. d, Kiibscn. !» der Ursachen jenes Nomadentriebos, der allzuoft den Russen zugeschrieben wird. Jn jedem Falle bleibt, die Häufigkeit der Brandschäden trotz der neuerdings eingeführten Versicherungen ein Hinderniss für die Beständigkeit, für die Idee der Dauer und Stabilität, für die Sorge um den andern Morgen. Diese Geissei, die stetig über den Dörfern schwebt, vermindert die Liebe zum Hause und zum eignen Heim, eine Liebe, die überall eine der stärksten Triebfedern der Sittlichkeit, Ordnung und Sparsamkeit gewesen ist und den Hussen in grösserem Masse natürlich sein müsste, als jedem andern Volk, weil bei ihnen seit der Aufhebung der Leibeigenschaft jeder Lauer Besitzer des Hauses ist, das er bewohnt. Im Allgemeinen haben die Völker im Norden weniger .Anhänglichkeit an die Scholle, als die im Süden. Das Auswandern kostet ihnen weniger; man sieht das überall in Deutschland und England, man sieht es in den scandinavischen Ländern, die bei einer weniger dichten Bevölkerung jährlich eine beträchtliche Zahl von Auswanderern nach Ganada und den Vereinigten Staaten abgeben. Der Russe, wenigstens der russische Lauer giebt seine Heimath selten auf; ihn halten dort die Institutionen, die Yorurtheile, die Religion; aber Kurland selbst ist gross genug, um seiner Wanderlust ein Ftdd zu bieten. Die Ebene ladet zum Wandern, zum Weitergehen ein, auf dem einförmigen Loden zwingt nichts zum Stillstehen, zur Niederlassung. Daher stammt zum Theil beim alten Kosaken wie beim einfachen Lauer der Leichtsinn der Umsiedelung, der sich in so vielen Formen, auf den Messen und Pilgerschaften, wie beim Suchen nach Neuland zeigt, und der nach der Meinung der Geschichtsschreiber einst einer der Gründe für die Auferlegung der Leibeigenschaft war. Diese Neigung zum Wandern auf Gerathewohl entspricht einer geistigen Neigung, die vielleicht erwähnenswerther ist, wenn sie auch weniger beachtet worden ist: wir meinen die abenteuerlichen Züge des russischen Geistes, der sich oft gierig in die kühnsten Speculationen wirft, bei Hindernissen ungeduldig wird, vor keiner socialen oder religiösen Verwegenheit zurückschreckt, an jeder vielmehr Wohlgefallen und für jede Nachsicht hat, die uns in Lrstaunen setzen. Das Denken des Hussen kennt die Grenzen ebensowenig, als seine Felder und sein Horizont, es liebt das Schrankenlose, geht gradewegs auf die äussorsten Consequenzon der Ideen los und achtet der Gefahr nicht, dem Absurden zu verfallen. Der russische Genius zeigt in diesem logischen Zuge, in diesem Hange zum Absoluten eine gewisse Verwandtschaft mit dem französischen; aber diese Anlage hat bei ihm gewöhnlich zum Gurre* tiv den practisohen positiven Sinn, der ihn nicht aus dem speculativen Gebiete hinaustreten lässt. So erklärt sich der su vielen Russen eigene, auffällige Gegensatz zwischen grosse! Kühnheit in der intellectuellen Sphäre und gleicher Aengst-lichkcit in der des wirklichen Lehens, zwischen übermässiger Verwegenheil auf jenem und klügster Vorsicht auf diesem Gebilde. Die Flachheit des Rodens und die Schwächlichkeit der Natur scheinen mir für noch einen der Vorwürfe verantwortlich zu sein, die am häufigsten und wohl mit dem wenigsten Hechte dem russischen Volke gemacht worden sind: es ist der Vorwurf des Mangels an Individualität, des Mangels an Originalität, des Mangels an schöpferischer Kraft. Die Geschichte und eine lange Zeit zurückgehaltene Civilisation haben sicherlich auch daran Schuld, aber wenn dieser Mangel — woran wohl gezweifelt werden darf — allgemein und unheilbar ist, so muss die Schuld daran zuerst der Natur zufallen. Was den Mangel an Persönlichkeit betrillt, so gleicht der Russe hierin noch seinen Feldern. Ihrer Armuth und Monotonie entstammt ein Theil der verhältnismässigen Unfruchtbarkeit des russischen Denkens. Dieses Land bietet kaum Bilder für den Dichter, Farben für den Maler; es vermag wenig, den Findrücken und Ideen Frische zu verleihen '). Wenn diese Unfruchtbarkeit in der Zukunft durch den weilen Horizont verscheucht werden soll, den Wissenschaft und Civilisation von allen Seiten der AVeit öffnen, muss man da nicht dem Boden selbst grossenthcils die lange Inferiorität des russischen und slavischen Geistes zuschreiben, wie z. B. den Mangel an Leben und Kraft der alten Mythologie der slavischen Fussen im Vergleich zu den Mythen der Griechen und Soandinavier? ') In dieser Beziehung will ich mir erlauben, auf den grossen und fruchtbaren EinflUSS hinzuweisen, den die im Grenzrnyon liegenden Rorgländcr, die vor längerer oder kürzerer Zeit dem Reiche annectirt worden Bind, «Iii* Krim und besonders der Kaukasus, auf die russische Literatur geübt haben. Hank dem Argwohn einer misstrauischen Polizei, die immer bereit war, die Schrift-Steiler an die äussorsten Grenzen des Reiches zu verbannen, hat die nationale Dichtung in Puschkin und Lcrniontow hier eine Quelle der Regelstörung gefunden, ans der die Romantik jener Zeit reiche Nahrung sog. Ln diesem Sin in1 Hesse sich der Einfluss des Kaukasus auf die russische Literatur in der ersten Hälfte des l'.t. Jahrhunderts «lein Einfluss der Alpen auf die französische und deutsche Literatur im 18. Jahrhunderte seit Rousseau vergleichen. Drittes Kapitel. Die Mannigfaltigkeit der russischen Natur liegt in dem Wechsel der Jahreszeiten. Wie die Gegensätze von Winter, Frühling, Sommer auf das Volkstemperament eingewirkt haben. — Der russische Charakter ist extrem, wie das Klima. Seine Widersprüche. — Seine Biegsamkeit. — Seine Fähigkeit der Aneignung. — Eine historische PersonificatioD des National Charaktere. Wir haben die Einförmigkeit des Hachen Landes in Russland vielleicht zu sehr betont; auch dieses hat in Wirklichkeit seine' besonderen Weehselforinen, die mächtig auf den Menschen einwirken, und zur Erklärung der auffallenden Widersprüche im National-charaktor beitragen. Diese Art der Abwechselung hängt weniger mit dem Loden als mit dem Klima zusammen. Die Mannigfaltigkeit und mit ihr das Malerische und Schöne in Russland gehen mehr aus den Bedingungen der Zeit, als aus denen des Raumes, mehr aus der Folge der Jahreszeiten, als aus der der Landschaften hervor. Es ist umgekehrt, wie in den südlichen, besonders in den tropischen Ländern, wo die Vegetation und die äusseren Ansichten der Erde und des Himmels wenig wechseln, wo die .Jahreszeiten nur durch feine Unterschiede sich kennzeichnen und WO das Lehen in gleichmässigem und monotonem Laufe sich durch sie hinzieht. Im Norden dagegen, besonders in einer continentalen Legion wie Grossrussland, stechen die Jahreszeiten scharf von einander ab: sie hüllen abwechselnd die Erde in Gewänder von den entgegengesetztesten Farben. Durch sie empfängt der Kusse wieder in der Mannigfaltigkeit der Naturerscheinungen die Mannigfaltigkeit der Eindrücke und der Fmpiindungen, die ihm der Loden versagte. Ohne sein Dorf zu verlassen, erleb! er im Laufe von sechs Monaten so verschiedene Klimate und zugleich so verschiedene Bilder, als ob er zwischen Fol und Aequator durch 25 bis 30 Breitengrade auf- und niedergezogen wäre. Der Finlluss solcher Wechsel wirkt nicht geringer auf den Charakter, als auf das Temperament, auf die Einbildungskraft wie auf den Geist. In Kussland hat jede Jahreszeit ihre eigenen Arbeiten, Feste und Vergnügungen, jede ihre eigenen Gesänge und mitunter selbst ihre eigenen Tänze. Sie nehmen im Leben und Dichten des Volkes einen so breiten Daum ein, dass sie zur Classification vieler der Pesny, die der Lauer singt, den Kähmen gehen könnten. In unserm Klima, wo doch auch der Gegensat/ zwischen »Sommer und Winter so gross ist. giebt doch nichts eine richtige Vorstellung von ihren Contrasten an den Ufern der Wolga und Newa: wer Russland nur in einer dieser beiden Erscheinungen gesehen hat, der kennt Russland nicht, Von den russischen Jahreszeiten ist der Winter die längste und die eigentümlichste; selbst in seiner Monotonie ist er wohl auch die malerischste und schönste. Er lu'illl diese düstere Natur in das glänzendste Brautkleid; der Schnee ist der blitzendsto Schmuck und zu seiner kalten, bald matten, bald funkelnden Weisse fügen Frost und Eis ihr irisirendes Perlmutter. Alles verschwindet unter dem Schnee, Fand, .Meer und Ufer, Wege und Felder; aber in dieser unbegrenzten Einförmigkeit nimmt die Natur eine Grösse an, die ihr die magere Mannigfaltigkeit des Frühlings mler Sommers nicht zu leihen vermochte. Unter diesem dicken Mantel bleiben dem Auge nur die Senkungen und Erhebungen, die Abhänge und Vorspränge des Bodens wahrnehmbar; aber der einfarbige Grund erhält von der Sonne den blendendsten Glanz, von dem Mond und der Nacht die zartesten und feinsten Farben. Bei dem hellen Sonnenschein der schönen Wintertage kann das Auge kaum den gleichmässigen und andauernden Glan/, der Fandschaft ertragen; auch giebt es im Norden. WO der Schnee fünf oder sechs Monate liegen bleibt, fast ebensoviel Augenkranke und Blinde, als in den südlichen Ländern. In den Wäldern vor Allem hat man die Schönheiten des Winters zu suchen. Der Rauhreif deckt die Birke und Espe mit blitzenden K rvstallblüthon, die feiner sind als die Blätter jener, während die dunklen Massen der Fichten und Tannen in warmen und tiefen Tönen sich fast schwarz von dem Hintergrund des weissen Schnees und von seinen bläulichen Reflexen abheben. In der Nacht haben diese Landschaften eine feierliche Grossartigkeit. Im Mondlicht mahnen die kalten und weissliohen Flächen in ihrer Bleichheil an die Vorhimnnd der katholischen Poeten; auf den Daumen und Lauten nimmt der Schnee phantastische llellexe an und krön! die Kuppeln der Petersburger und Moskauer Kirchen mit einer geheimnissvollen Aureole. Scheint der Mond nicht, so flimmern die Sterne mit der Helle, die starker Frost ihrem Lichte giebt. Die dunkelsten Nächte erhellt der weisse Wiederschein des Schnees; es scheint dann, als käme das Licht statt von oben, von unten. Im Winter ist die Nacht die Lieblingszeit zu Spaziergängen und Landpartien. Nach dem Thealer oder einem Dalle steigen die jungen Damen in Pelz gehüllt in offene Schlitten, um in dem Dreigespann, der Troika, auf den Inseln oder in der Umgebung Petersburgs den dreifachen Heiz der geschwinden Fahrt, der kalten Luft und der Nacht zu gemessen. In den Strassen der Städte machen die Schlitten durch ihre Bewegung hei vollkommener Lautlosigkeit einen seltsamen Eindruckt Auf den belebtesten „Perspectiven" eilen die von der Kälte gespornten Pferde im Galopp oder in jenem scharfen Trab dahin, den man nur in Russland sieht: Schlitten und Fuhrwerke aller Art drängen sich, jagen an einander auf dem Teppich von Schnee vorüber, der jedes Geräusch erstickt, bieten dem Auge das Bild des aufgeregtesten Lehens und lassen dem Ohr den Eindruck der Ruhe. Die langen Winternächte, die in den Hauptstädten zu Festen werden, sind auch für die Bauern nicht ohne Vergnügen. Auch diese empfinden das Bedurmiss, sieh zur Arbeit oder zur Zerstreuung zusammenzufinden. Noch vor Kurzem versammelten sich in den nördlichsten Provinzen die Frauen und jungen Mädchen in der grössten Isba des Dorfes, die mitunter zu diesem Zweck gemeinsam gemiethet worden: heim Fichte llaekernder Futschinen, einer Art von Fackeln aus Spänen von harzigem Holze (Kienspan), halten sie ihre fossidelki, bäuerliche Abendgesellschaften eines Volkes, das der Winter selbst; zur Geselligkeit treibt. Wenn sie plaudernd Lein oder Wolle gesponnen hatten, und ihre Burschen dazugekommen waren, begannen sie einige jener gemischten Chorlieder, die dem russischen Volke theuer sind, oder einen ihrer langsamen Tänze hei Begleitung der Balalaika, die heutzutage nur allzuoft von der gewöhnlichen Ziehharmonika verdrängt ist. Der Frühling macht diesen Dorfsoireen ein linde, indem er dem Lauer das Land und den Teppich des Rasens wiedergiebi und den Chorowod (Reigen) in die freie Lull hinausführt, Wintersende und Frühlingsanfang' sind die unangenehmste Zeit des Jahres. Statt grünen Krautes ein Meer von Schmutz, statt Fcldgeruchs der tiestank der Schneeschmelze. Fs ist gleichsam eine Zersetzung, eine Verwesung der Natur vor ihrer alrj ährlichen Auferstehung. Aber wie ergreifend ist diese Auferstehung, wie wird sie erwartet und wie gefeiert nach der langen Wintertrauer! Nichts giebt in unserm Klima eine Vorstellung von solcher Verjüngung. Der Lenz schenkt zugleich der Erde und dem Wassel1 das Lehen wieder. Nach L50 bis 200 Schneetagen lässt. er endlich wieder grünes Land erscheinen, das absolut verschwunden war: er deckt aufs Neue die Müsse, Seen und Buchten auf, die der Winter in traurige und todteFlächen verwandelt hatte: er bricht das Eis, das sie fesselte, giebt ihnen die Farbe, das Gemurmel, die Dewegliohkoif der Welle wieder, mit einem Worte: er schafft sie neu. Es ist ein ganzes Element, es ist die ganze flüssige Welt, welcher der April oder März wie durch Zauberkraft das Dasein wiedergiebt. Wenn seit dein Herbst vom Himmel nur Schnee gefallen ist, so machen selbst die ersten Regengüsse einen überraschenden, fast erfreuenden Eindruck, ähnlich der Freude, die im Süden die ersten Regentropfen nach langen Wochen der Hitze und Dürre bereiten. Auch die Kinder begrüssen den Fegen und bieten ihm in altüblichen Liedern Willkommen. Mit den Flüssen und der ganzen Welt der Gewässer erwachen in Wäldern und Wiesen die Blätter und Blumen, denen die Vögel noch zuvorkommen, die in sanftere Himmelsstriche geflüchtigt waren, und deren Bückkehr ein naiver Kalender Tag für Tag voraussagt: die Lerche, die Saatkrähe und die Schwalbe, die nach einer russischen Legende aus dem Paradiese zurückkehrt und dessen Wärme mit sieh bringt,. Um so lebensvoller und jünger erscheint die Natur in allen ihren Formen, je tiefer ihr Tod erschienen war. Der Mensch begrüsst diese Erneuerung der Welt mit einer Freude, die man anderwärts nicht zu verstehen vermag. Die Bauern des Nordens leiern in ihren Volksliedern mit naiver Poesie das Scheiden iles Winters und die Rückkehr des Frühlings. Sie steigen auf Flügel oder auf ihre Dächer, um ihn bei seinem Kommen schon von fern zu begrüssen und singen vom März ab: „komm, o Frühling, schöner Frühling, komme mit der Freude; komm mit hohem Flachs und reichem Korn!" In mehreren Gegenden rufen sie ihn mit Gebräuchen und Beschwörungsformeln heidnischen Ursprungs; in andern vermischen sich die Feste der Auferstehung der Natur mit denen der Auferstehung Christi, als wenn die eine das Symbol der andern wäre. Der erste Mai ist fast überall ein Volksfest; die Russen gehen in den Wald und bringen, wie die Taube der Arche, junge Baumschöss-linge als Zeugniss für die .Bückkehr des Laubes und den Abzug des Winters heim. Schon die Empfindung des Sonnenscheins und der warmen Frühlingswinde ist Wollust. Der Körper, seiner schweren Kleider entlastet, scheint leichter und zugleich verjüngt zu sein. Der russische Frühling ist kurz: nach den hässlichen Erscheinungen des Aufthauens geht er rasch in die Gluth des Sommers über; aber gerade seine kurze Dauer vermehrt seinen Effect. Es ist etwas Wunderbares um das plötzliche Hervorbrechen der Vegetation, welche gleichsam mit einem Schlage hervorsehiesst; das Auge vermag fast ihrer Entfaltung von Tag zu Tag zu folgen, und derland-mann hat die grössere Freude, das Korn, das er gesäet, in wenigen Wochen aufgehn, bleichen und reifen zu sehn. Im Norden Kusslands ') 8. z. 13. Ralston: Songs of the russian people, i m — wetteifert das rjtsche Zunehmen der Tage mit dem Waehsthuni der Pflanzen; da der Abstand zwischen den langen Winternächten und den langen Sommertagen ein grösserer ist, nimmt die Dauer des Tages vom einen zum andern bemerkbarer zu. So vereinigt sieh Alles, Erde und Wasser, Pflanzenwuchs und Licht, um den Eindruck des sieh erneuenden Lebens zu verstärken. Die alten Lassen rechneten den kurzen Frühling Dicht zu den Jahreszeiten; sie hatten deren nur drei, den Sommer, Herbst uiul Winter. Mit einigen Unbequemlichkeiten der südlichen Fänder, einer bisweilen drückenden Hitze, Staub und häufiger Dürre bringt der Sommer den Fussen auch manche Heize des Südens, klare Atmosphäre und hellen Himmel, weiche Luft, duftige Durchsichtigkeit des Horizonts, kühlen Schatten und Wellenschlag, köstliche Frische der frühen Morgen- und späten Abendstunden. In der nördlichen Hälfte des Reiches bietet der Sommer Dilder, die nur ihm eigen sind, und die man sich nicht vorstellen kann, ohne sie genossen zu haben. Schön sind die Sommernächte des Südens mit ihrer weichen Temperatur und ihrem durchsichtigen Himmel, aber nicht weniger schön und zugleich überraschend sind die Sommernächte des Nordens. Kein Pinsel vermöchte die Zartheit ihrer Farbentöne, keiner die Feinheit ihrer Uebergänge wiederzugeben. In diesen Nächten, in denen die Sonne kaum unter den Horizont niedersinkt, folgen den lebhaften färben des Frühlingssonnenuntergangs die Tinten des Opal und Perlmutter, die einem andern Planeten anzugehören scheinen. Das Licht scheint im Erbleichen etwas Aetherisches anzunehmen; es ist weder Tag noch Nacht, es ist beides zugleich. Je höher man zum Polarkreis emporsteigt, je mehr nähern sich auch im Räume und in der Zeit Abendroth und .Morgenroth. Um Mitternacht kann man sie in geringer Entfernung von einander auf beiden Seiten des Nordpunkts roth glühen oder erbleichen und den Himmel mit ihren gleichzeitigen Färbungen erleuchten sehen, als wenn sie sich gegenseitig abspiegelten. l'ntei- dem HO. Breitengrade, in der Höhe von Petersburg, giebt es am faule des Juni schon keine Nacht mehr, wenn man auch bis gegen den liti. Grad, über Archangel hinaus, steigen müsste, um die Mitternachtssonne über dem Horizont zu erblicken. Diese geheim-nissvollen, für Auge und Phantasie so stillen Nächte sind für die Nerven bisweilen aufregend: sie sind gleichsam Widersacher des Schlafs. So gehen sich auch viele Küssen, wie die Völker des Südens, der Siesta hin, um die langen Abende besser gemessen zu können, In diesem andauernden Tage liegt eine geheime Aufregung, die den Fremden ermüdet und ihn die Rückkehr der Nächte wünschen lässt. Sic treten bald wieder ein und nehmen so regelmässig zu, wie sie abgenommen. Schon in den zahlreichen Elten heidnischen Ursprungs, die um Johanni herum die Sonnenwende feiern, mischten sich in die Freudenlieder, die der Sonne auf der Höhe ihres aufsteigenden Laufes galten, Klagelieder, die schon im Voraus ihren raschen Niedergang zum Winter beweinten. Mit den Nächten kommt der Herbst, die am wenigsten ausgesprochene und wenigst eigenartige, aber nicht die wenigst, schöne unter den Jahreszeilen in Russland. Die Wälder nehmen jene warmen und verschiedenen Karben an, deren Reichthum der Sommer nicht erreicht. Die häutigen atmosphärischen Wechsel geben dem Himmel Töne von düsterer und beweglicher Schönheit und die ersten Fröste und der erste Reif auf dem Geäste der Bäume und dem Steppengras bieten Reize, die nur das morgenfrischc Auge des Jägers ganz kennt. In diesem Niedergang der Tage und der Vegetation erwacht ein Gefühl der Trauer, eine süssmelancholische Poesie, die trefflich zu der nordischen Natur passt. Der Herbst dauert bisweilen lange, die Tage werden kürzer, die Blätter fallen, die Vögel ziehen fort, Gattung um Gattung, — der Kuckuck, der frostigste unter ihnen, giebt bisweilen schon Ende Juli das Zeichen des Aufbruchs, — Regen und Schnee folgen sich; aber der Winter, der eigentliche russische Winter ist dann erst wirklich da, wenn die Erde in das weisse Leichentuch gehüllt ist, das der Frühling allein heben kann. Alle diese Wandelungen der Jahreszeiten hat der Russe tief empfunden: wie er sie zu schildern, hat Keiner es verstanden. Keine Nuance dieser bleichen Natur, kein Rellox des Himmels, kein Schatten der Erde ist seinem Auge, kein Ton, kein Murmeln seinem Ohr entgangen. „Aus der blossen Bewegung der Blätter hätte ich mit geschlossenen Augen die Jahreszeit oder den Monat erkannt", sagt an einer Stelle Iwan Turgenjew. Die Russen haben liebevoll die russische Knie beschrieben, welche auf die Dauer auf Jeden, der sie einmal verstanden, einen tiefeindringenden Reiz übt, wie ein Gesicht, dessen Schönheit im Ausdruck liegt. Sie haben sie in den Wechseln der Jahreszeiten gemalt, die ihrem Pinsel im Abstand weniger Monate so verschiedene Welten boten. Von ihr haben sie auch ein doppeltes Talent erhalten, das in ihren Bildern überrascht: allgemeinen Farbensinn und den Sinn für die einzelnen Töne, das Versländniss für grosse Linien und Massen und das Verständniss für das Detail und die Nebendinge. Auf diesen weiten Flächen, die gewöhnlich keine Mittelgründe haben, giebt es kaum eine Verniittelung zwischen den Gesammteffecterj und den Einzelefieeten, zwischen dem weitgedehnten W a\d und einer Gruppe von Bäumen, zwischen der endlosen Steppe und einem struppigen Busch. Wenn die Unermesslichkeil das Auge mich dein Horizont schweifen macht, so zieht jede irgend auffällige Kleinigkeit die Aufmerksamkeit mit unabweislicher tiewall an. Nichts gleicht zum Beispiel der Grossartigkeit eines Sonnenuntergangs in den südlichen Steppen zwischen dem asowschen und kaspischen Meere. Zugleich hebt sich aber auf diesen zusammenhängenden Flächen, wie auf einer leeren Bühne jede menschliche Gestalt, jeder Gegenstand von der unermesslichen Einförmigkeit mit besonderer Schärfe ab; ein Baum, eine Hütte, ein Mensch, ein Pferd, sie erhalten eine grössere Bedeutung, ja fast grössere Dimensionen. Auch besitzen die Hussen, um einen vulgären Vergleich zu gebrauchen, eine seltene Leichtigkeit, die Natur durch beide Seiten des Fernrohrs zu betrachten, sie abwechselnd als Kurzsichtige und als Kernsichtige anzusehn. Mit dieser Gabe verbinden die Hussen die der Klarheit und Schärfe des Ausdrucks. Sie fassen das Bild richtig und lebendig auf, eine Eigenschaft, die sie von dieser Natur erhalten haben, deren Formen und Farben sich durch stete Wiederholung einprägen oder durch ihre! Isolirung hervorgehoben werden. Der Einfluss der Wechsel der Jahreszeiten ist besonders erkennbar in dem Volkstemperament und Volkscharakter. Ihnen dank! der Düsse jene Biegsamkeit und Flustieität der Organe, die durch die Alternirung von Winter und Sommer für alle Klimate wohl vorbereitet sind, ihnen auch die intellectuelle Bildsamkeit, die Leichtigkeit von einem Gefühl oder einem Gedanken zum andern überzugehn, eine Gabe, die mit der erstem übereinstimmt und ihm überall die moralische Acclimatisirung nicht weniger als die physische leicht macht. Ich wäre versucht, diesen Gegensätzen des Klimas auch das zuzuschreiben, was den Hussen mitunter an Regellosigkeit, Feberspannt-heil, Zuchtlosigkeit, Schroffheit eigen ist. .Man wirft ihnen oft den Mangel an ursprünglicher Eigenart vor: es gilt, sieh über diesen Vorwurf und dieses Wort zu verständigen. Zeigen sie wenig davon in der Intelligenz und in den Gedanken, so sind sie oft reich an solcher Ursprünglichkeit im Charakter, Geist und Ausdrucke. Die Dichtung, der Roman, die Malerei, die Musik der Russen sind oft von einer besonderen Originalität. Was ihnen vielleicht fehlt, oder richtiger, wovon soviel Frohen wie von andern Gaben abzulegen Zeit und Erziehung ihnen nicht gestatteten, das ist das Genie der Erlindung. Der Russe entbehrt keineswegs der Individualität, sondern besitzt sie vielmehr oft in grossem Masse in seinen Empfindungen, seinen Neigungen und Lobonsgowohnheiten. Kr ist im modernen und vulgären Sinne des Wortes oft Original, nicht an Denken oder an Intelligenz, sondern an Neigungen und Manieren. Diese Originalität gehl mitunter sogar bis zur Wunderlichkeit, bis zum Sonderlingthum, bis zum Wahnwitz. Joann der Schreckliche, Peter der Grosse, Paul I. sind hiefür eclatante Beispiele. Wenn dieser fehler bei Herrschern auf das individuelle Temperament oder auf den Fieberwahn der absoluten Gewalt zurückgeführt werden muss, der unter den romischen Cäsaren soviel entsetzliche Originale hervorgebracht hat, so linden sich doch Züge derselben Anlage auch unterhalb des Thrones wieder. Bs wäre leicht, eine Reihe von Zügen russischer Originalität zu erzählen, und seit zwei Jahrhunderten hat sich mehr als ein grosser Herr von Petersburg und Moskau, mehr als ein Suworow und Rostopschin auf diesem Gebiete europäischen Ruf erworben. Wunderlichkeit und SonderlingS-weson sind übrigens in den nordischen Ländern weniger selten, als in denen des Südens, in England und den Vereinigten Staaten häufiger als in Spanien und Italien. In dem L'ussland der Leibeigenschaft konnte excentrisches Wesen mit der Anhäufung des Reichthums in wenigen Händen wie mit der unbeschränkten Zügellosigkeit der grossen Vermögen zusammenhängen, deren Inhaber sich Alles zu erlauben pflegen, wie eine andre Art absoluten Königthums rasch blasirt werden und alle Phantasie für ihre Zerstreuungen erschöpfen. In Russland haben der Mangel an politischem Leben und der oft aufgezwungene Müssiggang des Talents lange Zeit dazu beigetragen, die reichsten Anlagen auf Abwege zu fuhren, In den niedern Klassen selbst hat die Last des Elends und der Knechtschaft nicht immer jede Excentricität unterdrücken können; hier hüllt sie sich in eine religiöse Maske. Es lassen sich gar nicht alle die sonderbaren Secten aufzählen, die in den Untergründen der russischen Gesellschaft wuchern, sodass es keine Ueberspahntheit zu geben scheint, die hier nicht Jünger gewinnen könnte. Adlern Scheine entgegen, sind solche bizarre oder zügellose Neigungen in der Religion, wie im bürgerlichen Lehen, wedei' bei einer Nation, noch bei einem Individuum unvereinbar mit praktischem tieist und realistischem sinn. Das positivste Volk, der grösste „matter of faet", der Amerikaner liefert eine Probe hievon. Wenn die .Vergleiche zwischen dem Menschen und dem Klima leicht in das phantastische Gebiet gerathen, SO giebt es doch zwischen dem russischen Volkstemperament und der russischen Natur, wie sie Sich in der Gegensätzlichkeit der Jahreszeiten zeigt, einen Zug der Aehnlichkeit, der schwer ZU verkennen ist. Leide leiden au üeber-treibung, beide gehen leicht von einem Extrem zum andern über. In dieser Beziehung steht es oft mit dein russischen Charakter, wie mit dem Klima Russlands. Die Veränderungen aller Art, die Wechsel in Stimmung, Gedanken, Gefühlen sind dort sehr ausgeprägt, die Schwingungen des Geistes oder des Herzens haben dort einen sehr weiten Sehwingungswinkel, die Altersstufen des Lebens unterscheiden sieb dort oft mehr von einander, als irgendwo anders. Die russische Seide geht leicht von der Erstarrung zur Thätigkeit, von der Sanft-muth zum Zorn, von der Unterwürfigkeit zur Revolte über; in allen Dingen neigt sie zu dem Extremen. Abwechselnd gelassen und jähzornig, apathisch und stürmisch, indifferent und leidenschaftlich kennt der Kusse mehr vielleicht als jedes andere Volk alle Variationen von Frost zu Hitze, von Stille zu Sturm. Der Kusse ist geneigt sieh zu erhitzen und zu begeistern. Fr ist leidenschaftlichen und blinden Neigungen, heftigen Faunen, plötzlichen Anläufen und Ausbrüchen für ernste wie für nichtige Dinge unterworfen, für eine Meinung, für einen Schriftsteller, einen Sänger, eine Tänzerin, eine Mode. Diese Anlag*; tritt im öffentlichen wie im privaten, im nationalen wie im persönlichen Leben hervor und das umsomehr, als sie mittelbar von dem politischen Regime begünstigt wird, das an einem Tage verbietet, was es an einem andern Tage gestattet, und heute zu ermuthigen scheint, was es morgen verurtheilt. Individuum, Gesellschaft. Legierung scheinen gleich geneigt, sprung- und ruckweise zu denken, zu wollen und zu handeln, wie wohl Perioden von Fieber, Energie und Zuversichtlichkeit, wo Alles möglich scheint, in kurzen Intervallen Perioden der Ruhelosigkeit, Trägheit, Entkräftung folgen, wo man an Allem zu verzweifeln oder an Allem das Interesse verloren zu haben scheint. So erklären sich viele von den Widersprüchen und Wechselformen des russischen Lebens. Lei denselben Personen und in derselben Umgebung kreuzen und durchschneiden sich Zweifel und Foborzeugung. Gleichgültigkeit und Begeisterung in der seltsamsten Weise, und man sieht oft die Initiative in den Ideen mit dem Schlendrian in der Wirklichkeit Hand in Hand gehen. Der Kusse lässt sich bisweilen erhitzen und hinreissen, um bald selbst darüber in Erstaunen zu gerathen. Der orientalische Krieg von 1877 und 78 giebt hiervon ein treifendes Beispiel, Dank dem Mangel an Freiheit und dem Mangel an Interessantheit des Innern politischen Lebens, dank den Aufhetzungen einer Presse, die sich glücklich pries, für irgend eine Sache sich enthusiasmiren zu können, dank endlich dem unbestimmten Bedürfniss eines Publicums nach Aufregungen, das der Leere seines täglichen Daseins müde und durch ein System von schmaler Kost und Fasten hungrig gemacht war, — dank diesen umständen erhitzte sich eine skeptische und zu Spott aufgelegte Gesellschaft, die gestern noch fast indifferent gegen die Leiden der Balkanslaven war, in wenigen Monaten zu einer glühenden und unwiderstehlichen Begeisterung für die Seihen und Bulgaren. Ungeachtet des Widerspruchs des Herrschers und der Minister, ungeachtet des spöttischen L'nglauhens der Petersburger begann Russland, von Kopf bis zu Fusse ergriffen, allmälich den Kreuzzug zu einem grossen nationalen Kriege, an den zwei oder drei Jahn! vorher Niemand hätte glauben können, zu einem Kriege, der im Gegensatz zu den Verdächtigungen des Westens weit weniger durch politische Berechnungen, als durch ein Bedürfnis* nach Aeusserung der Sympathie, durch eine plötzliche Explosion lange unterdrückter Gefühle entflammt wurde, die sich Luft machen mussten. Diese Beweglichkeit und Eindrucksfähigkeit, auf die so oft bei den Slaven, bei (hm Bussen wie besonders bei den Polen hingewiesen worden ist, dieses Fehlen des Masses und Gleichgewichts, das so oft von russischen Schriftstellern selbst als ein Mangel ihrer Landsleute beklagt wird, das Alles hat allzuviel l\dieiv"msiininnmg mit einem immer excessiven Klima, als dass es nicht an dasselbe erinnern und mindestens zu einem Theile aus ihm hervorgehen sollte. Die einander ablösenden Gegensätze der Naturerscheinungen scheinen dem Menschen ihren Stempel aufgedrückt zu haben. Auch dürfte man nicht überrascht darüber sein, dass der Russe soviel Widersprüche in sich trägt, da man heim blossen Sprechen von ihm immer in Gefahr geräth, sich selbst zu widersprechen. Bei den Grossrussen ist übrigens diese Veränderlichkeit gewöhnlich durch den praktischen Sinn beschränkt: sie kann bei einem jungen Volke so gut wie bei einem Kinde durch Erziehung, Alter und Erfahrung gemildert werden. Genau betrachtet ist sie Schliesslich vielleicht nur die andere Seite einer guten Anlage und gleichfalls nicht weniger dem Klima, als dem dehnbaren Temperament der Slaven zuzuschreiben. Ich meine die Leichtigkeit der Aneignung, das rasche Auffassungsvermögen, das den Russen in so hohem Masse auszeichnet und von Herzen seine „AcceptivitäP* genannt worden ist. Der Inst inet der Nachahmung, das angeborene Talent der Assimilirung, das bei dem civilisirten Hussen so überrascht, ist mitunter bei dem Manne des Volks angezweifelt worden1;. Aber auch bei diesem ') S. z. II. Mackcn/.ic Wftllace: Russin 1. Ausg, Bd. IL p, 89, glauben wir seine Spur in der technischen Sphäre wiederzufinden, der einzigen, die dem Bauer zugänglich zu sein pflegt, in den mannigfaltigen Geschicklichkeiten des Mushiks, die ihm alle Arbeit, leicht machen und ihm zuweilen gestatten, zehn Handwerke zugleich zu treiben, in der Geschmeidigkeit endlich, mit welcher der russische Soldat und der Kosak sich so rasch den entgegengesetztesten Forderungen des Krieges und Friedens gewachsen zeigen. Bei dem Manne des Volkes durch die Monotonie des Lebens, durch den dem Lauer gewöhnlichen Schlendrian, durch das Hängen an alten Gewohnheiten und durch halborientalische Vorurtheile halb versteckt und gleichsam gelähmt, entwickelt sich diese nationale Anlage frei in den hohem Klassen,bei dem von volkstümlichenVorurtheilen emaneipirten Bussen: sie entfaltet sich auf allen Gebieten zugleich, in den Ideen, den Sitten, der Literatur, ja selbst in der Sprache. Tu dieser Beziehung, wie in vielen andern ist der Busse ganz das Gegen theil des Engländers. Die Geschmeidigkeit seines Fassungsvermögens erscheint unbeschränkt, und diese Leichtigkeit, sich Alles anzueignen, hat der freien Ent-wickelung der russischen Originalität selbst ein Hinderniss werden können. Mit ihren Nachtheilen und mit ihren Vortheilen bleibt diese Geschmeidigkeit einer der hervorragendsten Züge des russischen Geistes. Wenn es nicht immer etwas willkürlich Wäre, unter den gleichzeitigen Fähigkeiten und den zusammenhängenden Neigungen eine Rangordnung zu bestimmen, so könnte man jener Geschwindigkeit die höchste Stelle unter seinen Gaben einräumen. Sie bricht überall bei ihm hervor, im Charakter und Temperament, in dem Geiste, wie in dem Körper und den Organen, welche durch die Gegensätze der Jahreszeiten auf die Probe gestellt, entwickelt und geschmeidig gemacht werden wie in einer Art Gymnastik, weiche die Natur als eine strenge Mutter alljährlich ihnen auferlegt. Hierin liegt auch eine der Ursachen des Erfolges, den der Grossrusse in der Colonisation der weiten Ebenen unseres Continents errungen, indem er sich gleichzeitig nach Norden und Süden ausbreitete und hierbei eine Befähigung zeigte, sich fast unter allen Himmelsstrichen gleich leicht zu aeclimatisiren. Hierin liegen auch seit, zwei Jahrhunderten die dem alten und hoch-müthigen Europa von einem Volke bereiteten l"eberras( hungen, das so lange Zeit für unserer europäischen Welt fremd und unserer Civili-sation widerstrebend galt. Hierin liegt endlich für den Beobachter die Schwierigkeit, zu unterscheiden, was in Bussland möglich und was es nicht ist. Denn diese Gabe der Aneignung, die sich bisher auf die privaten Sitten, auf äussere Höflichkeit, au! Künste und Wissen- scliaften beschränkt hat, kann dereinst sich auf neue Gebiete, auf die Regierung, auf die Gesetze und auf die öffentlichen Freiheiten ausdehnen. Sucht man einen historischen Typus, ein lebendiges Beispiel dieses russischen Charakters, den der Druck der Ereignisse lauge Zeil gehindert hat, in grossen Männern sich ZU entfalten, so weise ich auf den Zar Peter den Grossen hin. In seiner Halbbarbarei, in seinen Ausschreitungen und selbst in seinen "Widersprüchen, in seinen Schwächen und Voreingenommenheiten, in seinen Xeuerungswagnisscn und seinem gesunden, praktischen Verstand, in seiner Verachtung der Hindernisse und seinen positiven Instincten, in seiner weiten Empfänglichkeit des Geistes und seiner wunderbaren Geschicklichkeit der Hand, mit seiner universellen (labe, sich alle Künste und alle Gewerbe anzueignen: so steht Peter Alexejewitch für alle Zeit als der Typus des russischen Nationalcharakters par excellence da. Ks giebt wenig russische Nationalfehler, die sich nicht auch in dem grossen Reformator zeigen, und viele von ihnen entwickeln sich in ihm bis zum Extrem; es giebt aber auch wenige Vorzüge der russischen Nation, die nicht in ihm zu Tage treten, und mehrere von ihnen sind in ihm bis zum Genie entwickelt. Der kaiserliche Zimmerman in Saardam mag wohl von grösserer und festere]- Gediegenheit erscheinen, als die meisten seiner Landsleute, er bleibt doch sichtlich ein Mann desselben Metalls. In dem grossen Reformator treten die beiden äussorsten Gegensätze der Nation, die beiden Hussen zu Tage, die noch SO verschieden von einander sind, dass der eine oft kaum dem andern entstammen zu können scheint, der Mushik und der civilisirte Edelmann, jener in seinem schweren und plumpen Eigensinn, dieser in seiner muntern und beweglichen Geschmeidigkeit — sie beide erscheinen in ihni als zusammengeschmolzen und innerlich verbunden, um sich gegenseitig zu ergänzen. Peter hat gezeigt, dass die russische Biegsamkeit der Energie keinen Abbruch zu thun braucht und dass die slavische Dehnbarkeit mit der Festigkeit sich wohl vereinen lässt. Wenn es überrascht, bei einem einzigen Volke soviel verschiedene und entgegengesetzte Charakterzüge zu linden, so zeigt Peter der Grosse sie in einer einzigen Person vereint und concentrirt. Dieses Zusammentreffen so vieler Vorzüge und Fehler, so vieler über eine Nation vertheilter Züge in einer einzigen Persönlichkeit hat einen seltsamen und ungeheuerlichen Mann entstehen lassen, aber zugleich einen der kraftvollsten und unternehmendsten Männer aller Zeiten, einen der für Leben und Handel bestbegabten, die je die Welt gesehen hat. Wenige Völker gemessen des Vorzugs, einen grossen Mann vor Augen zu haben, in dem sie selbst personificirt sind, deT Selbsl in seinen Lastern als eine eolossale Incarnation ihres (ienius erscheint. Peter, der Zögling und Nachahmer des Auslands, der sichs zur Mission gemacht zu haben schien; der Natur seines Volkes Gewalt anznthun und der von den alten Moskowitern wie eine Art von Antichrist angesehen wurde, Peter ist ein Russe, ein Grossrusse pur excellence. tan Volk, das einem solchen Manne ähnlich sieht, ist einer grossen Zukunft sicher. Wenn ihm auch einige der höchsten Galten, deren die Menschheit Sich rühmt, abgehen, SO sind ihm doch diejenigen eigen, welche politische Macht und politische Grösse verleihen >). Viertes Kapitel. Der russischeCharakter und der NunUsmus, Ursprung und Natur des INihilismus; seine drei KutwickluugsplisiHcii. - In welchen Punkten er mil dein Nft- tionaltemperament zusammenhängt Oombination von Realismus und Ctfysti-cisnuis. In welchem Sinne der Nihilismus eine Beete ist. Mittel der Propaganda. — Radicale Instiuctc des russischen (reiste*. — Die slavische Frau und ,Alliarice universelle" gegründet hat, Bakunin, der kosmopolitische Verschwörer, der Actionsmensch von grösserem Einlluss durch das Wort und die persönliche Gewalt, als durch die Feder und die geschriebene Lehre, hat trotz seiner Beziehungen zu Netschajew und den Verschwörern des Nordens, vielleicht mehr im Auslande auf die Arbeiter der Schweiz, Spaniens und Italiens eingewirkt, als in seiner lleimath auf die russische Jugend1). Während seines langen Lebens, das von einer einzigen und unfruchtbaren Idee durchdrungen war, ist er weniger der Theoretiker oder •Gesetzgeber des nationalen Nihilismus gewesen, zu dessen Colporteur er sich im Westen machte, als die leibhaftige Verkörperung und sozusagen die blinde und unfruchtbare Incarnation desselben. Der Erzvater und geistige Leiter des Nihilismus ist nicht wie ') Netschajew war ein Intrigant, der von Bakunin angeregt, aber aus persönlichein Interesse in Russland eine revolutionäre Gesellschaft organisirt hatte. In der Schweiz ergriffen und in Petersburg vor Gericht gestellt, wurde Ncischajew 1871 für die Ermordung eines seiner Spiossgesclloii, von dem er ver-rathen zu sein meinte, zur Zwangsarbeit, verurlheilt. Herzen und Dakunin ein in den Salons von Petersburg und Muskau herangewachsener Aristokrat, der sein Leben grösstenteils im Auslände verbracht; er ist ein Sohn des Volkes, der Sohn eines Dorf-geistlichen, der nie den Boden Russlands verlassen und nie den Westen bereist, hat, der statt vom „jenseitigen Ufer", von London oder Paris aus zu predigen, in Petersburg unter den Augen der Censur schrieb. Dieser Mann, der in seinem kurzen Apostelthum von 1855 bis lstil auf die .lugend einen Einfluss übte, den seine Missgeschicke nur erhöhen konnten, ist Tschernysehewski. Dieser russische Proudhon oder Lassalle, der für revolutionäre Propaganda zur Zwangsarbeit verurtheilt wurde, lebt seit bald 20 Jahren in Sibirien, wo er 7 Jahn' in den Bergwerken verbracht hat, dann in der Einsamkeit und l'n-thätigkeit alt geworden isl , nach einer der letzten Stationen gegen den Polarkreis hin verbannt, fern von jeder Verbindung mit Europa und der auswärtigen Welt1). Als Schriftsteller kenntnissreich, als Arbeiter unermüdlich, ausgerüstet mit furchtbarer Logik und beissender Ironie, kräftigen und elastischen Geistes, abgeschlossenen und energischen Charakters, aber auch die Schrotlheiten des Realismus mit den berauschenden Träumen eines sentimentalen Idealismus in sich vereinend — so ist auch Tschernysehewski in seinen Fehlern, wie in seinen Vorzügen ganz und gar an Geist ein Russe. Philosoph, Staats-ökonom, Kritiker. Romanschreib er und auf jedem Gebiet der Verbreiter der traurigen Lehren, denen er unter den Misten zum Opfer fiel, hat Tschernysehewski in seinen wissenschaftlichen Abhandlungen die Theorie und den gestimmten Inhalt des russischen Radicalismus dargestellt, in einem bizarren und unverdaulichen Roman aber, den er im Kerker schrieb, das Heldenlied und Evangelium desselben geschalten 1) Die Zeitungen haben im Anfang des Jahres 1*80 fälschlich seinen Tod gemeldet. 2) Tschernysehewski trat um iSöö zuerst mit einer Abhandlung über die ästhetischen Beziehungen der Kunst und Wirklichkeit hervor. Bald ilarauf entwickelte er in einem Essay: „Das anthropologische Prhicip in der Philosophie" ein System materialistischer Transformation, vertrat die principieHe Einheit in der Natur und dem Menschen und führte alle Moral auf das Vergnügen und den Nutzen zurück. 1860 veröffentlichte er in dein Sowrciuennik des Dichters Nekrassow eine Kritik der „Politischen Oekonomie von Stuart Mill", eine ganz socialistische Arbeit (ins Franz. übersetzt unter dem Titel: L'Economie politique jugee par la scieuce, critiqtio des prineipes de Stuart Mill, l'ruxellcs 1874). 18(>.'5 endlich veröffentlichte der Sowremenuik, der bald darauf unterdrückt wurde, unter dem Schleier der Anonymität den Roman: „Was beginnen?", der im Ge-(Bngniss in Petersburg geschrieben ist. Es geschieht wohl Tschernysehewski kein Unrecht, wenn man seinem langen und langweiligen Roman* mehr Gewali Ober die jungen russischen Kopfe zumisst, als seinen didaktischen Abhandlungen. Dieser Mann, dessen Einlluss den Herzens entthronte und dem Sibirien und lange Leiden die Aureule des Märtyrerthums verliehen, wurde von vielen seiner Landsleute als einer der Riesen des modernen Denkens, als einer der grossen Pioniere der Zukunft, als ein russischer Fourier oder besser als ein russischer Karl Marx betrachtet1). Trutz aller Bewunderungen, ungeachtet der wirklichen Originalität seines Geistes, haben die nationalökonomischen wie die philosophischen Ideen Tschernyschewskis nichts wahrhaft Ursprüngliches. Die Form und die Linzelausführungen können neu und subjectiv sein, die Grundlage seiner Theorien gehört Deutschland, England und Frankreich an. Was den Schriften Tschernyschewskis, wenigstens seinem Roman, am meisten ursprünglichen Erdduft verleiht, ist sein mystischer und visionärer Realismus, der bei vielen Nihilisten sich wiederfindet. So gross übrigens die Macht Tschernyschewskis und einiger anderer Schriftsteller derselben Schule über die Jugend gewesen ist, so ist doch der Nihilismus weit davon entfernt 'geblieben, den Lehren des Meisters, den er glorilieirt, knechtisch zu folgen; er entnimmt ihren romanhaften Pictionen mehr, als ihren wissenschaftlichen Ausführungen 2). Von psychologischem Standpunkt könnte man sagen, der Nihilismus der Helden Turgenjews und Pissemskis sei aus der Vereinigung der beiden entgegengesetzten Lichtungen im russischen Volkscharakter hervorgegangen, aus der Neigung zum Absoluten und der zum Realen. Dieser widernatürlichen Paarung ist jenes antipathische Ungeheuer, eint's der traurigsten Kinder des modernen Geistes entsprungen. Wir linden auch hier ein Beispiel jener Auflehnung gegen jeden Zügel und jener Kühnheit in der Spekulation, tue den Russen häutig eigen sind, aber bei ihnen weniger als bei den Deutschon auf Wissenschaft oder Methode Anspruch erheben. Von moralischem und politischen Standpunkt war der Nihilismus vor Allem ein halb instinetiver Pessimismus, an dem Natur und Klima ihr Theil haben, und den tue Geschichte J) S. /.. B, die Broschüre: „Briete ohne Adresse, unvollendete Schrift von Tschernysehewski", ins Franz. übersetzt. Lüttich 1N7-1 und in demselben Jahr in der revolutionären Revue Wperod. ■) Seit L867 klagen die Herausgeber der Werke Tschernyschewskis (Vevcy 1868), dass die .lugend die Lehren des Meisters verlasse, weil sie nur an deren negativen Seiten (iefallen finde. und der politische Zustand grossgozogonDa er überall nur das Sohlimme sah, strebte er darnach, Alles umzustossen, Regierung, Religion, Gesellschaft, Familie, um aus Allem dann eine bessere Welt zu schaffen. Der doctrinäre Nihilismus, der älteste und verbreitetste zugleich, bat nie eine Spur von kritischem Skepticismus besessen, der vergleicht und zerlegt und sich Urthoil und Freiheit vorbehält. Negation, die sich auf den Thron setzt und keine Prüfung zulässt, war er von Anbeginn eine Art umgekehrten Dogmatismus und nicht weniger intolerant, als die überkommenen l'eberzeugungen, deren Joch er von sich weist. In der Unduldsamkeit und Rohheit ihrer Negation, die Allem, was hochzuhalten der Menschheit zur Ehre gereicht, entgegengestellt wurde, Hess sich bei vielen Nachtreten) des llasarow etwas von der Bubenhaftigkeit des ersten Unglaubens, etwas von den zügellosen Seitensprüngen der eben erst emaneipirten Geister erkennen. In diesen Anmassungen der Reife einer Jugend, die ihre Illusionen verloren hatte, noch ehe sie das Leben kannte, brach gleichsam ein verderbtes und doch noch kindisches Wesen hervor. Vielen dieser Adepten waren die nihilistischen Theorieen nichts als eine Art Protest gegen die alten abergläubischen Vorstellungen, die aoeh die Volksmassen beherrschen, gegen den politischen Servilismus. gegen die geistige Heuchelei und die Conventionellen Dogmen, die nur zu oft die hohem ('lassen regieren. Man fragte einen Nihilisten der ersten Schule, worin seine Lehren beständen. „Nehmen Sie Erde und Himmel", antwortete er, „nehmen Sie Staat und Kirche und spucken Sie darauf, das ist unser Glaubensbekenntnisse Ware diese Definition der Spott eines Gegners, so wäre sie doch nicht weniger zutreffend. Das Wort ist übrigens für ein russisches Ohr weniger anstÖSSig, als für unsere westeuropäischen Ohren; spucken spielt im Leben und im Aberglauben der Moskowiter eine grosse Rolle. .Man spuckt aus, um ein Vorzeichen abzuwenden, mau spuckt aus zum Zeichen der fjeberraschung, wie der Verachtung, man spuckt überall und immer2). Der Nihilist gefiel sich darin, auf ]) Herzen schrieb um 1848, lange bevor der Nihilismus Verbreitung hatte: „Der wirkliche Charakter des russischen Denkens entwickelte sich in all seiner Kraft unter Nicolai. Der unterscheidende Zug dieser Bewegung ist eine tragische Emancipation vom Gewissen, eine unversöhnliche Negation, eine bittere Ironie." (I>as russische Volk und der Socialismus.) *) Iwan Turgenjew erzählt irgendwo, dass in Heidelberg, das damals (1865) von vielen, aus den heimischen Universitäten ausgeschlossenen russischen Studenten besucht wurde, ein nihilistisches Watt erschienen sei unter dem Titel: „Was auch komme, ich spuck' darauf. Alles zu speien; er liebte es, den Geist der Ehrerbietung und Demuth herauszufordern, welcher heim Mann des Volkes so Lebhaft ist, das sich vor seinen Vorgesetzten, wie vor seinen heiligen Bildern noch zu Hoden beugt. Es ist dies ein Zeichen des grellen Missklangs der Vorstellungen und Gefühle, an dem die Nation leidet. Auf moralischem, wie auf physischem Gebiet, im Menschen wie in der Natur stossen zwei Extreme auf einander: der naivsten politischen und religiösen Ehrfurcht entspricht der frechste intellcctuelle und moralische Cynismus. Der rohe und widerwärtige Realismus, der im Nihilismus so oft zu Tage tritt und auch in den russischen Schulen bei der Mehrzahl der Studirenden sich bemerkbar macht, konnte nicht verfehlen, die aufgeklärten Geister und die Regierung in Schreck zu setzen. Es galt, in der Jugenderziehung selbst ein Heilmittel gegen diesen ungesunden Trieb der Jugend und des Volksgeistes, gegen diese Art von spontanem Naturalismus zu suchen. Auf die Religion, die in Russland über die gebildeten Classen nur geringe Macht hat, auf die Orthodoxie, die durch den compmmittirendcn Schutz der Regierung und durch die Unvollständigkeit der religiösen Freiheit mehr geschwächt als gekräftigt wird, war nur wenig zu zählen. In Ermangelung eines bessern Auswegs grill man — jedoch erfolglos — muh den classischen Studien. Die schönen Wissenschaften und die todten Sprachen, die doch in der Literatur das neutralste Gebiet sind und den Geistesverirrungen der Gegenwart am fernsten stehen, schienen das beste Correctiv gegen den übertriebenen Naturalismus der modernen Basarow zu sein. Unter dem Einfluss Katkows und der Moskauschon Zeitung hat das Ministerium der \Olksaufklärung unter der Leitung des Grafen Tolstoi lange Zeit daran gearbeitet, die ganze studiremlo Jugend der klassischen Schule und damit einer Art idealistischen Gymnastik und Dressur zu unterwerfen. Das Merkwürdigste ist. dass die Sprachen und Literaturen, die so plötzlich zur Rettung der Gesellschaft angerufen wurden, lange Zeit für gefährlich gegolten hatten. Unter dem Kaiser Nicolai waren die griechischen und lateinischen Klassiker der Begünstigung des Geistes der Empörung verdächtigt worden. Demosthenes und Cicero, alle Republikaner von Rom und Athen galten für Förderer revolutionärer Gesinnungen. Vielleicht waren sie wirklich schlechte Lehrer für Kinder, die dazu '"stimmt waren, dereinst unter einem autokratischen Regiment zu leben. Wenn die Alten auch nicht ganz verbannt waren, so war doch der literarische Unterricht beschränkt und verstümmelt worden. In den von Nicolai geduldeten Schulen war den realen Wissenschaften, namentlich den Naturwissenschaften der Vortritt gelassen und damit die russische Entwicklung nach der Richtung geleitet, wohin sie von selbst gravitirte. Mit einer jener gewaltsamen Wendungen, die allezeit in Russland so häufig gewesen sind und du roh den Charakter der Regierung erleichtert werden, kehrte man unter dem Kaiser Alexander ganz plötzlich zu dem Alterthum und den Classikern zurück. .Man glaubte die Entdeckung gemacht zu haben, dass das ausschliessliche Studium der Naturwissenschaften zum Positivismus führe. Um ihrem realistischen Einfluss ein Gegengewicht zu geben, wandte mau sich der alten Literatur zu, die noch Tages vorher mit Misstrauen behandelt worden war. Eben noch Mitschuldige der Revolution wurden Griechisch und Latein jetzt in den Augen der Legierung zu Stützen der sittlichen Ordnung. In einem Lande, wo man beanspruchte, die Griechen und Römer nicht brauchen zu können, stiess diese Wiedereinführung der klassischen Studien dem Nationalgefühl, das sie auf andern Weg leiten sollte, vor den Kopf. Ihr widersetzten sich sogleich heftig alle praktischen und positiven Instinkte des Grossrussen, der durch eine solche Behandlung um SO mehr empört wurde, als die Ungeschicklichkeiten und Härten der Hand, die sie ihm auferlegte, sie ihm noch peinlicher und empfindlicher machten. Ungeachtet aller Bemühungen de- Grafen Tolstoi in 15jähriger Verwaltung1) haben die antiken Studienden realistischen und radiealen Tendenzen der.lugend keinen Zügel anlegen können. Wie um gegen den Classicismus zu protestiren, haben der Materialismus und mit ihm der revolutionäre Nihilismus unaufhörlich in den Schulen zugenommen, die durch kleinliche Beschränkungen und nichtige, Lehrer und Lernende zugleich treffende Scherereien gequält und gereizt wurden. Um über ähnliche Richtungen, die mittelbar von den gesellschaftlichen und politischen Zuständen gefördert werden, zu triumphiren, genügen eben eine Schulreform und eine Aenderung des Lehrprogramms keineswegs. Der grobe negative Materialismus ist jedoch noch nicht der ganze Nihilismus: dieser Janas hat noch ein anderes, sein' abweichendes und doch ebenso russisches Gesicht, den Mysticismus. Diese Menschen, die jede Glaubensform, jedes metaphysische und religiöse System so 1 Graf Tolstoi, der der unpopulärste Minister geworden war, musste sein Amt 1SSO unter der versöhnlichen Verwaltung von Loris-Melikow niederlegen. Immer von Katkow unterstützt, ist er ab .Minister des Innern im Jahr 1882 wieder zur Macht gelangt. Die Frage der classischen Studien bleibt eine der st reit igst cn in Russland, sehr verachten, halten seihst doch ihre Speeulationen und TräUme, und zwar sind diese weder sehr schüchtern noch sehr inassvnll. Diesem materialistischen Realismus Liegt eine Art von Idealismus zu (1 runde, der mit Leidenschaft in den dunklen Dereich der Möglichkeiten hineinstürmt. Aus dem Schosse dieses Pessimismus, der die ganze gesellschaftliche Ordnung der (legenwart verwirft, entspringt ein zügelloser Optimismus, der ganz naiv die Wunder einer utopischen Zukunft wie haare Münze nimmt. In Russland ist die Zahl der jungen Leute beiderlei Geschlechts gross, für die es die tiefste aller Beleidigungen und die grösste Erniedrigung ist, Idealisten genannt zu werden bdeT für solche zu gelten, die sich aber nicht scheuen, sich in den Materien, die hiez-u am wenigsten sich eignen, den kühnsten Traumgebilden nachzujagen. Gerade auf dem Gebiete der Volkswirtschaft und Gesellschaftslehre, auf dem Gebiete der positiven Thatsachen erlaubt sich der Busse, gleichviel ob Nihilist oder nicht, am liebsten den Rausch der Utopiecn und die Jagd nach dem Absoluten. Gerade . auf den Pfaden des Realismus und Utilitarismus verfällt er Theorieen und Chimären: es ist gleichsam ein Gang im Kreise: indem er sich von der Speculation entfernt, kommt er wieder auf sie zurück, wie ein Reisender, der über das Land der Antipoden hin von der andern Seite wieder die Heimath erreicht. In der Sphäre, welche die grösste Masshaltung und Nüchternheit des Denkens fordert, lässt der Russe (und er nicht allein) seiner Einbildungskraft den freisten Lauf. Haben wir nicht bei ganz anderer Wissenschaft und Methode einen ähnlichen rückgreifenden Gedankengang an den entschiedensten Gegnern der Metaphysik, an einigen Positivisteu zum Beispiel wahrgenommen, die in Fragen der Volkswirtschaft und Politik mitunter zu Schlüssen gelangt sind, welche mit ihrer Methode so wenig übereinstimmen und in Wirklichkeit so wenig positiv sind? Dieser bei der Mehrzahl . der Socialisten und Radicalen so häufige Widerspruch, diese Art überraschender Gedankenumkehr, die in den negativsten Schulen sich aus dem unabweislichen Bedürfnis« nach dem Ideal und dein Glauben an eine bessere Welt erklärt, tritt nirgend häufiger und nirgend schärfer zu Tage, als bei den Russen. Auf diesem Gebiete zeigt der nationale Geist alle seine Gegensätze, sein Misstrauen und seine Nichtachtung aller überkommenen Glaubenslehren, sein naives Vertrauen auf zweifelhafte Thesen und seine Freude an Paradoxen. Tocqueville sagt, der revolutionäre Geist wirke heutzutage wie der religiöse. In dem heutigen Russland ist dieses Wort zutreffender, als irgend anderswo. Für viele junge Leute ist die Revolution eine Religion geworden, deren Dogmen ebensowenig bestritten werden, wie ein geolenbartes Bekenntniss, und die ihre Bekenner und Märtyrer hat, wie ihre Götter und Idole. Bei ihnen hat diu Negation die Form und den Charakter des Glaubensbekenntnisses angenommen; sie hat dessen enthusiastische Gluth, dessen düstere und ansteckende Exaltation. Von diesem Gesichtspunkt aus war die gewöhnliche Auffassung im Auslande, die früher den Nihilismus für eine Secte nahm, nicht so falsch, als sie wohl schien. Mit seinem absoluten, keine Kritik ertragenden Geiste, mit seinem blinden Glauben und seiner leidenschaftlichen Hingebung ist er wirklich eine Art von Cultus, dessen tauber und gefühlloser Gott das in seiner Erniedrigung angebetete Volk ist, — eine Art von Kirche, deren vereinigendes Hand die Liehe zu diesem misskannten Gotte und deren Gesetz der Hass gegen dessen Verfolger ist. Diese ..Nihilisten", Lästerer aller überirdischen Erwartungen, Verächter aller spirituellen Neigungen, sind in ihrer Weise doch auch wieder Gläubige und Mystiker. Man erkennt das oft in ihren Worten und Schriften, wenn auch die Mehrzahl aus der Verachtung der Poesie als eines Kinderspiels Beruf macht. Diese Feinde alles Aberglaubens und aller Gottesverohrung, die in den edelsten Hingebungen nur eine Reflexbewegung oder einen rafiinirten Egoismus sehen wollen, ehren die Helden und Heldinnen ihres Kampfes gegen die Gewalf mit einer Art von poetischer ('nnonisirung. Sie feiern die Märtyrer ihrer Sache mit einem lyrischen Schwünge und einer Verehrung, die woniger modernen Verschwörern, als Heiligen auf Altären zu gebühren scheint1). Wer den berühmten Roman von Tschernysehewski: „Was beginnen?" gelesen, wird über die eigciithümliche Verbindung von Mysti-cismus und Realismus, von ganz prosaischen praktischen Leobachtungen und vagen, verworrenen Träumereien in dem wunderlichen Werke des radicalen Doctrinärs erstaunt sein. In dieser langen und schwerfälligen Erzählung, die uns die Reformatoren der Gesellschaft und die Weisen der Zukunft schildern will, werden der Heldin in *) Als Beispiel luet'iir mögen einige Verse dienen, die einer der Heroinen der grossen politischen l'rocesse, der Lydia Eigner gewidmet wurden, die in Zürich und Paris .VIediein studirt hatte: „Gross ist, Jungfrau, der Eindruck Deiner zauberischen Schönheit, doch grösser als der Zauber Deine- Angesichts der Iteiz Deiner Seelenreinheit. Schmer/erfüllt ist, das liild des Heilands, tiefbetrübt sind seine göttlichen Mienen, aber in der unergründlichen Tiefe Deiner Augen liegt noch mehr lache und Leid". (Mädchenmord, den die russische Regierung begangen: (lenf 1^77 russ.j. Ycrgl. „Bildnisse von Revolutionären" unter (hau Pseudonym, Stepnäk in der „Russin ISotteranea", Mailand 1.SS2, mit einer Vorrede von Lawrow, (ital.). Symbolen und Träumen die eigenen Schicksale, die Bestimmung der Frau und der Menschheit offenbart Gewiss konnten diese sehr durchsichtigen Allegorieeu dem bereits eingekerkerten Verfasser durch die Xothwendigkoit dictirt sein, die Censur nicht allzusehr in Aufregung zu setzen. Aber neben diesem allgemeinen Mysticismus erscheint in dem Roman des Gefangenen eine naturalistische Ascese. die uns noch seltsamer berührt. Der ideale Revolutionär, der vollendete Typus der „neuen Menschen", Rachmetow, besitzt nicht blos alle sittlichen Vollkommenheiten der erträumten solidarischen Brüderlichkeit: er gefällt sich auch wie ein christlicher Anaohöret oder ein indischer Büsser darin, auf alle Lebensfreude und allen Sinnengenuss zu verzichten; er liebt Entsagung und Abtüdtung, um seinem leidenden Gotte, dem unterdrückten Volke, ühnlirh zu werden. Wenn man ihm Früchte anbot, ass Rachmetow nur Aepfel. weil dies die einzige Frucht ist, die das Volk in Kussland essen kann. Trug er auch kein Busser-hemd, so geliel sich dieser Priester der Rechte des Fleisches doch darin, statt in einem Bett auf einer Filzdecke zu schlafen, die mil kleinen, zolllangen Nägeln garnirt war1). Ohne Zweifel giebt es ausserhalb der Romane wenig Raehmctows: ein allzu grosser Theil der Bewunderer Tschernyschewskis überlüsst sich der in ihren traurigen Lehren gerechtfertigten Ziellosigkeit, Doch findet sich bisweilen im wirklichen Leben ein derartiger Stoicismus und eine Verachtung derselben materiellen Genüsse, die für Andere gewaltsam gefordert werden. Guter den Neuerern beiderlei Geschlechts, Welche das Recht der freien Liebe fordern und diese oft üben, giebt «'s einige, die in stolzem Selbstwidersprueh ihre Ehre dreinsetzen, die beanspruchten Rechte selbst nicht zu gemessen. Das ist natürlich besonders bei den Frauen der Fall, die immer geneigter zu Widersprüchen sind und auch den Vorirrungen einen gewissen Adel zu geben trachten. An einigen dieser Anhängerinnen des Nihilismus, an jungen .Mädchen, die dessen glühendste Preschten und mulhigsten Missionäre sind, lässt sich am besten erkennen, was dieser abstossende.Materialismus doch an edlen Gefühlen und unbewusstem Idealismus in sich bergen kann. Unter diesen Frauen, welche die Beseitigung der Familien und die freie Verbindung der Geschlechter predigen, unter diesen jungen knrzgesohorenen Mädchen, die sich in dem Gebühren und in der Rede- ') Hier folge einer der (Jrundsätzo Rachmotows: „Wenn wir verlangen, dass der Mensch das Leben ganz geniessc, müssen wir durch unser eigenes Beispiel beweisen, dass wir dies nicht zur Befriedigung unserer |torsönliehon Leidenschaften, sundern für den Menschen im Allgemeinen verlangen. weise der jungen Männer gefallen, triftt man nicht selten solche, deren persönliche Führung, weit entfernt von Gebereinstimmung mit ihren Cynischen Lehren rein, und vorwurfsfrei bleibt trotz allen Anseheins eines abenteuerlichen und lockeren Lehens, trotz jener Art moralischer Vermischung, in der die besten unter ihnen sich zu gefallen seheinen '). Der Nihilismus hat seine Jungfrauen; viele von diesen zwanzigjährigen Verschwörerinnen haben eine um so verdienstlichere Tugend mit nach Sibirien genommen, als ihre Ltdiren auf solche kein Gewicht legen. Noch seltsamer: Der Nihilismus hat seine mystischen und platonischen Vereinigungen, seine Ehepaare ohne Ehe gehabt, die VOT den Augen der Welt offenkundig einander angetraut, — — doch 80 lebten, als wären sie das nicht. Man nannte das in der Seite eine lietive Heirath. Seit dem Netschajew-Frocess im -fahr LS71 haben fast alle politischen Untersuchungen einige solcher sonderbaren Vereinigungen aufgedeckt Die Schwierigkeit liegt darin, zu versieben, was die Revolutionäre zu dieser Heirathskomodie führte. Für viele, namentlich für die jungen Mädchen war es ein Mittel der Emancipation zur Erleichterung der politischen Propaganda. Der Jungfrau, die für die heilige Sache gewonnen worden, bot man einen Gatten, um ihr die Freiheit der verheiratheten Frau zu geben; bisweilen war es derselbe Mann, der sie in die Lehren des Nihilismus eingeführt und bekehrt hatte, häufiger ein Freund, mitunter ein Unbekannter, der für diesen Fall in Anspruch genommen wurde. Solowiew, der Unternehmer eines der Attentate auf den Kaiser Alexander IL, hatte in dieser Weise geheirathet. In Wirklichkeit vermählte sich die Braut nur der Secte, ihre magere Mitgift floss in die gemeinsame fasse, und oft trennten sich die beiden Gatten schon am Tage der Hochzeit, um Jedes für sich die Propaganda in die Weite zu tragen. So machte es auch Solowiew, und als seine Frau und er aus der Provinz nach Petersburg kamen, wohnten sie hier getrennt von ein- b In den Universitätsstädten sieht man häutig Studenten und Studentinneu neben einander wohnen, Ihre Zimmer sind nur durch dünne Scheidewände oder durch Thören getrennt, die mit einem Schrank oder einem Bett verstellt sind. „Die jungen Männer", sagt ein seit lange in Russland awsässigcr, „suchen mit Vorliehe die von weiblichen Studenten bewohnten (Quartiere, du diese ihnen tausend kleine Dienste erweisen. Ea muss beiläufig hinzugefügt werden, dass in diesen gemischten Wohnungen die grösste Sittlichkeit herrscht." Belm, de Molimin, Journ. des Economistes 1 Mai 1HHO. Dieses häutige Heieinander-wolinen scheint unabhängig von seinen moralischen rebclständeii auch zu der Exaltation* der jungen Leute beiderlei (ieschlechts beizutragen, die sich gegenseitig aufregen und überreizen. ander1). Für Einige war die fictive Ehe eine Association, eine Art gemeinsamen Wirkens zweier Gameradon; für Andere konnte sie eine Art Zeugniss dafür sein, wie wenig sie sich aus einem von der Kirche gesegneten, von Staate sanetiunirtou Hunde machten, eine Form, sich über Vorort heile hinweg und ausserhalb der Gesetze der Gesellschaft ZU stellen, indem sie. sich diesen scheinbar unterwarfen. Der Mann genoss die Rechte nicht, die ihm Religion und Gesetz ertheilten; die Frau bewahrte in den gesetzlichen Randen ihre Freiheit; nachdem sie den gewöhnlichen Verbindungen ihre Verachtimg bezeigt und sich dem Gatten versagt hatte, konnte sie mit Einwilligung des letztem freie Liebe üben. Für einige Andre endlich wurde die fictive Ehe eine Art von Noviziat oder Vorbereitungzseit, die nach einigen Monaten oder Jahren der Prüfung einer natürlicheren Vorbindung Raum gab. So leben im Tschernyschewskis Roman Wera und Lapuchow zuerst wie Bruder und Schwester zusammen in zwei durch einen neutralen Raum geschiedenen Quartieren unter demselben Dach, bis eine einzig«! Kammer die Gatten vereint und der Ehemann die gegenseitige Liehe eines setner Freunde und seiner Frau entdeckt und bescheidentlich, um ihnen alle Verlegenheiten und Scrupel zu ersparen, verschwindet — mit dem Vorbehalt jedoch, nach einigen Jahren unter anderem Namen wiederzukehren, um dann als guter Camerad Zeuge des Glückes des neuen Paares zu sein. In der Propaganda des Nihilismus während der Periode seiner geheimen, socialistischen Predigt haben sich der Glaube, der Enthusiasmus, die religiöse Hingebung seiner Jünger am deutlichsten kundgegeben und zwar nicht blos in der Verwegenheit ihrer Attentate noch in der Statthaftigkeit im Ertragen der Deportation und des Todes; diesen traurigen Muth vor dem Richter oder Henker haben oft auch andre Soetirer und Revolutionäre in andern Ländern bewiesen; keine Thorheit ist so toll, dass sie nicht Gläubige und Märtyrer fände. Die Macht der Exaltation eines slavischen Gemüths tritt hier jedoch in einer eigentümlicheren Weise hervor. Was dein heutigen russischen Nihilismus allein eigen ist, das ist die Art und Weise, sich an das Volk zu wenden, „ins Volk zu gehen" (itti w narod), wie der übliche Ausdruck lautet. Um diesem Volke, dem sie ihre Doctrinen bringen wollen, verständlicher zu werden, um selbsi ') Diese Thatsachen sind durch den Process Solowiew ans lacht gebracht. I in die Widersprüche in solchen Existenzen ganz klarzulegen , will ich erwähnen, dass Solowiew vor den Richtern erklärte, die Nacht, die seinein Verbrechen Voranging, in einem sehlechten Hause zugebracht zu haben. (las Volk besser zu verstehen, bemühen sich die Propagandisten, sich anter dasselbe zu mischen, sich ihm zu assimiliren, sein Leben der Entbehrungen und der Handarbeit zu theilen und die Sitten und Vorurtheile der Bildung zu vergessen. Hierin scheinen die Missionäre des Nihilismus die ersten Apostel des Christenthums nachahmen zu wollen. Hat man wühl in irgend einem andern Lande junge Leute von guter Familie, Studenten der Universität Tracht und Sitten ihrer gesellschaftlichen Classe ablegen, Bücher und Feder verlassen und in Schmieden und Werkstätten arbeiten sehen, nur um besser das Volk kennen zu lernen und es mehr zu ihren Lehren heranziehen zu können'?1). In welchem Lande sieht man gut erzogene und gebildete junge Mädchen, die von einer ausländischen Reise zurückgekehrt sind, sich glücklieh schätzen, wenn sie die Stelle einer Köchin für eine Werkstatt linden, um dem Volke näher sein und persönlich die Arbeiterfrage Studiren ZU können?2). In Russland, \vu Sitten, Ideen und selbst die Tracht grössere Schranken zwischen den einzelnen Ständen errichten, muss solche sociale Erniedrigung sicher peinlicher als irgendwo anders sein. Finden wir aber nicht in dieser Art der Propaganda und des Suchens nach unmittelbarer Berührung mit dem Manne des Volkes trotz aller Verirrungen den positiven Listinct, den realistischen Sinn des Hussen wieder? Statt in den nebelhaften Regionen der Theorie schweben zu bleiben, steigt er zum Arbeiter und Lauer hinab, in Hütte und Werkstatt, in Schule und Gemeindehaus3). In ihm mischt sich so auf seltsame Weise der praktische Sinn mit speeulativen Kxcentricitäten, und eine Art von Idealismus scheint auf den entschiedensten Naturalismus gepfropft zu sein. Nichts ist wohl dem Beobachter schmerzlicher, als bei den jungen Leuten beiderlei Geschlechts eine solche Verbindung von entgegengesetzten, fast gleich extremen Vorzügen und Fehlern, als dieser ') Dies haben z, B, der Fürst Tsitsianow und seine Genossen in hvauo-Wosnessensk (Procoss v. L87Ö) gelhan ; ebenso Solowiew bis 1878. Andre Agi-tatore hatten gleichfalls ein Handwerk erlernt und Werkstätten in verschiedenen Ställen aufgeschlagen, so eine Schlosserei in Tula, eine Tischlerei in .Moskau, eine Schuhmachcrwerkstatt in Saratow u. s. w. -> Aussage eines jungen Mädchens im l'roccss des Fürsten Tsitsianow 1S77. Die Proccsse von 1K7H—H2 haben andre Fälle dieser Art an den Tag gebracht. Solchen Vorbildern ist die Heldin in Tugenjows .,Neuland" entnommen. :|) Liu Mittel der Propaganda, das die neueren Proccsse aufgedeckt haben, ist das, Dortschullehrer oder (ieiueuideschrciher zu werden. Solowiew halte zu Bolchen! Zwecke beide Berufsgattungen betrieben. Viele Agitatore beiden < !e-sehlechts ergriffen aus gleichem (Irumle den ärztlichen Beruf. Missbrauch der höchsten und edelsten Triebe des menschlichen Herzens im Dienste unseliger Doctrinen. Wie dem auch sei, Wie empörend in seinen Principien, wie verdammenswerth in seinen Attentaten der Nihilismus sich zeige, so enthüllt er doch — das lässt sich nicht in Abrede stellen — einige der Vorzüge des russischen Geistes und Charakters und gerade solche, die man diesem oft abzusprechen versucht ist. AVenn er einige der unerfreulichsten Seiten des nationalen Temperaments grell zu Tage fördert, so beleuchtet er auch mit unheimlichem Schimmer eine der edelsten und zugleich unscheinbarsten Seiten. Er zeigt uns dieses so oft der Passivität und der geistigen Erstarrung bezichtigte Volk fähig der Energie und Initiative, fähig des ernsten und thatenlustigen Enthusiasmus, fähig endlich ganzer Hingebung an Ideen, ja ich wage es zu sagen, von diesem Gesichtspunkt betrachtet, gereicht diese traurige Erscheinung der Nation, die an ihr leidet, zur Ehre. In Uussland sind nicht wie anderswo Elend und Unwissenheit, Begierde und Ehrgeiz die kräftigsten Bindemittel des revolutionären Geistes, sondern vielmehr oft hohe und edle Leidenschaften und Gefühle, die selbst in ihrer Vorirrung grossherzig sind. Die Leide, die sieh für Apostel der allgemeinen Menschheit halten, wissen, wo es noth Unit, an den Arbeiten der Niederen und an den Leiden der Armen theilzunehmen; sie wissen es wohl, dass in ihrem Vaterland die Devolution noch keine Carriere und noch kein Spiel ist, in dem der Ehrgeiz Alles zu gewinnen und wenig zu wagen hätte. Die Mehrzahl der „Nihilisten", wenigstens derjenigen, die in den Processen liguriren, besteht aus sehr jungen Männern und sehr jungen Mädchen. Aus der Jugend und zwar aus der frühen Jugend recru-tirt das revolutionäre Glaubensbekenntniss fast alle seine Nooph\len. Bei den meisten scheint das reifere Alter wenn auch nicht Zweifel, so doch Abkühlung oder Entmuthigung mit der Einsicht zugleich zu bringen. Ist es nicht eine eigentümliche Thatsache, dass in den zahllosen politischen Processen der letzten zehn Jahre fast nur junge Leute auftreten? Unter den verurtheilten oder verhafteten Verschwörern sind Männer von 30 Jahren schon selten, wenige haben 25 Jahr Überschritten, viele sind minderjährig1). *) Ich greile aufs (Jerathewohl einen politischen Process heraus, der im Juli 1880 hi Kiew zur Abnrtheilung kam. Unter etwa 20 Angeklagten hatte nur einer, der einzige Bauer in der Gruppe, das dreissigste Jahr überschritten; mir zwei, ein Edelmann und ein Popeiisohn waren 27, drei, darunter eine Krau 25, eine andre Krau. 21, vier 23, zwei, tinler denen ein Mädchen 22, zwei 21 Jahre. Ls waren endlich darunter je einer von 20,19,18 und 17 Jahren. Die politischen Proeesse in Petersburg und andern Städten würden ungefähr dieselben Ziffern Leroy-Beaulieu, Reich d. Zaren u. cl. Kuhhuh, 11 In einem Lande, in dem die radicalen Ideen schon seit mehr als einer Generation in die Schulen übertragen werden, könnte die Statistik zur Annahme führen, dass das Lebensalter an dieser Gährung der Negation und Revolution viel Schuld habe. Russland ist nicht das einzige Land, in dem junge Leute, die allen Chimären zugänglich waren, nach Ablauf von 10 oder 15 Jahren positive Menschen werden und ohne Zögern dann die Principien zu dunsten der Interessen dahingehen. Nichts ist überall so allgemein, als die Bekehrungen, die dem Politiker zur Beruhigung dienen mögen, aber den Moralisten betrüben; aber in Russland ist mir oft der Gegensatz zwischen den Alterstufen, zwischen Jugend und Reife schärfer und strenger erschienen, als anderwärts. Vielleicht wird der Russe — dank seinem praktischen Sinne — in Allem, was sich auf Politik bezieht, rascher von den revolutionären Träumereien enttäuscht, rasche]- von dem Missverhältniss zwischen dem Ziel und den Mitteln der Agitatore überzeug!. Vielleicht liegt hierin aber auch ein anderer Zug des nationalen Charakters, ein neues Anzeichen seines Hanges, aus einem Extrem in das andere zu fallen. Immer ist es merkwürdig, dass in wenigen Ländern Eltern und Kinder so schwer sich verstehen. In Bezug hierauf bleiben die Bilder, die Iwan Turgenjew in seinem Roman „Väter und Söhne" giebt noch oft wahr. In der Berührung mit dem realen Leben gewinnen die praktischen und positiven, die egoistischen Instincte gewöhnlich wieder die Oberhand über die revolutionäre Romantik und den utilitarischen Idealismus, bis sie diese ganz ersticken oder in die ruhige Sphäre der Träume bannen, wo die gewagtesten Theorieen den bürgerlichsten Verstand nicht mehr beirren. Daher die vielen jungen Utopisten, die Alles zu zertrümmern schwören, und die vielen gesetzten Männer, die sich dahin resignirt haben, Alles zu ertragen. Daher — mit einem Worte — so viele Russen, bei denen die Ideen niemals den Interessen in den Weg Inden, bei denen der kühnste speculative Radicalismus sich leicht mit platten Sorgen um Erwerb oder um Carriere verbindet. Hat man dieser von den Lebensjahren vollzogenen Bekehrung die besondere Wandlung ganzer Generationen, wie etwa der von IS<>(> zuzuschreiben? Keine Generation hat zu irgend welcher Zeit mehr tHauben an das Gute, mehr Vertrauen zu den improvisirten Institutionen , mehr Geschmack an den liberalen Neuerungen gehabt. Und bei der Mehrzahl jener Männer, die damals leidenschaftlich den ergeben, Unter den Urhebern der Hauptattentate war Mirski, der an hellem 'tage und /u Pferde auf den GJeneral Drenteln schoss, kaum 18 .lahre alt. Beformerj Beifall spendeten und täglich auf neue drängten, hat nun die edle Sorge um die moralischen Interessen und um die \\ ieder-gehurt des Landes in wenigen Jahren dem Skepticisinus, der Indifferenz und einer nur allzuoft ausschliesslichen Hingabe an materielle und persönliche Vertheile den Platz geräumt. Mine solche moralische Abspannung nach einer reberreizung mehrerer Jahre isl gewiss überall nur zu natürlich; haben nicht wir selbst nach jeder unserer Revolutionen Stunden der Mattigkeit und der Erschlaffung gehabt? Nichts destowen ige r verdient diese Lrscheinung in Kussland besonders hervorgehoben zu werden. In dem russischen Gemüth scheint die Entmuthigimg immer dem Enthusiasmus auf dem Kusse zu folgen; gleich an die Exaltation knüpft sich die Niedergeschlagenheit. Liegt der Fehler im politischen Regime, liegt er im Temperament des Volkes? Vielleicht in jenem und in diesem zugleich. Der Nihilismus, der russische Radicalismus ist am häufigsten nur eine Sache des Lebensalters; man könnte ihn eine Jugendkrankheit nennen und zwar nicht blos beim Individuum, sondern auch bei der ganzen Nation1). Die intellectuelle und politische Jugend, die historische L'nerfahrenheit Russlands sind es. was den Russen in vielen Beziehungen so geneigt zu speculativen Kühnheiten, so hoch-müthig gegen fremde Erfahrung sein und fest auf eine sociale Wiedergeburt vertrauen lässt. Zu diesem Hange gesellt sich eine geheime Ligenliebe. Selbst wenn der Russe die Ideen des Westens aufnimmt, übertreibt er sie gern; er gefällt sich darin, uns zu überbieten, er setzt seinen Stolz darein, uns in revolutionärer Gesinnung wie in andern Dingen zu übertreffen. Später, als die andern Völker Europas herangewachsen, gezwungenermussen Schüler dieser und in diesem Lewusstsein gedemfithigt, so strebt er darnach, seine Lehrer in allen Dingen ZU überholen. Dieses jüngste Kind erklärt seine altern Geschwister leicht für ängstlich und zurückgeblieben. Der Russe *) In einer russischen l.rochürc ,,\\" uliku WTemeni" (Zur l'eberfülirung 'ha-Zeit, lsisi) hat ein humoristischer Schriftsteller mit zugleich nationalen und aristokratischen Tendenzen, der Fürst Meschtsehorski, von dem Nihilismus eine pathologische Erklärung gegeben, die wenn auch etwas paradox, doch nicht ohne Wahrheit ist. Nach ihm wäre derselbe eine Art Nerveideiden, das aus I5lul-annuth und dem Mangel au Muskelübung in den Schulen entstanden ist. Man konnte diese Beobachtung verallgemeinern und sagen, dass ausser dein Mangel an Gleichgewicht zwischen den körperlichen und geistigen Anstrengungen die schlechte Hygiene, die schlechte Kost der meist schlecht Wohnenden, schlecht genährten und bisweilen schlecht gekleideten Studenten grosse Schuld an der Krankhaften Gehirnerhitzung so vieler jungen Leute beider (loschlechter habe. (S- Bd. II, Buch VI, Oapitel Il.i jeder Richtung hat häufig dem Westen gegenüber die Empfindung junger Leute gegenüber reifen Männern oder Greisen; selbst wenn er an unsern Ideeen und Lehren Gefallen findet, so ist er doch zu dem Glauben geneigt, dass wir uwlerwegs stecken bleiben, er aber vermisst sieh an das Ende aller Wege und Ideeen zu gehn, welche Andere seinen Rücken öffnen. „Unter uns, was seid ihr europäischen Völker?" sagte mir vor 20 Jahren schon einer der ersten Russen, die ich kennen gelernt. „Graub&rte, die Alles geleistet haben, was sie leisten konnten; vernünftigerweise lässt sich von ihnen nichts mehr hoffen. Es wird uns nichts schaden, sie bei Seite zu schieben, wenn unsere »Reihe gekommen sein wird." — Aber wann wird ihre Reihe kommen? Viele werden des Wartens müde. Leider ist dieser nationale Dünkel weit davon entfernt, immer eine Arbeit oder eine wirkliche Anstrengung in sieh zu begreifen. Nur zuviel Russen erwarten die grosse Zukunft ihres Vaterlands wie ein Ereigniss, das eines Tages eintreten muss, wie eine Frucht, die am Baume reift: nur zuviel andere verachten das Erreichbare, verhöhnen als ungenügend die Freiheiten, deren Vorbild der Westen ihnen bietet, und nehmen die Miene von Rlasirten und Skeptikern an: die ungeduldigsten aber, die sich einbilden, ihr Land mit einem Schlage der Zauberruthe verwandeln zu können, greifen unterdessen ohne Bedenken zu den tollsten und strafbarsten Machinationen. Die radicalen Instincte des russischen Geistes oder, wenn man will, dessen Hang nach Neuem und nach theoretischen Verwegenheiten machen sich oft noch anders als in dem Nihilismus der Schuljugend oder in den unwissenden Sccten des niederen Volkes Luft, Ich will nur ein Beispiel aus den letzten 15 oder 20 Jahren anführen: ich meine die Bewegung zu Gunsten der Emancipation oder besser der Unabhängigkeit der Frauen l). Sehr verschieden vom Nihilismus, wenn auch in ihren Ausschreitungen bisweilen mit demselben zu sehr verbunden, um nicht durch ihn biosgestellt zu werden, hat diese oigen-thümlicheGeistesbewegung zum Theil ihrenUrsprung in derselben Eigenschaft des russischen Volkscharakters, in der Verachtung der Vorurtheile und in der Neigung zu kühnen Behauptungen und socialen Reformen. Im Beginn des vorigen Jahrhunderts war die russische Frau noch, wie heute die türkische, eingesperrt und verschleiert; heute erhebt sie, wie der Mann und vielleicht mehr als der Mann, Ansprüche auf ') Die Ibissen bedienen sieh in diesem Winne ungern des Wortes Emancipation; sie gefallen sieh in der Behauptung, dass hei ihnen die Frau enumcipirt sei, weil das Gesetz ihr in der Ehe die Verwaltung ihres Vermögens helüsst, Man sagt in Russland gewöhnlich: i>ie Frauenfrage, shenski wopross. — j 65 — Freiheit und Vernichtuno; aller Schranken. Bei allen Uehertreibungen. die ihrer Würdigung Abbruch thun, sind diese weiblichen Ansprüche weniger überraschend und weniger lächerlich, als anderswo. Das von der derben Hand Peters des Grossen emancipirte Geschlecht hat vielleicht am meisten Vortheil aus einer Civilisation gezogen, die seinen natürlichen Neigungen besonders schmeichelte, indem sie ihm die Freiheit gab. Wenn in dem Reiche, das so oft und so ruhmvoll von Frauen regiert worden ist, die Frau des Volkes noch in einer Art Sclaverei gehalten wird, so ist das doch in den gebildeteren Classen weit anders. Was Intelligenz und Freiheit des Willens, Bildung und Stellung in der Familie betrifft, steht die russische Frau bereits dem Manne gleich; ja sie erscheint bisweilen ihm überlegen — vielleicht in Folge dieser Gleichheit, die das eine Geschlecht zu verkleinern scheint, indem sie das andere erhöht. Diese Bemerkung über die russische Frau könnte auf die slavische Frau im Allgemeinen ausgedehnt werden, denn beispielsweise würde die polnische Gesellschaft zu gleichen neohnohtungen Anlass geben. Man möchte fast sagen, dass in dieser Kace der psychologische Unterschied zwischen beiden Geschlechtern weniger scharf ausgeprägt, der moralische und intellectuelle Unterschied weniger gross sei. Zwischen dem slavischen Mann und der slavischen Frau lässt sich oft eine Art von scheinbarer Vertauschung der Eigenschaften und Anlagen wahrnehmen. Hat man den Männern bisweilen, einen Zug des Weibischen, d. h. ein Uebermass des Beweglichen, Biegsamen, Leitbaren und Empfindlichen vorgeworfen, so haben die Frauen dagegen in Charakter und Geist etwas Kräftiges, Energisches, mit einem Wort etwas Männliches, das aber keineswegs ihrer Anmuth und ihrem Reize Abbruch thut, sondern ihm häufig eine besondere und unwiderstehliche Ueberlegenheit verleiht. Die russische Frau, die sich an Intelligenz und Charakter als des Mannes Gleichen fühlt, ist geneigt, diese Gleichheit mit allen ihren Vortheilen und Uebelständen in Anspruch zu nehmen: Gleichheit im Unterricht und in der Arbeit. Gleichheit der Hechte, Gleichheit der Pflichten. Man hat Beispiele — und das bisweilen in wohlhabenden Familien — dass junge Mädchen oder verheirathete Krauen ihren Stolz darein setzen, für sich selbst zu sorgen und ihren Lebensunterhalt ohne die Hülfe des Vaters oder Gatten erwerben zu wollen. Frauen und besonders junge Mädchen haben sich allen Berufsgattungen, die ihrem Geschlecht zugänglich waren, zugewandt und für dieses zugleich neue Arbeitsgebiete dringend gefordert J). Die Leidenschaft *) Ich muss hinzufügen, dass diese Bewegung unter den Frauen auch wirth-schaftüchc Gründe hat, denen Rechnung getragen werden muss. Die Verwirrung für die Bildung und selbst für die Wissenschaft ist eine der Folgen dieses Trachtens nach moralischer und materieller Unabhängigkeit gewesen. Die jungen Mädchen drängten sich zu den Lehrcursen, zu den Gymnasien und Universitäten. Einige wandten sich dem Studium der allen Sprachen zu, die weitaus grössere Zahl widmete sich den Naturwissenschaften und der Medioin 1). Der revolutionäre Geist unterliess nicht, aus diesen Ansprüchen und Neigungen eines Geschlechts Vortheil zu ziehen, das immer weit mehr als das andre dazu inclinirt, sich lebhaften Eindrücken und starken Gefühlen hinzugeben. Unter diesen nach Wissen und Freiheit durstenden Krauen, unter diesen starkgeistigen, oft um die Schiokliohkeit ihres Geschlechts wenig bekümmerten Mädchen, die einen gewissen instinc-tiven Idealismus mit einem geflissentlichen Realismus verbanden und die Religion ihrer Kindheit durch allgemein menschheitliche Träumereien ersetzten, haben die groben Verführungen des nihilistischen Radicalismus umsomehrGpfer gefordert, als viele dieser „Cursisiinnen" und „Studentinnen" keinen andern Weg fanden, um ihre Studien praktisch zu verwerthen und durch ihre Kenntnisse sich den Lebensunterhalt zu erwerben. Das Uebel ist oft noch durch die Heilmittel verschlimmert worden, welche von der misstrauischeu Regierung eingeführt wurden, die anstatt das Kehl der weiblichen Erwerbslähigkeit zu erweitern, in mehreren Fällen ihr die eben erst geöllnete Carriere auf halbem Wege verschluss s). die durch die Aufhebung der Leibeigenschaft in das Budget so manchen Haushalts hineingetragen ist, die wachsenden Schwierigkeiten des Familienlebens bei der Preissteigerung aller Bedürfnisse, — die Schwierigkeit für junge Mädchen einer gewissen (icsollsehaftsclasse sich in der Welt, namentlich in den Städten selbständig einzurichten, wo die Zahl der llcirathen bedeutend allgenommen hat; endlich gewisse gesetzliche Bestimmungen, die den Frauen nur einen verhältnissmässig geringen Antheil an dem väterlichen Erbe zuweisen. ') t'iiter dem Einfluss ähnlicher wirtschaftlicher und moralischer Gründe haben sich dasselbe Fnabhängigkoitsverlangen und dieselben Anstrengungen, sich auf eigene Füsse zu stellen, bei den jungen Jüdinnen gezeigt. Unter den Studentinnen der Medicin, die 187S eingeschrieben waren, befanden sich :\-J l'ro-cent Jüdinnen. Dieses immer steigende Verhältnis* erhob sich 1H71* auf 'M l'ro-cent, also auf mehr als ein Drittel der Gesamintza.hl. Diese Ziffer erklärt sich ans der Thatsacho, dass gesetzliche Beschränkungen und Sitten den jüdischen Mädchen last allein die mediciiüsche Kaufbahn offen lassen. S. das Organ der russischen Israeliten Haswet, 11. Sept. 1HKI). 2) Dies ist z. B. unter Alexander III. wie unter Alexander II. im medi-c'mischen Studium geschehen. Aus Besorgnis* vor der Propaganda der weiblichen Acrztc auf Fcld/.ügon, hat die Begierung wiederholt dagegen ojiponirt, In den grossen Städten ist so — wenn das "Wort auf junge Mädchen angewandt werden kann — eine Art weiblichen Proletariats entstanden, das gebildet, enthusiastisch, arbeitsamer und in der Regel nicht weniger revolutionär ist, als die männliche Jugend der Lehranstalten. Im Westen und namentlich in Zürich in der Schweiz gab es vor Kurzem noch zahlreiche Exemplare dieser jungen Studentinnen, welche alle natürlichen Eigenschaften ihres Geschlechts in sich auf alle Weise zu verwischen suchten, um ihre Rechte auf die Beschäftigungen des andern Geschlechts fester zu gründen, junge Mädchen - unsexed, wie Shakespeare sagt — die dahin arbeiteten, nicht mehr Frauen zusein, um sich besser auf das Niveau der Männer zu erheben. Viele edle und grossherzige Naturen haben sich in diesem Bemühen abgenutzt und verunstaltet, die glühendsten und energischsten, die in der ersten Reihe der Verschwörer ergriffen wurden, haben in der Blüthe der Jugend der Verbannung ins Herz Sibiriens erliegen müssen; die minder hochstrebenden und minder kühnen sind Verirrungen verfallen, die vielleicht die strengste Strafe für ihre Selbstüberschätzungen waren. Trotz der Ausschreitungen, welche diese Art vonFrauenemancipation compromittirt haben, bleibt dieselbe doch eine der interessantesten und charakteristischsten Erscheinungen in der heutigen russischen Gesellschaft. Nach dieser Seite hin kommt Russland unter allen Ländern des Welttheils den englisch-sächsischen am nächsten, wenn auch die im Grunde gleichen Ansprüche sich in beiden Fällen unter sehr verschiedenen Formen zeigen. Sollte sich je in Sitten und Gesetzen irgend eine Revolution nach dieser Richtung hin vollziehen, so wird Russland sicher als eines der ersten Länder des alten Erdtheils die Probe zu bestehen haben. Unterdessen hat es schon in der höheren Frauenbildung Lirfahrungen gemacht, die den Staaten, welche sich für die weitest fortgeschrittenen halten, zum Muster dienen könnten1). Der russische Geist weicht vor kühnen und selbst vor gefährlichen Unternehmungen nicht zurück; von der Seite, auf der wir so wenig Vorbilder suchen, wird uns vielleicht einmal manche Lehre zu Theil werden. dass die Gouvenuanentslandschafts-Versammlungen jene in grosser Zahl Subvention iren; zu andern Malen, namentlich 1882, hat sie die medicinischen Special-curse für Krauen unterdrückt, aber zugleich andere aus privaten Mitteln gestattet. 1) Ausser den Mitdchengyinnasien und Externatcn des Staats seien hier besonders die weiblichen Curse von Bestushew in Petersburg und die von Guerrier und Lubanski in Mpikau erwähnt, die beide durch private Initiative gegründet sind und ihres Gleichen vielleicht in Europa nicht haben. Diese sehr besuchten ■■W st alten bieten den jungen Mädchen eine höhere Bildung. Bei keinem Volke haben die Traditioneil der Vergangenheit zu gleicher Zeit mehr Herrschaft und weniger Autorität gehabt, sind sie in der Tintern Schicht abergläubischer verehrt, in der übern Schicht mit grösserer Verachtung bei Seite geworfen worden. An den beiden äussersten Gruppen derselben Nation linden sich zugleich die entgegengesetztesten l'ebertreibungen. Vor allen andern Menschen ist der Russe, wenn er einmal von seinen traditionellen Ideen und nationalen Vorurtheilen gelöst ist, so ganz und gar ihrer ledig. Hierin könnte mit ihm nur noch der Jude verglichen werden, der moderne Israelit, der bei Berührung mit dem Fremden auch so häutig von den Extremen des blindesten Verehrungsglaubens zu dem Extrem des freien Donkens, von dem orientalischen Traditionalismus, an dem die Masse seiner Glaubensgenossen eigensinnig hängt, zu den kühnsten Schlüssen des Geistes der Neuerung übergeht. Während der Bauer in Russland, wie der kleine Jude im Orient, halsstarrig die alten Riten und Formen auf naht hält, rühmt sich — in einem der häutigen Widersprüche der russischen Nation, der .Mann der gebildeten ('lassen oft, alle alten Traditionen und Glaubenslehren hinter sich geworfen zu haben. Man hat mit Vorliebe den russischen Geist mit den jungfräulichen Steppen verglichen, an denen die Jahrhunderte keine Spuren hinterlassen und die sich alle ihre Fruchtbarkeit für die Zukunft erhalten haben. In den folgenden Kapiteln werden wir sehen, in welchem Sinne solche Ansprüche berechtigt sein können. In jedem Falle lässt sich schon sagen, dass die Schwäche der nationalen Traditionen, die Armuth des Vermächtnisses, das eine schon tausendjährige Geschichte Russland hinterlassen hat, nicht wenig Antheil hat an den Neigungen des russischen (Jeistes und am Nihilismus oder — um ein Wort von weniger Schärfe und weniger Doppelsinn, einen Barbarismus des Joseph deMaistre1), zu gebrauchen — an mehr oder weniger geflissentlichen „rienisme" der heutigen Generation. ') Lettree et opusculee. Viertes Buch. Die Geschichte und die Elemente der Civilisation. Erstes Kapitel. Hat Russland eine historische Erbschaft? ist es wahr, dass es sich in den Grundlagen seiner Civilisation vom Westen unterscheidet? Verschiedene Theorien. Slavophilen und < )ccidentale. Eisprung und Ziele der Slavophilen. — Worin die Schutzredner einer russischen Civilisation mit den Lasterern Russlands übereinstimmen. — Geheime Aehnlichkeit der Blavophilie und des Nihilismus. — Die drei Auflassungen der nationalen Geschichte und der nationalen Aufgaben. Wir haben das rassische Land kennen gelernt, die Geschlechtsregister und den Charakter des rassischen Slaven untersuch! und wollen nun prüfen, welche Elemente der (Zivilisation diesem von der Geschichte gegeben worden, wie die Jahrhunderte die Bedingungen der Race und des Klimas aufrecht erhalten oder geändert, welche Züge sie dem Volkscharakter, welche Grundlagen sie der Cultur und den Institutionen der Nation verliehen haben. ..Man weiss von der Geschichte der barbarischen Zeiten genug, wenn mau weiss, dass sie barbarische waren", hat ein Philosoph des 18. Jahrhunderts mit Beziehung auf das Russland von Peter dem Grossen gesagt1). Man erkennt in diesem Ausspruch den unwissenden und naiven Dünkel, der in den historischen und politischen Wissenschaften dem L8, Jahrhundert soviel Irrthümer und Täuschungen eingetragen hat Die Russen selbst sagen mitunter, sie hätten keine Geschichte. Die einen, wie einst Tschaadajew beklagen das mit beredter und !) Condillac, Histoire moderne, ßd. VI. leidenschaftlicher Trauerkönnen sieh nicht drüber trösten, dass ihnen eine der glänzendsten Epochen des europäischen Lebens vorenthalten geblieben, und furchten, dass ihr Vaterland, weil es nicht die gleichen Proben bestanden und dieselbe Erziehung genossen, auch nicht zu derselben Civilisation gelangen könne, und dass einVolk ohne Vergangenheit ein Volk ohne Zukunft sei. Andre — und zwar die grössere Zahl Wünschen sich kühn hierzu Glück und rühmen sich dessen, aller Tradition und allen Vorurtheils bar, aller der Bande der Vergangenheit ledig zu sein, in denen trotz seiner Revolutionen das alte Europa schmachtet2). Indem sie jedes Vermächtniss früherer Jahrhunderte wie eine Last und einen Zwang des lebenden Geschlechts betrachten, schätzen sie die Erbschaft ihrer Vorfahren gering, und freuen sich darüber, nichts erhalten zu haben, was ihren Kindern zu vererben sich lohne. Sit; gefallen sich darin, ihr Land wie ein freies Terrain, wie eine tabula rasa anzusehen, auf der Wissenschaft und Vernunft alle Arten von Gebäuden der Zukunft aufzuführen die Macht haben. Dieser im russischen Radicalismus beliebte Gesichtspunkt ist der der meisten Revolutionäre. Hierin — muss ich hervorheben — thun sie in der Tbat nichts, als sich die Anschauungen der Staatsregierung aneignen oder dem Beispiel derselben folgen, die seit Peter dem Grossen ihre Unterthanen gelehrt hat, die Geschichte und die nationale Vergangenkeit zu nichtachten. In einem Staat, der 1869 sein tausendjähriges Bestehen gefeiert hat, darf man ein solches Urtheil nicht buchstäblich nehmen. Viele von den Russen, die es aussprechen, würden hübsch in Zorn gerathen, wrenn man ihnen aufs Wort glaubte. Wenn eine Vergangenheit von eintausend Jahren auf dem nationalen Boden nur unnützen Schutt oder zerbrechliche Bauten ohne Fundament und Halt zurückgelassen hat, so muss diese Vergangenheit selbst uns hierfür den Grund erkennen lassen. Der Geschmack an historischen Studien, der die Ehre des 19. ') „Wir gehören keiner der grossen Familien des Orients oder Occidents an; wir haben weder die Traditionen des einen noch des andern.....Wir leben gleichsam ausserhalb der Zeit, und die Cultur des Menschengeschlecht*!! hat uns nieht berührt." (Briefe von Tsehaadajew 1836.' Für dieselben, die französisch geschrieben sind, wurde Tsehaadajew ol'ficicll für wahnsinnig erklärt. S. Herzen: Revolutionäre Ideeen, und l'ypin: Charakteristik der literarischen Meinungen. Petersburg 1868, rusa.) Tsehaadajew wendet sich in seiner „Apologie eines Wahnsinnigen", die er spater schrieb, bei Erwähnung des (lüstern Pessimismus seiner Hriefe zum Theil dieser letztern Meinung zu. Jahrhunderts bildet, macht sich in Russland wie im Occident geltend. Seit 50, besonders seit 25 Jahren sfudiron Historiker, die an Zahl, Wissen, Gründlichkeit denen Frankreichs, Englands und Deutschlands nichts nachgeben, mit Eifer die Annalen ihres Vaterlandes und suchen in dessen Vergangenheit das Geheimniss seiner künftigen tieschicke1). Russland besitzt eine lauge Geschichte, aber die Kette seiner nationalen Existenz ist zwei oder dreimal so gewaltsam gehrochen worden, dass man ihre Ringe nur schwer wieder zusammenfügen kann, und in dem Volksbewusstsein ein gewisser Bruch der Continuität zurückgeblieben ist. Das russische Volk hat diese Geschichte mehr über sich ergehen lassen, als selber sie sich gemacht; sie ist nicht ein Werk der eigenen Kraft, wie in den Ländern des Westens, sie ist nicht aus der freien Entwicklung des Volksgeistes hervorgegangen, sondern mehr passiv als activ. In dieser Beziehung gleicht die russische Geschichte weniger der der europäischen Nationen, als den Annalen der asiatischen Völker. Von aussen oder von oben, vom Ausland oder von der Regierimgsgewalt gelenkt, ist sie oft nur eine äusserliche und ganz oberflächliche geblieben; sie ist gleichsam nur über das russische Volk dahingefahren, hat- es mitunter tief hinabgebeugt und lastet noch schwer auf seinen Schultern. Nicht im Klima, noch in der Race, sondern in der Geographie und in der Geschichte sind die Gründe der Inferiorität der russischen Civilisation zu suchen. Viele Ausländer, namentlich die Katholiken, finden den Grund derselben in der Annahme einer unfruchtbaren Form des Christenthums, — andre, die Deutschen besonders, in dem Mangel an germanischem Einlluss — ein doppelter Mangel, der bisweilen unter dem Namen des Byzantinismus zusammengefasst wird. Eür Einige liegt jener Grund der Inferiorität darin, dass Russland an der Erbschaft der Antike nicht theilnahm, für die Mehrzahl endlich, dass es die mongolische Herrschaft und das tatarische Joch erduldet hat. Die russischen Geschichtsschreiber stehen immer vor demselben Problem; zwischen Europa und Asien gestellt, das Blut des einen wie ') In der ersten Reihe der zeitgenössischen Historiker zeichnen sieh durch sehr mannigfache Vorzüge aus: Solowiew (gest. 1879), KostomaiOW, Bestushcw-Iiiimin, Babelin, Ilowaiski u. A. Im Gegensatz zu der Genllogenheit anderer Länder macht sich die Mehrzahl «ler russischen Geschichtsschreiber niuthig an die Schil-«leruug der (rnivorsalgeschichto ihres Vaterlands von Kuriks Zeiten her, wobei gewöhnlich jeder seine mehr oder minder originelle historische Theorie hat. Da "Kr sehr wenige das Endziel ihrer Aufgabe erreichen, ist wohl die Folge, dass ™« ersten Perioden der russischen Geschichte mehr durchforscht sind, als die Oos näherliegenden. dos andern in seinen Adern ist Russland gleichsam der Ehe beider entsprungen; wessen Kind ist es nun in moralischer und politischer Beziehung? Wir müssen uns in Bezug auf die sociale Entwicklung dieselbe Frage stellen, wie in Bezug auf den Boden und die Race: worin ist Kussland europäisch, worin asiatisch, worin einfach slavisch und russisch? Haben die Jahrhunderte seiner langen Kindheitsperiode es durch eine gleiche Erziehung zum europäischen Leben herangebildet, oder haben sie es zu einer eigenartigen, originalen, von (Jrund aus der westlichen verschiedenen Cultur vorbereitet? Mit den Worten eines seiner eigenen Schriftsteller: liegt der Unterschied zwischen Kussland und Europa in dem Grade oder im Wesen seiner Civilisation?1). Dies ist der Punkt, um den sich die meisten Fragen in Russland drehen. Es handelt sich um nichts Geringeres, als um den historischen Beruf des Landes und Volkes. Um eine Civilisation zu acclimatisiren, genügt nicht allein ein günstiger Boden; es muss auch die Nation, in welche jene verpflanzt wird, schon durch die Elemente der Cultur vorbereitet sein. Beim russischen Volk, das solange dem Streite entgegengesetzter Einflüsse unterlag, ist die Lösung eines solchen Problems .weitaus keine blos theoretische; sie ist die lebendige Frage der praktischen Anwendung, die über den Entwicklungsgang des Volkes selbst zu entscheiden hat. Eis handelt sich darum, die Stellung Russlands zu Europa zu erfassen; soll es sich als Schüler des letztern betrachten, wie ein solcher sich in unsre Schule begeben und auf dem Wege der Nachahmung und Aneignung des Westens verharren? oder umgekehrt, soll es sich dem Westen fremd gegenüberstellen, auf die Anleihen verzichten, die weder seinem Temperament noch seinem Geiste entsprechen, um wieder ganz es selbst zu werden? Von dieser Grundauffassung ihrer nationalen Bestimmung hängen alle Anschauungen der Russen über ihr bürgerliches und politisches Leben ab. So ist es auch der Standpunkt der Geschichtsbetrachtung, auf den sich zumeist die Meinungsverschiedenheiten stützen. Historische Parteien sieben an der Stelle der politischen, oder vielmehr: die Bestrebungen, welche die Parteien vertreten, haben verschiedenartige Auffassungen der nationalen Geschichte zum Ausgangspunkt. Dies ist der Gegenstand des Streits, der unter verschiedenen Namen seit Peter dem Grossen zwischen den Altrussen und ihren Gegnern, zwischen Moskau ') Juri Sämann, . 24, 80 et passim, russ.). dringende Element sein. Für die Völker ist das Selbstgefühl noch mehr als für die Individuen eine grosse Krall, doch nur wenn das Xationalbevvusstsein nicht überreizt wird und dann in einen geistigen Chauvinismus oder in ein System des moralischen Schutzzolls ausartet. Geht es bis zur Anschwärzimg oder Geringschätzung des Auslands, su wird das Xationalgefühl für die Völker, so gross sie auch seien, einer der schlimmsten Rathgeber; keinem Lande aber dürfte die ausschliessliche Selbstbewunderung, die Selbstapotheose verderblicher sein, als Russland. In seinen äussorsten Verirrungen ist der massloseste Slavophile nicht lächerlicher, als der deutsche Patriot, der in der ganzen modernen Welt nur die deutsche Cultur, die germanische Wissenschaft, den teutonischen Einfluss sieht; aber von diesen beiden hegt der Slavophile sicherlich für sein Land eine schlimmere Begeisterung, da er in seiner Lehre von der Missachtung des Westens und der Völker, von denenKunst, Wissenschaft und Civilisation der modernen Zeit ausgegangen sind, zugleich auch die Missachtung der Civilisation, der Wissenschaft, der Freiheit und des Fortschritts selbst seinem Lande Zu lehren Gefahr läuft. Hierin reichen das Slavophilenthum und alle ähnlichen Dootrinen unwillkürlich die eine Hand dem revolutionären Nihilismus, die andre den westlichen Verächtern Russlands. Wenn die Russen unter dem Vorwand, die verkannte I'rsprüng-tichkeit ihres Vaterlands zur Geltung zU bringen, sich nicht damit begnügen, die wirklichen Züge ihrer nationalen Individualität zu betonen, wenn sie sich dahin versteigen, die russische Geschichte und Cultur, den slavischen Geist und die slavische Gesellschaft in vollen Gegensatz und radioalen Widerstreit zu der europäischen Civilisation zu setzen, so gelangen sie, ohne es zu bemerken, zu derselben Behauptung ll,ul zu denselben Schlüssen, wie ihre Gegner und Verächter draussen. Fb'r Moskauer Slavophile ist das Echo der Russophoben von London und Pesth, die den Moskowiter als grundfremd der europäischen Civilisation Ull,l unfähig schildern, sich ein anderes, als das türkische Wesen von Stambu] anzueignen. Durch Uebertreibung im Lobe wie im Tadel gehingen die beiden entgegengesetzten Extreme dazu, sich zu berühren. Eine solche Begegnung beider Extreme hat keinen Grund, dem rechten l>;iiriotismus der Russen zu schmeicheln, denn die westliche Civilisation hat Krisen genug bestanden und Kraft genug selbst mitten in ihren Revolutionen gewonnen, um die Geringschätzung derer nicht fürchten zu dürfen, die ihr fremd zu bleiben verlangen, mögen derartige Neigungen aus Stambul, Peking oder anderswoher stammen. Nicht minder bomerkonswerth ist, dass das moskausche Slavophilenthum sowohl nach seinem Ausgangspunkt, als nach seiner Stel-li | r o y - B e a u 1 i e 11, Hcicli <1. Zaron u. d, Kiishoh. l'j tirog gegen dir westliche Civilisation nicht ohne Aehnlichkoit mit dem revolutionären Nihilismus ist, der als der andere Pol des russischen Denkens erscheint. Den Namen des Nihilismus, den der russische Radicalismus von sieh abweist, hat dieser vielleicht vornehmlich durch den .Mangel an Respect vor unserer Civilisation sich verdient, die au verurtheilen ihm oft genug beliebte, und der er gern ein ideales Russland und wenn nicht die russiche Vergangenheit so doch die russische Zukunft gegenüberstellt, (legen die Civilisation, gegen die klassische und christliche Cultur, wie sie von den germanisch-romanischen Völkern ausgegangen ist, hat sich vor Allem die Negation der Väter des Nihilismus gerichtet. Was sie im Auge hatten, was sie verneinten, war weniger Kussland, als der Occident. An Russland, an seine Eigenart und an seine Traditionen zu glauben, hatte die Mehrzahl der modernen Küssen lange schon aufgegeben: in dieser Beziehung waren sie alle — die Slavophilen ausgenommen — „Nihilisten". Ihr Glaube war die Cultur des Westens, die sie sich ganz zu eigen zu machen suchten. Im Heginn der Regierung Nikolais war wie im L8. Jahrhundert die Civilisation, von der Peter der Grosse und Katharina nur die Aeusserlichkeiten und Formeln hatten impor-tireu können, den Leuten von Bildung eine Religion, die — einige verspätete Anhänger des Alten ausgenommen — in Bussland weder Ungläubige noch Gleichgültige fand. Die russische Jugend glaubte mit grösserer Inbrunst, als wir selbst, an die Aufklärung und an die Freiheiten des Westens; sie glaubte mit der Gluth der Neophvten an die Kraft und an die Heiligkeit der Lehren von 1789, an die Unfehlbarkeit der Offenbarung, welche die Revolution der Menschheit gebracht. Um die Mitte des Jahrhunderts vollzog sich — wie schon erwähnt — in der russischen Intelligenz ein plötzlicher und heftiger Umschlag; aber diese Wendung des russistdien tleistes sollte nicht überall den Slavophilen und den Bewunderern der nationalen Vergangenheit zugute kommen. Diese Civilisation, von der der Russe alles Heil erwartete, weckte Zweifel in ihm, als er sie näher sich ansah, ihre Mängel empfand, sie von Vielen, die sich selbst an ihr genährt, verneinen und schmähen hörte. Fr erkannte, dass der Westen für das Leid und das Elend nur unsichere Heilmittel oder wirkungslose Schutzmassregeln besass, und unsere Freiheit, unsere Wissenschaft, unser Reichthum schienen ihm nun nur Lüge und Täuschung. Alle die Einrichtungen und Formeln, die ihm eine tiefe Ehrfurcht eingeflösSt hatten, waren ihm jetzt nicht mehr, als eine heuchlerische und gotteslästerliche I'rolänation der Wahrheiten, die ihm in den Tagen seiner naiven und jugendlichen Gluth unklar vorgeschwebt hatten. Der moderne Scythe glaubte die Nichtigkeit der griechisch-römischen Cultur, deren Glanz ihn zuerst geblendet, entdeckt zu liabeii, und mit der Beweglichkeil des Russen, der stetS bereit ist, sich von einem Extrem ins andere zu stürzen, mit der bittern Entrüstung eines missbrauchten Glaubigen und in dem Schamgefühl, so lange leichtgläubig gewesen zu sein, fluchte er dem, was er eben erst angebetet hatte. Der Kusse des 19. Jahrhunderts hat dem Cultus seiner Knabenzeit als einem kindischen Aberglauben abgeschworen; ei hat sichs zur Pflicht und zum Vergnügen gemacht, die falschen Götter, denen er Weihrauch gestreut, zu schmähen, bis er sie zertrümmern könne; er hat all die glänzenden und nichtigen Götzenbilder, deren verführerische Schönheit seine Jugend bezauberte, von dem Diedestai gestürzt, auf das seine Hände sie erhoben hatten; er hat geschworen, den stolzen Tempel zu zerstören, der diesen falschen Gottheiten der Gegenwart errichtet ist, welche unter den usurpirlen Namen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit den Irrthum, die Zwietracht und die schmutzige Knechtschaft der Armutb aufrecht erhalten. Dies war für die hervorragendsten Vorläufer des Nihilismus der Ausgangspunct. So betrachtet ist der Nihilismus nicht sowohl aus dem Westen und aus einer europäischen Pest hervorgegangen, als vielmehr eine Art von Protest Russlands gegen Europa, eine Art von „tragischer Emancipation des russischen Selbstbewusstseins". Sieht man von der logischen Verkettung und der historischen Abstammung der Ideeen ab, "od fasst man nur die Empfindungen ins Auge, die oft unbewussl ihren gewaltigen Einfluss üben, so erscheint der Nihilismus, ganz wie das Slavophilenthum, als eine gewaltsame Reaction gegen die lange, geistige Herrschaft Europas, gegen unsre Gesellschaft , gegen unsre Wissenschaft und gegen unsre moderne Welt. Es ist die Empörung eines Kindes, das darüber entrüstet ist, dass sein Lehrer es betrogen, und je vertrauensvoller und ehrerbietiger seine Lenksamkeit lange war, um so leidenschaftlicher ist jetzt seine Auflehnung. Das Schauspiel unserer unaufhörlichen und unfruchtbaren Revolutionen war nicht sehr geeignet, den russischen Radicalismus wieder zur Bewunderung und Nachahmung des Westens zurückzuführen. Nachdem er. wie Herzen, unsere verschiedenen revolutionären Erfahrungen mit dem Enthusiasmus der Naivität gepriesen, hat er, auch wie Herzen, proclamirt, dass wir ebenso beschränkt, ebenso incon-sequent, ebenso unfähig zum Fortschritte in der Revolution wie in der Erhaltung des Bestehenden seien1). ") Siehe: Herzen, Briefe aus Frankreich und Italien. Er ist verzweifelt an diesem Europa., auf das einst seine Augen und Wünsche fest gerichtet waren, wie die des Muselmannes auf Mekka; er bat es feierlich für abgelebt und erschöpft erklärt, er hat ihm den Rüchen gewandt und anderwärts ein anderes gelobtes Land gesucht, eine andere Baustätte auf jüngerem Roden für das neue Jerusalem, für das irdische Paradies der Menschheit der Revolution. In einer Art von Elankenwendung, die ganz mit dem nationalen Charakter der plötzlichen Frontveränderungen übereinstimmt, hat der russische Radicalismus sein Glaubensbekenntniss über den Haufen geworfen und seine Theorie umgekehrt. Die Rolle der Initiative undRettung, die bisher unbestreitbar dem Westen zugefallen ist, hat jener jählings für sein unwissendes und zurückgebliebenes Vaterland in Anspruch genommen. Das Licht, das er einst von aussen und von der Aufklärung Europas hoffte, hat er von der Finsterniss drinnen zu erwarten begonnen. Er hat den Glauben an den "Westen verloren und wie der Slavophile, wieder an Russland zu glauben angefangen, doch aus entgegengesetzten Gründen, wie dieser. In diesem so lange missachteten Vaterland hat er — selbst in dessen Inferiorität — plötzlich eine geheime Ueberlegenheit entdeckt. Und das war ganz logisch. Einmal die moderne Civilisation und Gesellschaft verdammt, und für die Schöpfungen der Zukunft ist kein Land so geeignet, wie das, wo die Vergangenheit der Gegenwart das Feld freigelassen hat. wo der Boden am leichtesten von Schutt zu reinigen ist. Nun, in dieser Beziehung liegt der Vorzug Russlands deutlich zu Tage; ist es nicht von allen civilisirten Staaten derjenige, in welchem die Einrichtungen und Künste, die der Stolz und die Freude der modernen Welt sind, am wenigsten tief ihre "Wurzel geschlagen haben und am wenigsten schmackhafte Früchte bringen? ist es nicht der Staat, in dem es am leichtesten ist, zu zerstören, und in dem die Zerstörung der Phantasie, dem Herzen, der Vernunft, den Vorurtheilen am wenigsten kostet? So ist das russische Volk das aus-erwählte der Revolution, weil es das Volk ist, das am wenigsten zu opfern hat. Durch derartige Ehrenrettung und Lobpreisung des Geburtslandes, das nicht mehr um seiner wirklichen oder eingebildeten Reichthümer, sondern um seiner Blosse und Armuth willen gerühmt wird, hat der Geist der Revolution in Russland eine ganz besondere Energie und ein besonderes Selbstvertrauen angenommen. Er hat sozusagen einen nationalen und patriotischen Charakter erhalten, , und das trotz seiner eigenen Verneinung der Nationalität und des Vater-, lande. So haben selbst abgesehen von ihrer gemeinsamen Genesis, der deutschen Philosophie und Hegel, das Slavophilenthum und de* döotrt-näre Nihilismus in gewisser Beziehung denselben Ausgangspunkt und denselben Endpunkt gehabt. Unbefriedigt oder enttäuscht von der „Biiurgeniscivilisation" des Westens haben diese feindlichen Brüder sich zwar zuerst den Rücken gekehrt, sind sieh dann aber uuvcrmu-theter Weise in der Verherrlichung und Apotheose Russlunds begegnet, dem sie in fast gleicher Weise ein Art Primat vorbehielten, wenn sie auch heute nur ein einziges Ding darin zu loben linden: den ...Mir", den Gemeindebesitz der Bauern. Einer der Gründe der Schwankungen, der Inoonsequenzen und der Rückschläge in der innern Politik der Zaren des Ith Jahrhunderts stammt daher, dass Herrscher wie Unterthanen nur zu oft von den beiden Hauptrichtungen, die sich die Leitung des Volksgeistes streitig machen, nach entgegengesetzten Seiten hin- und hergezogen wurden. Unter Alexander 1. war der Einfluss des Westens und der Bewunderer Europas fast ununterbrochen vorherrschend. Unter Nikolai ging die Leitung auf den sogenannten Nationalgeist über. Unter Alexander IL gab die Regierung bald der einen, bald der andern Strömung nach und überliess sich abwechselnd entgegengesetzten Impulsen. Reim Heginn der Regierung Alexanders III., der von gewissen Moskowitern wie ein nationaler Messias begrüsst wurde, weicher Russland sich selber wiederzugeben berufen sei, erhalten abermals die neu-slavophilen oder nationalen Neigungen am Hof und in der Regierung die Oberhand. Man kann dreist prophezeien, dass Russland in dieser Beziehung noch vielen Wechseln unterliegen und heute in diesem, morgen in jenem Sinne von den entgegesetzten Winden, die sich um dasselbe Streiten, getrieben werden wird. Dies allein erklärt viele .ler ihm entgegentretenden Hindernisse und Unsicherheiten, wie auch die Schwierigkeit, den Weg politischer Umgestaltung zu beschreiten M. So lange es zwischen den Neuslavophilen und deren Gegnern noch seine Wahl nicht getroffen, wird Russland ohne feste Richtung bleiben. Gegen die Slavophilen, die für ihr Vaterland eine eigene, originale Cultur in Anspruch nehmen, die einer unbegrenzten Kntwieklung fähig werden soll, sobald sie erst der falschen Götter von draussen entledigt sein wird, werden lange noch die „Sapadniki" oder Anhänger des Westens ankämpfen, die den Slaven die Elemente einer neuen Zivilisation absprechen und die von Beter dem Grossen eingeführte Tradition fortsetzen wollen. Zwischen den beiden feindlichen Lagern erhebt sich der Nihilismus, der in ihrem Schatten und gleichsam l) S. Bd. It, sechstes liuch, :>. und I. l'apitel. durch ihren Streit grossgeworden ist, sich der Wallen beider Gegner bemächtigt, jedem die negative Seite seiner Dootrinen entnimmt, und in Gemeinschaft mit dem einen Kussland, mit dem andern den Westen verleugnet. Dies sind die drei extremen Richtungen, in die sich unter verschiedenen Namen und mit mehr oder minder exelusiven, mehr oder minder abweichenden Meinungen der russische Geist theilt. Die Kilon behaupten, Russland besitze in seinen Traditionen Alles, um sieh selbst genügen zu können, und lassen alle Mängel der Gesellschaft und der Regierung aus der Nachahmung des Auslandes herstammen. Die Andern erkennen ihrem Lande kein besonderes sociales und politisches Princip zu, betrachten es als ein zurückgebliebenes Glied der grossen europäischen Familie und denken sich für dasselbe keinen Fortschritt, als in den von dem Westen geöffneten Dahnen. Noch Andere endlich bleiben dabei, dass in den ungestalten Ueber-bleibseln der Vergangenheit nichts vorhanden, das der .Mühe der Erhaltung werth sei, und rufen den Ruin alles Bestehenden herbei, um auf der Stätte ein neues Gebäude ohne Vorbild drinnen noch draussen herzustellen. Ein Blick auf die russische Geschichte wird uns zeigen, wie diese drei entgegenstehenden Auffassungen in gleicher Weise aus der Vergangenheit entspriessen können, und in welchem Masse eine jede von ihnen in den Thatsachen ihre Berechtigung zu linden glaubt. Zweites CapiteL Das älteste Russland und Buropa, Zöge der Verwandtschaft und Aelndiclikeit, l'nähidicbkeilen. — Dil- Waräger. Das ('hristeiilhuni and die byzantinische Erziehung. — Die Theilfürstenthümer und die Verlegung des nationalen Cen-tnuns. Die grosso Kntwcgiing der russischen (ieschichte. Die europäische Civilisation beruht auf dreifacher Basis: — auf dem christlichen, dem griechisch-römischen oder classischen und auf dem germanischen oder barbarischen Element1). Alle Staaten des Westens sind — sozusagen — mit den gleichen Materialien, im gleichen Stil, auf mehr oder minder gleichem Plan erbaut. Finden sich die drei grossen Grundschichten, auf denen die westliche Cultur ruht, auch in den Fundamenten Russlands wieder? Wer tief gräbt, ') Ich muss bemerken, da>s die nachstehenden Seiten grösstentheils vor der VorölleiitHeining der ausgezeichneten (ieschichte Ibisslands v. Alf. Kaiubaud geschrieben sind. S. Rev. d. d. M. 15. .tan. 187-1, entdeckt sie durt, alter sie haben daselbst weder die gleichen Verhall nisse, noch die gleiche Bedeutung. Das Alterthum kannte von Kussland nur die 17er des Rontus Euxinus. Die Griechen gründeten ihre Niederlassungen dort nur an den Küsten; die Römer besassen dort kaum dem Namen nach eine Herrschaft Bei den ersteren galten jene weiten Ebenen für der ewigen Nacht der Kimmerier geweiht; Cur die letzteren waren die Landstriche an den Ufern der Donau und des schwarzen Meeres eine Art von Sibirien, wo sie Staatsverbrecher hinsandten. Russland war zu sehr ein eingeschlossenes, continentales Land für die antike Civilisatnm, die an den Müssen hinziehend, nur die zumeist maritimen Lande zu besetzen verstand. Schon Germanien hatte ihr eine allzu compacte Masse und ein für sie zu strenges Klima entgegengesetzt; Russland wurde von ihr an seinen südlichen Gestaden nur eben gestreift. Die Griechen hallen frühe Beziehungen zu den Eingebornon. Sie selbst haben uns das Andenken des Scythen, d. h. des Russen Anacharsis aufbewahrt, und das in den Steppongräbern gefundene Geschmeide beweist, dass auch diese ausgedehnten Einöden der griechischen Kunst nicht verschlossen waren. Wie alle grossen Staaten Europas hat Russland einige Theile seines Gebietes unter griechischer oder römischer Herrschaft stehen gehabt, Aber erst im Mittelalter unterlagen die Russen durch Vermittlung Konstantinopels dem Einfluss Griechenlands Und Roms und zwar nur in geringem Masse: er erreichte sie damals, doch auf krummem und verdorbenem Wege. Byzanz in der Zeit seines Verfalls war das einzige Rom, das sie kennen lernten, das Reich des Niedergangs das einzige Vorbild, das ihnen die griechische und lateinische Civilisation bot. Ganz anders sind Rolle und Bedeutung des barbarischen Clements. Wie die Staaten des üccidents scheint auch der russische Staat selbst von Germanen in einem rasch dem Christenthum unterworfenen Volke gegründet zu sein. Ks ist dies eine erste, ollenbare Analogie mit jenen europäischen Staatengeschichten, die in ihrem Anfang sich alle zu wiederholen scheinen. Aber in der Ähnlichkeit zeigt sich schon eine Verschiedenheit. Russland bildet uns eine andersartige Urbevölkerung, wenn auch von benachbarter Rata', die slavische statt der celtischon oder germanischen Urbevölkerung. Was bringen diese Slaven der Civilisation an eigener Beigabe mit? Auf sie möchte der Russe seine Cultur und seine Nationalität stützen. Leider kennt die Geschichte sie zur Zeit ihres selbständigen Lebens noch nicht. Kein Taeitus bat uns ein „Slavia" hinterlassen, ahnlich der „Germania" des Eidams des Agrioola. Im alten Sarmatien linden wir früh die Slaven in Berührung mit germanischen und finnischen Fremden. Lange vor Kurik trieben die Slaven am Dnjepr und Wulkow Ackerbau; sie waren schon sesshaft, wohnten in festgefügten Holzhäusern; sie hatten schon Städte und Einfriedigungen, die zu Zufluchtsorten! dienten, „goroditsche, grad oder gorod, wie' Kiew und Nowgorod (Neustadt), dessen Name auf frühere Städte sehliessen Lässt. Die verschiedenen Stämme lebten in abgesonderten Clans von scheinbar geringem Zusammenhalt; um sie zum Staate oder zur Nation zu verbinden, bedurfte es einer fremden Beimischung. Im Vergleich zu den Germanen scheinen die russischen Slaven einen lebhafteren Trieb für Genossenschaft und Gemeinde, einen weniger hierarchischen und einen friedlichem Charaoter, einen stärkeren und festeren Bang zum patriarchalischen oder besser zum Familienleben besessen zu halien. Der „Rod", das Geschlecht-im Sinne der lateinischen „gens" scheint die Grundlage aller ihrer socialen Organisation zu sein. Biese natürlichen Anlagen, die uns zu wenig deutlich hervortreten, enthielten vielleicht den ersten Keim der Institutionen Kusslands. Das germanische Element, das in ganz Europa eine heutzutage bisweilen zu sehr bestrittene — Rolle gespielt hat, hat am Ii Kussland nicht ganz gefehlt, Aehnlich den Wikingern, welche zu derselben Zeit den Westen plünderten und verschiedene Dynastieen dort gründeten, waren es aller Wahrscheinlichkeit nach normannische Abenteurer, die den Grund zu dem Staate legten, aus dem das russische Reich hervorgegangen ist. Der Kiew'sche Chronist Nestor lässt Kurik und seine Brüder von den Slaven Nowgorods zur Herrschaft berufen werden, die ihrer inneren Zwistigkoiten müde waren 1 . Vielleicht hatte schon in der Chronik des 11. Jahrhunderts die nationale Eitelkeit eine normannische Eroberung oder Invasion unter dem Schleier einer Berufung aus dem freien Willen der Slaven von Nowgorod versteckt. Letzthin haben eine allezeit nach Neuerungen jagende Kritik und ein retrograder Patriotismus Kurik und seine Genossen, die Wariager oder Waräger, den Skandinaviern absprechen wollen. Pur die Gründer ihres Reiches haben die Russen einen nationalen Stammbaum gesucht. Diese zurückgreifende Erage gehört zu denen, ') Auf diese legendenhafte Berufung liuriks haben die Slavophilen unlängst ein historisches System gebaut, das den russischen Staat, :ds ans freiwilliger Unterwerfung dos Volkes hervorgegangen, den westlichen Staaten, die alle auf Eroberung beruhen, entgegensetzt. Diese von der (ieschichte verworfene IV Häuptling Iritt noch heute in den ökonomischen und politischen Theorieen manches russischen Schriftstellers zu Tage. die seit /wanzig Jahren am meisten die Historiker Petersburgs and Moskaus in Feuer gesetzt haben. Diese halten das Verfahren Nie-buhrs in der römischen Geschichte nachträglich auf ihr Vaterland angewandt. Für den einen Gelehrten sind Rurik und die Waräger exilirle Nowgoroder oder Slaven von der Nordküste der Gstsee, für den anderen Litthauer, für dritte endlich Abenteurer verschiedener Racen, ein Gemisch von Slaven und Skandinaviern. Man war in letzter Zeit nahe daran, aus dieser Episode einen Mythus zu machen, den die Eitelkeit der Mönche des 12. oder 13. Jahrhunderts erdacht, um ihrem Volke oder ihrem Fürsten einen vornehmen Ursprung zu verleihen, wie etwa französische Chronisten die Merowinger von Troja und PriamuS abstammen Hessen1). Trotz dieser Bemühungen werden die Waräger doch wohl Skandinavien nicht genommen werden können. Diese ihre Abstammung entspricht besser den Angaben der byzantinischen Annalisten, wie auch denen Nestors. Die Namen Ruriks und seiner Brüder zeigen germanische Wurzel; der Charakter der Regierung der Anführer, ihre Vertheilungswoisc des besetzten Landes und selbst ihre Art der Kriegführung bestätigen diesen Ursprung. Sie waren Normannen, die einen Weg nach Konstantinopel suchten, sich Nowgorods und Kiews bemächtigten und einen Kriegs- und Handelsstaat zwischen der Gstsee und dem schwarzen Meer, an dein Dniepr, der damaligen Haupthandelsstrasse des Gstens hin, gründeten. Wie ihre Brüder im Westen waren diese russischen Nordmannen — wie schon Gibbon bemerkt — auf dem Wasser furchtbarer als auf dem Lande; auf kleinen Böten zogen sie aus, Konstantinopel anzugreifen und ihm Tributzahlungen oder Handelsverträge aufzuerlegen, deren ganz praktische Bedingungen uns von den Chronisten erhalten sind-'). Das älteste russische Recht, die Russkaja Prawda, zeigt noch den germanischen Stempel. In diesem von Jaroslaw mehr als anderthalb ') Jene von Ilowaiski mit viel Geschick vertretene These ist von einem der ©rsteh Historiker Ruaslanda Solowiew im 7. Bande des Journals für Staats -Wissenschaften (russ.) von Bosobrasow widerlegt worden. *) Die Gelehrten des Westens und sjicciell Skandinaviens hohen die alte Tradition vortheidigt, die nach einem Wort eines russischen Schriftstellers, auf zwei hiß hiezu unerschütterliche Säulen sich stützt, nämlich auf die Namen der russischen Pürsten und auf die Namen der Stromschnellen des Dniepr, (S. ■/,. B. die gelehrten Untersuchungen von Martynow In der Revue des questions histo-,l(|Ucs, ,hdi 1^75 und Polvhiltlion, Mai 1875). Der Professor Thomson in Kopenhagen hat hierüber drei Abhandlungen veröffentlicht, in deutscher Uebersetzung: 1'rsprung des russischen Staats 1,X7!>. — m — hundert Jahre nach Rurik veranstalteten Codex hat man selbst noch manche normannische Gepflogenheit zu erkennen geglaubt Wie die Völker des Westens hatten die Küssen damals das Gottesgericht und den gerichtlichen Zweikampf; wie jene verhängten sie bei Verbrechen und Mord Geldbussen, deren Name Wira an das deutsehe Wehrgeld erinnert. Es Hessen sich leicht viele Aehnliehkeiten zwischen diesem alten Russland und den von germanischen Stämmen gegründeten europäischen Staaten anführen. Schwieriger ist es 'zu unterscheiden, was den Warägern und dem skandinavischen Eintluss, was den Slaven zuzuschreiben ist. Mein- noch als im Westen gcräth man bei Russland in Gefahr, den Germanen anzurechnen, was Verdienst der Barbaren war, und der Race die Wirkungen der Culturstufe zuzusprechen. Slaven und Germanen, alle diese an Ursprung und Civilisation verwandten Stämme, hatten in Sitte und Charakter Aehnliehkeiten, die es schwer machen, den Antheil des einen an den Einrichtungen von dem des Alldem zu scheiden. Weniger tief eingeprägt, als im Westen, hatte der germanische Stempel in Russland auch geringere Dauer. Die Absorbirung der skandinavischen Oberschicht von der slavischen Grundschicht vollzog sich rasch und vollständig. Vergebens beriefen die warägischen Fürsten mehr als ein*Jahrhundert hindurch Nachschub aus Skandinavien; ihre Festsetzung in Russland ist mehr der Absiedlung der Normannen in Neustrien, als der der Merowinger und Karolinger in Gallien zu vergleichen. Der Grosssohn Ruriks führt bereits einen slavischen Namen und verehrt in Kiew die slavischen Götter1). Wie überall hat auch in Russland eine Frau dem Christenthume das Thor geöffnet. Olga, die Clothilde Russlands, empfängt in Konstantinopel die Taufe. Ihr Sohn Swätoslaw folgt ihrem Beispiel nicht, doch ihr Grosssohn Wladimir, zugleich der Clodwig und der Karl der Grosse Russlands. Kein Volk hat leichter den christlichen Glauben angenommen; das russische war seit mehr als einem Jahrhundert durch seine Beziehungen zu Ryzanz für ihn vorbereitet, und das C'hi'istenthum selbst war hundert Jahre früher durch die Ueber-setzungen der Evangelien und der gottesdienstlichen Bücher in (las Slavonische für das Volk bereitet. Indem -Wladimir seine Unterthanen dem Christenthum beitreten Hess, führte er sie zugleich in die Reihe der europäischen Völker. War auch die christliche Lehre mehr eine Amme als eine Mutter unserer Civilisation, so hat diese letztere ') [Jeher die Jhaishiua der Kniiscn und über die Bojaren der folgenden Periode siehe Buch VI: Der Adel. Bog, 2, doch sich nur bei Völkern festsetzen können, die in ihrer Mehrzahl christlich waren. Selbst heutzutage, wu sie der Kinderwindeln durchaus entledigt scheint, ist es zweifelhaft, ob sie sich in fremden Reli-gionsgenossenschaften einbürgern könnte. Noch ist kein Land durch ein anderes Thor, als das Christenthum, in die moderne Civilisation eingetreten1). Namentlich bezeichnete zu Zeiten Wladimirs das christliche Bekenntniss die geistige Grenze Buropas. Bussland aberschritt diese Grenze seit dem 10. Jahrhundert, aber das Evangelium sollte ihm keinen Baum in der Völkerfamilie schalten, in die dasselbe es eben eingeführt hatte. Hier zeigt sich wieder zwischen Russland und dem Westen eine Ilauptverschiedenheit. Das Kreuz kam zu jenem auf anderem Wege, aus Byzanz, nicht aus Rom, und so hielt das Band, das es mit Europa verknüpfte, es zugleich von demselben getrennt. Um die Elemente der russischen Civilisation kennen zu lernen, bedürfte es einer Untersuchung dieser orientalischen Form des Christenthums und einer Bestimmung ihrer civilisatorisohen Kraft. Leider steht diese Frage zu hoch, als dass sie nur im Vorübergehen gestreift werden dürfte; wir wollen sie uns für das Studium der russischen Kirche vorbehalten2). Hier wird uns genügen, dass die griechische Kirche nicht der römischen nachzustehen braucht, weil sie weniger günstig für den Fortschritt ihrer Bekenner war. Indem die orientalische Kirche Russland dem Westen fernhielt, vorenthielt sie jenem einen der Hauptvortheile seiner Bekehrung; sie liess es der Wohlfahrt jener grossen geistigen Gemeinschaft nicht theilhaft werden, deren Mittelpunkt Rom war, und die dem Westen eine der förderlichsten Bedingungen der Civilisation bot. Russland blieb wie ex-oommunioirt an der Thür der christlichen Republik stehen; geistig wie physisch blieb es an die Grenze Europas gebannt. Das Christenthum brachte durch Konstantinopel Russland wiederum mit dem Alterthum in Beziehungen. Unter den Grossknäsen8) von Kiew wurde es gewissermassen eine Colonie von Byzanz; es stand zu ihm, wie einer seiner Schriftsteller sagt, in einem seiner ersten ') Hierin liegt besonders das Interesse, das dies grosse Experiment .Japans 1,1 Anspruch nimmt. a) Der dritte Rand dieses Werkes wird die Kirche und die russischen Seelen behandeln, Man wird dabei ersehen, in welchem Masse die heidnischen Ideen und Gebräuche bisweilen in den christlichen Riten sich erhalten haben. '') Russisch Knäs, Fürst, vergl. Knight, King, König, Könung der germ. Sprache. rlörigkeitsverfaältnisseDie russischen Metropoliten waren Griechen, die Grossfürston heiralhelen mit Vorliebe griechische Prinzessinnen timl statteten gern am Bosporus ihre Besuche ab. Die zahlreichen Schulen, die Wladimir und Jaroslaw errichteten, wurden nach byzantinischen Vorbildern von Griechen gegründet. Zwei Jahrhunderte lang unterhielten Kunstanlinupel und seine Tochter Kussland durch Handel, Religion, Künste rege Verbindung. Byzanz drückte den Sitten, dem Charakter, dem Geschmacke der Russen sein Zeichen auf, das noch heute, unter dem tatarischen Stempel erkenntlich ist. Der erste sociale Typus, den die Civilisation dem jungen russischen Reiche zeigte, war das Kaiserreich des Verfalls und die Selbstherrschaft, ein Staat ohne politische Kochte, von der kaiserlichen Allgewalt mittelst einer Beamtenhierarchie geleitet. Diese byzantinischen Lehrjahre erhielten damals durch die Beziehungen Kiews zu den andern europäischen Staaten eine Correctur. Damals war noch die Isolirung, zu welcher die geographische Lage, die Religion und Später das mongolische doch Kussland verdammten, geringer, als in den folgenden Zeiten. Das Schisma zwischen den beiden Kirchen war hoch nicht entschieden ausgesprochen und hatte noch nicht die Feindseligkeiten erzeugt, zu denen die Kreuzzüge führten; es setzte noch kein llindeiniss der Voreholiehung von Anhängern beider KM teil entgegen. Durch seine Kinder war der Sohn und Erbe Wladimirs Jaroslaw dem König Heinrich I. von Frankreich und zugleich den orientalischen Kaisern, den Herrschern von Polen. Norwegen, Ungarn, mehreren deutschen Fürsten und dem Sachsenherzog Harald, dem Nebenbuhler Wilhelms des Eroberers, verbunden. Das Russland Kiews war mehr europäisch, als es je Russland vor dem 1*. Jahrhundert gewesen ist. Seine Beziehungen zu Konstantinopel, das das Asyl der Künste und Wissenschaften des Alterthums geworden war, gaben ihm einen gewissen Vorzug vor dem O'ccident, Kiew, von griechischen Architekten und Künstlern geschmückt, erschien wie eine Copie von Byzanz in kleinerem Massslab. wie ein nordisches Kavenna. Die herrlichen Mosaiken seiner Sophienkathedrale, die prachtvollen [nsignien, die im Staatsschatz zu Moskau aufbewahrt werden, zeugen noch von den Reichthümern jener Hauptstadt, die einst Gegenstand der Bewunderung der deutschen, griechischen und arabischen Annalisten war. Der russische Staat war schon der grösste in Europa, im Handel geholte er zu den bedeutendsten, in der Bildung keineswegs zu den geringsten. Im 11. und 12. Jahrhundert konnte er gegen *) Kawelin, Ccdankeu und Renierkuiigen Über die russische (ieschichte. (russ.) das nördliche Deutschland bevorzugt erscheinen, das noch zum grossen Theil slaviseh oder litthauisch, heidnisch und barbarisch war. Es bestand dort ein Reich auf europäischen Grundlagen mil Elementen von schon deutlicher Eigenartigkeit, ein Land das in der Christenheit zu einer besonderen Bestimmung berufen zu sein schien, berufen als Land zu dienen zwischen dem griechischen Orient und dem lateinischen Occident. Die Geschichte hat ihm eine normale Entwicklung versagt. An der Schwelle seiner Jugend wurde sein Wachsthum durch eine der grössten Erschütterungen in den Annalen der Menschheit Unterbrochen. Die mongolische Invasion sollte es nicht allein um dreihundert Jahre zurückhalten, sie sollte es auch von seiner europäischen Dahn ablenken, es fremden Sitten beugen und gleichsam ganz umgestalten. Im Deginn des dreizehnten Jahrhunderts, in der Morgonrothe der westlichen Civilisation, da gerade, als unser Mittelalter sich nach allen Seiten hin in Dichtung, Baukunst, Scholastik zu entfalten begann, raubten die Horden des Tschingis-Chan Europa die Mitarbeiterschaft Busslands. Schon vor dem Mongoleneinfall war die Entwicklung des ersten nissischen Reiches durch ein inneres Uobcl, durch die Theüung der Herrschaft gehindert. Alle Nachkommen Huriks hatten das Recht !l"l* einen Theil der allgemeinen Erbschaft oder besser des Gemeindebesitzes. Der älteste, der Grossknäs, dessen Residenz Kiew war, be-•s;i*s über die andern nur eine nominelle Obergewalt. In zwei oder drei Generationen führte dieser Theilungsmodus die Zerstückelung des Landes bis zu einer Art Zerbröckelung. Das russische System derTheil-lürstontImmer war durchaus nicht das Lehnssystem des Westens; es Unterschied sich von diesem in mehreren Punkten und verhinderte dessen Einführung, statt sie zu fördern. Trotz aller der fortlaufenden Fheilungen blieb die Oberherrschaft, wie die Nation, eins und unthoil-har oder wurde wenigstens so angesehen. Die Fürsten, welche das Land unter sich theilten, hatten nur den -Niessnutz desselben, fast wic heute in den Dauergemeinden jedes Glied des „Mir" nur das zeitweilige Nutzungsrecht seines Landantheils hat, aber der Grund u'id Boden immer Gemeindebesitz bleibt1). Diese Aehnlichkeit wird dadurch vermehrt, dass die Theilfürsten ') Siehe weiter unten die Capitel ober den Gemeindebesitz und die Dorf-proemden. Das russische Wort, das die fürstlichen Apanagen bezeichnet, udel, bedeutet Theil, Antheil, Doos. Ks stammt aus derselben Wurzel mal hat last denselben Sinn wie das W'nzl nadel, das den Antheil des Bauern am (iemeindo- lan.l bezeichnet. oft von einer Apanage zur andern übergingen. Die nationale Einheit wurde aufrecht erhallen oder war vielmehr begründet in der Einheil der fürstlichen Familie, in den Ansprüchen der Kausen auf die gegenseitige Erbsehaft und auf den Titel des Grossfürsten. Russ-land bildete eine Art patriarchalischen Hundes von Fürsten gleichen Bluts, deren Oberhaupt der Aelteste oder vielmehr der Senior der Familie war. Ans einer solchen Verfassung oder aus einem solchen Herkommen mussten natürlich Bürgerkriege entstehen, die durch die Schwächung der Fürsten und durch die häufigen Personenwechsel einigen Städten, wie Nowgorod, es möglich machten, ihre Freiheit aufrecht zu erhalten und sich zu einer hohen .Macht zu erheben '). Die durch diese Besitzstreitigkeiten zerüttete Zeit war doch keineswegs eine unfruchtbare. Inmitten dieser Kämpfe und vielleicht zum Theil gerade durch sie vollführte Russland das Hauptwerk seiner Geschichte, die Colonisation der weiten Landstriche, die heute mit dem Namen Grossrussland bezeichnet werden, eine continentale, Jahrhunderte währende, meist friedliche Colonisation, die jetzt noch fortgesetzt wird und an Grösse der Erfolge in nichts der maritimen Colo-nisationsarbeit der westlichen Völker nachsteht. Europa den Kücken wendend drangen die Slaven des Dnjepr und Wolkow in die Einöden des Ostens, um neues Ackerland zu suchen. Religiöser Eifer und Ehrgeiz trieben jeden Knäs dazu an, seinen Staat weiter auszudehnen und Städte zu gründen, um seinen Kindern F ürstontliümer zu hinterlassen. Völker von türkischer Race, welche die südlichen Steppen besetzt hielten, lenkten den Andrang der Bevölkerung der Mittelregion und dem Norden, dem Waldgebiet zu, das um der Nomaden willen lange Zeit das einzige für sesshaftes Leben geeignete Gebiet war. Mönche, Kaufleute und Krieger gründeten am Ufer der Flüsse und in den Lichtungen der Wälder Klöster, Niederlagen, befestigte Städte. Zwischen den slavischen Einwanderern und den linnischen Urbewohnem diente das Christenthum als vereinigendes Band. Es wurde zum bindenden Mörtel einea neuen Volkes, Nach der geringen Zahl der Erinnerungen zu schliessen, die der Grossrusse im Vergleich zu seinen Brüdern in Klein- und Westrussland von den alten slavischen Götttern sich erhalten hat, ist diese Colonisation erst nach der Bekehrung der Russen zum Christenthum zu einer grossen Entwicklung gelangt. Sie vollzog sich dann so rasch ') Das System der Theilf'ürstenthi'uner bat zu vielen Streitigkeiten und verschiedenen Hypothesen Aidass gegeben, taue Uehersicht hierüber giebt das tredliche Ruch von Ralston: Karly Russinn history |>:iü'. 192 u. 93, uml so leicht, dass in etwa hundert Jahren diese Colonien im Innern mit den Metropolen des Westens wetteiferten und dahin strebten, Centrum des Reichs zu werden. In der Mitte des zwölften Jahrhunderts nahm ein Kniis von Wladimir an der Kläsma, einige Meilen östlich von Moskau, ohne seine Hauptstadt zu wechseln, den bis dahin dem Oberherrn in Kiew vorbehaltenen Titel eines Grossfürsten an. Ein wenig später wurde die heilige Stadt am Dnjepr von russischen Sünden eingenommen und geplündert. Bei diesen Streitigkeiten der Karsten gab es übrigens unter den Neu-Hussen von Susdal und der Ursprünglichen Huss weder Hacenkampf noch nationales Schisma, wie diejenigen später behauptet haben, die aus Gross- und Kleinrussen zwei verschiedene Nationen machen wollten.' Wenn dieser Krieg zwischen Kiew und Susdal eine historische Bedeutung halte, SO war es, weil der Zusammenstoss des patrimonialen Kegierungs-princips im Norden mit der patriarchalischen Anarchie im Süden, der erste Triumph der in der Waldregion des Ostens sich bildenden Autokratie über die Sippentraditionen der Einäsen und über die l'nah-hängigkcitstraditionen der Städte und Stämme des Westens war. An den Ufern der Wolga. Kläsma und Moskwa hatten sich die gegenseitigen Beziehungen zwischen den Nachkommen Kuriks und 'liren l'ntorthanen allmälieh verändert. In den schwachen Städten, die von den Knäsen in unbewohnten Landstrichen oder unter heidnischen Urbewohnern gegründet waren, gab es nur wenige oder gar keine Volksversammlungen, keine „Wetsche"1) mehr zur Beschränkung der Fürstenmacht, In diesen abgelegenen Kegionen setzt sich der Fürst auf dem Boden, den er erobert oder oolonisirl hat. fest; er "mimt dauernd von dieser seiner Residenz Besitz, statt von Apanage x,i Apanage zu ziehen. An die Stelle der ungetheilten Oberherr-Schaft des Hauses Kuriks tritt eine erbliche Patrimonialregierung, die durch Erbschaft oder Eroberung dereinst die ganze Nation unter eine einzige Herrschaft vereinigen sollte2). Von den fruchtbaren Ufern des halbclassisohen Borvsthenes war ('lls ''entrinn Russlands in ein Land übergegangen, das weiter von Europa ab lag und ihm weniger gleich war, auf einen ärmeren Boden ') »Wetsche" (VOM „wetschatj", reden, besprechen, wie parleineiit von parier.-, Volksversammlung, die sich lange in Nowgorod und Pskow erhielt; dagegen wurde in Röfltow und den Städten des alten Susdal, die später das (Irossfürsten-"ann Moskau bildeten, die Wetsche bald unterdrückt oder aller Bedeutung beraubt, ") Solowiew, Gesch. Russlands Bd. XIII. pag. 26, 26, Ttschitscherin, Essay "her die Geschichte des russischen Rechts. (Beides russisch.) und in ein rauheres Kliina, zu einem gemischteren, jedem germanischen und byzantinischen Einfluss fremderen Volke. Die Sitten des Westens, die schon im Russland des Dnjepr nur schwach«1 Wurzeln gehabt, fanden keine Zeit, tielere in diesem undankbaren Enden zu schlagen. Hier waren noch weniger europäische Elemente, noch weniger politische Rechte des Individuums, der Korporationen und Städte vorhanden; das Land war last überall nur Ackerland, auf dem der Hof oder das Haus, der „Dwor" mit dem Familienhaupt an der Spitze Basis und Typus der socialen Ordnung war. Ohnehin uns so fern, sollte dieses Volk noch weiter von uns getrennt werden durch die hundertjährige Herrschaft von Stämmen, die mehr als alle andern den Sitten, der Religion, der Zivilisation Buropas widerstrebten, Drittes Capitel. Die tatarische Herrschaft, ihr Einfluss auf die Sitten und den Nationalcharaktcr. Souveränität und politischer Zustand. Ursachen und Eigenart der uios-kowitischen Selbstherrschaft. Worin unterschied sieli das Russland des siebzehnten Jahrhunderts von dem Westen'.'- Lücken in der russischen Geschichte. Der Einfall der Mongolen im Beginn des dreizehnten Jahrhunderts zerschnitt den Eaden der Geschichte Russlands. Die Folgen dieses schrecklichen Ereignisses waren Russlands besonderes Geschick, die Ursachen waren es nicht. Diese scheinbar einzeln dastehende Katastrophe war nur ein Zwischenfall in. dem grossen Kampfe zwischen Europa und Asien. In dem Zusammenstoss der beiden Welten handelte es sich von den russischen Steppen bis zu den spanischen Sierren hin um dasselbe. Gegenüber den un er messlichen convergiremlen Heeren, die von Asien und Afrika aus gleichsam einen riesigen Halbmond bildeten, der mit seinen Armen Europa zu umfassen drohte, vertheidigte Russland den linken Flügel der Christenheit, wie Spanien den rechten, während Frankreich und England, Italien und Deutschland in den Kreuzzügen durch kühne Offensive gegen das Centrum des Feindes anstürmten. Russland hatte in seinen südlichen Einöden den Petschenegcn, Polowzen und anderen Nomaden türkischer Race gegenüber diesen Kampf gegen Asien lange vor der grossen Invasion des dreizehnten Jahrhunderts gekämpft: Auf den gefahrvollsten Posten gestellt, dem ausgedehnten Reservoir der Barbaren am midisten, von Europa verlassen, dessen Grenze es deckte, so musste es unterliegen. Die gegen die Heere des Dscliingisehan verbündeten russischen Fürsten hatten 1224 an der Kalka dem ersten Stoss tapfer standgehalten. Ein zweiter Einbruch fand nur noch hinter den Mauern der Städte Widerstand. Die beiden Hauptstädte Wladimir und Kiew und mit ihnen die meisten kleineren Städte wurden im Sturm genommen. Es schien, als müsse die russische Nation untergehen) und als sollten die unermesslichen Ebenen als natürliche Fortsetzung Asiens auch wirklich asiatisch werden. Die Natur, die zu der Invasion die Wege gebahnt hatte, setzte ihr aber auch selbst die Schranken. Die Tataren, die als Herren der südöstlichen Steppen hier nun die Heimath wiedergefunden zu haben schienen, fühlten sich wenig heimisch, sobald sie in die Wälder des Nurdens traten. Sie setzten sich hier nicht fest. In diesen, für ihre halbnomadischen Sitten allzu europäischen Kegionen zogen die Asiaten es vor, Tribut zu erheben, statt die Herrschaft zu üben. Die Knäsen erhielten ihre Fürstenthümer als Lehen der Mongolen zurück: sie niusst.cn eine Art tatarischer Residenten, die Baskaken, zur Volkszählung und Steuererhebung bei sich aufnehmen. Zuerst gezwungen, in die Horde im Herzen Asiens zu gelin, um von den Nachkommen Dschmgisohans ihre Investitur zu empfangen, wurden sie zuletzt Vasallen eines Vasallen des Grosschans. Em diesen Preis bewahrte Bussland sich seine Religion und Dank seiner Geistlichkeit und seinen Fürsten — seine Nationalität. Nie ist ein Volk einer gleichen Schule der Geduld und De-müthigung unterworfen worden. Der heilige Alexander Newsky, der hei Ii go Ludwig der Russen, ist, der Typus der Fürsten dieser Epoche, ln der sich der Heroismus der Erniedrigung beugen musste. Sieger Ober die Schweden und die deutschen Ritter an der Ostsee, die statt Russland zu helfen, ihm einige Fetzen Landes stroitig machten, musste Alexander Newski, um sein Volk zu schützen, vor den Tataren sich erniedrigen. Ihnen gegenüber hatten die russischen Fürsten keine Waffen, als Ritten, Geschenke und Intriguen. Sie machten hiervon zur Erhaltung oder Vermehrung ihrer Macht ergiebigen Gebrauch, lUdem sie sich vor ihren fremden Herren gegenseitig anklagten und verlüumdeten. Euter dieser erniedrigenden und aussaugenden Herrschaft welkten die in den alten Fürstentümern vorhandenen Keime d^r Cultur dahin. Nur die magere und sumpfreiche Region im Nordwesten, das Gebiet von Pskow und Nowgorod, welches die entfernte Lage vor der Invasion schützte, konnte bei nomineller Unterwerfung 0111 Ireies und europäisches Leben führen. Unter den vielen Wirkungen der Unterjochung sind wohl die 6 r°y -n oa ul ieu, Belob d, Zaren u. d, Etaiaen. RJ moralischen Folgen derselben am deutlichsten wahrnehmbar. Völkern wie Individuen ist die Leibeigenschaft unheilvoll; sie beugt ihn1 Seelen so tief, dass sie selbst nach der Befreiung noch Jahrhunderte zu ihrer Wiederaufrichtung bedürfen. Alle unterdrückten Nationen und Racen empfinden die Nachwirkung; die Leibeigenschaft erzeugt den Knechtssinn, die Erniedrigung erzeugt die Niedertracht. An die Stelle der unnütz gewordenen Kraft tritt die List, und die Schlauheit, die am meisten zur Uebung kommt, wird die allgemeinste Eigenschaft. Das tatarische Joch entwickelte in den Russen die Fehler und (iahen, deren Keime ihnen bereits ihre Beziehungen zu Byzanz verliehen hatten, und die — von der Zeit gemässigt, später ihren diplomatischen Talenten zu gute gekommen sind. Die Isolirung in den beiden Grenzländern Europas und die muha-medanische Herrschaft, die deren Folge war, haben in vieler Beziehung Spanien und Russland vergleichbare Schicksale bereitet. Diese doppelte Analogie hat in der politischen und religiösen Entwicklung der beiden so verschiedenen Länder eigenthümliche Aolmliehkeiton geschaffen; ein scheinbar gleiches Joch hat aber auf den Charakter der beiden Völker die entgegengesetztesten "Wirkungen geübt. Der unterjochte, doch nie unterworfene Spanier, der Castilianer, der zur Vertreibung des Ungläubigen nur nach dem Schwerte griff, hat von der maurischen Invasion her einen übertriebenen Stolz sich bewahrt, einen masslosen nationalen Hochmuth, eine verächtliche Schroffheit gegen alles Fremde. Der Russe, der seine Waffen auszuliefern gezwungen wurde, der Moskowiter, der all sein Heil in der Geduld und Fügsamkeit suchen musste, hat von dem tatarischen Joch her einen bisweilen weniger würdigen Charakter sich erhalten, dessen Fehler aber selbst für den Fortschritt seines Vaterlandes weniger gefährlich sind, als die guten spanischen Eigenschaften. Der Druck des .Menschen, zum Druck des Klimas gefügt, schnitt gewisse, schon von Natur angedeutete Züge tiefer in die Seele des Grossrussen ein. Die Natur machte ihn zur Unterwerfung, zur Schwermuth, zur Entsagung geneigt, die Geschichte bestärkte diese Neigungen. Wie das Klima machte auch die Geschichte ihn unempfindlich. Ein«; Wirkung der tatarischen Herrschaft und der ganzen russischen Geschichte ist die Bedeutung, die dem nationalen Cultus zufiel. Hierin erinnert Russland wiederum an Spanien. Das Unglück öffnet die Seele der Völker ebenso wie das Herz des Individuums dem* Hauben, die Religion schöpft aus den öffentlichen Bedrängnissen ebenso wie aus der privaten Trauer neue Kraft. Ein solcher Tinpuls musste in einem Jahrhunderte, wie es das dreizehnte war, in einem Lande wie Russland, von Dauer sein. Von allen Seiten erstanden Propheten und Erscheinungen, jede Stadt hatte ihr wunderthätiges Bild, das den Feind zum. Stehen brachte. Inmitten der allgemeinen Armuth strömten Reichthümer als Opfergaben den Kirchen zu. Die schwarzen byzantinischen Heiligenbilder wurden mit massivem Silber und Gold bedeckt und mit jenem strahlenden Zierrath edler Steine umgeben, der heute noch den Reisenden in Erstaunen setzt. Die Menschen drängten sich zu den Klöstern, deren zinnengekrönte Mauern die einzigen Zufluchtsorte für die Sicherheit des Leibes wie für den Frieden der Seele boten. Die Politik der Tataren schlug der Religion und der Geistlichkeit zum Vortheil aus. In dem Bestreben, den Cultus der Besiegten zu schonen, wurden die Chans fast Schirmherrn desselben. Sie waren es, welche die Kirchengüter von Steuern entlasteten, und von der Horde empfingen wie die Grossfürsten, so auch die Metropoliten die Bestätigung ihrer Würde. Das Joch eines dem Christenthum fremden Feindes verstärkte die Anhänglichkeit an den christlichen Cultus. Religion und Vater« land waren Eines; der Glaube vertrat die Nationalität und erhielt sie. Schon setzte sich die Meinung fest, die heute noch die russische Nationalität mit dem Bekenntniss der griechisch - orthodoxen Kirche 'denfilicirt und diese zum Hauptbürgen für den Patriotismus macht. ■Sehnliche Vorgänge haben sich auch bei andern Völkern vollzogen: Russland aber ist es eigen, dass alle Kriege in seiner Geschichte dieselbe Wirkung geübt haben. Um der Glaubensverschiedenheil willen haben seine Kämpfe gegen den Polen, Schweden und Deutschen einen religiösen Zug erhalten, wie sein langer Kreuzeskrieg gegen den Tataren und Türken. Dem Volke wurde jeder Krieg zum Glaubenskrieg, und der Patriotismus zog aus der Frömmigkeit wie aus dem Fanatismus seine Verstärkungen. In diesen Kämpfen gegen den Ungläubigen, den Ketzer und den Katholiken lernte der Russe sein Land als das einzige vom muselmänniselien oder päpstlichen Joch freie wie ein gesegnetes Land, wie einen heiligen Boden ansehn. End er gelangte endlich dahin, sich, wie der Jude, als das Volk Gottes zu betrachten, und nannte sein Vaterland mit religiöser Ehrfurcht das "heilige Russland". Auf die politische Souveränität übte die tatarische Herrschaft zwei unter sich zusammenhängende Wirkungen aus: sie beschleunigte die Nationale Einheit und stärkte die Autokratie. Das Land, das unter dem Prinoip des Theilfürstenthums der Auflösung zu verfallen schien, wurde durch den Druck der Fremden wie mit eiserner Kette zusammengeschmiedet. Als Suzerän der Grossfürsten, die er nach Belieben 13* erhob und entthronte, verlieh der Chan ihnen einen Theil seiner Macht. Die asiatische Tyrannengewalt, in deren Auftrag die Grossfürsten regierten, autorisitte sie ihrerseits Tyrannengewalt zu üben. Ihr Despotismus gegen die Hussen hatte in ihrer Knechtschaft gegenüber den Tataren seinen Ursprung. So fand Dank der Horde — in den Händen des „Weliki-Knfis" von Moskau, der in einen Generalagenten der Tataren verwandelt war, eine territoriale Concentration verschiedener Fürstentümer, wie zugleich eine politische Concentration der Gewalten statt. Alle Freiheiten, alle Rechte und Privilegien verschwanden. Die Glocke der ,,Wetsche" hörte auf, die Städte zu Bürger-versammlungen zu rufen. Den Bojaren und alten Theilfürslen blieb keine andere Würde mehr, als die ihnen der Souverän gewährte. Aristokratisch oder demokratisch, jeder Keim einer freituen Regierung wurde erstickt. Es blieb nur Eine Macht bestelm, die des Grossfürsten, die Selbstherrschaft, die auch nach mehr als fünfhundert .Jahren jetzt die Grundlage des Reiches ist. „Den Mongolen", so schrieb Karamsin am Anfange unseres Jahrhunderts, ..dankt Moskau seine Grösse und Kussland seine Autokratie''. Heutzutage bekämpft der russische Patriotismus diese Auffassung; er sucht lieber die Fundamente der moskowitischen Autokratie in den physischen und ökonomischen Bedingungen Grossrusslands und in dem Charakter des Grosrussen selbst, in seinen Institutionen von primitiver und patriarchalischer Form, in seiner Auffassung von der Familie und der häuslichen Zucht. Früher wurde ganz Russland, der Charakter der Nation wie die Art der Regierung aus dem mongolischen Joch erklärt. Heutzutage hat diese Auffassung fast allen Credit verloren. Die Mehrzahl der heutigen Historiker betrachtet die lange Herrschaft der Tataren einfach wie eine Art Ueherschiohtung eines fremden Elements, dessen Gewicht freilich schwor auf dem unterworfenen Volke gelastet habe, aber ohne dass Sitten und Geist des asiatischen Eroberers in das Innere oder die Sende seiner russistdien Vasallen eingedrungen wären. Bei der dreihundertjährigen Berührung mit den Nachkommen Dschingis-chans will man nur eine äussere, oberflächliche, ganz mechanische Einwirkung erkennen. Man schreibt dieser langen Periode der „Ta-tarschtschina" nur um ihrer indirecten Wirkungen, um der Isoliruug willen, in die sie Kussland stellte, um des plötzlichen Haltes willen, das sie seinem normalen Wachsthum gebot, Wichtigkeit zu ]). 1) Der grosse Moskauer Historiker Solowiew ist soweit gegangen, zu sagen, die drei Jahrhunderte der tatarischen Unterwerfung hättten in Russland nicht mehr Spuren hinterlassen, als die kurzen Hinfalle der Petschenegen und Rolow/.cii. .Man sollte über diese Reaction gegen die alten Historiker und die alten Auffassungen kaum in Erstaunen gerathen. Bilden doch fast alle Völker heutzutage ihre Geschichte in demselben Sinne um, indem sie sieh bemühen, alles, was ihnen vom Auslande und besonders von einer Eroberung geworden ist, möglichst gering darzustellen oder aus ihrem nationalen Leben ganz auszumerzen. So machen es die Engländer in Bezug auf die normannische Eroberung, so machen wir Franzosen selbst es in Bezug auf die germanischen Einfälle. Das hat zwei Gründe. Einerseits beschränken in der Geschichte der Völker sowie der Erdkugel die Historiker wie die Geographen immer mehr die Bedeutung der Devolutionen und plötzlichen Katastrophen zu Gunslen der langsamen oder fortgesetzten Thätigkeit und der andauernden Ursachen. Andererseits stellt ein oft unwillkürlicher Patriotismus die von aussen kommenden Impulse und den heftigen Stoss der Invasionen gern in die zweite Linie, um Alles nur sich selbst verdanken, um die freiwillige und innere Entwicklung des nationalen Geistes allein in's Licht stellen zu können. Die neuen wissenschaftlichen Gepflogenheiten, die sozusagen naturalistischen und biologischen Tendenzen der Kritik und der Goschiehtschreibung verstärken diese Richtung. Man gefallt sich darin, die Völker wie lebende Wesen zu betrachten, deren jedes in sich das Princip und Gesetz seines eigenen Wachs-thums trägt. Mit dieser Anschauung übereinstimmend erhebt jedes Volk gern den Anspruch auf die freie Selbständigkeit seines Geistes "nd seiner geschichtlichen Entwicklung. Was die Russen in Bezug auf die Tataren thun, thun die Spanier in Bezug auf die Araber. Die Halbinsel, die — unglücklicher als Kussland — Jahrhundertelang fast in ihrer ganzen Ausdehnung unmittelbar von Semiten und Barbaren regiert worden ist, vertheidigt sich gegen die Annahme, durch ihre muhamedanischen Herren geistig gemodelt zu sein. In solchen Revendicationen liegt ein grosser Theil Wahrheit: es war nicht der Tatar, der Russland, nicht der Maure, der Spanien gemacht hat. Wenn man in natürlicher Reaction gegen alte und übertriebene .Meinungen heute bisweilen in das entgegengesetzte Extrem verfällt und darüber vergisst, dass ein Volk nicht Jahrhunderte hing in der Unterwerfung leben konnte, ohne deren Spuren an sich zu behalten, so scheint es doch unbestreitbar, dass man früher den Einfluss der Muselmanen auf Russland ganz besonders übertrieben und dabei vergessen hat, dass die Russen ausser ihrer Religion immer ihre eigene Regierung und ihre eigenen Gesetze behalten haben, und dass dies Alles m vor einer knechtischen Nachahmung des fremden Herrn schützte. Die Nomaden der asiatischen Steppen sind weit davon entfernt, die einzigen historischen Erzieher Moskowiens gewesen zu sein. Neben dem asiatischen Einfluss der mongolischen oder türkischen Gewalthaber hat, wie schon erwähnt, Kussland früh unter einem rücksichtsvolleren und nicht minder mächtigen Einfluss gestanden, der zugleich früher und später, als der der Tataren wirkte und nicht durch den Glauben oder die Vorurtheile des Volkes bekämpft, sondern vielmehr durch dessen Sympathieen und Neigungen zum Uebernatürlichen gestärkt wurde. Von Wladimir bis zu Kefir dem Grossen ist Russland nie ganz dem byzantinischen Einfluss entzogen gewesen, der sich in der Geistlichkeit, den Schulen, den Gesetzen, der Literatur geltend machte. Dankt nicht beispielsweise die moskowitische Autokratie ebensoviel dem orthodoxen Hofe der Kaiser am Bosporus als dem halbnomadischen Serail der mongolischen Chane? Wenn die Regierungsform der Horde, der man auch mit der Bezeichnung patriarchalisch schmeicheln dürfte, dem in ihrem Schatten grossgewordenen Zarenthum eine asiatische Färbung gehen konnte, so waren es doch Byzanz und die Griechen des Reiches des Verfalls, denen die russischen Fürsten Typus, Vorbild, Formen, Etiijuette, ja selbst den Namen der Autokratie entnahmen, wie nach dem Falle Konstantinopels Joann III. den Paläologen den kaiserlichen Adler entlehnte 1). Was von der Regierung und der Autokratie gilt, gilt offenbar auch von vielem Anderen. Ein grosser Theil dessen, was man in Sitten, Lebensweise, Kunst und Gesetzen der Moskowiter den Tataren zuzuschreiben versucht ist, kann in Wirklichkeit ebenso gut von den Byzantinern stammen. Auf Byzanz gehen der Schleier und die (Tausur der Frauen im terem 2) ebenso zurück, wie auf die Tataren: auf Byzanz vielleicht auch die Kniebeugungen und das Berühren der Erde mit der Stirn (tschelobitje) mit den erniedrigenden Formen des grossfürstlichen Hofes, auf Byzanz die langen Kleider, der Kaltau und der Armäk3), wie sie die alten Russen immer tragen, auf Byzanz selbst und auf die Codices seiner Kaiser die Spiessruthen, wenn nicht auch die Knute, die körperlichen Züchtigungen und raflinirten Strafen. Man kann dieselbe Frage in Betreff der Kunst und der Dichtung auf- ]) Der russische Titel Samodershcz ist; nur eine buchstäbliche Ccborsot/.ung die Nachbildung des griechischen Titels; Autokrator. *) Ungeachtet des Anklang* au das arabische Wort barem, stammt das Wort lerem, He/.eichiuuig des russischen (iynäkaion, vom griechischen n'oiiuor, /.immer, Haus. ■'') Das Wort Kaftan stammt jedoch aus dem Türkischen oder Tatarischen, Armäk von Armenien, — m — werfen, in denen man allzuoft sieh bemüht hat, eine asiatische Inspiration zu entdecken. Die Ansicht der Gelehrten, die in den historischen Volksgesängen, den russischen Büilinüi, Nachahmungen tatarischer Lieder1) gefunden zu haben meinen, wie die der Archäologen die sich einbildeten, in den russischen Zwiebelkuppeln eine mongolische Form wiedergefunden zu haben, die vom (langes bis zum Dnjepr, soweit die Nachkommen des Dschingischan und Tamerlan2) herrschten, sehr häulig vorkomme: diese Ansichten in Zweifel zu stellen, wird wohl nicht unerlaubt sein. Im privaten wie im öffentlichen Leben ist es meist schwer, dem muhamedaniSchen Unterdrücker wie dem orthodoxen Lehrmeister sein besonderes Theil zu bestimmen, da die friedlichen Lehren des einen in der Kegel die rauhen Vorbilder des andern bekräftigten. Es ist um so schwieriger, zwischen den Belehrungen aus der Schule so verschiedenartiger Lehrmeister zu unterscheiden, als trotz aller Gegensätze in den beiden Völkern und ihren Civilisationsformen Byzantiner und Tataren im Ganzen dem jungen Russland gleiche Lehren gaben. Von Byzanz wie von Sarai, von dem verweichlichten und kindisch gewordenen alten Kaiserreich wie aus dem halbnomadischen Lager der wilden Hirtenvölker, von den bleichen Erben der classischen Traditionen wie von den Tataren, die durch ihre Bekehrung zum Islam die Schüler der Araber und Perser geworden waren, gingen für Kussland vor Allem die Vorbilder des Despotismus und die Beispiele der Knechtschaft aus. Auch ist oft schwer in dem groben Einschlag des russischen Lebens die beiden gleichmässig orientalischen Eäden auseinander zu halten, so ähnlich erscheint uns deren Farbe. Zum Unglück der Russen wirkten die abgelebte Civilisation ihrer christlichen Lehrmeister und die stillstehende Barbarei ihrer islamitischen Unterjocher nicht dahin, sich gegenseitig zu verbessern oder aufzuheben, ') l VI kt den arischen oder tu ramschen Crsprung dieser (iesänge s. Hainbund „La Russie epique". ') Violet-le-DuC hat in .seinem Werke über die russische Kunst 1JS77 überall, m d,.r Architektur, im Ornament, in der Kalligraphie Kusslands einen entschieden talarischen und indischen Kinlluss zu finden geglaubt. Die russischen (ie-lehrten, wie (traf S. Strogonow und Buslajcw haben nachgewiesen, wieviel Irr-thlim und Phantastik in dieser so generalisirten Theorie steckt; sie haben an der Hand der Denkmäler den Beweis geliefert, dass die Mehrzahl der Formen ""d Omajnente, die der französische Architekt auf die Mongolen und Indier z,iriiekii"diren mochte, in Wirklichkeit von den südlichen Slaven und den Byzantinern tierkommt. (S. namentlich Buslajcw: „Moskauer Kritische Hund-9chau", Jan. u. März lH7o (ruas.), wie die Brochurc des gelehrten V. Martynow »Die russische Kunst" (franz.) Arras 1878.) sondern vielmehr dahin, bei jenen dieselben Mängel Festzusetzen. Statt ihnen ein Gegengewicht zu bieten, drängte der doppelte Impuls, der ihnen von aussen kam, die Russen in derselben Richtung weiter und trennte sie in fast gleichem Masse von Kuropa. Ob Vasall des Tataren oder Schüler des Byzantiners, der Moskowiter athmete orientalische, vielleicht asiatische Luft, denn das Byzanz des Verfalls war ebenso sehr von Asien, wie von Griechenland oder Rom abhängig. laue furchtbare und zugleich bewundernswerthe Geschichte ist die Geschichte der moskowitischen Selbstherrschaft, die unter dem Schatten der Horde emporwuchs. Nie gelangten so bescheidene Anfänge so plötzlich zur Grösse, nie gab es ein schlagenderes Beispiel von der Macht der Tradition in einem Fürstenhause, das Blut und Gut, wie Zweck und Ziel forterbt, dessen Gesichtspunkte zuerst beschränkt sind, sich aber von tieschlecht zu Geschlecht erweitern, und dessen Anlagen selbst durch eine Art Zuchtwahl zu wachsen scheinen. Listige, habgierige Männer von geringer Ritterlichkeit und geringer Gewissenhaftigkeit, die geduldig durch Erniedrigung die Erhebung vorbereiten: Fürsten von meist mittelmässigem Geiste, ohne alle die glänzenden Eigenschaften der Knäsen der früheren Periode, trübe Gestalten von wenig Relief und wenig Individualität mit Zügen, die von fern gesehen zu verschwimmen scheinen l), - so sind die Joan's und Wassili des Vierzehnten Jahrhunderts beschallen, die in ihrem Schatze Ke'n hthümer sammeln und ihr Erbe mehren, wie einen Privatbesitz, und zwar, wie es nach ihren Verträgen und Testamenten scheint, ohne klare, politische Idee, mehr als Grundbesitzer, die nach Erweiterung ihres Gutes begehrlich sind, wie als Fürsten mit dem Ehrgeiz der Erweiterung ihrer Staaten2). Dieser private, domänen-hafte Charakter sollte trotz aller Erfolge und aller Eroberungen dem grossen moskowitischen Reiche in Regierung und Verwaltung bis zu der Reform Peters des Grossen eigen bleiben 8). Die Einführung des Erbrechts in directer Linie gab Moskau die 0 „Alle diese Fürsten von .Moskau", sagt Solowiew, „sehen sich tibi dich; in ihren leidenschaftslosen Gesichtern die charakteristischen Züge des Einzelnen zu finden, fällt dem Historiker schwer. Sie sind alle von derselben Idee durchdrungen, gellen alle denselben Weg und zwar langsam, vorsichtig, aber unbeugsam, ((ieschichte Kusslands [Id. IV.) *) Das Wort (iossndar, das beide „Herrscher" bedeutet und nur für den Kaiser gebraucht wird (?) hatte zu jener Zeit die Bedeutung von Chosäi'ii, Kigen-ihinner (Hausherr.) a) S. besonders Tschitscherin : „Untersuchungen über die (ieschichte des russischen Rechts" u. „Die Landesinstitutionen Russlands im 17. sec. (russ.) Verfassung, welche ihm den Triumph über alle seine europäischen und asiatischen Rivalen eintrug. Ein Fürst von Moskau, Joann Kaiita erhält gegen 1330 von der Horde den Titel des Grossfürsten; er wirft sich zum Generalpächter der tatarischen Steuern auf und mehrt dabei rasch seine Macht und seinen Besitz. Sein Grosssohn Dmitri Donskoi, der einzige Held der Familie, fühlt sich bereits stark genug, um das Koos der Waffen gegen die Horde erproben zu können. Auf dem Kulikowofelde am Don (1)180) siegreich, büsst er in Glüeks-wechseln den allzu früh eingetretenen Sieg. Mitunter in Empörung gegen die Chane, meist aber ihre ergebensten Tributzahler stellen die Nachfolger Dmitris durch Sehlauheit die moskowitische Macht wieder her, die für kurze Zeit durch Tapferkeit sich Schaden zugefügt hatte. Indess sich unter ihrer Leitung die Einigung Russlands vollzog, zerfiel die Horde in drei Chanate. Am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts tritt Joann III. auf, ein in Wahrheit grosser Monarch in der Art seiner grössten Zeitgenossen Ludwig XL oder Ferdinand der Katholische. Joann III. macht das Chanat von Kasan zu einem Vasallenstaat; sein Enkel Joann IV. nimmt Kasan und Astrachan in Entert hanschaft. Joann III. beraubt die Theilfürsten, Joann IV. de-müthigt die Bojaren und die alten Familien. Der erstere unterwirft Nowgorod, der andere vollendet durch Hinrichtungen und Verbannungen dessen Ruin. Die letzten Fürstenthümer, die letzten freien Städte verschwinden und mit ihnen jedes Recht der Fürsten, der Grossen und des Volkes. Russland ist geeinigt vom kaspischen bis zum weissen Meere, und in diesem Reiche, dem grössten in Europa, herrscht nur eine Gewalt, der Zar. Unter Joann IV. dem Schrecklichen, gelangt die Selbstherrschaft auf ihren Culminationspiinct und wird zu einer Art methodischer Schreckensherrschaft. Ein mystischer Schurke von unmenschlicher Frömmigkeit und spöttischer Grausamkeit, ein inmitten von Verdacht und Complotten herangewachsener, blutdürstiger Reformator, ein für seine Zeit und sein Land merkwürdig freier und wissbegieriger l) Geist, der den praktischen Sinn des Russen mit den Hallucinationen des Besessenen in sich vermengt, Mörder seines Sohnes und Gatte so vieler Frauen, wie Heinrich VIII. sie besass: so ist dieser Feind der Bojaren Joann IV. zu gleicher Popularität gelangt, wie dereinst Nero. Früher allzusehr verurtheilt, heute vielleicht allzusehr gepriesen, ist dieser Alles nivellirende Zar nur der wilde Vorgänger Peters des Grossen, mit dem die Volks* *) S. die merkwürdige Corrcspondcnz Joann's IV. mit dem Rebellen Kurbski ll»d der Königin Elisabeth, Lieder ihn bisweilen verschmelzen1), und der ebenso den Namen des Schrecklichen verdient hatte. Befreit von der tatarischen Herrschaft breiten sieh die Hussen in allen Richtungen über ihre weiten Ebenen aus. An der Wolga niedersteigend gelangen sie zum Kaspisee und auf den Weg nach dem Kaukasus und Centraiasien; die Kama aufwärts ziehend übersteigen sie den Ural, und ein kosakischer Rauher erobert Sibirien. Die tatarische Eroberung war eine vorübergehende Unterwerfung des nordischen Waldes unter das Feld (pole), die Steppe des Südens, ohne dass diese sich jenem hätte assimiliren können. Die Waldregion mit ihren moskowitischen Zaren unterwirft ihrerseits, nachdem sie zum Sitze eines ackerbauenden, festen und centralisirten Staates geworden, wie sich ein solcher im ,,trocknen Meere" der Steppen nicht bilden konnte, die holzlose Region und einverleibt sie Europa durch Vernichtung der Nomaden, durch Colonisation und Ackerhau. Zu derselben Zeit wenden sich die Russen ungestüm gegen den Westen, gegen das baltische Meer und den Dnjepr, gegen ihre europäischen Heimstätten. Die mongolische Invasion halle das moskowi-tische Grossrussland von der Wiege des Reiches Ruriks, von Weissund Kleinrussland getrennt, die in die Hände der Litthauer und Polen gefallen waren. Im Norden hielten die Schweden und die Nachfolger der Sclnvertbrüder, die Deutschritter, die Küsten der Ostsee besetzt. Moskowien war so zwischen zwei Reihen feindlicher Staaten gedrängt, die es zu erdrücken drohten: im Osten die Tataren, im Westen die Litthauer und der deutsche Orden. Von den Tataren befreit, wurde Russland noch durch einen breiten europäischen Wall, durch eine feindliche, aus seinen eigenen Trümmern aufgeführte Mauer vom Westen geschieden. Es musste sie durchbrechen, um an Europa heran und zum Meere zu gelangen; daher sein Kampf mit. Schweden, das die Erbschaft der Deutschritter an der Ostsee angetreten, und mit Polen, das Litthauen beerbt hatte, ein Kampf, der zuerst Moskowien an den Rand des Untergangs führte, schliesslich aber mit dem Untergang Polens endete. Der Tod der Söhne Joanne des Schrecklichen stellte Russland vor eine Krise, in der es fast zu Scherben zerbrochen wäre. Kaum vollendet schien das mühsam geschaffene Werk der moskowitischen Fürsten mit der Familie derselben zu Grunde gehen zu müssen. In diesem Lande, wo die Souveränität Alles war, fehlte sie jetzt plötzlich, Der Zustand Russlands glich dem Frankreichs nach dem Tode ') S. Hainbund, La Russie epique. Karls VI., als in Paris ein englischer König regierte. Nach dem Erlöschen des Zarenhauses kämpfte eine Reihe von Usurpatoren und Prätendenten um den Kreml, die das Ausland unterstützte; eine Zeit lang campirten die Polen in Moskau, und Ladislaus, der Sohn des Königs von Polen, wurde zum Zaren ausgerufen. Die russische Nationalität und die griechische Orthodoxie, beide in gleicher Gefahr, retteten sich durch ihre Verbündung. Aus dem Grunde des scheinbar trägen Volkes erhob sich die Bewegung, die der innern Anarchie und der Fremdherrschaft ein Ende machte. Ein Metzger aus Nishni rief die Erhebung hervor, Fürst Posharski leitete sie. Nachdem die Polen zurückgeworfen wurden, wird durch den „Semski Sobor", eine Art von Keiohsstünden eine neue Familie, die der Romanow, auf den Thron berufen. In dem Volke, das sich eben selbst befreit, hatte die Erledigung des Thrones weder den Gedanken, noch die Liebe zur Freiheit wachgerufen. Nach dem Ausspruch des Slavophilen Chomäkow, nahm das Volk seine Entlassung von der Politik, nachdem es die Ordnung wiederhergestellt und einen neuen Zaren geschaffen hatte. Das neue Zarenhaus soll die Macht des alten haben; es giebt der letzteren nur noch mehr den religiösen, den väterlichen Charakter. Vergeltlieh reizt das Beispiel des polnischen Adels oder der schwedischen Aristokratie die Nacheiferung der Bojaren. Trotz einiger Formeln'), trotz des „Semski Sobor" bleibt die Selbstherrschaft das Gesetz Russlands. Die Leibeigenschaft der endgültig durch den Csurpatur Boris Godunow an die Scholle gebundenen Bauern giebt den Edelleuten das einzige Privileg; keine Minderjährigkeiten, keine Interregnen, keine Invasionen haben irgend einer Classe der Nation Rechte oder Freiheiten dem Herrscher gegenüber verleihen können. Einem Hussen, der den Ausspruch that, die Autokratie habe das von den Tataren zu Boden geworfene Ifussland wieder aufgerichtet, antwortete ein Ausländer, sie habe es auf die Knie gesetzt. Die übliche Etiquette der Moskowiter gegenüber ihren Herrschern lässt Alles, was je die Servilität der Höfe des Westens erfunden, weif hinter sich. In Bittschriften und Staatsschriften nannten sich Hohe wie Niedere die Leibeignen, die Schaven oder cholopüi des Zaren. Katharina II. hat zuerst einigen Widerstand gegen diese niedrigen Bezeichnungen erhoben; sie passton so sehr zu den nationalen Gewohnheiten, dass sie oft gleichbedeutend mit „Unterthanen" gebraucht wurden. In seinen bekannten Briefen an den Fürsten Kurbski nennt Joann IV. den König von Polen den Sclaven der Sclaven und will ') M:\ii kennt die berühmte Formel: „Der Zar hat befohlen, und die Bojaren haben das Ertlich gesprochen." damit sagen, dass er der Unterthan seiner Unterthanen sei. Seihst Peter der Grosse hat in dem Bericht über die Belagerung Asows an Romodanowski, den er hiebei die Rolle des Zareil spielen liess, diesem Rossenherrseher gegenüber sich als leibeigner Knecht bezeichnet1). Unter Peter wie unter Joann war das kein leeres Wort; der Herrscher verfügte nach Willkür über das Eigenthum, wie über das Leben seiner Unterthanen. Gewohnt, sich vor ihren Pürsten niederzuwerfen und mit der Stirn an den Boden zu schlagen, haben die Russen die Ein-reichung von Bittschriften an den Zar Tschelobitje, Stirnschlagen, genannt. Um sich vor ihrem Fürsten zu erniedrigen, pflegten die moskowitischen Bojaren selbst in Abwesenheit jener statt mit ihren Namen mit knechtischen Verkleinerungsnamen ihre Bittschriften zu unterzeichnen. Da diese entwürdigenden Formeln von den hOhern auf die niedcrn Geselischaftsclassen übergingen, und Jedermann sich vor dem Höhergestellten beugte, drangen Niederträchtigkeit und l'eberhebung von Stufe zu Stufe bis in die Grundschicht der Nation Bei diesem selavischen Volke waren die uns so sehr anwidernden Formalitäten durch religiöses Gefühl und naive Aufrichtigkeit einigermassen veredelt; es mischte sich auch etwas von dem patriarchalischen Geiste hinein, der sich überall in Russland litidet. Der Zar, als der Gebieter, wurde Vater, Väterchen genannt, und diese den theuersten Familienbanden entnommenen Namen, die noch heute der Höflichkeit des Volkes einen so primitiven und zärtlichen Charakter verleihen, waren für das Volk keineswegs leere Titulaturen. Der letzte Bauer durfte den Zaren dutzen, er sah in ihm den natürlichen Beschützer gegen die Bedrückung der Dojaren, und die Zaren selbst betrachteten sich immer als solche. Der Herrscher war zugleich der mit einer absoluten Gewalt über seine Kinder ausgestattete Vater, der Herr, der Eigenthümer des Grund und Bodens und aller Dinge. Eine Episode aus dem sehszehnten Jahrhundert stellt neben der strengen Härte des Zarenthums die selbst in ihrer Erniedrigung nicht Würdelose, rührende Enterwürligkeit der Unterthanen in besonders helles Licht. Es ist die Unterwerfung Pskows, der Sohwesterrepublik von Nowgorod, durch Wassili, den Sohn Joanns III. und Vater .loanns IV., die Beide von ihren Zeitgenossen mit dem Beinamen grosnüi, der Scheckliche, Drohende, ausgezeichnet wurden, was das Attribut der Dynastie oder des Regime zu sein scheint. „Dein Erbgebiet, die ') l'stn'ilow, Gesch. Peters des Grossen. Nach den russischen Cclchrton hätten freilich diese Bezeichnungen ursprünglich nichts Erniedrigendes an sich; cholop oder Leibeigner bedeute einlach Diener. Stadt Pskow, wirft sich Dir zu Füssen", sagten die Abgeordneten einer der zwei oder drei russischen Städte, die die Freiheit gekannt haben, zu Wassili, der gekommen war, ihnen die letzten Rechte zu nehmen, „erweise Deinem alten Erbgut Gnade. Wir, Deine verwaisten Kinder hängen an Dir und den Deinigen bis ans Filde der Well. Gott und Ihr ist in Deinem Erbgebiet Alles gestattet1." Wassili lässt sie hierauf wissen, dass er die Unterdrückung der Wetsche und aller Privilegien verlangt, die seine Vorfahren der Stadt Pskow bestätigt haben. „Es steht in unsern Chroniken geschrieben", sagt ein Bürger in der letzten Stadtversammlung, „dass die Männer von Pskow7 /freue geschworen haben dem Grossfürsten, und dass dieser ihnen gewährt hat, frei nach ihren Rechtsgewohnheiten zu loben. Es steht geschrieben, dass der Zorn Gottes den trifft, der seinen Eid nicht hält. Durch Gottes Gnade verfügt unser Herr jetzt nach seinem Willen über Pskow, sein Erbgebiet, über uns und über die Glocke, die uns zur Versammlung rief. Wir sind unserm lad nicht untreu worden, wir werden unsere Hand nicht erheben gegen unsern Herrn: wir freuen uns seiner Anwesenheit und flehen ihn an, uns nicht ganz zu vernichten." Die Pskowiter nahmen unter Timmen die Glocke vom Glockenstuhl, die sie seit Jahrhunderten zur Wetsche geladen. Wassili versicherte sie bei seinem Einzug in die Stadt seiner gnädigen Gesinnung und liess den versammelten Bürgern anzeigen, dass sie mit Weib und Kind ihre Vaterstadt zu verlassen, sich im Innern des Reiches anzusiedeln und „dort glücklich durch die Gnade des Zaren" zu leben hätten. In derselben Nacht wurden 300 Familien nach Moskau geschickt, und bald kamen Moskowiter aus dem Wolgagebiet, um auf Wassilis Befehl die Stätte der deportirten Pskowiter am Peipussee zu besetzen. Äehnliche Vorgänge — Erneuerungen derer in Ninive und Babylon — vollzogen sich in Nowgorod: das war die Art, in welcher die Zaren ihr Reich zur Einheit führten und nivellirten. .Derartige Beispiele lassen uns die Selbstherrschaft von Peter dem Grossen bis zu Nikolai verstehen. War diese Autokratie, diese Vereinigung aller Gewalten und des ganzen nationalen Lebens in einer einzigen Hand, nur aus der Geschichte, aus der tatarischen Unterdrückung und den Einflüssen von Byzanz hervorgegangen? Keineswegs, die russischen Schriftsteller stellen das mit vollem Rechte in Abrede. Zu suchen ist vielmehr der erste Grund ') Chronik von Pskow, citiri von Karanisin Rd. VII. Diese Zusammenstellung Gottes mit dein Herrscher kehrt in den russischen Chroniken oft wieder, wie auch in den VolkssprüchWörtern: „Es hat Gott und dem Fürsten gefallen", „Gott und der Zar werden Dir ratheii." zu der Form der russischen Regierung, die erste Ursache der langsamen politischen und bürgerlichen Entwicklung des Landes von Rurik bis zu IVter dem Grossen in der Natur und dem Boden selbst, in den physischen und ökonomischen Bedingungen Russlands, in der Ausdehnung und in der Armuth der magern Waldregionen, in denen der moskowitische Staat erwuchs, ferner im Missverhältniss des un-ermesslichen Gebietes zu der spärlichen Bevölkerung. Aus diesen Umständen erklärt sich für Russland die lange Dauer der embryonischen Vorgeschichte, aus ihnen der Zustand, den ein russischer Historiker die „Prolongation der Periode des tlüssigen Staates" nennt1). Was hätte es auch Schwierigeres geben können, als einen festen, dauerhaften und soliden Bau auf diesen unbegrenzten Ebenen zu errichten, über welche die Woge der Invasionen ungehindert hinlluthete. und wo die Bevölkerung immer im Begriffe schien, zu versiegen und sich zu verlieren, wie die Bäche in der Wüste, so dass sie festzuhalten und an die Scholle zu binden die Einführung der Leibeigenschaft nöthig wurde? In einem derartigen Lande musste die Gewalt, die den Staat schaffen und Lebensfähig zu machen im Stande war, um so grösser sein, je schwächere Rande den Einzelnen an den Roden, die verschiedenen Stämme an die verschiedenen Landesgebiete knüpften. In diesem Sinne konnte Solowiew sagen, dass die ausserordentliche Energie, die übermässige Spannung des Regierungsorganismus eine natürliche folge der Schwächlichkeit und unvollständigen Entwicklung des socialen Ganzen war. Die Schlaffheit des innern und freiwilligen Zusammenhangs wurde durch eine von aussen wirkende (.'entralisirung ersetzt, durch die mechanische Centralisirung aller Volkskräfte in der Hand der Autokratie. Inwieweit gehört das Russland der ersten Romanows, das Moskowien des siebzehnten Jahrhunderts zu Europa? Von germanischen Fürsten auf slavischen Grundlagen errichtet, durch das Christentum unter dem Einfluss von Konstantinopel zusammengehalten, stand dasjenige Russland, das die Tataren niederwarfen, also auf europäischer Basis. Dasjenige Russland, welches Moskau auf des ersteren 'Trümmern aufrichtete, war aus verschiedenartigen Materialien erbaut, die zum Theil Asien entnommen waren; es war ein Bau einer Bastard-architektur, entstanden aus Byzantinerthum und Mongolenthum, aus Gothik und Renaissance, ein Bau ähnlich der bizarren und fast ungeheuerlichen Kirche Wassili Blaschennoi, die Joann der Schreckliche in Moskau aufführen liess. ') Solowiew, Journal für Staatswisscnselial'ten 1K71K (russ.) In der russischen Geschichte überrascht vor Allem ihre Unfruchtbarkeit und verhältnissmässige Armuth. In allen ihren lVripetieen fehlt es ihr an grossen religiösen und geistigen Bewegungen, an grossen socialen und politischen Epochen, wie sie das so bewegte und thätige Leben der westeuropäischen Völker bezeichnen. In seinen Anfängen hatte Kussland die vier grossen Kräfte gekannt, deren Kampf die Geschichte und Institutionen der europäischen Völker geschaffen hat. Es hatte selbst Kirche und Königthum und Keime von Aristokratie und Demokratie besessen. Aber diese waren frühzeitig erstickt worden, und die Kirche selbst war trotz ihres Ein-llusses nur die in Ehren gehaltene aber folgsame Hülfsgenossin der Monarchie gewesen. Die Geschichte Kusslands unterscheidet sich von der Geschichte der andern europäischen Nationen mehr durch das, was ihr fehlt, als durch das, was ihr eigen ist, und jeder Lücke ihrer Vergangenheit entspricht ein Vacuum der Gegenwart, das die Zeit nicht hat ausfüllen können, eine Lücke in der Cultur, in der Gesellschaft, mitunter im russischen Geiste selbst. Diese Lückenhaftigkeit der Geschichte, dieser Mangel an nationalen Traditionen und Institutionen in einem Volke, das sich die eines anderen noch nicht hat aneignen können, scheint mir einer der geheimen Gründe der negativen Neigungen der russischen Intelligenz, und eine der fernerliegenden Ursachen des moralischen und politischen „Nihilismus" zu sein. In diesem bereits tausendjährigen Reiche trägt nichts die Weihe der Zeit an sich. Das Land ist alt, aber Alles in ihm ist neu. „Bei Euch", schrieb einer der besten Kenner Busslands einem Russen, „steht nichts in Verehrung, weil nichts alt ist1)." Im Vergleiche mit der Geschichte der westlichen Völker erscheint die russische als ganz negativ. Moskowien hat weder das Feudalsystem, das mit der Idee der gegenseitigen Dienste und Pflichten das Rechtsgefuhl nährte, noch das Kitterthum gehabt, dem der Occident den Ehrbegriff verdankt, welchen Montesquieu als das Fundament der Monarchie betrachtet, und welcher dort noch die menschliche Würde erhielt, wo die Freiheit erloschen war. Bussland hat nie Edelleute ') Joseph de Maistre an den Fürsten Koslowski 24. Oct. 1815, Tsehaadajew hat zwanzig Jahre spater den im Grunde gleichen Gedanken so ausgedrückt: »Bie Civilisation des Menschengeschlechts lud uns nicht berührt. Was bei den andern Völkern längst im betten vorüber ist, ist für uns bis jetzt noch Specu-kdion und Theorie gehlieben," Auch Herzen sagte nichts Anderes, wenn er in S(,i"er „Entwickelung der revolutionären Ideen in Russland" schrieb: „Wir sind der Vergangenheit ledig, weil unsere Vergangenheit leer, arm, eng ist." gehabt; sein einziges Rittorthiun waren die Kosaken, Heere von Flüchtlingen und entlaufenen Reiheigenen, Republiken von Abenteurern, die halb Kreuzfahrer, halb Räuber waren, und deren wilder Freiheit die Steppe Schutz bot. Russland hat weder Rürgergemeinden, noch eine (.'harte, noch eine Bourgeoisie, noch den dritten Stand gehabt. Nowgorod, Pskow, Wätka an den Grenzen des Landes bildeten eine für den Geist der Nation ehrenvolle, für deren Entwicklung bedeutungslose Ausnahme. Selbst Städte fehlten ihm. In Moskowien, das dem tatarischen Joch entwachsen und durch die Autokratie nivellirt war, gab es nur eine Stadt, die Residenz des Gebieters, und diese Hauptstadt selbst war nur ein ungeheures Dorf. Moskowien war ein Bauerstaat, ein ländliches Reich, also ohne Städte, ohne Reichtlium, ohne Kunst, ohne Wissenschaft, ohne politisches Leben Wie die Länder des Westens hatte Russland eine monarchische Contralisation gehabt, aber kern einziges Werkzeug, keine einzige Institution der europäischen Monarchieen: Parlamente, Universitäten. Männer der Robe oder der Feder. Es hatte Herrscher aber nie einen Hof. In dem terem, dem tatarischen oder byzantinischen Frauengemach, eingesperrt, überliessen die Zarinnen und Zarewnas die Zaren der Rohheit ihres Geschlechts. Moskowien hatte weder Schlösser noch Paläste. Der Kreml war nur eine Festung und ein Kloster, in dem die gemeinen Vergnügungen der Soldaten mit steifen Kirchenfeierlichkeiten abwechselten.a). Die russische Kirche besass eine nationale, patriotische und geachtete Geistlichkeit; sie hatte ihre Klöster, ihre Synoden und Natio-nalconcile; die religiösen Orden, die Scholastik, die grossen Häresieen, die grossen Concile der römischen Kirche hatte sie nicht. Russland hatte unwissende, bäuerliche Seeten ohne Kenntnis8 der Originaltexte und der alten Sprachen; es blieb der Reformation, den gelehrten und literarischen Streitigkeiten fern, die auf dem Wege des freien Denkens zur politischen Freiheit führten. Wie der Reformation blieb es auch der Renaissance fremd. Das Alterthum, das es früher kaum gestreift hatte, wurde in ihm nicht wie in Deutschland durch eine zweite Züchtung naturalisirt. Durch Kirche und Nachbarschaft mit Byzanz verbunden, hat Russland vielleicht eine grössere Zahl griechischer Auswanderer auf- ]) Im französischen Text folgt hier noch der nicht übertragbare Satz: „selon l'etyinologie, saus cito pns de civilisation". Amii, des t'ebers. '2) S. die Schriften Sabelins über das „Privatleben der Zarinnen" und „das Privatleben der russischen Zaren", (russ.) genommen, als Italien und der Occident. Nach dem Falle Konstantinopels und der Verheirathung Joanns III. mit der Erbin der Letzten Kaiser strömten die Griechen nach Moskau." Sie brachten die byzantinische Etiquette und fromme Abbandlungen mit; sie konnten aber dort nicht, wie im Westen, die classische Literatur und den classischen Geist unter der Asche wieder anfachen. Russland mochte immerhin mit den Griechen einige italienische Künstler, einige deutsche Gewerker kommen Lassen, es empfing weder die Kunst, noch die Literatur Huropas, noch die Buchdruckerkunst, die den Gedanken vervielfacht, noch die geographischen Entdeckungen, die mit der Kenntniss von der Welt den Geist der Neuzeit erweiterten 1). Als Moskowien sich der tafarischen Herrschaft erledigt hatte, fand es sich im vollen Mittelalter wieder. Aber ohne die Kreuzzüge und das Ritterthum. ohne die Troubadours und die Minnelieder, ohne die Scholastiker und Glossaren hatte es doch nur ein ganz unvollständiges Mittelalter gehabt Ohne Reformation, ohne Renaissance, ohne Revolution ermangelte seine neuere Geschichte noch viel mehr der vollständigen Entwicklung. Von den grossen Ereignissen, wie von den grossen Penoden vom zwölften bis zum achtzehnten Jahrhundert hat es nur eine Einwirkung aus der Ferne erlebt, Was wäre jetzt ein Volk des Occidents, dem dies Alles gefehlt hätte, und womit hätten sich alle diese Lücken füllen lassen? Alles dessen entbehrend, wras die Geschichte der westlichen Nationen reich macht, erscheint die Geschichte Russlands arm. trübe und öde, wie dessen Hache nordische Gefilde; oft aufregend und dramatisch, gleicht sie nur zu häufig den Romanen oder den Theaterstücken, deren ganzes Ilderesse in der Jnfrigue und in den Peripe-tieen der Handlung liegt. Keinem Volk ist Jahrhunderte lang eine so mangelhafte und zugleich so leidensvolle Erziehung zu Theil geworden. Es war ihm versagt, an Eigenartigkeit zu gewinnen, was ihm an Mannigfaltigkeit abging. Russland hatte der Nachbarn und der Beziehungen zu diesen in genügendem Masse, um stets in der Nachahmung derselben zu bleiben. Es hat der Reihe nach geistig das Joch des Griechen und des Tataren, des Litthauers und des Eulen, endlich des Deutschen und des Franzosen getragen. Immer in einer Art geistigen Vasallenthums, die Gebräuche, bleuen, Moden des Auslandes oopirend, gewann es die Kraft nicht, die fremden Institutionen bei sich zu aeclimatisiren und zu eignen nationalen umzugestalten. ■) Joann der Schreckliche begünstigte die Einführung der Buchdruckerkunst in Moskau, aber die ersten muh Volke unwillig betrachteten Druckereien lieferten nur Andachtsbücher. Leroy-ßeaulieu, Keiuli d. Zaren u, d, Kitinen. j,j Im siebzehnten Jahrhundert war Russland noch ein elementarer, embryonenhafter Organismus; ausser der Kirche besass es nur zwei besondere Institutionen, die eine an der Basis, die ändert1 an der Spitze des Staates, beide gleich ungünstig für die Entwicklung der Individualität: die solidarische Gemeinde und die Autokratie, beide verbunden durch die Leibeigenschaft. Das tatarische Joch und der Kampf gegen Pulen hatten all seine Kräfte verzehrt. Der Abbe Sieyes antwortete auf die Frage, was er während der Schreckensherrschaft gothan: „loh habe gelebt". Auf die gleiche Frage nach seinerlangen Thatenlosigkeit könnte Russland die gleiche Antwort geben. Um nicht von den Mongolen ganz vernichtet zu werden, hatte es lange den Todten spielen müssen. Alle Arbeit Moskowiens hatte darin bestanden, sich materiell zu einem nationalen Körper zu organisiren. Wie ein Kind von kräftiger Constitution ging es gestärkt und abgehärtet aus den Prüfungen hervor, die es hatten tödten sollen; aber die Stürme, die ihm die körperliche Kraft verliehen, hatten seine geistige Entwicklung gehemmt. Im Vergleich zu den andern Völkern Europas hatte es nur eine bäurische, rohe Erziehung erhalten; die Lehrmeister und selbst die Zelt zur Bildung des Geistes hatten ihm gefehlt. Viertes Kapitel. Rückkehr Busslande zur europäischen (üvilisation. — Vorlaufer reters des <}rossen. — Charakter und Verfahren des Reformators. Kolgen und Fehler der Reform, — Geistiger und gesellschaftlicher Dualismus. Wie bat die Autokratie dem Anscheine nach ihre historische Aufgabe gelöst? In diesem zurückgebliebenen und vereinzelt dastehenden Lande ersteht ein Mann, der es Europa wieder zuzuführen und im Fluge über die trennende Schranke hinüberzusetzen unternimmt. War es möglich, Russland mit einem Schlage zu verleihen, was die Jahrhunderte seinen Nebenländern gegeben, es in einem Zuge an das Ziel eines langen Weges zu bringen, dessen geschichtliche Stationen es nicht durchwandert war? War es ein genialer Gedanke, war es eine traumhafte Chimäre, ein persönliches Phantasiestück, das von vornherein zu Misserfolg verurtheilt war, oder war es vielleicht trotz seiner Verwegenheit ein Unternehmen, das Natur, Thatsachen, Menschen nahe legten? Lange Zeit hat Peter der Grosse für einen der Gesetzgeber im Sinne der Alten gegolten, welche die Staaten nach ihrer Willkür gestalteten, für einen zweiten Deukalion, der ein Volk geschaffen hat. Wie anderwärts ist auch in Bussland die Geschichte nieht in Sprüngen verlaufen; auch für Russland gilt das Wort: natura non facit saltum. Die Russen seihst haben das zuerst erkannt; eine der Kieblingsauf-gaben ihrer Historiker ist, den Abgrund auszufüllen, der scheinbar zwischen dem allen und dem neuen Russland gähnt. Dem Werke Reters des («rossen fehlten die historischen Vorläufer nicht; im Grundwesen, wenn nicht in der Form, lag dieses Werk in der logischen Bestimmung des russischen Volkes, Russland war zu sehr der Nachbar Kuropas, zu sehr durch Blut und Religion uns verwandt, um nicht doch einmal die ansteckende Kraft unserer Civilisation zu erfahren. Die beiden Theile des Werkes Peters, die materielle, territoriale Annäherung seines Volkes an Kuropa und die moralische, sociale Annäherung durch Nachahmung fremder Sitten, waren fast in gleichem Masse vorgezeichnet, versucht und vorbereitet in den zwei vorangehenden Jahrhunderten. Seit Joann III. war es das Bemühen der Herrscher Russlands, im Norden die Schweden, den deutschen Orten und Litthauen, im Süden die Tataren. Türken und Bolen zu durchbrechen, um Ruropa und das Meer zu erreichen. Mit seinen Vorstössen nach dem asowschen und schwarzen Meere wie mit seineu Eroberungen an der Ostsee folgte Peter nur der Bahn seiner Vorgänger, seines Vaters Alexei, dem die Kosaken der Ukräne sieh unterworfen hatten, und seiner Schwester Sophia, die zwei Expeditionen gegen die Krim gerichtel hatte. Seit Joann III. hatten die meisten Zaren Ausländer herbeigezogen und sich bemüht, die Künste und Erfindungen des Westens in ihrem Reiche einzuführen. Der Einfluss der europäischen Sitten ging natürlich zuerst, von den nächstgelegenen Rändern, von Bolen. Klein-russland, Litthauen aus, um dann auch von Deutschland, Holland, England, Italien aus sich geltend zu machen und endlich von Frankreich und dem ganzen Westen her einzuwirken. Schon im fünfzehnten Jahrhundert trat Joann III., auch hierin, wie in vielem Anderen ein Vorgänger Beters I., in Beziehung zu den Fürsten Kuropas und erbat sich von ihnen Aerzte, Künstler und Gewerker. Von Italien, dem damaligen Lehrmeister der ganzen christlichen Welt, erhielt Rom über Byzanz und Deutschland Architekten und Ingenieure. Ks waren Künstler aus Bologna und Venedig, die unter Joann III. und seinen Nachfolgern die schönsten Thürme des Kreml aufführten. Bemerkenswerth ist, dass diese Italiener nicht ihren Renaissance-Stil, den sie als Lehrmeister sonst überall in Europa einführten, sondern russische 14* Vorbilder wählten und die moskowitischsten Bauwerke von Moskau sehufen. Diese Anomalie ist lehrreich. Die zwiebeiförmigen und phantastischen Kuppeln der Wassilikirche sind ein Bild der damaligen Stellung alles Ausländischen in Kussland: statt den Russen seinen Geschmack und seine Gewohnheiten aufzuerlegen, musste es ihren Geschmack und ihre Gewohnheiten annehmen, Joann III. berief mit den Künstlern zugleich Gewerker aller Arten: Giesser, Goldschmiede, Bergleute, Maurer, Feuerwerker. So ist vom ersten Tage der Nachahmung des Auslandes ab der Weg vorgezeichnet, dem Peter der Grosso folgen sollte: Kussland tritt auf dem materiellen, technischen, industriellen Gebiete zuerst näher zu Europa heran. Wie Peter I. sind Joann III. und Joann IV. mehr bemüht, ihr Volk zu den mechanischen Fertigkeiten, als zu den Wissenschaften und schönen Künsten heranzubilden. Nach Joann III. begnügt sich Wassili IV., der Gemahl einer Litthauerin, nicht mehr mit der Berufung von Ausländern, sondern geht soweit, seiner Gattin zu Gefallen deren Sitten anzunehmen und sich den Bart zu sclieeren. unter Joann IV. dem Schrecklichen tritt Bussland über Archangel in Beziehung zu England: dieser Fürst führt den Mönchen zum Trotz die Buchdruckorei in Kussland ein. Er sendet Boten nach Buropa, die ihm geschickte Handwerker zusammenbringen sollen, aber den meisten derselben wird der Durchzug versagt und zwar von dem Deutschen Orden aus militärischer, von den Hansastädten aus kaufmännischer Fifersucht. Beide streben danach Russland zu Gunsten der deutschen Wallen und des deutschen Handels gleichsam mit einem Interdict zu belegen. Die Zeil der Usurpatore schädigt den europäischen Einfluss, weil sie ihn übermässig steigern will. Durch die falschen Dinitri und die polnischen Wojewoden beinahe zur Herrschaft in Russland gelangt, gerathen die Ausländer in die Gefahr, auch mit jenen vertrieben zu werden. Die Romanow schienen diu1 Civilisation des Westens Üngunsl entgegensetzen zu müssen. Eine nationale Reaction hatte sie auf den Thron erhoben: der erste Herrscher ihres Hauses war von einer Mutter; die Nonne geworden war. im Kloster erzogen, und sein Vater, der zum Patriarchen ernannte Philaret, regierte das Reich in seinem Namen. Diese Dynastie von russischem Geblüt und fast priesterlichem Ursprung, machte es sich zur Aufgabe, die alten Sitten wiederherzustellen, aber sie trug drum doch nicht weniger dazu bei, die Saat der europäischen Cultur in Russland auszustreuen. Sie war es, die mit Hülfe von Kleinrussen, die unter der polnischen Herrschaft in den Wissenschaften des Westens herangebildet waren, lange vor der Mündigkeit Peters des Grossen in Moskau die „slavisch-griechisch- lateinische Akademie" gründete, deren Name schon neue Einflüsse erkennen lässt. .Michael Romanow lässt bereits ausländische Kauf-leute, Industrielle und Kriegsleute kommen und schliesst Handelsverträge mit dem Westen. Alexei, ein echter moskowitischer Zar in langen byzantinischen ) Das achtzehnte Jahrhundert war für Russland eine Schule der ]j Haxthausen (Stadien, l>d. I, pag. |S hat die seltsame Meinung ausgesprochen, dass alles l'eliel daher stamme, dass die deutsche Cultur, die IVtcr I, eingeführt, /.u Dunsten der französischen Cultur aufgegeben wurde, die seit Elisabeth die Oberhand hatte. Dies ist eine der Anmassungen des deutschen Dünkels, die /.u naiv sind, um liest ritten zu werden, Nur das taue sei hier erwähnt: in der Milte des achtzehnten Jahrhunderte herrschte überall die französische Cultur vor. und war zumal dem russischen Geiste die sympathischste. Demoralisation. Der russische Hof bietet ein Schauspiel, das selbst in der Zeil Ludwigs XV. noch abstossend wirkt. Man sieht deutlich, dass in dieser jungen Colonie des alten Europa zwei Zeitalter der Corruption zusammentreffen. Ausschweifung, Unterschleif, Verurthei-lung das sind die drei Stufen oder die drei Akte des öffentlichen Lebens. Einer unserer Philosophen, der als (last bei Katharina 11. geweilt hatte, sagte damals, .Russland sei faul, bevor es reif geworden. War dies Wort wahr, so war Europa hiefür zu grossem Theil verantwortlich. Die Küssen machen sich von den Sitten des alten L'uss-lands hohe Vorstellungen. Ohne dem Westen den geistigen und wissenschaftlichen Vorrang abzusprechen, liehen sie es, für ihr Land und ihre patriarchalischen Gebräuche die moralische Ueberlegenheit in Anspruch zu nehmen1). Da sie ausserhalb unserer grossen historischen Epochen geblieben, schmeicheln sie sich, der dreifachen Ver-derbniss des Mittelalters, der Renaissance und der Neuzeit entgangen zu sein. Den Schimpf zurückgebend, reden sie gern von der Fäulniss des Westens und behaupten, im alten Reiche der Zaren habe die Civilisation eine mehr sittliche und religiöse Grundlage gehabt, als in unsern glänzenden, heidnisch erzogenen Gesellschaftskreisen; sie schreiben mit Vorliebe die Lasier des neuen Russland der europäischen Ansteckung zu. Die Schilderungen der alten Reisenden rechtfertigen diese Ansprüche nicht immer2). Wie überall, sind auch im Norden Despotismus und Leibeigenschaft eine traurige Schule für die Tugend gewesen. Die traditionellen Grundlagen der moskowitischen Sittlichkeil sind drum doch nicht weniger durch die kaiserliche Reform und die Lehren des Westens erschüttert worden. In einem grossen Theile der Nation wurden die alten Sitten und Glaubenslehren zerstört, noch ehe ein Anderes sie ersetzen konnte. Vielleicht ist auch hier eine der entfernteren Ursachen des Nihilismus in den der Civilisation gewonnenen ('lassen selbst zu suchen. In seiner Art, die Traditionen, Institutionen, nationalen Instincte bei Seite zu werfen, in seiner Rücksichtslosigkeit gegen die Vergangenheit seines Volkes und in seinein Mangel an Respecl vor den Gewohnheiten und den Vorurtheilen seiner Unterthanen könnte Peter, der herrischste unter den gekrönten Revolutionären, für den ersten Vorfahr des heutigen Nihilismus gelten. 1) Der Verfasser verweist hier den französischen Leser auf Shorcbzow Iistoire de la civilisation eii Itussie", den russischen auf die Mehrzahl der beliebtesten russischen Schriftsteller und namentlich auf Dostojewski in seinem „Tagebuch eines Schriftstellers", (russ.) -) Olcarius, Mergeret, Fletcher z. I>. entwerfen ein schwarzes Bild von der Moralilät der Laien und Geistlichen, andre freilich, wie Herberstein scheinen die russischen Sitten mit günstigem Augen zu betrachten. An das moralische TJehel hat sich im Werke Peters des Grossen das intellectuelle und in verhängnissvoller Kelle an dieses das sociale, an das letzte das politische üebel geknüpft, Der Geis! wurde wie das Herz in die Irre geleitet. Her Reformator steigerte gewisse vor ihm kaum bemerkte, durch ihn bald zum Uebermass getriebene Anlagen des russischen Volkes: die Leichtigkeit, Alles zu versieben und sich Allem zu assimiliren, oder — was auf dasselbe herauskommt, die Reform schärfte bei dem Küssen gewisse Mängel, die ihm voll Natur eigen oder von der Geschichte anerzogen waren, den Mangel an Originalität, den Mangel an Persönlichkeit. Peter machte unwillkürlich aus seinen Unterthanen Echos und Spiegelbilder, Indem er sie gewaltsam auf die Hahn der Nachahmung stiess, erstickte er in ihnen den Oeist der Initiative und beraubte sie dadurch des kräftigsten Gährungsmittels des Fortschritts. Indem er sie daran gewöhnte, Andre für sich denken zu lassen, verlängerte er ihre geistige Unmündigkeit unter ausländischer Vormundschaft. Dieser Hang zu Nachahmung hat das Entstehen einer nationalen und eigenartigen Literatui' um ein Jahrhundert zurückgehalten. Der Petersburger Russe unterlag allen Einflüssen des Westens, folgte gelehrig den entgegengesetzten Strömungen, war der Leihe nach Schüler der Encvklnpä-disten und der französischen Emigranten, Voltaires und Joseph de Maistre's und verlud allzuoft wieder, sei es aus Ermattung oder aus Trägheit, einem leeren Skcptieismus. oder der Sucht nach Aeusserlich-keiten und dem Cultus des Scheines 11. Diesen geistigen Gebrechen entspricht das sociale Gebrechen: die nationale Entfremdung einer Hälfte der Nation, die Scheidung der Classen. Um den Fremden zu copiren. hörte der Kusse der Reform auf. Lasse zu sein. So war es mit Allem, was national war. mit der Tracht und mit der Sprache, die nur noch für die Sprache des niedern Volkes galt. So sehr Peter seinem Wesen nach Kusse war, schien er sich doch die Aufgabe gestellt zu haben, seine Unterthanen zu germanisiren. Den Städten, die er gründete, den Institutionen, die er schuf oder erneuerte, gab er deutsche Namen, wobei er oft unnütze, dem Volke unverständliche Barbarismen bildete. Man behauptet, dass er einmal auf dem Punkt war, das Deutsche zur ofliciellen Sprache zu machen. Euter seiner Tochter Elisabeth kam die Reihe an das Französische, das über hundert Jahr in absoluter Herrschaft ') Alles wechselt hei Ihnen, mein Fürst, die (ieset/.c wie die liänder, die Meinungen wie die Westen, die Systeme aller Art, wie die Moden, man verkauft sein Hans, wie sein Pferd, nichts ist beständig, als die Unbeständigkeit. (J, de Maistre an den Fürsten Koslowski 12/24. Oct. 1S15.) blieb. Petersburg vermochte es jedoch nicht, das ganze Land auf diese Bahn zu ziehen. Die Schiebt an der Oberfläche, die gebildeten Classen nahmen allein die Sitten und Ideeen des Westens in sich auf; der Untergrund, die Masse des Volkes blieb für diese unzugänglich. Da die Einen Deutsche oder Franzosen wurden und die Andern Russen blieben, war Russland bald in zwei durch Sprache und Gewohnheiten getrennte, zu gegenseitiger Verständigung unfähige Völker getheilt. Die grossen Städte und die Herrensitze lagen wie fremdländische Colonieen mitten in dem Hachen Land. Für die grosse Menge der Nation wurde die Hast, in welcher die leitenden Classen sich dem Westen entgegenstürzten, sogar eine Ursache des Zurückbleibens. Zu weit hinter seinen Herren zurück, um ihnen folgen zu können, blieb das Volk sich selbst und seiner Barbarei überlassen. Dieses sociale Uebel zeigte sich auch in der Politik. Ohne unter einander in Uebereinstimnnmg zu sein, standen die Institutionen mit den Bedingungen des Landes in Disharmonie, aus dem Auslande im-portirt und ohne Wurzel in dem russischen Boden, wurden sie oft umgepflanzt, bevor dieser für sie vorbereitet war. Während im Westen die neue Zeit auf den Schultern des Mittelalters und jedes Jahrhundert auf denen des vorangehenden steht, hatte der politische Aufbau, wie die ganze Civilisation in Russland weder nationale Grundlagen noch historische Fundamente. Die ganze Organisation der Regierung Stand ausserhalb des Volkes und demselben fremd gegenüber. Die meisten Gesetze waren exotisch; sie glichen geliehenen Kleidern, die weder für die Gestalt noch für die Gewohnheiten der Nation passten. Nach der Bemerkung eines Zeitgenossen (le Play, La reforme sociale) ist eines der Kennzeichen der neuen Zeit und eines der Uebel, unter denen die Völker des Continents seitdem achtzehnten Jahrhundert am meisten gelitten haben, der Missbrauch der Gesetzgebung, das Uebermass des Glaubens an das geschriebene Gesetz, das als das höchste und unwiderstehlichste Förderungsmittel des Fortschritts betrachtet wird. Dieser Fehler aber ist nirgend bis zu dem Grade gesteigert worden, als in dem Russland Peters des Grossen und seiner Nachfolger. In keinem Staate hat man so viel und so unermüdlich Gesetze geschmiedet, weil der Gesetzgeber nirgend über solche Mittel der Ausführung verfügte. Die ganze Geschichte Russlands, besonders die lange moskowitische Periode hat scheinbar zu nichts Anderem gedient, als in der kaiserlichen Selbstherrschaft einen allmächtigen Gesetzgeber zu schallen, einen Herren, der Alles kann und Alles darf. Die Nachfolger Peters und Katharinens erlassen nach Belieben ihre Ukase, indem sie glauben, dass ihrer Würde Alles erlaubt und Alles möglieb sei, offenbar nie an dem Erfolg und der Wirkung dieser so rasch erlassenen und wieder aufgehobenen Befehle zweifeln, ohne Kode Neuerungen und Veränderungen verfügen, befehlen und verbieten und oft im Volke selbst durch Umänderungen, Inconsequenzen und Widersprüche das Verständniss des Gesetzes beirren umi schädigen, so dass dieses als der Ausdruck eines persönlichen, mächtigen, furchterregenden, aber vorübergehenden und wechselnden Willens erscheint. Gegenüber dem russischen Volk, das in den Zustand eines Kranken ohne Lebenskraft, fast in den eines fühllosen Cadavers versetzt ist, haben die Herren des Reiches mitunter das Ansehn von Aerzten, die ihre Experimente in anima vili machen. Noch mehr: dadurch, dass sie Alles veränderten, Alles umgestalteten, Alles in Frage setzten, haben die Herrscher gegen ihren Willen die Russen gelehrt, ihr Rand wie eine tabula rasa oder wie die Bühne eines Theaters zu betrachten, dessen Decorationen auf Refehl des Maschinisten bei oftener Scene wechseln. Russland unter Reter dem Grossen, Katharina und Alexander II scheint mir das beste Beispiel dafür, was das geschriebene Gesetz vermag und was es nicht vermag. In keinem andern Staat hat die Gesetzgebung so (leidlich die Ausdehnung und zugleich die Grenzen der Staatsgewalt dargelegt. In den Händen der Autokratie ist Russland scheinbar ein- oder zweimal in jedem Jahrhundert nahe daran, in wenigen .Jahren umgewandelt zu werden; aber so ganz lassen auch die fügsamsten Völker sieh nicht von den Eiligem ihrer Herrscher umknoten. In Bezug auf die Gesetze ist Russland mehr als einmal vom Grund bis zum Gipfel umgekehrt worden, aber die Gesetze berühren die Seide des Volkes nicht. Um wirksam zu sein, müssen die in der Gesetzgebung vollzogenen Veränderungen auch gleichzeitig in den Sitten und in den Geistern sich vollziehen. Wenn keine Harmonie zwischen Gesetz und Sitten vorhanden, giebt es nur Verwirrung und Missbehagen, und das haben die Russen seit zwei .Jahrhunderten nur allzuoft erfahren. Moralisch oder geistig, social oder politisch, alles Uebel, unter dem Russland seit Roter dem Grossen leidet, lässt sich in Einem zusammenfassen, das ist der Dualismus, der innere Widerspruch. Das nationale Leben und Bewusstsein sind in zwei Stücke gebrochen: das bis in seine Grundlagen erschütterte Land hat sein Gleichgewicht noch nicht wiedergefunden. Das ist — vielleicht in höherem Grade — dasselbe Missbehagen, das Frankreich seit der Revolution empfindet. Ob sie von oben oder von unten kommen, derartige heftige L'm- I, e roy - l: !• an I i oh, Reich d. Karen u. d. Hussen, Jf> bildungen, die für ein Volk der Ausgangspunkt eines neuen Lebens werden, hinterlassen immer schmerzhafte Spuren. Ks bleiben in der Gesellschaft und in den Geistern Missklange, welche den klarsten Verstand stören. Frankreich hat den Vorzug gehabt, dass es selbst seinem eigenen (leiste entsprechend seine Revolution gemacht hat, und dass diese in ihren Irrthümern, wie in ihren Erfolgen durch und durch französisch war. In Russland, wo die Revolution von der Regierung unter dem Einfluss des Auslandes ausging, ist die Kluft zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart tiefer, die Zerreissung der nationalen Existenz schmerzhafter gewesen. Auf die Reform Reters des Grossen lässt sich eine grosse Zahl der Widersprüche oder besser gesagt der Antinomieen zurückführen, die uns in Russland den Gegensatz als Gesetz erkennen liessen. Die Institutionen und die Sitten, die Ideeen und die Thatsachen stimmen schwer zusammen. In der Nation wie im Individuum giebt es Missklänge aller Art. Der Russe ist in sich selbst getheilt; er fühlt sich, sozusagen, doppelt; mitunter weiss er nicht, was er glaubt, wras er denkt, was er ist.1) Russland ist nicht mehr das eigentliche Russland und fühlt sich doch auch noch nicht europäisch; es ist gleichsam noch mitten im Strome, von beiden Ufern entfernt. Soll es diesem Dualismus, dem Ursprung seiner Leiden, entgehen, sich ganz nach einer Seite hin wenden, sich vorwärts dem Westen zu stürzen oder entschieden zum alten Moskowien zurückschreiten? Soll es in Nachahmung versinken und eilen der Sosias Europas zu werden, oder soll es alle ausländische Einfuhr zurückweisen, sich in sich selbst abschliessen und zu Allem, was national und russisch ist, zurückkehren? — Doch in der Armuth der Hinterlassenschaft der Vergangenheit, inmitten des von Peter und seinen Nachfolgern gehäuften Schuttes - wie lässt sich da in den meisten Fällen erkennen, was national ist? Russland ist physisch und moralisch Europa zu sehr benachbart, es hat sich ihm seit zwei Jahrhunderten zu sehr genähert, um sich von ihm trennen zu können. Es ist europäisch, aber die Erziehung hat ihm den Völkern des Westens gegenüber besondere Kigenthihnlichkeiten gegeben, die sich nicht in einem oder zwei Jahrhunderten verwischen liessen. Das Problem seiner Zukunft liegt in der Versöhnung der beiden Begriffe: Europa und Russland, Zivilisation und Nationalität. Mit der Reform Peters des Grossen ist es wie mit unserer fran- ') „Feier," schrieb Joseph de Maistre einem Küssen, „hat Ruch in eine falsche Stellung zum Auslände gehrachl : nee teemn possuin vivere, nee sine le Das ist Eure Devise.'1 (Brief an den Fürsten Koslowski v. L2,—24. Oct. 1815.) zösisohen Revolution: man kann ihre Gewaltlhatcn beklagen, ihre Lrrthümer kennzeichnen: beide aber l)leiben trotzdem für das Volk, das sie neugeschaffen haben, die unerschütterliche Grundlage aller normalen Entwicklung, Kusslands Aufgabe gegenüber der europäischen Reform ist dieselbe, wie die Frankreichs gegenüber der Revolution; es gilt nicht zu klagen noch zu bedauern, es gilt nur das Werk fortzusetzen und zu verbessern; ohne Entmut higung aber auch ohne Uebereilung es zu festigen und zu vollenden. Was die Vernunft Kussland räth , lässt sein natürlicher Impuls es gleichsam in bestimmten Verfallfristen leisten. Die drei letzten Regierungen bezeugen dies ebenso in der offenbaren Unfruchtbarkeit zweier von ihnen, wie in der Fruchtbarkeit der dritten. Allen grossherzigen Impulsen zugänglich, abwechselnd einem unklaren Liberalismus und einem gläubigen Mvslicismus hingegeben, empfand Alexander I. das Missbehagen seines Volkes und träumte Jahrelang davon, es zu heilen. In ihm schien der allendliche Reformator, der seit Jahrhunderten erwartete Messias gekommen zu sein: aber auch er war nur ein Vorläufer. Er vermochte es nicht, sich über Vello'itätcn und schüchterne Versuche zu erheben. In ihm vereinigten sich alle Ideale und alle Widersprüche seiner Epoche, die eine der verwirrtesten in der Geschichte und wie wenige geeignet war, strebende Gemüther irre zu leiten. Sein Charakter zeigt hell und deutlich alle Gaben und Widersprüche des Russen der Gegenwart, des civilisirten, mit sich selbst oft im Kampfe und Zwiespalt liegenden Russen, wie er aus den Reformen des achtzehnten Jahrhunderts hervorgegangen ist. Mit seinem seltsam aus Kraft und Weichheit, aus „männlichen Eigenschaften und weiblichen Schwächen" gemischten Wesen, mit seinen edlen Neigungen und seiner Entzündbarkeit für einander widersprechende Ideeen. mit seinem Schwanken zwistdien Illusion und Entmuthigung, That-kraft und Apathie, mit seinein ganzen räthsclvollen Charakter könnte der so verschieden und mitunter so ungerecht beurtheilte Alexander I. wie Reter der Grosse, doch aus anderen Gründen und um anderer Eigenschaften willen für einen der historischen Typen des National-charakters gelten.1) Der glänzende und veränderliche Sohn Pauls I., der freisinnige Zögling des Republikaners Raharpe, der mystische Vertraute der Frau von Krüdener scheint mir mehr als eine Epoche ') S. die Schilderung Alexanders I. von Metternich (Memoire*, documents et Berits divers. Paris. 1. p. 31as Beispiel.Russlands zeigt, dass die Hierarchie und die Abgrenzung der Classen nicht immer sichere Bürgschaft für die Freiheit der Völker bieten. Nichts leichter, als über die Zerkrümelung der socialen Kräfte in Ländern, wie Frankreich Klage zu führen, wo dem Staate gegenüber die Individuen in ihrer theoretischen Gleichheit zugleich verschmolzen und isolirt, wie Sandkörner am Meeresufer sind. Für wie gross man dieses Uebel auch halte, ihm künstlich abzuheilen ist schwierig. Um den gesellschaftlichen Gruppen Zusammenhalt und Einheit zu verleihen, genügt nicht, dass die Gesetzgebung die Individuen zu Corporationen, Ständen und ('lassen zusammenballe. Vom politischen Gesichtspunkt ans sind wahrhaft von Bestand nur die Schöpfungen der Natur und der Geschichte, die Körper, die sich aus sich selbst gebildet und zusammengeschlossen haben, die in sich selbst und nicht ausserhalb ihr Eebonsgesetz und ihre Kraft tragen. In IJusslaml besitzt keine ('lasse irgendwelche politischen Beeilte; jede sichert ihren Gliedern nur persönliche Rechte oder Privilegien, die ihr von dem Gesetz und dem Willen des Herrschers zuertheilt worden sind. In dieser Beziehung theilt oder richtiger theilte sich die russische Gesellschaft — denn die neueren Reformen haben diese Unterscheidung fast verwischt --• in zwei Hauptgruppen, in die privilegirten und in die nicht privilegirten ('lassen. Die enteren warm befreit vom Militärdienst, befreit von der schwersten directen Steuer, der Kopfsteuer, befreit endlich von Körperstrafen, Knute und Spiessrnthen. Wie überall waren Adel und Geistlichkeit diese Erivilegirten, denen man die Elite der städtischen Bevölkerung und des Handels, sozusagen das Vollbürgerthum hinzufügte. Der Rost der Stadtbewohner, die Kleinbürger, Kleinhändler, Gewerker waren, wie die Leibeignen des Ilachen Landes, der Kekrulirung, der Kopfsteuer und der Huthenstrafe unterworfen. Sie bildeten die steuerpflichtige und frohnptlichtige, die körperlicher Züchtigung unterliegende Bevölkerung. Das niedere Volk des dachen Landes und der Städte bildeten zusammen eine (Hasse der Enterbten, die man mit ausdrucksvoller Uebertragung seit unvordenklichen Zeiten Smerd, das „stinkende" und Tschern das „schwarze" Volk nannte. LTnter den privilegirten Classen fehlte die Einheitlichkeit des Wesens, die Conformität der Cultur mit einem Worte, es fehlte die geistige Homogenei'tät, die in andern Ländern sich vorfindet. Zwischen dem Adel und der Geistlichkeit bestand keine Spur von solcher Einheitlichkeil und Solidarität, noch von den zahlreichen Familien- oder Interessenbanden, die im alten Frankreich die zwei obersten Stände des Reichs vereinigten. Schon vor Reder dem Crossen waren die kirchlichen Würden von dem Adel nicht mehr gesucht worden. Die Geistlichkeit, die sich aus sich selbst zu ergänzen gezwungen war, bildete eine Art erblicher Kaste, die geschlossenste aller russischen Gesellschaftsclassen, nicht etwa weil der Eintritt in dieselbe gesetzlich verluden war, sondern wreil die Söhne der Geistliehen fast die einzigen Rewerber um ihm Fintritt waren*). Mit Feter dem Grossen war der auf seine kirchlichen Pflichten beschränkte und lange des .Misswollens gegen die Neuerungen \erdächtige Clerus, wie die Masse des Volkes, den alten Sitten und alten Gebräuchen, dem allen Kussland treu geblieben. Der Adel dagegen, der sich aus Fremden aller Länder, aus Günstlingen der Herrscher und Abenteurern aller Art recrutirte, hatte nach kurzem Widerstand dem Hauch aus Europa die Thür geüflnet; er allein hatte in Russland Kleidung, Lebensweise und Ideeen des Westens angenommen. Zwischen diesem Adel von Leibeigenenbesitzern oder Staatsbeamten und dem privilegirten Bürgerthum der Städte gab es ebensowenig Interessen-Und Sinnesgemeinschaft, denn der russische Handelsstand und das ') l.'olier AUc>, was den ('lern.* und die religiösen fragen betritl't, s. IUI. III des Werks. russische Bürgerthum haben sich weniger, als irgend anderswo in Neigungen und Bildung vom Volke gelöst. Diese materiell und moralisch von einander isolirten ('hissen haben aber auch in ihrem eigenen Schosse kaum mehr Einheitlichkeit und Zusammenhalt, als sie unter einander Zusammenhang und Eebereinstimmung haben. Die vom Gesetze so zu einander geordneten Individuen werden nur durch ein äusserliches Band ohne geistige Solidarität zusammengehalten. In diesem Sinn könnte man sagen, dass es in Russland wohl Edel-leute und Bürger, doch keinen Adel und kein Bürgerthum giebt. Hierin liegt ein weiterer Grund für die Ohnmacht gegenüber dem Herrscher. Eine der Besonderheiten der socialen Organisation Russlands ist, dass jede der vier Bevölkerungsedassen in Kategorien, in oft einander ganz fremde, ja mitunter sogar einander feindliche Unterlassen ge-theilt ist. Der Dualismus, der zwischen dem Weltgeistlichen und dem Münch, zwischen der weissen und der schwarzen Geistlichkeit besteht, ist. in gewissem Masse in allen ('lassen der Gesellschaft vorhanden. Im Adel giebt es erbliche und persönliche Edelleute, unter den Stadtbewohnern Kaufleute und Ehrenbürger auf der einen, Handwerker und Kleinbürger auf der andern Seite; auf dem Lande selbst giebt es Privatbauern und Kronsbauern. Alle diese Kategorien und zahlreichen Unterabtheilungen hatten ihre besondern Pflichten und Flechte, und sie bewahren — wenigstens in den höheren (Massen noch heute einen verschiedenartigen Geis! und verschiedenartige Interessen. Aber damit ist die Verwickelung der socialen Ordnung noch nicht zu Ende. Ausserhalb dieser vier grossen Rahmen, die ihrerseits wieder durch Scheidewände getheilt sind, giebt es noch kleinere Fächer. Nohen- oder Enterfehler, zum Theil Eeberreste einer früheren Organisation, zum Theil für die mehr oder minder neuerworbenen Länder bestimmt, die sich schwer in die nationalen Eintheilungen einfügen Messen. Bis zu den neuesten Reformen konnte die Armee wie der Glems als eine besondere Classe betrachtet werden. In der russischen Statistik erschienen die Soldaten, ihre Weiber und ihre Kinder mitten in der socialen Nomenclatur als eine besondere Rubrik '). Das war eine Folge der langen Dienstzeit: wenn man zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre im Regiment verblieb, bedeutete der Ein- ') Diese oft im Westen niissverstandcnc Statistik ist Quelle gewisser Irr-thiiiner jrewesen. Man nahm die Ziffer «ler ('lasse für die der Armee, ohne zu bemerken, dass diese Ziffer namentlich in Bezug auf die Kosaken mehr als die Hallte Weiber und Kindel- in sich enthält. tritt in die Armee fast einen lebenslänglichen Dienst1), wie der Ein-britl in den geistlichen Stand. Der ausgehobene Dauer hörte auf, seiner Geburtsgemeinde anzugehören; einmal geschoren, legte er die Tracht seiner Jugend nieht mehr an. Meist fuhr er fort, wenn er Alters wegen den Dienst ver-liess, in den kleinen Dosten, die ihm zugestanden wurden, oder dort, wo er die öffentliche Mildthätigkoit in Anspruch nahm, den Soldatenmantel zu tragen. Erst seit 1872, wo die Dauer der Dienstzeit auf 7 Jahre beschränkt wurde, reisst der Ruf zu den Fahnen die Ausgehobenen nicht mehr aus der Classe und der Gemeinde heraus, denen sie von Geburt angehören. In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts unter der Regierung Alexanders! schien dank den Militäroolonieen Araktsehejews das Waffenhandwerk eine Zeit lang ein lebenslänglicher und erblicher Beruf werden zu sollen. In einigen Bezirken, deren Bewohner den Namen ackerbauende Seidaten trugen, waren wie die Knaben, so die Mädchen von Gesetzes wegen der Armee zugethoilt und von Geburt, ab dazu bestimm!, Soldaten zu heirathen und zu erziehen. Ks war eine Leibeigenschaft neuer Art, deren Urheber sieh einbildeten, den militärischen Krallen und Finanzen des Reiches grossen Dienst damit zu leisten. Der Widerstand der Bauern, der mitunter zu Aufständen sich schärfte, bewirkte, dass unter Nikolais Regierung von diesem Versuch Abstand genommen wurde. Alexander IL verfolgte in dieser Beziehung Ziele, die denen Alexanders 1. durchaus entgegengesetzt waren. Die verkürzte und auf Alle ausgedehnte Wehrpflicht wird allen t'lassen-unterschieden einen empfindlichen Schlag geben. Aus einem tsolirten Körper, aus dem Träger von Privilegien wie von Unfreiheiten wird das Heer ein Werkzeug zur Gleichheit und eines der Hauptmitlei zur Verschmelzung der ('lassen und Rangunterschiede werden-). Ks giebt in der Armee oder vielmehr in den Streitkräften Russ-lands eine beträchtliche Gruppe, die noch jetzt eine besondere Kategorie und ii» manchen Beziehungen eine eigene ('lasse, eine Krieger-käste bildet: die Kosaken. An den südlichen Grenzen des Reiches, am untern Raule des Don, der Wolga, des Oral, Kuban und Torek linden sich noch Völkerschaften verschiedenen Ursprungs, doch gleich- ') Auch die lange Dienstzeit war eine Oonseouenz der gesellschaftlichen Organisation; häufige Aushebungen und grosse Gontingente hätten die Grund liesit/.er zu Grunde gerichtet, d.i sie ihnen die Leibeigenen entzogen hätten, die mit dem Eintritt in die Armee dem Gesetze nach freigegeben waren. Siehe in der Revue des deux moiidea (I. Juni 1877) unsere Studie ühei die Armee und den Militärdienst in Kussland. ' J.ciroy-Uo auliou, Keicli d. Zaron u. <1. Uuason. massig einer militärischen Organisation unterwürfen. Nur hierin haben die Kosaken mit den Soldatencolonieen Alexanders I. und den alten Militärgrenzern Oesterreichs Aehnlichkeit. Als Ersatz für ihre speciellen Lasten, besitzen sie seit jeher Freiheiten, an denen sie sehr lest hängen; auch wurden sie wie privilegirte Völkerschaften betrachtet, wenn ihre persönlichen und corporativen Vorrechte auch im Laufe der Zeit beträchtlich gekürzt wurden. Im Auslande weckt der mit den Erinnerungen der Invasion verknüpfte Name des Kosaken die Vorstellung von Barbarei und Raub; in Russland ist derselbe Name an Erinnerungen an das unabhängige Steppenleben geknüpft und ruft Vorstellungen von Freiheit und Gleichheit wach. „Frei wie der Kosak" ist dem Hussen eine sehr drastische Redensart, denn sie bezeichnet einen Menschen, der weder fremdes Joch noch die Leibeigenschaft der Scholle getragen. Einst herrschte bei den Hauptgruppen der Kosaken am Dnjepr und am Don Gleichheit wie Freiheit Beide, die erstere unter polnischer Oberhoheit, die letztere unter moskowitischem Soepter bildeten eine Art demokratischer Republik. Sie wählten ihre Führer, die Atamans selbst und kannten unter sich weder Edelleute noch Leibeigene1). In dieser Beziehung glich der äusserste Süden Russlands gewissen Regionen des äussorsten Nordens, bis wohin die Leibeigenschaft und der Adel nicht vorgedrungen waren. Wie die Bauern von Archangel und Wätka haben die Kosaken lange die Formen einer alten russischen Gesellschaft, der die Glassentheilung fremd war, bewahrt; diese freien Colonen der Steppe, die sich lange Zeit aus entflohenen Leibeigenen recrutirten, hallen jede Spur von socialer Hierarchie hinter sich, in der Heimath gelassen, aus der sie geflohen waren. Erst mit der Verwaltung des modernen Russlands sind die ,540,(X)0. Der Vergleich der lasten beider Gruppirungen erweist, dass im zweiten Falle die hohe Ziffer der städtischen Bevölkerung grossen Theils durch die Bauern erreicht wird, die zeitweilig in den Städten verweilen und fast überall eines der beträchtlichsten Elemente der Stadtbevölkerung ausmachen. in Russland den Namen einer Stadt trägt. .Nicht durch ihre Seltenheit, nicht durch ihre zerstreute Lage im weiten Gebiete, nicht durch die verhältnissmässig geringe Zahl ihrer Bevölkerung allein unterscheiden sich die Städte in Russland von denen in Westeuropa. Mit ihren niedrigen und weit auseinanderstehenden Holzhäusern, mit ihren Strassen von unverhältnissiuässiger Breite, die sich nur aus der Furcht von Feuersgelahr erklärt, mit diesen meist ungepflasterten Strassen, auf denen abwechselnd und bisweilen neben einander Schnee, Schmutz und Staub herrschen, ermangeln die meisten dieser russischen Städte nach dem Anblick, den sie bieten, wie nach ihren Bewohnern alles dessen, was in unsern Augen eine Stadt bildet und städtischen Charakter giebt. Statt wie unsre allen Städte in Frankreich, Italien und Deutschland die Bewohner au einander zu drängen, statt Stockwerke gen Himmel zu thünnen und eine kleine von dem Sachen Lande durchaus verschiedene Well zu schaffen, die nur vom Menschen und dem Werke seiner Hand angefüllt ist, dehnen und strecken sich die russischen Städte über die Felder und verschmelzen mit ihnen, indem sie zwischen den Häusern und öffentlichen Gebäuden weite Strecken freilassen, welche die Bevölkerung weder füllen noch auch beleben kann. Auch haben die ineisten moskowisohen Städte für den europäischen Reisenden etwas Leeres, Oedes, Unvollendetes. Ihm scheint die Mehrzahl derselben nur grosse Dörfer, und thatsächlioh ist zwischen Stadt und Dorf nach Bauart und Lebensweise der Bewohner in diesem Lande der Unterschied geringer, als irgend anderswo. Ganz Russland war hunderte von Jahren lang nichts als ein Dorf von mehreren tausend Quadratmeilen. Während eines langen Abschnittes seiner Geschichte, in dei' moskowitischen Periode, gab es in Russland kaum mehr als eine Stadt, die Hauptstadt und Residenz lies Herrschers, und auch diese war nur ein holzgebauter Markt-Heiken, rings um eine Burg aus Stein gelagert. Erst seit dem Brande vmi 1812 und der demselben folgenden Wiederaufbauung, seit Stein oder vielmehr Ziegel die hölzernen Bauten auf die Vorstädte beschränken und den Häusern gestatten, in die Höhe zu wachsen und sich einander zu nähern, hat Moskau wirklich das Aeussere einer grossen Stadt gewonnen. Die Hauptorte der Gouvernements, die all-mälich nach dem Muster der alten, verjüngten Hauptstadt umgebaut wurden, sind in der Regel noch jetzt für uns die einzigen Städte, die diese Namen tragen dürfen '). ') Vor 10 Jahren zählte man Warschau und das Königreich Polen nicht ein* begriffen — nur I St-idte mit 100,000 Kiew., Petersburg, (kfoekaa, Odessa und Vergleicht man die Gebiete, so ergiebt sich, dass im europäischen Russland, seihst wenn man eine Masse von Flecken, die zu drei Vierteln ländlich sind, der Ehre dieser Bezeichnung würdigt, die St adle zehn-, fünfzehn-, zwanzigmal weiter aus einander liegen, als in Westeuropa, Das ist einer der schärfsten Gegensätze, der nicht ohne Einfluss auf alle Lebensbeziehungen ist. In Russland sind die Städte wie kleine Inseln in grossen Entfernungen über einen Ocean VOI flachem Land ausgestreut, während sie im Westen sich wie die Inseln eines Archipels zusammendrängen: es ist das last ein gleicher Unterschied wie zwischen dem stillen Ocean und dem ägäischen Meere. In Beziehung auf die Bevölkerung ist der Gegensatz kaum geringer. In Frankreich, Deutschland. Belgien, England omschliessen die Städte ein Drittel, mitunter die Hälfte und mehr der Gesammt-bevölkerung. In Kussland bergen die Städte kaum ein Neuntel derselben, und dazu verdienen viele von den ihnen zugeschriebenen Einwohnern den Namen der Städter wenig. Trotz ihrer andauernden Zunahme in letzter Zeit bleibt die städtische Bevölkerung in Russland weit hinter derjenigen in Europa zurück. Die geringe Dichtigkeit, die Bedeutungslosigkeit der Städte, zu denen dem Rande schon das Material zu fehlen schien, ist eines der historischen Merkmale des alten Moskowiens, des „Europa in Holz'', wie Solowiew es nennl ; es ist dies wesentlich noch heute ein kennzeichnendes Merkmal Fusslands und namentlich Grossrusslands. Die beiden Ilauptelemente der Bevölkerung stehen dori sich ganz anders gegenüber, als in den meisten Fändern Europas und Amerikas. Welche Gegensätze in den Sitten, den Vorstellungen, den Idealen, welche Verschiedenartigkeiten in der ganzen Civilisation fasst nicht diese eine Thatsache in sich! Im Lichte der Statistik erscheint das weite nordische Reich trotz seiner raschen und unausgesetzten Fortschritte immer als Ackerhaustaat, als Bauernreich. Russland und die Voreinigten Staaten Amerikas, die in Betreff der Ausdehnung ihres Gebietes und Vertheilung ihrer Bevölkerung soviel Vergleichtmgspunkte bieten, sind in dieser Beziehung sich vollkommen entgegengesetzt und stehen an den beiden Gegenpolen der modernen Civilisation1). Riga, wobei zu bemerken, dass die letztgenannte Stadt viel mehr deutsch als russisch ist, Auch heute giebt es kaum 10 Städte, die diese Ziffer erreichen: die vorgenannten, dann Kiew, Charkow, Saratow, Kasan, vielleicht der grosse Judenmarkt im Westen Berditschew und endlich das halbruniänische, grosse Dorf Kischinew in Beeearabien, ') In Russland selbst gehören jedoch die Ukräne, Neurussland und die meisten der zuletzt bevölkerten Districte zu den Gebieten mit verhältnissmässig ) Dieselbe Erscheinung und dasselbe Missvorhältniss zwischen Stadt und Land findet sich in verschiedener Abstufung bei den meisten slavischen Völkern, im Westen sowohl wie im Osten und Süden. Es ist dies — wie behauptet werden kann eines der Hauptmerkmale und zugleich eine der lluuptursachon der historischen Inferiorität der slavischen Nationen. Eür den ersten Blick scheinen zwar die westlichen Slaven. die Tschechen und Dohm in diesem wie in vielen andern Punkten sich von ihren slavischen Brüdern zu trennen und Westeuropa näherzukommen. Besonders löst sich in dieser Hinsicht das Königreich Polen von dem Reiche, dem es angehört. Dort stehen die Stadtbevölkerung und die Landbevölkerung fast in demselben Verhältniss, wie in den reichsten Gebieten des germanisch-romanischen Europas. Das Verhältnis8 der einen zu der andern ist wie 1 zu fast 2 Millionen Bewohner der Städte, fast 6 Millionen Bewohner des Sachen Landes. Leider ist diese Aoliiilichkeit aber nur eine scheinbare. Die Bevölkerung der polnischen Städte ist grosSentheils jüdisch oder deutsch und mir zu oft au Wesen und Interesse, wie an Abstammung dem sie umgebenden slavischen Volke fremd geblieben. Diese polnischen Städte, die vielfach von deutschen Colonisten gegründet und alle mehr oder minder von Juden bevölkert sind, welche ein deutsches Idiom sprechen, diese einst grösstenteils nach deutschem Magdeburger Hecht regierten Städte, bleiben isolirt von dem Kern einer Republik von Edelleuten, in ihr enges Weichbild eingeschlossen, auf ihre Privilegien beschränkt, ohne Sitz in der Verfassung, ohne Rolle im Staat, ohne Einfluss auf Civilisation und Politik des Landes, für welches der Mangel eines nationalen Bürgerthums nicht der letzte Grund des Unterganges war. Im alten Bolen waren die Städte mitten im Volke gleichsam halbausländische Colonieen, sie waren muh dem Ausspruch eines deutschen .Journalisten, wie Tropfen Oel auf einem Teich i). In Russland waren dagegen die Städte zwar aus dem nationalen Boden hervorgegangen, aber sie waren selten, zerstreut, armselig; ohne eigene Institutionen noch Leben tauchten sie kaum aus dem grösster Stadtbevölkerung, was beweist, dass trotz der fortdauernden iiniern Colonisation von den neues Land suchenden Bauern die moderne Colonisation, wie überall, groesentheils von den Städten ausgeht. ') Hüp]H', Verfassung der Republik Polen, p. 57. In ganz Westrussland, in Litthauen, Weissrussland und dem einst mit Polen vereinigten Kleinrussland ist die Lage noch last dieselbe wie in dem eigentlichen Polen. Die in den Städten und Flecken zusammengedrängten Juden bilden auch dort eines der llauptcleinente der städtischen Bevölkerung und sind auch dort noch keineswegs mit diu andern Bewohnern verschmolzen. Unermesslichen Ocean des flachen Landes hervor. In anderer Form war doch das Uebel dasselbe: der Geist des Fortschritts, der Geist der Initiative and Freiheit entbehrte seiner natürlichen "Wiege. Keine Flecken noch Städte, mithin kein Bürgerthum im alten Russland. Nowgorod und Pskow, beide der Gstsee nahe, beide mit den Kaufherren der Hansa im Verkehr, bilden eine ruhmvolle, aber fruchtlose Ausnahme. Moskowien, das sie verschlang, war ein wesentlich bäuerliches Land, und daher grossentheils bei den Bussen wie bei andern Slaven die so oft hervorgehobene Zähigkeit des patriarchalischen oder Familiengeistes. In diesem Staate von Hauern und Grundbesitzern haben Sitten, Einrichtungen und alle gesellschaftlichen Beziehungen lange einen Zug des Einfachen, Primitiven, gleichsam Elementaren sich bewahrt1). Der .Mangel an Städten brachte für Russland eine zweite schwere Folge mit sich: mit der Stadtbevölkerung fehlte ihm das erste wirth-schaftliche Element der modernen Civilisation. der bewegliche Reich-thum, das rollende Capital, eine wesentliche Bedingung zu jeder grossen materiellen Entwicklung mal zu jeder fruchtbringenden socialen Thätigkeit. Ist es dem Charakter des russischen Volkes, den sogenannten nomadischen Neigungen der slavischen Face zuzuschreiben, dass Russland so lange ohne Städte blieb und noch jetzt nur wenige besitzt? Keineswegs — der Grund ist ein anderer: er liegt in dem wirth-schaftlichen Herkommen und in der Dauer der Leibeigenschaft, er liegt zum Theil in dem Boden, dein Klima, der Gestaltung des Landes. Es giebt in Fussland noch nicht Consumbedürfnisse, welche die Production einer zahlreichen städtischen Bevölkerung in Nahrung zu halten vermöchten. Die Gewerbe und [ndustrieen aller Art. die ihren Sitz sonst in den Städten haben, sind noch wenig entwickelt oder werden zerstreut in den Dörfern ludrieben. Die alte Ordnung der ') Nach der Beobachtung des Historikers SnltelhuJ {osehiehle des russischen Lebens der ältesten Zeit", 2 Tb. .Moskau IST'.', rnss.) weisen die patriarchalischen und familicuhnftcn Korinen, deren Zähigkeit bei den Slavo-Küssen so oft erwähnt wird, im ({runde nur auf das Vorwiegen der Beziehungen des privaten Lebens in Ermangelung des öftentliehen hin. Da dieser Mangel an öffentlichem Leben vorzugsweise dem Mangel oder der Kleinheit der städtischen Centren zuzuschreiben ist, überraschtes nicht, wenn derselbe Historiker in den Städten den ersten Keim der bürgerlichen < Jesellschaft und den ersten Antrieb zur Organisation des Staates in Kussland erkennt. Um der Schwäche und der geringen Zahl dieser Heerde des bürgerlichen Lehens willen konnten die privaten Beziehungen lange Zeit ein grösseres Gewicht behalten, als in den europäischen Staaten, Leibeigenschaft veranlasste die Gutsbesitzer, Alles an Ort und stelle, auf ihren Gütern von ihren Leibeigenen herstellen zu lassen; nur Luxusgegenstände machten eine Ausnahme, und diese wurden meist aus dem Auslande bezogen. Die Strenge des Klimas, die grossen Entfernungen übten gleiche Wirkung. Besonders zwingen in den nördlichen Hegionen die Armuth des Bodens, die langen Feierzeiten der bösen Jahreszeit, die Dauer der Winternächte den Bauer, seine Existenzmittel anderwärts als in dem Ackerbau zu suchen. Daher kommt es, dass diese grosse Landbevölkerung durchaus nicht ausschliesslich ackerbautreibend ist. Das Leben auf den Feldern und das gewerbliche Leben sind weniger getheilt, weniger specialisirt, als im Westen. Was in andern Ländern in den Werkstätten und Fabriken der Städte von wesentlich städtischen Arbeitern hergestellt wurde, das verfertigte meist der Mushik in seiner Dorfhütte L). So hatten die Städte den gesellschaftlichen Zustand gegen sich, der früher den Hauer an die Scholle fesselte und ihn jetzt noch an seine Gemeinde bindet; sie hatten das geringe Mass der Bedürfnisse und des Reichthums in der Masse gegen sich, ja die Hauhheit des Klimas und die Anlagen des Volkes selbst. Das Naohahmungstalent, die Geschicklichkeit und Gewandtheit der Hand der Hussen standen selbst dem Zusammenströmen zu Städten im Wege, da sie die Bildung dauernder Berufsgattungen, sesshafter Gewerbe und die Entwicklung der Specialitat erschwerten. Der Hauer, der Alles, was Beine gelingen Bedürfnisse fordern, selbst herstellen kann, kommt selten in den Fall sieh an die Einwohner oder an die Erzeugnisse der Stadt zu wenden. Bei solchen Gewohnheiten ist die letztere nur noch ein Centrum für die Verwaltung und das Tauschgeschäft, ein Markt, der oft zur Zeit der Messe belebt und überfüllt, die längste Zeit des Jahres über aber leer und verlassen ist. Viele von diesen Städten sind nur künstliche Schöpfungen des souveränen Thaten-dranges, der sie in das Nichts des Hachen Landes zurückfallen Hesse, wenn er seine Hand von ihnen abzöge. Die Entstellungsweise der städtischen Centren erklärt, warum Städte und Ländereien in Russland so wenig Verschiedenartigkeit zu zeigen pflegen, und warum sie zuweilen wieder so sehr sich von an- ' Die Kintiihriuig der Maschinen, der Dampf und die Verbesserung der Verkehrswege wirken jetzt dabin, diese Sachlage zu verändern, indem sie zum Betrieh der grossen F:d>rikbidustrio auf Kosten der bescheidenen Dorfgewerbe aufmuntern. Diese Revolution, die sich in Russland zu vollziehen beginnt, wie überall, muss natürlich eine Wendung zu (tunsten der städtischen Cent reu herbeiführen. deren unterscheiden. Während die meisten Gouvornementsstädte uns nur wie anspruchsvolle Dörfer erscheinen, kommen die grossen russischen Städte, besonders die beiden .Hauptstädte uns wie Colonien eines andern Volkes und einer andern Civilisation vor. .Man findet in ihnen allen Luxus, alle Vergnügungen, alle Künste des Westens; das Leben in ihnen erscheint ganz europäisch, während es auf dem Lande sich noch moskowitisch, halb orientalisch, halb asiatisch zeigt. Der Gegensatz ist auffällig und ist doch nur ein rein äusserlicher. oberflächlicher. Die Aeusserliohkeiten des Lebens sind andre, der Mensch ist derselbe. Ausser einer höhern in der Schule des Auslands erzogenen ('lasse stellt die Masse der Städte an Bildung und Neigungen, an Sitten und Wesen noch jetzt den Bewohnern des Sachen Landes nahe. In diesen schon vollkommen fertigen und mitunter volkreichen Städten giebt es häufig eine grosse Zahl von Bauern und noch halbbäuerische Sitten. Meist lindet sich weder eine Bourgeoisie in unserm Sinne des Wortes, noch eine städtische Plebs, die der Arbeiterbevölkerung unserer grossen Städte und unserer Vorstädte vergleichbar wäre. Das alte Moskowien machte zwischen Stadt und Land, zwischen Bürger und Bauer wenig Unterschied; erst das neue Russland hat sie zu zwei Classen getrennt. Den ausländischen Heisenden schien die Lage des einen wenig anders als die Lage des andern. Der Kng-länder Fletcher, Gesandter der Königin Elisabeth bei dem Sohn Joanns des Schrecklichen, betrachtete den Kaufmann und Handwerker als zu der untersten Volksstufe gehörig, die er mit dem herabsetzenden Namen der Mushiks bezeichnete l). Lrst im siebzehnten Jahrhundert wurden die Städte im Allgemeinen in Bezug auf Verwaltung von dem Hachen Lande abgesondert Erst in dieser Zeit, nach Einführung der Leibeigenschaft, beginnen die Stadtbevölkerungen für eine vornehmere Classe zu gelten, und werden die Städte als besondere Communen, nach einem speciellen Statut constituirt*). Bis dahin waren Städte und Flecken der Provinzen gewöhnlich demselben Hecht und den- ') s. Fletcher, Kap. IX. — Joann der Schreckliche selbst nennt in seinen Briefen an die Königin Elisabeth die englischen Kaufleute, die zum /weck des Sandels nach Russland gekommen, verächtlich: 1 landelsmushiks. *) Ttschitscherin, die Landesinstitutionen Kusslands im XVII. Jahrhundert 1>. 5*)"2. :V>7 (russ.) Ks versteht sich, dass das, was hier gesagt wird, sich nieht auf Nowgorod und l'skow bezieht, deren Einwohner sich das Kecht der Selbstregierung gewahrt hatten, und wo sich, wie in den Republiken Italiens, die Kämpfe /.wischen Reichen und Armen, zwischen dem popolo graSBO und dem popolo rninuto wiederfinden. selben Behörden unterworfen, wie die Bauern der Districte, Die Lage des niederen Volkes der Städte war kaum beneidenswerther, als die der Landhauern. Der steuerpflichtige Bürger (täglyi tschelowck) war „festgemacht" (prikreplen), an seine Geburtsstadt gebunden, wie der Bauer an seine Seholle, und zwar aus gleichen Gründen: damit nicht der Fiseus durch den Fortgang der Steuerpflichtigen geschädigt und die solidarisch eingeschätzten Bürger genöthigt würden, für Abwesende zu zahlen. Verfügungen, die an die Gesetze für die Curialen in den letzten Zeiten des römischen Boichs erinnern, untersagten streng die Uebersiedelung von einer Stadt oder Ortschaft zur andern; auf eine derartige Entweichung, auf diese Art der Desertion setzten die Romanow im Jahre 1658 die Todesstrafe1). Ks gab indess in den Städten Russlands eine Art prMlegirtei Classe: die reichen Kaufleute, die Grosshändler, namentlich die mit dem Ausslande handelnden. Man nannte sie „Gäste", Gosti, vermutlich weil sie grüsstentheils ursprünglich und lange Zeit Ausländer gewesen waren. Dieser Gosti geschieht seit der Zeit der Waräger Erwähnung, in dem alten Russland, wo die Entfernungen und die inneren Kriege den Handel unsicherer und zugleich einträglicher machten, waren die Männer, die unternehmend genug waren, sich ihm zu widmen, von einem Ansehen umgeben, das sie mehr oder minder inmitten der Erniedrigung zu wahren wussten, in welche die Kriege der Theilfürsten und die tatarische Herrschaft den nationalen Handel hinabzogen. Dieser offenbar ursprunglich germanische Namen „Gosti2)" wurde von den Grossfürsten als ein Ehrentitel verliehen; mehrere dieser „Gäste" dienten den Knäsen als Hathgeber und Gesandte. Nach den Gosti kamen die niederen Kaufleute und die Posadskije oder Bürger, die wieder beide in verschiedene Classen getheilt waren, von denen jede ihren Rath oder Duma mit dem Hechte des Eiehtspriiehs bei Streitigkeiten der Glieder hatte. Diese Kaufleute und Bürger konnten schwerlich eine einflussreiche Classe in einem Lande bilden, das durch Litthauen, den deutschen Orden und die Tataren von Europa und dem Meere und VOll allen grossen Haudolswegen abgeschnitten war, Joann der Schreckliche, der Feind der alten Knäsen- und Bojarenfamilien, hatte ver- i Solowiew, Gesch. Russhtnds Bd. XIII p. 100— RIO. Die Höbe der Steuer machte die Städte Öde; so war das moskowitische Steuersystem ein weiteres Hindernis» für die Entwicklung der letztern und für die Bildung eines Bürgerthums. 2) Gost, vergl. Gast. Von diesen gosti, in der Bedeutung Kaufleute stammt der Name Gostinny Dwor, russische Bezeichnung für Bazar. sucht, die Stadtbewohner, namentlich die Bürger Moskaus zu heben, aber die Hand der Zaren verstand es nicht, in moskowitischen Grund die municipalen Freiheiten zu pflanzen, die sie in Nowgorod und Pskow, wo sie Lange geblüht, aus dem Boden gerissen hatte. Selbst der Umstand, dass es kein Lehnswesen und keine Aristokratie gab, was für den ersten Blick dem Emporblühen des Bürgerthums günstig zu sein scheint, bot, demselben vielmehr ein neues Ilindemiss. Die Herrscher hatten nicht so grosses Interesse, sich auf die Städte zu stützen, und die Städte fanden ihrerseits nicht in Streitigkeiten zwischen grossen Vasallen und der Centralgewalt Gelegenheit zu ihrer Befreiung und Erhebung. In all diesen Städten ohne Gewerbe, ohne Verkehrsmittel, fast ohne Bevölkerung gab es bei dem Regierungsantritt Peters des Grossen trotz einiger abermaliger Versuche seines Vaters Alexei nichts, was den Namen Bürgerthum verdient hätte. laue solche Linke musste dem Zaren, der selbst ein Handwerker — eine besondere Vorliebe für das bürgerlichste Land Huropas für Holland hegt«', lebhaft zum Bewusstsein kommen. Leider liess sich eine Mittelclasse oder ein Bürgerthum nicht So rasch improvi-siivn, als eine Flotte oder eine Armee. Die besonderen Verordnungen Peters des Grossen, die Selbstverwaltung, die er den Städten verlieh, trugen vielleicht weniger zur Schaltung einer städtischen ('lasse bei, als die allgemeine Thätigkeit des Reformators, die Hinführung neuer GewerbSzweige und neuer Verkehrsmittel und ganz besonders der 1'instand, dass Russland dem europäischen Verkehr geöffnet wurde. Doch waren die Fortschritte langsam. Die schlechte Verwaltung der Nachfolger Peters, die Beschränkungen, die den städtischen Privilegien und den Kaufleuten auferlegt wurden, endlich die von der Kaiserin Elisabeth verfügte Erhebung der wichtigsten Handelszweige zu Monopolen, die den Günstlingen des Hofes erthcilt wurden, hielten die Entstehung einer Mittelclasse am ein Jahrhunderl zurück. Katharina II. nahm auch hier, wie überall, das Werk Piders wieder auf. Sie wollte gleichzeitig einen Adel und ein Bürgerthum schaffen, zwei Dinge, deren Russland fast in gleicher Weise ermangelte1). Katha- ') Einige Rathgeher Katharinens haben in diesem wie in mehreren anderen Fällen mitunter merkwürdige Maasregeln empfohlen und sich in seltsamen Illusionen gewiegt. So hat nach Nik. Tiirgenew (Riisslaml und die Russsen II. 1». 821) einer der hervorragendsten Männer dieser Regierung, Bezkoi, der grossen Antheil an der Gründung der riesigen Eindclhäuscr in beiden Residenzen hatte, gemeint, durch diese Anstalten die Heranbildung des dritten Standes vorzubereiten. rina IL hat. die Stadtbewohner in die verschiedenen Gruppen eingeteilt, die heute noch bestehen. Kaufleute. Kleinbürger, Arbeiter erhielten aus ihrer Hand eine corporative Organisation. Jede dieser verschiedenen Gruppen hatte ihre gewählten Vertreter, und sie alle wurden zu städtischen Corporationen vereinigt, denen das Recht der Rechtsprechung und der eigenen Verwaltung zustand. In der Organisation der Stadtbevölkerung ahmten natürlich die Princessin von Anhalt-Zerbst und der Besieger Karls XII. die damaligen Hinriehtungen von Westeuropa nach, specicll die Einrichtungen der germanischen Länder, Deutschland, England, Holland und Schweden. Daher stammen theilweise die Mängel und Misserfolge eines Werks, das zu ungünstiger Zeit dem Ausland und solchen Vorbildern nachgeschaffen wurde, die bereits im Verfall waren. In dem Zeitpunkt, da in den entwickeltsten Ländern von Westeuropa die Handwerkerzünfte und die Kaufmannsgilden schon zu verschwinden im Begriffe waren, wurden die Zunftämter und Meisterprüfungen in Russland eingeführt. Was auch die Vortheile und Missstände dabei waren, diese Organisation zu (Korporationen, denen die germanischen Völker sich gern hingeben, war dem Geist wie den Gewohnheiten! Russlands gleich fremd. Der Russe besitzt — wie Haxthausen richtig bemerkt — innen Hang zur Association, doch keinen zur Corporation, und zwischen beiden ist der Enterschied gross. Der Russe hat eine nationale Foitü der Association, den Arte], in dem alle Glieder gleiche Rechte gemessen und für den gemeinsamen Gewinn unter frei von ihres Gleichen gewählten Vorstehern arbeiten; er begeistert sich nicht für geschlossene Corporationen mit Privilegien und Monopolen und hierarchischer Theilung in ungleiche Ränge und Stufen, wie unsere alten Zünfte mit ihrer Stufenfolge in Meister, Gesellen und Lehrling. In dieser Beziehung ist das Volk Europas, in dem sich die äusseren Classeneintheilungen am meisten erhalten haben, vielleicht das dem Kastengeist und der hierarchischen Unterordnung von Natur fremdeste: der ständische Geist, der im Westen nur eine Form des feudalen war, der tieist, der in die Welt der Arbeit das Princip des Privilegiums und des Vasallenthums, wie es dem Grundbesitz und Adel eigen war, einführte, ist im alten Moskowien nirgends anzutreffen und hat auch im neuen Russland nicht den Sieg erlangen können. Katharina II. hat es vergeblich versucht, die Gewerker zu Handwerksämtern zu vereinigen und regelmässig in Meisterordnungen zu theilen, vergeblich hat sie jedem Amt Vorstände und Banner gegeben. Die Aemter, zechi, nach dem deutschen "Zeche" gebildet, sind in Russland leere Rahmen geblieben und fast nur einfache Register zur Eintragung in die Polizeiiiston; wo die Corporationen nocb mit ihren verjährten Privilegien bestehen, zeigt sieb nicht, dass der Handwerker und die nationale Industrie davon Gewinn gezogen hätten '). Drittes Kapitel. Classification der Stadtbevölkerung seil Katharina II. — Der Handwerker und der Mesclitschiinin oder Kleinbürger. Städtisches Proletariat. Wie sich dasselbe in der Regel den Charakter des Landvolkes erhalten bat. — Die Kaut' mannsgilden und ihre Privilegien. - Wie »Iii- Aufhebung der Leibeigenschaft jenen den Zugang zum (Irundbesitz geöffnet hat. — Die Ehrenbürger.— Russland vor Kurze.......ch ohne diejenigen Gewerbe, aus denen das westeuropäische Bürgerthum sich ergänzte. — Inwieweit die Reformen dazu beitragen, ein liür-gerthum nach Art des europäischen zu schaffen. Seit Peter 1. und Katharina IL ist die Stadtbevölkerung in fünf oder sechs Rubriken getheilt, die wieder in zwei Hauptgruppen zerfallen' der Grosshandel oder die Kaufleute, die eine höhere, lange bevorrechtete Classe bilden, und die Kleinhändler und Gewerbetreibenden aller Art, die in verschiedene Kategorieon getheilt sind, welche sieh nur dem Namen nach unterscheiden. Ks giebt „Meschtschane", Kleinbürger und Städter, „Remeslehniki" oder Handwerker, „Zecho-wüje" oder Inmingsgenossen, „Rasnotschinzy", eine Art eaput niortumn, der ganze Rest, zu dem Alles gehört, was sieh in keine der besonderen Classen einnähen lässt, Von diesen verschiedenen Classen ist die erste die wichtigste; sie kann für den Tvpus der ganzen niederen Bevölkerung der Städte gelten. Gewöhnlich wird das Wort „Mescht-schanin" mit Bürger übersetzt, doch entspricht die mit dem russistdien Ausdruck 80 bezeichnete Person sehr wenig dem letzleren Begriff. Der „Meschtsehaninist ein Stadtbewohner, der weder Edelmann noch Geistlicher, und nicht reich genug ist, um zu den Kaufleuten angeschrieben zu werden, und zugleich zu keinem Hand- ') In diesem wie in vielen anderen Punkten fehlt in den Gesetzen wie in der Verwaltung Einheitlichkeit und Genauigkeit, was nur zu oft Verwicklung und Willkür zur Folge bat. Das Gesetz bestimmt die Gewerke nicht, die zu Corporationen zusammengeschlossen werden sollen, auch ist der Betrieb des einen und des andern Handwerks in gewissen Städten frei, während er in andern von einem Zeuginsse abhangig ist, das durch ein Examen vor einem Tribunal von Handwerkern erworben werden kann. -. Meschlsehanin, Plural Moselitschane VOtl mesln, Platz. Ort, Deminutivum MestetSChko, kleine Stadt, Flecken. werksamte gehört. Er lebt in der Regel von Kleinhandel oder Handgewerben. Viele haben überhaupt keine festen Existenzmittel. Ks ist. oder vielmehr es war bis vor Kurzem ihrem Handel und ihrem unbeweglichen Eigenthum eine Sehranke gesetzt ; sie durften eine gewisse l'msatzzill'er nicht überschreiton, noch ein Immobil von mehr als fünf oder sechstausend Rubel an Werth besitzen. Wollten sie darüber hinaus, so mussten sie sich als Kaufleute anschreiben lassen. Wenn er auch ursprünglich der rechte Stadtbewohner, der eigentliche Städter ist, muss der Meschtschanin oft seinen Erwerb im Dorfe suchen. Tu manchen Gouvernements ist die Zahl der auf dem Lande angesiedelten Meschtschane beträchtlich, während der Hauer, der in der Feldarbeit nicht immer dauernde Beschäftigung oder genügenden Lohn finden kann, häutig nach den Städten drängt und in diesen das Monopol für gewisse Gewerbe erlangt hat. In Petersburg allein leben beinahe 200,000 Dauern. Die beiden Classen wechseln ihren Wohnsitz und tauschen häufig so auch ihre Rollen, machen sich bald in der Handarbeit und im Kleinhandel, bald in den Fabriken und auf den Jahrmärkten Concurrenz, bewahren ein andermal ihre Lieblingsprofessionen, wobei der Meschtschanin die Künste und Handgriffe der Stadt auf das Land, der Mushik seinen Arm, sein Beil und sein Pferd in die Stadt bringt, beide aber in diesem Rollentausch und Wohnsitzwechsel sehr verschiedenen Chancen ausgesetzt sind, diemeist für den Städler ungünstiger sind, als für den Dörfler. Diese Classe der Meschtschane und die verwandten Gruppen der Handwerker bilden die grosse Majorität in der städtischen Bevölkerung. Ks ist vielleicht der mindest begüterte Theil des russischen Volkes. Der Mushik hat nach dem Einaucipationsgesetz sein Haus, sein Gelläge für sich; fr hat ferner sein Theil an dem Gemeindefeld. Ganz anders ist die Lage des Meschtschanin. Er lebt wie unsre Arbeiterbevölkerung auf eigne Gefahr hin. Das Gesetz bietet ihm keine Bürgschaft, die Gemeinde hat ihm in der Hegel weder Land noch bestimmte Arbeit zu schaffen. Wenn einige Meschtschane auch zu Wohlstand oder gar zu Reichthum gelangen, so haben die meisten doch eine sehr unsichere Existenz. Ein Zehntel derselben besitzt in den Stallten ein Haus für sich. Der liest wohnt zur Miethe wie im Westen. Diejenigen, die eine Zuflucht auf dem Lande suchen, haben kein Hecht auf den Mitgenuss des Gemeindebesitzes. Man hat mir einige von diesen Städtern gezeigt, welche Bauern hatten werden wollen: hiezu hätten sie in die bäuerliche Gemeinde aufgenommen werden und mit baarem Geld das Recht auf den Grund und Boden erWerben müssen, welches dem Bauer von seiner Geburt an zusteht Bis in die letzte Zeit waren der Meschtschanin und der Remes-lenuik, der Kleinbürger und der Handwerker neben dem (lauer allein den zwei schwersten Lasten des Staates, der Kopfsteuer und der Re-krutirung für die Armee, unterworfen. Alexander II. erleichterte ihnen den Militärdienst, indem er denselben auf alle Classen der Gesellschaft vertheilte. Alexander III. hat sie von L883 ab von der Kopfsteuer befreit, Das tiesetz hat der Bevölkerung Gleichheit der Lasten und Rechte gegeben; weiter wird es nicht gehen und ihnen nicht, wie dem Dauer, Grundbesitz geben können. Die Hussen rühmen sich — Dank ihrem System der ausgedehnten Gemeindeländereien — kein Proletariat zu haben; sie sehen mit verächtlichen Blicken auf die Gefahren hinab, mit denen diese sociale Wunde den üccident zu bedrohen scheint. In Wirklichkeit hat aber Russland schon ein städtisches Proletariat, das überall das lästigste, das unruhigste und mitunter das einzige ist, an dem gewisse Nationen des Westens, das einzige wenigstens, an dem Frankreich leidet. Es giebt sociale Uebel, denen ein Land, wie jung und kühn, wie gross und reich an Grundfläche es sei. sich nicht entziehen zu können scheint; dazu gehört das Proletariat, das Tagelöhnerthum der Städte. Dass dasselbe in Russland nicht grösser ist, liegt an der geringen Zahl und an der geringen Bevölkerung der Städte. Hie Fortschritte der Industrie und der Civilisation, selbst die Fortschritte der Bevölkerungszahl werden dort nur, wie anderweitig, mit dem Wachsthum der Städte das städtische Proletariat mehren. Die „Meschtsehanstwo" hat bereits durch die Aufhebung der Leibeigenschaft eine bedeutende Verstärkung erhalten: sie ist die Zuflucht-vieler Kategorien von Leibeigenen, namentlich der Dworowüje Um Ii. der leibeigenen Dienstboten, geworden. Diese Leute, die der bisweilen durch mehrere Generationen geübte Dienst bei ihren Herren von den bäuerlichen Gemeinden golüsl hatte, konnten in der Regel bei ihrer Kroiwerdung den Theil ihres Gemeindelandes nicht mehr auflinden. Der Vormundschaft ihrer Herren entlassen, müssen sie von ihrer Arbeil. von ihrem Tagelohn leben, ohne Recht auf Besitz des Landes unter ihren Füssen oder des Hauses, das sie bewohnen, ohne andres Hrbtheil für ihre Kindel-, als den reihen Groschen kleiner Ersparnisse. Russland hat ebensowenig als irgend ein anderer Staat das Gehoimniss gefunden, jedem Menschen eine dauernde Wohnung, jeder Familie einen erblichen Heerd zu verbürgen und die immer wachsende Bevölkerung unserer menschlichen Ameisenhaufen über die Versuchungen des Verbrechens oder des Leichtsinns hinwegzuheben. In Bezug auf die Bedingungen der Existenz sieben diese Mesch- J. crdj-ll oau Ii c u, Reich d. Zuron u, d, Küssen. 17 tsohano oder die russischen Handwerker etwa wie die mindest begünstigte Bevölkerung unserer Studie da. Aber in einem wesentlichen Punkte unterscheiden sie sieh von ihr, in dem .Mangel an Looalsinn, an Stadtpatriotismus, Das städtische Proletariat, der Tagelöhner, hat nicht wie im übrigen Europa ein Gefühl des Gegensatzes gegen das höhere Bürgerthum, noch auch gegen das Landvolk. In diesem Sinne könnt*! man sagen, dass den grossen russischen Städten das niedere Volk unserer europäischen Hauptstädte fehlt, Sie besitzen wohl schon die Kiemente dazu, aber diese Hlemente sind weder zahlreich muh kräftig genug, sie besitzen noch zu wenig Selhstbewusstsein, um die Ideale oder die ehrgeizigen Ansprüche der Arbeiterklassen Westeuropas zu haben. An Denkweise, Glaubensmeinungen und Empfindungen, wie in Tracht und Sitten unterscheidet sich das Volk in den russischen Städten noch wenig von dem Landvolk. Der Meschtschanin und namentlich der Handwerker ist nur der Mushik der Städte. Die Religion, die in Kussland noch eine der grössten socialen Mächte geblieben ist, hält noch die grossen städtischen Massen unter einer Herrschaft, welche in den meisten Ländern Westeuropas dem katholischen wie dem protestantischen Christenthum für immer verloren gegangen zu sein scheint Der Meschtschanin beobachtet treu die alten Riten und Traditionen und hält die alten Sitten hoch; er hegt, wie der Mushik, Ehrfurcht vor Gott und dem Kaiser; zwischen ihm und dem Hauer besteht kein moralischer /wiespalt noch Gegensatz. So giebt es auf dem Grunde des russischen Volkes eine Einheit und Uebercinstim-mung der Empfindungen und des Glaubenslebens, die um so mehr betont werden muss, als sie immer seltener wird und selbst in den Händern, wo sie noch besteht, mit der Zeit immer mehr erschüttert wird'). Russland besitzt in diesem Umstand auf mehr oder minder langt' Zeit hinaus ein Element der Kraft und des Bestandes, das allen andern Völkern des Continents abgeht. Wenn das nordische Reich noch nichl die Thätigkeit unserer städtischen Civilisation entfaltet, so kann es doch selbst in diesem Zurückbleiben nicht ganz werthlosen Ersatz linden. Es ist weniger den Kämpfen um Einfluss zwischen den Städten und dem Lande ausgesetzt, unter denen der Westen so schwer ge- •) Dieser Ceistosstand der städtischen Arbeitcrelassen erklärt den Misserfolg der nihilistischen Propaganda in Ihnen, Verschiedene Anzeichen bissen jedoch fürchten, dass die russischen Arbeiter nicht immer gegen die revolutionären Hetzereien taub bleiben werden. Wie im Westen werden auch bei ihnen die Lohn frage und die Arbeitseinstellungen den Agitatoren zum Vorwaud oder zum Werkzeug dienen können, litten hat, diesem Bürgerkrieg zwischen Städtern und Landleuten, der in steten Revolutionen und Beuel innen jeden Portschritt hemmt; es entzieht sich noch diesem fieberhaften Conflict zwischen dem skeptischen und zugleich utopistisohen (leiste des städtischen Arbeiters und dem grob conservativen und blind positiven Geiste des landischen Bauern. Die russische Gesetzgebung theilt die Bewohner der Stadle in zwei Gruppen: sie trennt die Handwerker, als Leute der untern Stufe der gesellschaftlichen Leiter, von den Bürgern, der höheren Staffel derselben. Diese werden in der Hegel in die Rubrik der Kaulleute. Kupzüi, einbegriffen. Dieser Titel wird im Gesetze nur den Handelsleuten zuerkannt, die ein gewisses Capital besitzen oder gewisse Patentsteuern bezahlen. Die Kaulleute, die lange Zeit wichtige Privilegien genossen, konnten dennoch eine geschlossene Classe nicht bilden; der Meschtschanin, der Hauer, der Edelmann selbst, der Handel treibt, hat das Recht, sich zu jenen anschreiben zu lassen; es ist nur eine frage des Vermögens und der Abgabe. Diese Kaufleute zerfallen Wieder in mehrere Unterabteilungen, die den nach Peter dem Grossen eingerührten fremdländischen Namen der Gilden tragen. Lange Zeit besassen die drei Gilden sehi' verschiedenartige Privilegien, jetzt haben sie gleiche Rechte. Der Unterschied zwistdien den Gilden besteht nur in der Höhe des von den Kaufleuten deelarirton Capitals oder in dem Patent, das sie vom Staate lösen. Die Glieder der ersten Gilde haben das Recht des freien Handels im ganzen Reiche wie im Auslände: die der zweiten müssen sich auf den innern Handel beschränken. Diese Gilden haben wie die andern Gruppen der städtischen Bevölkerung in jeder Stadt ihre Versammlungen und ihre gewählten Vorstände oder Syndici. Uebrigens steigen die Kaufleute von einer Gilde zur andern hinauf oder hinunter, je nachdem ihr Vermögen zu-oder abnimmt, und schlechte Geschäfte setzen sie der Gefahr aus, in die unterste ('lasse der Meschtschane zurückziigeratheu. Die Glieder der zwei oberen Gilden gehören oder gehörten vielmehr zu den privilegirten ('lassen. Die Kaiser hatten ihnen alle persönlichen Rechte des Adels ertheilt: sie waren von Kopfsteuer, Militärdienst und körperlichen Strafen frei. In einem Lande wie Russland konnte nicht mehr zur Aufmunterung des Handels und des Bürgerthums geschehen. Die Kaufieute halten die Freiheit, sich bereichern und ihre Reichthümer gemessen zu dürfen: nur Eines war ihnen verboten, und selbst diese den Handeltreibenden auferlegte Beschränkung konnte in den Augen des Gesetzgebers für einen Sporn zum Handel gelten. Ks war den Kaufleuten, wie allen nicht zum 17* Allel gehörigen Personen verboten, besiedeltes Land (naselennüja imuschtsehestwa), d. h, mit Hauern besiedeltes Land. Land mit Leibeigenen, zu besitzen. Xun waren aber in diesem schwachbevölkerten, ausgedehnten Lande die so besiedelten Grundstücke in der Regel die allein produetivon, und so blieben denn die Kaulleute, die dieselben nicht beanspruchen konnten, thatsächlieh vom Grundbesitz, wenigstens vom ländlichen Grundbesitz ausgeschlossen. Die einzigen Immobilien, die ihnen zugänglich waren, waren städtische Häuser oder Landhäuser in der Umgebung der Städte. Da sie in Landgütern kein Vermögen anlegen durften, licss sich annehmen, dass die Kaulleute weniger geneigt sein würden, die im Handel gesammelten Capitalien aus demselben herauszuziehen, Dieses Verbot hatte aber noch eine dauerndere und zugleich schlimmere Wirkung: es trennte den Handel vom Ackerbau und hielt den Kaufmann wie den Industriellen zugleich dem adligen Grundbesitzer und dem Landbauer fern. Wie die Leibeigenschaft die Bildung einer Mittel« lasse auf dem Lande fast unmöglich machte, so hinderte das Vorrechl des Adels auf das Land mit Hauern die Milleh lasse, die sich laugsam in den Städten bildete, sich über das Land hin auszubreiten. Die Kaufleute blieben eingeschlossen in der Stadt und gleichsam in ihren Geschäften eingekerkert; hieraus erklärt sich eine weitere Ursache der Schwäche, der geringen Ausdehnung, des geringen socialen Hinflusses des Bürgerthums. Heute, wo die Abschaffung der Leibeigenschaft den Unterschied zwischen Land mit und Land ohne Bauern aufgehoben hat, ist das Grundeigenthum frei geworden und Jedermann die Erwerbung desselben freigestellt. Mittelbar wirkt die Emancipation hiedurch also wesentlich auch auf die Interessen des Bürgert bums ein. Sie hal demselben die freie Verfügung über sein Vermögen wiedergegeben und ihm das Land geöffnet; diese Thatsache an sich ist für die sociale Zukunft Russlands eine Revolution von bedeutender Tragweite. Die Kaulleute erster Gilde besassen fast alle persönlichen Privilegien des Adels: die reicheren strebten dennoch darnach, ihren Stand zu verlassen. Es gelüstete sie für sich selbst oder für ihre Kinder nach dem Adel, dessen vortheilbringende Vorrechte der Gesetzgeber ihnen schon zugestanden zu haben schien; viele von ihnen wählten einen Weg, der rasch dahin führte, den Staatsdienst: abermals eine Ursache der Schwäche und Abnahme des Bürgerth 11 ms, das nur für eine andre (lasse zu wachsen und reich zu werden schien. Die Erwerbung des Adels durch den tschin, den Rang oder das Amt, wie sie seit Peter dem Grossen zu Rechte bestand, hatte die zweifache Wirkung, dass sie zugleich die Bildung eines wirklichen Adels und die eines wirklichen Bürgerthums hinderte, sie machte dieses arm, indem sie jenen überfüllte, Ans dem einen wurde ein halbleeres Vorzimmer, aus dem andern ein gedrängt voller Saal. Es wäre ungerecht in diesem Trachten der Kaufleute nach Rang ' und Decorationen, die den Adel mit sich brachten, in Russland wie in andern Ländern ausländische Eitelkeit zu sehen. Der russische Kaufmann genoss alle realen Vortheil bringenden Rechte des Adels; aber er besass sie nur solange er zur Gilde angeschrieben war. Ein Umschlag seines Vermögens konnte sie ihm nehmen und ihn auf die Stufe des Meschtschanin hinabstossen, der der Kopfsteuer, . der Recrutirung und der Prügelstrafe unterworfen war. Nur der erbliche Adel und somit der Staatsdienst konnten eine russische Familie vor solchem Sturze sicher stellen. Diese unsichere Lage der Kaufleute, diese gebrechlichen Hechte des Rürgerthums führten den Kaiser Nikolai dazu, eine neue Rubrik und Kategorie zu schaffen. Indem er einerseits den Weg zum Adel erschwerte, schuf er andererseits für die Bürgerlichen einen Titel, der ihnen die bis dahin im Adel gesuchten Vortheile sicherstellte, Diese neue Stuft! der russischen socialen Leiter trägt den Namen potschotnüi grashdanin. Ehrenbürger. Diese Ehrenbürger besitzen die Rechte der Kaufleute erster Gilde, ohne den Gilden zugeschrieben sein zu müssen. Es war tatsächlich ein Adel neuer Art, ein bürgerlicher Adel, der durch den Souverän oder durch ein Senatsdiplom als Belohnung für bestimmte Dienste und bestimmte Functionen verliehen wurde. Wie der eigentliche Adel in Russland, zählte auch dieser Stand zwei ('lassen. Es gab persönliche und erbliehe Ehrenbürger, letztere mit dem Recht, ihren Stand und die mit demselben verbundenen Vorrechte auf ihre Kinder zu übertragen. Diese Rubrik besteht noch in der socialen Nomenclatur Russlands, aber der Name „potschotnüi grashdanin" ist nur noch eine ehrenvolle Auszeichnung. Die wichtigsten mit diesem Titel verbundenen Vorrechte sind allen Stadtbewohnern zugetheilt worden. Die Aufhebung der Kopfsteuer und der Körperstrafe, einerseits, die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht andererseits haben den Werth aller dieser Unterscheidungen wesentlich gemindert. Ehrenbürger und Kautieute können sieh nicht viele Privilegien erhalten, wo dem Adel selbst fast keine mehr bleiben. Die Namen und Rahmen der alten Unterabtheilungen bleiben wie Erinnerungen oder Anhaltspunkte zur Bequemlichkeit der Verwaltung und Statistik bestehen, wirkliche Bedeutung haben sie wenig. In den Städten, in denen vor Kurzem noch so scharf getrennte Gruppen existirten, scheint jetzt die bürgerliche Gleichheit so fest gegründet, dass ihr wenig hinzuzufügen bleibt. Es sind heutzutage die Sitten, die Erziehung, der Bildungsgrad, was die verschiedenen Gesellschaft*«dassen noch auseinander hält, Die Gewohnheit errichtet zwistdien ihnen Schranken, die das Gesetz nicht niederzuwerfen vermag. In dieser Beziehung bleiben die Classen-unterschiede immer noch schärfer markirt . als in Westeuropa. Iba der ungleichen Weise, in welcher die Civilisation in die verschiedenen Schichten der Gesellschaft eingedrungen ist. konnte es nicht wohl anders sein. Der Adel, der lange das Privileg einer europäischen Erziehung genossen, lebt nach wie vor gesondert, von den Kaulleuten und einer Bürgerschaft getrennt, die auch der Reichthum noch nicht über die Schwelle der Cultur hinweggeführt hat. So giebt es in der Hegel in den grossen Städten zwei Yereinigungspunkto. zw«'i Clubs, den einen für den Adel, den andern für die Kaulleute. Nach allgemeiner Auflassung bilden diese beiden Classen zwei Städte für sich; sie begegnen sich im Privatleben wenig und führen eine verschiedene Lebensweise. Indesstreten bereits Anzeichen einer bevorstehenden Revolution zu Tage. Adel und Bürgerthum Indien nicht blos in den üll'entlichen Versammlungen in Stadt- und Gotivernements-Angtdegenbeiten zusammen, sie beginnen auch, sich einander in Sitten, Neigungen, Cultur zu nähern, indem jener mehr national, dieses mehr europäisch wird. Vor wenigen Jahren noch war der russische Kaufmann gewöhnlich ein Mann mit langem Bart, langem Kaltau, langen Lederstiefeln. Kr hielt ebenso treu an den moskowitischen Traditionen und an der Nationaltracht fest, wie der Hauer. Heute noch existirt der Kaufmann alten Schlages, hochcojiservativ in allen Gewohnheiten, bisweilen sehr reich, doch seiner alten Lebensweise treu, orthodox oder altgläubig, von dem niedern Volke oder Mushik nur durch seinen Keiehthum unterschieden, gewissenhaft Kasten- und Keiertage beobachtend, in einem seltenen Grade Aberglauben und Schlauheit, einfache Lebensweise und grossartige Handelsoperationen vereinend. Aber auch den modernen Kaufmann giebt es schon, Sohn oder Enkel des vorigen, glattrasirt, den Sitten der Väter entfremdet, Nachahmer des Adels und Verehrer der französischen Moden. Die Zahl solcher Kaulleute wächst natürlich von Tag zu Tage; sie haben ihre Hotels und luxuriös, bisweilen sogar geschmackvoll möblirten Salons und besitzen allen Comfort Westeuropas. Ihre Söhne lernen französisch und reisen ins Ausland; viele führen in Baris ein ebenso grosses und lockeres Leben wie der junge Adel ihres Vaterlandes, und bei ihrer Rückkehr gelingt es Einigen, Zutritt zu den Salons des Adels zu finden. Zwischen diesen beiden Typen von Kaufleuten giebt es einen dritten, der gleichsam den Uebergang von dem einen zu dem andern repräsentirt und oft die Ansprüche und Verkehrtheiten beider in sich trägt. Das ist; der roiohgewordene Händler, der in den modernen Luxus vernarrt ist, sich aber in denselben nicht zu linden weiss, der sich mit Möbeln und Tand umgiebt, ohne den Gebrauch davon zu kennen, der im eigenen Hause und in den eigenen Kleidern sich niemals wohl fühlt. Sei es aus Liebe zum Luxus, sei es aus Be-reehnung zum Zweck, seinen Credit zu erhöhen, der russische Kaufmann entwickelt sehr häufig eine Freude am Aousserliehon, am Schein und Prunk, die selbst in Russland, wo diese Neigung allgemein ist, doch in andern Classen in solchem Masse nur selten vorkommt. Es giebt solche Kantleute, Nabobs der Provinzstädte, die reiche Zimmerreihen haben, die sie nicht bewohnen, prunkende Salons, die sie nur Fremden öffnen, Tafelgeschirr, von dem sie nicht speisen, Helten, neben denen sie nach alter russischer Weise auf Teppichen oder Divanen schlafen. Hiner dieser Leute zeigte einem englischen Ingenieur sein Schlafgomaoh und sein geschnitztes Bett mit dem Spitzenüberzug und sagte hiebei mit schelmischem Lächeln: „Das Heft bat mich ein höllisches Geld gekostet, aber — sehen Sic, ich schlafe nicht darin, ich schlafe darunter"1). Solch*1 Käuze giebt es noch, aber eines Tages wird der Sohn in das Bett seines Vaters steigen und dort schlafen. Wie die niedere Bevölkerung der Städte, der Meschtschanin, (oder Bürgerokladist) gehört auch der Kaufmann noch nach Gedankenkreisen und Sitten, nach Lebensweise und Bildung demselben Volke und derselben Welt an, wie der Mushik. In den russischen Gilden ist keine Spur von der Gruppe unseres alten tiers-etat mit seiner geistigen Beweglichkeit, seiner Bildung, seinen Bestrebungen vorbanden. Mau spürt dort noch kaum eine Gährung politischer oder intelloctuoller Thätigkoit. Bis zu den letzten Jahren hatten die *) Herbert Harry, Russia in 1870, [>. ll!>. Wenn der Gebrauch der Hellen sich mit den Eisenbahnen täglich weiter verbreitet, so sind Betten doch noch in einigen Coiivernements ein Luxusgegenstand, der dein Reisenden nicht immer zu Gebote stebt. Ich seihst habe mir bisweilen nur mit Mühe eines verschaffen können und manche Gastwirthe in grosses Erstaunen gesetzt , wenn ich mit einem Divan nicht zufrieden war. Wissenschaft.....I die Literatur dem Bürgerthum fast nichts zu danken1). Wie der Name Kupzüi, Kaufleute, der der obersten Schicht des Bürgerthums zuertheilt ist, schon anzeigt, giebt es in Russland bis jetzt nuT ein Bürgerthum des Comptoirs; es hat dort keinen andern Mittelstand gegeben, als Handel und Gewerbe, die beide ganz von einem ausschliesslich mercantilen, conservativen und dem Herkommen anhängenden Geist beherrscht waren. Die meisten von den Professionen, die das Bürgerthum in Kuropa schufen, die durch Beziehungen zur Naturwissenschaft, zur Literatur und zu den Gesetzen demselben am .Meisten Gewicht verliehen und ihm eine politische und sociale Bedeutung sicherten, welche die Gesetzgebung ihm noch nicht zugestand, die meisten von den sogenannten liberalen Professionen fehlten ebenso dem Bussland Peters I. und Katharinens II., wie dem Moskowien der Joanns und Wassili. Hier gab es nicht .Juristen, noch Mediciner, noch Schriftsteller, Professoren und Ingenieure, nicht Notare noch Sachwalter oder Anwälte, hier gab es nur Handlungsdiener und Schreiber ohne Bildung und an Erziehung und socialer Bedeutung ihren Berufsgenossen im Westen nicht vergleichbar. In einem Lande, wo das Gerichtsverfahren noch bis L865 ein schriftliches und geheimes war, konnte die Zahl der Advocaten nicht gross sein, es gab dort kaum Rechtsgelehrte, solange die Gesetzgebung ein Chaos und die Justiz ein Handelsgeschäft war. Russland hat jenen Adel des Richterstandes, der an Hang und Geist eine so hohe Stellung im alten Frankreich einnahm, nie gekannt; es kannte kaum eine .Magistratur; die Aemter jeder Art wurden von der gleichen ('lasse von Beamten oft von denselben Personen ohne spezielles Studium und ohne Berufsbildung versehen. In dieser Beziehung stand Russland noch in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hinter Frankreich im sechszehnten zurück. Die Reformen des Kaisers Alexander IL, namentlich die Gerichtsreform werden diesen leeren Raum füllen helfen; sie schallen Aemter und Berufsgattungen, welche eine ernste Geistesbildung verlangen und öffnen der geistigen Thätigkoit vielfache und ehrenvolle Wege. Die Universitäten und die Fortschritte im Unterrichtswesen, die Eisen- ') In dieser Hegel giebt es in der Literatur der ersten Hälfte des XIX. Jahrb. nur zwei Ausnahmen: zwei Hrovinzialjioeten, Zwillingsbrüder an Talent und Regoisterang, wie an Abstammung, Kolzow und Nikitin, Kleinhändler der eine, Kleinbürger der andre, und überdies bestätigen diese auffallenden Ausnahmen durch den naiven, nationalen und durchaus volkstluimlicben Charakter beider Dichter mittelbar jene Kegel. Heute liessen sich schon mehr Schriftsteller und Gelehrte, die aus jener Classe hervorgegangen sind, anfuhren. bahnen und die Vermehrung der Verkehrsmittel, die Erweiterung des Handels und der Gewerbe selbst wirken in gleicher Weise. Sie tragen dazu bei, dass neben dem alten, ausschliesslich kaufmännischen Bürgerthum ein liberales Bürgerthum mit strebsamem Geiste und mannigfachen Berufsbildungen erstehe; aber nur ausserhalb des ofliciellen Rahmens der russischen Bürgerschaft hat man dieses wirkliche Bürgerthum der Zukunft zu suchen. Dieses reerutirt sich aus allen Classen, aus den Reihen der Kaufmannssöhne, mehr noch aus dem Schoosse des Adels. Die Mittelclasse der Zukunft, die früh oder später die massgebende sein wird, entnimmt ihre Glieder allen socialen Kategorieen und Rubriken des Reiches, ohne von irgend einer derselben abhängig zu werden; sie wird über alle Kastenunterschiede hinauswachsen und um so leichter über die Vorurtheile der Geburt sich erheben, als solche Vorurtheile bei den Russen nie sehr mächtig gewesen sind. Ibis Hauptresultat des achtzehnten Jahrhunderts und der Beformen Beters I. und Katharinens IL war die Bildung einer cultivirten oberen Classe, eines hohen Adels in europäischem Sinne; eines der Hauptresultate des neunzehnten Jahrhunderts und der Reformen Alexanders.II. wird die Schöpfung einer Mittelclasse, eines wahrhaft europäischen und modernen Bürgerthums sein. Welche Fortschritte nach dieser Richtung hin seit fünfzig Jahren gemacht wurden, ist leicht zu erkennen, „Der dritte Stand," schrieb Frau von Stael unter der Regierung Alexanders I., „existirt in Russland nicht; das ist für den Fortschritt der Wissenschaften und Künste ein grosses Unglück, . . . aber dieses Fehlen eines Zwischengliedes zwistdien den Grossen und dem Volke macht, dass beide sich mehr lieben. Der Abstand zwischen den beiden Classen erscheint grösser, weil keine Stufe zwischen ihnen liegt, aber in Wirklichkeit berühren sie sich näher, weil kein Mittelstand sie trennt."1) Es Hesse sich manche Bemerkung an diese Worte der berühmten Schriftstellerin knüpfen. Wahr ist, dass die beiden äussorsten Classen. der Edelmann und der Mushik, der alte Grundherr und der alte Leibeigene, sich nahe berührten, da sie keinen Mittelstand zwischen sich hatten. Aber das war nur eine materielle Berührung. Zwischen beiden bestand keine gegenseitige Sympathie, keine wechselseitige Geistesverwandtschaft, kein moralisches Hand. Zwischen dem den alten moskowitischen Sitten tretigobliebenen Volke und dem halbfranzösischen Adel war der wirkliche Abstand um so grösser, da nichts da war, was die äussersten finden hätte einander ' i brau von Stael: Zehn Jahre des Exils, naher führen können. Den Zwischenraum verschwinden zu machen, den die alte officielle Bürgerclasse «ler Meschtschane und Kaufleute auszufüllen nicht im Stande war. das liegt einem neuen Bürgerthum ob, einem gebildete!] Bürgerthum. das ebenso in seinen Interessen und Sympalhieen zum Volke hält, wie durch seine Erziehung zur modernen (livilisation. „Gott verhüte die Erfüllung eines solchen Wunsches!" werden viele Bussen rufen. Aristokraten wie Demokraten sind häulig geneigt, das unschuldige Werl „burshoasia". das sie dem Französischen entnommen haben und oft in Beziehung auf den Westen in der sonderbarsten Weise missbraueheu. in schlimmem Sinne zu verstellen. Viele affectiren der Bourgeoisie gegenüber fast dieselben Gefühle, wie sie die Proletarier grosser Städte gegen sie hegen. Sie können nicht genug Verachtung gegen unsere Gesellschaft und Civilisation der ,Bourgeoisie", gegen unsere Freiheiten und unsern Staat von „bour-geois" an den Tag legen. Sie sind vielmehr stolz darauf, dem Aehn-liches nicht ZU besitzen, und streben ganz und gar nicht darnach, uns in diesem Punkte ähnlich ZU werden. ') In ihren Ansprüchen auf Einheit und sociale llomogoneität , in ihrer systematischen Antipathie gegen die ('lassenunterschiede betrachten sie das Bürgerthum als eine Art neuer Kaste und als eine dem Volke feindliche Oligarchie, ohne dessen eingedenk zu sein, dass die Verschmelzung der verschiedenen Classen, nach der sie seufzen, nothwendig zur Bildung' eines Bürgerthums führen muss, das aller Standesvorurtheile ledig und allein fällig ist, in dem Volke jene Einheit zur Wahrheit werden zu lassen, die ihm so sehr am Herzen liegt. Bis hierzu hat es in Bussland keine fortlaufende Kette gegeben, an der die Ideeen, Kenntnisse, Eindrücke unbemerkt vom Gipfel der Gesellschaft zum Eusse derselben niedersleigen konnten. Dies ist eines der grössten Hindernisse des ökonomischen und politischen Fortschreitens des Heiches. Die Masse der Nation war dazu verur-theilt, im Staube des alten Herkommens zu verharren, während eine dem Lande entfremdete Elite egoistisch ins Ausland flüchtete oder sich erfolglos in nebelhaften CTtopieen verlor. Das Heilmittel liegt in der Bildung eines .Mittelstandes, eines hohen und vielleicht mehr ') Dieser Widerwille gegen die Bourgeoisie findet sich ebenso und ans gleichen Gründen bei den kleinen slavischen Völkern. Hei mehreren von ihnen ist freilich dieses Vorurtbeil um so natürlicher, als das Bürgerthum der Städte bei ihnen grösstenteils deutsch oder jüdisch ist, was auch bisweilen in den reichsten russischen Städten vorkommt, nurli eines niedern Rürgorthums, das der Vermittlung /.wischen den Ideeen von oben und den Bedürfnissen von unten dient. Nur hierdurch kann der sociale Dualismus, das moralische Schisma ein Ende erreichen, das seit Peter dem Grossen eines der Grundübel Russlands ist und die Aufhebung der Privilegien wie die Fortschritte der Gleichheit überdauert hat. Dann erst wird diese in sich selbst ge-theilte und heute noch in zwei ohnmächtige Hälften geschnittene Nation den Massstab ihres Geistes Huropa zeigen können. Sechstes Buch. Der Adel und der Tschin. Erstes Kapitel Der Adel und die Bauern, als Repräsentanten eines doppelten Kusslands, erseheinen als zwei iihereinandergeschichtete Völker. Nach Crsprung wie nach Art ihrer Ergänzung unterscheidet sieh die russische Dworänstwo von allen ähnliehen Institutionen des Westens. Persönlicher Adel und Erbadel. Die grosse Zahl der Kdelleutc. lieber russische Titel. — Die Nachkommen Kuriks mal (iedimins. Warum bildet dieser hohe Adel keine Aristokratie? — Russisches Fainilicnrecht. ( deiche ( d'itert heilung unter allen männlichen Eainilien-gliedern. — Politische Folgen dieses Systems. — Versuche zur Einführung eines Erstgeburlsrechtes und der Majorate. Die Seltenheit der Städte, der Mangel an Industrio und Grosshandel, das Fehlen der liberalen Professionen haben die Bildung eines Mittelstandes in Russland bis jetzt zurückgehalten. Weder an Zahl, noch an Bildung besitzt das Bürgerthum dort die gleiche Bedeutung, wie in Westeuropa. Wie zur Zeit Peters des Grossen stehen sich gleichsam Stirn gegen Stirn, ohne Mittelglied, das sie vereinen oder trennen könnte, noch zwei ('lassen gegenüber, die selbst in ihrer Gegensätzlichkeit von einander zu scheiden schwer ist: der Adel und die Bauern, der frühere Herr und der frühere Leibeigene. In diesen beiden Menschen, in diesen beiden Ständen ist noch heute ein doppeltes, sind gleichsam zwei Bussland per-sonificirt, in dem einen das moderne, europäische Russland Peters und der reformatorisohen Kaiser, in dem andern das moskowitische, halbasiatische oder halborientalische der alten Zaren. Bis zur Regierung Alexanders II. bildete die Leibeigenschaft eine materielle Kette zwischen dem Edelmann und dem Bauer, ein geistiges Band war sie nie. Als diese Kette endlich gehrochen wurde, blieben doch der frühere Herr und der frühere Leibeigene durch die Scholle und das Landleben ebenso einander verbunden, wie sie an Wesen, Bestrebungen und Sitten einander fremd blieben. Ks war (dum nicht allein der Grad der Bildung, was den Unterschied zwischen Herren und Leibeigenen bildete, sondern das Grundwesen, die Natur der Civilisation selbst. Vor wie nach der Freigebung bleibt die Kluft zwischen ihnen in den Augen des Beobachters so gross, dass sie weniger zwei gesellschaftliche ('lassen, als zwei über einander geschichtete Völker zu bilden scheinen. Von diesen beiden Mcnschcnga Hungen ist der Mushik Europa vollständig fremd, sein früherer Herr aber fast Familienglied desselben. Frankreich, Deutschland, Italien haben ihn oft beherbergt, er verkehrt in diesen Ländern als Heisender, als Mann der vornehmen Welt, oder zu seinem eigenen Vergnügen. Westeuropa kennt den russischen Edelmann, weiss aber vom russischen Adel fast nichts. Der höi liste Stand der russischen Gesellschaft ist als solcher ebensowenig gekannt und verstanden, als der russische Hauer; wir wissen von seiner Stellung in der Vergangenheit so wenig, wie von seiner Rolle in der Gegenwart und vermögen dalier seine Zukunft nieht zu errat heu. Wir wissen nicht, welchen Platz der Adel in der Kation und im Staate einnimmt, welche Vorrechte ihm die Gewohnheit und das Gesetz einräumen, welche Aussichten ihm die Entwicklung Busslands eröffnet. Man spricht in Europa viel von Demokratie und Aristokratie; selbst in dem heutigen Frankreich, das dem Auslande ein grösseres Interesse zuwendet, sehen sich die Parteien und Schulen häufig in Betreff dieser Frage nach dem Urtheil der andern Völker um. Man sucht in diesen mehr oder minder richtig aufgefassten Beobachtungen mit Vorliebe Gründe für Behauptungen, die meist schon von vornherein als feststehend angenommen werden. Welche Belehrung kann Bussland hierüber Europa bieten? Nach welcher Seite neigt sich diese der unsern in so vielen Stücken unähnliche Gesellschaft? Kann sie sich lange auf der geneigten Ebene erhalten oder gleitet sie allmälich in die Geleiso Westeuropas? Giebt es in Eussland ein aristokratisches Element, das fähig wäre, einst eine politische Triebkraft, ein Schutz für den Thron und ein Zügelfür das Volk zu werden? Solche Fragen mögen wohl verfrüht erscheinen, aber sie drängen sich dem Sinne auf, der sich ernstlich mit den Geschicken Europas und der Civilisation beschäftigt. Der russische Adel, die Dworänstwo, hat weder den gleichen Ursprung, noch die gleichen Traditionen mit dem Institut, das wir im Westen mit diesem Namen bezeichnen. Die Dworänstwo, „die erbliche Classe der Cultur", sagt ein russischer, aristokratisch angehauchter Schriftsteller1), ..ist eine speciell russische, in Buropa unbekannte, in ihrer Art einzige Institution. Zwei Eigenschaften kennzeichnen sie ganz besonders; zuerst ist sie nie etwas Anderes gewesen, als ein Werkzeug der Staatsgewalt, da sie buchstäblich nur die Summe der Männer im Staatsdienst war: zweitens hat der Zutritt zu ihr jederzeit offen gestanden, und bei ununterbrochenem Zufluss von unten hat sie sich frei von jeder Ausschliesslichkeit und jedem Kastengeist erhalten." So findet nach dem Zeugniss seiner eifrigsten Lobredner der russische Adel kein Analogon in Westeuropa, wie Einigt! sogar behaupten kein Vorbild in der (Ieschichte. Nur durch das Medium ausländischer Anschauungen oder von oberflächlichen Aehnlichkeiten getäuscht können gewisse, europäisch erzogene und der nationalen Traditionen vergessene Russen es versuchen, sich als englische Lords oder deutsche Herren aufzuspielen. Wenn wir das Wort Dworänstwo mit den Ausdrücken Adel, nobility, noblesse übersetzen, so geschieht das nur aus Mangel eines gleichen Begriffs in den Sprachen, wie in den Institutionen des Westens. Der Name, der ofliciell die erste Classe im Staate bezeichnet, deutet schon deren Ursprung an. Das russische Wort Dworänin bedeutet Mann vom Hofe, man könnte Hofmann übersetzen, hätte dieser Ausdruck nicht einen anderen Sinn erhalten2). Wahrscheinlich war der Dworänin ursprünglich ein Haus-beumter oder Würdenträger am moskowitischen Hofe, etwa dem Kammerherrn im Westen vergleichbar. Später wurde dieser Titel auf alle Leute im persönlichen Dienst des Zaren, oder wras auf dasselbe herauskam, im Staatsdienst ausgedehnt. Die russische Dworänstwo hat durch alle Zeit die Spur ihres Ursprungs bewahrt: sie ist ein Hofadel, ein Dienstadel, der heute noch wie früher, rechtlich durch den Tschin, durch einen gewissen Hang in der Armee oder Verwaltung erworben wird. Das russische tiesetz unterscheidet zwei Arten von Adel, den M General Fadejew: „Was sollen wir sein?" »st. Peterah. 1875. 2) Dworänin, Dlur. Dworäne, von Dwor, Hof, einem russischen Wort, das fast alle Bedeutungen des französischen COUI und noch einige mehr hat. So erklärt sichs, dass dasselbe Wort, das den Adel bezeichnet, aus der gleichen Wurzel stammt, wie dwornik, Hausknecht, und dworowüi, der zum Hofgesinde gehörige Leibeigene. Ks liesse sich vielleicht eine Aohnlichkoit der Stellung der Dworfine oder Kdelleute gegenüber dem'Zaren und derjenigen der dworowi'ije und 1 lausleihcigcuen gegenüher ihrem Herrn finden. erblichen (postomstwennüi) und den persönlichen (litsehnüi) Adel, der nicht vom VateT auf den Sohn übergeht. Uns erschein! der Ausdruck „persönlicher Edelmann" wie eine Antithese und eine Adelung auf Lebenszeit wie ein Widerspruch. Von der Vererbung gelöst, ist der Adel in unsern Augen ein Unsinn. Eine solche Institution stellt von vornherein den besondern Charakter der russistdien Rangordnung klar. Da die Dworänstwo nur die Classe der Staatsdiener ist, bat man seit der Einführung der comphcirten, westeuropäischen Bureau-kratie in Russland zwischen den hohen und den niedorn Aemtern Unterschiede machen müssen. Daher die Einführung zweier Adels-classen unter den Staatsdienern. Dem niedern Beamten sicherte der Titel des „persönlichen Edelmanns" die Privilegien oder vielmehr die Rechte des freien Menschen in einem Lande, wo der Edelmann und der Beamte allein einige anerkannte Rechte besassen. Heute und bereits seit langer Zeil hat der persönliche Edelmann kein Privileg mehr vor den Kaulleuton und den privilegirten Stadtbewohnern. Seine Kinder treten in die Kategorie der Ehrenbürger oder erbliehen Ehrenbürger und gemessen unter diesem Titel thafsächlioh dieselben Rechte, wie ihr Vater, ohne seinen Allel geerbt zu haben. So ist der „persönliche Adel" nur ein blosser Titel geworden; er ist übrigens nie von Wichtigkeit gewesen und seine Abschaffung würde in der socialen Hierarchie nichts verändern. Der orbliche Adel allein verdient Beachtung und hat allein einen wirklichen Werth. Mehr als hundert Jahre lang, das achtzehnte Jahrhundert hindurch und bis in das neunzehnte hinein, von Peter dem Grossen bis zum Regierungsende Alexanders I. kam der Erbadel jedem Oflicier der Armee und jedem Civilbeamten gleichen Grades zu. Er wurde mit den Epauletten, mit dem Grade des Fähnrichs, der unter dem des Secondelieutenants steht, erworben. Es ist klar, welcher Art ein Adel sein musste, dessen Thor so weit geöffnet und dessen Schwelle so niedrig war. Eine so verschwenderisch ausge-1 heilte Auszeichnung musste der Entwerthung und Herabsetzung unterliegen. Um ihrer Entwerthung zu steuern, haben Alexander I. 1822, Nikolai 1845, Alexander II. 1854 die Schwelle zum Erbadel um mehrere Stufen erhöht. Heute ist derselbe nur den Obristen und im Civil den Beamten im Range des wirklichen Staatsraths (4. Classe) zugänglich. Die niederen Grade oder Tschins, die lange das Anrocht auf den Erbadel hatten, sind jetzt auf den persönlichen Adel beschränkt. Ausser dem grossen Thor des Tschins, hat der Erbadel noch Seitenthüren, nämlich Decorationen und kaiserliche Orden, die den Adel mit sich bringen. Endlich hat der Herrscher das — allerdings selten von ihm benutzte — Recht, den Adel als besondere Belohnung (shalowanije) zu verleihen. Die erste Wirkung eines solchen Systems ist natürlich die grosse Zahl von Edelleuteu und in Folge dessen das niedrige Mass von Wohlstand, Bildung und Ansehn vieler unter denselben. In dem europäischen Russland allein werden nach dem statistischen Jahrbuch (1871, 1873, 1879) etwa 600,000 erbliche und wenigstens 850,000 persönliche Edelleute und kleine Beamte gezählt. Man könnte hieraus eine ganze Armee von Edelleuteu formiren. In England und selbst in Deutschland, in allen Ländern, wo der Adel ein pi»Iiiisches Prestige oder auch nur einen Glanz der Eitelkeit bewahrt hat, ist die Zahl der mit ihm bekleideten Personen viel geringer. Die Massenhuftig-keit der Adligen in Russland macht, dass man sie überall antrifft, auf allen Stufen der socialen Leiter, deren höchste Sprosse sie dem Anschein nach einnehmen sollten. Mehr als in der ofliciellen Classe der Bürger ist im Schoosse der Dworänstwo heutzutage der Ersatz für unser Bürgerthum zu suchen. „Was ist Ihr Adel?" fragte einer meiner Reisegefährten an der Tafel eines Friedensrichters an der Wolga. „Der Adel", antwortete ihm der Herr des Hauses, „das sind unsre Tischgenossen, das sind wir alle hier." Eine Antwort, die man in Russland oft und überall dort geben könnte, wo Bussen sich im Auslande zeigen. Adlig ist alle Welt, die Einem begegnet und nicht gerade Bauer, Kaufmann oder Geistlicher ist, adlig sind alle Menschen von einiger Erziehung in Stadt und Land. Man könnte drum fast sagen: in Bussland ist alle Welt von Adel. Von dem obscuren Hintergrund dieser adligen Plebs hebt sich natürlich eine Anzahl von Familien ab. von denen ein Theil mit einem in das Dunkel des alten Moskowiens zurückgreifenden Glanzumgeben, der andre aber von mehr oder minder kurzer Zeit durch glanzvolle Dienste ans Licht getreten ist. Solche Familien, solche Häuser existiren in Russland, wie in den meisten Ländern, die eine lange Geschichte hinter sich haben. Die russische Sprache hat selbst dafür ein besonderes, ihr eigentümliches Wort : snat. Die Snat (vom Zeitwort snat, wissen, kennen) ist ohne Unterschied des Titels und des Alters des Geschlechts der Sammelname für die bekannten oder berühmten Familien, die in dem Staat oder in der Gesellschaft eine hohe Stellung bis auf die Gegenwart sich erhalten haben. In diesem hohen Adel oder vielmehr in dieser höhern gesellschaftlichen Schicht giebt es ebensowohl Familien mit alten und neuen Titeln, als solche ohne Titel, deren Adel und Glanz bis zu den Zeiten der alten Zaren zurückreicht. Dieser Adel mit oder ohne Titel wird vermuthlich allein das allmäliche Erlöschen der Dworänstwo überleben; der übrige hat weder in der Form seines Namens, noch in den Erinnerungen des Landes etwas, was ihn längere Zeit von der Masse der Nation unterscheiden könnte1). Der gewöhnliche Schlag der Adligen besitzt kein äusseres Abzeichen noch ein Merkmal, das seinen Stand bezeichnet, als die Einschreibung in die Adelsregister seines Gouvernements. Es giebt jetzt in Russland Titel verschiedener Art und gleichsam eine Rangordnung des Adels; das ist aber nur eine dem Westen nachgeahmte Form, eine neue Anleihe bei dem Ausland. Den Moskowitern wie den andern Slaven waren alle diese Bezeichnungen: Fürst, Graf, Baron unbekannt, weil sie nie ein Lehnssystem, niemals Fürsten oder Grafen, Lehnsmänner von Lehnsherren oder von der Centraigewalt gehabt hatten. Das alte Russland kannte all dies»! Titelgrade nicht, ('s wusste nichts von den erblichen Titulaturen; darin unterschied sich abermals die russische Dworänstwo durchaus von den Adelscorporationen des Westens. Es gab nur eine Ausnahme, und diese Ausnahme bestätigte die Regel: sie bestand zu Gunsten der Glieder der Herrscherfamilie, zu Gunsten der Seitenlinien der regierenden Dynastie. Die Nachkommen der Knäsen, der Theilfürsten, haben den Titel Fürst auch nach der Vereinigung ihrer Fürsten 11 u'inier mit Moskau beibehalten. Alle andern Würden und Auszeichnungen, namentlich der Bojarenrang waren nur lebenslänglich und wurden direot vom Souverän verliehen. Erst als Russland zu Europa in nähere Beziehung trat und Provinzen sich aneignete, die lange germanischem Einfluss ') Viele Russen setzen im Auslände ihrem Namen ein französisches „de" oder ein deutsches „von" voraus; in ihrer heimathlichen Sprache giebt es dergleichen nicht. J He russischen Namen scheinen frei lieh oft auf einen (Jenitiv l'lnral oder vielmehr auf ein Nominaladjectiv hinzuweisen | Dawydow von David, Semeitow von Semen , Simon); aber solche Namen sind durchaus nicht dem Adel besonders eigen, sondern ebenso bäldig bei (leistlichen, Kaulleuten und früheren Leibeigenen. Wenn es eine Art adliger Unterscheidungszeichen giebt, so liegt dasselbe nicht im Familiennamen, sondern in der Endung owitsch, die die Russen dem Vornamen des Vaters anzufügen pflegen, wenn der Vorname des Sohnes vorangeht, z. ß. Alexander Petrowitsch. Im alten Moskowien stand diese jetzt allgemein verbreitete Lndung nur Personen von einem gewissen Ratige zu. Eine einzige Kaulhiaunstäniilie, die für sich eine besondere privilegirte (lasse bildete, die Familie BtrogonOW hatte auf sie ein Recht. Auch heute noch braucht man bei Leuten niederen Standes statt der Endung owitsch nur die ow, so: Iwan IVtrow, Alexei Iwanow. Dies offenbar der Ersprung der vielen Namen auf ow, J. u r o y -13 o a u 1 i u ii, Uoidi d. Zitron u, d. Kusboll, 18 unterlegen waren, nahm es einige dem Lehnswesen entsprungene Adelsbezeichnungon an. So erhielt es Grafen und später Ilarone, aber für diese Rangstufe musste es dem Auslande die Titel entlehnen >). In Nachahmung der westliehen Monarchen begannen Peter der Grosse und seine Nachfolger erbliche Titel zu ertheilon. Doch waren diese Auszeichnungen nicht so überaus häufig, wie anderwärts. Sie sind sogar, wenn man von den Familien absieht, die einen Titel ausländischen Ursprungs führen, verhältnissmässig selten geblieben. Elwn hundert Grafen*), fünfzehn Fürsten und ein wenig mehr Barone, die letzten meist Finanzmänner, das ist ungefähr die Ziffer der durch kaiserliches Diplom geschaffenen Titel. Alle sind natürlich von mehr oder minder neuem Datum, wenige reichen ein Jahrhundert zurück. Wie allzuneue Vergoldung trägt die Mehrzahl derselben den glänzenden Schliff der Neuheit an sich; da ihnen der dunkle und malte Glanz des Altcrthums fehlt, können die mit ihnen geschmückten Familien nicht immer grossen Staat damit machen. Der Ursprung ihrer Vornehmheit ist allzu bekannt, und wie an den andern europäischen Höfen halten auch in Bussland nur zu oft Gunst und Intrigue willkürlieh über diese Belohnungen mit Ehrentiteln verfügt. Es giebt ferner neben den betitelten Familien ältere, deren Name zu berühmt ist, um noch einer Auszeichnung zu bedürfen. Die Naryschkin zum Beispiel sind ohne Titel geblieben und scheinen sichs zu Ehre zu machen, keinen zu tragen. Ein Umstand fällt in dem hohen russischen Adel, namentlich in der Petersburger „Snat" auf: die grosse Zahl von Familien ausländischen Ursprungs. Etwa die Hälfte dieser Hofaristokratie kommt von draussen; sie ist, tatarischen, georgischen, griechischen, walachischen, litthauischen, polnischen, schwedischen, deutschen, bisweilen selbst englischen oder französischen Hintes. Alle dem Scepter des Zaren unterworfenen Stämme, alle dem Deiche benachbarten Völker haben ihr Contingent zur Dworänstwo gestellt. An Abstammung wie an Sitten, an Zusammensetzung wie an Bildung ist die höchste Classe so die mindest nationale; darin liegt ein weiterer Grund ihrer Schwäche und ihres geringen Einflusses. ') So „Graf". Der alte Titel Knäs, Fürst, ist der einzige slavische und nationale. a) Nach dem russischen Blatte Otgoloski (Echo) Oct. 1H7!) haben von Boris Schcremctjew (1706) bis General Todleben (187!)) 157 Ernennungen zu Grafen stattgefunden, von den Ernannten haben jedoch viele keine Nachkommenschaft hinterlassen. Kaiser Alexander II. allein hat mehr als 20 Ernennungen zu Grafen vollzogen. Unter allen diesen Familien von fremdländischer Herkunft edel von Titulaturen, deren Glanz noch kein Alterthum erhöht, scheinen die alten Knäsen, die direct von russischen Herrschern abstammenden Pürsten eine besondere Stelle einnehmen 7.11 müssen. In dem Staate, der von ihren Vorfahren gegründet und lange Zeit regiert worden, müssen, so scheint es, diese Nachkommen der Dynastie Ruriks ein eingeborenes aristokratisches Element bilden, dem ein Jahrhunderte alter Glanz eine bedeutende Rolle sichert. Keine Aristokratie in Europa hat einen höheren und älteren Adel. „In Russland", sagte einmal Taillerand , „ist Jedermann Fürst". Diese Meinung des Ministers Napoleons I. ist im Westen noch allzu verbreitet. Nichts ist falscher. Nach dem Zustrom so vieler Ausländer, nach so viel Adelsverleihungen aller Art übersteigt in dem Ungeheuern Reiche die Zahl der russischen Fürstenfamilen kaum sechszig, und mehr als die Hälfte stammt aus einer einzigen Wurzel, von Rurik1). Der kleine Kirchenstaat war vielleicht ebenso reich an fürstlichen Familien. Unter dem Adel der Knäsen bilden die Nachkommen der alten Souveräne und Loealherrseher Husslands noch heute ungefähr zWei Drittel. Gegen vierzig dieser Familien gehen auf Rurik, den Gründer des russischen Reiches, und auf Wladimir, den Apostel Russlands, zurück; es sind die Agnaten der alten moskowitischen Zaren und so die Repräsentanten der Dynastie, die vom neunten bis zum Ende des sechzehnten Jahrhunderts herrschte. Dieses fruchtbare Haus des Rurik, wohl das zahlreichste Eürstengeschlecht. dessen die Geschichte erwähnt, zählte noch vor einem oder zwei .Jahrhunderten fast zweihundert verschiedene Zweige-j. Viele von ihnen haben keine lebenden Sprösslinge mehr, einige, wie die Tatischtschew, haben den Titel Knäs niedergelegt »Mlei1 verloren. Eine andre Gruppe, die aus vier russischen und vier polnischen Familien besteht, stammt aus nicht weniger erlauchtem und in den Augen der Hussen ebenso nationalem Stamme: es sind die Nach- ') Es ist hier nur von den wirklich russischen Familien die Rede, nicht von denen, die aus den Neheiigebiefen des Reiches stammen, namentlich nicht vom Kaukasus, wo Georgien ein zahlreiches Contingenl von Fürsten dem Adel zugeführt hat. -) Im Westen scheint die Ahnahme und das rasche Verschwinden der alten Familien eine Art Gesetz, das Geschichtsforschung und Statistik festgestellt haben. In England z. 15. hat die .Mehrzahl der Lordstitel mehrmals erneuert werden müssen; sehr wenige sind seit mehr als einem oder zwei Jahrhunderten demselben Hause zu eigen gehlieben. Die Vermehrung des Geschlechts Ruriks und Gedimins verdient umsomehr Beachtung, als sie sich unter dem System der Gütertheilung vollzog, das im Allgemeinen für die Fortpflanzung der Familien eines gewissen Ranges nicht günstig ist, kommen Gedimins und des alten litthauischen Fürstenhauses, das in Europa unter dem Namen der Jagelionen bekannt ist und vor der Besteigung des polnischen Thrones über das ganze westliche Russland herrschte. Von Rurik und der ersten russischen Dynastie stammen die Dolgoruki, Barätinski, Obolenski, Gortschakow; von Gedimin und der litthauischen Dynastie die Chowanski, Galizin, Kurakin, Trubezkoi in Russland, die Czartoryski und Sanguszko in Polen. An diese zwiefache Nachkommenschaft der alten Nationalherrscher schliessen sich sieben oder acht Familien, die von alten tatarischen, tscherkessischen und georgischen Häuptlingen stammen, welche einst zu russischen Fürsten gemacht worden sind; die Mehrzahl von ihnen trägt, wie die Meschtscherski und Bagration auch einen historischen Namenl). Eine einfache Aufzählung zeigt, dass die russischen Knäsen keinem Adel Westeuropas an Alterthum noch an Glanz nachstehn; auch heute noch würden sie keinem an ausgezeichneten Männern weichen. Nichtsdestoweniger liegen in allen Häusern von fast königlichem Blute, denen sich noch die alten Bojarenfamilien zur Seite stellen, in diesem ganzen hohen Nationaladel die Elemente einer politischen Aristokratie nicht; es liegt in ihr das Material nicht, ein Haus der Pairs, eine erbliche Bojarenkanimer zu bilden. Der Grund lüefür ist ein doppelter: er liegt in der historischen Verfassung der russischen Gesellschaft, und er liegt zugleich und vor Allem in der Verfassung der russischen Familie selbst. In der Familie des Dworänin und des Fürsten, wie in der des Kaufmanns und Bauers herrschten Gleichheit der Kinder, Gleichheit der Rechte, Gleichheit der Titel. Bei diesem demokratischen Princip, dem der russische Adel immer treu geblieben ist, konnten die hie und da auf den Boden gefallenen Samenkörner der Aristokratie nieht aufgehn. In den fürstlichen Häusern vom Blute Ruriks und Gedimins wie in dem gemeinen Adel giebt es keinen Aeltesten, kein mit besondern Rechten ausgestattetes Familienhaupt. Das Vermögen des Vaters wird gleichmässig auf die Kinder vertheilt, und der väterliche Titel geht unterschiedlos auf alle über; und da er der einzige Besitz ist, der nicht durch fortgesetzte Theilungen geschmälert wird, so ist er oft die einzige Erbschaft, die ihnen von ihren Vorfahren zu Theil wird. Daher oft die Entwerthung eines Titels, der zwar nur wenigen Familien zukommt, zugleich aber vielen Individuen zustehen kann. :|) Siebe Fürst Peter Dolgorukow: Notice sur les principales farailles de ta Ünssie (1858) und A. Kleinschiuidt: Russlands Geschichte und Politik, dargestellt in der Geschichte des russischen hohen Adels. Cassel 1H77. Durch Verzweigung hüben mehrere von diesen fürstlichen Familien und zum Theil die vornehmsten gleichsam ein dichtes Gebüsch gebildet, dessen verworrene Zweige sich gegenseitig ersticken und verdecken. Einige von diesen Knäsengeschlechtern, deren Einheit und Vermögen weder durch ein Erstgeburtsrecht noch durch den Eintritt der jüngeren Söhne in die Kirche- zusammengehalten worden ist, sind heute wahre Stämme und Clane ohne anderes Hand als den gemeinsamen Namen. Man zählt beispielsweise drei- bis vierhundert Galizin beiderlei Geschlechts und somit mehr als hundert Fürsten dieses Namens, d. h. soviel als Männer in der Familie vorhanden sind. In diesen zahlreichen, einem einzigen Stamme entsprungenen Geschlechtern giebt es natürlich neben den Zweigen, die sich im Sonnenschein blühend und kraftvoll entwickeln, auch Aeste, denen die Luft be: nominen, das Laub geraubt ist. Schon im sechzehnten Jahrhundert, als noch die Dynastie der Kuriks herrschte, bemerkte Fletcher, dass viele Knäsen nichts besassen, als ihren Titel, nichts, um ihn in Ehren halten zu können. ,,Es befinden sich ihrer so viele in dieser Lage", schrieb der Gesandte des aristokratischen Englands, „dass diese Titel wenig gelten. Auch trifft man Fürsten, die überglücklich sind, einem Menschen ohne Titel für einen Lohn von 5 oder () Hubein jährlich zu dienen."1) Die Jahrhunderte und das Wachsthum mancher Familien haben dieses Verhältniss nicht gerade zum Bessern gekehrt, Heute noch findet man Nachkommen Kuriks und Gedimins in den bescheidensten Stellungen. Ich habe in Petersburg einen solchen das Orchester eines Cafe-Concerts dirigiren sehen: in Italien bin ich russischen Fürstinnen begegnet, die unter angenommenen Namen in Theatern zweiten und dritten Ranges Sängerinnen waren, und ich habe mir sagen lassen, dass es Fürsten unter den Droschkenkutschern und Fürstinnen unter den Zofen gegeben hat. Haxthausen erzählt, dass in einem bestimmten Dorfe die Bauern, die von fürstlicher Abkunft zu sein prätendiren, sich das Recht vorbehalten haben, als Abzeichen eine rothe Mütze zu tragen. Solche Vorkommnisse erklären, warum mehrere von Rurik abstammende Familien ihren Fürstentitel abgelegt haben. Bei derartiger Theilung und Zcrbröckelung der Familien und der Güter kann in dem hohen Adel weder Familiensinn noch Corpsgeist bestehen. Um zu erkennen,.ob ein Land zur Aristokratie hinneigt, muss zuerst die Gesetzgebung und das Herkommen untersucht werden, das ]) Fletcher, Kusse Commonwealth. IX. die Theilung des Besitzes regelt. Wie Tocquerville bemerkt, erbebt sich die Aristokratie immer dort, wo das Erbrecht den Besitz und bald auch die Macht auf wenige Häupter concentrirt oder gruppirt; es ist auch das Erbrecht. das durch Theilung und Zerstreuung der Gräter und der Macht die Demokratie vorbereitet. Nun, im russischen Adel hat immer das Herkommen der gleichen Gütartheilung unter die Söhne geherrscht, jenes nivellirende tiesetz, das immer von Neuem über das Land hinziehend, auf seiner Bahn die Mauern der Menschenwohnungen und die Grenzsteine der Felder niederwirft. Wenn das Gesetz der gleichen Theilung in Russland noch nicht alle grossen Latifundien zerstückelt und vernichtet, wenn es noch nicht alle grossen Existenzen reducirt und zerstört hat, so ist es, weil Russland bis auf den heutigen Tag unter ausnahmsweisen wirtschaftlichen Bedingungen steht. Es war zuerst die unermessliche Ausdehnung des Landes, dann das rasche Steigen des Bodenwerl Iis. das der Eröffnung neuer Absatzwege folgte: es war ferner die Leibeigenschaft und das ausschliessliche Recht des Adels auf das von den Bauern bewohnte Land. In manchen Gebieten des Meiches ist die Bodenrente lange Zeit im Zusammenhange mit der Bevölkerung und den Verkehrsmitteln in so festem Steigen gewesen, dass die Güter oft in zwanzig oder dreissig Jahren ihren Werth verdoppelten, verdreifachten, bisweilen sogar verzehnfachten. So war es durchaus nicht unmöglich, dass nach Theilung der väterlichen Erbschaft zwei oder drei Söhne sich in demselben Reichthum befanden, wie ihr Vater in ihrem Alter. Die grossen Vermögen haben — wenigstens dem Anschein nach — noch einen andern Grund: die Theilung findet nur auf die männlichen Erben Anwendung. Die zur Erhaltung der Familie vorpflichteten Söhne, thoilon deren Güter. Den Töchtern, die Brüder am Ltdjen haben, gesteht das Gesetz nur einen Mindertheil zu, das Vierzehntel der väterlichen Hinterlassen-schaft, wenigstens an Immobilien. Oft erhalten sie nichts, als ihre Mitgift. Im Sinne der alten Culturländer ist eine verheirathete Tochter, die ihre Mitgift empfangen, gleichsam von der Familie abgefunden. Abgeschnitten Brod, sagt ein Volkssprichwort, gehört nicht mehr zum Laib. Freilich übersteigt die Mitgift der Töchter bisweilen das ihnen gesetzlich zustehende Theil; ich habe selbst Familien gekannt, in denen die Schwestern ein gleiches oder grösseres Theil erhalten halten, als ihre Brüder. Dieses Gesetz hat übrigens keineswegs Missachtung des weiblichen (loschleohts zum Ausgangspunkt: das russische < leset/., dass gegen die Mädchen so karg ist, ist in gewissen Beziehungen gegen die Frauen liberaler, als das französische, das im Erbrecht Frauen und Mäunei gleichstellt.1) Wenn das Gesetzbuch der Tochter nur einen kleinen Theil des väterlichen Eigenthums zuspricht, so gewährt es doch der Frau selbst.bei Lebzeiten ihres Mannes den freien Genuas und die eigene Verwaltung ihres eigenen Besitzes. Die verheirathete Frau ist nicht, wie bei uns, als unmündig unter die Vormundschaft ihres Gatten gestellt, und im Allgemeinen kann man sagen, dass in Bezug auf Emancipation und Unabhängigkeit der Krauen keine Gesellst halt in Europa so vorgeschritten und liberal ist, als die obern (Massen desselben Busslands, dessen Gesetze für jene so wenig günstig sind. Die Erbordnung, die zwischen Mann und Weib die Rechtsungleichheit aufrecht erhält, zählt noch beule in denjenigen Ländern Anhänger, wo der Code Napoleon in Geltung steht. Selbst, in Frankreich besitzt, dieses System die Sympathien Derjenigen, welche die Fortschritte der Demokratie in Besorgniss setzen; es findet in einer ganzen Schule zeitgenössischer Eublicisten offene Zustimmung. Heim Mangel eines Erstgoburtsreehtcs scheint ihnen das Privileg eines tieschlechtes gegenüber dem andern eine sociale Garantie, eine Schutz-massregel für die Vererbung der Güter und für die Fortdauer der Familien; diese Anschauung wird durch das Beispiel des russischen Adels offenbar nicht ganz bestätigt. Die meisten Mängel, die der gleichen Theilung unter alle Kinder vorgeworfen werden, bestehen auch bei der auf die männlichen Erben beschränkten Theilung. Wenn man nur die (Massen und nicht die Individuen in Betracht zieht, hat jedes der beiden Systeme wirthschaftlieh wie politisch analoge, fast ganz gleiche Wirkungen; nur auf moralischem Gebiete giebt es einen tiefen Unterschied, in Bezug auf die Ehe und die Stellung tles Weibes. Wo das Gesetz allen Kindern gleiches Recht auf die väterliche Hinterlassenschaft zuertheilt, wird das gekürzte Theil der Söhne durch die Herrath wieder ergänzt; im Durchschnitt ersetzt die Gattin dem Manne, was die Schwester dem Bruder genommen. Von den beiden Theilungsweisen ist diejenige, welche die Güter am wenigsten zersplittert, nicht immer die günstigste für die Aristokratie oder für die Erhaltung grosser Vermögen und traditionellen Einllusses. Verkleinert die Theilung unter die männlichen Erben allein die Ländereien und Vermögen weniger, so bietet die Theilung unter alle Kinder mehr Leichtigkeit, dieses durch Ehebündnisse wieder herzustellen oder *) Professor E. Lehr zu Lausanne hat 1877 eine interessante Studie über das russische Civilrecht veröffentlicht. Es muss hier erwähnt werden, dass Kaiser Alexander III. in den Jahren eine Commission mit dem Entwurf zur Redigirnng eines neuen ('ivi Igcsetzbuohes beauftragt hat, das den Bedingungen des heutigen Lebens mehr angepasst werden soll, zu arrondiren, Schoo vor der Revolution nahm der französische Adel trotz des Schutzes des Erst gehurt sreeht es oft dieses Mittel ..seine Felder zu düngen" in Anspruch. Heute bedürfen die Aristokratieen des Namens und der Tradition solchen Mittels noch viel mehr, da die Industrie, die Bank, der Handel fast die einzigen Träger des Reichthums geworden sind, und zwischen dem Ueberfluss in den jungen Familien und den Bedürfnissen in den alten es keinen andern Durchgang, keine andere Brücke gieht. als das Erbrecht der Töchter; Bei dem entgegengesetzten System könnten Reichthum und Einfluss leicht an eine Bourgeoisie von Emporkömmlingen Übergehn. Die ausschliessliche Theilung unter den männlichen Erben hat übrigens vom conservativon Standpunkt betrachtet, einen besondern Fehler, der sieh in Hussland ausserordentlich fühlbar macht; er biiugt das Gleichgewicht der Güter und die relative Stellung der Familien rascher, unvermutheter in Unordnung, als die Theilung unter alle Kinder. Zwei Väter, die dasselbe Vermögen und dieselbe Zahl von Kindern besitzen, hinterlassen ihre Erben in sehr verschiedenen Lagen, je nachdem unter denselben das privilegirte oder das von der Erbschaft ausgeschlossene Geschlecht vorherrscht Aus alledem folgt, dass das russische Herkommen für die Erhaltung des aristokratischen Einflusses nicht günstiger sich zeigt, als der scheinbar mehr demokratische, französische Brauch. Bei der Gunst, welcher die Frage der Unabhängigkeit der Frauen in Hussland begegnet, können übrigens Gesetzgebung und Gepflogenheit in kürzerer oder längerer Zeit darauf verzichten, gerade die1 Kinder der väterlichen Erbschaft zu berauben, die naturgemäss weniger im Stande sind, ein Vermögen zu erwerben, und die Gleichheit der Geschlechter könnte so im Norden wie in Prankreich triumphiren. Seitdem sich die russische Dworänstwo dem westeuropäischen Adel genähert hat, hat sie eingesehen, dass' es bei dem nationalen Hecht und der gleichen Gütertheilung keine wirkliche Aristokratie geben kann. Schon haben mehrere Erben von Knäsen und Bojaren versucht, das fremdartige Institut der Majorate in ihr Vaterland zu verpflanzen. Seltsam genug, dass es einer der am wenigsten aristokratischen Neigungen zugänglichen Fürsten, dass es Peter der Grosse war, der zuerst Majorate in das russische Hecht einführte. Geschah das einfach, um dem Westen nachzuahmen und Moskowien Europa näher zu bringen? Geschah das wirklich, um zwischen Volk und Thron einen hohen und einflussroichen Adel zu stellen? Das würde sich schwer mit dem Wesen eines Herrschers in Einklang bringen lassen, der jede Stellung im Staate allein von dem Hang im Dienste abhängig machte. Wahrscheinlicher ist, dass der Reformator mit dieser europäischen Anleihe Russland, das damals kaum der Civilisation erschlossen war, eine reiche und wohlunterrichtete, also europäische und civilisirte Gesellschaftsciasse sichern wollte. Solche Majorate, wie Peter Alexejewitsch sie schuf, gingen übrigens gerade so weit über das rechte Mass hinaus, als sie den nationalen Sitten widersprachen. Um nur einige Wahrscheinlichkeit des Bestehens zu haben, musste die neue Institution gleich Anfangs von Grund aus umgeformt werden. Nach dem Ukas von 1714 wurden alle liegenden Güter des Adels zu Majoraten gemacht, oder mussten vielmehr an einen einzigen Erben Übergehn (jedinonasledije). Das bewegliche Vermögen allein; damals fast null in Russland, blieb bei Lebzeiten zur freien Verfügung des Dworänin und wurde nach seinem Tode unter seine Kinder getheilt. Dieses System unterschied sich noch in einem andern Punkte wesentlich von den Majoraten Westeuropas. Statt die väterliche Erbschaft dem ältesten der Söhne zu sichern, ertheilte Peter der Grosse dem Vater das Recht, den einzigen Erben unter seinen Kindern zu wählen. Mit diesen Majoraten ohne das Recht der Primogenitur wurde eine Art Autokratie in die Familien eingeführt; das private Erbrecht schien ganz nach der Schablone der Thronfolgeordnung zugeschnitten, die Peter aus Misstrauen gegen seinen Sohn Alexei oder in Erinnerung an ihn in die freie Wahl des Souveräns stellen wollte. Eine solche Einrichtung konnte schwerlich im privaten Leben bessere Früchte tragen, als im öffentlichen. Das von Peter dem Grossen inaugurirte System, das dem Vater der Familie die Wahl eines bevorrechteten Erben überliess, entbehrte übrigens nicht der Analogie mit der unter dem Namen der testatorischen Freiheit in Frankreich geforderten Reform des code civil.1) Die Erfahrung hat dieser Art künstlicher Primogenitur, die von der väterlichen Willkür und nicht mehr vom Zufall der Geburt abhängt, in Russland kein günstiges Zeugnis* ausgestellt. Der Ukas Peters wurde seit 1730 ausser Kraft gesetzt, nachdem er während seiner kurzen Geltung für die Familien ein Grund zu Eifersucht und Zerfall gewesen war. Der alte russische Brauch der gleichen Theilung wurde wiederhergestellt, und wo neue zu Gunsten eines der Söhne gestiftete Majorate bestätigt wurden, da mussten sie, wie in England and Deutschland, vom Aeltesten auf den Aeltesten Übergehn. *) Diese Analogie besteht nur in der Wahl des Erben, denn Peter I. nahm, indem er die Theilung verbot, dem Familienvjitcr das Recht, sein Vermögen unter seine Kinder oder unter Fremde zu vertheilen. Unter diesen neuen Bedingungen haben die Fideioommisso (sapowed-nüja imenija) noch keine Verbreitung im nissischen Adel gefunden. Trotz der Gunst, der sie in einigen hellen socialen Regionen zu begegnen scheinen, bleibt ihre Zahl bisher doch noch unbedeutend. Ein von 1845 dal irler Ukas des Kaisers Nikolai hat vergeh lieh jedem adligen Unter-than das Recht, ein oder mehrere Fideicommisse zu stiften, zuertheilt, der Adel hat von diesem Vorrecht wenig Gebrauch gemacht. Dass das Gesetz von den zu Majoraten erhobenen Gütern einen höhern Grundwerth verlangt, erklärt diese Zurückhaltung nur theilvveise. Nach dem Ukas von L845 war ein durchaus hypothekenfreies Gut von mindestens 2000 Bauern oder einem .Jahresertrag von mindestens 12,000 Bubeln erforderlich. Eine Institution mit derartigen Bedingungen ist nur für grosse Vermögen', aber um irgend politische Bedeutung zu haben, muss ein Majorat immer ein beträchtliches Gut sein; sonst ist es für die Gesellschaft nur eine nutzlose und hinderliche, todte Hand. Das Haupthemmniss an der Verbreitung der Majorate und an der Hinsetzung eines Rechtes der Primogenitur mit Hülfe derselben, liegt in den Sitten, in der nationalen Tradition und in den demokratischen Instmeten der Nation. In dieser Beziehung zeigt sich der russische tieist sehr verschieden von dem polnischen wie von dem deutschen, der in den Ostseeprovinzen Russlands bis hierzu seine aristokratischen Neigungen hat überwiegen lassen. Es giebt unter den theoretischen Anhängern des Erstgeburtsrechtes Leute, die aus Furcht, Zwietracht unter ihre Kinder zu säen, keinen bevorrechteten Erben unter denselben zu wählen wagen. Ich kenne einen Grossgrundbesitzer, der von den englischen Institutionen entzückt ist, aber keinen seiner drei Söhne verletzen wollte und deshalb für jeden derselben ein Majorat gestiftet hat. Trotz solcher Beispiele und trotz der Aufmunterungen eines Theiles der Gesellschaft ist das Majorat in Russland nur eine exotische Pflanze geblieben, die zu rascher Verbreitung nicht berufen scheint.1) Wie diese fremdländische Institution jetzt, bei einer beschränkten Zahl von Familien besteht, deren Superiorität die andern nicht anerkennen, kann sie die politischen Wirkungen nicht üben, die in 1 In dem eigentlichen Russland soll es gegenwärtig nicht volle 40Majorate geben. (Lubanski, Juristische Monographieen und Untersuchungen Bd. IV, 1878, p. 13—18 russ.) In den alten polnischen Provinzen hat die Regierung seihst kleine Majorate von 2000 bis 3000 Rbl. Einkünften gestiftet. Darin liegt offenbar weniger eine aristokratische Absicht, als ein politischer Ausweg. Der Zweck ist, den Verkauf der den Russen gewährten Güte« zu hindern und dadurch in diesen Provinzen ein russisches Element zu erhalten. andern Ländern ihre Grundlage bilden. Bs bleiben fast nur die ökonomischen und moralischen Missstände bestehen: ein Theil des allgemeinen Vermögens ist der Circulation entzogen, und der Ueber-lluss einiger Privilegirten ist künstlich vor der naturgemässen Bestrafung der Lüderlichkeil und des Lasters geschützt. In der Mehrzahl ihrer Glieder jedes gesetzlichen Schutzes gegen die Conen neu/ der andern Stände beraubt, ohne den Besitz von Majoraten noch Erstgeburtsrechten vermag die russische Dworänstwo nicht, durch die Anhäufung von Vermögen unter der ununterbrochenen Fortdauer des Grundbesitzes die erbliche Autorität und Unabhängigkeit sich zu sichern, welche die Grundlagen der wirklichen Aristokratieen sind. Zweites Kapitel. Warum das Monopol des Grundbesitzes dem Adel keinerlei politische Macht verlieh. - Iiistorische Gründe dieser Anomalie. Die Drushina der Knäsen und der freie Dienst der Bojaren. Alte Autfassung- des Besitzes. Die Wotschina und die Pomestje. — Der Zarendienst die einzige Quelle des Keichtluuns. — Rangstreitigkeiten und die Mestnitschestwo. Warum aus derselben keine wirkliche Aristokratie hervorgehen konnte. — Der Rangordnung der Familien folgt die Rangordnung der Individuen. — Die Rangliste und die vierzehn ('lassen des Tschin. - Folgen dieser ('lassontheilung. Die Autorität und Unabhängigkeit der politischen Aristokratieen hat der russische Adel nie besessen. Er genoss ihrer auch in der neueren Zeit nicht, wo ihm allein das Recht auf Grundeigenthum zustand und wo die Bebauer seines Landes seine Leibeigenen waren. Um diese offenbare Anomalie bei einem Adtd zu verstehen, der im aussschliesslichen Besitz des Bodens steht und zugleich doch aller der Macht entbehrt, die der Grundbesitz sonst überall verleiht, um dies zu verstehen, muss man in die Vergangenheit, zu den Anfängen des Adels und des Grundbesitzes in Russland zurückgreifen. Jede Aristokratie ist die Schöpfung von Jahrhunderten, ihre Kraft misst sich an der Tiefe ihrer Wurzeln. Die Wurzeln des russischen Adels lassen sich leicht bloss legen. Von weit zurückliegender Zeit her zeigt uns die Geschichte die Dworänstwo von den beiden Seiten, die sie noch sich bewahrt hat: als Dienerin des Staates und als Besitzerin des Grund und Bodens; die Geschichte legt die Beziehung zwistdien Grundbesitzer und Beamten zu Tage und lässt uns erkennen, wie der eine stets den andern in Abhängigkeit und Unterwürfigkeit gehalten hat. Hei den alten Slaven scheint es weder einen Adel noch irgend eine Form der Aristokratie gegeben zu haben. Der älteste Vorfahr des russischen Adels Ist die ,,Drushina", die bei den Slaven von Nowgorod und Kiew mit Rurik und den nordischen Warägern auftritt. Gleichen Ursprungs und anfangs gleichen Stammes mit den Gründern des russischen Reichs, war die Drushina, das Gefolge des Fürsten oder Knäsen. Solches Gefolge oder solche Genossenschaft findet sich fast überall um die germanischen Führer geschaart, die die Gründer der modernen Staaten in Europa waren.1) In Russland allein hat die Drushina länger und treuer ihre ursprünglichen Züge bewahrt und liessen die Umstände aus ihr keinen Feudalismus sich entwickeln. Aus ihr sind die Bojaren hervorgegangen, ein Titel,2) der sich sehr früh in der Bedeutung Rathgeber des Fürsten findet und in den ersten Zeiten wohl nur einen höheren Rang innerhalb der Drushina bezeichnet. Der wesentliche Charakter des Drushinnik war, der freie Gefährte und freiwillige Genosse des Bürsten zu sein; er diente ihm, er ver-liess ihn nach eigenem Gefallen, er blieb Herr drüber, bald dem einen Knäsen, bald dem andern seinen Dienst zu widmen. Dies war das einzige Privileg, das einzige Recht des Drushinnik oder dasjenige Privileg, das ihm alle andern sicher stellte, denn um seine Drushina und seine Bojaren um sich zu halten, war der Fürst oft gezwungen, sie um Rath zu befragen und ihren Rathschlägen nachzugeben. Dieses Recht des freien Dienstes erhielten sich die Bojaren, die Erben der Drushina noch lange. In Moskau selbst gab es unter den ersten Grossfürsten eine Formel hiefür; man sagte: „Freiheit den Bojaren und den freien Dienern. (Bojaram i slugam wolnym wola'*)- Oer freie Dienst und die Freiheit des Uebergangs von einem Fürsten zum andern, die jenen verbürgte, konnten nur solange bestehen, als das System der Theilfürstenthümer und die Theilung der Souveränität bestand. Das alte Privileg der Drushina erlosch mit den letzten Theilfürstenthümem, und sonderbarer Weise trug dieses Recht des freien Uebergangs selbst zum Falle der Theilfürstenschaften bei, ohne J) Die Drushina (von Drug, Freund) erinnert so an die Truste der Frankenkönige, Drushinniki an die Antrustion. 2) In der ersten Ausgabe dieses Werkes war dein Worte Bojar, Bojarin die Bedeutung Krieger, Kampfer von Boi, Kampf, beigelegt. Nach meinem gelehrten Freunde L. Leger lautet die alte Form Boliarin, aus der Wurzel boli, besser, das lateinische optimates. die es sich nicht aufrecht erhalten konnte. Die Dojaren als freie Herren in der Wahl ihres Fürsten, neigten naturgemäss dahin, sich um den mächtigsten und reichsten zu drängen. Die Grossfürsten von Moskau zogen sie allmälig zu ihrem Hofe, und die Bojaren schwächten die Theilfürstenlhfnner und bereiteten deren Heimfall an das Grossfürstenthum vor, indem sie die Theilfürsten verliessen. Sobald aber die russische Souveränität wieder in seiner Hand lag, wurden die freiwilligen Gefährten und Genossen des Grossfürsten, die Bojaren rasch zu dessen Dienern, oder wie sie sich selbst titulirten, zu seinen Knechten. Den Bojaren, die aus der Drushina hervorgegangen waren, fehlte der Stützpunkt der feudalen Aristokratieen Westeuropas, die Basis auf dem Grund und Boden, der feste Sitz im Grundeigenthum. Der Drushinnik war der Person des Knäsen, dem er auf all seinen Zügen folgte, verbunden, doch an das Land durch kein bleibendes Band geknüpft; er lebte seinerseits von Deute und von Geschenken des Fürsten. Das Recht des freien Dienstes selbst hinderte diese stets bewegliche Drushina sich an den Boden zu binden und feste Wurzel in ihm zu fassen. So war das der persönlichen Unabhängigkeit der Bojaren günstige Privileg ein Hinderniss ihrer politischen Emancipation; ein zweites Hinderniss derselben war das bestehend«1 Besitzrecht. Zweierlei entscheidet vornehmlich über den socialen Zustand eines Landes: das Recht des Grundbesitzes und die Erbschaftsordnung. In Russland verharrte der Grundbesitz in Phasen, die der Westen sehr rasch überwand; er hat dort weder die gleiche Festigkeit, noch die gleich scharfe Bewegung gehabt und konnte daher auch nicht die gleiche Bedeutung gewinnen. Diese besonderen Bedingungen erklären sich aus verschiedenen Gründen, aus den Rechtsgewohnheiten, aus der Bildungsstufe und aus der Configuration des Landes, der unbegrenzten Ebene bei so dünn gesäeter Bevölkerimg. Bei den alten Russen erscheint das Grundbesitzrecht noch schlecht bestimmt und wenig von dem Hoheitsrechte geschieden. Das damals so schlecht und so wenig bewohnte Land wird lange Zeit wie eine Staatsdomäne betrachtet. Auf diesen weiten Flächen ohne natürliche Scheidungen scheint es weniger natürlich, als anderswo, das Land zu umgrenzen und dem einzelnen Individuum als Besitz zuzuweisen. Der moskowitische Russe ist geneigt, das Grundeigenthum von zwei, im Grunde verwandten und analogen Gesichtspunkten aus zu betrachten: in seinen Augen gehört das Land dem Fürsten, dem Landesherrn, oder es gehört der Gemeinde, der Summe der Bewohner, die es bebauen. In dem einen Wie in dem andern Falle ist es ein publikes Gut, dessen Capitalwerth unveräusserlich ist, ein communaler Besitz, an dem die Individuen. Bdelleule wie Bauern, nur Nutzungsrecht, in Krsatz für gewisse Dienst- oder gewisse Zinspflichten haben. Der Fürst in dem Russland der Tbeilfürstentbümer. der Zar im geeinten .Moskowien betrachteten sieh als die Herren, als die selbstherrlichen Kigenthümer des Bodens, (samowlastnüi chosain).') Der Charakter des BigenthÜmers überwog sogar langt1 Zeit den Charakter • los Herrschers; auf das erstere dieser beiden Rechte gestützt, regiert und verwaltet der Grossfürst von Moskau das Gebiet seiner Staaten als seine l'rivatdonnine.-) Seine Ländereien vertheilt der Fürst an seine Drushina, der Zar an seine Bojaren als Lohn für ihre Dienste. In einem Bande von wenig Handel und wenig Reichthum, wo gemünztes Geld spät erscheint und immer selten bleibt, ist der Boden für den Bandesherrn immer das beste und leichteste Mittel, seine Diener zu unterhalten und zu belohnen, er ist der Sold des Kriegsmannes und der Gehalt des Beamten. Dieses als Bezahlung gegebene Land wird als ein Lohn, eine Gratilieation, eine Pension, nicht als eine bleibende und erbliche Heimstätte hingenommen; es ist weder ein Mittelpunkt der Familie, noch ein Heerd des Einflusses. Für die Drushina und späterhin für den Adel war der Grundbesitz mehr ein Band der Abhängigkeit, eine Kette der Knechtschaft, als ein Mittel zur Emancipation und Macht. Man unterscheidet im alten Russland zwei Formen des persönlichen Grundbesitzes und somit zwei Kategorieen von Grundeigenthum: Die Wotschina und die Pomestje, das selbsteigen, von den Vorfahren ererbte Band und das von dem Landesherrn verliehene, den Staatsdienern in Nutzung über-gebene Land. Etwas Aehnliches lindet sich in dem Aliud und in den Lehen oder Beneficien des Westens. In Moskowien haben wie im Occident die als Belohnung für geleistete Dienste abgetretenen Güter schon früh die Patrinionialgütcr verdrängt. Die Pomestje verdrängte die Wotschina. Aus der Pomestje ist der heutige adlige Grundbesitz *) Diese Verwechselung von Hoheitsrecht und EXgenthum ist bekanntlich keineswegs nur Russland eigen. In allen westeuropäischen Staaten »ilt im Mittelalter der Fürst für den < )bereigonthünicr des Bodens. Der Unterschied besteht darin, dass diese Auffassung sieb in Russland länger erhält und dass sie — statt eine abstracto Theorie zu werden häutigen und unablässigen Anwendungen Raum giebt. *) S. hierüber Tschitseherin: Die Institutionen Russlands im XVII. Jahrb. iruss.) und von demselben Autor: Essay aber die Geschichte des russischen Rechts (rUSS.) entstanden, so dass in der Sprache der Ausdruck „Poineschtsehik" nur noch Gutsbesitzer bedeutet. Es gab eine wichtige ('lasse von >,Wotschinniki", Leuten, die ihre Ländereien kraft eigenen Rechtes von den Vorvätern her besassen; das waren diejenigen Knäsen und Theilfürsten. die ihren Grundbesitz nicht zugleich mit ihrer Landeshoheit verloren hatten. Die moskowitischen Fürsten stellten sichs zur Aufgabe, diesem Zustand der Dinge abzuhelfen, der unter ihrer Herrschaft nur eine Art Anomalie war. Der Grossfürst sorgte dafür, dass der Dösitz der zum (irossfürstenthum geschlagenen Domänen nicht in den Händen seiner Agnaten, der Seitenlinien seines Hauses blieben. Die mediatisirten Fürsten mussten ihre erbliche Wotschina gegen eine Pomestje austauschen, die fern von den Gegenden lag, iu welchen ihre Väter regiert hatten, und deren Namen sie selbst mitunter trugen. Der Engländer Fletcher, der Gesandte Elisabeths, erwähnte noch am Ende des sechzehnten Jahrhunderts dieser Bemühungen der moskowitischen Zaren, die von Rurik stammenden Familien zu schwächen und durch ihre Ausreissung aus dem heimatl.liehen und Deberpflanzung in einen fremden Boden gleichsam zu entwurzeln. Die einzigen russischen Familien, die eine territoriale Basis hatten, die einzigen, die dazu bestimmt schienen, dem Grossfürsten gegenüber eine hohe Aristokratie zu bilden, die Nachkommen der Theilfürsten winden so zum Range einfacher Pomeschtschiks hinabgedrückt, die ihr Gut und ihr Vermögen nur nach dem hon plaisir ihres Oberherrn besassen. Der moskowitisohe Zar war endgültig der einzige Herrscher, und zugleich der einzige Grosseigenthümer geworden. Die erlauchtesten Familien waren über das Land verstreut, ohne traditionellen Heid noch Centrum localen Finllusses, ähnlich dem Gipskraut, jener Stepponpllan/.o, deren trockene Büschel der llcrbstwiml ziellos über die Steppe treibt. Zwischen der russischen Dworänstwo und dem Grund und Boden hat es nie ein gleiches Band, eine gleiche Beziehung wie im Westen gegeben. Der Adel verschmilzt dort nicht so mit dem Boden, wie im übrigen Europa: er indentificirt sich nicht mit dem Lande, auf dem er lebt; er trägt, selbst den Namen seines Gutes nicht, wie es anderwärts in dem französischen „de" und dem deutschen „von" ausgesprochen ist. Alle Aristokratie gleicht dem Riesen der Fabel, der seine Kraft aus der Erde schöpft. Dieser Fehler eines localen Schwerpunkts, dieser Mangel an territorialer Basis erklärt zur Genüge die unheilbare Schwäche der Bojaren und das Fehlschlagen aller aristokratischen Anläufe im alten Russland. Nichts erinnert in diesem Lande an die stolzen Sitze der west- europäischen Aristokraten, der Erben des Lehnswesens, nichts an jene Schlösser des Mittelalters, die fest auf dem Boden stehen, und stolz auf die Macht der Familien emporragen, deren Schutzwehr sie waren. Die russische Natur selbst scheint diese Häuser nicht zuzulassen, sie versagte ihnen — sozusagen — die Stätte und das Material: die steilen Felsen zu ihrem Standort, den Stein zu ihrem Hau. Das Haus von Holz, so oft vom Feuer zerstört, so bald vom Wurm zernagt, so leicht zu versetzen nnd wiederaufzubauen, ist ein richtiges Abbild des russischen Lebens; selbst die Art des Wohnens verräth gewissermassen die schwächlichen Lebensbedingungen der Aristokratie. Die Pomestje bewirkte, dass der russische Edelmann seit dem Mittelalter in den doppelten Charakter des Gutsbesitzers und Staatsdieners erscheint, wie wir ihn auch heute noch finden. Diese beiden, später bisweilen getrennten Titel, sind anfangs eng verbunden. Als Diener des Grossfürsten erhält der Edelmann seine Pomestje, als solche erhalten sich seine Kinder deren Besitz. Der Pomeschtsehik bleibt in Abhängigkeit vom Landesherrn, der ihm das Land verleiht, und ihm später mit Einführung der Leibeigenschaft in den schollen« Pflichtigen Bauern die Arbeitskraft zum Landbau giebt. Für den russischen Edelmann ist der Grundbesitz nichts als ein Broderwerb, ein Existenzmittel, ein Nahrungszweig (kormlenije). Er setzt sieh auf demselben nicht fest, er hängt sein Leben nicht daran, er weiss, dass der Strom des Besitzes seine Quelle anderswo hat. Unter den alten Zaren, wie unter den Nachfolgern Peters des Grossen waren die Aemter, die Einfluss und Reichthum verliehen, in der Hauptstadt, am Hofe zu suchen. Wie im alten Moskowien, so im modernen Russland: um den Herrn, um den grossen Gnadenspender drängten sich die erlauchtesten Familien und beugten sich alle um die Wette, um die Glinstbezeugungen aufzuraffen, die von den souveränen Händen fielen. Der barbarische Kreml übte auf die Knäsen und moskowitischen Bojaren nicht geringere Zauberkraft, als das Versailles Ludwigs XIV. auf den hohen Adel Frankreichs. Der Hofgeist, der dem wahren aristokratischen Geist so ganz entgegengesetzt ist, durchdrang früh die ganze russische Dworänstwo. In Frankreich bewahrte der Adel selbst in seiner Erniedrigung die äussere Würde des gentilhomnie: in Kussland hatte er weder alte Traditionen, noch den Cultus der Ehre, noch die Formen der gesellschaftlichen Bildung zu seiner Stütze, welche den Uebermuth des Herrschers massigen und die Demuthigung des Hofmanns mildern. An dem halbbyzantinischen, halb asiatischen Hofe zu Moskau lag den Zaren wenig daran, die Knechtschaft der Bojaren unter reichen Formen zu verbergen, und den Bojaren ebenso wenig, einen Schleier über ihren Knechtsinn zu decken. Die Worte sind bekannt, die nach F. de Maisire oder Segur der Kaiser Baut I. gesprochen haben soll. „Mein Herr", sagte der Zar einmal einem Ausländer, „ich kenne neben mir keinen vornehmen Mann, als den. zu dem ich eben spreche, und zwar nur so lange ich mit ihm spreche." Ein Iwan oder Wassili hätte schon dasselbe sagen können. Ausserhalb ihrer souveränen Gunst wollten die Zaren au ihren Unterthanen keinerlei persönlichen Vorzug, keinerlei Vorzug der Geburt gelten lassen. Wenn es erlaubt blieb, Ruhm oder Vortheil aus den Titeln der Vorfahren zu ziehen, so geschah es nur, weil Bang und Ehre von den Vätern am Hofe des Grossfürsten erlangt waren. 80 entstand eine neue Stufenleiter, eine besondere Rangordnung, die unter dem Namen der Mestnitschestwo im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert in Gebrauch blieb. Am Moskauer Hofe hörte der Vorrang auf, von der Abstammung und dem Blute abhängen: alle Unterthanen des Grossfürsten wurden einem gleichen Massstab unterworfen: dem Staatsdienst. Das Amt, die Stelle (mesto) allein regelte die Ansprüche und die Titel; aber anstatt nur die Individuen zu classiliciren, classilicirte das Amt auch die Familien. Krall der Mestnitschestwo konnte Minor nicht unter Jemandem dienen, der unter dem Bang seines Vaters stand. Ein solches System musste auf die Dauer zu einer Art Erblichkeit der Aemter führen. Die Bojarenwürde, die Ina liste Würde im alten Russland, begann, wenn sie auch rechtlich nur auf Lebenszeit galt, all-inälioh vom Vater auf den Sohn übwrzugehn. *) Der gleiche Mall war es mit den hohen Aemtern und Functionen. Um das Recht jedes Einzelnen und die Titel jeder Familie zu constatiren, gab es specielle Register, staatliche Dienst bin her, die rasrädnüja knigi genannt wurde. Es ist leicht ersichtlich, was in den Augen der Grossfürsten der Vortheil dieses Systems sein konnte, aus dem eine neue Aristokratie hervorgeht! zu sollen schien. In Moskau selbst genossen natürlicher- ') Nach Solowiew (Gesch. Russlands Bd. XIII) hatten sechzehn Familien das Recht erhalten, üass ihre Glieder unmittelbar Bojaren wurden; in fünfzehn andern wurde mit dem Raiig des Qkoinik, der zweiten moskowitischen Würde, begonnen. Von diesen privilegirten Familien trugen i'n den Fürstentitel und stammten von Rurik oder < iediniin ab. In den übrigen Familien trat der Sohn mit zwei Rangstufen niedriger, als der Vater sie erworben, in den Dienst. Wenn er nicht avancirte, begann der GrOSSSOhn abermals mit zwei Rangstufen niedriger, was mit der Zeit den Niedergang der Familie mit sich brachte. Ii c r i> y - Ii e a u 1 i o u , Hoicli <1. Zureii u, <1. Russen. 1U weise die Seitenlinien des regierenden Hauses im Anfang eines besonderen Ansehens; um sie desselben zu berauben suchten die Grossfürsten zuerst ihre Bojaren auf die gleiche Höhe mit den Nachkommen Kuriks zu erheben, um später Knäsen und Bojaren zugleich wieder hinabzudrücken, Die Mestnitschestwo nöthigte die Erben aller me-diatisirten Fürsten aller Tradition von unabhängiger Macht zif entsagen. Wie die übrigen Unterthanen des Zaren waren sie gezwungen, Glanz und Adel nur noch in der Gunst und im Dienst des Herrschers zu suchen. Die Rangordnung hatte die Wirkung, die alten Theilfürsten mit den moskowitischen Bojaren zu einem Hofadel zu verschmelzen, der all seine Würden und Prärogative von des Zaren Gnaden empfing. In weniger als einem -Jahrhundert war diese Verschmelzung so vollständig, dass beim Erlöschen der regierenden Dynastie das neueZaren-haus nicht aus einer der Seitenlinien des Hauses Rurik gewählt wurde. Diese Art der Rangordnung oder des Familientschins musste der Natur der Sache muh für die Regierung, die sie sich anfangs zum Werkzeug erlesen, endlich unbequem und hinderlich werden. Die Mestnitschestwo hatte den schweren Fehler, der Wahl des Zaren enge Schranken zu ziehen. Besonders im Kriege zeigten sich ihre ver-hängnissvollon Folgen; ihr sind zum Theil die vielen Niederlagen Busslands im sechzehnten und siebzehnten .Jahrhundert zuzuschreiben. Keine Aristokratie hätte ausschliesslicher und starrer sein können, keine konnte zu so viel Streitigkeiten Anlass geben, da sie es erschwerte, die Rechte jedes Einzelnen festzustellen und den Nebenbuhlerschaften, die sich bis auf das Schlachtfeld fortspannen, ein Ziel zu setzen. ') Em sich bei solchen Mängeln so lange zu erhalten, musste diese Institution in den Sitten, im Wesen der Nation irgend einen Stützpunkt haben. Diese moralische Basis der Mestnitschestwo glauben die Historiker im Familiensinn, in einem gewissen patriarchalischen Gefühl zu linden, das alle Männer gleichen Blutes eng zusammenschloss und Familienbande um so kräftiger machte, als es in Moskowien keine anderen Bande gab.a) Man fasste das Individuum nicht als von der Familie, dem „Rod'- (der gens der Römer) getrennt auf. Die einem Manne übertragenen Ehren waren gleichsam all den 1j Joann der Schreckliche hatte 1550 versucht, die bösen Wirkungen dieser Bangstreitigkeitcu zu beschranken, nicht, wie Rambaud (Gesch. liussl. p. :i 111 sagt, indem er „allen Adligen, die nicht Fnniilienhäupter waren, verbot über den Rang zu streiten", sondern indem er allen Adligen untersagte, in dem Meere einen derartigen Streit mit Wojewoden von niederer Familie, als der ihren, zu erheben, wenn sie selbst nicht Wojewoden, d. h. (Jenerale wären. -) Solowiew XIII, p. 70, 72. Seinigen übertragen; wenn eines ihrer Glieder zu einer Würde erhohen wurde, scliien die ganze Familie mit ihm im Bange zu steigen. Wie heutzutage ein im [lang älterer General nicht leicht unter dem Befehl eines jungem zu dienen gewillt ist, so hielten es damals die moskowitischen Familien unter sich. Um den Rang seiner Vorfahren zu ernalten, trotzte der Russe dem Tode; wer gewichen wäre, hätte für einen Verräther an seiner Familie gegolten. Der Knäs, der sich den Sclaven der Zaren nannte und nichts versäumte, sich vor ihnen zu erniedrigen, weigerte sich, an ihrer Tafel unter einem Manne zu sitzen den die Mestnitschestwo unter ihn rangirte. Vergeblich — so erzählt der Chronist — befahl der Zar ihn zur Tafel zu führen und gewaltsam niederzusetzen, der Bojar leistete Widerstand, drehte sich heftig um und rief beim Abgehn, er wolle sich lieber köpfen lassen, als auf den Platz, der ihm gebühre, verzichten. Die Mestnitschestwo war vielleicht das Einzige, was in dem alten moskowitischen Adel das Rechts-oder Ehrgefühl weckte, das in der feudalen Welt des Westens so mächtig war. Allem Anschein entgegen war aber diese dem persönlichen Verdienst so ungünstige Ordnung den erblichen Rangstufen doch ganz ungeeignet, eine wirkliche Aristokratie zu schallen. Was der Mestnitschestwo Bedeutung gab, waren nicht die Rechte einer ('lasse oder die Vorrechte einer Kaste; es waren besondere, private Ansprüche, Rechte dieser oder jener Person, dieser oder jener Familie. Zwischen den Privilegirten selbst schuf die Rangordnung einen immerwährenden Gegensatz, statt dauernde Bande zu knüpfen. Für die Art der Oligarchie, die aus ihr Vortheil zog, war sie ein System der Nebenbuhlerschaft und der Uneinigkeit. In ihr war die erste Bedingung jeder Aristokratie, die Homogeneitüt, die Solidarität unmöglich.' um ihretwillen stand jeder Edelmann im Kampfe mit seinesgleichen, jede Familie im Kampfe mit ihren Nebenbuhlern. Einer gegen Alle! das hälfe der Wahlspruch des Systems sein können. Nichts war da vorhanden, woraus sich eine (lauernde Macht hätte schaffen lassen: auch unterlag die Mcslnitchestwo, selbst mit Zustimmung der Familien, die sich ihre Vortheile streitig machten, sobald ihre Missstände sich allzu deutlich zeigten und die Anmassungen und rivalen Wettbewerbungen allzu verwirrend wurden. Sie wurde abgeschafft ohne Gewaltanwendung, unter der Regierung eines der schwächsten Zaren des alten Russlands, Fedor Alexejewitschs, des Bruders und hierin, wie in mehreren andern Beziehungen abge-blassten Vorläufers Peters des Grossen. Um die Mestnitschestwo zu unterdrücken, brauchte der Zar nur die rasrädnüja knigi, die Bang- 19* register, öffentlich verbrennen zu lassen und an ihre Stelle ein einfaches genealogisches Verzeichniss zu setzen, das unter dem Namen des Sammetbuches (Barchatnaja kniga)1 noch heute existirt. Auf die Mestnitschestwo, die Hangordnung muh den von den Familien besetzten Aemtern, musste naturgemäss die Rangordnung nach den von den Individuen besetzten Aemtern folgen. Der 'Massstab für den Rang blieb derselbe: der Zarendienst; aber die Verdienste der Ahnen wurden nicht mehr in Rechnung gezogen. Statt dass Adel und Geburt dem Amt Rechte verliehen, gab und sicherte das Amt den adligen Titel. Jeder Dworänin wurde streng zu Militäroder Civildienst gezwungen. Die russische Dworänstwo wurde so durchaus die Classe der Staatsdiener, und bei der Verachtung der Krbtitel in gewissen Familien kannte sie in ihrem Schosse keine andere Classi-lieirung, keine Rangordnung, als die Rangordnungen des Dienstes. Peter der Grosse schaffte den alten Bojarentitel ab, der alte Ansprüche erweckte. An die Stelle der barbarischen und prunkhaften moskowitischen Rangordnung setzte er die Rangliste (tabel o rangach), die in ihren vierzehn Classen noch heute die ganze oflicielle russische Welt in sich begreift. Die bürgerlichen Aemter und selbst die geistliehen Würden sind in ihr den militärischen Graden gleichgestellt» und vom Fähndrich und Collegienregistrator, welche die unterste Sprosse der Leiter einnehmen, bis zum Feldmarschall und Kanzler, die allein auf der höchsten derselben stehen, sind in ihr alle Staatsdiener in Stockwerke getheilt, jeder nach seinem Tschin in einer parallelen Doppelreihe von 14 numerirlon Rängen oder Graden. Nicht in der Einslerniss des Mittelalters, nicht unter dem Tatarenjoch, nein, im achtzehnten Jahrhundert, unter der Hand des grossen modernen Reformators ist diese Institution geschaffen, deren Name an das Chinesische anklingt, und deren Ordnung dem Mandarinenthum mit seiner Classification nach Knöpfen verschiedener Farbe verglichen werden kann. Europa, und zwar Deutschland hat Roter der Grosse die meisten dieser heute wunderlich klingenden und sinnlosen Titel entlehnt: Titulärrath, Collegienrath, Staatsrath, wirklicher Staatsrath, wirklicher Geheimerath — alles ausländische Bezeichnungen, die in ') I >as Sammotbuch bat für uns das Interesse, dass es die -Aufzählung des russischen Adels vor Peter dem Grossen enthält. Man ersieht daraus, das bereits der grössere Theil dieser Adelsfamilien, etwa 500, ausländischen Ursprungs litthauiseh, polnisch, deutsch, tatarisch — war; etwa hundert waren unbekannter Herkunft und nur 200 russischer, unter ihnen 164 Knasenfamilien, die von llnrik stammten. Russland nie ein wirkliches Amt bezeichnet haben, und die heute wie von Anfang an nur eine Art von Civilgrad, oft unabhängig von jeder Anstellung sind. Waren aber die Namen auch ausländische, das Wrx'ii der Institution war durchaus russisch, durchaus diesem autokratist Inn Hoden angemessen, dem weder eine starke Aristokratie noch eine starke Demokratie hatte entspriessen können. Als der grosse Nachahmer Europas seine Rangliste aufstellte, nahm er nur die alten mdskowitisohon Traditionen wieder auf. und kleidete nur die Politik der alten Zaren in ein modernes Gewand. Die Suprematie des Beamtenthums, die Herrschaft des Tschin — , das ist das logische Ziel, die natürliche Krönung des socialen Zu-standes in Russland. Die aristokratischen Elemente, die sich hie und da in der russischen Geschichte zeigen, sind dort verstreut, ohne Zusammenhang und sozusagen ohne festen Körper geblieben, wie eine Flüssigkeit, die sich nicht verdichten, nicht in festen Zustand treten kann. Die Drushina und die Dojaren linden, wo das Recht auf freien Dienst für sie aufhört, nur Knechtschaft statt Unabhängigkeit. Unter den letzten Nachkommen des Rurik und den ersten Romanows scheint Russland einen Augenblick durch die Mestnitschestwo in den Besitz einer besonderen Form der Rangordnung zu treten, aus welcher eine neue Aristokratie hervorgehen könnte: die Form aber wird als verbraucht ohne Gewalt zerbrochen, nachdem sie nur dazu gedient, die von Rurik abstammenden Knäsen zum Range moskowitisoher Bojaren hinabzuwerfen. Nachdem dies Werk gelungen, arbeiten die Zaren an der gleichzeitigen Erniedrigung der beiden rivalisirenden Elemente, der Knäsen und Bojaren. Vergebens versuchten die alten Familien bei jedem Regierungswechsel und namentlich unter jeder Regentschaft die Macht wiederzugewinnen; diese schlecht geleiteten, sehlecht geführten Unternehmungen, die fast immer ohne Einheit, zu Gunsten zweier oder dreier Individuen, zweier oder dreier Familien ins Werk gesetzt waren, hatten nie mehr als ephemeren Erfolg und Helen immer auf die Schultern ihrer Anstifter, auf die Schultern der Bojaren zurück. Diese scheinbar aristokratischen Versuche zeigen selbst, wie sehr der aristokratische Geist, der Corpsgeist und der Geist der Solidarität Russland fehlt. Trotz so vieler günstiger Gelegenheiten, trotz der wiederholten und langandauernden Minderjährigkeiten, trotz des Erlöschens der regierenden Dynastie und der Wahl einer neuen, ungeachtet der Schwäche der Usurpatoren im siebzehnten, ungeachtet der Unbeständigkeit und der Unklarheit des Erb folgerech ts im achtzehnten Jahrhundert — sind doch alle Versuche zu einer Aristokratie oder Oligarchie, alle Nachahmungen Schwedens oder Polens elend fehlgeschlagen. Das Hinderniss Lag nicht in der traditionellen Kraft der Regierung, es lag in der Organisation der Dworänstwo selbst, in der Indifferenz oder in der Opposition der .Masse des Adels, die wenig Eifer zeigte, dem Ehrgeiz einiger Familien zum Werkzeug zu dienen. In keinem Lande ist das System der Classificirung nach dem Range, Grade, Dienste so häutig und so streng angewandt worden. Vom staatlichen Leben ist die Rangordnung bisweilen in das private übergegangen:.noch heute kann man an Orten und unter Umständen auf die oflicielle Classificirung stossen, wo man überrascht ist, ihr zu begegnen. Ein Ausländer möchte darin etwas Asiatisches oder Byzantinisches zu erkennen glauben. In keinem Staate Europas sind Grad oder Amtstitel in gleicher Weise der Massstab- des Werths und des Ansehens des Menschen. Auf die Frage, die Pascal in seinen „Pensees" so schroff hinstellt und so bündig entscheidet: „Wer von uns geht voran?" wäre die Antwort in Russland leicht. Man hätte nur nach dem Tschin zu fragen. Unter manchen Umständen kann die peinliche Anwendung dieses Princips vor unnützen Höflichkeiten und langweiligen Ceremonien schützen. Hier ein Beispiel, das ich von einem der Helden der Geschichte, dem Feldmarschall Fürsten Barätinski, habe. Ein Generalmajor. Drigadegeneral, vierte Classe. reiste im Winter in einem Bergland, dem Kaukasus. Kommt ihm nachts in einem l'ass tun anderer Reisender entgegen. Der Weg ist verschneit, die durch Schlitten eingefahrene Halm schmal, unmöglich aneinander vorüberzufahren. Die Leute des Generalmajors, die mit einem Fremden niedrigem Tschins es zu thun haben meinen, werfen kurzweg den Schlitten des Andern, der in seinen Mantel gehüllt im Schlummer liegt, um. So pflegte man unter solchen Umständen zu verfahren; einer der Schlitten wurde auf die Seite gelegt, um den andern pas-siren zu lassen. Beim Fall schlägt der Fremde den Mantel zurück. Es ist ein Generallieutenant, dritte Classe! Sofort sind die Leute daran ihn aufzuheben, und ohne ein Wort zu sagen, ohne ihren Herrn zu präveniren, werfen sie nun den Generalmajor in den Schnee. Heutzutage, wo der Tschin im Niedergang zu sein scheint, weiss die oflicielle Rangordnung mitunter ihre Rechte da wahrzunehmen, wo sie in Westeuropa nicht mehr inCuTS wären. In der Oper waren beispielsweise in beiden Hauptstädten die ersten Reihen des Parquets lange der Benutzung von Beamten der obersten Classen vorbehalten. Im Laufe von anderthalb Jahrhunderten haben die vierzehn Rangelassen Peters des Grossen aus der russischen Gesellschaft eine Art. Armee gemacht, in welcher Jedermann nach seinem Grade rangirt war. Eine solche Hierarchie konnte ihr Gutes habeil in einer TJeber-gangsperiode, bei einem vorurtheilsTollerj und an Handel und Industrio armen Volke, in einer Zeit, da man durch keinen andern Beruf, als den Staatsdienst, emporsteigen konnte, da die Staatsämter die einzige Schule der höhern Cultur waren. Indem die Edelleute an den Dienst gebunden wurden, wurde der Adel Werkzeug und Stütze einer Reform, die ihm von sich aus wenig Sympathie einflösste. Die Rangliste hatte ihre Berechtigung, als die in vierzehn (/lassen eingeteilten Leute allein die oflicielle Nation ausmachten und allein die Rechte freier Menschen besassen, als noch, ein Diplomat, um Russland von der Körperstrafe zu befreien, lachend den Vorschlag machte, das ganze russische Volk in die dreizehnte oder vierzehnte «'lasse zu erheben. Bei einem weiter vorgeschrittenen Zustand der Gesellschaft, in einer so verschiedenartigen und mannigfachen Civilisation, wie es die unsrige ist, wo Intelligenz und Thatkraft so viel Wege der freien Bethätigung finden, da wird eine derartige Classification künstlich, unnütz und lügnerisch. Fern davon ein Antrieb zum Fortschritt zu sein, ist der Tschin Vielmehr ein Hinderniss desselben geworden; er beschleunigt nicht den Schritt der Gesellschaft, er macht durch seine Last ihn langsam. Er ist mindestens ein Anachronismus, eine Institution, welche die Bedürfnisse, die sie schufen, überlebt hat. In einer Zeit, wo die private Initiative in jeder Form, wo Wissenschaft und Kunst, Industrie und Handel so vielen Raum einnehmen, hören die ,,slushebnüje ludi", die Leute im Staatsdienst, auf, die nützlichsten und wichtigsten Diener des Landes zu sein. Es wird immer schwieriger, die Talente zu classificiren, es wird unmöglich, den Rang und die Verdienste jedes Einzelnen mit einem äussern Abzeichen, mit einer Ziffer zu bezeichnen. Es giebt kein Gewicht mehr, die Intelligenzen zu wägen, keinen gesetzlichen Massstab, keine oflicielle Aichung, keine allgemein angenommene Messung mehr für soviel verschiedene Fähigkeiten. Vergeblich die Anstrengung, den militärischen Graden Berufsgaltungen anzupassen, die von jeder Rangordnung unabhängig und jeder Rangordnung widerstrebend sind, oder Laufbahnen, die naturgemäss allen Wechselfällen und der ganzen Beweglichkeit der Concurrenz offen stehn. In Russland hat die Gewohnheit, Alles den vierzehn Fächern der Rangelassen einzuordnen, lange Zeit dazu gefühlt, Alles zu classificiren und sozusagen zu cotiren und zu numeriren. Selbst die Künste sind dem nicht ganz entgangen. Die Schauspieler und Sänger der kaiserlichen Theater wurden officiell in mehrere Kategorien getheilt, von denen jede ihre bestimmten Rechte besass. Daher stammt die Wunderlichkeit der vielen russischen Titel und Qualificationen, wie Candidat, Commerzion- und Manufacturrath, ein Titel der oft einen Kaufmann von mehreren Millionen auf die Stufe der siebenten oder achten Classe, d. h. in den Rang eines Majors oder Hauptmanns setzt. Bei solcher Methode hätte man wenigstens Coinmerzgenerale, Feld-marschälle der Wissenschaft oder Poesie schaffen sollen. Man erzählte mir auf einer meiner Reisen im Orient, der Sultan habe zum Dank für seine Heilung von einem Geschwüre seinen Arzt zum Range eines Divisionsgenerals erhoben. Dergleichen Ernennungen oder vielmehr Beförderungen sind in Russland gewöhnlich; das offieiello Journal veröffentlicht ihrer viele. Es wäre schwierig, die Aerzte zu zählen, die einen Tschin führen: es giebt unter ihnen wirkliche Staatsräthe (4. Classe) Rang des Generalmajors; es giebt Geheime-räthe (.'5. Classe) Rang des Divisionsgenerals. So ist es auch mit den Gelehrten, den Professoren und Schriftstellern: ausstaffirt mit den Titeln des Verwaltungsbeamten oder der Magistratsperson können sie ebenso in dem Civildienste avanciren. Alle diese Beförderungen im Tschin stehen denen in den kaiserliehen Orden nicht im Wege. Man zählt in Russland fünf oder sechs solche mehr oder minder geschätzte Orden, von denen die meisten in die erste, zweite, dritte, bisweilen vierte Classe zerfallen. Es giebt Orden des heil. Andreas, des heil. Alexander Newski, der heil. Anna, des heil. Wladimir, des heil. Georg, die Orden des heil. Stanislaus und vom weissen Adler ungerechnet, die ursprünglich polnische Orden waren und jetzt russische geworden sind. Seit dem letzten bulgarischen Kriege hat man einen neuen erfunden, das rothe Kreuz, das die Kaiserin Frauen und Jungfrauen ertheilt. Es gab übrigens schon eine besondere Decoration für Frauen, das Kreuz der heil. Katharina. ') Ausser dem Tschin und den Orden besitzt Russland eine Reihe von staatlichen Auszeichnungen, die, weil sie verschwenderisch aus-getheilt wurden, ihren Glanz ein wenig eingebüsst haben. Das sind die Hofämter, die in Stufen zerfallen, wie die Rangliste, und ganz wie die Titel des Civildienstes meist reine Ehren- und Nominaltitel geworden sind. Den Staatsräthen und Geheimeräthen, wirklichen und ') Für Militärpersonen giebt es in Kriegszeiten den Ehrensäbel mit ehrenvoller Erwähnung; für Civilbeamte und (tonende in Friedenszeiten I?rilhuitringe mit dem kaiserlichen Nanicus/.ug, es giebt goldne Tabacksdoseu mit Diamanten und dem Bilde oder Namenszug des Kaisers geschmückt. Wenige hohe Beamten haben diese kaiserliehe Dose nicht auf ihrem Tisch. Damen von hohem Range kramen ähnliche Auszeichnungen erhalten. Wer die Memoiren vom St. Petersburger Hof gelesen hat, kennt die „Damen mit dem kaiserlichen Bildniss," nicht-wirklichen, die niemals einer Rathssitzung beiwohnen, entsprochen die Hofmeister, die nichts mit dem Ceremoniell des Palastes zu thun haben. In keinem Lande sind die Mittel, die Menschen zu classificirenj Verdienste hervorzuheben und sozusagen zu prämiiren, so zahlreich, so mannigfach und so — ergebnisslos. Giebts nicht reichere Frucht, so liegt das an der natürlichen Unfruchtbarkeit dieses Systems officieller Aufmunterung. In einer solchen Classification mussten l'nlerricht und Wissenschaft, die immer einen Gegenstand der Bemühungen der kaiserlichen Regierung gebildet haben, selbstverständlich ihren Platz erhalten. Die Universitätsgrade 1)ringen einen Tschin mit sich, das Abgangsexamen von einer Gymnasialanstalt verleiht das Hecht auf die letzte Stufe der burcaukratischen Hierarchie. So bat der Student, der die Universität bezieht, schon den Fuss auf der Leiter, und jedes Diplom Lässt ihn eine Sprosse höher steigen. Da die Arbeit in der Hangliste den Zugang zu Stellen und zum Adel öffnet, könnte man sagen, dass bei der Abhängigkeit des Banges vom Grade, und des Grades von der Bildungsstufe, die russische Hangordnung nur eine Hierarchie der Arbeit und Gelehrsamkeit-, und der aus ihr hervorgehende Adel ein Adel der Bildung und Cultur sei. Es ist dies die Logik der Ver-theidiger der vierzehn Classen; in der That rechtfertigt sich, oder vielmehr rechtfertigte sieh in der Vergangenheit hiermit der Tschin. Für eine Schule junger Leute oder für eine geschlossene Laufbahn tauglich, trägt doch eine solche Methode der Classificirung nicht weniger alle Missstände jeder künstlichen Rangordnung in sich, die auf die ganze Gesellschaft angewandt wird. Derartige Versuche, .Menschen und Verdienste in numerirte Schubfächer. zu verlheilen, haben fast immer ihr Ziel verfehlt; wo sie ausnahmsweise zu gelingen schienen, geschah es nur durch Einsperrung der Gesellschaft in drückendes Fachwerk. Seitenstücke zu der Hangordnimg des russischen Tschins Lassen sich in Asien, in China, in der Türkei zum Beispiel linden; man kann seihst im modernen Europa einige mehr oder minder ähnliche Institutionen linden, wie die Legion d'honneur und der Adel Napoleons!. Dieser letztere war in seiner ursprünglichen Fassung der Rangliste Peters I. sehr ähnlich. Auch der Stifter der Legion d'honneur erhob den Anspruch, alle socialen Kräfte der Nation in Rahmen zu schliessen und in bestimmten Reihen zu ordnen; doch später und in einem weiter vorgeschrittenen Lande eingeführt, ist die grosse Institution Napoleons I. weniger glücklich gewesen, als die Peters I.; sie hat ihr Jjeben nur gefristet, indem sie zu einer einfachen Decoration hinab- sank, ohne mehr sociale Bedeutung, als jeder andre Orden. Alles beweist, dass es bei unserem Bildungsstande nicht leichter ist, eine rationelle Classentheilung unter den Individuen festzustellen, als unter den Familien. Jede Rangordnung dieser Art Könnte nur auf dem Staatsdienste beruhen, nur den .Massstab staatlicher Aemter haben, und gerade dadurch, durch die Prämürung der Aemter und der Staatscarriere muss eine solche Classificirung die Stellenjägerei, die Beamtenwirthsohaft ermuthigen und fördern und zugleich die freie Arbeit auf geistigem und materiellem Gebiete entmuthigen und die grosse Triebfeder unserer Civilisation, die Initiative des Individuums, schwächen. Der Tschin, der den Rang von dem Amte und das Amt vom Verdienst abhängen lässt, scheint dem ersten Anblick nach ganz demokratisch: er ist das tliatsächlich in mehreren Punkten: in andern dagegen ist er ein Hemmniss jeder gesunden, jeder freien Demokratie. Das praktische Endziel des Tschins und der vierzehn ('lassen wäre der Triumph des Tsohinownikthums, die ausschliessliche und absolute Herrschaft der Bureaukratie zu Gunsten des Despotismus auf Kosten jeder Demokratie, wie auf Kosten jeder Aristokratie. Selbst innerhalb dieser souveränen Bureaukratie ist dies System, das aus der Berne so günstig für das persönliche Verdienst erscheint, noch viel günstiger für die Routine, die Faulheit, die Mittelmässigkeit; ohne Ungerechtigkeit lässt sich sagen, dass die Rangliste schliesslich das Niveau des Staatsdienstes erniedrigt hat, während sie dasselbe zu erhöhen bestimmt war.1) Die Umgestaltung Russlands muss naturgemäss dem Tschin viel an seiner Bedeutung nehmen; seine Herrschaft wird weniger tyrannisch, man nimmt sich mitunter Freiheiten gegen ihn heraus. Fs giebt eine Art von Reformen, die sich schwer mit der Rangliste verträgt und früher oder später über sie triumphiren wird: das sind die neuen Gouvernements-Institutionen und die Wahlämter. Das Wahlsystem, das auf der freien Wahl der Personen, und das Repräsentativsystem, das auf der Wahl eines von seinesgleichen ernannten Repräsentanten beruht, sind beide an sich im Widerstreit gegen alle bureau-kratische Hierarchie. Das Stimmrecht hat bereits in dem Tschin eine Bresche gelegt; die Zeit wird kommen, da die alte Mauer dem Sturmbock der Wahlstimme nichtwird widerstehen, den Ansturm der politischen Freiheiten nicht wird abweisen können. Man hat bereits für die an die Spitze der Gouvernementslandschaften gesetzten Männer, leere, ') S. Bd. II, Buch II, Kap. III. den Graden ähnliehe Titel schaffen müssen. Die Entwickelung der Wahlämter wird früher oder später die Rangliste auf die speziellen Berufsgattungen beschränken. Die Ausdehnung der öffentlichen Freiheiten wird nach beiden Seiten hin, dem Landesherrn und dem Lande, die Möglichkeit eröffnen, die Staatsmänner des Reiches ausserhalb jederlei Kategorie zu wählen, sie wird das Privilegium des Tschins und der Bureaukratie zerstören, das sich an die Stelle des Privilegiums der Geburt gesetzt hatJ) Drittes Kapitel. Wirkungen der Hang!isto auf den Adel. Der Beamte und der (Jutsbesitzer, einst in der Person des Dworänin vereinigt, sind in dem beut igen Adel oft ge-tbiilte Erscheinungen. Daher in dem Schosse des Adels zwei entgegengesetzte Richtungen. — Vom radicalen Geiste in Adel und Tscbinownikthum. Der revolutionäre Dilettantismus. — Die hohe Gesellschaft und die aristokratischen Kreise. — Vom Gebrauch der französischen Sprache in der Gesellschaft. --Mangel an Nationalität und Kosniopolitismus. Dem russischen Adel hat die mehr als hundertjährige Herrschaft der Haugliste einen Stempel aufgedrückt, den selbst die Abschaffung der ofliciellen Rangordnung nicht verwischen dürfte. In dieser Beziehung fallen die Wirkungen des Tschin so sehr in die Augen, dass es müssig wäre, sie weiter zu schildern: nur die mittelbaren Folgen zu bezeichnen, kann von Nutzen sein. Die Rangliste hat nicht zum einzigen Resultat gehabt, dass der gesammte Adel in einer engen Abhängigkeit erhalten wurde, er hat denselben auch von den andern Classen der Nation getrennt, hat ihn namentlich von dem Grundbesitz, der natürlichen Basis jedes dauernden Einflusses, entfernt. Der Staatsdienst vertrieb die Edolleute von den Landgütern, um sie in die Armee oder in die Verwaltung zu werfen, er drängte sie in die Städte und hielt ihren bessern Theil in den Hauptstädten fest, wo Rang und Bedeutung sich erwerben liessen. Der reiche Grundbesitzer überliess unter dem Zwange, sich einen Tschin zu erwerben, sein Gut ') Unter Alexander 11. wie unter Alexander III. ist davon die Rede gewesen, den Tschin und die Rangliste abzuschaffen. Wenn diese Massregel noch nicht angenommen ist, so liegt das zweifellos daran, dass man die einmal üblichen Formen nicht ändern will, und dass man fürchtet, in ausgedehnterem Masse den Beamten wiedererstatten zu müssen, was man ihnen nicht mehr in so leichter Weise durch Titel zuwenden könnte. Vielleicht — so heisst es würde eine solche Reform auch nur dem (Jünstüngswesen und Nepotismus zu gute kommen. Verwalten), die ihn oft durch ihre schlechte Amtsverwaltung oder Unredlichkeit zu Grunde richteten. So löste dieselbe Institution, welche die Dworänstwo an den Dienst band, sie vom Boden und Herde und trug zum grossen Theil zu ihrer Isolirung bei. Die Rangliste selbst beraubte den Adel, der ihr seine Existenz dankte, allen socialen Einflusses. Daher die Abneigung eines Theiles dieses vom Tschin ausgegangenen Allels selbst gegen einen Vater, der ihn immer in Vormunds! halt hielt und ihm Keine Emancipation gestattete. Nach der Gesetzgebung Peters des Grossen verlor eine Familie, die im Laufe zweier auf einander folgender Generationen dem Staatsdienst fernblieb, ihre Adelsrechte. Dieses Gesetz wurde von Peter III. abgeschafft und die Dworänstwo dieser Pflicht enthoben. Wenn die meisten Edelleute auch in den Dienst treten, so verlassen ihn viele doch sehr bald wieder. Nach wenigen Jahren einer in der Garde oder im Civildionste verleiden Jugend überlassen sich die Kdel-leute. die unabhängigen Vermögens sind, ungebunden dem Vergnügen nder dem Studium, der Ruhe oder der Arbeit, Daher Kann man heute in der Dworänstwo zwei Typen, zwei Berufsgattungen, zweierlei verschiedene Menschen erkennen und in Folge dessen zwei gleichzeitige und dabei einander entgegengesetzte geistige Strömungen. Da nioht jeder adlige Guisbesitzer mehr im Dienste bleibt, da nicht jeder Staatsdiener mehr zugleich mit dem Adel zu einem Gute gelaugt, so sind die beiden sociale)» Functionen, die früher vereinigt und mit der Dworänstwo eng verbunden waren, aus einander gefallen und — nachdem sie sich seit dem Mittelalter gegenseitig bedingt hatten — in einen mehr oder minder offenen Widerstreit getreten. Seitdem sie nicht mehr die beiden Erscheinungen, die beiden Seiten eines und desselben Menschen sind, seitdem sie sich gespalten, sind Grundbesitzer und Beamter, Pomesohtscmk und Tschninownifa nicht selten Rivalen geworden und eifersüchtig auf einander. Ilei dem Grossgrundbesitzer. der frei über Zeit und Vermögen verfügen kann, zeigen sich neue Bestrebungen, aristokratische Forderungen, die mit grösserer oder geringerer Bescheidenheit im Namen der Rechte, der Bildung und des Eigenthums formulirt sind und sich brüsten, auf die conservativen Bedürfnisse, auf das Interesse der socialen Ordnung und des Thrones sich zu stützen. Bei dem Beamten, den Vermögenslosigkeit in der Abhängigkeit des Dienstes erhält, bleibt der alte Geist des Tschins lebendig, und mitunter erheben sich — im Namen der Rechte, der Intelligenz und des persönlichen Verdienstes, auf Fortschrittsdrang, Staats- und Volkswohl als ihre Stützen pochend — Tendenzen der Gleichheit und mehr oder minder eingestandene Nivellirungsgelüste. Von diesen beiden Mensehcn-gattungen ist die erste natürlich mehr aristokratisch, aber zuweilen auch liberaler, die andere mehr demokratisch aller oft amli autoritärer. Die beiden Rivalen, der Pomesohtsohik und der Tschinownik sind jeder auf seinem Platze; sie repräsentiren und verkörpern zwei Richtungen, die in jeder Gesellschaft mit einander im Streite liegen. Der eine, der Grossgrundbesitzer, hat heule die Besorgnisse zu Verbündeten, welche die Schwäche und die Revolutionen des Westens erweckt haben; er hat die conservativen Befürchtungen und die geheime Gunst der Einflüsse bei Hofe für sich. Der andre, der Beamte, hat den Vorzug, die nationale Tradition besser zu repräsentiren und zugleich dem offenkundigsten Drange der modernen Civilisation zu gehorchen. Der Tschinownik wirft dem l'omeschtsehik vor, dass er aus aristokratischer Anmassung nicht genug dessen eingedenk bleibe, dass er selbst in der Regel seine Reedde, wie seine Güter dem Staatsdienste verdanke. Der russische Adtd, wie er geschichtlich geworden, ist in der Thal eine Art Januskopf mit Doppelgesicht, auf der einen Seile das Gesicht des Gutsbesitzers und Edelmanns, auf der andern das des Beamten und Bureaukraten, und beschaut er sich im Spiegel, so ist er versucht, das Gesicht da hinten zu vergessen. Eür einige russische Aristokraten ist der Bureaukrat der natürliche Gegner, der Erbfeind. Diesem, dem Tschinownikthum, personificirt in Nikolai Milutin, schreibt eine Masse von -system wäre der größte Theil des Bodens schon lange aus dem Besitz des Dworänstwo gekommen. Beweis hiefür ist die Ueberschuldung des Grundeigenthums vor dem Vollzug der Emancipation selbst. Im Jahre 1859 waren fast zwei Drittel von den adligen Gütern (ö"5 °/0) den Lombards oder Crcditinstituten verschuldet und das übrige Drittel oft noch mit Privathypotheken belastet. Hätte es zur Zeit der Leibeigenschaft in Russland ein zahlreiches und reiches Bürgerthum gegeben, so wäre der erste Stand im Reiche des besten Theiles seiner Güter verlustig geworden. Der Mangel an Concurrenz, die Seltenheit disponibler Capitalicn, die Arniuth der Bauern — selbst dies alles hat nicht vermocht, diejenigen Bändereien im Besitz des Adels zu lassen, welche die Emancipation ihm nicht auf gesetzgeberischem Wege nahm. Schon zeigt sich im Grundbesitz ein Eigenthumswechsel zu Ungunsten der Dworänstwo. Um dem Adel sein altes Monopol des Grundbesitzes zu erhalten, gäbe es nur ein Mittel, die Erhebung seiner Güter zu unveräusserlichen Majoraten. Das Mittel wäre sie her. und es haben sich Leute gefunden, die kühn genug waren, es vorzuschlagen;1! aber ein solches Verfahren der Cmwamllung in unbewegliches Gut, auf die Gesammthoit oder die Hauptmasse des persönlichen Eigenthums angewandt, würde nur die Missstände verallgemeinem, die von den Majoraten unzertrennlich sind und den Grundbesitz, den Reichthum und das Land lahmlegen. Privatleute können wohl der Versuchung nachgeben, ihren Namen und ihre Nachkommen über die Chancen der ('oiiourrenz zu erheben und vor dem Ruin schützen zu wollen, eine moderne Regierung aber wird nie im Stande sein, zu gestatten, dass das Grundeigenthum so für alle Zeit in den Händen einer Classe lixirt werde. Und doch kann in Russland, wie anderwärts nur das gesetzmässige und unaullösliehe Band des Majorats allein dem Adel den ausschliesslichen Besitz des Grund und Bodens erhalten. Nicht mehr geschützt gegen Amin; und gegen sich selbst durch die Unmöglichkeit, andern Ständen ihre Güter zu verkaufen, *) Schedo-Ferroti (Baron Birks) ,.Studien Über dieZukunft Kurlands. Der Adel." - Neuerdingt) haben andere Schriftsteller von ganz verschiedenen Stand« puneten aus zu gleichem Zwecke die Herabsetzung des gesetzlichen Census der Majorate gefordert, um diese aristokratische Institution dem kleinen Vermögen zugänglich zu machen, z. B. Lubanski, Juristische Monographiecn Bd. IV, pag. 13, 18, 1878 (russ.;. nicht durch das System der Erbnachfolge gedeckt, bleibt der russische Adel einer langsamen Expropriation zu Gunsten des Bürgerthums und der Bauern ausgesetzt, die von Jahr zu Jahr sich auf seine Kosten eines breiteren Antheils am Boden bemächtigen; mit dem Monopol des persönlichen Grundbesitzes wird er jeden besondern Charakter, jedes gesellschaftliche Uebergewicht und die wichtigste Bedingung seiner Existenz verlieren,1) Da die alten, einst der Dworänstwo verbürgten Privilegien eines nach dem andern fallen oder zu Eictionon sieh verflüchtigen, — was wird diesem Adel ohne Vorrechte übrig bleiben, um ihn von der Masse des Volkes zu unterscheiden? Sehr wenig, so wenig, dass man sich fragt, was diese Edellcute noch zu verlieren hätten, wenn der Adel überhaupt aufgehoben würde. Ohne ihn anzutasten, ohne Absieht ihn zu vermindern, ist der Adel allmälich durch die einfache Thatsache der Veränderungen, die sich um ihn her vollzogen, aller seiner Hechte entkleidet. Der Adel ist thatsächlich aufgehoben worden, ohne angegriffen zu werden, ja ohne dass seiner besonders Erwähnung geschah. Wenn er dennoch sich aufrecht erhält, so gleicht er nur einem Baume, an dessen Fusse der Boden aufgewühlt, dessen Wurzel aus Unachtsamkeit verletzt wurde, und der in der umgegrabenen Erde um sich her keinen Halt gegen den ersten stürmischen Windstoss finden könnte. Der Adel wird in Russland, wie in andern Ländern, schliesslich nur eine einfache Auszeichnung äusserlicher Ehre und ohne sociale Bedeutung wie ohne politische Macht, nur eine Auszeichnung der Eitelkeit werden, die um so weniger Werth haben kann, je allgemeiner sie sein und je weniger äussere Abzeichen zu ihrer Erkennung sie haben wird. Thatsächlich hat der Dworänin nur noch ein persönliches Vorrecht, das, leichter in den Dienst treten und in diesem rascher seine Carriere machen zu können.8) An diesen }) Noch ein umstand wirkt zur Minderung des Einflusses des Adels, die geringe Zahl von reichen Grundbesitzern, die auf ihren (Intern leben. Auch Schriftsteller aristokratischer Gesinnung, wie /.. II. der Fürst Mesehtseherski (zur Ueberfuhmng der Zeit lft7!>, russ.) haben, bei der Forderung der wichtigsten Localämter für den grundbesitzenden Adel, mit mehr oder weniger Nachdruck verlangen z,u können geglaubt, dass die Fdcllcutc verpflichtet würden, eine bestimmte Zeit des Jahres auf ihren Gütern zu verbringen. *) Mit diesem Privileg ist ein andres, ähnliches verbunden, das Kecbt seine Kinder in gewisse Lehrinstitute aufnehmen zu lassen, wie in das Alexander-l.yceum und das adlige Fräuleinstift von Smolna in St. Petersburg. Im .fahre 1880 wurde der Fintritt in das Alexander-Lyceuni, der l>is dabin nur dem alten Adel frei stand, der ganzen Dworänstwo geöffnet, d. b. allen Familien von Beamten in einem gewissen Range. letzton Vorzug wird sich vielleicht der Adel um so fester hängen, als alle andern ihm entschwinden. Ihrer Privilegien entkleidet und in ihrem Grundbesitz bedroht, wird die verarmte Dworänstwo vielleicht keine andere Zuflucht haben, als ihre ursprüngliche Wiege, den Staatsdienst und den Tschin. Aber auch auf diesem Gebiete werden diejenigen Vorrechte, die ihr Gesetz und Herkommen noch zugestehen, allmälich vor der Nivellirung der Cultur und den Forderungen der Gleichheit fallen. Im Dienste, wie überall anderswo wird der Adel statt der Rechte nur noch Gunstbezeigungen linden; er wird keine andern Vortheile sich bewahren, als diejenigen, die überall der Leistungsfähigkeit und den erworbenen Stellungen gebühren.1) Persönliche Privilegien, die dem Individuum oder der Familie anhaften, können wohl einen Adel bilden, doch nur gemeinsame Prärogative, die vom Stande der Adligen in geschlossenem Corps geübt werden, vermögen eine Aristokratie zu schallen. Von solchen Prärogativen besass die schwache Dworänstwo mehrere und zwar nicht-unwichtige. Sie waren freilich keim1 Erbschaft aus ferner Vergangenheit, noch ein hochgehaltener Rest alten nationalen Herkommens; sie waren nur eine Nachahmung des Auslands, die späte Copie eines veralteten Vorbildes. Das alte Russland, in dem die Staatsdiener keine andren Rechte besassen, als sie ihnen der Dienst verlieh, wusste von jenen nichts. Wie die persönlichen Privilegien, waren auch die cor-porativen Rechte der Dworänstwo von der Krone in Gnaden verliehen, freiwillig geschenkt worden. Noch Katharina II. schenkte, ergriffen von dem liberalen Geist am Ende des achtzehnten Jahrhunderts — zwischen dem amerikanischen Befreiungskriege und der französischen Revolution — dem russischen Adel neue Rechte und wies dieser, damals allein gebildeten, allein der Ausübung einiger politischer Rechte fähigen Classe einen wichtigen Theil an der Verwaltung und Rechtsprechung zu. Wenn es bis dahin auch Edelleute in Russland gegeben hatte, eine adlige Körperschaft war nicht vorhanden gewesen. Katharina schloss zuerst die Dworäne zu Gouvcrnementscorporationen zum Zweck eines administrativen Selfgovernment zusammen. Das war keineswegs eine vereinzelte Neuerung; was die Zarin für den Adel gethan, wiederholte sie in kurzen Zeiträumen für die andern Stände, ') Was in Russland überall auffallt, ist die grosse Zahl derselben Namen, denen man in allen offieiellen Stellen begegnet. Es giebt so etwa fünfzig oder hundert Familien, die eine Art buroaukratischer Oligarchie bilden, und deren Namen sich seit vielen .fahren fast auf jeder Seite der militärischen, diplomatischen, administrativen u. a. Jahrbücher finden. 1 >as ist übrigens nur eine natürliche Folge der absoluten Monarchie und der Herrschaft höfischer Einflüsse. namentlich für die Städte and das Bürgerthum. Sie bemühte sich die verschiedenen Theile des Volkes zu geschlossenen Gruppen und organisirten Körperschaften mit gleichem Geiste und gemeinsamen Interessen zu vereinen, um sie zur Theilnahme an den localen Angelegenheiten aufzurufen, Jeden in seiner Sphäre, nach der einzigen Weise, in welcher man damals die Theilnahme des Volkes an seiner Regierung auffasste, nach Classe, Stand und Corporation. Woran scheiderte dieser edle Versuch? Nicht allein an der Natur der autokratischen Gewalt, die unversehrt bleibt, auch wo sie sich zu berauben oder sich selbst Schranken zu setzen scheint, vielmehr vor Allem an der Unfähigkeit der verschiedenen Classen, des Adels wie des Bürgerthums, die ihnen ertheilten Rechte zu nutzen. Um aus jenen corporativen Privilegien Vortheil zu ziehen, war Eines unentbehrlich: der Corpsgeist, und seiner ermangelten alle Classen in gleicher Weise. In dieser Beziehung hat die Dworänstwo von der russischen Tradition und dem russischen Wesen keine Ausnahme gemacht, der rasirte Busse des achtzehnten Jahrhunderts unterschied sich hierin nicht von dem Drushinnik und Bojaren der alten Zeiten, Die geringen Resultate der Adelsversammlungen erklären sich aus derselben Thatsache, wie der geringe Erfolg der Kaufmannsgilden und der Handwerksinnungen. Nicht besser als das Bürgerthum und die Handwerker der Städte, verstand es der Adel, sich zu einem Corps zu constituiren, das im Instinct des Zusammenhalts und im Gefühl der Solidarität gemeinsame Rechte von gemeinsamen Gesiohtspunoten aus übt und durch Generationen hin ein festes, politisches und sociales Ziel verfolgt. Nicht besser, als jede andre Classe der Bevölkerung hat es der Adel verstanden, einen lebendigen Organismus zu bilden, der von einem traditionell selbständigen, allen Gliedern eigenen und zugleich vom Geiste der andern Classen unterschiedlichen Geiste erfüllt gewesen wäre. Dies konnte auf russischem Gebiete wohl bei dem polnischen Adel der westlichen Gouvernements oder beim deutschen Adel der Ostseeprovinzen gesohehn: — in Grossrussland, beim nationalen Adel nie und zu keiner Zeit. Der Kasten- und Classen-geist scheint so sehr der russischen Natur zu widerstreben, dass sie bisher auch dem Corpsgeist keinen Zulass gestatte! bat. Das Patent, eine Art Charte, die Katharina II. dem Adel gab, gestand diesem beträchtliche Rechte zu: das Recht sich in wiederkehrenden Versammlungen zu vereinigen, das Recht, jederzeit Petitionen an die Krone zu bringen, das Recht der Wahl der meisten localen Beamten und Richter. In jedem andern Lande hätten solche Prärogative zu einem Confiiot zwischen Krone und Adel geführt und zu einem Ausgangspu.net für eine aristokratische Verfassung gedient. Nichts hiervon in Bussland. Fast ein Jahrhundert lang hat sich der Adel jedes Gouvernements versammelt, hat er seine Präsidenten oder Marschälle (predvvoditeli) gewählt, Beamte und Gerichtspersonen ernannt, das Becht der Polizei geübt, ohne dass einer der Nachfolger Katharinens misstrauisch geworden und die absolute Gewalt je dadurch verletzt worden wäre. Die Dworänstwo übertrug weder eigene Bestrebungen noch traditionelle Anschauungen auf die Uebung dieser Rechte; die Beamten, die von den Edelleuten ernannt waren, handelten in den ihnen anvertrauten Aemtern nicht als Vertreter des Adels. Diese „IsprawnikV und alle derartige Verwaltungsbeamte und Richter personifioirten durchaus nicht den Geist einer Classe; sie betrachteten sich nieht als verantwortlich gegenüber ihren Wählern; nahmen sie auf einige von diesen besondere Rücksichten, so geschah das im Interesse einllussreioher Persönlichkeiten. Für die Centraigewalt waren diese gewählten Verwaltungsmänner ebenso gefüge Instrumente, ebenso eifrige Agenten, wie die direct von jener ernannten Beamten; hatte man gehofft, durch diese Institution den allzu grossen Einfluss der Burcaukratie zu beschränken, so erwies sich das als ein Irrthum. Eine solche Autonomie der Localverwaltung veränderte nichts in der Bureaukratie , noch in der Centralisation. Russland bietet hierin ein Heispiel dafür, dass Institutionen ohne Volkstümlichkeit wirkungslos, politische Formen und staatliche Freiheiten ohne communalen Sinn nichtig sind. Die Einsetzung von Versammlungen, in denen alle Classen der Nation vertreten sind, hat selbstverständlich den besonderen Versammlungen des Adels die Mehrzahl ihrer Privilegien genommen. Aber in diesen neuen Provinzialständen, in diesen Kreis- und Gou-vernementssemstwos hat der Adel in der Regel das Ucbergevvicht behalten. Wie wir sehen werden, steht dem Adelsmarschall das Recht des Präsidiums dieser Versammlungen der verschiedenen Stände zu; die Gutsbesitzer, die früheren Herren der Leibeigenen, haben in denselben durch ihre Zahl, wie durch ihre Stellung vorherrschenden Einfluss, Die Ausdehnung der allgemeinen Freiheiten hat zwar die unmittelbaren Privilegien der Dworänstwo gekürzt, aber zugleich das Gebiet ihrer Thätigkeit erweitert. Niemand bestreitet ihr den Namen der leitenden Classe, und zwanzig Jahr nach den Reformen, die sie ihrer alten Vorrechte beraubten, haben einige Rathgeber der Krone empfohlen, sie zu einer ausgedehnteren und vielleicht nachdrucks-volleren Aufgabe zu berufen. Nach dem Kriege von 1870 und der Pariser Commune haben die Befugnisse des Adels mit den Institutionen selbst sieb vermehrt; in der Mehrzahl der neugeschaffenen Einrichtungen ist ihm ein Platz offen gehalten. Die Regierung hat in zwiefachem Sinne an ihn appellirt, als an die gebildete und als an die conservative Classe. Alexander II. hat ihn 1874 feierlich aufgefordert, sieh zum Beschützer des Volksunterrichts zu machen, mehrere Ukase haben ihm den Versitz in den Wehrpllichtcomniissionen und den Gouvernementscommissionen für Bauernangelegenheiten zugesichert, Nach jedem der nihilistischen Attentate von 1878, 1879, 1880 und 18H1 hat der Zar sich feierlieh an die Mithülfe des Adels gewandt. Was wird sich aus den neuen Aemtern entwickeln, die dem Adel in der Person seiner Adelsmarschälle zugewiesen sind'/ Sind das wirkliche Vorrechte oder einfache Ehrenbezeigungen, die um so bedeutungsloser sind, als die Dworänstwo sich immer wenig geneigt oder wenig fähig gezeigt hat, ähnliche Hechte zu nutzen? Eines steht uns ausser Zweifel: die dem Adel zugestandenen Rechte werden den alten Charakter der Dworänstwo nicht umbilden können. Welche sie auch seien und wie sie auch vermehrt werden mögen, solche Privilegien werden nicht genügen, um den historischen (lang der russischen Gesellschaft auf andre Halm zu lenken. In dieser Beziehung ist jede Besorgnis« grundlos und jede lloflnung eine Illusion.1) Die Prüfung der Gegenwart und das Studium der Vergangenheit führen zu demselben Schlüsse. Ks giebt in Hussland eine Art von Adel, doch keine Aristokratie, und eine solche kann noch lange nicht sich bilden. Es giebt einen Adel, der in seinen alten Familien ebenso alt und erlaucht, der im Ganzen genommen ebenso eivilisirt, ebenso aufgeklärt ist, wie irgend ein Adel Buropas, einen Adel, dessen Thore am weitesten offen stehn, der von Vorurtheilen, Dünkel und Kastengeist der freieste, der aber zugleich der buntscheckigste und gemischteste ist, der aller Traditionen entbehrt und allen communalen Lehens wie allen Corpsgeistes bar ist. Dieser Dworänstwo ohne Homogenität und Zusammenhalt fehlen die guten Eigenschaften der Aristokratieen ebenso, wie die Mängel derselben. Ist das ein Unglück, ist es ein Glück? Gleichviel, es ist eine Thatsache, alles Andere hat nur spe- 1) Bemerkenswerth ist, dass eine namhafte Fraction im Adel nicht etwa die Erweiterung, sondern die Abschaffung der noch übrigen Privilegien verlangt. So verpflichteten in verschiedenen (iouvernementslandesversammhmgcn, namentlich in Twer und Nowgorod im Jahre 1880, Glieder des Adels die Delegirten ihres {Standes, Einsprache gegen das Gesotz zu erbeben, das den Vorsitz dieser Versammlungen den Adclsninrschällen zuweist. Wir werden im II. Hände dieses Werkes bei Besprechung der Landschaften oder Semstwo's hierauf zurückkommen müssen. culatives Interesse. Es giebt in Russland keine Aristokratie; doch trifit man dort, wie überall, Aristokraten nach Temperament, Lobens-gewobnheiten und Sitten und auch Aristokraten nach Gesinnung und (Jeberzeugung. Wie überall giebt es auch in Kussland Menschen, für welche die Rangordnung die einzige feste Grundlage der Gesellschaft ist, Man hört in gewissen Kreisen aussprechen, dass dem socialen Körper eine Aristokratie so nöthwendig sei, wie dem menschlichen Körper das Knochengerüst, dass es in jedem Volke bestimmte Stande und Stufen und feste Stellungen geben müsse, über welche die Zufälligkeiten des Vermögens und der Concurrenz keine Macht hätten. Man hört die Versicherung, dass für eine erbliche Monarchie eine erbliche, privilegirte Classe die beste Stütze sei. Dergleichen Reden sind immer sieher, in den Palästen und an den Holen und überall dort ein Echo zu linden, wo in Ermangelung einer wirklichen Aristokratie nur eine rein äusserliche des Rockes und der Manieren vorhanden ist, In allen jenen Behauptungen kann ein Theil Wahrheit liegen. Gewiss kann eine mächtige privilegirte Classe, wo sie noch besteht, ein Element der Stabilität sein; aber um einer Gesellschaft zum Gebälk und Knochengerüst zu dienen, muss eine Aristokratie in sich selber, in ihrer Verfassung und in ihren Traditionen ihre Kraft haben. Kein Staat noch Thron könnte sich auf Stützen Lehnen, die all ihre Kraft nur aus der Gunst des Thrones selbst oder aus den Gesetzen des Staates ziehn. Die Leute, die in Hussland den Adel als die natürliche Stütze der Monarchie vertreten wollen, begehen überdies einen eigenthüm-lichen Fehler: sie täuschen sich über die Natur der souveränen Gewalt und zugleich über den Charakter des Adels in ihrer Heimath. Zwischen der Dworänstwo und dem Zarenthum hat es nie ein anderes Hand, als das des Dienstes, nie eine engere Beziehung und Verwandtschaft gegeben, wie anderswo zwischen dem Souverän und dem Adel. Die Theorie oder Fiction von dem Könige als dem ersten Edelmann des Königreichs steht den Sitten und Traditionen der Hussen durchaus fern. Der Zar gehört buchstäblich zu keinem Stande im Reich; er ist nicht Edelmann noch Bürger, nicht Städter noch Landmann. Die Autokratie hat sich immer ausserhalb und über allen Classen gehalten; darin liegt ein historisches Motiv ihrer Macht und ihrer Volkstümlichkeit; sie könnte von dieser Höhe nicht hinabsteigen, ohne an ihrer traditionellen Mission Abbruch zu erleiden und sich selber zu schwächen. Eine Aristokratie ist kein Gebäude, das nach Gutdünken auf einem betsimmten Platz und nach einem gegebenem Plane errichtet worden kann, die Natur selbst muss für sie die Stelle heslimml und das Material bereitet haben. Dieses Material müssen die russischen Aristokraten im Grossgrundbositz, in der Dworänstwo suchen, die aber in ihrer Gesanimtheit durchaus für solche Verwendung unbrauchbar erscheint. Unter der Regierung Alexanders Tl. haben mitten unter allen damaligen Umgestaltungen die politischen Baumeister alle möglichen Pläne zum socialen Dan oder zu seiner Wiederherstellung vorgelegt, Einige von diesen Plänen und Voranschlägen sind sehr sinnreich und nehmen sich auf dem Papier ganz trefflich aus: wir werden mehreren von ihnen hei der Betrachtung der Verwaltung und der localen Institutionen im Reiche wiederbegegnen, Leider ist aber der sociale Zustand unabhänig von den Coinbinationen am Schreibtisch, wie gross auch deren Scharfsinn, unabhängig von den Regierungen, wie gross immer ihre Autorität sei. Die politischen Berechnungen und selbst die Vernunft haben wenig (lewalt über ihn; er ist ganz und gar dem Nationalcharakter und dem Geiste des Jahrhunderts unterthan. Nun widerstreben aber in Russland Sitten, Traditionen, Volks-instinet offenkundig der Wiederherstellung einer erblichen, privilegirten Classe. Hiervon legt die russische Literatur Zeugniss ab, wenn sie selbst auch fast ausschliesslich das Werk von Adligen, für Adlige von Adligen geschrieben ist. In diesem Puncto fasst eine Fabel von Krylow in nicht gerade ehrerbietiger Weise das Xationalgefühl zusammen. Cause, die ein Dauer zum Markte führt, beklagen sieh über rücksichtslose Behandlung und berufen sich darauf, dass ihre Vorfahren doch das ('apitol gerettet hätten. „Und ihr — was habt ihr gethan?" fragt ein Vorübergehender. „Wir? nichts, aber unsre Vorfahren —" — „Wohlan, meine Lieben, ihr taugt nur zum Braten.'* — Das Alter eines Geschlechts imponirt dem positiven und realistischen Sinn des Russen wenig. Da er trotz aller Classeneintheihmgen von jedem Kastengeist frei geblieben ist, hat er den instinetiven Respect vor der hohen Geburt nicht, von dem Engländer und Deutsche oft durchdrungen sind. Die Vertreter der Rangordnung begehen in Russland thatsächlich denselben Fehler, wie ihre Gegner, die Vertreter der radicalen Ideen. Aristokraten wie Demagogen ahmen nur, ohne es selbst zu wissen, dem Westen nach. Die einen wie die andern wollen nur ihr Vaterland nach ausländischem Muster kleiden. Der grosse Unterschied ist aber, dass die conservativen Aristokraten ein Muster gewählt haben, das sich am wenigsten den nationalen Sitten anpassen lässt und am meisten gegen die neuen Bestrebungen der Civilisation verstösst Wenn es leicht ist, in den alten englischen und preussischen Institutionen die eine oder andere conservative Garantie zu finden, so ist es doch schwer, für sein Vaterland Das andern Staaten zu entnehmen, was Natur und Geschichte demselben versagt haben. Mit den socialen Formen ist es, wie mit dem Boden und der Configuration des Landes selbst. Ihre flachen Steppen im Süden oder ihre Torfwälder im Xorden durchwandernd, mögen die Russen wohl sich sagen, dass hohe Hügel den Gütern Mannigfaltigkeit und der Landschaft Reiz verleihen, dass schneebedeckte Bergketten Wasserreservoire und Schutz vor den Winden bieten würden. Sie mögen wohl auch die Schönheiten und Vorzüge wechselvollerer, bergigerer Gegenden vermissen, wenn die ausgedehnten Ebenen auch ihre eigene Poesie wie ihren Reichthum besitzen. Aber auf diesem flachen Boden fällt es Niemandem ein, Hügel aufzuführen oder Berge zu häufen. Dies ist indess die An-niassung der Leute, die in einer .Jahrhunderte lang der Privilegien baren und nivellirten Gesellschaft wieder steile Höhen zu setzen oder unüberschreithare Gräben zu höhlen, herrsehende Classen zu erheben und Privilegien und Prärogative wieder aufzurichten sich erkühnen. Das Land des Tschin hat wenig Relief, es ist flach vom socialen wie vom topographischen Gesiohtspunct aus; vergebliche und unnütze Mühe, dort an der Schaffung oder Wiederherstellung von Unebenheiten und schroffen Erhöhungen arbeiten zu wollen, welche der natürliche Lauf der Dinge fortwischt. In dieser Beziehung ist die Aehnlichkeit zwischen Russland und Frankreich grösser, als es scheinen mag; in beiden Ländern ist die conservative Basis nicht in Classenprivilegien und künstlichen Coinbinationen, sondern in der Grundschicht der Nation selbst zu suchen. In Russland aber, wo die Gleichheit weniger in den Sitten und in der Cultur, als im nationalen Instinct und in der Logik der Thatsaehen begründet ist, in Russland, wo die alten socialen Einrichtungen äusser-lich bestehen geblieben sind, ist die Illusion der aristokratischen Träumereien eher zu entschuldigen und weniger gefährlich. Siebentes Buch. Der Bauer und die Aufhebung der Leibeigenschaft. Erstes Kapitel. Die russische Literatur und die Apotheose des Mushiks. - Verschiedene Classen von Bauern. — Ursprung und Ursachen der Leiheigenschaft. — Die Frohne und der Obrok. — Lage der Bauern vor der Kmnncipntinn. — Napoleon III. als Befreier der Leibeigenen. Ein Pariser Theater hat vor Kurzem ein französisches Stück, eine Schilderung russischer Sitten von einem russischen Verfasser, aufgeführt, ein originelles, nicht recht vollendetes Stück, das vom französischen Publicum — vielleicht ohne recht verstanden zu sein,— günstig aufgenommen wurde: ich meine „Les Danichef.l) Diese Komödie oder vielmehr dieses Drama, das die russische Gesellschaft vor der Aufhebung der Leibeigenschaft schildert, hat einen Dauer zum Helden und — dürfte man sagen — die sittliche Heberlegon-heit des Mushiks zum Gegenstand. Der selbstgefällige und frivole Adel, die abhängige und furchtsame Geistlichkeit, der reich gewordene und servile Kaufmann spielen vor dem .Manne des Volks, dem frühern Leibeigenen Ossip, traurige Figuren. „Dieser Mann ist. gross, dieser Mann ist mehr Werth, als wir", sagt der junge Graf Danischew von diesem Freigelassenen. Dieses Wort bezeichnet die Tendenz des Stückes. Sie ist — vielleicht unbewusst — die Apotheose des Mannes •) Das Stück, dessen Autor den Namen Ncwski sicli gegeben, ist bekanntlich von Alex. Dumas für die Huhne arrangirt worden. Leroy-Boaulicu, Reich d. Zaren 11, il. Rubhoh. 21 aus dem Volke auf Kosten der durch Geburt privilegirten Classen der Bildung und des Vermögens. Von diesem Gesichtspunet aus gehört die Komödie des Odeon, obgleich sie für Franzosen und in französischer Sprache geschrieben worden, doch ganz der zeitgenössischen russischen Literatur an. Nach dem Ausdruck eines Humoristen „riecht die heutige russische Literatur nach dem Bauer"; *) der Bauer ist ihr Held und ist das bereits seit bald dreissig'Jahren. Im ersten Augenblick scheint das eine seltsame Anomalie, näher betrachtet, erklärt es sieh leicht. In einem vorwiegend Ackerbau treibenden Lande, wie es Hussland noch ist, bilden die Bauern die wichtigste, wie die zahlreichste Classe der Nation. Mehr als irgend anderswo liegt das nationale Fundament in dem Bewohner des flachen Landes. Der verhülfniss-mässigen Bedeutungslosigkeit der Städte und der städtischen Bevölkerungen gegenüber erscheint der Bauer allein als das Volk. Diese Meiisohenelasse, die in Hussland einen so breiten Daum einnimmt, ist lange von einer hohem, nach fremdländischen Sitten und Ideen gemodelten Classe missachtet und missverstanden worden. Die Reaction des Nalionalgefühls gegen den oberflächlichen Kosmopolitismus des achtzehnten .Jahrhunderts, die Wiedererhebung der Nationalität in Kunst, Literatur, Politik mussten natürlich vor Allem dem Bauer zu gute kommen, der der Russe pur exeellenee war. Dieses Volk der Aecker, dieses Volk von Leibeigenen, das so lange Gegenstand geringschätziger und harter Behandlung seitens aller über ihm Stehenden gewesen war, wurde plötzlich in seinen Sitten und Gewohnheiten, in seinen Liedern und seinem Volksglauben einem Studium unterworfen. Die Hussen, die in den höhern Classen nur blasse Reflexe und glatte Copieen des Auslandes landen, fühlten sich plötzlieh glücklich, im Landvolke eine Originalität, einen Charakter, eine Persönlichkeit für sieh entdecken zu können. In der Freude, sich endlich unter den geborgten Kleidern wiedergefunden zu haben, begann Hussland in dem ungebildetsten seiner Söhne, in dem legitimsten Vertreter seiner Nationalität, in dem Hauer, sich selber zu bewundern. So wurde für einen grossen Theil der raffinirten Gesellschaft der kaum entlassene Leibeigene, der unwissende, grobe, schmutzige Dörfler ein Gegenstand der Liebe und des Enthusiasmus, des Respeets und der Verehrung. Der Mushik, der echte Russe, der eben noch keines Blickes würdig erachtet worden, sah sich plötzlich auf den Altar gehoben, und der ä) Saltykow (Scbtschedrin) unter dem Pseudonym Nemo: „Vaterländische Annalen", August 1879 (mss.j. Cultus, den ihm seine frühem Verächter erwiesen, hielt sich nicht immer von Uebcrtreibung und Abgötterei frei. Auch die Mode blieb natürlich den Krfnlgen dieser masslosen Verehrung nicht fern, die neben ihren Bekennern auch ihre Heuchler hatte. In diesem SOTXSl so realistischen Laude standen unter den übereifrigsten Sectirern und unter den unduldsamsten Priestern des neuen Glaubens Männer die sich sonst durchaus ungläubig und skeptisch zu verhalten pflegten. Wie andre Religionen, ging auch diese oft nicht über den Hereich der Idee und der Phantasie hinaus, und der Götze selbst hätte noch in der Wirklichkeit hauIig genug Grund gehabt, sich über die Rücksichtslosigkeit seiner glühendsten Anbeter zu beklagen. Diese Art Cultus in umgekehrter Linie — von dem Oben der Gesellschaft gegen das Unten, — diese Apotheose des Mushiks, des Bauernlümmels und Flegels, erklär! sich ebensowohl aus Gründen, die Hussland oigenthümlich sind, wie aus solchen, die ans dem socialen Zustand Europas stammen. Wie in Frankreich vor der Revolution, predigen Hussen in grosser Zahl, dass nur in der Umkehr zum einfachen Leben des Volkes, nur an den Quellen der Rechtschaffenheit und der Tugenden des Volkes die höhern Classen der Gesellschaft wieder die sittliche Kraft und Gesundheit schöpfen, nur dort sieh von der Verderbniss reinigen können, mit der sie die Berührung mit dem Westen inlicirl hat '). Die patriotischen Verbreiter dieser Ideen bemerken nicht, dass sie unbewusst, auf Rechnung ihres Landes, nur eine der alten Thesen unseres achtzehnten Jahrhunderts aufnehmen, dass sie nur zurückkehren zu den Lehren Uousseau's und zu dem naiven Cultus des Naturmenschen. In Hussland entspringen derartige Neigungen ZU gleicher Zeit einer geheimen Entmuthigung, einer unfreiwilligen Demüthigung der gebildeten Classen und einem grossen Nationalstolz, einem blinden Glauben an die angeborene Energie und an die Zukunft des Volkes. Männer, welche, der Nachahmung des Ausländischen müde, fühlen, dass sie seit lange kaum die Werke Anderer sich ganz zu eigen machen konnten, Männer, welche Bich in ihr eigenes Unvermögen ergeben haben und um so ehrgeiziger aul ihr Vaterland schauen, *) Einer der hervorragendsten ßomanschreiher Kusshinds, Dostojewski, drückt»1 sieb in seinem „Tagebuch eines Schriftstellers" (Febr. 1K7(i, russ.) folgender -iilassen aus: Wer von uns beiden taugt mehr, das Volk oder wir'.' Ist es wünschens-werlh, dass das Volk an uns ein Beispiel nehme, oder wir an (hau Volke? Ich muss in voller Aufrichtigkeit sagen: wir sind es, die uns vor diesem beugen, von ihm (iedaiiken und Form nehmen, seine Wahrheit erkennen und verehren müssen.'' sind durch Uoberdruss und Aorger, nicht mehr haben leisten zu können, dahin gelangt, dass sie leiern, was in Russland rein von jeder Berührung von aussen geblieben ist, was seine Kraft noch nicht erprobt hat, was noch neu, urwüchsig, intact ist, mit einem Worte: das Volksthum. Daher jene Anbetung des uncultivirten Menschen seitens des cultivirten, diese Kniebeugungen der gebildeten und geschulten Leute vor dem Armäk und Tulup, vor dem Schafpelz des Dauern. „Wir übrigen, wir Civilisirten, wir sind nur Lappen, aber das Volk, 0, das Volk ist gross!" So lässt Turgenjew eine seiner Figuren in „Rauch" ausrufen. Ueberruscht von der verhältnissmässigen Unfruchtbarkeit der leitenden Classen wenden diese Söhne der westliehen CiVilisation dieser enttäuscht den Kücken und kehren zum Mushik zurück. Mit freudiger Bewunderung blicken sie auf das noch stumme und gleichsam in den Windeln liegende russische Volk, das die weiteste Heimstätte der Menschheit bewohnt und an Zahl bereits jede andre christliche Nation der Erdkugel übertrifft. Vor dieser geschlossenen Masse von 50 bis 60 Millionen Dauern ergeben sich die Fat rieten Träumereien, wie eine Mutter oder Amme vor einer Wiege sie haben mag; sie träumen für dieses noch kindliche, rohe, analphabote Volk von einer geistigen Grösse, von einer moralischen Bedeutung, die seiner Masse und der Ausdehnung seines Reiches entspricht1). Dieses Volk von Dauern ist wie ein riesenhaftes, noch geschlossenes Ei, man weiss nicht, was daraus hervorgehen wird, aber unwillkürlich erwartet man etwas Grussos, weil, der Fabel zum Trotz, es doch scheint, als müsse ein Berg Anderes gebären, als eine Maus. Man begreift den instinetiven Respect, die religiöse Verehrung eines Russen vor dieser geheimnissvollen Brütung, von der all die Geschicke seines Vater-Landes abhängen. Die. Russen erwarten mit Vorliebe vom Mushik eine neue Initiative, eine politische oder sociale Erhebung, eine Wiedergeburt Kuropas und der Menschheit. Um so freier können Wahrsager und Propheten, welohe die Grösse dieser Sphinx verkünden, voraussagen, was sie sagen werde, da sie noch den Mund nicht geöffnet hat und vom Schlafe nicht erwacht ist. Sicher können so kühne Hoffnungen nicht ohne Täuschungen sein. Doch bleibt es ein Mysterium, ein *) „Man hat nur eine Weltkarte zu betrachten, um mit beiligem Respect vor den künftigen Bestimmungen Russlands erfüllt zu werden" schrillt vor ls:'.1 Nadeslidin: „Konnte die Weisheit des Schöpfers einen solchen ColOM ohne /weck errichten'."' (Fragmenl des „Teleskop", citirl von l'vpin. „Forschungen über das russische Volksthutn". Europ. Bote, Juni 1882 (russ.). interessantes Geheimniss der Civilisation, und man darf dem Patriotismus verzeihen, der über dem Gedanken daran seine Vernunft ein wenig in die Irre schweifen lässt. Für einen Theil der gebildeten ('lassen ist so der .Mann des Volkes eine unbewusste Gottheit, Jonen kindlichen, embr\onenliaflen Göttern Aegyptens gleich, deren göttliche Krall bereits besteht, ohne noch je in Thätigkoit gewesen zu sein, deren geheime Macht angebetet wird, noch ehe sie jemals sich äusserlicb hätte zeigen können. Für eine andre Schule ist der Mann des Volkes, der Bauer, nur eine stumpfe Masse, ein menschlicher Erstell', ein Lehmkloss ohne andre Form, als diejenige, die ihm die hohem Classen geben1). Ks wäre unnütz, zu zeigen, was diese beiden Gesichtspunote bei all ihrem Widerspruch Gemeinsames, und was jeder von ihnen an Uebertreibung in sieh hat. Wenn sich die Literatur in Kussland ganz besonders dem Volke genähert hat. so hat sie das nur allzuoft mit vorgefassten Meinungen gethan und nur das in demselben gesucht, was sie in ihm linden wollte. Die Einen glaubten in den geheimen Tiden des Volksgeistes verborgene Kralle zu linden, die sie (ler Unfruchtbarkeit der hohem Classen mit ihrer fremdländischen Cultur entgegensetzten; Andere haben mit, grösserem Mochmuth und grösserer Oberflächlichkeit in der Seide des Volkes nur Finsterniss und Barbarei, nur Leere und Nichts gesehen. In dem praktischen Loben begegnen sich in Beziehung auf den Dauer dieselben verschiedenen Anschauungen, dieselben Widersprüche wie in der literarischen Welt. „Was haben Sie nÖthig, sich für unsern Mushik zu interessiren?" fragte mich eine Dame von der untern Wolga: „Das ist ein unvernünftiges Thier, aus dem niemals ein Mensch wird". End an demselben Tage, auf demselben Schiff sagte mir ein Gutsbesitzer mit gleicher Sicherheit: ..Der Dauer ist der intelligenteste in Kuropa. er ist meiner Meinung nach der norditalienische contadino, doch bietet unser Mushik diesem die Spitze." So könnte man von dem russischen Dauer, den die Einen erheben, die Andern niederreissen, sagen, was Pascal vom Menschen sagt: „Ni si haut, ni si bas". *) Fadejcw: „Was sollen wir sein? Die russische Gesellschaft1 in Gegenwart und Zukunft", So drückte sich einer der hervorragendsten Vertreter der aristokratischen Richtung, General Fadejcw, aus. Im (legensalz zu den höheren Classen, zu dem Adel, den er die cultivirte Schicht zu nennen pflegt, bezeichnet der geistreiche Schriftsteller gewöhnlich das Volk mit dem Namen der Kiemen tar-kraü (stichinaja sila) oder der plastischen Materie, des Protoplasma; diese Kle-mentarkral't betrachtet er als in allen Ländern sich ähnlich, überall eigenen tes bar, überall zu eigener Entwicklung unfähig. Dass der Mushik intelligent ist, steht ausser jedem Zweifel, seine Lühredner kommen wohl der Wahrheit näher, als seine Tadler. Aber diese Intelligenz ist durch die Geschichte gehemmt und gleichsam geknebelt worden. In den russischen Volkssagen kommt ein Diese von wunderbarer Kraft, eine Art bäuerlichen Herkules oder Simson vor, mit Namen Ilja von Murom, der oft als eine Persunilicatinn des Volks und des Bauernstandes aufgefasst worden ist1;. Dieser volks-th ihn liehe ColoSS hat seit lange weder seine Kraft noch seinen Genius zeigen können. Ilja von Murom war in Leibeigenschaft gerathon; er war bis zu den letzten Jahren an die Scholle gefesselt und konnte nicht frei sich bewegen noch handeln. Jetzt, wo die Emancipation seine Bande gelöst hat, kann der Riese sich wieder bewegen, aber so lange von Ketten belastet, hat er den freien Gebrauch seiner Glieder noch nicht wiedergewonnen und das Bewusstsein seiner Kraft nicht mehr. Erst nach Jahren der Freiheit, vielleicht nach Generationen wird dieses geknechtete Volk wieder sich selbst erkennen und zeigen, was die Zukunft von ihm erwarten kann. Von Jahrhunderte langer Knechtschaft gebeugt, hat der Bauer sich nicht sogleich wieder aufrichten können; der Freigelassene von heute verräth noch den Leibeigenen von gestern. Die Emancipation war für Russland ein gewaltiges Eroigniss, ein Eroigniss ohne Yorgieichungspunct in der Geschichte derjenigen Völker, in welchen die Leibeigenschaft allmälich aufgehoben wurde. Die Emancipation war der Ausgangspunct einer Menge von Veränderungen und Reformen auf dem ganzen Gebiete des Volkslebens; aber in wenigen Jahren konnte diese grosse Revolution nicht all ihre Früchte zeitigen. Dies war um so weniger möglich, als jenes weitgreifende Werk der Befreiung in Wirklichkeit noch nicht vollendet ist. Es ist erst auf dem Wege der Verwirklichung und wird erst in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts ganz vollendet sein. Bis dahin ist das Studium des freien Bauern unzertrennlich von dem Studium der Leibeigenschaft und den Bedingungen der Freigebung selbst. Die von Kaiser Alexander IL vollzogene Emancipation ist nur etwa der Hälfte aller Bauern im Reiche zu Gute gekommen. Die sogenannten Kronsbauern, weil sie auf den Staatsdomänen angesiedelt waren, galten schon für frei, obgleich auch sie an die Scholle gebunden waren und als Leibeigene des Zaren oder des Staates betrachtet werden konnten. Die ganze Masse der russischen Bauern zerfiel so •) S. „Songs oft he Russiau Peonlc" von Ralston und „La Russie opicpio" von A, Raiubaud, in zwei an Zahl fast gleiche Classen, die auch nach der Kmancipatioii getrennt blichen. Von der eitlen Seite die Krüns- oder freien Bauern, von der andern die Privatbauern oder Leibeigenen, die jetzt freigegeben sind. Zwischen diese beiden Hauptclassen trat eine dritte, in gewisser Beziehung vermittelnde, die Bauern der Apanagen oder der für die Dotirung der Glieder des kaiserlichen Hauses reservirten Güter1). Diese lange in verschiedene Gruppen gel heilten Bauern genossen ursprünglich gleiche Freiheit und gleiche Rechte. Mehr als im Westen war vielleicht in Russland für den Ackerbauer Freiheit die ursprüngliche Bedingung. Die Schollenpllichtigkeit ist erst sehr spät eingeführt worden, aber allmälich immer schwerer geworden, bis sie zu einer Art Sclaverei ausartete. Erst am Ende des sechzehnten Jahrhunderts» wo die Bande der Leibeigensehaft in dem grösseren Theile Kuropas lielen oder gelockert wurden, knüpften sie sich in Russland. In dem alten Russland gab es Sclaven (oholopüi, rabüi), in der Regel Kriegsgefangene, zahlungsunfähige Schuldner oder Leute, die sich aus Noth selbst einem Herrn verkauft hatten. Ihre Zahl war gering; die Masse der Bauern galt für frei. Nichtsdestoweniger befanden sieh schon früh die Ackerleute den Kriegern und der Drushina gegenüber in untergeordneter und missachteter Stellung. Die ersten wurden kleine Männer, Männchen, Mushiki oder auch Halbleute, Poluludi, genannt, im Gegensatz zu den Kriegern, den Gliedern der Drushina, denen der Titel Männer, Mushi oder Vollleute, Polnoludi, vorbehalten blieb. So ist es der geringschätzige Sinn des Diminutivs, der noch jetzt im Volke auf den Bauer, den Mushik, also den kleinen Mann (homunculus) angewandt wird. In Moskowien wurde diese Be- ') Die Zahleuvcrhältnisse der drei ('lassen von Bauern waren vorder Fmanci-palion in dem europäischen Hussland, im Kaukasus, in Polen und Finnland folgende: im Ganzen Leibeigene beiderlei (ieschlechts ^2'/j Millionen, Krons-bauern 2"J .Millionen und darüber, wenn gewisse Nebengruppen von freien Bauern, wie die Colonisten ausländischen Ursprungs inbegriffen werden —endlich Apanagenbauern etwa 2 Millionen. Zu derselben Zeit gab es auf 100 Einwohner des eigentlichen Russlands '5K,1 Privatbauern, 87,2 freie Bauern und .'5,1 Apanageii-bauern (Troinitzki, Die leibeigene Bevölkerung Russlands nach der 10. Revision. St. Beters 1 hol;- 1NI>1, russ.). Einige Jahre früher war das Verhältnis« ungünstiger. 1838 betrug die Zahl der Leibeigenen noch I 1" „ der (icsanimtlievülkorung. Die relative Zitier der Leibeigenen nahm also ab in Folge der persönlichen Frei-gebung, des Militärdienstes, welcher die Soldaten freimachte, der zu Gunsten des Staats hypolhekisirten Güter, welche bei Nichtzahlung der Zinsen zu Kronsgütern wurden. So hätte die Leibeigenschaft auch ohne formelle Aufhebung, wenn sie sich selbst überlassen geblieben wäre, im Laufe einiger Jahrhunderte erlöschen können. Zeichnung den Bewohnern der Städte, wie denen des flachen Landes, den Kauf Inden wie den Dorfbewohnern zu Theil. Von der Zeit vor der Leibeigenschaft her hatten die Mushiki oder kleinen Leute die Hauptaufgabe, die Männer, die mushi, zu erhalten, für sie das Land zu bebauen, das der Herrscher seinen Dienern zum Lohn oder Unterhalt zugewiesen hatte. Die Mushiks oder „schwarzen Leute", wie sie auch genannt, wurden (tscliernüje ludi) waren jedoch damals weder an die Person des Herrn, dem sie dienten, noch an den Boden, den sie bebauten, gebunden. Wie die Glieder der Drushina und die Bojaren nach eigener Wahl von einem Knäsen zum andern übergehen konnten, so konnten auch die Bauern den Herrn, das Land und den Ort wechseln. Ks besassen also die „schwarzen Leute", ganz wie die Krieger und Drushiniks, das Recht des freien Dienstes mit dem Rechte der Freizügigkeit, und wie der Bojar, verlor der Mushik das erstere dieser Rechte, als er das zweite \erlor, in dem die Bürgschaft für jenes lag1). Das Recht der Freizügigkeil von einem Gut zum andern übten die Bauern von Moskowien in der Kegel unter den letzten Nachkommen Kuriks einmal jährlich, und zwar zu Knde des landwirtschaftlichen Jahres, am 26. November ( ? 23. April d. Febers.), dem St. Georgstage, oder vielmehr in der Woche, die diesem Koste vorausging und in der, welche ihm folgte. Vor der Kinfübrung der Leibeigenschaft, als die Arbeitshände schon sehr gesucht waren, soll nach der Tradition der Pomeschtsohik oder Gutsbesitzer, der seine Bauern zurückhalten wollte, die uralte Liebe des Mushiks zum Getränk benutzt und seine . Zinsler während der 14 Tage, da sie frei über sich verfugen konnten, in steter Trunkenheit erhalten haben. Allmälich wurde der Bauer weniger im Interesse der Gutsbesitzer, als in dem des Staats des Rechts beraubt, seinem Herrn zu kündigen, aber nachdem dies geschehen, verlor er doch die Erinnerung daran nicht. Auch heute noch nach drei Jahrhunderten der Leibeigenschaft hat der Mushik das Fest nicht vergessen, das ihm seine Freiheit gab, der St. Georgstag hat im Volke sprichwörtlich die Bedeutung von getäuschter Hoffnung erlangt. Um den Bauer an die Scholle zu fesseln genügte es, ihm das Hecht des Guts- und Wohnungswechsels auf St. Georg zu nehmen. Dieses Verbot, das zuerst nur für eine gewisse Zeit gegeben, dann 3) Belajew, Die Bauern in Russland (russ.); Wassilschtschikow, der (iuls-be&itz und die Landwirtschaft. Bd. I, Kap. VI, (russ.); Tschitschcrin; Essays über die Geschichte des Rechts Kap. I. (russ.) erneuert und von mehreren Herrschen bestätigt wurde, gelangte schliesslich dazu, eines der Fundamentalgesetze des Staates zu sein. Die wichtigste Institution. Russlands in den letzten Jahrhunderten ging offenbar von einer einfachen Polizeimassregel aus. Die wichtigste Thntsaohe in der (Ieschichte des Volkes vollzog sich gleichsam unbemerkt in den nationalen Annalen. Die Leibeigenschaft setzte sich fest, wie sie anderwärts verschwand, fast unsichtbar und ohne dass die Zeitgenossen sich darüber wunderten, Das geschah am Ende des sechzehnten Jahrhunderts, mitten in den grossen Kriegen gegen die Litthauer und den deutschen Orden. Die Staatsdiener, die von dem Landesherrn mit Gütern versehen waren, beklagten sich über die Unzureiehcnheil ihrer Unterhaltsmittel. Arbeitsbände waren selten und theuer in einem Lande, wo es einen weiten Ackergrund und eine dünne Bevölkerung gab. Die Besitzer der Güter, die Pomesehtschiks, machten sich gegenseitig die Arbeitskräfte der Bauern streitig; die kleineren beschuldigten die grossen, ihnen alle Arbeiter zu entziehen. Kin solcher Zustand gefährdete die Streitmacht Moskowiens in dem kritischsten Augenblick seiner Geschichte'). Gleichzeitig drohte dem damals nicht weniger primitiven Finanzsystem des Reichs durch die zahlreichen Wechsel, Wanderungen und Landstreichereien der steuerpflichtigen laute Gefahr. Es war zur Zeit, WO das moskowitische Deich •— neuerdings auf Kosten der Tataren ausgedehnt — den Bebauern der undankbaren nördlichen Regionen die fruchtbareren Landstriche des Südens üllneto: es war zur Zeit, WO die Abenteuerlustigen, um sich der Steuer zu entziehen und ein freies Kosakenleben zu führen, nach der Wolga und dein Don, muh der Kama und Sibirien hin lliichtefen. Der Mann entzog sieh dem Fiscus. indem er sich den Gutsbesitzern entzog. Um dem Lande regelmässige finanzielle und militärische Quellen zu sichern, war es am einfachsten, die Menschen an den Buden zu binden, den Bauer ans Land, das er baute, den Bürger an die Stadt, die er bewohnte. Dies geschah durch Boris Godunow und die Zaren des siebzehnten Jahrhunderts. Von damals bis zur Regierung Alexanders II. blieb der Mushik an die Scholle gebunden, „fest gemacht" (prikreplenüi), denn das bedeutet eigentlich das russische Wort, das hier mit „leibeigen" übersetzt wird. Die russische Leibeigenschaft hatte keinen andern Anfang; sie ging aus dem Verwaltungssystem und den ökonomischen Bedingungen, ja aus den physischen Bedingungen Moskowiens hervor, das von den letzten Fürsten des Hauses Rurik wesentlich •) Solowiew, Gesch. Russlands. Bd. XIII, p. 47—48 (russ.). vergrössert war und nun vor der Gefahr stand, seine dünne Bevölkerung auseinanderfüessen und sieh in der Steppe verlieren zu sehen, wie Wasser in dem Wüstensand. In diesem (istliehen Europa, dem Lande der Holzhütten, die fast so leicht zu Iransportiren und wieder aufzuschlagen sind, wie das Zelt oder die gurbi des Arabers, fühlt der Mensch wenig Anhänglichkeit an den Boden und wenig Neigung zum Ackerbau. Drei Jahrhunderte der Leibeigenschaft haben diesen Hang zum Nomadenleben und zum Umherschweifen, den die langen Flüsse und die endlosen Ebenen nur fördern, nicht ganz verwischen können. Die Leibeigenschaft, die den Menschen an den Boden band, kann als eine staatliche Reaction gegen diese abenteuerlichen Gelüste betrachtet werden, die, den kräftigsten und thtitigsten Theil des russischen Volkes nach den äussorsten Grenzen des Meiches hinzogen. Je weniger Russland durch natürliche Grenzen beschränkt, je weiter das Land war, um so mehr musste der Mensch an dasselbe gekettet werden: die Leibeigenschaft hielt ihn fest und machte ihn gleichsam zu einem Immobil. Der freie Uebergang von einem Gute zum andern wurde den Bauern im Jahre 1593 unter Fedor, dem Hohne Joanne des Schrecklichen, und auf Antrieb des Schwagers und Nachfolgers Fedors, des Boris Godunow genommen. Aus dieser einzelnen, ursprünglich provisorischen Massregel ging die Leibeigenschaft des Mushiks hervor. Zwölf Jahrhunderte früher, im römischen Reich war etwas Aehnliches geschehen, nach der Errichtung des Colonats unter den christlichen Kaisern. Einmal an das Land gebunden, verlor der moskowitisehe Bauer allmälich all seine bürgerlichen Rechte und verfiel einer Abhängigkeit, die der Gesetzgeber nicht vorausgesehen hatte; er wurde das Eigenthum, die Sache des Gutsbesitzers. Ukase der ersten Romanows bestätigten und vervollständigten das Werk Grodunows. Die Reform Peters des Grossen zog die Bande der Bauern noch fester an, statt sie zu lösen. Die Leibeigenschaft wurde noch enger, da sie besser geregelt wurde. Die allgemeinen Volkszählungen (deren erste 1722 ausgeführt und die dann in unregelmässigen Zeiträumen wiederholt wurden) lieferten der Leibeigenschaft geordnete Listen. Zum Zwecke der Vereinfachung und Sparsamkeit überliess der Staat den Gutsbesitzern fast die ganze Verwaltung und die Polizei auf ihren Gütern. Die Leibeigenschaft zu beseitigen war um so schwieriger, als sie ein Werkzeug der Regierung, eines der wichtigsten Räder einer noch wenig complicirten politischen Maschine geworden war. Bis 1861 hätte der Gutsbesitzer als ein Agent des Reichs betrachtet werden können, der beauftragt sei, auf dem Lande die KiIi rutiiuug der Soldaten und den Eingang der Steuern zu überwachen, als eine Art erblicher Beamter, der mit der Verwaltung und der Vormundschaft der Kauern betraut sei. Die Leibeigenschaft hatte sich nicht auf gleiche Weise über ganz Kussland ausgebreitet. Zu den entlegeneren und fast menschenleeren Landstrichen, wo es wenig Gutsbesitzer gab, zu der Kegion der grossen Seeen und des Weissen Meeres, wie zu dem von Kosaken eroberten Sibirien hatten die Bestimmungen über die Sehollenplliohtigkeit der Bauern keinen Zugang gefunden, oder sie waren doch nicht durchgeführt worden. Diese von der Natur enterbten Landstriche haben Leibeigenschaft wie Adel fast gar nicht kennen gelernt; Freiheit und primitive Gleichheit hatten sich dort bis auf unsre Zeit erhalten.1) Ebenso hatten im Süden die Kosaken diese Institution von sich abgewehrt, die zugleich ihre Reihen durch geflüchtete Leibeigene mehrte. Die Ukräne, Kleinrussland am linken Ufer des Dniepr, blieb bis zur Regierung Katharinas II. von der Sohollonpfliehtigkeit unberührt. Zur Zeit der Emancipation war das historische Centrum Kusslaiuls noch das Centrum der Leibeigenschaft, die sich von der Umgegend Moskaus her strahlenförmig nach Norden und Süden, nach Europa und Asien ausbreitete. Im Westen begegnete die moskowitisehe Leibeigenschaft in Weissrussland und Litthauen der polnischen, welcher die ganze rullionische und litthauisohc Landbevölkerung unterworfen war. Seltsamerweise war es die herrschende Kace, die slavische und insbesondere die russische Race, die im russischen Reiche am meisten der Leibeigenschaft unterlag. Die östlichen Tataren, die bessarabischen Rumänen, die deutschen Kolonisten, selbst die finnischen Stämme hatten grösstenteils die Freiheit behalten. Die Stellung der zu Privatgütern gehörigen Bauern war nach den verschiedenen Gegenden, Gewohnheiten und Besitzern eine sehr verschiedenartige. Um alle Formen der Leibeigenschaft beschreiben zu können, müsste man die „krepostnüje ludi" in etwa zwanzig besondere Klassen theilen2). Diese verschiedenen Formen der Leibeigenschaft liessen sich auf zwei Haupttypen, die heute noch zeitweilig in ') Tschitscherhi, Die Landesinstitutionen Russlands im XVII. Jahrhundert, pag. 5b.'?, 664« 8) lieber den Zustand der Bauern unter der Leibeigenschaft s. die unter dem Titel: „Materialien für die Geschichte des Leiheigcnschaftsrechtes in Hussland" und „Materialien für die (ieschichte der Aufhebung der Leibeigenschaft der Privatbauern in Russland" (russ.); ferner: Voyages de X. Marinier et Lettree Mir hi Bussie de Molinaris, endlich für die Kiii/.cllieiten die grossen Werke von Haxthausen und Schnitzler. * Gebrauch sind, zurückführen, auf* die Frohne oder barschtschina (bojarschtschina, die dem Bojaren oder Herrn Pflichtige Arbeit) und auf den Zins in Geld oder den Obrok. Die Frohne, dir persönliche Arbeit des Leibeigenen im Dienste des Herrn, war die ursprüngliche Foim. Drei Tage arbeiteten die Dauern für den Gutsbesitzer, die andre Hälfte der Woche bebauten sie die Ländereien, die ihnen der Herr zur Bestreitung ihres Unterhalts überhissen hatte1). Im Vergleich zur Frohne war der Obrok oder Jahreszins eine wirkliche Verbesserung und Erleichterung der Leibeigenschaft, Dieses System war vornehmlich in der Nachbarschaff productiver Gentron und in wenig fruchtbaren (legenden in Gebrauch. Durch den Obrok kaufte der Bauer für eine gewisse Zeit den Gebrauch der Freiheit wieder an sich, indem er das Herrenland \er-liess, um das eine oder andere Gewerbe auf dem Bande oder in den Städten zu treiben. Infolge des Obroks hatten viele Bauern das Landleben ganz aufgegeben; doch genügte ein Befehl ihres Herrn, um sie zum Pfluge zurückzurufen. Durch diesen Zins war also der ursprüngliche Zweck der Leibeigenschaft, den Menschen an die Scholle zu binden, in sein Gegentheil verkehrt; der Leibeigene auf Obrok war wieder Herr seiner selbst geworden, aber ein unsichtbares Band kettete ihn an seinen Herrn. Die Höhe des Jahreszinses war nach den Landstrichen, nach den Bedürfnissen des Herrn, nach der Geschicklichkeit der Leibeigenen sehr verschieden. Im Allgemeinen schwankte der Obrok zwischen 25 und HO Francs jährlich. Unter solchen Verhältnissen war also nur derjenige wirklich reich, der ganze Dörfer oder vielmehr ganze Gebiete besass. Die Armuth der kleinen Grundbesitzer zwang diese, ihren Bauern soviel abzunehmen, als sie von ihnen erpressen konnten. In der Regel war der Bauer grosser Grundbesitzer, denen Reichthum den Fdolmuth leicht machte, besser daran; er unterlag gewöhnlich einem festen Zinse. Der Herr nutzte sogar selten die Zahlungsfähigkeit und den guten Geschäftsgang seiner Bauern zur Erhöhung des Obroksatzes aus. Ein solcher Herr wie etwa ein Soheremeljow — hatte millionenschwere Kaufleute zu Leibeigenen und würde sich ein Gewissen daraus gemacht haben, aus ihrem Keichthum Vortheil zu ziehen, während seine Eitelkeil doch kein Bedenken fand, sie in der Leibeigenschaft zu erhalten. ') Fin von Faul I. im Jahr 17!»7 erlassenes (leset/, hatte die Frohne auf drei Tage festgesetzt, In vielen Gemeinden und Familien arbeitete die Hälfte der frohnpflichtigen Leiheigenen die ganze Woche hindurch, Mann wie Weib, für den Herrn, während die andere für die eigene Wirthschaft arbeitete. Die Krons- oder freien Bauern, die auf Staatsgrund angesiedelt waren, standen unter dem Obrok. Ausser der Kopfsteuer und den localen Abgaben zahlten sie der Krone einen /ins, den man als eine Art Pacht betrachten kann, und der zwischen 2 und 3 Rubeln für die männliche Seele schwankte. Diese Bauern, die keinen andern Herrn als den Staat hatten, genossen zwei grosse Vorzüge: zuerst den festeren und weniger drückenden Zins zu zahlen, dann den, nicht Herren zu gehören, die mich Kanne und TJebergang des Besitzes sich ändern konnten. Sie besassen eontmunale Hechte, und zur Zeit der Emancipation haben ihre Einrichtungen zum Theil der Verwaltungs^ Organisation der freigegebenen Bauern zum Vorbild gedient, Trotz des Druckes und der Erpressungen der oft bestechlichen Beamten waren die Kronsbauern in der Kegel reicher als die Privatbauern. Auch heute noch haben ihre Dörfer einen Schein von verhältniss-mässigem Wohlstand, der sie oft auf den ersten Blick von den andern unterscheiden lässt. Diese'ebenso wie die übrigen an die Scholle gebundenen Domänenhauern bildeten früher das lebendige Capital und den lebendigen Schatz, in welchen der Souverän hineingrill', wenn er Staafs-diener mit Leibeigenen und Land dotiren wollte. Katharina II. hat dies»! Beschenlamgen mit Menschen zuletzt geübt; sie belohnte mit diesen Dotationen ihre Minister und Günstlinge in bereitester Weise, eine Generosität, die einer der Flecken ihrer Regierung geblieben ist, Alexander I. gebührt das Verdienst, diese Verschenkung von Bauern verholen und eine Classe freier Landbauern geschaffen zu haben. Die Leibeigenschaft in Russland hat, wie die Sclaverci in Amerika, früher ihre Vertheidiger gehabt und .zählt auch jetzt noch Lobredner. Sicherlich bot die Leibeigenschaft in der Regel dem Bauer eine gewisse Entschädigung: der Leibeigene genoss ebenso die Wohlthat, wie das Uebel der herrschaftlichen Bevormundung, er war ebenso der Schützling, wie der Knecht seines Herrn, Die russische Leibeigenschaft, die weder auf Eroberung, wie in den Ostseeprovinzen, noch auf Racenuuterschied, wie die Sclaverci in Amerika gegründet war, hat bis zuletzt einen mehr väterlichen, patriarchalischen Zug behalten. Ebenso sicher ist aber, dass trotz aller Erleichterungen durch Gesetze und Sitten ein solches System dem Leibeigenen, dem Lande, dem Herrn selbst Schaden brachte. Der Bauer eigenmächtiger oder schlechter Herren war allem Elend, allen Erpressungen, aller Schmach ausgesetzt, da das Gesetz ihn nicht wirksam gegen die Begierde, die Rohheit, die LüdeTlichkeit des Herrn zu schützen vermochte-. In der Leibeigenschaft lag ein unheilbares TTehel: der Raub an dem menschlichen Gewissen, die Verneinung der sittlichen Vorantworliehkeit. Nicht geringer war das ökonomische Uebel: die Institution brachte der Classe, die aus ihr Yorthoil ziehen sollte, wenig Nutzen. Obgleich das Recht, besiedeltes Land zu besitzen, dem ganzen Erbadel zustand, so zählte man doch bei Aufhebung der Leibeigenschaft nur einhundert und einige vierzigfuusend Herren von Leibeignen, und von ihnen war die Mehrzahl noch in mittlerer Vermögenslage. Drei öder viertausend von diesen Leibeigenenbesitzern hatten kein Land, denn im achtzehnten .Jahrhundert hatte man begonnen, die Leibeigenen auch ohne Land zu verkaufen.1) Um einigermassen wohlhabend zu sein, musste man hunderte von Seelen besitzen, um reich zu sein, tausende; so wenig i>roduetiv war die Leibeigenschaft, so sehr hatte diese lange Uonliscation der menschlichen Arbeit den Preis derselben herabgesetzt. Selbst die unentgeltliche Arbeit der Hauern genügte Denen nicht, die ein Monopol auf sie besassen. Die Mühen der Knechte wurden von einer grossen Zahl der Herren schon* im Voraus verschleudert und verschlungen.: Zur Zeit der Emancipation waren zwei Dritte] der „besiedelten", d. h. der von Leibeigenen bebauten Ländereien, oder richtiger zwei Drittel der'Leibeigenen selbst (denn die Danken gaben ihre Vorschüsse nach der Kopfzahl der Kauern) in den Lombard- oder Kreditanstalten des Staats hypothekisirt, Der Pomeschtschik halb' also sehr häufig nur den Schein des Besitzes für sich, und die Summen, die der Staat auf dieses Mens« honeapital VOTSChoss, verflüchtigten sich gewöhnlich in Kesten und Vergnügungen. So drohte die Leibeigens* hall in den letzten Zeiten zum Ruin des Adels zu führen, dessen Vermögen sie hatte scheinbar sichern sollen. Man begreift kaum, wie ein solcher Zustand der Dinge so lange Zeit hat bestehen können. In gewisser Beziehung könnte man sagen, l) Infolge der Unvollkomnieoheit des statistischen Materials weisen alle statistischen Angaben über die Vertheilung von (bitern und Leibeigenen wesentliche Abweichungen auf. Ktwas mehr als zwei Millionen Seelen, d. Ii. männliche Seelen, denn diese allein zahlten die Kopfsteuer und wurden in die Itevisions-listen aufgenommen, vertheilten sich auf weniger als HO(XX) Grundbesitzer, von denen jeder 1 bis llK) Seelen besass; diese wurden zu den kleinen Grundbesitzern gezählt. Fünf und eine halbe Million Seeleu bildeten den Antheil von 22000 Herren, deren jeder 100 bis KXKI Seelen besass; das waren die mittlem Grundbesitzer. Endlich wurden 14(K) Herrn von mehr :ds je KHK) Bauern und drei Millionen Seelen zusammen :ils grosse (1 rund besitze r bezeichnet. Einige Familien, wie die Schercnietjews hatten auf ihren Gütern 100000 Leibeigene. Troinifzki, die leibeigene Bevölkerung in Russland pag. 64 a. f. (russ.) Schnitzler, L'empire des tsars III, pag. 193, 194. dass bei droihundortjühriger Dauer die Leibeigenschaft doch nie ganz in das Volk übergegangen ist. Im siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderte, unter Leitung des Stcnka Hasin und des Pugatschcw, haben sich die Bauern im Namen der Freiheit zu Erhebungen aufrufen lassen. Die Krone, die sie auferlegt, wie der Adel, der von ihr Yor-theil zog, betrachteten seit langer Zeit die Leibeigenschaft nur wie eine iiiiwiderruflich provisorische und verurtheilte Institution. Die Aufhebung derselben ist vielleicht nur um der Befürchtungen willen so weit hinausgeschoben wurden, welche die revolutionären Bewegungen Kuropas, die sie doch beschleunigen zu müssen schienen, hervorriefen. Der Kaiser Alexander K schien für dieses Werk geschaffen; er bereitete es durch einen partiellen Versuch vor, indem er die Leib-* eigenen der baltischen Provinzen, die Ketten und Esten, befreite, vielleicht die bedrücktesten von allen, da sie anderen Stammes waren, als ihre deutschen Eroberer und Herren. Der Kaiser Nikolai folgte dem Beispiel seines Bruders, indem er soviel wie möglich die Fesseln, die er zu brechen nicht wagte, erleichterte und lockerte. Die Emancipation war sein Lieblingstraum; am Vorabend von 1848 halle er für die Vorarbeiten zu derselben schon ein geheimes Comite gebildet, das durch die Februarrevolution wieder aufgelöst wurde. Die Demüthi-gung des Krimkrieges hatte ihn in seinen letzten Tagen wieder auf die alten Entwürfe zurückkommen lassen. Man versichert, dass Nikolai auf seinem Todbette die Ausführung des Werks, das er selbst nicht hatte beginnen können, seinem Sohne vermachte. Es war vielleicht €|in Glück für das Reich, dass diese grosse Aufgabe nicht früher in Angriff genommen wurde; so wurde die Vorbereitung reiflicher erwogen, die Ausführung mit grösserer Sicherheit zu linde gebracht. Man darf für das Verständniss der Umwälzung in Russland nicht ausser Acht lassen, in welchem Masse die öffentliche Meinung und der öffentliche Geist Russlands an derselben theilgenommen. Die Literatur, die bei den modernen Völkern überall den Weg öffnet, die Belletristik in allen ihren Formen, Poesie, Roman, Drama. Historie, Kritik haften die Bahn früher schon geebnet; sie hatten dazu nur die Aufmerksamkeit der höhern Klassen auf das Volk und die Yolks-sitten zu lenken gebraucht. Wie in Amerika waren auch hier Romanschriftsteller die Apostel und Propheten der Emancipation. Russland hatte bessere Vorkämpfer, als „Onkel Toms Hütte" und die ,.No\els" amerikanischer Damen; es besass in den „Todten Seelen" Oogols, in dem „Tagebuch eines .lägers" von Turgenjew Schilderungen von bewundernswerter Wahrheit, oder vielmehr Spiegel, aus denen ohne Oebertreibung in Zeichnung oder Farbe das Leben der Leib- eigenen und der Herren treu zurückstrahlte.J) Die Publicistcn behandelten die Bedingungen der Reform, welche die Schilderungen der Romanschriftsteller als so dringend wünschenswert!) dargestellt. In diesem Puncte drängten die beiden Strömungen, die sich im Uebrigen um das Wesen der Russen zu streiten pflegen, die europäische und die nationale Strömung, in gleichem Sinne vorwärts. Alle Schulen, ob slavophil oder westeuropäisch, ob liberal oder demokratisch, waren im Ziele einig; ein und dieselbe Sache hatte Nikolai Turgenjew, Samarin und Herzen zu Advokaten. Das war nicht mehr ein alleinstehender Monarch, nicht mehr eine kleine Zahl nach ausländischem Muster gemodelter Individuen, die mit Sporn und Peitsche die Nation vorwärts trieben; es war der ötfentliche Geist, die öffentliche Meinung, die den Antrieb gab. Es war das eine nationale Bewegung, von ferne der Bewegung ähnlich, welcher die französische Revolution entsprang. Dieses in der russischen Geschichte neue Phänomen ist an sich schon der gleichen Aufmerksamkeit werth, wie die Emancipation selbst und die Reformen, welche diese begleitet haben. In dieser Beziehung unterscheidet sich das Werk Alexanders IL durchaus von dem Peters des Grossen und zeigt den ganzen Fortschritt, den Russland in dem dazwischen liegenden Zeitraum gemacht; das letztere war das Werk eines Einzelnen, das erstere ist das Werk eines Volkes. Russland erschien bei der Aufhebung der Leibeigenschaft nicht mehr als eine träge Masse, als ein Material für Verwaltungsexperimente oder, nach dem Ausspruch eines französirten Bussen,2) als ein socialistisehos Laboratorium; es war eine der Kindheit entwachsene Nation, die sich nicht mehr blind der Leitung eines Vaters oder Vormundes unterwarf, sondern selbst an der eigenen Entwicke-lung arbeitete. Wie sie auch vorbereitet war, wie sehr sie auch von der Xation und der Öffentlichen Meinung gefordert wurde, hätte die Emancipation der Leibeigenen doch vielleicht noch lange auf sich warten lassen, wenn die h'nttäuschungon des Krimkrieges nicht gekommen wären. Kein Volk entschliesst sich ohne den Druck eines grossen Ereignisses, ohne den Anstoss einer nationalen Gefahr »»der eines nationalen Unglückes, Hand anzulegen an eine so ernste, so complicirte und so ]) Man könnte sagen, auch Hussland habe seinen „Onkel Tom" gehabt, und zwar in den Erzählungen einer Frau Markewitsch (Marko-Wotschok). Diese kleinrussisch geschriebenen Erzählungen haben die Ehre gehabt, von Iwan Turgenjew ins Russische übersetzt zu werden. '2) Wyroubow, E:i philosopbie \> sitive. so vielfache Interessen berührende Reform zu legen. Für Völker wie für Individuen ist das Unglück oft der beste Rathgeber; eine äussere Wunde, eine Niederlage im Kriege sind mehr als einmal der Aus-gangspunet einer moralischen Erhebung eines grossen Volkes gewesen. Was Jena für Preussen und Deutsehland, was Novara für Piemont und Italien, das war der Krimkrieg, der kaum die russischen (1 renzlande berührte, für Russland. Dieser Feldzug, für die Pforte, die unter dem Schutze Westeuropas immer tiefei sank, so unfruchtbar, trug für das besiegte Land reiche Frucht. Der Fall von Sewastopol war eine tiefe Niederlage der Leibeigenschaft. Ich habe mir erzählen lassen, dass ein früherer Leibeigener ein Bildniss Napoleon HI. mit der Unterschrift: „Dem Defreier der Leibeigenen" besass. Nach dein Krimkrieg hatte sich bei den Dauern mehrerer Gouvernements das Gerücht verbreitet, der Kaiser der Franzosen fordere die Aufhebung der Leibeigenschaft und habe in die Unterzeichnung des Friedens nur unter der Bedingung gewilligt, dass (du geheimer Artikel im Friedenstractat Aufnahme linde, der die Freiheit der Leibeigenen verbürge.') Vielleicht lag dieser Legende eine dunkle Erinnerung an die Hoffnungen zu Grunde, die Napoleon I. 1812 wach rief, in jedem Falle war dieser Volksglaube nur ein in naiver Form sich äusserndes, instinetives Vorgefühl des unvermeidlichen Zusammenhanges der Ereignisse. Ohne es selbst zu wissen schlugen sich Frankreich und England zum Besten des Mushiks, zum Besten iles russischen Volkes. In dieser Beziehung war Russlands Niederlage Kusslands Glück; es hat wohl nie ein Land seine nationale Wiedergeburt so billig erkauft. Von einem Kriege, dessen Ausgang ihm nur einige Opfer der Eigenliebe kostete, von einem Frieden dessen demüthigende Bestimmungen rasch verwischt worden sind, ist ihm nur eine dauernde innere Umgestaltung geblieben. Zweites Kapitel. Fragen, welche die Emancipatioii aufgeworfen hat. — Prätensionen und Enttäuschungen des Adels. — Die Ackergesetze. — Konnte man die Leibeigenen freigeben, ebne ihnen Land zuzutheileu? — Gründe und Bedingungen der Land-vertheilung an die Bauern. Es war eine nationale Bewegung, die unter dem Einfluss einer erlittenen Niederlage von allen Seiten zu der Aufhebung der Leih- ') Dieses Gerücht« thut u, A. Tschernysehewski in seinen „Briefen ohne Adresse" (veröffentlicht im Wperod 1H75) Erwähnung. I. e roy - n o a u 1 i o u , Reich d, /. un. u. d. Russen. (Eigenschaft drängte. Sollte die Nation an dem Werke unmittelbar Theil nehmen? Beabsichtigte der Zar, wie Katharina II., doch zu einein begränzteren Zweck, Deputirte der verschiedenen Classen zu einer Art von Generalständen zu berufen? Es gab Leute, die das glaubten. Man kündigte an, dass, als Entschädigung für den Verlust seiner Leibeigenen, der Adel politische Hechte erhalten, dass aus der Emancipation eine Constitution hervorgehen solle. Diese Hoffnung trug dazu bei, die Grundbesitzer und die Adelsversammlungen für das Project der Freigebung zu gewinnen. Dem Anschein zum Trotz war es wohl ein Glück, dass dieser Weg nicht gewählt wurde, sondern dass die. Regierung die Deputirten des Adels einfach auf be-rafhendem Wege befragte, statt sie deliberiren und Gesetze schallen zu lassen, lieber den Nutzen der Emancipation herrschte im Reiche beinahe volle Uebereinstimmung; über die Mittel und Wege, über die den Freigegebenen zu ertheilende Stellung gab es im Publicum, wie auch in der Regierung nur verschiedene und verworrene Meinungen. Eine zahlreiche und stürmische Wahlversammlung hätte aus solchem Chaos der Ideeen sicherlich nichts zu Stande gebracht. Es hätte um billig und unparteiisch zu sein, die Versammlung aus Vertretern der beiden entgegengesetzten Interessen zugleich, aus Vertretern der Leibeigenen und aus Vertretern der Herrn, bestehen müssen. Da die ersteren nicht berufen werden konnten, um ihre Zukunft zu gestalten, wäre es ungerecht gewesen, die Berathung allein den Herren zu überlassen. Zwistdien dem Bauer und dem Pomeschtschik gab es nur einen natürlichen, unparteiischen Schiedsrichter, die Krone. Es war das eine jener Situationen, in denen eine Monarchie, über alle Classen erhaben und ihrer Mission der Unparteilichkeit treu, das geeignetste Tribunal zu gerechtem Richtspruch ist. Die Adelsversammlungen verschiedener Gouvernements wurden berufen, um die Frage zu untersuchen und ihre Meinung abzugeben, aber die Redaction des Gesetzes wurde Commissionen anvertraut, die unmittelbar vom Souverain ernannt wurden: Diese Commissionen waren zum Theil aus hohen Beamten, wie Nikolai Milutin, dem Haupturheber der bäuerlichen Verfassung, zum Theil aus Grundbesitzern oder Experten zusammengesetzt, die meist den Minoritäten der Gou-vernementscomites entnommen waren, wie Fürst Tscherkaski und Juri Samarin, die Verbündeten und Parteigänger Milutins. In diesen Re-da< tionscomites selbst fehlte es an Vertheidigern der gutsherrlichen Hechte keineswegs; nicht ohne heftige Kämpfe brachte die von Milutin und seinen Freunden geleitete Majorität ihre Meinungen zum Siege und zur Anerkennung seitens des Monarchen.1) Der \on den Commissionen ausgearbeitete Entwurf war für das Volk durchaus günstiger, als die von den Majoritäten der Adelsversammlungen abgegebenen Meinungen. Seine Grundlagen erschienen sogar so demokratisch, dass Einflüsse am Hofe die Veränderung mehrerer Bestimmungen veranlassten. Iiis zum Ende der Regierung Alexanders IL hat ein Theil der ofliciellen Welt mehr oder minder offen dahin gestrebt, gewisse in dem Erlass vom Ii). Febr. 1801 ausgesprochene Prin-eipien widerrufen zu lassen. Der Landadel verbarg seine Unzufriedenheit ebenso wenig in Bezug auf die demokratischen Tendenzen der Eedactionscommissionon, wie auf die Art und Weise, in welcher die Regierung ihn von einem Werke zurückgedrängt hatte, das er anfänglich selbst angeregt zu haben schien. Mehrere Grossgrundbesitzer sprachen ihre Enttäuschung darüber laut aus, dass sie von der Ausarbeitung einer Reform ausgeschlossen worden, die sie zu leiten gehofft hatten, und das zu Gunsten einer bureaukratischen Commission, der keine andere Aufgabe zugewiesen schien, als die Meinungen der adligen Gouvernementseommis-sionen zu sammeln und zu codificiren.-) Das war für den Adel eine erste und ernste Enttäuschung. Die durch diese Fragen erweckten Leidenschaften und Zornes-« ausbräche waren so heftig, dass die Eauptredacteure der Emancipations-acte wohl über die durch ihre Entwürfe in Aufregung gerathene Opposition, nicht aber Über den gesammelten Groll gegen ihre Personen triumphiren konnten. Am ersten Tage, nachdem der Erlass (Poloshenije) veröffentlicht worden war, dessen eifrigste Urheber sie waren, fielen die als Rothe und Radicale behandelten X. Milutin und Genossen am Hofe wie in der Gesellschaft in eine sohlecht verhüllte Ungnade. Mau nahm das Werk an und opferte die Urheber desselben. Es bedurfte des polnischen Aufslandes, damit die Regierung sich ent-schloss, wieder die Dienste der Milutin und Tseherkaski in Anspruch zu nehmen.11) Dieser plötzliche Widerspruch war, so unbegreiflich 3) Ich habe an anderer Stelle nach der ungedruckten (Wrespondon/, Milutins, Tscherkaskis und Samarins die Kämpfe und l'cripetiecn der Emaueipatioii geschildert, S. „Un hoiume detat russe d apres sa eorrespondnnce inödite." *) S. z. 15. „Brief eines Commissionsdeputirten (Graf Qrlow-Dawydow) an den Präsidenten der Hetlactionscommission." Paris (1869.) i .Alan giebl mir für ein ganzes ,l;ihr Urlaub, oder richtiger, man hat mich bei Seite geschoben, indem man mich zum Senator machte," schrieb N. Milutin am 1/H! Mai 1SG1 dem Fürsten Tseherkaski. „Ich hatte nur um einen Urlaub 22* er seinen, doch nicht allein die Frucht der Bedenken des Zaren oder der Tntriguen am Hole. Indem der Zar Milutin in dem Moment verabschiedete, wo es natürlich schien, ihm die Einführung der von seinen Freunden und ihm selbst redigirtcn Gesetze anzuvertrauen, wollte Alexander TT. nur eine That der Besänftigung vollziehen. Um den Klagen und der Furcht des Adels ein Ende zu machen, den das Phantom dos bevorstehenden Uuins fast um seine Sinne brachte, hatte der Zar die Ausführung seiner Fkase einem Beamten abgenommen, der den Ruf eines systematischen Feindes der Gutsbesitzer genoss, und sie Händen übergeben, die man nicht der Parteilichkeit gegen den Adel verdächtigen konnte. Die ausschweifenden Ansprüche der Bauern versöhnten allmälich die Majorität des Adels mit der Emancipationsacto. Einmal vor das Misstrauen und die Begehrlichkeit ihrer früheren Leibeignen gestellt, mussten die Gutsbesitzer das von einigen unter ihnen so hart angegriffene Statut als ihren „Rettungsanker" anerkennen. Die Erfahrung überzeugte die Mehrzahl der Herren bald davon, wie thöricht ihre Träume von der Anhänglichkeit und Fügsamkeit des Mushiks gewesen waren.1) Die Vortheile, welche die Milutin. Tseherkaski und Samarin den Bauern boten, erklären den llass gegen die Redacteure der Befreiungs-acte. In der That hat sich nirgend der Gesetzgeber so sehr um die Interessen der früheren Unfreien bemüht. Das von Hussland vollzogene Werk war nicht ohne Beispiel noch Vorbild in Europa gewesen. Die benachbarten Staaten. Preussen und Oesterreich, halten beispielsweise noch in unserm Jahrhundert in bescheideneren Verhältnissen eine ähnliche Aufgabe erfüllt. Die Emancipation, wie sie in Preussen auf vier Monate gebeten, aber die Reaction ist mir zu Hülfe gekommen. Lanskoi und ich (Lanskoi war Minister des Innern und Milutin sein Gohülfo), wir sind dem Adel zu lieb aus dem Ministerium entfernt worden, ') „Was am meisten dazu gedient hat und noch dazu dient, den Adel von der unabvveisliehen Notwendigkeit dessen zu überzeugen, was wir gethan, das isl die Haltung der Hauern, mit denen die (Jutsbesitzer täglich Streitigkeiten zu bestehen haben; es sind insbesondere die Forderungen der Hauern und vor Allem das radieale Misstrauen der ganzen orthodoxen ,.Bevölkerung im Vollbart" gegen den Adel. Der Adel hat gern oder ungern auf die Vorstellung verzichten müssen, als ob die frühern Leibeigenen ein unbegrenztes Vertrauen zu ihm hegten; die Fntläii.schung der < 1 utsbesiteer ist in diesem l'uncte so vollständig, wie irgend möglich.....ledermann hat jetzt eingesehen, wie unentbehrlich ein präcisos und iletaillirtes Statut und wie wenig begründet mehrentheils das böswillige Geschrei Und der Spektakel (gam) waren, die zwei Jahre lang gegen die Uedaetions-comtniasionen und ihre vermeintliche Eteglementirungswuth erhoben wurden." .Ungedruckter Brief des Fürsten Tseherkaski an N. Milutin vom 23. Juli 1861.) nach der »Schlacht bei Jena auf Antrieb des Frcihein von Stein eingeführt wurde, bot den Russen Lehren, die sie benutzten, ohne jedoch zu blossen Nachahmern zu werden.1) Aber zwei Puncto sind dem in Petersburg gewählten Modus der Freigebung ganz, besonders eigen. Sinti .sieh mit Ertheilung der persönlichen, sozusagen der nackten Freiheit, zu begnügen, stattete Russland die Ilauern mit Ländereien aus: statt die freigegebenen Dauern, wie L809 und L848 in Preussen gesehah, unter dem Patronat und der Vormundschaft ihrer früheren Herren, in einer Art administrativer Leibeigenschaft zu belassen, bat Russland mit Einem Schlage die bisherigen Leibeigenen zu Gemeinden in voller Unabhängigkeil von ihren allen Herren oonstituirt. Während der „Hauer" im östlichen Preussen wenigstens bis zu den Reformen von 1x72 Cnterthan und Vasall der ,,Ritterschaft" blieb, wurde der russische Mushik durch Bodenbesitz und Autonomie seiner Gemeinde zugleich ökonomisch und administrativ freigegeben. Das grosse Problem der in Russland gewählten Freigebung war, die freigegebenen mit Land zu versehen, die bisherigen Leibeigenen ZU Grundbesitzern zu machen. Hier lag naturgemäss die grosse Schwierigkeit. In den Augen eines Thcils des Adels und in den Augen vieler Politiker genügte es, den Dauern die persönliche Freiheit zu geben. Das hatte Alexander I. für die Leibeigenen der baltischen Provinzen gethan. Was ist die Leibeigenschaft? fragten die Theoretiker dieses Svslems: Menschenarbeit, unentgeltlich andern Menschen gewidmet. Um die Leibeigenschaft aufzuheben genügt also, die ünent-geltlichkeit der Arbeit abzuschaffen.a) Wie, so hiess es weiter, bat die Leibeigenschaft sich festgesetzt? Durch eine Polizeiverfügung. die den Bauern den Uebergang von einem Gute zum andern verbot. Wie ist diese Institution aufzuheben? Dadurch, dass dem Dauer die Freiheit zu gehen und zu kommen wiedergegeben wird. So verstanden, wäre die Kmanoipation eine sehr einfache Operation gewesen; abei was wären ihre Folgen gewesen? Der Dauer hätte die Freiheit nur wiedergewonnen, um in eine oft, noch elendere Lage zu gerathen, als sie es in seiner Hörigkeit war. Der Mushik wäre Jahre, vielleicht Jahrhunderte lang vom Grundbesitz vollkommen ausgeschlossen ge- ') Die vom Auslände den Küssen gebotenen Fingerzeige sind leicht zu erkennen. S. Sugenhoini, Gesch. der Aufhebung der Leibeigenschaft und Hörigkeil in Furopa. St. Fetersb. 1SU1 und G. Samarin, die Aufbebung der Leibeigenschaft in Preussen (russ.) II. F.d. der ges. Werke 1*7" >. '2) Diese Anschauung, die sich auf die Lehren der Volkswirtschaft zu stützen vorgab, fand unter den ausländischen Nat ionnlökonomeu viel Anhänger, S. z. I>, Lettre» de M. de Molinari sur la Kussie, 2. Aufl. 1879. Wesen; das ganze Volk dieser freigegebenen Leibeigenen hätte eine Nation von Proletariern gebildet. So artheilten die Anhänger der Landeszutheilung, und diese Meinung trug in den Redactionscom-missionen, im Publicum und bei dein Kaiser den Sieg davon.1) So gerechtfertigt diese Gesichtspuncte in Bezug auf die Befreiung der Hauern sind, so liegt in ihnen doch ein hoher Ehrgeiz, der nicht ganz frei von Selbsttäuschung ist, Man schmeichelte sich mit dem tiedanken, nicht blos ein Volk von Freien, sondern ein Volk von Grundbesitzern zu schaffen. In Presse und Publicum wurde wiederholt, man dürfe nicht, um den Liebeln der alten gesellschaftlichen Zustände zu entgehen, den Hebeln der neuern, die durch Pauperismus und Proletariat geschändet werden, verfallen. Durch Landertheilung an die Leibeigenen glaubte man dem Proletariat zu entgehen, und durch Vorbeugung des Proletariats bildete man sich ein, vor den socialen und politischen Bewegungen Westeuropas gesichert zu sein. So gelangte die russische Regierung dazu, zu Gunsten der Bauern ein wirkliches Agrargesetz, eine Art Grundenteignung zum Zweck des Öffentlichen Nutzens zu vollziehen. Man hat ihr das oft als eine revolutionäre Massregel zum Vorwurf gemacht. Man verglich diese zwangsmässigen Verthcilungen der Herrenländeroien mit den Con-liscationen und National gittern der französischen Devolution: — Vergleiche der Art leiden an Uebertreibung. Um diese Massregeln zu würdigen, darf man nicht blos die allgemeine Nöthigung in Rechnung ziehen, man muss sich auch des zweideutigen Ursprungs, der Unbestimmtheit und Dunkelheit des Besitzrechtes in Russland erinnern. Wem von Beiden, dem Gutsherrn oder dem Bauer gehörte denn eigentlich der Grund und Boden? Sie beide hatten Anspruch darauf; wenn «las Gesetz zu Gunsten des ersteren entschieden hatte, so konnte ') Rede des Kaisers im Reichsrath 28. Jan. 18(11, veröden!I. in der Kusskaja Starina, Febr. 1880. Jn dieser Rede sprach der Kaiser unverholen sein Bedauern über die Art und Weise aus, in welcher die Freigebung in den baltischen Provinzen und int Königreich Polen vollzogen war. In Polen gab der Aufstand von IHti'? bald der Regierung Anlass, mit Hülfe derselben Männer. Milutin und Tseherkaski, dieselben Principien in den Weichsclgouverneiucnls zur Anwendung zu bringen. S. die Studie des Verl. in as taxfreie Viertel des Looses. Enttäuschung des Bauern. Seine Auffassung von der Freiheit. Kino so grosse Abrechnung liess sich nicht in einem Tage machen. Eine allzu plötzliche Umwälzung, die das Land in eine der ernstesten Krisen gestürzt hätte, musste vermieden werden. Im Laufe der beiden Jahre nach der Emancipation mussten alle Grundbesitzer und ihre Zinsler ein Kcgierungsdocument, ustawnaja gramota, aufstellen, das die den Lauern von ihren Herrn abgetretenen Ländereien und die Jahresrente in Geld oder Arbeit, welche die Bauern ihrem frühem Herrn zu leisten sich verpflichtet, festsetzte. Diese Vereinbarungen sollten — soweit möglich — friedlich abgeschlossen werden: aber der Widerstreit der Interessen und mehr noch das Misstrauen der Dauern liessen eine derartige Lösung wenig hoffen: die Entscheidung in Fällen des Conliicts wurde dem Urtheil von hiezu besonders geschaffenen Behörden, den Friedensrichtern (mirowüje po-srodniki, einem etwa 1875 aufgehobenen Institut) übertragen. In den ersten -Jahren hatten sich die unabhängigsten und angesehensten Männer, wie der Fürst Tseherkaski, Samarin und viele andere, eine Pflicht daraus gemacht, diese ermüdende und peinliche Function zu üben. Diese vom Adel gewählten Dichter hatten den Beruf, die Contracte beider Theile zu prüfen und nach Nothwendigkeit ihre Misshelligkeiten — die Bestätigung einer (iouvernementsversammlung vorbehalten — zu entscheiden. Auf den ersten Anschein hätten diese von den Gutsbesitzern und aus den Reihen derselben gewählten Schiedsrichter geneigt sein müssen, die Interessen ihrer Standesgenossen besonders zu begünstigen. Das war aber, mindestens im Anfang, durchaus nicht der Fall; in einer Weise, welche dem russischen Adel Ehre macht und zum Theil in der flrossmüthigkeit und Beweglichkeit des nationalen Charakters ihre Erklärung findet, nahmen diese Erwählten von Gutsbesitzern, deren Majorität der Dotirung der Bauern mit Land feindlich gesinnt war, ihr Sohiedsriehteramt so ernst, dass sie oft genug der Parteilichkeif für die Bauern beschuldigt wurden '). *) „Die aus dem Adel hervorgegangenen Friedensvcrmittler, selbst wenn sie früher Glieder der (iouvernomontsconutes waren, sind vollständig in ihre neuen Functionen aufgegangen; bei ihrem Eintritt in dieselben haben sie die \ ergangen- Zum Unglück der Bauern folgten diesen ersten Schiedsrichtern, die aus dem bostgesinnton Theilo des Adels hervorgegangen waren, bald Männer von ganz anderem Geiste, die sich kein Gewissen daraus machten, die Interessen der Bauern zu opfern und die localen Reglements ganz im Gegensatz zu den Absichten des Gesetzgebers in Anwendung zu bringen. Waren die vorschriftsmassigen Vereinbarungen festgestellt (und fast alle — 100,000 von 112,000 - waren es in der bestimmten Frist), so waren die freigewordenen und in den Besitz ihrer Ländereien getretenen Bauern dem Herrn zu einer fortlaufenden Leistung in Zeit oder Arbeit verpflichtet, Eine solche Lage erinnerte allzusehr an die Leibeigenschaft, um dauernd zu sein; in Wirklichkeit bestätigten die vorschriftsmassigen Verträge nur die schon vor der Emancipation vorhandenen Verhältnisse, und der Bauer war nach wie vor verpflichtet dem Bärin die Frohne oder den Obrok zu leisten. Der Unterschied war nur der, dass seit ISO:! diese Verpflichtungen an Arbeit oder Geld von den Parteion frei bestritten oder durch die localen Bestimmungen gesetzlich festgestellt wurden. Ein solcher Zustand konnte nur für einen vorübergehenden gelten. Bei einer Verlängerung desselben ins Ungewisse hätten derartige formelle Grumlzinshesfimmimgen nur zu sehr den alten Feudalrechten gleichgesehen, die Prohn Verpflichtungen aber, wie bestimmt begrenzt sie auch gewesen, allzusehr an die Leibeigenschaft erinnert. Auch wurden die dieser Ordnung unterworfenen Zinsplliehtigen „zeitweilig verpflichtete" Bauern genannt. Diese Bauern hatten — sozusagen — nur die erste Phase der Fmanci-pation durch gemacht, sie befanden sich in einer Mittelstellung zwischen Freiheit und Knechtschaft. Ks folgte nun eine zweite, complicirtere und langsamere Operation, die Alexander II. unbeendet lassen musste; es war der Loskauf, Welcher die territorialen Beziehungen, die beide ('lassen der Landbevölkerung verpflichteten, aufhob. Diese Ablösung bezog sieh nicht auf die persönliche Freiheit der Leibeigenen, für die der Adel niemals eine Entschädigung beansprucht hat, sondern auf die den Bauern zugetheilten Ländereien oder vielmehr auf die Grundrente, heil nicht blos abgelegt, sondern auch sehr rasch vergessen. Der Wunsch, unter den Massen Popularität ZU gewinnen, hat so sehr Über die allen Neigungen triumphirt, dass die Friedensvoriuittlorversammlungon von Klagen seitens der < lutsbesit/.er gegen die einzelnen Friedciisvernutller wegen ihrer Parteilichkeit zu (iiinsten der Hauern überschwemmt werden, während last kein Beispiel vorhanden, in welchem sich der Bauer über ihre Parteilichkeit zu Gunsten der Herren beklagte" (Brief Sannums an Milutin 17. Aug. 1862), die in Folge des Kmancipationsgosotzes und der Rogulinmgsacto auf den Ländereien der Leibeigenen zu Gunsten des Herrn lastete. Die Loskaufsacle machte die Dauern zu lagenthümorn des Dudens, der ihnen zur Nutzung übergehen worden war. Sie entband sie jeder Verpflichtung gegen ihre früheren Herren. Im Gegensatz zu den vorhergegangenen Vereinbarungen und zu den Regulirungsacten hatte der Gesetzgeber weder den Modus noch den Termin des Loskaufs bestimmt: es blieb den betheiligten Parteien überlassen, die Initiative hiezu zu ergreifen, die Bedingungen und den Zeitpunct zu bestimmen. Nur für die westlichen Gouvernements, die alten ütthauisch-polnischen Provinzen bestand eine Ausnahme, da die Regierung hier in Folge des Aufstandes von 1868 aus einem politischen Grunde den Loskauf für obligatorisch erklärt hatte. In dem eigentlichen Russland hat bis zur Thronbesteigung Alexanders III. der Staat nur durch Beine linancielle Hülfleistung eingegriffen. Nur den bäuerlichen Mitteln anheimgegeben, hätte der Loskauf sowohl für den Herrn wie für den früheren Leibeigenen viele Schwierigkeiten gehabt Die Operation hätte Jahrhunderte dauern können, ohne zum Fnde zu gelangen. Auch hat der Staat sie für diejenigen Freigegebenen ausgeführt, die um den Vorschuss der für den Loskauf erforderlichen Summen oder richtiger um den Vorschuss von vier Fünfteln dieser Summe, nach dem capitalisirten Grundzins berechnet, ansuchten1). Für den Gutsbesitzer hat dieses System den ausserordentlichen Vortheil, eine Privatschuld in eine öffentliche Staatsschuld und den jährlichen Grundzins des Freigegebenen in eine Art zeitweiliger Steuer umgewandelt zu sehen, deren Fingang der Fiscus sicherstellt Was den Bauer betrifft, so hat er den Gewinn, ohne Aufschub das Eigenthum am Boden erwerben und die Schuldbeziehungen, die ihn an seinen frühem Herrn banden, abbrechen zu können. Der Staat hat sich in beider gemeinsamem Interesse zu dem Banquier beider gemacht. Wenn der Staat den Bauern seine Hülfe anbot, musste er natürlich das Mass und die Bedingungen derselben bestimmen. ITm sich ') Der Preis des Loskaufs ist in Wirklichkeit gewöhnlich nicht nach dem Kaufwerlhc des Landes festgestellt, sondern nach dem Betrag dos Ohroks oder Zinses, den die früheren Leibeigenen für das ihnen durch die Regulirungsaeto zur Nutzung übergebene Land zahlten. Der gesetzliche Taxwerth der Ablösung wurde festgestellt durch soehsprocentigo Capilnlisirung des in Geld gezahlten Grundzinses, oder mit anderen Worten durch Multiplicirung dieses letzteren mit 1b'2/.,. Daher kommt es, dass der Taxwerth des Loskaufs oft in keinem Vcrhällniss zu dem wirklichen Werthe des Bodens, bald höher, bald niedriger, als dieser, ist. nicht in unverständiger Weise zu binden, musste er der finanziellen Unterstützung, die von ihm geforderl werden durfte, feste Schranken ziehen. Das ist nach X. Milutin die wahre Bedeutung der officiellerj Schätzungen, die in das Fmancipationsgosetz aufgenommen sind '). Durch vorgängige, nach Regionen und äusseren Bedingungen vorgenommene Fixirung des Capitals, das der Staat vorschiessen konnte, hat der Gesetzgeber die Grenzen bezeichnen wollen, innerhalb deren der öffentliche Credit in Anspruch genommen werden durfte. Eine solche Vorsicht war unerlässlich; nur zu oft ist diese Notwendigkeit ausser Acht gelassen worden, wenn die officiellen Anschläge bald als ungenügend für den Gutsbesitzer, bald als belastend für den Hauer kritisirt wurden. Heiden Thailen blieb die Freiheit, andere Vereinbarungen zu treffen; in solchem Falle hatte jedoch der Bauer auf Staatshülfe nicht zu rechnen2). Die Vorschüsse der Krone an die Freigegebenen müssen ihr in 49 Jahren mit 6% an Zinsen und Amortisirung zurückgezahlt werden. Vorausbezahlungen sind gestattet, aber natürlich sind sie selten. So wird in 49 Jahren mit Hülfe der Regierung der Bauer vollkommen frei und die ungeheuere Operation beendet sein8), Em zwanzigsten .lahrhundert also wird der Bauer, aller laufenden Zinszahlungen an seinen Herrn wie an den Staat entledigt, freier F.igentImmer dos ihm zuertheilten Ackers sein und alle die Wohlthaten der Freigebung empfinden. Auf diese Weise hat die Befreiung der Leibeigenen durch die Landablösung zu einer grossen Creditoperation geführt, die, da sie gleich nach dem Krimkriege begonnen wurde, etwas kühn war. Die russische Regierung konnte den Gutsbesitzern den Betrag der Schuld, die sie ihnen gegenüber im Namen der Bauern auf sich genommen, nicht in baarem Gehle auszahlen. Es wurden daher zwei Arten von staatlich garantirten Rententiteln geschaffen, von denen die eine ;">% trug und an der Börse gangbar war, die andre mit 51/t% Zinsen, auf den Namen des Besitzers lautete, also fest war und, um der Feherfüllung' des Markts vorzubeugen, unter schwierige Formen des Transports gestellt, alhnälich erst durch Loosziehung in Obligationen umgewandelt wurde, die auf den Inhaber lauten und im Laufe von 1) Rede in deH lesetlsch. f. Nationnlökonoin.(Journ. d. Fconomistos, Juni Ist;;',). -) Thatsächlich waren diese freien Contracte sehr selten. ;() Diese T.l Jahr werden nicht von der Veröffentlichung de* Kniaucipntions-acte, sondern von dem Augenblick ab gezählt, wo die P.ctbciligten zum Loskauf geschritten Bind; eine Anzahl von Hauern hatte sich noch zur Zeit der Thronbesteigung Alexanden III. nicht zum Loskauf entschlossen. Ler oy -Itcaul ieu, Koicli d. Ziircu h. d. BtttMB. 23 35 Jahren amortisirbar sind'). Ich kann hier auf die Einzelheiten der ausgedehnten und complicirten Operation nicht eingehen, die unter dem Yortheil, aber auch unter allen Gefahren des Zwangs-eurses vollzogen wird. Die Hauptsorge der Grundbesitzer, denen ihr Menschencapital plötzlich entzogen wurde, war, zu dessen Ersatz im Geldcapital zu finden. In ihrem Interesse wäre es nothwendig gewesen, dass das Loskaufspapier sofort realisirt werden könne, und das war bei dem von der Regierung ausgestellten Papier gar nicht oder nur unter lästigen Bedingungen der Fall, Da die Besitzer der neuen Obligationen fast alle mit einem Male Geld brauchten, brachte das Angebot dieser Actien eine Preisentwerthving derselben hervor, weh her die Yorsichtsmassregcln der Regierung nur unvollkommen vorbeugen konnten. Das ist einer der Hauptgründe der Verlegenheit und selbst der Schäden, welche vielen Gutsbesitzern aus der Emancipation erwuchsen. Es ist nicht etwa überraschend, dass eine solche Umwälzung keine wirthschaftliche Krise herbeiführte, sondern dass Bussland mit seinen ohnehin zerrütteten Finanzen nicht noch härter geprüft aus ihr hervorging. Die Vorschüsse der Regierung an die Freigegebenen erreichten bei dem Regierungsantritt Alexanders III. nahezu 750 Millionen Rbl., und — was sehr beachtenswerte ist — der Staat hat dem Mushik einen solchen Credit ohne Verlegenheit noch Verlust für den Reichsschatz eröffnen können2). Wäre die Operation ganz vollzogen, hätten alle Bauern die Hülfe der Regierung in Anspruch genommen und das Maximum des Landes losgekauft, auf welches das Gesetz 'l Der Leser wird bemerken, dass die Rententitel, die den Gutsbesitzern ausgestellt wurden, in 37 Jahren amortisirbar sind, während die Loskaufs-amiuitäten, die von den Bauern entrichtet und dazu bestimmt sind, die Vorschüsse der Krone zu tilgen, auf 4t) Jahre vertheilt sind Dass man nieht denselben Termin für beide mit einander zusammenhängende Operationen gewählt hat, geschah, weil man mit den Bückständen der Bauern in ihren Zahlungen rechnen zu müssen meinte. Diese Rückstände sind in der That beträchtlich genug, aber doch geringer, als vernnithet wurde; mitunter sind sogar Zahlungen vor dem Termin gemacht worden, so dass der Staat nicht etwa durch die Loskaufsoperation seine Schulden mehrte, sondern eitlen Ueberschuss von mehreren Millionen Rubeln hat. >) Der Metallrübe] ist bekanntlich 1 Frcs. Werth; während mehrerer Jahre vor dem bulgarischen Kriege stand der Papierrubel, der später auf etwa 2 Frcs. 50 sank, annähernd auf 8 Frcs. 5t). Am 1. April 1880 betrug die Summe aller vollzogenen Vorschüsse 73!> Millionen, während die aus diesem Capital im Jahr t«S7!t gezogenen Kenten 43 Mill. erreichten, zu denen noch 17 Mill. Bückstände kamen. Die russische Roiehsbank hatte durchschnittlich für die Dessätine Land 31 Rbl. 5t) Kop. und für die männliche Seele 107 Rubel vorgeschossen. S. das vortreffliche „Jahrbuch der russischen Finanzen" von Wesselowski. St. Petersburg 1HKO. ihnen ein Recht gab, so hätten die Vorschüsse der Regierung mehr als eine Milliarde von Rubeln betragen. Minige Zahlen werden den Stand der Operation beim Tode Alexanders II. darlegen. Am 1. Jan. INN'I verblieben noch in den -17 inneren Gouvernements 1,553,000 Revisionssetdend.h. mehr als 4 Millionen zeitweilig verpachtete, der Frohne und dem Obrok unterliegende Hauern. Die Zahl der früheren Leibeigenen, die zum Loskaufgeschritten waren, betrug in denselben Gouvernements 5,750,000 Seiden. Von diesen Hauern hatten 5,100,000 die Hülfe des Staats in Anspruch genommen, die übrigen, etwa 645,000, hatten auf diese Hülfe verzichtet. Zu diesen Zahlen sind noch 2,700,000 Seiden für die 9 westlichen Gouvernements hinzuzufügen, WO in Folge des polnischen Aufstandes die Fessel der Leibeigensehaft plötzlich gebrochen und der Loskauf unmittelbar obligatorisch gemacht war. Das ergab also für alle diese Gouvernements zusammen, welche die weitaus grösste Zahl der Leibeigenen umfässten, mehr als 8 Millionen Revisionsseelen, also ungefähr 20 Millionen Menschen, die endgültig von der Schollenpflichtigkeit entbunden waren und nur noch die Zinsen der Loskaufsanleihe tragen mussten. In dem übrigen Reiche und bis in die entferntesten Gouvernements, wie zum Heispiel im Kaukasus, vollzog sich die Operation in derselben Weise. In den letzten Jahren Alexanders II. machte sich eine Abnahme in der Loskaufsbewegung wahrnehmbar. Die Zahl der jährlich zu dieser Operation sich meldenden Hauern hat seit 1873 fast stetig abgenommen; im Jahre 1880 wurden ihrer nicht ganz 20,000 gezählt. So war Gefahr vorhanden, dass das Verschwinden der zeitweilig verpflichteten Hauern auf 15—20 Jahre weiter hinausgeschoben werde: das Institut der Frohne drohte hier und da bis in das zwanzigste Jahrhundert fortzudauern. . Es gab also bei der Thronbesteigung Alexanders III. eine grosse Anzahl von Bauern, die selbst nach dem Emancipationsstatul in gesetzlicher Abhängigkeit von dem Adel verblieben waren. 1882 standen noch mehr als 3 Millionen Bauern beiderlei Geschlechts unter der Vormundschaft ihres früheren Herrn und genau genommen in einer halben Leibeigenschaft, denn der Gesetzgeber hatte den Gutsbesitzern sehr ausgedehnte Vorrechte gelassen. Nach Art. 148 des Agrarstaats (Poloshenije) war der frühere Herr rechtlich der Curator der Gemeinden J) Wie zur Zeit der Leibeigenschaft versteht man unter Seele, dtiscba, immer den männlichen kopfsteuorpfliehtigen Hauer, ohne auf die Zunahme der Bevölkerung von einer Itcvision zur andern 1'ücksicht zu nehmen. der, zeitweilig verpflichteten Bauern; nach Art, 119 stand ihm die Gutspolizei und die Sorge für die öll'entliche Sicherheit zu: er konnte von der Gemeinde die Verhaftung schuldig befundener und verdächtiger Bauern fordern. Art. 160 ging so weit, dem adligen Gutsbesitzer das Recht zur Revision der Gemeindebeschlüsse und zur Suspendiniiig ihres Vollzuges zu ortheilen. Mehr noch, der Herr hatte in gewissen hallen das Recht, die Absetzung des Gemeindeältesten, des gewählten Hauptes der Gemeinde, zu fordern, das Recht selbst, die zeitweilige Entfernung eines Bauern zu gestatten oder zu verbieten. Wie widerspruchsvoll eine solche Abhängigkeit der Freigegebenen zwanzig .fahre nach der Freigebung war, ist klar. Um wirklich Freie zu sein, bedurften diese zeitweilig verpflichteten Bauern nach dem Ausdruck des Petersburger Publicisten E. Markow-, einer zweiten Emancipation. Diese Emancipation hatte das Gesetz vorgesehen und vorbereitet, sie vollzog sich schrittweise mit dem Loskauf, der die früheren Leibeigenen von jeder Verpflichtung gegen ihre Herren entband. Leider vollzog sich diese Operation in den verschiedenen Gouvernements in sehr verschiedener Weise: Gutsbesitzer wie Bauern waren weit davon entfernt, überall denselben Eifer für die Ordnung der Angelegenheit zu zeigen. So hatte im Gouvernement Kursk kaum die Hälfte der Bauern, in denen von Nishni, Tula, Orel, Astrachan kaum sjn im Jahre 1SS0 den Loskauf begonnen. In den acht Gouvernements der Ackerbauzohe im Innern, also in der reichsten Region des Reiches, waren zu derselben Zeit noch mehr als 25°/o der freigegebenen Leibeigenen, also 1,500,00(1 Bauern beiderlei Geschlechts zeitweilig verpflichtet1). In andern Gouvernements dagegen, wie in Wätka, Oren-burg, Charkow, Cherson war die Operation zu derselben Zeit fast vollendet. Der Grund dieser Abweichungen liegt in der Verschiedenartigkeit der Loskaufsbedingungen nach den verschiedenen Regionen. In den fruchtbarsten Gegenden der Schwarzerde, wo durch den Verkehr, den die Eisenbahnen eröffnet, der Werth dos Bodens rasch gestiegen war, fanden die Gutsbesitzer oft einen Vortheil darin, den Loskauf nicht zu vollziehen, um Bich mit Hülfe der Frohne Arbeiter zu wahren, die sie in enger Abhängigkeit hielten. Nun hatte nach dem Emancipationsstattil der Lauer nicht das Recht, den Loskauf zu fordern: dies Recht besass nur der frühere Herr, und in diesem Falle blieb den Bauern nur die Möglichkeit, ihre Antheile auf das gesetzliche Minimum der Localbestimmungen zu beschränken. Bei einem ') Statistik des europ. Russlands nach den Ermittelungen des sint. Central-imrejius. Bd. I. St. Petersburg 1880. solchen Gesetze erklärt sieh Leicht der geringe Fortschritt der Operation in den letzten Jahren. eine grosse Zahl der Gutsbesitzer gar nicht daran dachte, den Loskauf anzuregen, sondern weit mehr Interesse daran hatte, ihn fernzuhalten, konnte sich die halbe Leibeigensehaft der zeitweilig Verpflichteten bis ins Unendliche fortsetzen. Um solcher Anomalie ein Faule zu machen und die Beendigung jener grossen Operation zu beschleunigen, machte ein Ukas Alexanders III. den Loskauf vom Jahre 188.-1 ab obligatorisch. Dem Sohn gebührt so die Ehre, das Werk seines Vaters zu vollenden. Bemerkenswerth ist, dass die mit beiderseitiger Zustimmung der Gutsbesitzer und der Bauern vollzogenen Loskäufe die weniger zahlreichen sind, kaum 2/ö der Gesammtzahl; die übrigen, mehr als 60% sind auf Antrag der Gutsbesitzer oder der Greditanstalten zu Stande gekommen, bei denen die Gutsbesitzer ihre Güter verpfändet hatten. Die Ueberzahl der von den Gutsbesitzern geforderten Loskäufe erklärt sich aus dem Misstraucn des Mushiks und aus seinem Sträuben ein Feld zu bezahlen, auf dass er ein Recht zu haben meinte. Das ;'s war entscheidend für den Fama-, in diesem Artikel sein rechtes Glück zu sehen, ich selbst, derieb erklärt balle, auf Alles ohne Ausnahme irgend eines Artikels, eingehen zu wollen, halte nicht ein einziges Ansuchen um den Waisenan theil erfahren. (Sannirin an .Milutin 1. .lau. 18651.) -' Feim ersten Flicke scheint er-, als oh die dli',(K)(l Bauern, die am 1. .lau. 1882 den Loakauf ohne Hülfe des Staats vollzogen halten, für die wohlhabendsten gelten dürften; in Wirklichkeit ist es anders, da die Mehrzahl sich mit dem unentgeltlichen Viertel begnügt hat, so dass hier also überhaupt kein Fos-kaul' stattfand. Was man für ein Anzeichen des Wohlstandes des Bauern zu nehmen versucht wäre, ist so nur ein Anzeichen seiner Armuth. erhitzte Erwartung war zu weitgehend, zu chimärisch, um nicht von der Wirklichkeit enttäuscht zu werden. In den Träumen des Leibeigenen nahm das Bild der Freiheit um so glühendere Farben, um so blendendere Illusionen an, je verschwommener ihre Formen waren. Der freigegebene .Mushik hat vielfach die Uebel der Leibeigenschaft, die Frohne, den Obrok vergessen; er unterliegt der Versuchung, nichts als die jetzt noch bestehenden Lasten und das Sehwinden seiner Träume wahrzunehmen. „Der Vater," sagte in meinem Beisein eine alte Frau aus einem Dorfe am Bytiuk von ihrem verstorbenen Manne, „der Vater hat zur Zeit des Manifests einmal Nachts im Traume ein Feld gesehen und mir am Morgen gesagt: Ich weiss, was das bedeutet, wir werden niemals frei sein." Für diese alte Bäuerin hatte dieses Wort tiefe Bedeutung, noch fünfzehn Jahre später sah sie in ihm eine Prophetie oder Weissagung. Wie verstand sie diesen mysteriösen Traum? War das Feld, das ihr Gatte gesehen, das Symbol der Schollenpflichtigkeit, oder vielmehr das Bild des Besitzes und Wohlstandes, den der Bauer im Traume sah, in Wirklich-1 keit aber nieht erreichen konnte? Gleichviel, der Leibeigene und seine Balm, (Grossmutter, Frauchen, Wirthin) hatten sich verstanden: „Wir werden niemals frei sein!" Dieser naive Ausruf enthüllt die ungewissen und nebelhaften Wünsche des Mushik, die den socialistischeh Theo-rieen des Westens über die So laverei des Volkes und die moderne Leibeigenschaft nicht unähnlich sind. Auch hatte ein umsichtiger Mann den vielleicht mehr klugen als leicht zu befolgenden Bath gegeben, die Bande der Leibeigenschaft ohne Erschütterung zu lösen, statt sie zu zerreissen, „die Leibeigenen freizugeben, ohne das furchtbare Wort der Freiheit an ihr Ohr tönen zu lassen."') Für den Bauer der nordischen Ebene ist die wahre Freiheit wie für den Arbeiter unserer Industriestädte der freie Genuss des Lebens, der Besitz, der Ueichtlnmi: die Sclaverci, von deren Aufhebung geträumt wird, ist die Arbeit, die Soldarbeit zumal, die Tagesarbeit für einen Herrn.1') So ungefähr versteht auch der freigelassene Neger in den Tropen Sclavendienst und Freiheit; so gleichen sich unter allen Breiten und in allen Haren die Chimären der Volksträume. ') Sehedo-FeiToti iFarou Fircks). Die Freigebung der Hauern (iL u. II'. 3) Viele gebildete Fussen verstellen sie übrigens ebenso; hierin liegt, wie später gezeigt werden wird, einer der Gründe ihrer Vorliebe für den Gemeindebesitz und den Mir. S. z. B. Fürst Wassilsehtschikow: Landbesitz und Landbau (russ.) und in der Revue der d. M. 1. Mz. 1H7!'. Den Artikel des Verf.'s: IjC Socialisme agraire e| le regime de la propricte en Kuropo. Viertes Kapitel. Erfolge der Emancipation, Sitten and socialer Zustand sind weniger durch sie verändert, als es Gegner und Parteigänger derselben voraussetzten. Die Enttäuschungen und ihre Gründe. — (»ökonomische Wirkungen. — ihre Verschiedenheit in den verschiedenen Regionen. — Die Emancipation hat oft die Fxiston/.bediugungeii des Herrn mehr verändert, als die des Faltern, — Moralische und sociale Folgen. Nicht blos in den Hütten der Dauern schien die Emancipation weniger geboten zu haben, als sie versprochen hatte. Diese Umwälzung, welche an die Grundlagen der Gesellschaft und des Eigen-thmns griff, welche in den Augen der Staatsmänner, alle gesellschaftliche Ordnung in tiefahr bringen konnte, vollzog sich friedlich, fast ohne jede Unruhe noch Agitation. Die Freigebung der Leibeigenen war ein gewaltiger Erfolg, und doch für Viele, die an ihr gearbeitet hatten, eine Enttäuschung. An zwei entgegengesetzten Polen der civilisirten Welt, in Hussland und in den vereinigten Staaten Amerikas, vollzog sich fast gleichzeitig, aber mit sehr verschiedenen Mitteln dasselbe Werk. Uni den Preis eines mörderischen Krieges gewaltsam eingeführt, ohne Schiedsgericht noch vermittelnde Milcht warf die Befreiung der Sclaven in Amerika vorübergehend den weissen Herrn vor die Füsse des schwarzen Sclaven und schuf am mexikanischen Golf eine fast ebenso traurige, fast ebenso gefahrvolle Lage der Dinge, wie es die Sclaverci selbst gewesen. In Bussland dagegen hat die Emancipation keinerlei Kampf der Stände erweckt, noch konnte ein Haeenkampf aus ihr entstehen, sie hat weder Dass noch Nebenbuhlerschaft geweckt, hat den socialen Frieden nicht gestört, und doch ist von beiden Ländern schwerlich das Reich des Nordens das zufriednere mit seinem Werke. Wie ist dieser offenbare Widerspruch zu erklären? Vor Allem durch die Masslosigkeit der Hoffnungen, die im russischen Volke mehr als in jedem andern die Wirklichkeit überschreiten, durch die Gluth der Wünsche, die immerdar durch den Besitz getäuscht werden. Wie der unwissende Leibeigene hatten auch die Politiker und die Schriftsteller, das Publicum und die öffentliche Meinung sich Illusionen hingegeben. Hie gebildeten Bussen hatten in ihren Träumen ein Paradies auf Erden erschaut, das fast ebenso chimärisch war, wie das Eldorado, von dem der Mushik träumte, sie hatten ein freies, ganz neues, von dem alten der Leibeigenschaft ganz verschiedenes Russland gesehen. Nun war die Veränderung nicht so rasch noch so tiefgehend gewesen, als man vorausgesetzt hatte. Die urplötzliche Verwandlung war nicht eingetreten. Daher die Enttäuschung, die Eutmuthigung vieler der besten Geister. Dies ist ein Punct, über den man sich nicht täuschen darf: Die Emancipation und alle grossen Reformen, die sie im Gefolge hat, haben weder in den Sitten, noch in dem nationalen Leben alle die Veränderungen hervorgerufen, welche tiegner und Anhänger weissagten. Im Guten wie im Schlimmen sind die Folgen minder gross, minder sichtbar, minder scharf gewesen, als die Einen befürchteten, die Andern erhofften. Nach soviel Wertstreit, nach so hochtrabenden Zielen und so (lüstern Besorgnissen fanden sich die Männer des Fortschritts, wie die des Stillstandes zu ihrer Ueberraschung auf demselben Fleck und erstaunten darüber. Wie wenig weit sie gekommen. In dieser Beziehung gleicht Russland einigermassen einem Menschen, der eine gefährliche Operation durchgemacht hat, noch die ganze Wohl that derselben nicht omplindet, und sich jetzt nur glücklich fühlt, sie überstanden zu haben, aber zugleich unzufrieden ist, sich- nicht noch wohler zu fühlen. Bussland ist nicht das einzige Land, das solche schmerzhafte und sich widersprechende Empfindungen erlitten hat. Auch wir Franzosen haben unmittelbar vor und nach unsern Revolutionen nur allzusehr das Schwanken von Enthusiasmus zu Niedergeschlagenheit und jene moralische Erschlaffung erfahren, die den grossen Anstrengungen folgt, wenn die Erregung des Kampfes geschwunden ist. In Russland war die Reaction um so lebhafter, die Ernüchterung um so bitterer, als das Volk jünger war und das stolze Bewusstsein der Jugend in sich trug, Alles zu können. Man darf sich also über die Niedergeschlagenheit nicht wundern, die lange schon vor dem bulgarischen Kriege überall in der Öffentlichen Meinung und in der Presse zu Tage trat; man darf auch den Klagen des Pessimismus nicht allzuviel Gewicht beilegen, dem nach dem Kriege und den nihilistischen Attentaten oft freier Lauf gelassen wird. Wie man in Frankreich das Fehlschlagen von L789 and den Bankrott der Revolution prophezeite, so wurde in Russland der Bankrott der Emancipation und das Fehlschlagen der Reformen ausgeschrieen. Enttäuscht hat - besonders in-den Provinzen — die öffentliche Meinung das Interesse an den Fragen aufgegeben, welche sie bei der Thronbesteigung Alexanders II. leidenschaftlich bewegt hatten. Solche Stunden der Niedergeschlagenheit sind im Leben der Völker unvermeidlich; es wäre Unrecht die Schuld derselben auf die russische Unbeständigkeit zu wälzen. In jedem Lande wächst der Baum zu Langsam für denjenigen, der ihn gepflanzt hat, und überall kann die Ungeduld seine Früchte kaum erwarten. Mit der allgemeinen Klage über die Langsamkeit der sieh vollziehenden Fortschritte begnügen sich die Russen nicht. Viele behaupten, als ein feststehendes Axiom, die Lage der Landbevölkerung sei jetzl schlimmer, als vor der Lmancipation. Dieses Paradoxon ist fast zum Gemeinplatz geworden, die Verlegenheiten der Gegenwart haben die Missstände und die Schmach der Leibeigenschaft rasch vergessen lassen. Man sollte denken, so könnten nur Leute artheilen, welche durch Erziehung, Abstammung, Lebensalter dazu angelegt scheinen, die Vergangenheit ZU preisen. Dem ist aber keineswegs immer so: mit den Klagen der Lobredner „temporis acti" wetteifern die Klagen der Männer des Portschritts, die am wenigsten vor Neuerungen zurückschrecken. Merkwürdigerweise wird in diesem Lager der Pessimismus oft am rückhaltlosesten zur Schau getragen. Diejenigen, die am lautesten behaupten, das Manifest vom Ub Febr. sei eine Fehlgeburt, Bind nicht immer Leute, welche dessen Prinoipien fürchten oder verurtheilen, sondern oft gerade solche, welchen die Ackergesetze von lsbl mich nicht genügen, noch nicht weit genug gehen. lauer der Gründe dieses Widerspruchs und zugleich ein Theil der durch die Befreiungsacte hervorgerufenen Enttäuschungen liegt darin, dass die grosse Reform nicht von denselben Händen ausgeführt wurde, die sie mit peinlicher Sorgfalt ausgearbeitet hatten. Man darf nicht vergessen, dass die Hauptredacteure des Preigebungsgesetzes unmittelbar nach der feierlichen Proclamirung ihrer Agrargesetze zugleich mit Milutin in Ungnade fielen. Wie man auch ihr Werk und ihre Prinoipien beurtheilen möge, so lässt sich doch nicht in Abrede stellen, dass dieses Werk von ihnen selbst mit grösserer Entschiedenheit, Logik und Consequenz ausgeführt worden wäre, als von den 1 Linden ihrer Gegner oder indifferenter Leute. Lines ist sicher: in der Ausführung der Ackergesetzgebung hat ein anderer Geist gewaltet, als in der Redaction derselben. Wie die Mehrzahl der Reformen, welche ihr folgen sollten, hat auch diese Gründrefonn mindestens in ihrer praktischen Durchführung unter Wankelmuth und Zusammenhanglosigkeit, unter Mangel an Gesinnung und Mangel an festem Ziel gelitten. Die hervorragendsten Urheber des Gesetzes vom 1 tl. Febr. wären, wie Milutin, gern in der Praxis auf gewisse Verbesserungen des ursprünglichen Werkes der Kedactionscommissionen zurückgekommen. Sie hätten die neue bäuerliche Organisation gern auf bestimmte admini- strative, wirt1isc.liii.fi liehe und finanzielle Reformen gestützt, die nieht alle rechtzeitig oder nicht in gleichem Geiste unternommen wurden. Sie hätten, wie mir versichert wird, besonders auf die Erleichterung der Lage und Lasten der Hauern gedrungen, den Landloskauf namentlich durch einen systematischen Colonisationsplan zu erleichtern gesucht, statt es dem Mushik zu überlassen, das ihm versprochene Land auf gut Glück in der Ferne zu suchen. Vielleicht wäre es ihnen geglückt, all ihre Hoffnungen zu erfüllen und alle Enttäuschungen zu vermeiden, wenn sie die LYfornt nach ihrem Willen hätten durchführen können. Wenn die Emancipation nicht frei von Fehlern und Täuschungen blieb, so wäre es doch unbillig, alle Verantwortlichkeit hiefür auf Männer zu wälzen, die nicht selten gezwungen wurden, ihr Werk im Gegensatz zu ihrer eigenen Uebor-zeugung zu verändern, und die nach mühevoller Redaction und Codi-lication dieser complicirten Gesetze die Anwendung derselben Anderen überlassen mussten. Hat die Aufhebung der Leibeigenschaft auch nicht Alles geboten was die Ungeduld ihrer Anhänger von ihr erwartete, so ist sie doch durchaus nicht so fruchtlos gewesen, wie es häufig und mit Vorliebe behauptet wird. Politisch scheinen die Wirkungen der Emancipation fast null zu sein; in jeder andern Beziehung sind ihre Folgen zahlreich und schon augenscheinlich. Es wäre schwierig, sie auf einigen Seiten aufzuzählen. Doch lassen sie sich in drei Hauptpuncle zusammenfassen : wirtschaftlicher Fortschritt durch die Anspornung der Production, durch die Freiheit der Arbeit und durch die Con-currenz; moralischer Fortschritt durch die Befreiung des Volksbe-wusstseins und durch das neue Gefühl der Verantwortlichkeit; endlich sociale Umgestaltung durch die Zurückdrängung der patriarchalischen Gewohnheiten zu Gunsten des Individualismus. Die wirtschaftlichen Resultate sind vielleicht am schwersten abzuschätzen und zwar aus zwei Gründen: erstens weil das Eigenthum, der Ackerbau und die ganze bäuerliche Wirtschaft noch nicht aus der Verwirrung und der Unsicherheit der Ucbergangszeit herausgetreten sind; zweitens weil die Wirkungen der Freigebung in den beiden bei beiligten Classen muh Regionen, Gouvernements und Gemeinden, und in Betreff der frühern Herrn auch nach dem Charakter, den guten und schlimmen Eigenschaften der Individuen sehr verschieden sind. Den Fremden müssen füglich die mannigfaltigen und entgegengesetzten Ansichten, denen er in diesem Betreff begegnet, in Erstaunen setzen, Hierüber erteilen die Bussen im besten Glauben die widersprechendsten Auskünfte, jeder nach eigener Erfahrung und persönlicher Stimmung. Vor Allein muss bemerkt werden, dass keinerlei Combination es möglich gemacht hätte, die Emancipation durchzuführen, ohne einem der beiden Theile oder beide zugleich zeitweilig mit Schulden zu belasten. War das Prineip des Loskaufs einmal angenommen, so konnte der Gutsbesitzer unmöglich ohne Ueberlnstung des Hauern schadlos gehalten werden: das war ein durchaus unlösbares Problem, wenn der Staat nicht die Operation auf seine Rechnung übernehmen wollte oder konnte, und auch dann wäre dieselbe als Steuer mittelbar auf die Betheiligten zurückgefallen. Was war der Loskauf? Der Herr verlor bei ihm unausbleiblich einen Theil seines Capitals, oder der Bauer hätte Nutzung und Eigenthum des Bodens theurer bezahlen müssen, als die Nutzung allein. Aus diesem Dilemma führte keine Wissenschaft, kein Kunstgriff. Und erklärlich war es. wenn bald der Gutsbesitzer, bald der Bauer sich beeinträchtigt fühlte und mitunter beide gleichzeitig klagten. Wenn man von den ökonomischen Wirkungen der Emancipation spricht, wird der Satz: diesseit der Pyrenäen wahr, jenseit derselben falsch, zu unbestreitbarem Axiom. Was für die eine Region wahr ist, ist für die andre falsch, im Allgemeinen haben die Gutsbesitzer wenigstens in den ersten Jahren einen beträchtlichen Theil ihrer Einnahmen verloren; oft betrug dieser Ausfall ein Drittel. In den Gouvernements der Schwarzerde, WO der Boden fruchtbar und die Bevölkerung verhältnissmässig dicht ist, haben die frühem Herren bei der genügend vorhandenen Zahl von Arbeitskräften sich nicht lange über den Uebergang von Knechtsarbeit zu freier Arbeit zu beklagen gehabt. In den reichen Gouvernements Kursk, Drei, Tambow, \\ nronesh haben Grundbesitzer mit Capital und Ordnungssinn oft in wenigen Jahren aus ihren reducirten Gütern gleiche und bisweilen höhen1 Einnahmen erzielt, als bei doppelter Grösse der Ländereien zur Zeit der Leibeigenschaft. In dieser besonders begünstigten Kegion, in welcher die Eisenbahnen dem Ackerbau weite Absatzwege geöffnet haben, und der Boden oft auf das Doppelte, Dreifache, Vierfache seines früheren Werthes gestiegen ist, haben Gutsbesitzer und Bauern beide zugleich aus der neuen Ordnung der Dinge Gewinn ziehen können ]). ') Die rapide Preissteigerung des Hodens in den Tracht barsten Regionen erklärt sich nicht aus dem Htm der Eisenbahnen allein; sie ist eine der unmittelbaren Folgen der Fniancipalimi, welche das Land selbst frei und den Anders stand es in den südlichen Steppen und noch schlimmer in den nördlichen und nordwestlichen Regionen. In den Steppen, wo Land im üeberfluss, aber wenig Bevölkerung vorhanden war, Fugte die Aufhebung der Frohne dem Gutsbesitzer Verluste zu, für welche die Zinsen der Loskaufssumme keinen Ersatz bieten konnten. In den undankbaren Landstrichen im Norden und Nordwesten, in den Gouvernements Pskow, Nowgorod, Smolensk und Twer, wo der Boden von geringer Fruchtbarkeit und die Arbeitskräfte selten sind, da konnten die dem Adel gebliebenen Ländereien den Ertrag nicht bilden, den sie zur Zeit der unentgeltlichen Arbeit gebracht hatten. Der Unterschied ist so gross, dass viele Gutsbesitzer, denen der Labdbau allzu lästig und wenig einträglich schien, die Landwirtschaft und das Gut verlassen haben, um in den Städten vom Staatsdienst, von der Industrie oder dem Handel zu leben1). Diese Pomcschtschiks im Norden, die am schwersten von der Expropriation von 1S61 betroffen worden sind, haben oft die verhältnissmässig höchste Entschädigungssumme erreicht. Verloren die ihnen belassenen Ländereien beträchtlich an Werth, so wurden die den Hauern abzutretenden Ländereien ihnen zu einem viel höheren Preise berechnet, als der wirkliche Hodenwerth betrug. Daher ist dort der Hauer vielfach noch schlimmer daran. Ein grosser Theil der Leibeigenen dieser Gouvernements hatte die Bebauung der herrschaftlichen Güter aufgegeben, lebte auf dem Lande oder in den Städten von verschiedenen Gewerben und zahlte dem Gutsbesitzer einen Geldzins (< )brok). Um diese Gutsbesitzer nicht ganz dem Ruin verfallen zu lassen, musste man solche „Leibeigenen auf Obrok'' zwingen, wie alle andern Bauern, ein Grundstück loszukaufen, von dem sie ihren Lebensunterhalt oft nicht mehr zogen, und der Preis dieses Grundstückes, nach dem Taxwerth der Jahreszinsen berechnet, war in der Regel viel Landerwerb allen ('lassen der Nation zugänglich macht Die Capitalien der Kaul'leute und anderer städtischen ('lassen können nun in Grundeigenthum angelegt werden. So hatte sich denn auch nach den Ermittelungen dor l'nter-sucbiingscommission für die Landwirthsehalt von 1K7.'> die Zahl der Gründeten thiimer in dem Jahrzehnt nach der Emancipation um das Dreifache vermehrt. Dagegen hatte die VcrhältnissziU'or des Adels im Grundbesitz beträchtlich abgenommen. Viele Pomcschtschiks, die schon zur Zeit der Leibeigenschaft in Verlegenheit gewesen waren, hatten Liquidiren müssen. '] In dem Gouvernement Twer ist beispielsweise die Zahl der von den Herren geleiteten Landwirtschaften in achtzehn Jahren von 2860 auf 1802 gesunken; im Gouvernement Kostroma hat sie lim die Hälfte abgenommen. (Materialien für die Erforschung dor gegenwärtigen Lage der 1 .andwirthsehafl. I. Heft St. Petersb. 1880, russ.) — ,%r> — höher, als der mittlere, bisweilen als der höchste Reinertrag des ßodens in den besteh Jahren. Für diese zahlreiche Classe von Mushiks wurde der obligatorische Loskauf des Landes mittelbar zum Loskauf von der Leibeigenschaft Als der Kaiser den Fmaneipationsenfwurf dem Reichsrath vorlegen liess, halte er erklärt, „das Fundament des ganzen Werkes müsse die Verbesserung des Looses der Hauern sein und zwar nicht in Werten und auf dem Papier, sondern in der That und Wirklichkeit1). Diesen so grossherzigen Instructionen entsprechend hatten die Redacteure des PreigebÜngSgesetzeS den Taxwerth des obligatorischen Loskaufs so berechnet, dass er dem Dauer eine unmittelbare Erleichterung bot; aber sie hatten die Erhöhung der Steuern und Leistungen aller Art für Staat, Gouvernement und Gemeinde nicht mitberechnet. Gross ist die Zahl der Dauern, die heute Abgaben und Zinsen zahlen, welche gleich schwer sind, wie die der Leibeigenschaftszeit. Die Mehrzahl der Freigegebenen hat weniger Land und weniger Wald, oft weniger Vieh und weniger Credit, als vor der Funancipation. und zugleich doch gleiche oder höhere Lasten. Durch das doppelte Gewicht der Steuern und der fünfzig Annuitäten des Loskaufes ist die Freigebung für viele unter ihnen zu einer lis-Calischen Leibeigenschaft auf ein halbes .Jahrhundert geworden'-!. Da die Bauern von Taxen und Zinsen so schwer bedrückt sind, konnte die Funancipation weder den Wohlstand des Volkes noch die Cultur des Lodens rasch fördern. Erscheint in einigen Gegenden der Mushik auch hesser gekleidet und besser genährt, consumirl er z. 15. etwas mehr Thee und Zucker, kauft er Land und macht er selbst Einlagen in die Sparoassen, so darf man sich doch nicht dar- ') Rede des Kaisers am 27. Januar 1 HG 1 , veröllentlicht im Fehruarheft der Russk. Starina. %l) Alle Loealverwaltungen beklagen sich Aber das Missverhältinss zwischen Stenern und Hodenertrag. Nach einer in o.'lK Kreisen vollzogenen Erhebung, gtib es locht 10 von ihnen, in denen die Lage de)- freigegebenen Hauern zufriedenstellend war. Die den Bodenertrag übersteigenden Abgaben fallen in Wirklichkeit auf die persönliche Arbeil des Landbauers zurück. Fm dieses Bild nicht allzu linster zu malen, darf man nieht vergessen, dass die eine Hälfte des Fandvolks, die Kronsbauern, gewöhnlich sich in einer bessern Lage befindet, als die früheren Leibeigenen. Jene haben in der Hegel mehr Land und bezahlen es weniger theuer. In dem Gouvernement Twer bat man z. B berechnet, dass die ersteren weniger als 2 Hbl. für die Dessätin , die letzteren fast .'S Rbl. zahlten, dass jene im Durchschnitt !> Ubl. -':'», diese 11 Rbl. 7(> kop. Taxwerth zu entrichten hatten; S. Wassilschtschikou , Landbesitz und Landwirthsehalt F.d. II. pag. 668 661 i russ. |, J. r r<> y - H o u ii l i o ti. Keich r. 1881, mehrte und dadurch die Wohlthaten der Emancipation ernstlich hemmte. Trotz des Mangels im Reichsschatz hat die kaiserliehe Regierung besonders seil Alexanders III. Thronbesteigung nicht aufgehört, die Lasten zu erleichtern, welche das Landvolk niederdrücken. Das Scheint die Hauptaufgabe zu sein, die Kaiser Alexander III. sieb gestellt hat, der vor Allem um das Wohl seiner Irenen Unterthanen besorgt ist. Der Zar hat sieh das Ziel gesetzt, gleichzeitig die Steuern, die den Mushik Indien, und die Loskaufszinsen zu vermindern. Seit dem Ende der Regierung Alexanders IL handelte sichs unter den Ministerien Greigh und Abasa darum, die Kopfsteuer, die noch auf dem Mushik lastet, aufzuheben und die 60 Millionen Rubel, welche diese Personalsteuer einbringt, anfalle Stände zu verfheilen. Einer der ersten Kcgierungsaete Alexanders ITT., der die Absichten seines Vaters aufnahm, war der Lrlass eines 1,'kases, welcher in bestimmter Frist diese alte, mit der Leibeigenschaft eng verbundene Steuer aufzuheben anordnete 'j. Tin die Loskaufszinscn zu roduoiron. hat die Regierung Alexanders III. zu einem Compromiss Zwischen zwei verschiedenen Systemen gegriffen. Man hatte zuerst daran gedacht, alle Mittel, über welche der Staat verfügen könne, zur Entlastung der ärmsten Gegenden und der meisl verschuldeten Bauergemeinden zu verwenden. Die Schwierigkeiten einer solchen Ausgleichung, der Wunsch, die ganze Landbevölkerung an den Wohlthaten der neuen Ordnung theilnehnien zu lassen, führten dazu, dass dieser Plan wieder aufgegeben wurde. Entsprechend der .Meinung einer „Lxpertencommission", die für diesen Fall berufen worden war, entschied sich Alexander III. für den Erlass einer allgemeinen Reducirung für alle früheren Leibeigenen in Gross- und Kleinrussland. Der kaiserliehe Fkas, der den freigegebenen Dauern dieses Festgeschenk machte, versprach zugleich den nieistheladenen Gemeinden eine weitere, supplementäre Reducirung. Diese doppelte Operation soll den Mushik um 12 Millionen Rubel jährlich entlasten-1, ') Bis als Ersatz für die Kopfsteuer eine Grundsteuer, eine Einnahme- oder eine Frl>scha1'tsstcuor eingeführt werden kann, hat man von 1880 ab die Salz-acci.se aufgesehen, die, wenn sie auch unter die indirecten Stenern gesetzt war, in Wirklichkeit doch eine An von Kopfsteuer war, die besonders das Volk drückte. *) Von dieser Summe lallen nur .". Millionen unmittelbar auf den Feiclis- schatz; 2 Millionen sind von den Ueberschüssen der Loskaufscasse, 9 Millionen durch Gewinne der Reichsbank und die Liquidation der alten Creditinstitute gedeckt, die Rodueirwng wird durchschnittlich einen TJubol auf die Revisionsseele, das heisst auf den männlichen Kopf aller kopfstouorpllichtigen Bauern betragen r>. Die Erleichterung kann gering scheinen. Durchschnittlich beträgt sie ungefähr ein Siebentel der bis 1882 bezahlten Loskaufstaxe. Aber wie klein diese Reducirung auch sei, sie wird im Allgemeinen das Missverhältniss in den Zinszahlungen der früheren Privatbauern und der Kronsbauern versehwinden machen. Die 1 oder 5 Millionen, die dazu bestimmt sind, die mimlest begünstigten Gegenden zu unterstützen, werden leider wohl kaum dazu hinreichen, den Zustand der meist besteuerten Dauern sicher zu stellen. Vielleicht wäre es hesser gewesen, alle verfügbaren Mittel für sie zu reserviren, statt sie über alle Gemeinden von Gross- und Kleinrussland auszustreuen. Trotz der lobenswerthen Bemühungen der Regierung und der thatsächlichen Hülfe, die den Hauern in ihrer Nnth gebracht ist, werden viele von ihnen noch lange von der Last des Elends und der Zinszahlungen zu Boden gedrückt bleiben. Es steht zu furchten, dass in manchen Gegenden die Bauern dieselben Lasten, von denen Alexander III. sie durch Steuerverminderung befreien wollte, in anderer form wieder auf ihre Schultern wälzen sehen. In vielen Fällen droht der üeber-sehuss, den die Reducirung der Loskaufszinsen dem Freigegebenen lässt, durch die andauernde Zunahme der Landschafts- und Gemeindesteuern verschluckt zu werden. Wie ein Paradoxon enscheint es, dass die Lmancipation oft die Existenz der freigegebenen Hauern weniger, als die ihrer Herren verändert hat. An diesen letztem zumeist hat die Freigebung Gewohnheiten, Sitten, Lebensweise umgewandelt. Alle die Vortheile, alle die Bequemlichkeiten der Leibeigenschaft für die Gutsbesitzer Hessen sich nicht in Geld abschätzen. Die Leibeigenschaft und die Frohne — von allen kleinen Privilegien abgesehen — boten einen viel einfacheren und leichteren Modus der Ausnutzung, als die freie Arbeit. Mit dem Verluste der Arme ihrer Leibeigenen mussten die Gutsbesitzer auf ihre herkömmliche Indolenz verzichten; sie wurden gezwungen, selbst an ihre Geschäfte zu denken, gezwungen, sich den neuen Bedürfnissen anzupassen und mit den ihnen bisher unbekannten Schwierigkeiten zu kämpfen, ihre Art des Betriebes oder ') Diese allgemeine Reducirung wird etwa 7 bis X Millionen Rubel jährlich kosten, denn sie bezieht sich auf die Bauern der westlichen Gouvernements nicht, deren Zinsen schon seh ISO:! in Folge des polnischen Aulstandes reducirt worden sind, wenigstens ihre Art der Verwaltung zu ändern, ihre Arbeiter zu ergänzen und Qber den Arbeitspreis mit ihnen zu verhandeln, ihr Land zu verpachten oder es auf halbe Rechnung mit ihren früheren Leibeigenen zu bebauen: Alles Dinge, die in einem Lande zu Verwicklungen zu führen pflegen, in dem Pächter und Capitalien selten sind und jeder Dauer seinen Winkel Knie zur Bebauung eigen hat1). In den Augen von mehr als einem mürrischen Gutsbesitzer können all diese Verdriesslichkeiten nieht durch eine Mehrung der Linnahme aufgewogen werden. Und neben den grossen Schwierigkeiten giebt es kleine Aergernisse, die nicht immer die wenigst empfindlichen sind. Leber eines der Art hört man häufig klagen. Früher lagen die Herrensitze meist am Eingang der Dörfer, damit der Herl aus nächster Nähe seine Dauern beherrschen könne. Jetzt, wo die Hauerhäuser, die kleinen Gehöfte und die Dorfsfelder dem Mushik gehören, bleibt der Gutsbesitzer, der sich nicht einen neuen, allein liegenden Wohnsitz bauen konnte, der unmittelbare .Nachbar von Dauern, die ihm früher untergeben waren, die jetzt aber mit ihm keinerlei administrative Beziehungen mehr haben, und deren Ländereien von den seinen rings eingeschlossen sind. Diese Nachbarschaft ist ihm unbequem, er fühlt sich bald am eigenen Heerde nicht mehr heimisch, er ärgert sich, Säufern und Dieben so nahe zu wohnen. Mehr als einer erklärt aus diesem scheinbar nichtigen Grunde das Landleben für unmöglich. Unter allen Folgen der Emancipation ist eine der beaohtens-Werthesten sicherlich der Niedergang der patriarchalischen Sitten nicht nur in den Beziehungen zwischen Gutsbesitzern und Dauern, sondern auch in der Isba des Mushiks. Mit dem Hand zwischen Herrn und Leibeigenen ist auch das Hand zwischen Vater und Kindern, das Familienband, gelöst. Die Lust an der Freiheit ist bis an den lleenl gedrungen. Wie der Leibeigene das doch seines Herrn losgeworden ist, trachtet der Sohn nach Befreiung von der väterlichen Autorität, die bis dahin eine unbeschränkte gewesen. Die jungen Hausstände wollen unabhängig von ihren Litern leben, jeder beansprucht, sein eigen Haus und seinen eigenen Acker zu haben.2) Indem sie den Unabhängigkeitssinn reizt und dem Hauer die Freiheit der Bewegung giebt, muss die Emancipation auf die Länge '( S. Macken/ie Wallace, Russia Bd. II, cap. XXXF 2) Einer der besten Kenner Russlands, F. Le Play, hat in seiner „Reforme sociale", Bd. 1, cap. III, nicht ohne Besorgniss diese wahrscheinliche Folge der Emancipation vorausgesagt, lieber diese Revolution in den bäuerlichen Sitten vergl. weiter unten Buch VIII, Kap. II. zum Vortheil der Städte und naturgemäss der reichsten und fruchtbarsten Landstriche gereichen und das auf Kosten der ärmeren, in denen die Bevölkerung nicht mehr durch die künstliche Schranke der Leibeigenschaft zurückgehalten wird. Die Bevölkerung wie das Capital haben das Hestreben,*sieh immer mehr dorthin zu ziehen, wo die Arbeil den grössten Lohn findet. Die Colonisation der bestellbaren Steppen im Süden und Osten und der entfernten Xebenlünder des Reiches muss so aus dem Bruch der Fesseln der Leibeigenschaft Gewinn ziehen. Wenn sie daraus einen lebhaften Aufschwung nieht erfahren hat, so war es, weil sie in der Verwalt'Ungsorganisation, die noch die Bauern an einander bindet, in der solidarisch haftenden Gemeinde, ein Hinderniss gefunden hat. Diese Institution ist es zum grossen Theile, was die Umwandlung aufhält, aber sie hat durch Hemmung und Verlangsamung der Wirkungen der Emancipation vielleicht einem Gegenstoss vorgebeugt oder ihn abgeschwächt» Eine der wichtigsten und naturgemäss zugleich eine dor spätesten Wohlthaten der Freiheit wird die sittliche Hebung des Leibeigenen und des Herrn, des Mushiks und des Domeschtschiks sein. Hauern und Gutsbesitzer, die jetzt im .Mannesalter st (dien, sind unter der Herrschaft der Leibeigenschaft erwachsen. Sie beide stehen unter dem Einfluss der Erziehung, die ihnen diese traurige Lehrmeisterin gegeben. Viele dem russischen Adel und viele dem Volke vorgeworfene Fehler entstammen den entsittlichenden Lehren der Leibeigenschaft. Die entgegengesetzten und die, selbst bei allem Gegensatz doch mit einander zusammenhängenden Untugenden des Herrn und des Leibeigenen, die Selbstüberschätzung, die Frivolität, die Verschwendungssucht des einen, die Kriecherei, die Doppelzüngigkeit, die Sorglosigkeit des andern, die Faulheit und der Mangel an Vorsorglichkeit beider — sie fliessen alle aus derselben Quelle. Der Gutsbesitzer, dem die Leibeigenschaft ungeachtet seiner Unfähigkeit oder Unwissenheit sichere Einnahmen schaffte, ist heute gezwungen, mit den Menschen und den Charakteren zu rechnen und seinen Hausstand, wie seine Landwirtschaft zu verbessern; er ist verurtheilt zur Thätigkoit oder zum Untergang gegenüber der freien Arbeit und der Concurrenz! Die Narben, welche die Leibeigenschaft an dem Dauer zurückgelassen, sind zu alt und zu tief, als dass ihre Spuren in einigen Jahren sich verwischen könnten. Der Mushik ist faul und dem Schlendrian ergeben, er ist lügnerisch und verschlagen; ein Nationalsprüchwort sagt, ein russischer Hauer haut den Teufel übers Ohr. W as Hess sich Anderes von diese!1 langen privaten Knechtschaft erwarten, die Cur den Hauer sogleich auf die politische Knechtschaft folgte und ihm die Freiheit in «lern Augenblick raubte, wo sein Vaterland sich dos tatarischen Joches entledigte und frei wurde! Sicherlich ist der freigegebene Hauer weit davon entfernt, sich immer würdig des Cultus zu zeigen, welchen zahlreiche Verehrer in seiner Person dem russistdien Volke widmen. Der Mushik fährt fort, sich zu betrinken und sein Weib zu prügeln, er hat sich noch nicht daran gewöhnt, das Eigenthum Anderer in allen Fällen zu respectiren; aber alle diese bösen Neigungen haben lange Zeit in der Leibeigenschaft ihre Nahrung gefunden: der Trunk durch das Verlangen, die Schmach zu vergessen, die häusliche Rohheit durch die Grausamkeit des Herrn oder des Verwalters, der Diebssinn durch die Gewohnheit, Alles das als sein Eigenthum anzusehen, was dem Herrn gehörte. Diese Untugenden sind" keineswegs verschwunden, mehrere von ihnen sollen — wie die Pessimisten behaupten — jetzt noch mehr entfesselt sein, da sie keinen Zügel mehr fühlen. Die Trunksucht, sagen die Schwarzseher, hat erschreckliche Fortschritte gemacht; um trinken zu können, verkauft der Hauer sogar sein Ackergeräth. Das Lehel ist in der That gross; der Ueberscliuss der Einnahmen, der fast regelmässig dem Staat aus der Getränksteuer erwächst, beweist dies. Da dieser Ueber-sehuss indessen zu grösstem Theil der Nachsteuer auf Alcohol zu danken, da er mit keinem Ausfall in den andern Steuern, die auf dem Hauer lasten, verbunden ist, so zeigt die Finanzstatistik selbst, dass der Mushik trotz seiner Armiith genug gewinnt, um seinen gesetzlichen Steuern noch freiwillig den Schänkenzoll beizufügen, die Loskaufszinsen nicht gerechnet, die de facto ihn zwangsmässig Ersparnisse machen lassen.1) Ein weiterer Vorwurf, der dem freigegebenen Hauer gemacht wird, ist der Mangel an Umsicht. Weniger als in der Zeil der Leibeigenschaft weiss er sich durch allerlei Vorsichtsmassregeln vor der Unbeständigkeit des Klimas und den Wirkungen der Missernten zu schützen, denen in Russland die besten Landenden ausgesetzt sind. Dieser Vorwurf wendet sich im Grunde gegen die Leibeigenschaft, die ') Die Zunahme der Trunksucht Hesse sieb — wenigstens für die letzten Jahre doch noch sehr anzweifeln. Nach den neueren statistischen Erhebungen hat die Ilranutwcinproduction, die 1| waren ausser den Edelleutcn und den freien ColonistOn nur noch die Odnodworzüi, eine besondere Dauernclasse, persönliche Kigenthümer.1) In dem westlichen Russland, das früher polnischer und schwedischer Herrschaft unterworfen war und daher in engerer Beziehung zu Buropa stand, herrscht dagegen der persönliche Grundbesitz vor. In dieser Beziehung könnte man fast sagen, die Grenzen der beiden Besitzformen bezeichnen noch jetzt die alten Grenzen des moskowitischen und des litthauisch-polnischen Staates.") Li einigen Gouvernements, wie Kiew und Poltawa, besteht eine Mischung beider Formen; in einem oder zwei haben die Russen ohne viel Erfolg versucht, den Gemeindebesitz zu acolimatisiren. Das ist zum Beispiel im Gouvernement Mohilow geschehen. Der grossrussische Gemeindebesitz und die solidarische Haft sind dort nach der Freigebung und dem polnischen Aufstande von 1863 eingeführt worden; aber wenn man einigen Angaben der landwirtschaftlichen Enquete Glauben schenken will, SO führen die Bauern die Landvertheilling nicht wirklich aus. sondern sehen in ihr nur eine neue Art von Leibeigenschaft. In dem benachbarten Gouvernement Minsk hat sie nichts bewegen ') S. oben Ruch V.. Kap. I. Audi hei diesen war die Form des llodeie besitze« oft eine Art von .Faiuiliongomeinschaft. s. d. folgende Kapitel. -i In dem eigentlichen Litthauen, d. h. in den (rouvcrnenients Kowno und VVilna, wie in den drei baltischen Frovhi/.cn kennt man nur den persönlichen Grundbesitz. Derselbe ist auch in einigen Gemeinden des Gouvernements Fskow von ethnischen und lettischen Colonisten ans Livland eingeführt. In Weiss- und in Kleinrussland [iberwiegt noch, wenn auch nicht ausschliesslich der persönliche Rositz. In Bessarahien, wo sieh Hussen und Rumänen mischen, hestehen beide Systeme neben einander. Fs ist bemerkensworth, dass einige von den blühendsten deutschen Colonieen, an der untern Wolga namentlich, den russischen Gebrauch der periodischen Theilungen angenommen haben. können, an die Stelle unserer westeuropäischen Form des Grundbesitzes die grossrussische zu setzen. Die Kleinrussen sollen wie die Weissrussen dem Gemeindebesitz Widerstand leisten. Doch nieht überall: auf dem östlichen Dnieprufer, im Gouvernement Woronesh zum Beispiel, linden sich Kleinrussen, die an den Gemeindebesitz nieht weniger gewöhnt sind, nieht weniger an ihm hängen, als ihre grossrussischon Nachbarn. Anderwärts in Podolien und Wolhynien, wo der persönliche und erbliche Dösitz tief in den bäuerlichen Gewohnheiten zu wurzeln schien, haben Dauern nach der Emancipation, durch die Sie zu Landbesitz kamen, sieh gegenseitig dahin verständigt, die Grenzen ihrer Ländereien aufzuheben und den Boden aufs Neue unter die verschiedenen Familien zu vertheilen. Einige Dörfer dieser Gouvernements sollen später sogar zu jährlichen Theilungen vorgegangen sein. Diese bisweilen zu Gunsten des Genieindeeigenthums angeführte Thatsache 'j lässt sieh wohl auf zweierlei Weise erklären. Der Loskaufsmodus, der für die dem Dauer zugestandenen Ländereien angenommen ist, war dem System der bäuerlichen Gemeinden so gut angepasst, dass der Loskauf mit der solidarischen Haft der Gemeinde mitunter den Gemeindebesitz, wenn nicht auch die periodischen Theilungen in Gegenden einführte, wo sie seil lange nicht mehr in Gebrauch standen.1') Die Last der Steuern, die oft den grössern Theil des Landertrages verzehren, hat zu einem Resultat beigetragen, das die Theorie Tschitscherins über die Einführung der periodischen Theilungen im alten Moskau durch zeitgenössische Beispiele scheinbar rechtfertigt. Endlich sind noch, nach mehreren Angaben der Landbauenquete, die Unklarheit der Vorstellungen des Dauern vom Besitzrecht, die Verwirrung seiner diesbezüglichen Rochtsbegrifle, sein Mangel an Vertrauen auf den Reohtslitel des Eigenthümers in vielen < legenden sehr wichtige Gründe für die Theilungen gewesen. Wenn man einem der localen Adelsmarschälle glauben wollte, so setzen die Bauern Wol-hyniens nicht Vertrauen genug in die Dauer ihres Besitzrechtes, um dem Drängen der Gemeinde zu widerstehen, sobald es der Majorität ') Wassiltschikow, Landbesitz und Landwirthschaft. Bd. Ii. p. 717, 748, 749. a) Juri Samarin, der grosse Bewunderer der grossrussischon Gemeinde, freute sich das seit |SI'd verzeichnen zu können, ,,ln Kleinrusslaud", sehrieb er seinem Freunde N. Milium, „vollziehen sich, was sehr bemerkenswert» ist, Loskaufe durch die vollen Gemeinden iiiii solidarischer 11 alt bflrkeil (sa kruguwuju poniku) und nieht durch Verbindungen nach Gehöften." (Brief VOm 17. Aug. 1861.) der Glieder gefällt, sich einer neuen Landvertheilung zu unterwerfen.1) Nach dieser bemerkenswerthon Angabe thäte den wohlhabenden Bauern eine Aufklärung über die Giftigkeit ihrer Rechte und eine Verbürgung des Besitzes der Ländereien noth, die ihnen zugesprochen sind. Wie es nun auch mit diesen Einzelheiten stehe, die Emancipation hat mittelbar dahin gewirkt, in Distriete, die bisher den Gemeindebesitz und die Landtheilungen nicht kannten, dieselben einzuführen.*) Seltsam genug! Die Statuten von 1861 scheinen so diejenige Form des Grundbesitzes auf neue Dörfer ausgedehnt und gleichzeitig in ihrem alten Gebiete befestigt zu haben, welche drei Jahrhunderte früher gerade durch die Einführung der Leibeigenschaft zur Geltung gelangt war. Zweites Kapitel. Die Dorfgemeinden haben ihr Vorbild in der Familie. — Die Gemeinde, als erweiterte Familie betrachtet. — Verwandtschaft der Dorfgemeinschaften mit den Familiengemeinschaften, Die patriarchalischen Sitten des Mushiks und die alte bäuerliche Familie. — Autorität des Familienhaupts. — Gütergemeinschaft. — Die Emancipation hat die Familienbande gelockert. Zunahme der Familiontheilungen, ihre materiellen Missstände und ihr moralischer Nutzen. — Knechtschaft der Frauen. — Fortschritte des Individualismus und seine Folgen, In den Dorfgemeinschaften Grossrusslands lässt sich ein noch älterer, einfacherer und zugleich noch immer lebendiger Urtypus er- l) Fnquete-Fonimission für die Landwirthsehaft. Bd. II., Wassiltschikow. Bd. II. p. 717. 748. '-') Fs handelt sich hier natürlich nur um vereinzelte Fälle. Hei Febertragung des (Irundcigcntlnuns an die Hauern, die dasselbe bisher in Nutzung hatten, schonten die Gesetze von 1861 in jeder Gegend ilic dort üblichen Form des Landbesitzes. Wie oft man auch im Inlande und Auslande den Redacteuren der Fmancipafinnsacte Parteilichkeit für den Gemeindebesitz vorgeworfen hat, so haben sie sich doch in Wirklichkeit darauf beschränkt, den Gemeindebesitz dort aufrecht zu erhalten, wo er bereits bestand, und sich dessen enthalten, ihn an andern Orlen auf gesetzgeberischem Wege einzuführen, Milutin hob das in Paris in der Socictc des Economistes im Mai 1863 hervor: ,Der Gesetzgeber legi der Landbevölkerung keine der For.....n des Landbesitzes, als vor andern vorzüglich, auf; der Landbesitz kann persönlich oder commuual sein, je nach dem in jeder Region des Reiches bestehenden Herkommen; es wird vom freien Willen der Erwerber seihst abhängen, die durch die Gemeinde gekauften Ländereien als privates oder allgemeines Eigenthum zu besitzen. (Journal der Economistes. Juni kennen, die Familie. In der Isba des Mushik hat die Familie 1 hat-sächlich bis auf unsre Tage einen patriarchalischen, antiken, archaistischen Charakter behalten. Unter den Hauern bleibt der Grundbesitz zwischen den Kindern und Brüdern, die zusammen leben, ungetheilt; jeder Sohn, jedes männliche Familionglied hat darauf, ein gleiches Hecht. Die Feldgenossenschaft scheint in der Familie sich im Keime wiederzufinden; die eine ist nach dem Vorbild der andern eitstanden. So kann die russische Gemeinde als eine erweiterte Familie betrachtet werden, in welcher der Grund und Boden als gemeinsames Eigenthum der Genossenschaft verblieben ist, und jeder Mann oder jeder Haushalt ein gleiches Stück zur Nutzung erhalten hat. Man hat denn auch den moskowitischen Mir für eine blosse Erweiterung der Familie angesehen, die allzu zahlreich geworden sei, um in demselben Gehöfte zu wohnen und gemeinsam den Ackerbau zu betreiben. Nach diesem System hat die Gemeinschaft der durch das Beisammenleben erzeugten Interessen Leute dauernd an einander gebunden, die schon durch die Erinnerung oder die Tradition einer ursprünglichen Verwandtschaft zusammenhingen. Au die Stelle tles familiären oder patriarchalischen Wesens trat allmälich das der Gemeinde; der Familiengemeinschaft folgte die Dorfgemeinschaft. Diese Anschauung, die mit den Theorieen vieler russischer und nicht russischer Gelehrten übereinstimmt, mag oft der Wahrheit entsprechen, doch trifft sie weder immer noch überall zu. Schwerlich lassen sich die Glieder der meisten Dorfgemeinden als Abkömmlinge eines gemeinschaftlichen Vorfahren ansehen, selbst wenn sie sich selbst für solche halten. Es könnten unseres Erachtens gegen die historischen Bedingungen der Abstammung der Gemeinde und der Familie und selbst gegen die Reihenfolge der Abstammung der Familien- und Dorfgemeinschaften Zweifel erhoben werden. Vielleicht hat bei jenen Formen des Besitzes mitunter eine abwechselnde Goschloohtsfolge bestanden, vielleicht war die Gemeinde ursprünglich aus der Familie und ihrerseits die Familiengemeinschaft aus einer Spaltung der Dorfgemeinschaft entstanden. ') ') In ihrer jetzigen Form wenigstens erscheinen die Famih'engenossonsehaf-ten nicht älter, als die Dorfgenosscnschaft, die serbische Sndruga nicht alter, als der russische Mir. Jene setzen, wie sie noch bei einigen Südslaven bestehen, thatsächlich eine erbliche Aneignung des Hodens zu Gunsten bestimmter Dorfbewohner voraus; darin Messe sich ein Fortschritt zur Individualisirung, ein üebergang vom Eigenthum des Clan oder der Gemeinde zu dem persönlichen Eigenthum sehen. Deberdies ist d;is Grundstück der Familiengenossenschaflen gewöhnlich viel kleiner, die Zahl ihrer Glieder Viel geringer, als in den Dorf- Ks ist hier nicht der Ort, bei diesen besonderen und dunkeln Fragen nach dem Ursprünge zu verweilen. Wie auch der Entwicklungsgang des Collectivbesitzes beim russischen Bauer gewesen sei, das Band der Familie und das der Gemeinde, das des häuslichen Lebens und das des Mirs sind bei ihm allzu eng geknüpft, als dass man sein Yerhältniss zu Gemeinde und Mir ganz verstehen könnte, ohne sein Familien- und häusliches Leben zu kennen. Es ist um so interessanter, einen Blick in das Haus und Heim des Mushiks zu weifen, als die alten Sitten immer mehr verschwinden. Was bis zur Aufhebung der Leiheigenschaft die Familie des Mannes aus dem Volke kennzeichnete, war die Einigkeit; es waren bei gemeinsamer Wohnstatt die Gütergemeinschaft und die väterliche Autorität. Jetzt hat, wie schon bemerkt wurde, die Emancipation in wenigen Jahren diese uralten Sitten erschüttert. Die friedliche Revolution, welche die Lande zwischen dem Herrn und dem Leibeigenen zerschnitt, lockerte auch das Hand zwischen dem Vater und seinen Kindern, Mit der Freiheit zugleich trat auch das Verlangen nach Unabhängigkeit au den Herd des Hauses. Dies war eine der wichtigsten und natürlichsten Folgen der Emancipation; es ist aber zugleich auch ein Vorgang, der auf die Gemeinde, auf die ganze moralische und materielle Existenz des Mushiks zurückwirken muss. Nach alter russischer Sitte ist der Vater der Familie unumschränkter Herr in seinem Hause, wie der Zar in der Nation, oder — nach einem alten Sprüchwort — wie der Chan in der Krim. Um ein ähnliches Yerhältniss in Westeuropa wiederzufinden, müsste man bis über das Mittelalter hinaus, auf das classische Alterthum und auf die väterliche Gewalt bei den Römern zurückgehn. Bei den russischen Bauern befreite das Lebensalter das Kind von der Autorität des Vaters nicht; der erwachsene und verhoiratheto Solin blieb ihr unterwerfen, bis er selbst Kinder im Mannesalter hatte oder seinerseits Haupt des Hauses geworden war. Die häusliche Souveränität gciiosscnschafteii. Die serbische Sadruga zählt gewöhnlich 10 bis "25, ausnahmsweise 50—60 Personen. Wird die SadfUga zu zahlreich, so spaltet sie sich in der Regel in zwei. Fs giebt in Serbien Dörfer, die den Namen einer Familie tragen und deren Einwohner derselben Wurzel zu entstammen scheinen; aber diese Dörfer bestehen immer aus mehreren ticnossenschal'ten. (S, z. I>. „Droit coutoumier des Slaves nieridionaux, d'apivs les recherches de M. Roguiehitch [Mir F. Dernelitch." Paris 1S77.) Kurz, die serbische Sadruga kann wohl durch Theilung aus einer ursprünglichen Faiiiilieiigciueinschaft hervorgegangen sein, doch kaum aus Dorfgemeinschaften, Während der russische Mir sehr wohl durch Theilung FamJliengenossenschaften erzeugen konnte, die der Sadruga sehr ähnlich sind; dergleichen scheint mehrmals Vorgekommen zu sein, S. weiter unten. war bei allen Veränderunger und Umwälzungen in Hussland unberührt geblieben. Wie der Zar, schien der Vater vom Himmel eine Art göttlichen Rechtes erhalten zu haben, gegen das sieh zu erheben eine Gottlosigkeit gewesen wäre. Im sechzehnten Jahrhunderl preist der Priester Sylvester, ein llathgeber des Zaren Joann IV., in einem Bandbuch über häusliche Wirtschaft, dem „Domostroi" die Autorität des Familienvaters und sein Hecht, Kindel- und Gattin zu strafen. Im Adel ist diese väterliche Gewalt durch die lange Berührung mit dem Westen und dem modernen Individualismus abgenutzt und abgestumpft; es sind nur einige äusserlieho Gebräuehe übrig geblieben. Wie die rührende slavische Sitte, nach jeder Mahlzeit den Eltern die Hand zu küssen. Im Volke aber, beim Hauer wie auch beim Kaufmann, waren die alten Traditionen bis dahin lebendig geblieben. In diesen beiden Ständen, den nationalsten in Hussland, war die Familie bis zum letzten Viertel des neunzehnten .Jahrhunderts viel fester organisirt, als in irgend einem Fände Europas. In dieser, wie in mancher andern Beziehung stand Hussland unlängst noch in dem grössten Gegensatz zu den Vereinigten Staaten Amerikas, so sehr unterschied die väterliche Gewalt zwei Familien, die doch beide die Gleichheit ihrer Kinder zur Grundlage hatten. Heim russischen Volke stützt sich die väterliche Gewalt auf ein religiöses Gefühl; sie ist mit der Ehrfurcht vor dem Alter verbunden. Meine Nation hat hierin so sehr die einfachen und würdigen Sitten der Vergangenheit sich bewahrt. Der Mann aus dem Volke grüssl die Männer von höherem Alter, als dem seinigen, mit der Anrede „Vater" oder „Onkel"; in allen Lagen, im öffentlichen wie im privaten Verkehr, erweist er ihnen eine ehrfurchtsvolle Ergebenheit. Dieser Uospect der -lugend vor der Ehrwüdigkeit und Erfahrung des Alters war bis vor Kurzem die Grundlage des inneren Selfgovernments der Hauergenieinden. „Wo die weissen Haare sind, da ist die Vernunft. da ist das Recht" heisst es mit vielen Varianten in volkstümlichen Sprüchwörtern. Von einem Greise, zumal von seinem Vater, ertrug der Russe Alles mit Unterwürfigkeit. Durch eine Strasse Moskaus gingen an einem Feiertage zwei Mushiks. der eine in reifem Alter, der andere bereits von der Last der Jahre gebeugt. Der letztere, der Offenbar getrunken hatte, belästigte seinen Genossen mit Vorwürfen und liess den Beleidigungen Schläge folgen. Der jüngere, stärkere, liess ihn gewähren, setzte den Gewalttätigkeiten des Greises nur Entschuldigungen und Hilten entgegen und sagte, als man sie trennen wollte: „Lasst nur, es ist mein Vater". Dergleichen Züge sind nicht selten. Da aber jede Tugend leider diejenigen, die aus Leroy-H o un Ii eu, licieh d. Zaren u. (rUSS.). Familiengenossenschaften, in denen einige russische Gelehrte einen besondern Typus des Bodenbesitzes erkennen, und die sie Besitz nach Höfen (podwornoje wladenijc) nennen, finden sich noch in einer kleinen, besonderen ('lasse, den Odnodworzen, namentlich im Gouvernement Orel. S. Matwcjow: Einrisse des nationalen Hechtswesens im Gouvernement Orel (russ.). ■) So war es in einer Familie in Kursk, deren Monographie Samokwassow giebt (Mem. der Kais, geogr. Ges., Abtb, für Ethnol. 1878, HL Tb., II, 15), Diese Familie oder vielmehr diese Fanuliengeiiossenschaft, unter dem Namen der SolYonilsch bekannt , tunfassle 1*72 1- Fcrsonen , die — wenigstens die .Männer — alle von einein gemeinsamen, vor etwa t>0 Jahren verstorbenen Vorfahren stammten, dessen Söl..... und nach deren Tode die Faikel und Frenkel abgemacht hatten, unter Leitung eines von ihnen gemeinsam Wirlhschaft und Fandbau zu treiben. 1N72 zählte diese Familie S verheiratbete Faare, 2 Witwen und mehr als 20 junge Leute und Kinder beiderlei Geschlechts; alle bewohnten denselben Hof oder Dwor, der aus 4 Isbas bestand. Gegen 1876 bestimmten häusliche Unglücksfalle und namentlich der Wahnsinn, dann der Tod eines Hauptes, das sie vierzig Jahr geleilet hatte, die Sofronitsch, sich in -1 Gruppen zu theilen, ran denen jede wieder eine kleine Familiengenossenschalt bildete, Bezug auf die Verwaltung der Familienländereien volle Autorität, seine Frau in Bezug auf die häuslichen Arbeiten. In den grossen Familien, die aus mehreren Hausständen zusammengesetzt waren, hörte übrigens in den wichtigsten Angelegenheiten der „Alte" den Ifath seiner Verwandten oder Genossenschaftsglieder an. Der Domochosain war rechtlich der Vertreter der Familie in allen privaten und Öffentlichen Geschäften; in Vereinigung mit seinen Genossen bildete er die Gemeindeversammlung, in welcher auch weniger das Individuum, als die Familie in der Person ihres Repräsentanten Sitz und Stimme hatte. Während der Deibeigenschaftszeit blieb die bäuerliche Familie mit Vorliebe eng zusammengeschlossen.1) Man fürchtete die Theilungen, sie fanden nur da statt, wo das Haus oder der Hof für die Zahl der Bewohner zu eng wurde, Der Eintritt dieser Notwendigkeit galt für ein Uebel, die Theilung des kleinen angestammten Ga-pi(als wurde die ,,Schwarzas'' (d. h. die Unglücks-) Theilung genannt. Das Interesse des Herrn, der das Holz und die Materialien zur Erbauung neuer Isbas liefern musste, stimmte mit der traditionellen Abneigung gegen die Zerstückelung der Familien überein. In Folge dieses Herkommens hätte das von den frühern Leibeigenen losgekaufte Fand zur Zeit, der Emancipation den verschiedenen Häusern zugetheilt werden sollen, damit die kleinen, der serbischen Sadruga sehr ähnlichen Familiengenossenschaften an die Stelle der grossen Dorfgenossenschaften getreten wären. Heutzutage, wo mit der Freiheit der Individualismus und der Unabhängigkeitssinn bis in die Wohnung des Mushiks gedrungen sind, kann die Aufhebung des Gemeindebesitzes nur zu Gunsten des Individuums vollzogen werden, und der russische Hauer wird die Mittelstufe nicht zu betreten haben, auf welcher am Ire slaviseho Völker stehen geblieben sind. In einem Hause, in dem der Besitz ungetheilt bleibt, sind es nicht sowohl die Todesfälle, welche die Erbfolge eintreten lassen, als die Trennung der Lebenden, was Anlass zu einer 'Theilung giebt. Lei solcher Theilung, deren Regeln oft nach örtlichen Verhältnissen wechseln, kommen gewöhnlich nur die .Männer und die verwittwelen Mütter minderjähriger Finder in Betracht. Die verheiratheten Töchter haben keinen Anspruch, da sie als zur Familie ihrer Schwiegereltern gehörig angesehen werden, die unverlieiratheten haben nur auf einen ') Wie In der serbischen Sadruga gehörten das Haus, das Vieh, das Acker baugeräth, der Dausrath, die Ernten der Genossenschaft; nur die Gegenstände ZU persönlichem Gebrauch, die Kleider, der Schmuck waren individuelles Eigenthum, Theil des Mobiliars und des baaren (iridis, bisweilen auf einen Theil des Viehstandos, der Kühe, Sehale u. s. w. ein Anreeht — je nach dem örtlichen Herkommen. Bei den Gross- und Kleinrussen, in der grossen wie in der kleinen Familie bilden die Frauen, namentlich die Töchter, in Beziehung auf das Grundeigenthum keinen integrirenden Theil des Hauses, noch der Genossenschaft. Di*' Tochter ist nur der zeitweilige Gast im väterlichen Hause, das sie früher oder später verlassen muss. um dem Gatten zu folgen. Selbst die Frau des Familienhauptes hat, nur die Leitung der häuslichen Arbeiten in der eigenen Wirthschaft, ist aber nicht Miteigentümerin des Genossenschaftsbesitzes. Erhält die Witwe auch bisweilen bei Theilungen einen Antheil. erfüllt sie selbst die Pflichten des Familienhauptes, so geschieht das nur in Vertretung ihrer unverheiratheteu Kinder. Die Frau hat in Wirklichkeit weder ein Recht auf diellabe ihrer väterlichen Familie, noch auf die der Familie ihres Ehemanns. Dagegen erlaubt man ihr, was den Männern versagt ist, eigenen Besitz ausserhalb des gemeinsamen zu haben, mitunter für eigene Rechnung zu arbeiten, sich durch einige Ersparnisse an dem Lein und der Wolle, die für die Kleidung ihres Mannes und ihrer Kinder bestimmt sind, eine Art von Xothpfennig zu sammeln, den man in einigen Gegenden ihren Kasten oder ihren Korb (Koröbja plur. v. Korbb) nennt. Diesen Kasten, zu dem die Frauen allein den Schlüssel haben, nehmen die Töchter bei ihrer Heirath mit sich; es ist ihre Mitgift.1) Die Korohja einer kinderlos verstorbenen Frau fällt gewöhnlich an die ursprüngliche Familie zurück, nicht an ihren Vater oder an dessen Genossenschaft, sondern an die Mutter der Verstorbenen und, in Ermangelung einer solchen, an ihre unverheiratheteu Schwestern. Der Sparpfennig und die Kleider der Mutter gehen in der Hegel auf die unverheiratheten Töchter über, und wenn bisweilen bei Familientheilungen das Herkommen den ') Da, wo ein junges Mädchen herkömmlich sich einen Kasten oder die Korohja anlegen darf, die mittelbar von der Genossenschaft erhoben ist, ist es in ()!!, führt mehrere ähnliche Beispiele für Klcinrussland an. bisweilen einer verheiratheten Tochter oder einem Sohne, der das Haus verlassen hat, oder endlich verwaisten Neffen oder Kindern, die von dem Erblasser angenommen wurden. Das FI er kommen würde, soweit wir das beurtheilen können, dem Familienvater nie erlauben, seine Kinder des Hauses in dem sie erwuchsen, oder des ganzen Nachlasses zu Dunsten Fremder, die ohne moralisches Anrecht auf die Erbschaft des Verstorbenen sind, zu berauben. Wie gross und wie geachtet auch die väterliche Autorität sei, ein unbeschränktes Recht, wie es anderwärts unter dem Namen der Teslirungsfreiheil gefordert wird, erkennt ihr der Mushik doch nicht zu. Alles, was die Gütertheilung in der Familie, was die Landvor-tlieiluug in der Gemeinde betrifft, stellt das tiesetz der Tradition und dem Herkommen anheim. Das Generalreglement der Emancipations-acte sagt wörtlich: „Die Hauern haben das Recht, in Bezug auf die Erbschaftsordnung dem localen Herkommen zu folgen." Durch diesen einfachen Gesetzesparagraphen ist die Landgemeinde von dem Civil-recht, von dem geschriebenen Gesetze eximirt.]) Eine derartige Freiheit entspricht dem Wesen und den Bedingungen der Autonomie des russischen „Mir". Das Drivatreoht der Hauern bildet jedoch zu allzuviel Streitigkeiten Anlass, als dass ein solcher Spielraum in einer Periode des Uebergangs und der Sitten-veränderung, wie die jetzige, nicht zu Missbräuchen und Ungerechtigkeiten führen müsste. So haben denn auch bei Anlass der landwirtschaftlichen Enquete weitsichtige Männer von sehr verschiedenen Lichtungen, wie der frühere Minister des Innern und der Domänen Walujew und der Fürst Wassilschtschikow, die Forderung gestellt, dass das bäuerliche Privafcrecht nicht durchaus dem Herkommen überlassen bleibe, sondern auf legislatorischem Wege geordnet werde. Die Schwierigkeit liegt nur darin, die bestehenden Gebräuche nicht zu vergewaltigen, indem man ihre Ausübung regelt. Die in Kraft stehenden Gebräuche sind nach Landschaften und Gemeinden und selbst nach Ursprung der Bevölkerung sehr verschiedenartig. In einem Dorfe behält beispielsweise im Falle der Theilung der älteste Sohn das väterliche Haus: in einem andern ist es der jüngste, wie es auch in einigen Gegenden der Schweiz und Deutschlands geschieht, wobei vorausgesetzt wird, dass der älteste sich schon bei Lebzeiten des Vaters anderswo sein Haus gründen könne. Wenn vom bäuerlichen Erbfolgerecht die Beile ist, darf ferner nicht übersehen werden, dass ') lasier Theil des Gencralreglenients, Kap. IL, Art. 38. Heber diese Frage und das < Jewolinhcitsrccht 8, unsern Bd. IL, Fach IV, Kap. II. die Gemeindeländereien, wenn sie auch nicht unmittelbar dem Erbrecht unterliegen, doch mittelbar von diesen Wirthschaftstheilungen bei ndlcn werden. 1 ) Theilungen sind heutzutage nicht mehr selten; es sind nur wenig Isha's. unter deren Dache mehrere verheirathete Paare leben.-) Die jungen Leute, besonders die jungen Weiber, sehnen sieh noch Unabhängigkeit; die jungen Hausstände möchten gern an der Spitze des Hauses stehen, um sich vollkommen frei zu fühlen. Diesem Drang, der mit dem System der Feldgemeinschaft in Widerspruch zu stehen scheint, findet gerade in ihm mitunter Ermuthigung, denn die Gemeinschaft bietet jedem Manne oder jedem Paar einen Landantheil. Andererseits kostet die Errichtung eines Holzhauses wenig; jeder Russe ist Kimmermann, jeder Bauer versteht BS, Bich in wenig Wochen eine Wohtistütte zu bauen. So hat denn auch seit der Freigebung die Zahl der Isbas beträchtlich zugenommen, wofür dieselben wiederum kleiner und ärmlicher geworden sind. Die Zunahme der einzelnen Höfe oder Haushalte betrag! mindestens LT) 30 %8) Diese Zersplitterung der Familien, die nur eine mittelbare Folge der Freigebung ist. schein! eine der Ilauptursaohen dafür zu sein, dass in vielen Gouvernements so wenig Erfolge der Dauernfreiheit, so wenig Fortschritte des Ackerbaus und des Wohlstands sich zeigen. Die heutzutage häufig gewordenen Theilungen bringen zwei Missstände mit sich, die für den Landbau und das Gedeihen iles Volkes fast gleich drückend sind. Erstens wird durch die Trennung der Päreellen, die von den Gemeinden den Gliedern einer Familie zugetheill sind, eine übermässige Zersplitterung des Hodens herbeigeführt; zweitens werden durch die unbegrenzte Theilung des Detriebscapitals, des Viehstandes ') Die Familientheilungen bringen in der Regel die Theilung der commu-ualcii Ländereien, die den sich trennenden Haushalten zugewiesen sind, mit sich, aber sie bleiben private Theilungen, welche nur die Betheiligten betreffen und gewöhnlich in keinerlei Weise auf die allgemeinen Theilungen Einfluss üben, an denen alle Glieder der Gemeinde partieipiren. hoch darf in vielen Dörfern die Familie die ihr zugewiesenen Felder nur mit der Genehmigung der Gemeinde (heilen. a) Auf 2:> .Millionen (männliche, Kopl'su-uorpüichtige) Seelen zählte man nach den statistischen Angaben noch vor wenig .Jahren 7,220,1 HX) (Jehöfte (dwor), d. b. (mit Berücksichtigung des Wachsthums der Bevölkerung nach der letzten Revision) durchschnittlich 7 bis 8 Pers. auf den Hof, was bei dem Kinderreichthum der russischen Familien meist nur einen Hausstand repräsentirt. 8) In einigen Gouvernements, wie Twer, soll die Zahl der Isba's sieb in zehn J&hsen fast verdoppelt haben. (Materialien zur Erforschung der gegenwärtigen Lage der Landwirthsehalt etc. 1. Heft. Fet. 1S80. (russ.) uml Ackergeräths die Bauern ausser Stand gesetzt, aus dem Boden der Ertrag zu ziehen, den sie von ihm ziehen konnten.') Liefert der Mir das Land, so streckt er doch die Mittel nieht vor, es ertrags-fähig zu machen. So werden die dem System des Gemeindebesitzes und der Aekertheilungen innewohnenden Uebel durch die Familientheilungen noch verschärft, Die Lauern gehen selbst ZU, dass diese neue Mode der Theilung meist schädlich ist. aber die .Mehrzahl folg! doch der Mode. Der Verfall der patriarchalischen Sitten trägt auf diese Weise mittelbar dazu bei, die Portschritte des bäuerlichen Wohlstandes und selbst die nationale Production zu hemmen. Lei diesen bäuerlichen Grundbesitzern, die durch fortgesetzte Theilungen verarmt sind, ist eine grosse Zahl von Haushalten fast ganz ohne Viehstand und Acker-gerätb. Die Angaben der grossen landwirtschaftlichen Enquete beklagen fast einstimmig diesen Hang der Hauern zur Vereinzelung.8) Ls ist auch daran gedacht worden, diesen Missständen durch gesetzliche Beschränkung der Theilungen abzuhelfen. Die Empieteoom-mission forderte, dass der Familienbesitz und namentlich das landwirtschaftliche Material beim Austritt von Gliedern nur unter gesetzlich bestimmten Bedingungen gefheil! werden dürfe. Das Domänenministerium, dem die Bauerangolegenheiten speciell unterliegen, hat sieb mehr als einmal mit dieser Frage beschäftigt. Man hat beispielsweise beantragt, Theilungen nur dann zu gestatten, wenn keine Steuerrückstände vorhanden sind, und wenn die Theilung jeden einzelnen Antheil genügend gross für den Betrieb belasse. Es ist davon die Rede gewesen, den Verwandten oder dem Familienhaupt das ') Interessante Angaben über diesen Punct giebt ein in Stuttgart gedrucktes Luch: „Das junge Russland'' 1*71, |». '>"> (HJ. (russ.) ■j Diese Enmietecommis-don war auf Antrag und unter dem Vorsitz de> Doiuäneniuinistcrs Walujew aus hohen Beamten der Ministerien des Innern, der Domänen und der Finanzen gebildet. Gen Hauptgegenstand Ihrer Beobachtungen, welche durch ein ausgedehntes Fragecirculür bescliatl't wurden, bildeten die Wirkungen des Gemeindebesitzes. Die Commission empfing und vcröll'cnt-lichte etwa tausend schriftliche Berichte und Angaben, sie nahm mündliche MittheÜUngen von mehr als 200 Personen, meist Gouverneuren, Adelsmarsehällen, Gliedern der Gouveriienientsvcrsainnilungeit u. s. w. entgegen. Leider finden sich unter diesen Aussagen nur sein- wenige von Bauern und bäuerlichen Beamten, sehr wenige von Leuten, die unmittelbar an dem Gemeindebesitz Oothei-ligt sind, dem diese Untersuchung galt. Trotz der hohen Intelligenz und der erstrebten Unparteilichkeit der Berichterstatter that die Abwesenheit der natürlichen Vertreter der Bauergemeinden den Ergebnissen der ('onunission theilwei-r Abbruch. Recht der Genehmigung oder des Verbots der Theilung zuzugestehn, statt, wie jetzt, geschieht, das locale Herkommen gelten zu lassen. Was 11 itii auch das Interesse des Landhaus und des Hauern selbst sei. sii lassen sich derartige Beschränkungen schwer üben, ohne die durch die Emancipation dem Hauer verliehene Freiheit zu schädigen und ohne das Individuum wieder unter das Joch der Familie, der Gemeinde oder der Centraiverwaltung zu beugen;1) Uebrigens ist bei dieser Theilung der Familien und diesen Fortschritten des Individualismus nicht blos zu Klagen Grund gegeben. Ungeachtet der wirtschaftlichen Missstände haben die Theilungen einige gute Seiten: sie zwingen die jungen Leute, auf ihre eigenen Kräfte zu zählen, spornen die persönliche Energie an, und tragen so dazu bei, die Summe der Leistungen zu vergrössern. Ganz besonders nützen sie in Bezug auf Gesundheit und Sittlichkeit, Bei einem armen Volke und bei rohen Menschen ist unter dem patriarchalischen Regiment nicht Albs Vorzug und Tugend. Die Lehel aller Art sind bekannt, die in den grossen Städten Westeuropas aus der Enge der Wohnungen und der Anhäufung der Individuen entspringen. Der Uebel sind in Russland nicht weniger, wenn eine enge Isba mehrere Generationen und mehrere Haushalte umschliesst, wenn in den langen Nächten des langen Winters Väter und Kinder, Brüder und deren Frauen gemeinschaftlich um den breiten Ofen herum schlafen. Es entsteht hieraus eine Art von Vermischung, die ebenso ungesund für das Gemüth, wie für den Körper ist, Heim Mushik war selbst zu der Zeit, als die verheiratheten Kinder mehrere, um denselben Hof gelegene Isba's bewohnten, die häusliche Autokratie eine Gefahr für die Unverletzbarkeit und Keuschheil der Familie. Wie der adlige Gutsbesitzer über die Mägde seiner Güter, so beanspruchte das Familienhaupt mitunter Herrenrejßhte über die seiner Autorität untergebenen Frauen. Der „Alte", der - Dank den frühen Heirathen oft kaum vierzig Jahr alt war,-) erhob off von seinen Schwiegertöchtern einen Tribut, den ihn abzustreiten seine Söhne ZU jung oder zu abhängig waren. So war nicht selten der häusliche Heerd von ') Nach einer neueren Erhebung (Materialien u. s. w. Heft l, 1880) sollen die Febelstäiide allzuhäufiger Familientheilungen und allzu grosser Arbeilstheilung im Fandbau sich so empfindlich geltend machen, dass in einigen Gouvernements, wie Charkow, Fia uml selbst Chorson sich eine l'eaction gegen die Zersplitterung der Haushalte au erheben scheint. •) Zur Zeit der Fcibcigenschai't pflegten die Forsche mit IS, die Mädchen mit Iii Jahren zu heirathen; auch neuerdings noch heirathen -/r, der Männer und ä/., der Frauen vor dem Alter von 20 Jahren, (Stak Jahrb. IL Oerie, Bd. XIV, 187D.) der Autorität selbst befleckt, die seine Reinheil aufrecht erhalten sollte. Dergleichen kam so häufig vor, dass diese Art Blutschande in den Dörfern kaum mehr als Neckereien erweckte. „Mein verstorbener Vater," sagte sich bekreuzend ein Moskauer IswoschtscMk (Lohnkutscher), „mein verstorbener Vater war ein kluger und gerechter Mann, er hatte nur einen Fehler, er liebte seine Schwiegertöchter zu sehr." Heutzutage können die jungen Hausstände sich leichter solchen väterlichen Rechten entziehen: das häusliche Lehen reinigt sich, indem es sich isolirt. Die patriarchalischen Gewohnheiten wetteifern mit der Leibeigenschaft in der Corruption der Sitten und zugleich in der Erniedrigung der Frau, deren untergeordnete Stellung eine der schlimmsten Seiten des Volkslebens in Russland ist. Wie überall führte auch hier die häusliche Despotie die Knechtschaft der Frauen mit sich. In den oberen Classen ist die Frau durch Erziehung, Bildung, Sitte dem Manne gleich, oft sogar in Wirklichkeit oder scheinbar ihm übergeordnet. Im Volke, bei dem Kaufmann und dem Dauer, ist es anders; nirgend zeigt sich deutlicher der moralische Dualismus, der noch jetzt zwischen dem nachpetrinischen Hussland und dem alten Moskowien sich fühlbar macht. Das Volk hat die Vorstellungen und Gewohnheiten des allen Husslands bewahrt, und besonders in diesem l'unct hat es das (Jegräge der asiatischen und byzantinischen Sitten behalten. Die untergeordnete Stellung der Frauen, die von der Hochzeit ab einer schmachvollen und unedlen Behandlung ihrer Gatten preisgegeben sind, die Missachtung des ganzen weiblichen Geschlechts ist eine der Erscheinungen, welche die fremden Reisenden in Russland vom sechzehnten bis zum achtzehnten Jahrhundert zumeist nb-gestossen haben, von dem Deutschen Herberstein, der das innere Moskowiens zuerst, für Europa enthüllt hat, bis zu dem französiohen Akademiker Chappo d'Auteroche, dessen Behauptungen die Kaiserin Katharina II. zu widerlegen sich bemühte.j) Herberstein, der hierbei nicht durchaus zuverlässig ist, erzählt in seinem „Berum moscoviti-carum com tuen tarii" die seither oft wiederholte Geschichte von der russischen Frau, die, an einen Deutschen vorhoirathel, sich darüber beklagte, von ihm nicht geliebt zu werden, weil er sie nicht, schlage. Ein Yolkssprüchworl sagt wirklich: „Liebet eure Frau wie eure Seide und klopft sie, wie euern Pelz" (schuba) „Eines guten Gatten Schläge schmerzen nicht lange," sagt (du anderes, einer Frau in den Mund ') In dem „Antidot, oiler Prüfung des schlechten Buches: Reise in Sibirien etc.," der Kaiserin zugeschrieben. gelegtes Sprüohworfc1) Wie zu Zeiten Herbersteina und des Priesters Sylvester nun lim die Männer aus dein Volk von diesem patriarchalischen Rechte Gebrauch, und zu den Strafen eines oft trunksüchtigen und brutalen Gatten kam vor kurzem noch der Prügel des Schwiegervaters. Die Volkslieder sind voll von Anspielungen auf die ehelichen Züchtigungen.'2) Die Gerichte suchen die Frauen zu schützen, ohne jedoch dazu immer die Mittel zu haben. Der Mushik will noch nicht versieben, dass man ihm das Hecht absprechen könne, seine Lebensgefährtin zu züchtigen. Min für dieses Vergehen vor den Lichter geladener Bauer antwortete auf alle Vorwürfe: „Das ist mein Weib das ist mein Eigenthum." Ein anderer replicirte auf die Leih1 eines Vorgesetzten über den schuldigen Lespect vor den Weibern: „Wen soll man denn schlagen'?" Absolvirt oder bestraft, der Delinquent Pliegt in letzter Reihe die Sentenz des Gerichts auf seine Gattin zurückfallen zu lassen.3) In jedem Lande ist das Loos der Frau des Volkes oft traurig und mühevoll, aber besonders trübselig ist es auf den russischen Dörfern. In Grossrussland wird das Weib noch häufig — wie Belinki sagt, — wie ein llausthier behandelt.1) Was der Mushik für seine Wirthsehaft sucht, ist vor Allem und fast nur eine tüchtige Arbeiterin. In einigen Gouvernements, namentlich bei den stammfremden Finnen und Tataren kauft der Dauer noch seine Gattin, oder er entführt oder stiehlt sie nach dein Volksausdruck, oft ohne sie zu fragen, bisweilen selbst ohne sie zu kennen, weil sie aus einem andern Dorfe ist.5) ') Halston citirt in einer Studie1 über die russischen Sprüchwörter (Quarterly Etewiew, Oct. 1876) noeb andere Sprüche gleicher Art, wie: „Freiheit verdirbt das Weih," „Allzufreies Weib, bestohlener Mann" u. s. w. '2j „O mein Theiirer, mein Inniggeliebter" — sagt ein Mädchen seinem Neuvermählten, „schlage dein Weib nicht ohne Grund, — schlage dein Weib nur aus gutem Grunde, - und wenn es dich sehr gekränkt. — Fern ist mein lieber Vater, — fern ist meine liebe Mutter. Sie können meine Stimme nicht hören, — sie können meine heissen Thräuen nicht sehn." (Schein, Fuss. Volkslieder I, 408, Ralston, Songs of tbe Kassian peoplc 2. Aus. pag. 11.) :1) Die bäuerlichen Gerichte haben fortwährend über Klagen von Frauen zu entscheiden, die von ihren Männern und sogar von deren Verwandten geschlagen worden sind. Gewöhnlich werden jetzt dem Schuldigen eine leichte Geldstrafe oder einige Futhenbiebc zuerkannt. S. Bd. II, I'uch IV, Zweites Kapitel, ') Belinski, das Lied von Igor, sämnttl. Werke, Bd. IV. r-) Dieser Frauenraub kommt besonders in den mordwinischen Dörfern der Wolgaregion vor. Bisweilen ist es nur eine simulirte Entführung, mit Zustimmung des Mädchens und der beiderseitigen Familien, um die Kladka, die iih-lichen I locbzeitskoslen, zu ersparen, die nach Volksgebrauch, wie schon erwähnt In Kleinrussland sind die Beziehungen des Familienlebens in deu Regel humaner; die Liebe hat grösseren Antheil an den Lhcsch Messungen, das Lous der Frau ist besser, sie erfreut sich grösserer Achtung und grösserer Fechte. Diese Uoborlegcnhoit der häuslichen Sitten kann zum Theil aus dem kleinrussischen Wesen, aus dem mildern Klima und dem reineren Slavenbhite stammen; aber hauptsächlich erklärt sie sich daraus, dass in Kleinrussland die Leibeigenschaft weniger lange gedauert und also die Sitten weniger roh gemacht hat, und dass endlich die kleinrussische Häuerin nicht in zusammeiigehäiifter Familie, unter dem bisweilen drückenden Joch eines Schwiegervaters und einer Schwiegermutter, sondern in der Kegel allein in ihrem Haushalt mit Mann und Kindern lebt. Aber auch in Kleinrussland ist die Lage der Frau noch nicht beneidenswert!); scheint sie gut, so ist das nur vergleichsweise der Fall. An den Dfern des Dnjepr betrachtet der Gatte, wie an den Ffern der Wolga, sein Weib als ein niedrigeres, zum Leiden geborenes Wesen. l) „Die Jahrhunderte sind dahingegangen," sagt der Dichter Nekrassow, ,,Alles in dieser Welt hat nach Glück gerungen, Alles hat sein Angesicht, verändert; das dunkle Loos der Frau des Mushiks allein bat Gott zu ändern vergessen." Und an einer andern Stelle desselben Dichters ruft eine Dorfheldin: „Gott hat den Ort vergessen, wo die Schlüssel zur Freiheit des Weihes liegen."-) Die Volkslieder zeigen zarte Züge von den Schmerzen, die das Weib gewöhnlich in seinem Husen erstickt. In Flein- wie in Grossrussland zeigen selbst die Braut- und llnchzeitlicder, die „swadebnüja pesni'', jene poesievollen und naiven rythmischen Dialoge und Chore, die eine Art von Drama mit mehreren Personen für die Hochzeiten sind, uberall den Stempel der Trauer und der Furcht der Braut vor dem „fremden Räuber, vor dem Tataren oder Litthauer, der sie den Ihren entführen oder abkaufet) will.:;) wurde, sehr hoch sind. S. u. A. Valerl. Ainudeii Ii. CCXLVII, 186—187 eine Studie von Trirogow: l>:ts Familionhaupt. in der Dorfgemeinde. 1) Fies bestätigt einer der scharfsinnigsten Erforscher ECleinrusslands, Tscliuhinski. (Arbeiten der ethn. stat. Expedition im südruss. Gebiete, Südwest!. Scci, Bd. VF, pag. .'!a kommt eine Bärin;- meine Schwiegermutter wird sagen: — da kommt eine Garstige, — meine Schwägerinnen wenden schreien; I >a kommt eine Müssiggängerin, meine Schwäger rufen; Dfl kommt eine Boshafte, — O, o, o, o, ich Arme." Schein a. a. O.j Balaton a. a. (). p. 289«) I, er <> y - Ii o a u 1 i e u , ltoioli d. Zaren u. d, Uussun, Ji Um die gegenwärtige Umgestaltung zu überleben, muss die Gemeinde aufhören, auf das Individuum einen Druck auszuüben; sie muss der Persönlichkeil alle Freiheit lassen. Wie der Familienvater um seine grossgewordenen Kinder bei sieh zu behalten, sich bemüht, ihnen das Gewicht seiner väterlichen Gewalt SO wenig fühlbar, als möglich zu machen, so wird die russische Gemeinde, um den Ilauer in den Banden der Genossenschaft zu erhalten, dessen Ketten leichter und dessen Joch sanfter machen müssen. Das alte Agrarsystem hat nur Aussicht auf Dauer, wenn es sich den Bedürfnissen des modernen Individualismus anpasst. Ist nun der moskowitische Mir dessen fähig? Bei dem Gemeindebesitz der patriarchalischen Familie ist die Solidarität der Familienglieder unvermeidlich; hierin liegt einer der Gründe für den gegenwärtigen Verfall der serbischen Sadruga und der Familiengenossenschaften bei den Südslaven. Mass das Gleiche bei den Dorfgenossenschaften stattfinden? In unserm Zeitalter der individuellen Freiheit und der heissen Cottcurrenz zwischen Völkern und Einzelnen kann eine wirthschaft-liche oder politische Institution nur unter zwei Bedingungen wirklich bestehen: einmal, wenn sie die individuelle Thätigkoit nicht beschränkt, dann, wenn sie die nationale Produetion nicht hemmt. Die Betrachtung der Nutzungsform und der Verthoilungsweiso, die im Mir üblich sind, wird uns zeigen, was in dieser zwiefachen Beziehung die Erfolge und die Mangel der russischen Gemeinde sind. Drittes Kapitel. Gorfgenossensehafleii. Modus der Theilung und der Zutheilung des Landes, Grosse Gemeinden und freie Nutzung der unbesiedclten Fändcroiou. Der „Mir" in der Gegenwart und die periodischen 'theilungen. — Theilungen nach Seelen und dach Tjäglo's. — Thoilungsfrislen. Missstäude der häutigen Theilungen. Die Zutheilung durch das Koos. Kin Theil der Mängel, die dem „Mir" Ausgesprochen werden, fällt auf die Gr0886 der geschlossenen Dörfer zurück. — Folgen der allzugrossen Farcollirung. Zu den Zeiten, da die Bevölkerung noch dünner gesäet war, konnten die russischen Feldgenossenschaften, die heute auf einfache Dörfer beschränkt sind, sich bisweilen über viel bedeutendere Land-theilo ausdehnen. Man findet noch jetzt Beispiele hiefür an den beiden äussorsten Landstrichen Kusslands, im Norden im Gouvernement Olonez, an der Grenze Finlands, und im Süden bei den Uralkos&ken, die, .ursprünglich grossrussische Kosaken, melirenilieils nach Religion Altgläubige und dem alten Herkommen so treu, wie den alten llitus-formen sind. Dort, an den Ufern des Uralllusses, hat bis auf unsre Zeit eine weitausgebreitetc Gemeinde bestanden, die eine ganze, grosse geographische Kegion in sich schloss; eine ganze Armee hat dort als einzige Eigenthümcrin des von ihr besetzten Bodens eine einzige un-getheilte Foldgonossonschaft gebildet. Man fand dort im neunzehnten Jahrhundert die Form des Besitzes und der Nutzung der Tribus oder des Clan's vorhistoriseher Zeiten fast unverändert wieder. 1) Unermessliche, doch wenig fruchtbare und fast wüste Steppen, ein Flächenraum von !> Millionen Hektaren, bildeten den Gemeindebesitz der uralischen Kosaken. Am ganzen Faule des grossen Flusses, der als die conventioneile Grenze zwistdien Europa und Asien angenommen wird, gab es noch in der Mitte dieses Jahrhunderts nicht ein einziges Landstück, das einer Stadt oder einer Staniza (Dorf oder administratives und militärisches Centrum der Kosaken) gehört hätte. Die Nutzung, wie das Eigenthum waren eommunal. An. dem vom Hetman-) bestimmten Tage, auf das von den Offizieren jeder Staniza gegebene Zeichen begann die Heuerndte auf den Wiesen am Flussufer. Alle Männer, die den Namen Kosaken tragen durften, machten sich gleichzeitig an die Arbeit; jeder schnitt mit der Sense die Grenzen des Antheils in das hohe Riedgras, der ihm zukommen sollte. Alles was am ersten Tage so von dem Kosaken eingerahmt war, gehörte ihm von Rechtswegen; er konnte es nach Belieben mit seiner Familie mähen. In diesen weiten Genossenschalten war die Knie wie das Wasser, waren die Felder und Wiesen wie die Fischerei in Seeen und Flüssen das Eigenthum Aller und unterlagen der gleichen Nutzung, indem Alle zugleich auf einen Befehl und unter Aufsicht der Führer die Arbeit aufnahmen, doch Jeder lür sich arbeitete, denn dieses Communaloigenthum und diese communale Nutzung blieben dem System gleicher Belohnung, wie es gewisse Soeialisten lehren, fern. Ungeachtet dieser wichtigen Ilesohrünkung des comniunistischen Prineips lässt doch ein solches System, sobald ') Haxthansen, Studien IIb p. 15;>--li>g giebt eine Beschreibung dieses Kosakenstaats vor den neueren Reformen und vor «lein Findringen des persönlichen Figonthums, das alhnälich zu Gunsten der (Müdere stattfand, nachdem eine militärische Rangordnung, die ihrem Ursprung und ihrer Form nach der localen koeakischerj Traditionen fremd war, dort eingeführt worden. 2) „llctman", russ „Atamau", gewöhnlich vom deutschon „Hauptmann" abgeleitet, ist noch heute der Titel der Führer »ler verschiedenen ..Kosakonhecro". (Woiskai. " ■ die Zahl der Theilhaber gross genug geworden, um einander den Ertrag des Bodens streitig zu machen, persönlicher Thätigkoit wenig Freiheit. Es führt zu gewaltthätiger Demokratie oder zu bureaukrat isolier Reglementinmg. Wenn es an den Ufern der Wolga sich Iiis auf unsre Tage erhalten konnte, so war das nur durch die militärische Organisation der Kosaken möglich. In den Steppen des Südens wie in den Wäldern des Nordens rührte der Dostand dieser ausgedehnten Genossenschaften, die keine periodischen Theilungen kannten, von dem üeberöchuss an Land und dem Mangel an Arbeitskräften her, welche die Producte des Bodens hätten einheimsen können. Bei der Zunahme der Bevölkerung mussten die Rechte jedes Einzelnen genauer bestimmt, dii1 jedem Dorfe zugewiesenen Ländereien genauer abgesteckt und regelrecht an die Bewohner vertheilt werden. In den zuletzt colonisirten Gegenden lebt vielfach noch die Erinnerung an die Zeit, wo die Nutzung des Bodens weniger eng begrenzt war. Bei den Don'schen Kosaken liegt, wie bei den uralischen, die Zeit nicht sehr weit zurück, wo noch jeder Kosak unbebaute Landstriche der Steppe besetzen durfte. In dem Gouvernement Samara auf dem östlichen Ufer der Wolga erinnern sich die Greise noch der Periode, in welcher jeder soviel Gras schneiden durfte, als ein Mäher in einem Karren fortführen konnte.1) Kin ähnliches Herkommen besteht noch heute in gewissen undankbaren Landstrichen des Nordens, deren rauhes Klima und magerer Boden Ansiedler nur wenig anziehen. Man findet es besonders in Sibirien, wo häufig die Wiesen allein der Theilung unterliegen, während Aecker von den Dorfbewohnern persönlich und nach Massgabe der Arbeitskräfte jedes Einzelnen bebaut werden. In der Region nördlich vom Ladoga- und Onegasee, in den kalten Einöden des Gouvernements Olonez hängt das Mass der individuellen Nutzung allein von der thatsäohliohen Leistungskraft der Individuen und der Familien ab. Jeder Dauer darf soviel Land bebauen, als ihm seine Kräfte oder die Zahl der Arbeitshände gestatten, über die er verfügt: er muss nur durch ein Merkzeichen, in der Kegel durch eine Marke an Bäumen, den von ihm gewählten Platz bezeichnen.*) Diese Art der Bodennutzung ist in Olonez gewöhnlich mit dem System der grossen Genossenschaften verbunden, die zuweilen ganze Bezirke in sich fassen. Der Grund ist einfach: wo das Land in solcher Ausdehnung' vorhan- 1) Memoiren der russ, geogr. des. Ktlm. Abtli. Bd. VGL 1878, p. 48. '*) Sokolowski, Griiudriss der Gesch. der Landgemeinde im nördl. Bussland, (russ.) den, ist nicht viel mehr daran gelegen, es an Gemeinden, als an Familien zu vnilieilen. Die Bewohner einer Niederung bilden zusammen eine Genossenschaft, deren Besitz sich zwischen Wäldern, an den Ufern eines Flusses oder Sees hinzieht. Die traditionellen Grenzen dieser ungeheuren Gemeindegüter sind oft weniger um der Ackerwirtbschaften, als um der Ausnutzung der Gewässer und der Fischereien willen gezogen worden, die in diesen ärmlichen Landstrichen die sicherste Unterhaltsquelle sind. In Olonez zählt jede Genossenschaft durchschnittlich etwa zwanzig Dorfer und Weiler, die als Amtsbezirk um ein grosses Dorf herum gruppirt sind, das oft den andern seinen Namen giebt, welche sich als seine Kinder oder seine Colonieen betrachten. Ein einziger dieser ländlichen Verwaltungsbezirke umfasst, wie es heisst, mehr als hundert Dörfer und besitzt 220,ooo Hektaren mit 60 Quadratkilometern Wiesen an den Ufern des Swir. ') Nach neueren Untersuchungen scheint diese Art von Genossenschaft vieler Dörfer zu einer grossen Feldgemeinschaft oder richtiger gesagt — dieses System der Aneignung des Bodens in ausgedehnten Kreisen zu freier Nutzung der ^ Dörfer und der Familien früher sehr gebräuchlich, wenn nicht allgemein gewesen zu sein. In diesem Falle würde die Untersuchung der Thatsachen und der historischen Urkunden nur bestätigen, was die Theorie annehmen liess. Die Genossenschaften oder Dorffamilien von Olonez sind der letzte Fest dieser grossen Gemeinschaften, die nur in halböden Ländern bestehen können, wo der Ackerbau selbst nur wenig Kaum einnimmt. Heutzutage sind die russischen Feldgemeinschaften in der Regel auf die einzelnen Dörfer begrenzt. Bei ihnen ist — nach wie vor der Emancipation - der gemeinschaftliche Modus des Getriebes auf Rechnung Aller oder Jedes auf eigne Rechnung schon lange eine Anomalie. Fielleicht giebt es noch in entlegenen Landstrichen einige Gemeinden, in denen die Früchte des Bodens uml der Arbeit zwischen den Mitbesitzern getheilt werden, Man hat dergleichen in einigen Dorfern der Raskolniks und in abgelegenen Siedeloion (skit) gefunden; aber auch dort darf man nicht sowohl ein Feberbleibsel alter Gebräuche, als religiösen Einfluss und den communistischen Geist mönchischer Associationen erkennena). ') Sokolowski a. a. O. 3) Mehrere extreme Seelen des Faskol (religiöses Schisma) haben stark ausgeprägte, sozialistische Neigungen; man darf nur die Obschtschijc oder Gomxnu-nisten nennen, die Alles zu Gemeingut machen wollen. Kelssjew, Sammlung von oflie. Actenst. über die Raskolniks. IV. S. unsern III, Bd. Im russischen Mir bleiben in »In- Kegel nur die Weiden and die Wälder ungetheilt. Leider bilden diese beiden Bodenverwerthungeh, die naturgemäss am leichtesten gemeinsam zu nutzen und in andern Landein oft ntn-.li allein in Gemeindebesitz geblieben sind, in Kussland nur einen unbedeutenden Theil der Gemeindeländereien. In diesem an Wäldern so reichen Lande, in dem das Holz in so starkem Verbrauch steht, haben die an Land reichsten Dörfer meist weder Wald noch Gehölz. Der Grund dieser auffallenden Thaisaehe ist einfach. Zur Zeit der Leibeigenschaft hatte der Dauer gewöhnlich nur bebaute Felder in Nutzung, zu denen einige Weiden und Wiesen kamen. Das Freigebungsgesetz suchte ihm nur das Eigenthum an den Aeckern, die er in Betrieb hatte, zu sichern, und bei der Ausführung der agrarischen Verordnungen wurden dem Landvolk baldig ein Theil der Bodenflächen genommen, die ihm zu Weiden dienten. Wo die Wälder nicht das Kigenlhuin des Staats sind, sind sie dem frühern Herrn geblieben, was um so bedauerlicher ist, als ursprünglich die Nutzung der Wälder dem Dauer zustehen sollte und er vor der Freigebung gewohnheitsmässig das Recht übte, sein Holz aus den Wählern des Herrn zu holen. — Hier liegt, unseres Frachtens, eine der schwachen »Seiten des neuen Agrarsystoms und der Ablösung der Leibeigenschaft. Hussland hätte sehr wohl daran gethan, den bäuerlichen Gemeinden, wie es in andern Ländern geschehen, den Besitz eines Theiles seiner ausgedehnten Wälder unter der Bedingung sicher zu stellen, dass die Genieindeholzungen einem strengen Forstgesetz unterworfen würden. Ist die Genossenschaft unter eine solche Controle gestellt, so bietet sie in Betreif der Waldüngen nur Vortheile, ohne einen der in Betreff der bebauten Ländereien erwähnten Missstände. Hier wäre wohl auch eines der wirksamsten Mittel geschalten worden, der allzu raschen Kntholzung des Landes mit all ihren bösen Folgen vorzubeugen. Bei Belassung der Wälder im Dösitz des frühern Herrn hat die Lmancipation dem Waldreichthum im Reiche, also der ganzen Landwirtschaft und selbst in gewissem Grade dem russischen Hoden und Klima, welche die Entholzung verschlimmert hat, mittelbar einen doppelten Schaden zugefügt. Der durch die Kmancipation verarmte Pomeschtschik hatte zweifachen Grund, den in seinem Besitz gebliebenen Wald niederzuschlagen; damit konnte er am leichtesten Geld erwerben, sich ein Kapital beschallen, das ihm ineist fehlte, und zugleich war das der einfachste Weg, sich vor den Plünderungen der Hauern zu schützen und dem llolzfievel abzuwehren, den die Polizei und die Gesetze nicht genügend bekämpften. Man könnte sogar sagen: weil die Freigebung es nicht vermocht, die Waldungen van der oft aufgenöthigten Habsucht des Pomeschtschiks noch vor dem Raubwesei] des Mushiks zu schützen, hal sie eine (Mitschuld ah (ler Walcrver-iircntng; so mannigfach und so wehig zu berechnen waren die Folgen der grossen Reform l). Das (Jemeindegehiet besteht gewöhnlich in Aeckern und Weiden. Die letzteren, die bei der Freigebung nur zu oft gekürzt wurden, stehen fast immer in gemeinsamer Nutzung, da jede Familie ihr Vieh dorthin schickt, das mit einem besondern Stempel gezeichnet zu sein pflegt und von einem Gemeindehirten gehütet wird. Die Aecker sind in mehr oder minder regelmässigen Zwischenräumen unter die Glieder der Gemeinde getheilt, um von jedem besonders, auf dessen eigene Gefahr bebaut zu werden. So ist die persönliche Nutzung allgemein mit dem Collectivbesitz verbunden. In diesem scheinbar ganz eoininiinistisohen Mir ist das persönliche Inforesse die wichtigste Triebfeder der Thätigkoit. Im Gegensatz zu einem im Auslande sehr verbreiteten Vururtlieil widersteht der russische Dauer jeder gemeinsamen Arbeit; seitdem er freigeworden, will er fast nur auf eigene Rechnung arbeiten. Das Prineip des Mir-) gründet sich auf eine periodische Vertheilung des Hodens. Drei Puncto sind bei solcher Theilung zu berücksichtigen: zuerst der Rechtstitel, der den Anspruch auf einen Antheil. ein Doos ertheilt, dann die Theilungsfristen für den Gemeindebesitz, endlich der Modus der Theilung und der Zuweisung der Loos-anlhcile. In diesen drei Piineten, besonders in den beiden ersteren, linden sich nach den Regionen und Kechtsgewohnheiteii sehr grosse Verschiedenheiten und zahlreiche Abweichungen. ') Im Königreich Polen hat man dagegen die Gewohnheitsrechte der Faiieni auf den Wald aufrecht erhallen, oft sogar masslos erweitert, ohne dem Guts-besit/er eine Fntschädigiuig zu bieten, Man ist so dem entgegengesetzten Bxtrem verfallen und das wie es scheint nicht zum IJosten der Waldungen selbst. Die Servitute, die zum Theil aus politischen Gründen erfunden sind, um den Gegensatz /.wischen Adel und Bauernstand aufrecht zu erhalten, lasten schwer auf dem Grundbesitz. Die meisten polnischen (Jutsbesitzer bemühen sich, sie durch Ablösung oder Abtretung eines Theiles des Bodens au die Bauern abzuschaffen. Nur begegnet dieses für beide Theile vortlieilhaftc Geschäft Leider oft Hindernissen in dem bösen Willen der russischen Beamten. S. über diese delikate Frage: Fn honmie d'etat niese etc. ■) Bei den Bauern ist nur das Wort Mir, auf dessen Bedeutung wir zurückkommen werden, gebräuchlich. (Bd. II, Buch 1, Kap. 1); die Ausdrücke obsch-tschina und obschtschestwo, Gemeinde und Genossenschaft, die von russischen Gelehrton als analog für die Bezeichnungen des Westens Gemeinde, coniinunitas, gebraucht werden, sind der Volkssprache fremd. In Bezug auf die Rechtsansprüche und die Einheitlichkeit der Theilung zeigen die russischen Feldgenossenschaften zwei Haupttypen: bald vollzieht sich die Theilung nach Seiden (dusohä), d. h. nach männlichen Revisionssoelen, bald nach Familien oder besser nach W'itthsehai'ieii, tjäglo1), und meist mit Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit der verschiedenen Haushalte und der Steuer, die jeder tragen kann. Der erste Typus ist besonders bei den Kronsbauern üblich, die nur der Kopfsteuer unterlagen, der zweite bei den früheren Privat* leibeigenen, die ihre Leistungen an den Herrn und ebenso das Fand, das der Herr ihnen überliess, nach Tjäglo's vertheilten. Der Antheil jeder Familie steht so in einem directen Yerhältniss zu der Zahl ihrer männlichen oder zu der Zahl ihrer erwachsenen und verheiratheten (llieder. Ks ist sofort ersichtlich, welche Fr-niuthigung in dem einen wie in dem andern Falle dieses System der Theilung der Bevölkerung giebt. Jeder Sohn, der zur Welt kommt, und jeder Sohn, der in das Mannesalter tritt, bringt der Familie einen neuen Antheil ein. Statt das väterliche Feld zu verringern, vermehrt eine zahlreiche Nachkommenschaft es nur. Rechtlich haben die Krauen keinerlei Anspruch auf Land'-'); in der Praxis haben sie daran fast ebensoviel Theil. als die Männer, denn nach dem Tjäglo-systein, nach welchem jedem Ehepaar ein Antheil zugewiesen wird, ist es die Frau, die dem Manne die Thür zum Besitz öffnet. Auch ist Russland unter allen Fandern Europas dasjenige, in dem die meisten Ehen geschlossen werden, und zugleich dasjenige, in welchem die Ehen die fruchtbarsten sind. Dank dieser doppelten Bevorzugung ist die Zahl der Geburten in Kussland fast doppelt so gross, als in Frankreich. Die Strenge des Klimas, die ungünstigen Lebensbedingungen und vor allem die Sterblichkeit der Kinder sind es allein, Wils das rapide Steigen der Landbevölkerung hemmt. Die Zunahme der Bevölkerung zwingt jedoch zu periodischer Wiederholung der Yertheilungen. Um den neu Hinzugekommenen l) Das Wort Tjäglo bedeutet eine Autlage, einen Grundzins oder eine Steuer, dann die Leute selbst, welche diese Steuer tragen. Zur Zeit der Foibeigcnschaft bezeichnete man mit diesem Ausdruck die Summe der Arbeit, welche eine Familie oder eine Wirthschaft, also ein Mann und ein Weib mit einem Pferd dem Herrn zu leisten hatte. Heute versteht man unter Tjäglo meist ein Fhe-paar; aber die Bedeutung des Wortes wechselt merkwürdig nach den Oertlich-keiteu. Auch die Theilungen nach diesem Typus bieten viele Versehiedenartig-keiten. Ä) In einigen Gegenden bat jedoch die Theilung nach Köpfen oder „Mündern" ohne Ivucksicht auf Geschlecht und Alter Eingang gefunden. S. u. A. Borissow, Stat. ökon. Untersuchung von 7 Wolosten des Tula'schen Kreises. einen Antheil zu gehen, ohne zu einer neuen llodentlieilung schreiten ku müssen, haben einige Gemeinden, besonders unter den Kronsbaüerri, Landenden in Reserve. Dieses lieserveland ist bald zum Besten des Mir verpachtet, bald als blosse Weide benutzt. Die wachsende Dichtigkeit der Bevölkerung, die Kleinheit vieler der den Dauern bei der Freigebung ortheilten Loose machen den meisten Dörfern einen solchen Rückhalt nicht möglich. So können die Hinzukommenden ihr Recht auf (Um Hoden nur durch eine neue Theilung geltend machen. Das Prineip der Genossenschaft würde allein schon auf periodische Theilungen drängen, denn ohne solche würde bei dem verschiedenen Wachsthum der Familien das Gemeindeeigenthum bald ungleich vertheilt sein. Man steht hier vor einer der Schwierigkeiten jedes com-munistischon Systems, in dessen Wesen die Tendenz liegt, sich selbst zu zerstören, vor einer der Unmöglichkeiten der absoluten Gleichheit, die um nicht im steten Erlöschen zu sein, fortwährend aufs Neue hergestellt werden muss. Daher die häutigen Theilungen. Je öfter sie wiederholt werden, umsomehr entsprechen sie dem Prineip des com-munalen Higenthums und der Gleichheit; aber umsomehr hemmen sie auch den Landbau und bilden sie dem allgemeinen Gedeihen Hindernisse. Für die Wiesen wiegt noch das System der jährlichen Theilungen vor; es werden sogar im Gouvernement Tambow Gemeinden genannt, die zweimal im Jahre theilen, in einigen Gegenden wird gemeinschaftlich gemäht, aber das Heu getheilt. •) Fs giebt Districte, in denen die Aecker. wie die Wiesen, einer jährlichen Theilung unterworfen werden; zahlreiche Beispiele hie für giebt es in den Gouvernements Saratow, Orel, Kaluga, Nishni, Woronesh u. s. w. In Perm war dieser Gebrauch bis L882 sehr verbreitet. Die Unbequemlichkeit dieses Modus liegt- zu sehr auf der Hand, widerspricht zu sehr den Interessen des Landmanns, um allgemein zu werden. Gewöhnlich werden die Theilungen nach je Jahren vorgenommen, was der gebräuchlichsten Bodenbebauung, der dreijährigen Koppelwirthschafl entspricht. Bisweilen ist diese dreijährige Periode auch verdoppelt, verdreifacht, vervierfacht und das Land wird nach je 6, SI oder 12 Jahren uni-gethcilt. An andern Orten, wie in einigen Gemeinden des Gouvernements Moskau, ist man bei einer zehnjährigen Periode stehen geblieben, an andern wiederum, wie bei den Grossnissen im Gouverne- ') Die hier und weder iitiLeu angeführten Thaisjichen und Beispiele sind nieist den landwirtschaftlichen Erhebungen und statistischen Taliollcn der Ministerien und der Landschaften (Senistwo's) entnommen. ini'iit Worohesh, werden die Aecker nur zur Zeil der Rei isioiien oder Zählungen der Kopfsteiierplliohtigen, männlichen Seelen einer neuen Theilung unterworfen..1) Diese Revisionen, rewisii, die nicht mil unsern allgemeinen Volkszählungen verwechselt werden dürfen, linden in unregelinässigen Zeiträumen, meist nach 12, 15 und mehr Jahren statt. Seit 171t» sind nur 10 ausgeführt, die letzte 1,858, In den Gemeinden, die nur bei einer Revision zur Xcutheilung schreiten, hat also eine allgemeine Theilung seit der Aufhebung der Leibeigenschaft noch nicht stattgefunden; es wird dort möglicherweise noch lange keine eintreten, vielleicht sogar nie mehr eine, wenn die Regierung sieh einer neuen Zählung der Kopfstetierpfliehtigen enthält und wenn sie. wie Alexander III. best blossen hat, die Kopfsteuer endlich aufhebt und eine andre Form von Steuern einführt. Die dreijährige Theilung hat ihren Grund in dem Modus der Landwirthschaft, die Theilung nach Revisionsepochen in dem Steuersystem, Von einer Revision zur andern bleibt die Zahl der ..Sei Ion", der männlichen Kopfsteuerzahler, trotz aller Todesfälle uml Geburten unveränderlich. Ks erklärt sich leicht, dass man für die Vertheilung der Gemeindeäcker die für die Vortheilung der Steuer festgesetzten Fristen annahm. Die Gemeinde ist dem Fiscus gegenüber solidarisch verhaftet. Durch eine neue Theilung, in der jede Kamilie einen Antheil erhält, der zu den von ihr getragenen Lasten und zu ihren Arbeitskräften im Yerhältniss steht, wird die Steuer, die auf die Personen gelegt ist, mittelbar zu einer Besteuerung des Grund und Hodens gemacht, Die verhängnissvollen folgen wiederholter Theilungen des Döllens brauchen nicht mehr aufgezählt zu werden. Hierüber giebt es l'asl nur ein einstimmiges Crtheil. Der Hauer, der Inhaber eines Land-looses ist. von dem er weiss, dass er es nicht behalten soll, gewinnt keine Anhänglichkeit an dasselbe und sucht nur einen unmittelbaren Ertrag ans ihm zu ziehen, ohne die Zukunft zu bedenken. Seine Mühen und seine Vorsorge gelten mir dein kleinen Gehäge (usadhaj das seine Isba umgiebt und nicht der periodischen Theilung unterliegt. So machen sich, wie die Gegner des Mir sagen, auch bei dem Mushik die Vorzüge des festen und persönlichen Kigenthums gegenüber dem Gemeindebesitz geltend. Der Hebauer eines Gemeindeackers scheut sich vor Arbeit und Kosten, deren Früchte ein Anderer erndten soll. Der Mangel an jederlei Dünger, an jeder Mästung in vielen Dörfern ') Nach den vom Domiincnnuiiisleriuni 1880 veröffentlichten Materialien wäre das bei den Kronsbaiiern des Gouvernements Kasan die Regel, Iipissnisslamls wird ofl diesem Mangel an Interesse des BebftUCflS an der ftfeliorirung des Bodes zugeschrieben. Hieraus folgt die unvermeidliche Verarmung des reichsten Bodens und die andauernde Zunahme der Misserndten. Es gab früher ein Heil- oder mindestens ein Schutzmittel gegen dieses Uebel: man verliess die erschöpften Ländereien um neuen Landes wegen, das bisweilen noch von keiner neuen Pllugschar berührt war; heute machen das Wachsthuni der Bevölkerung und die Ausdehnung des Landbaus das Ergreifen dieses Auswegs immer schwieriger und immer weniger zweckdienlich. Ist das ein unabwendbares Lehel, eine Plage, die naturgemäss dem Gemeindebesitz innewohnt? Für eine unparteiische Untersuchung ist das noch keineswegs bewiesen. Einige Gemeinden der Gouvernements Simbirsk und Pensa unter andern, haben beschlossen, den Bauern mit Androhung des Verlustes ihres Antheils in der nächsten Theilung obligatorische Düngungen aufzuerlegen. Dieses Beispiel könnte nachgeahmt werden, und die Gemeindeobrigkeit, die immer am Orte ist, wäre geeigneter, als ein entfernt wohnender Gutsbesitzer, auf die Beobachtung ähnlicher Dedingungen zu wachen. Es giebt aber ein einfacheres und im Gebrauche leichteres Mittel: die Hinausschiebung der Theilungstermine. Nach den Landwirtschaftlichen Erhebungen geschieht dies auch mehr und mehr fast überall. Haid aus eigenem Antrieb, bald auf Anregung eines intelligenten Beamten verlängern die Hauern die Nutzungsperiode. Die jährliche Theilung ist — mindestens für die Aecker - nur noch eine Ausnahme (Materialien u. s. w. 1.. LSSO) die dreijährige wird immer seltener. Perioden von 10, lö, 20, mitunter sogar von 30 Jahren werden immer häufiger. In einzelnen Gebieten entschliessen sich die durch Erfahrung gewitzigten Hauern nur im äussersten Nothfall zu einer neuen Vertheilung. Die Häufigkeit der Theilungen ist ein Uebel. das auch die entschiedensten Lobredner des Mir bereitwilligst als solches anerkennen. Man darf sich auch nicht darüber wundern, dass in einem Lande, das stets geneigt ist. die staatliche Einmischung anzurufen, mehr als eine gewichtige Stimme vom Gesetz oder von der Verwaltung eine Festsetzung der Nutzungsdauer der Aecker verlangt hat. Manche Vertheidiger der Peldgenossehschaften sahen ihre Lieblingsinstitution vor der öffentlichen Meinung durch den Missbrauch wiederholter Theilungen eompromittirt und beschworen die Hegierimg, dem Mir zu Hülfe zu kommen und ihn gegen sich selbst zu schützen, ohne ZU begreifen, dass sie durch diesen Appell an die administrative Einmischung leicht einem System, dessen Hauptkraft in den Sitten, dir Tradition, der lebendigen Freiwilligkeit liegt, einen nicht wieder gut zu machenden Stoss versetzen konnten. Hie Mangel, die mit Hecht den jährlichen Theilungen vorgeworfen werden, sind keineswegs auf den Gemeindebesitz beschränkt. Auch das persönliche Eigenthum entgeht ihnen nicht. Viele Güter sind auf kurze Termine den Hauern der Gemeinde verpachtet, welche sie vertheilen und sie wie ihre eigenen Felder bebauen. „Welcher Unterschied besteht," sagt hierüber einer der Sachwalter des Mir1), ..zwistdien einem persönlichen Besitz, der jährlich verpachtet wird, (was bei einem grossen Theil der herrschaftlichen Güter üblich ist) und einem Collectivbesitz, der jährlich zur Theilung kommt?" Es isl schwieriger, die Gutsbesitzer dahin zu bringen, dass sie ihre Pachttermine verlängern, als die Hauern, dass sie ihre Theilungen hinausschieben. Bedarf es eines Gesetzes, um die Perioden der letztern zu regeln, warum bedürfte es keines, um die Dauer, der ersteren zu bestimmen?2) Das Domänenministerium hatte — wie es heisst — unlängst die frage der Pestsetzung einer Minimalfrist für die Nutzung der Aecker zur Prüfung gestellt, aber die bäuerlichen Gemeinden sind bereits durch Beschlüsse aus eigenem Antrieb den ofliciellen Massregeln zuvorgekommen und haben sie vielleicht überflüssig gemacht. Der natürliche Gang der Dinge schafft so Abhülfe gegen eines der Hauptübel des Gemeindebesitzes. In der Hinausschiebung der Theilungen findet der Himer den werthvollen Ansporn zu dem individuellen Interesse und der Boden den Vortheil der langen Nutzung und der Sicherheit der Arbeit, Die VVohlthat dieser Deform macht sich bereits bemerklich, In den Gouvernements Tula und Kursk haben beispielsweise Düngung und Ertrag der Aecker schon mit der Verlängerung der Nutzungsperidden zugenommen. Auch hat sich geltend gemacht, dass die Gemeinden die reichsten sind, welche sich am schwersten zu einer Besitzänderung ihrer Ländereien verstehen. Die Abschaffung der häufigen Theilungen hat noch einen andern Vorzug; sie hemmt und beschränkt die Familientheilungen. Die jungen Leute und die jungen Hausstände können gezwungen werden am ') Kosehelew, Ueber den Gemeinbesitz in Russland. p. 12, 11., Berlin L876 (russ.). *) Weihst unter den Vortheidigern des Mir haben sich einige gefunden — es sind das und nicht die mindesten aufgeklärten - , die im Namen der Land-wirlhschaft vom Staate Gesetze verlangen, welche die Theilungsperioden der Gemeindeländereien und zugleich die Pachtfristen der individuellen Güter bestimmen. (Wassiltschikow, a. a. O. Bd. II, p. 679—688, 772—774). väterlichen Heerde zu bleiben oder als besoldete Arbeiter auswärts sich niederlassen, Ins eine neue Theilung sie zu einem Loos des < lemeindeackers zu lässt Der Modus der Loosvertheilung ist nicht minder wichtig und hat heutzutage nicht geringere Uebelstände Un (udoige, wie zur /eil der Theilung selbst. Auch hier ist der Schaden um so grösser, je mehr das communistische Wesen und die strenge Gleichheitspraxis festgehalten wird. Das Prineip des Mirs's will, dass jeder Landantheil, da auf allen der gleiche Theil der Steuern ruht, dem nachbarlichen genau gleich sei. Die russische Gemeinde unterwirft sich dem gewöhnlich knechtisch; sie such! Loose zu bilden, die sowohl an Flächenraum, wie an Werth gleich sind, und man loost sie meist dann aus. Zu dieser doppelten Gleichheit kann man aber in der Kegel nicht gelangen, wenn man Jedem ein zusammenhängendes Stück Land giebt. .Jeder Hauer erhält eine Darcelle von soviel Ackorgattnngen als es Bodenarten in der Gemeinde giebt. Die Feldmesser beginnen damit, die Ländereien der verschiedenen Kategorieen festzustellen, und jede dieser Gruppen wird dann in so viel Pareellen zerschnitten, als Antheilhaber vorhanden sind. Wären auch alle Ländereien von gleicher Güte, was bei der Gleichartigkeit des russischen Döllens glücklicher Weise weniger selten ist, als in Westeuropa, so würde doch die ungleiche Entfernung vom Dorfe ihnen einen für den Bauer ungleichen Werth geben. Line der Folgen der rVhlgenossonschaft ist thatsächlich die Zusammendrängung der Wohn statten. Einzeln liegende Häuser, zerstreute Gesinde setzen dauernde Aneignung des Bodens voraus, Um jedes Loos, das ihm zufallen könnte, ausnutzen zu können, muss jedes Gemeindeglied bei seinen Genossen, im Mittelpunct der Gemeindeländereien leben. In Grossrussland sind dabei- die Häuser der Dauern zu grossen Dörfern vereinigt, die zuweilen mehrere tausende von Einwohnern zählen. Die Holzhäuser sind in zwei langen Linien aneinander gereiht, zwischen denen zur Vermeidung der Feuersgefahr eine unver-hältnissmässig breite, WO möglich an einem Wasserlauf sich hinziehende Strasse liegt. Die nahe neben einander belegenen, doch nie sich berührenden Isbas gehen gewöhnlich mit einer Seitenfacade zur Strasse hinaus, sind oft mit einem Balkon und hölzernen Zahnschnitten geschmückt. Vor der Isba liegt ein Hof mit Ställen und Scheunen, hinter ihr das Gelläge (usadba), das den periodischen Theilungen nicht unterliegt. Diese Art des Welmens in Dörfern, die vollkommen der form des Grundbesitzes entspricht, ha! auch noch andere Ursachen im Klima und in der Natur des russischen Hodens. Im Süden und Osten, wo die fruchtbarsten Ländereien liegen, ist es die Seltenheit des Wassers und der Quellen, überall ist es die Schwierigkeil des Verkehrs in den Perinden des Thauwotters, — Frühjahr und Herbst, — die Furcht vor Dieben und Mördern nicht gerechnet. Diese grossen russischen Dörfer sind zur Zeit eines der Haupthindernisse der Einführung des persönlichen Eigenthums, das bei diesem System der Zusammenhäufung der Wohn statten seine Vorzüge nicht wohl behaupten kann. Der Ackerbau ist thatsächlich in einer ebenso engen Abhängigkeil von der Art des Wohnens, wie von der Art des Besitzes. In einem Lande mit dünner Bevölkerung und weiten Zwisohonstreoken kann der persönliche Grundbesitz nur dann alle seine nützlichen Wirkungen üben, wenn der Bebauer mit seinem Material und seinem Vieh in der Mitte seiner Felder wohnt. In Grossrussland aber sind die einzeln liegenden Gehöfte und Wohnstätten, chutorüi genannt, fast ganz unbekannt; sie kommen selbst noch bei den Bauern selten vor, die ihr Land zu eigen gekauft haben. Man findet sie fast nur in Kleinrussland, dessen Sitten in dieser Beziehung durchaus andere sind, und wo die Theilungen. wenn das Land Gemeindebesitz ist. häufiger nach Familien oder Höfen (dwor), als nach Seelen oder Arbeitseinheiten (tjäglo) vollzogen werden. Ein grosser Theil der Missstände, die in Kussland dem System des Gemeindebesitzes zum Vorwurf gemacht werden, entspringt in Wirklichkeit dem System der ländlichen Wohnungsanhäufungen, ("in an die Stelle dieser grossen Dörfer das zu setzen, was die Deutschen ein Dorfsystem nennen, die isolirten Gehöfte, würde die Aufhebung des Collectivbesitzes des Bodens nicht genügen. Ueberau ist es schwer, langdauernd, kostspielig, eine Form des Wohnens durch eine andere zu ersetzen, und es würde das in Russland wohl noch mehr sein. Es ist bisweilen der Vorschlag aufgetaucht, die häufigen Dorfbrände zum Anlass einer Atiseinanderstreuung der Bevölkerung zu nehmen. Das hätte noch den andern Nutzen, dass die Entfernung der Häuser von einander die Verluste mindern würde, welche Hussland alljährlich durch die hunderte oder tausende von Dörfern erwachsen, die Deute der Flammen ZU werden. Leider sind Sitten, Natur des Bodens und Klimas und der hervorstechende gesellige Charakter des Hussen nicht die einzigen Hindernisse solcher Pläne. Der Froigebungsact hat ein weiteres dazu gefügt: er hat jeder Isba das Goldige neben ihr zugotheill, das dauernd zu ihr gehört. Um dieses Geiniges willen, das den Theilungen des Mir nicht unterliegt, werden die meisten Familien bei emigültiger Vertheilung der jetzt coniniuualeii Landenden unter sie, an ihre jetzige Wohnung gebunden und für lange Zeil an die Dörfer.crekettet bleiben. Es würde seihst dann wahrscheinlich Jahrhunderte dauern, um dir Form der Besiedelung umzuwandeln, und bis dahin wäre Russland allen Nächtheilen ausgesetzt, welche die Entfernung des Ackerhauers für den Ackerbau mit sich bringt. Diese Nachtheile sind heutzutage um so empfindlicher, je grösser die Dörfer und je ausgedehnter ihr Grundbesitz ist, was den Zeitverlust, die Transportkosten und die Schwierigkeit um so grösser macht, dem Lande an Dünger wieder zuzuführen, was ihm an Producten genommen wird. Uebrigens entgeht diesem Uebelstand des Gemeindebesitzes auch der persönliche Besitz in Pussland durchaus nicht Die alten herrschaftlichen Güter, die oft noch unertnesslieh ausgedehnt sind, sind gewöhnlich noch weniger mit Arbeitskräften versehen, welche sie in Stand halten könnten. Nach dem allgemeinen üblichen Theilungssysten wird das Gebiet der Gemeinde meist in drei concentrische Zonen, in drei Fehler getheilt, welche der Dreil'elderwirthsohaft entsprechen, Vom Mittel-punet, den das Dorf bildet, gehen soviel Iladien aus, als es Theil-baber am Lande giebt, und die Sectoren, die so entstehen, geben die unter die Bewohner zu vertheilenden Loose. Dank dieser Methode nehmen die Theilstücke häutig die Form eines Winkels uder Keils an und werden mitunter auch mit diesem Worte bezeichnet (kliii): an andern Orten sind es lange, schmale Streifen paralleler Fehler. Die Ziehung wird gewöhnlich so ausgeführt, dass Jeder einen Theil der drei Felder oder der drei „Hüte" von jeder Kategorie erhält, ohne dass jedoch dafür gesorgt wäre, dass die der einzelnen Familie ZU* getheilten Parcellen zusammenhängen. Jedes Loos (nadel) setzt sich so meist aus Landstücken zusammen, die getrennt liegen und von den Loosen Anderer eingeschlossen sind. Der Antheil einer Seele oder eines Tjäglos kann aus Parodien bestehen, die an 15, 7, 8, 9, 10 und mehr verschiedenen Orten liegen. Um sich die Winzigkeit der so erhaltenen Parcellen klar zu machen, genügt es, sich zu vergegenwärtigen, dass das den früheren Leibeigenen bei der Freigebung zugestandene Land im Durchschnitt 3 oder 4 Hektaren für die männliche Seide betrug und dass oft der Antheil des Einzelnen noch bedeutend geringer ist, wenn die Bauern nur das gesetzmässige Minimum losgekauft haben. In sehr volkreichen und schlecht mit Land Versehenen Gemeinden läuft diese Parcellirung des Gemeindebesitzes auf eine endlose Zersplitterung, auf eine Wirkliche Zorki ümolung des Bodens hinaus. Die landwirtschaftliche Enquete führt u. A. in dem Gouvernement Kursk Parcellen an. die nur zwei Meter Breite haben. Bei dem System des persönlichen Eigenthums erreichen die Erb- theilungen selten eine grössere Zerstückelung. Das System der Land-zu theilung, das jetzt besteht, fügt so die Fehler des Individualismus, der das Land auf's Aeussersle zerstückelt, zu den Fehlern des Com-munismus, der die Anhänglichkeil an den Boden und die Energie zur Arbeit mindertl). Die Missstande der communalen Parcellirung sind zahlreich. Zuerst bilden die zerstreuten Landstücke, die ein Lues abgeben, kein Ganzes, das zu einer rationellen Bewirtschaftung sich eignet. Dann bat der Hauer, der gleichzeitig Werste weit von einander entfernte, winzige Brocken Landes ausnutzen soll, einen grossen Theil seiner Zeit und seiner Arbeitskraft auf unnütze Fahrten zu verwenden. So dass man häufig abgelegene Parcellen ganz sich selbst überlassen sieht. Ferner geht viel Land auf die Grenzraine und viel Getreide hei der Saat verloren. Endlich fehlt diesen durch einander gewürfelten Farcellen der freie Zugang, und oft sind sie so schmal, dass sie schwer zu beackern und zu eggen sind. Dadurch lullten die Acker-wirthe einander in gegenseitiger Abhängigkeit, die für alle persönliche Initiative verhängnissvoll ist. Die Nachbarn, die nach eigner Freiheit nicht arbeiten können, müssen sich unter einander verständigen, und so gelangt man zu der gebundenen Bearbeitung, zu dem „Flurzwang" der Deutschen. Zuletzt wird der Gemeinde die Sorge überlassen, die Zeit und selbst die Art der Arbeiten zu bestimmen. Die mathematische Gleichheit hat also in der Zutheüung nur zum Nachtheil der Nutzungsfreiheil den Sieg davongetragen. Die übertriebene Zerstückelung führte mittelbar zu einer Art gemeinsamer, wenigstens gleichzeitiger Ausnutzung, welche vervollkommnete Culturmethoden vortheilhafl machen könnten, aber deren jetzt übliche Handhabung ein weiteres Hinderniss für den Fortschritt ist. Man kann solche Mängel schwerlich beseitigen, ohne die verführerische Chimäre der absolut gleichen Antheile und die kindischen Versuche einer durchaus plumpen und materialistischen Gleichmacherei abzuweisen, die dem Linzeinen nur einen Spatenstich gleichen ]) Die Schwierigkeiten und Mängel der Genieindcloosung werden bisweilen durch die Vertheilung dea Landes an Gruppen und Untergruppen vermindert, die dann ihre Loose an ihre Glieder weiter austbeileii. Die Aecker und mit Ihnen die Steuern werden zum Beispiel zuerst in Hunderte, dann in Zehner oder auch in Fünftel, Viertel, Drittel getheilt, wol>ei jedoch diese Bezeichnungen, die in den verschiedenen Gegenden verschieden sind, «hau etymologischen Sinn nicht entsprechen. Diese vorläufigen Theilungen nach den eigenen Diafern finden besonders in den grossen Genossenschaften statt, in denen die directe 12c-partirung nach Seelen oder Wirthscharten zu verwickelt wäre. Hodens geben zu wollen scheint. Statt jeder Familie ein Stück von jeder Bodengattung zuzutheilen, mussten abgerundete Antheile von verschiedener Grösse nach Güte des Bodens oder Entfernung vom Dorfe gebildet werden. Solche an Werth gleiche Antheile könnten dann, wie es auch jetzt geschieht, verlost werden. Aber auch eine derartige Reform würde nicht immer der äussorsten Zerstückelung des Dudens eine Grenze setzen. In den ärmsten Gemeinden würden die Landloose von einer Kleinheit bleiben, die von Generation zu Generation durch die Zunahme der Bevölkerung sich immer peinlicher fühlbar machen musste. ') Gegen dieses, die Zukunft des Mir auf das Ernsteste bedrohende Uebel hat man wiederum die gewöhnliche Panneee, das Eingreifen des Staats, in Vorschlag gebracht; man hat gerathen, ein ge-setzmässiges Minimum zu bestimmen, unter welches kein Bauern-antheil sinken dürfe. Derartige Massregeln hätten nicht nur das theoretische Prineip der Genossenschaft, worauf sieh das gleiche Anrecht des Einzelnen auf das Land stützt, gegen sich, sie würden auch auf grosse praktische Schwierigkeiten stossen und kaum die Verschiedenartigkeit der örtlichen Bedingungen überwinden. Man darf übrigens nicht vergessen, dass ein übertriebenes Zerbröckeln des Bodens durchaus nicht ein dem Collectivbesitz besonders anhaftender Mangel ist. Familientheilungen können unter dem System des persönlichen Besitzes gleiche Folgen haben. Wir sehen dergleichen in Westeuropa, z, B. in einzelnen Gegenden Frankreichs. Auch in Russland begegnet man diesem Uebelstand nicht allein in den Gouvernements, in denen die Dorfgemoinsohaften bestehen: er lindet sich auch in Litthauen, wo der persönliche Besitz herrscht. Will man, dass jeder Bauer Grundeigentümer sei, so kann man die Zerstückelung des Bodens nicht vermeiden, ebensowenig beim persönlichen Besitz und seinen Erbtheilungen, wie bei dem Gemeindebesitz und seinen periodischen Theilungen. Von diesem Standpunet aus hat sogar der Collectivbesitz einen unbestreitbaren Vorzug: er würde es im Xoth-falle möglich machen, zu einem Betrieb im Grossen zu greifen, was ') In Java, wo ebenfalls der Collectivbesitz üblich ist, haben ähnliche Ursachen zu ähnlichen Resultaten geführt. Gas rasche Wachsllnmi der Bevölkerung hat den Antheil jedes Arbeiters zu noch viel kleineren Parcellen zusammenschrumpfen lassen, als in Hussland. Auch dort hat man verlangt, dass der Zerstückelung des Hodens eine Grenze oder vielmehr dass an die Stelle des jetzigen üblichen Besitzmodus das persönliche und erbliche Eigenthum gesetzt werde. (Laveleye, De la I'ropriete et de ses fomics primitive*.) 1, i- i■ i. j i: r :i ii l 11- ii , Ki-icii (1. Zaren u. il. 1: u - n. bei (lein Fortschritt der Bildung und dor Landwirthschaft für die Produetivität dos Hodens ebenso günstig sein könnte, wie für die Interessen der Mitglieder. Viertes Kapitel. Theorie und Praxis Im Mir. — Die materielle Gleichheil der Landaritheilfe ist nicht immer Gleichheit in der Theilung, Repartifäon nach Arbeitskräften und 11iiltsinitteln der Arbeiter. Monographie einer Gemeinde. Familien ohne Beeten, starke, miniere, schwache Familien. Der Mir als Vorsehung. Willkür und Ungerechtigkeiten. — Der Wucher. Die „Landfresser".— Bäuerliche Oligarchie. — Bauern ohne Land und landisches Proletariat, Das System der rücksichtslosen, materiellen Gleichheit, das gewöhnlich bei der Zusammenstellung der Landloose herrscht, kann durchaus nicht jede Ungleichheit der Vertheilung verhindern. Meist haben die Gemeinden kein festes und kein regelmässiges Vertheilungs-verfahren, wenigstens kein mathematisch genaues. Der Mir ist kein mathematischer Zähler, der nur Zahl und Quantität anmerkt. Mit diesen Landvertheilungen ist es nicht, wie mit unsern Ilol/vertheilungen in den Gemeindewablungen, die streng nach den brennenden Lichtem vollzogen werden. Der Mir verfährt dabei mit seinen Gliedern auf viel väterlichere Weise, also nach freierem Ermessen. Er zieht nicht blos die Zahl der Bewohner eines Hauses, sondern auch ihr Alter, ihren Gesundheitsstand, ihre Hülfsmittel in Betracht. Bei der Vertheilung des gemeinsamen Hodens rechnet der Mir in der Hegel mit den natürlichen oder zufälligen Ungleichheiten; er wägt die Kräfte und die Leistungsfähigkeit Aller und behandelt Jeden nach seinen Bedürfnissen und nach seinen Gaben. Mau würde sich arg täuschen, wollte man in diesem Bemühen, die natürlichen Ungleichheiten auszugleichen, nur einen humanitären Instinct oder einen unhewussten Sooialismus sehen, der Alles nivelliren und der Natur zun» Trotze gleich machen wollte. Das Motiv der Hauern ist ganz etwas Anderes, es ist ihrem Wesen entsprechend — viel realistischer, viel praktischer. Die Feldgenossenschaft steht, wie schon erwähnt, in enget Beziehung zu der solidarischen Haftbarkeil gegenüber der Staatscasse. Seit Jahrhunderten sind beide so eng verbunden, dass eine volkswirtschaftliche Schule den Gemeindebesitz als die einfache Folge der Solidarität der Steuerpflicht betrachten konnte, in einem Lande nun. wo die steuern aller Art immer sehr drückend gewesen sind, wo der Grundbesitz lange Zeil fast nicht sowohl für ein Recht, wie für eine Verpflichtung hätte gelten können, wo seihst heule der Betrag der Steuern und Zinsen oft den Normalertrag des Hullens übersteigt: in einem solchen Lande ist es natürlich, dass die Bauern bei der Repartirung des Gemeindebesitzes vor Allem die Zahlung der Steuern im Auge behalten. Mach der Emancipation, wie früher zur Zeit der Leibeigenschaft, beherrscht diese Frage das ganze Leben des Mir; wenn er das Gemeindeland vertheilt, denkt er weniger an das Recht des Individuums auf dasselbe, als an dessen Steuerfülligkeit. Meist entspricht jeder Antheil einem verhältnissmässigen, solidarischen Steuerantheile, und die Bodenfläche, die jeder Wirtbjchaft zugewiesen wird, steht im Verhält-niss zu den Lasten, welche die letztere tragen kann. Die Repartirung des Gemeindelands ist nur eine Folge der Repartirung der gemeinsamen Steuern. Die Belohnung der Familien richtet sich ebenfalls muh dem Alter und der Arbeitskraft, wie nach der Zahl der Glieder derselben: sie liebtet sich auch nach ihren ökonomischen Hülfsquelleh. Die Kräftigeren und Wohlhabenderen erhalten ein grösseres Theil Band, wie sie einen grösseren Theil der Abgaben tragen. Nur die Gemeinden, in denen der Bodenertrag regelmässig die .Jahrossteuorn überlrill't, brauchen derartige Rücksichten nicht zu nehmen; sie allein können einfach nach Zahl der Häupter oder der Familien ihre Theilungen vollziehen. Bedarf es der Aufzählung aller Verwirrungen und Schwierigkeiten eines solchen Theilungssystems? Die im Mir hierbei übliche Praxis kann kaum anders, als an der Hand eines Beispiels oder einer getreuen Nachzeichnung verstanden werden. Iiier ist Gelegenheit, Le Play die Methode der Monographieen zu entlehnen, wobei jedoch daran erinnert werden muss, dass eine solche Methode nur besondere That-sachen bieten dürfte, die allzusehr zu verallgemeinern kühn wäre, Man darf nicht vergessen, dass der russische Mir weder Gesetze noch übereinstimmende Regeln kennt, dass die Gebräuche von Region zu Hegion. von Bezirk zu Bezirk, bisweilen von Dorf zu Dorf wechseln und jede Feldgenossonschaft ihre Theilungen nach eigenem Gutdünken vollziehen kann, vorausgesetzt, dass sie ihrerseits die Steuern bezahlt. Hin Nationalökonom Trirogow. der in den Dorfgemeinsohaflen die organischen Zellen des grossen russischen Körpers sah. entschloss sich eine derselben aus nächster Nähe, gleichsam mikroskopisch zu studiren. Nach mehreren Jahren geduldiger Beobachtungen bat er uns fortlaufend, in zwei interessanten Schilderungen die Ergebnisse 2H* dieser Art socialer Histologie dargelegt.') Die Gemeinde im Gouvernement Saratow, die dieser Analyse zu Grunde liegt, heisst A raschln; sie unterscheide! sich in nichts von ihren Nachbargemeindeii. Zur Zeit der Untersuchungen Trirogows zählte Araschin 493 Bewohner beiderlei Geschlechts, die 87 Familien bildeten und in einer gleichen Anzahl von Häusern wohnten. 212 Seelen waren hei der lezten Revision eingetragen und zahlten Kopfsteuer. Das Gemeindeland umfasste Slti Dessätinen (1 Dess. gleich 1 Hect. 9 Ar) bestellbares Land ohne die Küohengärton und die Hanfäcker, die unmittelbar beim Dorfe lagen. Das bestellbare Land war, wie gewöhnlich, in drei Felder getheilt, und in so viel Loose getheilt. als Steuerseelen vorhanden waren, d. h. in 212 Loose von ungefähr I Dossät., jedes eine Parcelle der drei Gemeindeäcker enthaltend. Der Vertheilung des Grundeigenthums entspricht die Vertheilung der Lasten. Alle Abgaben und Zinsen, persönliche wie Bodensteuern, vom Staate oder vom Gouvernement der Gemeinde auferlegt, sind von dem Mir in Araschin zu einer Masse zusammengeschlagen, ohne Unterscheidung nach Namen, Ursprung oder Bestimmung. Diese so zusammengeworfenen Aullagen sind in eine Zahl von Quoten getheilt, die «ler Zahl von kopfsteuerpflichtigen Seelen und somit der Zahl der Landloose gleich ist. Die Gesanimtsumme aller Steuern und Zinsen betrug für Araschin 2 «07 Itbl. 30 Kop., also 12 Rbl. 30 Kop. für die Revisionsseele und den Landantheil. Wenn nach der Theorie und nach den gesetzmässigen Annahmen die Vertheilung nach Steuerseiden vollzogen worden wäre, so hätte jede von ihnen ihre I Hektaren Land gehabt und ihre 12 Rbl. gezahlt. Aber Araschin vollzieht die Vertheilung nicht nach Seelen, oder Köpfen, noch selbst nach Wirtschaften. Während die eine Familie nur einen Antheil erhielt und mit 12 Rbl. 30 Kop. jährlich besteuert war, war eine andere im Besitz von fünf und einem halben Antheil und bezahlte jährlich mehr als 73 Rbl. Was das Auffallendste ist, der Theil von Land und Steuern der einzelnen Familien wächst oder sinkt von Jahr zu Jahr, je nachdem die Zahl ihrer Glieder zu- oder abnimmt. So hatte das Haus des Wassili Fedotow 187-1 vier und einen halben Antheil, 1875 fünf. 1870 fünf und einen halben. Warum dieses jähr- ') Dit1 beiden Meinoircs von Trirogow, von denen das erste 1K7W\\ die Beziehung der Familien zur Feldgenossen schalt , und vollzieht sich die Umgestaltung der Höfe (dwor) in Häuser (tjäglo). .Jedes in ein Tjäglo übersetzte Hans kann wie ein Bruch angesehen werden, in dem der Nenner die Summe der in der (ieineinde vorhandenen Einheiten, der Zähler die aul'das Haus lallenden Einheiten, der Mir das ganze angiebt. (Samarin, Geber den ländlichen Genieindebesitz, Buk. Bes. I857j. Dieselbe Form passt auch aul'das System des Mir von Araschin. sehen Schriftstellern, wie u. A. von Juri Samarin und Fürst Wassiltschikow, für den charakteristischen Zug dos Mir gehalten, für den wesentlichen Zug, durch den sich die grosse russische Gemeinde von ■tili n agraren Associationen oder Feldgenossenschaften, von den alten wie von den neuen, unterscheidet1). Man gefällt sich darin, diesen Theilungsniotlus wie eine dem russischen Volke eigene Lösung des Besitzrechtes, wie eine Institution darzustellen, die durchaus von allen andern ähnlichen verschieden ist. Das mag thatsächlich heute der Fall sein, aber vom historischen Gesichtspunct aus ist die Behauptung nicht unanstreithar. Dieses Theilungsvorfahrcn stammt offenbar nicht aus einer hesondern Auffassung des Kigenthumshegrifls. sondern einfach von dem Theilungsmodus der Steuern und von der Last der Abgaben her. Das ist so richtig, dass städtische Gemeinden genannt werden wo der Ertrag der Gemeindeländereien unter die Einwohner nach der Steuerziffer vertheilt wird, die jeder von ihnen zu zahlen hat.2) Ein solcher Theilungsmodus nach der Arbeitsfähigkeit der De-bauer konnte schwerlich anderswo, als in einem Lande Anklang linden, wo die Nutzniessung des Bodens für den Landmann weniger ein riecht, als eine Verpflichtung war. Genau genommen könnte der Landbau dem Mir. wie dem Staate oder dem Zaren gegenüber als eine Art öffentlichen, obligatorischen Dienstes betrachtet werden, zu dem jeder arbeitsfähige Mann gezwungen ist, und von dem nur Alter und Krankheit befreien können. In Wirklichkeit werden in den meisten Gemeinden, in denen der Ertrag des Bodens niedriger bleibt als die Steuern, alle Männer von 20 bis 6*0 Jahren als Arbeiter gezählt, als Leute, die einen Theil des Landes und der Steuern auf sich zu nehmen verpflichtet sind. In den ärmsten Dörfern beginnt diese Art des Dienstes bei LÖ und 16 Jahren; man muss in der Regel 60, mindestens 56 Jahr alt geworden sein, um Gas Recht zu haben, seine Entlassung aus demselben zu fordern. Wäre ihr Alterthum sicher nachgewiesen, so würde die Theilung ') Wassiltschikow: Der Landbesitz Bd. II, pag. 705 (russ.). 'I Käue grosse Zahl von Städten besitzt bebaute Ländereien; die einen verpachten sie, die andern vertbeilen sie in der Weise des ländlichen Mir. Das erwähnte System ist in seiner Anwendung auf'Mologa, Bezirksstadt im Gouvernement Jaroslaw, beschrieben. Die Einwohner sind in 11 Sotnien oder Hunderten und die Wiesen der Stadt in ebenso viel Loose gel heilt, dass jede Sotnjä der Keihe nach mäht, Der Ertrag wird nicht nach Kopfzahl, Seele öder Familie, sondern im Verhältniss zu ihrem respectiven Steuerquoten unter die Glieder jeder Sotnjä verlheilt (Jakutschkin, Gewohnheitsrecht (russ.) lteclus, Geographie univers. V, b05,) nach Tjäglos oder Arbeitseinheiten wenigstens theilweise die Ansichten 'l'sciiiisclici'ins und derjenigen Schule bestätigen, welche die russische Gemeinde in ihren gegenwärtigen Formen als ein Produol der moskowitischen Steuerpolitik betrachtet,1) In dieser Beziehung lasse sich auch in der Vertheilungsweise der Steuern und in der Schwere der Autlagen eine der Hauptursaelien für die Aufrechterhältung des Gemeindebesitzes erkennen. In einem Staate, in dem Jahrhunderte lang das Steuersystem den Grundbesitz ebenso zu einer Verpflichtung und einer Last, wie zu einem Vortheil und einem Hechte gemacht hat. konnten die Gründe, die anderswo zu einer Auflösung vmi Eidgenossenschaften führten, nur geringen Einfluss üben. Warum ZU einer endgültigen Theilung schreiten, wenn der Steuerpflichtige oft weniger Vortheil darin sah, seinen Antheil zu vorgrüssern. als ihn zu vermindern? In Wirklichkeil hat der Mir vielleicht nur Dank den ihm auferlegten Verpflichtungen Jahrhunderte überlebt, da sich die Individuen scheuten, auf ihre eigene Rechnung die Lasten zu übernehmen, welche der (lesammtheit oblag. Diese Vertheilung der Steuermasse und des Landganzen nach den Hülfsmitteln des Einzelnen bildet das. was der scharfsinnige Ih-schreiber von Araschin den „Yolkskataster" nennt: nach seiner Meinung bedarf es kaum eines andern.-) Auf die Steuervertheilung, auf die Erhebung der directen Abgaben seitens des Staats und des Gouvernements kommt es wenig an. Den Dauer kümmert es wenig, zu wissen, ob diese Abgaben auf das Land oder auf die Personen, auf die Seelen oder auf die Familien fallen: in seinen Augen sind Grundsteuer und Personalsteuer ein und dasselbe. Er denkt nur an die Gesammtlast, deren Gewicht der Mir in seiner Weise auf seine Glieder vertheilt. Nach diesem System wäre es fast müssig, sich mit der Ersetzung der Kopfsteuer durch eine Grundsteuer oder Einkommensteuer zu beschäftigen: jede Reform der Abgaben, die auf dem Dauer lasten, ist nutzlos, wenn sie nicht zu einer Erleichterung der Gesammt-heif führt. Bei diesem System erdrücken die schweren Steuern, die auf dem Lauer liegen, ihn weniger, als gewöhnlich vorausgesetzt wird; die Schwere der Abgaben und Zinsen aller Art ist durch einen Yertheilungsniodus leichter gemacht, welcher die Last jedes Einzelnen mit seinen Kräften in Verhältniss setzt. Diese optimistischen Anschauungen sind keineswegs allgemein verbreitet. Bemerkenswerth ist, dass nicht alle Genieinden, namentlich l) S. oben Kap. 1. -j TrirogOW, Der Volkskataster. St. Petersburg 1WO (russ.). nieht flu- der Krousbäuern auf dieselbe Weise repärtiren, wie Ära» hin und dass selbst in den Genossenschaften, wo man ähnliche1 Regeln befolgt, wohl nichl immer die Gereohtigkeil die delikate OpefÄtiori leiten dürfte — der Volkskataster, wie er in der Gemeindepraxis eingeführt ist, ist durchaus nicht vor jeder Ungerechtigkeit geschützt. Unter diesem System ist die Gemeinde in gefährlicher Weise «lein Gegensatz der beiden Familienkutegurieen, der schwachen Familie mit einem Arbeiter und der starken Familie mit mehreren Arbeitern preisgegeben. Wo die ersteren in der Mehrzahl sind, sind sie versucht, daraus Missbrauch zu ziehen und ihre Lasten auf die grösseren oder reicheren Familien abzuwälzen: wo dagegen die letzteren überwiegen, laufen die kleinen und armen Wirtschaften Gefahr, überlastet zu werden. Was in der Hegel den Mir beherrscht, was noch heute seine Seele und sein Wesen ist, was nach den Linen seinen 1 lauplvorlheil, nach den Andern seinen Grundfehler bildet, das ist Dank dem Volkskataster - noch heute, wie zur Zeit der Leibeigenschaft die Solidarische Haft gegenüber der Staatscasse. Wir haben am Heispiel von Araschin gesehen, welche Lulle diese lisealische Solidarität in dem Mir spielt Die Bodenvertheilung ist vollkommen von der Steuervertheilling abhängig, und die letztere wird durch Rücksichten von sehr verschiedener Art bestimmt. Ls ist die solidarische Haft oder gegenseitige Verbürgung fkrugowaja poruka). die den Mir zum Richter über die Kräfte und Fähigkeiten des Einzelnen macht, die ihm oft die Macht verleiht, das Land nach seinem Gutdünken zurückzuziehen oder zu besteuern. Die meisten Yertheidigor der Dorfgoimssenschaften versichern, dass der Mir \mi dieser Souveränität gewöhnlich nur zum Besten seiner Glieder Gebrauch mache und sich bemühe, mit der genauesten Billigkeit und der peinlichsten Vorsorge alle Ungleichheiten zu ebenen und alle Ungerechtigkeiten ZU vermeiden. — So verstanden wäre der Mir für den Hauer die iniische Vorsehung, und die Gemeinde eine Mutter, die darauf achtete, dass keines ihrer Kinder eine Aufgabe habe, die es nicht erfüllen könnte. Ein Dorf wie Araschin wäre eine Art von Salentum Feimions "der ländlichen [kariens, in dem die ungebildeten Mushiks seit Jahrhunderten die kühnsten Träume westeuropäischer Denker zur Wirklichkeit gemacht hätten. Im aus diesen Gemeinden ein wirkliches Eden zu machen, brauchte es nur noch des Einen, der Erleichterung der Steuerlast. Nach Herzen haben noch viele russische Schriftsteller den Geis! der Solidarität bei den Hauern gepriesen, ihren guten Glauben und [faxen richtigen Taci im Verkehr mit einander uml in allen den delikaten Operationen des Feldmessens und -Theilens gerühmt. Diese Lobsprüche sind oft wohlverdient; aber wären sie das immer, so wäre der Mushik kein Mensch. Derartige Aufgaben legen Missbräiicbe aller Art zu nahe, als dass der Mir ihnen ganz fem bleiben könnte. Auch haben es die Gegner der Feldgenossenschaft nieht allzu schwer. Mängel und Unordnungen in ihr zu erkennen. Die solidarische Hall, die in einem Dorfe wie Araschin als wohl-thätige Fee des Mir erscheint, zeigt sich anderswo als ein Tyrann mit unerträglichem Joche. Oha sich ihr zu entziehen suchen viele der wohlhabendsten Dauern aus der Feldgenossenschaft auszutreten. Die facullative Landvertheilung, die von Einigen für das Meisterstück des Volksgeist.es gehalten wird, gilt selbst einigen Apologeten des Mir für einen klug ersonnenen aber gefährlichen tiebrauch, der, um nicht in Missbrauch auszuarten, vom Staate reglemeutirl werden müsste.l) Thatsache ist, dass mit der Willkür die Intrigue und Corruption den Weg in dieses System, das scheinbar so ganz Gerechtigkeit ist, gefunden haben. Die landwirtschaftlichen Enqueten sind in dieser Beziehung das Echo von Klagen, die, weil sie im Allgemeinen von Beamten und (bau Mir fernstehenden Gutsbesitzern stammen, nichl unterschätzt werden dürfen. Diese kleinen autonomen Demokratieen sind zwei entgegengesetzten Plagen ausgesetzt, der Tyrannei der Masse und der Tyrannei der Individuen. In einem Falle sind es die Massen, die Armen, die den Deichen Gesetze vorschreiben, indem sie ihnen zwangsnlässig Ergänzungsloose, verbunden mit Ergänzungssteuern, zutheilen und so die wohlhabenden Leute die Abgaben der Armen bezahlen lassen. Im Norden, wo Industrie und Handel häutig die llauptexistenzniitlol des Hauern bilden, sieht man nicht selten Gemeinden einem geschickteren Handwerker oder einem glücklicheren Händler zwei Landloose, d. h. die doppelte Besteuerung zutheilen, was im Grossen einer Art Einnahme- oder Capitalsteuei gleichkommt. In einem andern Falle sind es im < regentheil hierzu die Reichen, die durch Bestechung oder Einschüchterung die Masse beherrschen, sich der besten Grundstücke bemächtigen und im Husen und auf Kosten des Mir eine bedrückende Oligarchie schaffen. Dieses letztere Uebel ') Fürst Wassiltschikow (,,Landbesitz" u. s. w. Bd. IL p. 77(1 U. 771.) der ein grosser Verehrer dieses Theilungsmodus ist, möchte eine geset zulässige Uegleinentirnng, ohne zu beachten, wie schwer in ähnlichem Falle jedes Reglement, und wie wirkungslos es wohl auch wäre. ist. wenn es auch scheinbar mit (Irr Organisation des Mir wenigen eng verbunden, jetzt offenbar das häutigere: wenigstens klagen darüber die Angaben der grossen landwirtschaftlichen Enquöte am meisten. L's giebt in den russischen Dörfern, was man in Westeuropa Ausbeute]', exploiteurs, nennt, geriebene, unternehmende Leute, die sich auf Kosten der Genossenschaft bereichern; der Mushik giebt ihnen den bezeichnenden Namen der „mirojedüi'1, Fresser des Mir. Landfresser, In vielen Gouvernements, wie z. B, in Kaluga und Saratow hat man uns Dörfer gezeigt, die unter der Herrschaft von zwei oder drei reichen Hauern stehen sollen, die sich für nichts oder für sehr wenig die besten Stücke des Gemeindebesitzes abtreten lassen. Dazu bedarf es weder einer rngereehtigkeit in der Land-theilung, noch einer Betrügerei bei der Loosziehung. Innerhalb dieser russischen Dörfer ist — wie im alten Horn -der arme Mann als Schuldner gewöhnlich in den Händen des reichen.1! Die Mirojedüi leisten dem unvorsorglichen oder kranken Hauer Darlehen, die zu erstatten er nicht im Stande ist. Die häufigen Hungers-nöthe im Südosten sind deshalb eine periodische Gefahr für den Armen und eine Gelegenheit zu unerlaubten Vortheilen für den Reichen. Der zahlungsunfähige Schuldner muss seinem Gläubiger oft ZU einem lächerlichen Preise einen Landtheil überlassen, den auszunutzen er selbst nicht mehr die Mittel hat. Der Branntwein ist das häutigste, wie das beim armen Mushik beliebteste Lockmittel, die Trunksucht ist die stete Quelle der Schulden und der Schänkwirth einer der grössten Landfresser. Der Wucher ist in Wirklichkeit eine der grössten Plagen, die den russistdien Bauer verzehren, und der Gemeindebesitz trägt hierzu nur noch bei. Da das Eigenthum communal ist, kann der Hauer keine Hypothek auf sein Land erheben. Die (Jsadba, das eigene Gehege des Hauern, das nicht der Theilung unterliegt, darf, solange die Loskaufs-öperation nicht beendet ist, nicht an einen ausserhalb des Mirs Stehenden veräussert werden. So besteht bei den russischen Hauern. ') In dieser Beziehung hätte sich der Hauer nicht blos über seines (deichen zu beklagen, sondern auch über Zwischenhändler aller Stünde, über Speculauten aus Städten und Dörfern, die kurzweg mit dem Namen Kulaki oder Aufkäufer bezeichnet werden. Will mau den Anklagen eines Theiles der Presse und den Enthüllungen einiger Processi1 <■/.. II. IVoccss der Hauern des Grafen l'obriuski. Kehr. 1881) (Hauben schenken, so landen sich die früheren Leibeigenen, die im Rückstände der Pachtzahlungen für die ihnen vom frühem Herren verpachteten Ländereiou sind, als rückständige Schuldner in eine Art von Jlalhleibeiueie schall gegenüber den Comptnirs der grossen Grundbesitze! gedrängt. wir bei den französische!i Araberstämmen Algeriens kein Bodencredit, sondern mir persönlicher Credit; in Folge dessen bezahlt der Mushik mit fcO % monatlich, ja mit 150 °/o jährlich das Darlehn des Miro-jeden. ') Die Verwaltung, die Fresse, die localen Versammlungen mögen immerhin die Wege suchen, dem Bauer zu Hülfe zu kommen; der Staat und Private mögen Volksbanken gründen, so bleibt doch das dornige Problem des landwirthschaftlichen Credits, das überall so verwickelt ist. in Pussland noch viel schwieriger zu lösen. Der russische Dauer bleibt im Westen die Deute der jüdischen Wucherer, im Norden, Centrum und Süden die Beute derMirojeden und Kulaki. Auch bei den Dorfbewohnern, die den Namen von Eigentümern tragen, ist das Elend häufig. Nach einer grossen Zahl von Zeugnissen muss man sieh zwar hüten, wörtlich zu nehmen, dass es seil der Emancipation nur zwei ('lassen von Dauern, reiche und arme, gebe. Die Mittelclasse sei mit der Leibeigenschaft verschwunden, die alle Köpfe unter dasselbe Joch beugte und so eine Art von Niveau künstlich erhielt, unter welches zu sinken fast ebenso schwer war, wie sich über dasselbe zu erheben. Da der Zügel der herrschaftlichen Bevormundung einmal zerrissen ist, haben die guten wie die schlimmen persönlichen Eigenschaften, die Thatkrafl und die Faulheit freie Dahn, so dass trotz der Bodengemeinschaft eine der ersten Wirkungen der Freiheit die war, die Ungleichheit zu vermehren. Das Bild, das die grosse landwirtschaftliche Enquete von den ländlichen Gemeinden giebt. ist nicht geeignet, ihnen Bewunderer zu schallen. Die meisten Angaben besagen, dass die häufigen Theilungen durch den Mangel an Dünger schliesslich zur Verschlimmerung des Hodens führen, dass die gleiche Parcellirung eine unsinnige und unbequeme Zerstückelung des Landes bewirkt, das sozusagen in Staub aufgelöst wird, ohne dass dieser Theilungsmodus bei den Familien selbst ein gewisses Niveau der Gleichheit and des Wohlstandes aufrecht erhalte. Der ungeteilte Grundbesitz, schliesst der Bericht der Commission, ist ein unübersteigliches Hinderniss für den Landbau, eine Kette für die persönliche Freiheit, ein Hemmschuh für jeden ') Bericht von Büschen Landw, Enquete, Bd. III. S. auch Füret Wassiltschikow und A. V. .lakowlew: Der Bodencredit in Russland St. Potorsb. r876* Die russischen Bodencredilbanken, deren Obligationen in Westeuropa sehr verbreitet sind, geben ihre Darlehen nieist nur persönlichen Grundeigeuthünicrn, den Poinesehtschiks, und durch die un vorsorgliche Verschwendung vieler von diesen sind die Vorschüsse, die den (irossgrundbesitz wahrend der Krise der Emancipation unterstützen sollten, für viele der frühem Herren eine Ursache oder eine Gelegenheit zum Ruin geworden. Unternehmungsgeist, eine Prämie für Sorglosigkeit und Faulheit. Der grosse Vorzug der Feldgenossenschaft, das grosse Argument, das ihre Vertheidigor für sie ins Feld führen, das ist, dass sie Allen den Landerwerb zugänglich mache und dadurch jedem Proletariat vorbeuge, und schon droht, wenn man seinen Gegnern glauben will, dieses System in Russland, wie in Java, die Mehrzahl der Landbevölkerung in Proletarier zu verwandeln. In Hussland, wie Überall, hat freilich der Besitz des Bodens, ohne die Mittel, ihn zu cultiviren, wenig Werth; die Gemeinde aber, welche die Fehler vertheilt, giebt ihren Gliedern weder Betriebsmittel, noch Vieh, noch landwirtschaftliches Geräth. So begegnet man oft Dauern, die ihr Recht auf das Land, nach dem russistdien Ausdruck ihre „Seide", Andern verkauf! haben und nun als Tagelöhner und Knechte auf demselben Acker arbeiten, den ihnen der Mir zugeteilt hat. Bürgschaft gegen ein Proletariat bietet in der That die gleiche Vertheilung der Ländereien weniger, als die Verallgemeinerung der Betriebsmittel. Auch heute noch ist es nicht streng richtig, dass jeder Mann auf dem Lande in Hussland seinen Bodenanteil hat. Das theoretische Recht Aller auf den Grundbesitz lässt sich nicht immer durchführen. Nicht genug, dass sich das Proletariat in den Städten, die ihm überall offen stehn, ausbreitet, es dringt allmülich auch auf das flache Land, das durch den festen Wall des Gemeindebesitzes vor ihm geschützt zu sein schien. Ks giebt jetzt schon eine grosse Anzahl von Hauern, die nicht den kleinsten Krdenwinkel zu eigen haben: einige, weil sie auf ihren Antheil verzichtet haben, um sich ganz dem Handel oder einem vagabundirenden Leben zu widmen; viele, weil die Gemeinden nicht immer Keservoland besitzen, die Theilungen immer mehr hinausschieben und sie noch nicht zur Vertheilung zugelassen haben; noch andere endlich, weil sie ihren Vater verloren, bevor sie mündig geworden, und die Gemeinde als ihre gesetzliche Vormundschaft ihnen den väterlichen Antheil aus der Hesorgniss genommen hat, dass die minderjährigen Waisen die Steuern, die auf ihrem Loose ruhen, auf die Gemeinde zurückfallen lassen könnten. Die Volkssprache bat einen besoiiilein Namen für solche landlose Hauern: man nennt sie „bobüili." Die Statistik macht über sie zahlreiche Angaben, 1871, also nur 10 Jahre nach der Freigebungsacte, die sie mit Land versehen hatte, waren tausende von Hauern schon landlos, und das ebenso in den reichen (legenden der Schwarzerde, wie in den magern des Nordens. So gab es in den Gouvernements Kostroma 98,000, Tambow 94,000, Kursk 77,000 Hauern ohne jeden Landantheil.1) Dieses Gebe] muss offenbar noch zunehmen, da die Familien, die aus der Feldgenussensehaft ausgetreten sind, nur wieder eintreten können, wenn sie das Hecht hierzu wieder erkaufen, und die Theilungen fast überall seltener, die zu vertheilenden Loose durch das blosse Wachsthum der Bevölkerung immer kleiner werden.-) Dem CollectlTbesitz wird somit doppelt vorgeworfen, seinen Zweck nicht zu erreichen, es wird ihm vorgeworfen, das Land nichl wirklich Allen zugänglich machen und die Familien nicht aus dem Flein! retten zu können, die er mit Land zu versehen vermochte. Fünftes Kapitel. Anhänger und Gruner des Gemeindebesitzes. Häutige Febertreibungeu in beiden Lagern. — Hängen die dem Mir mit Rechte vorgeworfenen Mängel notwendig mit dem Gemeindebesitz zusammen? Viele von ihnen sind die Folgen der solidarischen Haft und des iiscaliscbcn Systems.— Die Lage, in welche die Emancipation und der Loskauf die Gemeinden versetzt haben. - Ausdehnung des bäuerlichen Landantheils. — Der Mir ist in Wirklichkeit noch nichl Eigen -thüiner des Grund und Hodens — Die Dorfgemeinden werden erst nach AbLosung der Ankaufsannuitäten in normalen Zustand treten. Heute, wie zur Zeit der Leibeigenschaft, bat die russische Gemeinde vorzugsweise zweierlei Verfechter. Sie hat einerseits die Slavophilen, die Verteidiger der nationalen Traditionen, andererseits die r) Wassiltschikow „Bodencredit in llussl," und besonders: „Landbesitz und Landwirtschaft" Bd. I, 689—540 (russ.) Die Zahlen, die derselbe Verfasserin diesen beiden Schriften anführt, und diemeist der grossen landwirtschaftlichen Enquete entnommen sind, stimmen nicht immer zusammen. Die Angaben hierüber sind sehr verworren. Mit dem eigentlichen Bauer werden in den statistischen Tabellen häutig Leute aus andern Ständen verwechselt, die auf dem Lande leben aber kein Recht auf die Ländcreicn des Mir leiben: Kautieute, Meschtschane, frühere Soldaten u.s.w. Sosoll es im Gouvernement Kursk 3%Bauern ohne Fand und fast ebensoviel Bauern geben, die sieh nur das kleine Erbgehäge, die l'sadba, bewahrt haben: Mit Zuzählung der Leute verschiedener Classen (Rasnotsohhiziu), die auf dem Lande leben, fand man, dass in diesem einen GOUVernement mehr als -200,000 Menschen, also 12",, der gesamiuten Landbevölkerung keinen Theil am Bodenbesitz hatten. Im Gouvernement Kostroina stieg das Verhältniss auf lo"/„. (Wassiltschikow Bd. I, p. ö40.) -) Nach einer Puhlication des Doniäncnministeriums (Mater, zur Erforschung der jetzigen Lage der Landwirtlisch. 18H0, p. ]7, IN. russ.) soll im Gcgcntheil hiezu die Zahl der landlosen Bauern um der neueren Verminderung der Familientheilungen willen die Neigung zur Abnahme zeigen. Leider stützt sich diese Behauptung nur auf sehr unvollständige Beweisstücke und auf Zittern, denen radicalen Demokraten, mehr oder minder offene Schüler des Auslandes, für sich. Jene erblicken in ihr eine slavische und patriarchalische Institution, die den Beruf hat, Hussland vor den revolutionären Krämpfen Westeuropas zu schützen; diese wollen einen liest der primitiven Bodengemeinschaft und einen werthvollen Keim volkstümlicher Genossenschaften der Zukunft in ihr entdecken. Zwischen diesen an WesenundAusgangspnnoten so verschiedenen Schulen, zwischen dem orthodoxen Slavophilenthum und dem kosmopolitischen Radicalismus bildet die Verehrung der Handgenieinden gleichsam innen Einigungs-puiict. Auf dem Gebiete des Mir kommen Conservative von mehr oder minder nationalen und bisweilen aristokratischen Tendenzen mit Vorliebe dem nivellirenden Radicalismus entgegen, indem sie sieh den Anschein gehen, als beklagten sie die socialen Zustände der blühendsten Staaten von Westeuropa als unheilbar verderbt; sie gehen biebei zu verstehen, dass Hussland das einzige Land sei, in dem das Bigenthum eine originelle Organisation habe, und proolnmiren nicht nur, dass Grundbesitz die unentbehrliche Ergänzung der Freiheil sei, sondern nehmen auch die revolutionären Sophismen über die Sclaverei der Lohnarbeiter in ihr Programm hinüber. l) Diese sonderbare, in Hussland noch häufig vorkommende Verbindung des slavophilen Gedankens mit socialistischen Träumen ist nicht so w'uler die Natur, als es beim erstem Blicke erscheint. Die gefahrliche Verführung, welche der plumpe Köder des modernen 80- die ,, .Materialien" seihst wenig Zuverlässigkeit zusprechen, lud wenn diese Thatsache ganz bestätigt wäre, so würde nicht die Abnabine der Familien-ciutlicilungcu die Zahl der landlosen liaiiern vermindern, sondern umgekehrl würden vielmehr der Mangel an Land und die Furcht, desselben verlustig zu geh 11, die Familientheilungen hindern und die jungen Hausstände hei den Eltern zurückhalten. ') S. Rev. d. d. M. 1. Mz. 1K7!>, die Studie des Verfassen: „Le Socialisme agralre et la l'ropriete foneifere an Furope." Einer der Publicisten, welche diese schwierigen Fragen des Eigcnthums ganz besonders eingehend behandelt haben, der verstorbene Fürst Wassiltschikow, spricht sich selbst in einem Briefe, den er dem Verf. als Antwort auf die obenerwähnte Studie schrieb, lölgendcrmnsscn aus: „Da «las (icnieindesystein seit Jahrhunderten in Russland eingeführt ist, SO ist es nur ganz natürlich, dass wir uns bei Besprechung desselben mit den Socialisten Westeuropas auf gemeinsamem Loden begegnen, und dass wir, wenn wir diese traditionelle Institution in unserm Lande erhalten wollen, grossen- theils die Argumente anführen, welche die Socialisten anwenden, um sie gewaltsam in den westlichen Staaten einzuführen. — Fe ist eine unzweil'elhal'te Thatsache, dass wir in mehreren socialen und agrarischen Fragen den bekannten radicalen und revolutionären Theorieen in Europa sehr nahe kommen," (gedr, in der R. d. d. M. lö. Juli 187$,) cialismus mitunter auf das strenge Slavophilenthum übt, ist von russischen Schriftstellern sehr anschaulich geschilderl worden.1) Zwischen diesen beiden scheinbar entgegengesetzten Richtungen, dem sooialistischen Neuerer, der seinem Wesen nach Kosmopolit und Ungläubiger—ebenso die Zerstörung der politischen Grenzen wie den Umsturz der privaten Schranken träumt, und dem rechtgläubigen Slavophilen, der andächtig von den nationalen Traditionen ergrauen ist. eifersüchtig aui den Ruhm seines Vaterlands wacht und dem Aus-Lande misstraut, zwischen beiden giebt es. wie schon erwähnt, ein geheimes Band:2) das ist die Missachtung der modernen Civilisation. welche von beiden in gleicher Weise in den Hann erklärt wird, die gemeinsame Abneigung gegen die Gesellschaft, die bürgerliche Wissenschaft und die politische Oekonomie Westeuropas, welches der eine im Namen einer utopischen, unmöglichen Zukunft, der andere im Namen einer fast ebenso chimärischen, traditionellen Vergangenheit bekämpft. Die russische Gemeinde bat die Gegner der slavophilen Tendenzen und der socialistisohen Träume, die Liberalen, zu Feinden, die an den westeuropäischen Hinrichtungen hängen und ihr Vaterland Kuropa gleich machen wollen, die Staatsdomänen, die vor Allem um die materielle Broduction besorgt und — im Norden wie anderwärts — Feinde jeder Hemmung der persönlichen Thätigkoit und der freien Concurrenz sind. Der Mir hat ausserdem die Mehrzahl der Grundbesitzer, die berufsmässigen Landwirthegegen Bich, die mehr als jeder Andre von dessen praktischen Uebelständen betroffen werden. Dagegen stehen die meisten Stubengelehrten, Journalisten und Schriftsteller beider Hauptstädte, geblendet durch die theoretischen Vorzüge des Gemeindebesitzes hartnäckig für denselben ein und erheben ihn als den Rettungsanker des Husslands der Zukunft. Geschieht das allein um des wahren innern Werthes willen? Wo] Schwerlich; für ihre Lobpreisungen des Gemeindebesitzes haben die der Slavophilie am wenigsten verdächtigen, russischen Schriftsteller einen andern Grund, der oft ohne ihr Wissen, der Hauptgrund ist, nämlich den, dass es sich um eine Institution handelt, die national russisch, slavisch ist oder vielmehr hierfür gilt.8) In einer der Nacb- ') Guerricr u. Tschitscherin „Der russ. Dilettantismus und der Gemeindebesitz," Mosk. 1878. (russ.) «) Bd. IV, Kap. I. l, Trotz aller jetzt gegen dieses System gehäuften Beweise müht sieb Kurs! Wassiltschikow beispielsweise des Breiteren ab, zu beweisen, dass der im russischen Mir übliche Hcsitzmodus den Sclaven eigenthümlicll ist, und dass er z.u- ahmung des Fremden müden Lande erhitzt sich leicht die Eigenliebe des Patrioten beim Anblick eines Zugs von unbestrittener l'r-sprünglichkeit.- Daraus erklärt sich der fromme Enthusiasmus, die Art religiöser Gluth welche der Collectivbesitz des Bodens in so vielen der ausgezeichnetsten Schriftsteller Husslands, in den Samarin, Kawelln, Wassilfschikow entzündet, bei welchem letzteren man, nach dem witzigen Bilde eines Landsmanns, unter der Arbeiterblouse des Socialisten den Sammtkaftan des moskowitischen Bojaren erkennt.J) Mit natürlichem Zuge drängt das Verlangen, die nationale Institution zu vertheidigen, viele Bussen von sonst sehr verschiedenen Richtungen unfreiwillig und fast unbewusst zu halb söcialistischen Schlüssen und Speculationen. in den Augen vieler Bewunderer des Mir sind die Gemeinplätze des westeuropäischen Socialismus für die moskowitische Gemeinde nur ein Ornament zweifelhaften Geschmacks, eine grelle Verzierung, die nur dazu dienen soll, die Aufmerksamkeit und die Gunst der Masse anzuziehen. Indem sie ihr altes Agrarsystem mit widersinnigen Neuerungen in Verbindung setzen, vergessen diese Apostel des Gemeindebesitzes, dass sie diesen in den Augen nüchterner Beobachter dadurch nicht empfehlen, sondern nur compromittiren. In (hau Streite, der um sie seit der Mitte der Regierung Nikolaus entbrannt war, schien die russische Gemeinde bis zum bulgarischen Kriege mehr an Gebiet verlieren, als gewinnen zu sollen. Das allgemeine Vorurtheil, das einst für den Mir gewesen, schien schon nahe daran, sich gegen denselben zu kehren. Der letzte orientalische Krieg, der zeitweilig Alles zu Ehren brachte, was dem Namen oder Scheine nach slavisch war, hat die in Abnahme begriffene Popularität des Milder Mushiks wieder gehoben. Auch die nihilistische Agitation in der letzten Regierungszeit Alexanders II. hat vielleicht mittelbar dazu beigetragen, die Dorfgemeinschafton wieder zu festigen, indem sie für Lange Zeit hinaus bei der Regierung jede Neigung, das traditionelle Agrarsystem aufzuheben, durch die Furcht unmöglich machte, den Feinden der Ordnung eine gefährliche Waffe in die Hand zu geben. Die kühnen Uebertreibungen der Parteigänger des Gemeindebesitzes haben mitunter in dem entgegengesetzten Lager Theorieen und Illusionen wachgerufen, die nicht weniger über das Ziel hinaus-schiessen. Es giebt wenig Russen, die über diese complicirte Frage nicht eine feststehende, entschiedene, absolute .Meinung haben. In gleich bei allen Völkern dieser Race, die von dem germanischen Finlluss unberührt blieben, allgemein war. *) Guerrier u. Tschitscherin „der russ. Dilettantismus". L e r oy - B o au 1 i c u , Iteiub d. Zarcu u. d. Küssen. 29 keinen! Puncte — es hat mich das oft überrascht — hat der Dogmatismus sieli so frei gehen lassen; in keinem wird es den Russen sn schwer, den Standpunct der Kritik festzuhalten. Freunde und feinde der Gemeinde machen mir — ich gestehe es — den Kindruck, ileren gute und schlimme Eigenschaften in entgegengesetztem »Sinn zu übertreiben, Der Mangel an Mässigung und Unparteilichkeit, der in dieser Polemik überrascht, erklärt sich leicht aus dem Ernste der im Spiel befindlichen Interessen und aus der Leidenschaft des Kampfes. Vor der Freigebung der Leibeigenen wurden alle gesellschaftlichen Uebel stände, alle wirtschaftlichen Leiden Russlands auf die Leibeigenschaft gewälzt, jetzt lassen viele Russen sie auf den Gemeindebesitz zurückfallen. Wenn die Lmancipation auch dem Landbau und der Production nicht all den Ansporn gegeben hat, den man von ihr erhoffte, so ist das in den Augen jener die Schuld der Gemeinde. Die Völker widerstehen Schwer der Versuchung, sich einen Sündenbock zu verschallen, den sie für ihre Fehler und Enttäuschungen verantwortlich machen können. Für viele Hussen und namentlich für viele Gutsbesitzer spielt diese Holle nun die Ackergemeinde. Nach ihrer Meinung trägt sie die schwere Last der unvermeidlichen Mängel und der gelauschten Hofthungen; man rechnet ihr alles als Schuld an, was dem freigegebenen Hauer und dem zurückgebliebenen Landbau vorgeworfen wird. Die Sorglosigkeit oder die Trunksucht der Bauern, der Mangel oder der hohe Preis der Arbeitskräfte, die schlechten Ernten, die allzufrühe Erschöpfung des Hodens, selbst die periodischen Hungersnüthe in einigen Gegenden des Reiches, Alles das wird der nationalen Institution der Slavophilen zur Last gelegt. Nach einigen Feinden des Mir brauchte dieses Vermäehtniss aus barbarischer Zeit nur aufrechterhalten zu werden, um Russland einem unheilbaren Verfall entgegengehen zu lassen; um dagegen dem Ackerbau und der Production eine Aera beispielloser Blüthe zu schaffen, würde genügen, das Eigenthum aus den Windeln des Gemeindebesitzes zu befreien. Verdiente seihst das jetzt bestehende System alle diese Angriffe, so wären doch derartige Anschauungen und Hoffnungen nicht weniger ') So lud ein Laudinanu aus dein Süden in einer schwungvollen Jirochure sieb gegen den Götzendienst erhoben, mit welchem die Stubengelehrten den Mir auf den Altar erheben, und dabei die Behauptung nicht gescheut, dass die Unterdrückung des Gemeindebesitzes die Production unmittelbar verdoppeln würde, und dass man dann des Henkers oder der Gefängnisse gegen die Propaganda der Nihilisten, Cnmmuuisteu und Anarchisten nicht mehr bedürfen werde. Geltow, „Krisis oder Unwissenheit". Charkow 187!>. (russ.) gefährlich, denn wenn man aUeMissstände der ländliehen Production und Bevölkerung auf einen einzigen zurückführt und zusammenfasst, geräth man in die Gefahr schwerer Fehlreohnungen, wenn eines Tages die Wunde geschlossen wäre, aus der jetzt alles Uebel hergeleitet wird. Zumeist und mit dem triftigsten Grunde werden gegen die l'Yldgenosscnschaften einerseits im Namen des Landbaus, andererseits im Namen der persönlichen Thätigkeit Vorwürfe erhoben. Wir haben die landwirtschaftlichen Schäden bei der Schilderung des Theilungsmodus bezeichnet. Die meisten lassen sich auf zwei Punote zurückführen — das sind: die Kürze der Nutzungsperioden und als folge derselben die Nachlässigkeit des Ackerbaues und die Erschöpfung dos Hodens, und ferner die masslose Zerstückelung des Bodens und die zerstreute Lage der Landparcellen; diese beiden Uebel machen jede rationelle Bebauung unmöglich. Der traurigen Wirkungen dieses Systems geschieht überall in der landwirtschaftlichen Knquete Hr-wähuung. So kommt es, dass in gewissen Gegenden, z. H. im Gouvernement Simbirsk, der Pachtwerth der Gemeindeländereien durchschnittlich um ein Drittel oder um die Hälfte niedriger steht, als der von Ländercien in persönlichem Besitz.1) So sind auch auf den gutsherrlichen Feldern die Erträge von Weizen, Roggen und Hafer im Allgemeinen um ein oder zwei Tschetwert auf die Dessätiue (d. h. 2 bis 4 Hectoliter auf die Hektare) höher, als auf den Bauerfeldern. AVenn dies Alles richtig ist, antworten die Fürsprecher des Gemeindebesitzes, SO tritt es bei dem bis in die letzten Jahre üblichen Verlheilungsmodus ein, aber diese Methoden können wechseln, ja sie sind bereits im Wechsel begriffen, Weder die jährlichen und kurzfristigen Theilungen, noch auch die ins äusserste gehende Parcellirung und die zerstreute Lage der Parcellen gehören zum Wesen des Gemeindebesitzes und sind von ihm unzertrennlich. Diese Art des Besitzes vertrag sich in der Vergangenheit wohl mit dem extensiven Landbau, ohne deshalb doch eine rationelle Bewirtschaftung unmöglich zu machen, wenn die Bevölkerungszahl, die Eröifnung neuer Verkehrswege oder die Verarmung des einst jungfräulichen Bodens eine solche fordern. Lässt sich denn mit Sicherheit behaupten, dass in dieser Beziehung die Dorfgemeinschaften dem Fortschritt mehr verschlossen sein werden, als der persönliche Erbbesitz bei unwissenden und dem Schlendrian ergebenen Bauern? Und die Fesseln, die der persönlichen Thatkraft angelegt ') Arbeiten der hindwirthsch. Enquete I5d. II. sind, — so erwidern die Gegner des Gemeindebesitzes, — sind sie nicht die Folgt! der Feldgenossenschaft? Ist es nicht diese letztere, was in unsern Dörfern alle Initiative entmuthigt, die Arbeit schwächt und den 1 Joden unfruchtbar macht? Führt nicht selbst die Sicherheit, welche die Gewissheit, immer einen Landantheil zu haben, dem Bauer giebt, häufig zur Trägheit, zur Sorglosigkeit, zur Trunksucht? Ist es nicht wahr, dass der Mushik in der Zuversicht, immer und unter allen Umständen einen Erdenwinkel sein zu nennen, nur geringe Anstrengungen macht, seinen Wohlstand zu mehren? — Auch das mag wahr sein, repliciren die Vertheidiger des Mir, aber üble Angewöhnungen einer Faulheit, welche die Leibeigenschaft lange genährt hat, linden sich auch in andern Ländern, bei einer Form des Besitzes und einem Klima, die durchaus von den russischen verschieden sind. Das Heilmittel hiegegen ist bei uns, wie im Süden Italiens und Spaniens weniger in der Abänderung des Besitzmodus zu suchen, als in der Entwickelung des Schulunterrichts, in der Ent-wickelung der Consumbedürfnisse, in den Fortschritten des Wohlstandes überhaupt. Inwiefern nimmt denn der Gemeindebesitz des Bodens dem Bebauer desselben den unentbehrlichen Sporn des persönlichen Interesses? Seitdem Dank den Theilungen die Nutzung des Gemeindelandes persönlich ist, findet das dürre Prineip des gleichen Lohnes für alle Arbeiter ohne Rücksicht auf ihr Verdienst und ihre Leistung nirgends Anwendung; .Jeder wird nur nach seiner Arbeit bezahlt. Jeder kann frei an die beiden Thorc des Reichthums pochen: Arbeit und Sparsamkeit. Ist es nothwendig, dass der Bebauer Besitzer des Bodens oder gar persönlicher und erblicher Eigenthümer desselben sei, damit er alle Mühen und Kräfte an die Bebauung des Bodens wende? Genügt es nicht, dass der freie Niessbrauch ihm für eine Zeitdauer sichergestellt wird, die dazu hinreicht, ihn alle Früchte seiner Arbeit ernten zu lassen? Wenn die Fristen der Theilungen verlängert werden, befindet sich der Gemeindebauer in der Lage eines Pächters mit langem Contract1). Was ist denn der Unterschied zwischen diesen beiden Leuten oder zwischen diesen beiden Verhält- ]) Die Analogie zwischen einen) zeitweiligen Nntzniesser eines Theiles des Gemeindelandes und einem Pächter auf einem Privatgute ist augenfällig genug um keines Beweises zu bedürfen. Einige Vertheidiger des (Jomeindobesitzcs, wie Koschelew, haben hieraus zu Gunsten des Mir Capital schlagen wollen. Andre, wie der Fürst Wassiltschikow (Bd. G) stellen diese Analogie in Abrede, verwerfen das Pachtsystem als eine irrationelle Exploitirungsweise, die den Hoden nur aussaugt, und fordern den Staat auf, dieses schädliche, westeuropäische Verfahren durch Gesetze zu verbieten oder zu beschränken, ohne dabei wahr- nissen? Es giebt nur einen, nämlich der, dass nach der vollständigen Abwickelung der Loskaufsoperation der Mushik keinerlei Bodenrente mehr, sondern nur noch die Steuer zu zahlen haben wird. Wenn es kostspielige Verbesserungen und Arbeiten für die Zukunft giebt, welche der zeitweilige Inhaber des Bodens bei einer Nutzung von 12, 15 und 20 Jahren nicht zu unternehmen wagt, so lässt sich wohl fragen, ob nicht gleiche Hindernisse bei dem Pachtsystem bestehen, das in den blühendsten Gegenden Europas üblich ist? Wäre eine dunhaus gerechte Lösung dieses schwierigen Problems nicht sogar leichter bei dem Gemeindebesitz Russlands, als bei dem persönlichen Grundbesitz Englands, da bei dem erstem die Gesammtzahl der Bebauer der Grundeigentümer ist und die Interessen jener und dieses identisch sind; mussten nicht einem Grundherrn gegenüber die Pächter ihre Rechte leicht durchsetzen können?1) Dem Unparteiischen ist Eines klar: viele der Missstände des jetzigen Systems entspringen keineswegs dem Gemeindebesitz. Sie entstammen häutig localen Verhältnissen, die bei persönlichem Besitz die gleiche Wirkung üben; sie entstehen aus dem Mangel an Bildung, aus dem Mangel an Capitalien, aus der Grösse der Dorfschaften und aus der Entfernung der Aecker; sie ergeben sich endlich aus den Bedingungen, welche das Gesetz und das Steuersystem der russischen Gemeinde jetzt noch auferlegen. Viele der schlimmsten Mängel des russischen Ackerbausysteins folgen aus dem russischen Vcrwaltuugs-und Finanzwesen. Der Staat selbst bedient sich theilweise des Mir als eines bequemen Agenten und Steuererhebers und macht ihn so mitunter zu einem Wrerkzeug der Bedrückung. Die Besteuerung, die in übermässiger Weise den Gemeindebesitz belastet, macht ihn zu einem Mittel des Zwanges und der Verarmung. So ist der Gemcinde- zimehnirii, dass die meisten dieser Gründe gegen das Pachtsystem sieh gegen zeitweilige Nutzniessung, die im Mir Üblich ist, richten. S. Le Soeinlisnio agraire et le regime de la propriete en Europe (Rev. d. d. M. 1. Mz. L879). ') Die Bodenmeliorirung seitens des Pächters und die Entschädigung, auf welche sie diesem bei seinem Abgang Anspruch giebt, ist eine von den Fragen, welche die englischen Agronomen und Nationalökonomen gegenwärtig besonders beschäftigen. S. z. B. William E. Bear: „Tbc relations of landlord and tenant in England and Scotland", Publication des ('obden (!lub, London 1870', Kap. I., III, Fürst Wassiltschikow ist liier consequenter, wenn er verlangt dass das (leset/, den Bauern das Recht zugestehe, sich von der Gemeinde Rirdie Bodenmehorirung entschädigen zu lassen. (Landbesitz und Landwirtschaft , F.d. II p, 764, 77.'l). Ein anderer russischer Schriftsteller, Posnikow , der sich darauf gelegt hat, die Wirkungen des Mir mit denen des Pachtwesens im Auslande zu vergleichen, kommt zu denselben Schlüssen. (Der Gemeindebesitz, .Jaroslaw I, IS7F>. russ.). besitz in Russland auf Bedingungen gestellt, die ihn keineswegs leichter und vortheilhafter wirken lassen, sondern ihn durchaus laischen und verderben. Da ist zuerst eine allgemeine Thatsache, deren wir schon erwähnt haben, und die Gegenstand thörichter Bewunderung geworden ist: die solidarische Haftbarkeit für die Steuern. Alle Bodeninhaber des Gemeindelandes sind in gleicher Weise und gegenseitig verantwortlich für die Steuerzahlungen Aller und jedes Einzelnen. Das entmutigt nicht weniger die persönliche Initiative und schwächt nicht weniger die Arbeitskraft, als die kurzfristige Theilung; nicht sowohl der Communismus des Grundbesitzes, als die Gegenseitigkeit der solidarischen Haftbarkeit ist es, was Unwissenheit und Faulheit begünstigt. Diese Solidarität, die von gewissen Reformatoren Westeuropas so laut gepriesen, von gewissen Lobrednern des russischen Mir so hoch gerühmt wird, ist nur allzuoft die Plage des Mir und mithin das grosse Hinderniss des wirtschaftlichen Fortschritts. Der wohlhabende und arbeitsame Bauer mag nicht für einen trunksüchtigen und faulen Nachbar arbeiten, der dem Acker nicht soviel abgewinnt, um Steuern zu bezahlen, welche oft in keinem Yerhältniss zu dem Ertrage des Bodens stehn. Daher die eigentümliche und traurige Erscheinung im heutigen Russland. wie in unserem Frankreich vor der Revolution, dass der Bauer sich mitunter arm und äusserlich elend stellt, um sieh dem Steuererheber zu entziehen1). Fs werden wohlhabende Bauern aufgeführt, die um dieser Solidarität zu entgehen, auf alles Recht an den Ländereien des Mir verzichtet und selbst die Genehmigung zum Austritt aus der Eidgenossenschaft mit baarem Gelde erkauft haben.2) Der Fiscus pfändet das Vieh und bisweilen sogar das Ackergerät der rückständigen Staatsschuldner zu grossem Schaden des Landbaues, dem so der Dünger und die Mästung entzogen wird. Hieraus entsteht ein weiteres Uebel, die ') Nach der landwirtschaftlichen Enquete (IUI. Ii.) verbergen die wohlhabenden Hauern des (iouverncnicnt Siuolensk ihr (Jehl, statt es auf den Ankauf von Vieh zu verwenden, weil sie fürchten, ihre Thiere könnten mit Beschlag belegt werden, um die rückständigen Steuern der Nachbarn zu decken. In Vielen Dörfern giebt es eine zahlreiche ('lasse von Rückständigen (nedoini-schtschiki), insolvente Schuldner des Mir. *) Die Zahl der Bauern, die freiwillig aus den Doifgonioiuschafton austreten, scheint sich stetig zu mehren. Im (louvernenient Wladimir sind deren beispielsweise in lö Jahren nicht weniger als •J'Jdö gezählt worden, von welchen ODO auf die erste, 7.'i!> auf die zweite und 1137 auf die dritte fünfjährige Thci-Lungsperiode kamen. Wladim. landschaltl. Jahrb. LKH1. russ. Abhängigkeit der Gemeindeglieder gegenüber dem Gemeindevorst ande, hieraus auch die Beschränkung der ersten und einfachsten Freiheit, der Freiheit zu gehen und kommen. Der für Alle verantwortliche Mir darf die zeitweilige Entfernung seiner Glieder nur gestatten, wenn diese ihre Steuern bezahlt oder Bürgschaft für sie gestellt haben. "Hieraus entspringt endlich ein Hinderniss für die geistige und moralische Hutwickelung, wie für den materiellen Fortschritt, die Absohwäehung der persönlichen Verantwortlichkeit, die Erstickung der Originalität, des Erfindungsgeistes und der Initiative. Die solidarische Haft für die Steuern kann freilich als natürliche und legitime Oonsequonz des Gemeindebesitzes betrachtet werden. Ist das Grundeigenthum ungctheilt, so scheint auch die Grundsteuer gleichermassen ungctheilt und collcctiv sein zu müssen; der Gemeinde kommt es zu, für alle ihre Glieder cinzustehn. Das mag im Prineip richtig sein, aber das heute übliche System wird damit nicht gerechtfertigt. Beschränkte sich die solidarische Haft nur auf eine Grundsteuer, die nur einen Theil des Landertrages betrüge, so brächte sie dem Landbau und der Freiheit wenig Schaden: sie wäre in der Regel nur dem Namen nach vorhanden und eine blosse Formalität. Wenn in Wirklichkeit jeder Landantheil mehr einbrächte als die Steuer, die auf ihm ruht, so wäre es der Gemeinde immer leicht, an die Stelle eines rückständigen Steuerpflichtigen einen andern zu setzen, der mit dem Landantheil auch die Schuld des ersteren an den Staat übernähme. Nun, wir wissen, dass das heutzutage keineswegs überall der Fall ist. Tn einer grossen Zahl von Gemeinden ist der Bodenertrag durchaus nicht immer höher, als die dem Grundstück auferlegte Steuer. Das rührt aus zwei Umständen her: zuerst aus dem masslosen Gewicht der dem Bauer auferlegten Steuern, dann aus der noch immer drückenden Last der Loskaufszahlung, die fast ein halbes Jahrhundert von jenem zu tragen ist. Der Befreiungsact hat die russische Gemeinde in eine Lage des Uebergangs und Schwankens gebracht. Der freigegebene Leibeigene hat den Boden, dessen ungeteilten Besitz man ihm gewöhnlich zuschreibt, noch nicht losgekauft; er muss ihn in Jahreszinsen bezahlen, für welche alle Gemeindeglieder ebenso haftbar sind, wie für die Steuerzahlung. So ist es nur antieipirt, wenn man den Mushik oder seine Gemeinde Grundeigentümer nennt. Der Gemeindebesitz des Bodens besteht freilich in Russland, aber das cmnmunale Grundeigenthum, das heisst die unentgeltliche Nutzung des Hodens besteht thatsächlich dort nicht; es ist das bis jetzt nur ein Ausnahmefall oder eine Hoffnung, die sich der Bauer durch .Jahre der Arbeit und Entbehrung erkaufen muss. Willi man die Dorfgemeinschaften lluss-lamls beurtheilen, so darf man nicht vergessen, dass dieselben erst in einem regelrechten und normalen Zustande sein werden, wenn die Lnskuufssumme vollständig bezahlt sein wird. Was heute besteht, ist provisorisch, und so wäre es falsch, über jene Gemeinschaften jetzt ein entschiedenes Urtheil fällen zu wollen. Die Freigebung selbst hat so die Existenzbedingungen des Mir nieht sowohl verbessert, als verschlimmert, zuerst und allgemein, indem sie das Hand der Haftbarkeit der Bauern enger zog, dann in localer Weise, indem sie bald von den Mushiks eine zum Bodenertrage unverhältnissmässige Loskaufszahlung forderte, bald ihnen nur ungenügende Landstrecken zuwies. Von diesen beiden Fällen ist loh Inder erstere der häufigere, und er entstellt und verdirbt die Bodengemeinschaft, indem er sie in Knechtschaft verwandelt. In einer Gegend vom Gouv. Smolensk ist z. B. die Loskaufssumme um 50% höher als der Verkaufs werth des Bodens geschätzt worden, und der Jahresertrag der Ländereien genügt nicht, die Jahresrenten zu decken1). WTic sollte nicht bei solchen Bedingungen der Mushik, unter dem Zwange der ausserordentlichen Steuern und der Mittel zu rationellem Landbau beraubt, selbst den reichsten Boden rasch erschöpfen? Oft werden die Landloose umsonst nur für die Uebernahme der Steuern ausgeboten, und es finden sich keine Liebhaber für sie; mitunter wird ein Antheil für die Hälfte der auf ihm lastenden Steuer verpachtet. Uder solchen Umständen kann der Grundbesitz, ob COm-niunal oder persönlich, nur eine drückende Last, eine Art zeitweiliger Zwangsarbeit zu Gunsten des frühem Herrn oder des Staates sein, und in der That haben viele Bauern, wie wir sahen, nur unter dem Zwang des Gesetzes sich zum Loskauf bequemt. In andern Gegenden und mitunter in den fruchtbarsten haben die Bauern — Dank dem unentgeltlichen Fünftel — nur sehr kleine Antheile, zwei- und dreimal kleinere, als sie zur Zeit der Leibeigenschaft in Nutzung hatten. Die jeder Familie zugewiesenen Loose konnten den Unterhalt derselben nicht bieten, und was noch schlimmer, sie konnten eine regelrechte Bebauung nicht ermöglichen. In diesem Falle bringt die Geringfügigkeit der Ländereien die Ackergemeinde in dieselbe Gefahr, welche ihr sonst durch die Zunahme der Bevöl- ') Fm diesen Widerspruch zu verstehen, wird sich der Leser in Erinnerung rufen müssen, dass die Loskaufsoperation sich in Wirklichkeit nicht SO sehr auf den Bodenwerth stützt, als auf die ZSlWVerpflichtung, die während der Leibeigenschaft gleichzeitig auf ticin Boden und auf der Person des Lauem lasteten. kerung droht. Der Bauer, dor auf dem ihm überwiesenen Grundstück sein Brod nieht finden kann, muss zu einem industriellen Gewerbe greifen oder in der Fremde seine Arbeitskraft verdingen. Das Ungenügende des Gemeindegrundbesitzes tritt bisweilen so sehr zu Tage, dass unter Alexander II. mehrere Gouvcrnemcntslandschaften, wie die von Twer und Taurien beschlossen, den Gemeinden Vorschüsse zu geben, damit diese die Antheile ihrer Glieder vervollständigen könnten, und dass unter Alexander III. der Staat selbst zu dem gleichen Zwecke eine besondere Bodencreditbank gegründet hat. Die Klagen über die Kleinheit des Antheils oder Nadeis der Bauern sind heutzutage fast allgemein. Der Professor der Statistik an der Petersburger Universität Janson hat sich zum Hauptvertreter dieser Beschwerden gemacht, die seither in der Petersburger Presse eine Art stehender Hubrik geworden sind1. Man ist bis zu der Behauptung gegangen, die Freigebung habe, weil sie dem Volke so magere Landzuweisungen gemacht, die Hoffnungen desselben getäuscht und die kaiserlichen Versprechungen, Wie sie 1857 in dem berühmten Ilescript an Nasimow formulirt waren, Lügen gestraft. Alan hätte, so heisst es, dem Bauer einen Landantheil versprochen, der zur Sicherung seiner Existenz genügen und ihn in die Lage setzen werde, sich selbst fortzuhelfen, und an Stelle dessen sei ihm in der Kegel nur ein Loos gegeben, das zu klein sei, um die Bedürfnisse seiner Familie zu decken. In diesen Klagen liegt, wie es scheint, ein Irrthum, den die im Augenblick der Emancipation geweckten Illusionen erklärlich machen. Die Urheber der Acte vom 11). Febr. 18(51 wünschten, wie wir schon gesagt, durchaus die den Bauern zugestandenen Ländereien soweit zu arrondiren, dass die Freigegebenen nicht weniger Land erhielten, als die Leibeigenen in Nutzung gehabt. Aber selbst die dem Bauer am günstigsten gesinnten Glieder der Beda» tionscommission haben nicht die Absicht gehabt, ihm ein Landstück zu geben, das ihm die Arbeit ausserhalb seines Ackers überflüssig machte. Was wäre in diesem Falle aus den dem Adel belassenen Ländereien geworden, und von welchen Händen hätten diese bebaut werden sollen? Wo hätten Handel, Industrie, Grossgrundbesitz die erforderlichen Arbeitskräfte hergenommen? Trotz der Kleinheit des Nadel der Bauern, trotz der Steuern, welche sie zwingen, ausserhalb ihres Ackers eine ackerhauende oder gewerbliche Thätigkoit zu suchen, klagen jetzt fast alle l) ..Janson, „Versuch statistischer Untersuchungen über die bäuerlichen Landantheile und Zahlungsverpflichtungen" (1B77, zweite Auflage 1881) russ. Theilo des Reichs über Mangel an Arbeitskräften, und — was bedeutsam ist, — dort gnade, wo die Kleinheit des Bauernantheils am empfindlichsten ist, erheben sich oft jene Klagen am lautesten. Der Vergrösserung des Bauerlandantheils, wie einzelne Schriftsteller sie wünschen, welche neue Agrargesetze fördern, steht ein anderes Hinderniss entgegen: in vielen und zwar in den reichsten Gouvernements, fast in der ganzen, geregelt bebauten Zone der Schwarzerde giebt es thatsächlich nicht Land genug, um das, was die Petersburger Publicisten ein Normalloos nennen, jedem Bauer zutheilen zu können, und naturgemäss wird in zwanzig Jahren noch viel weniger Land dazu da sein. Bin solches Desideratum stösst auf eine physische Unmöglichkeit, welche allen Agrargesetzen der Welt Widerstand leisten würde ]). In ihren Speculationcn über die Grösse des Nadel der Bauern gehen viele russische Schriftsteller unbewusst von einem Prineip aus, das bei ihnen leicht zu einem Axiom wird, nämlich dass bei dem Gemeindebesitz Jedem mit Leichtigkeit Wohlstand und Wohlhabenheit verbürgt werden könne. Es scheint das beim ersten Blick nur eine Frage der Vertheilung; man vergisst, dass der Gemeindebesitz weder die Ausdehnung, noch die Fruchtbarkeit des Bodens grösser macht; man vergisst, dass nur Kapital und Wissenschaft dem Boden alles das entlocken können, was er zu bieten vermag. Wenn in mehreren Bezirken die Landzumessung offenbar zu gering war. um dem System des Mir recht zu entsprechen, so kann das doch nicht von allen Bezirken gesagt werden. Der Antheil am Gemeindebesitz, der Nadel würde in jedem andern Lande, als Kussland, wohl als beträchtlich erseheinen. Nach den statistischen Angaben betrügt der Antheil im Durchschnitt für ganz Russland ungefähr 16 oder 17 Dessätinen auf den Dvvor oder Hof, d. h. auf die Familie (die Dessätine = 1 Hektare 9 Are). Diese Durchschnittsziffer sinkt natürlich bedeutend in den bevölkertsten und fruchtbarsten Gegenden der Schwarzerde, Wie überall sind auch dort die Kronsbauern, denen der Staat in diesen Gouvernements fast all sein Ackerland abgetreten hat, günstiger gestellt, als die frühem Privat-Leibeigenen, die den Boden mit ihren Herren theilen mussten und — um jeder Zinszahlung zu entgehen — bisweilen das staatlich ge- ') Gieso Wahrheit scheint mir von l>. F. Samarin im moskauischen Organ der Slavophilen, der „Russ" Aksakows (Nov. ISSO, :>1. Jan. 1 SS 1) nachgewiesen zu sein. Janson selbst hat sich im „Porädok" und in der neuen Autlage seines „Versuchs" (1881) dagegen verwahrt, ein absolutes Normabninimuin für die linucrnulhcilc feststellen zn wollen. nehmigte, unentgeltliche Minimum vorzogen 1). In den reichen Gouvernements von Worönesb, Tambow, Kursk, Pensa schwankt die Durchschnittszahl zwischen 15 und 10 Dessät. pro Familie, ohne bedeutend unter die letzte Zahl zu sinken2); aber man darf hier nicht vergessen, dass die Bevölkerung seit Erlass der Agrargesetze von 1861 beträchtlich gewachsen und das Loos jeder Seele und jeder Familie dem entsprechend reducirt worden ist. Wie es nun auch mit all diesen Verschiedenheiten und Ungleichheiten stehe, so kann man doch nicht wohl Bauern, von denen jeder durchschnittlich 15 oder 20 Hektare Land besitzt, für unrettbar dem Elend verfallen ansehn, Bauern, die selbst in den reichsten und bevölkertsten Gouvernements noch etwa 10 Hektare inne haben und in deren Nachbarschaft Ländereien liegen, für die ihre Arbeitskraft dringend gesucht wird. Die Kleinheit des Nadel kann schwerlich als der Hauptgrund der Missstände auf dem Lande und im Ackerbau betrachtet werden. Das erkennen auch mehrere und gerade die klar sehenden Vertheidiger des Mir, wie Koschelew und Fürst Wassiltschikow, unumwunden an.3) Hier liegt die Wurzel des Uebels nicht: wenn der Landantheil des Bauern so oft ungenügend scheint, so ist das grossentheils Folge der Unvollkommenheit der Feldbaumethode. Ks ist die Unwissenheit und Armuth des freigegebenen Leibeigenen, es ist sein Mangel an Intellectuellem und materiellem Kapital, der Mangel an Vieh und Betriebsmitteln, was ihn hindert, einen grössern Ertrag aus seinem Acker zu ziehen, und diese Armuth des Mushiks oder — wenn man will — diese Verarmung der Ländereien fällt ') In Hezug auf die letztem, — es sind ihrer IM (0,000 — ist I»,770 eingeschriebene, 2,! (29,000 etfeetive männliche Seelen haben mir <',,;').'{;l,(HKt Dess. in Theilung. Die Kronsbauern haben also durchschnittlich gegen i> (1,8), die Privatbauern beinahe ."> (2,9) Dess. auf die Steuerseele erhalten; aber Dank der rapiden l'.cvölkcrungszunahmc ist der mittlere Antheil der erstcren auf 4 (lt,8) und der der letztern auf 2,2 Dess. reducirt, was bei den Kineo noch mehr als 1:>, bei den Andern 7,ö Dess. pro Familie macht. (Statistik des Landbesitzes und der Wolmstätten des europäischen Kusslands. St. IVtersb., 1880, hcrausg. vom stat. Centralcomite, russ.) 3) S. z. ii. Wassiltschikow, „Landbesitz" ms. w., Bd. II, p. 649, «73. gmssentheils auf das hohe Mass der Steuern zurück.1) Hier liegt in Wirklichkeit das Hauptübel des Agntrwesens; in dem Missverhältniss der Einnahmen des Mauern und der ihm auferlegten Steuern, in dem Missverhältniss der Ausdehnung und des Werthes des Nadel zu der Last der Kenten, die auf dem Kodon liegen; und su gross ist das Uebel, dass die Entlastungen, die unter dem Kaiser Alexander III. bereits ausgeführt oder versprochen sind, kaum darüber Herr werden dürften. Das Hand, das dem frühern Leibeigenen bei der Freigebung zugetheilt wurde, ist nicht frei; er hat es keineswegs umsonst erhalten, er muss unter der Form von Steuern und Zinsen aller Art dafür oft einen übermässigen Preis zahlen. Unter solchen Verhältnissen hat der Modus des Grundbesitzes, so lange der Bauer mehr für den Eisens, als für sich selbst zu arbeiten gezwungen ist, nur untergeordnete Bedeutung. Wenn die Bauern das Land auch als volles persönliches Eigenthum erworben hätten, statt beim System des Gemeindebesitzes zu bleiben, wären die meisten doch nicht weniger im Elend stecken geblieben. Die Dorfgemeinschaften, wie sie die Emancipation hat bestehen lassen, machen so eine Art Krisis durch; sie müssen in derselben entweder untergehen oder angepasst an die Sitten der neuen Zeit aus ihr hervortreten. Was die russische Gemeinde sein kann, lässt sich aus dem, was sie heute ist, nicht ersehen. Um sich darüber ein billiges Urtheil zu schaffen, müsste man sie zuerst von den liscalischen Hindernissen, von der schweren und unsittlichen Last der solidarischen Haftung befreien, und auch das wäre schwer, vielleicht gar unmöglich, ohne die vorgängige Abschaffung der Kopfsteuer und die Abschliessung des Loskaufsgeschäfts, ohne die Erwerbung des vollständigen Grundeigenthums seitens der Gemeinde.2) Nur dann, wenn die Feldgc- 1) Jansen, „Versuch statistischer Gntersuchungen u. s. w. 1881" giebt hierüber traurige Aufschlüsse, und die russischen Publicisten der verschiedenen Schulen sind leider genöthigt, in dieser Beziehung übereinzustimmen. -) Die Regierung hat in den letzten Jahren einige Massregeln zur Abwendung der schlimmen Wirkungen der solidarischen Haft ergriffen; sie hat sogar eine Commission ins Leben gerufen, welche die Veränderung des auf dem Lande herrschenden Steuercrhebungsmodus untersuchen soll. Leider machen die linan-ciellen Verlegenheiten Russlands solche Reformen schwierig. Die Steuerrückstände würden unter einem minder eifrigen und minder bctheiligten Steucrerheher, als die Gemeinde es ist, stark zunehmen; es könnten ferner das bäuerliche Herkommen und die Autorität des Mir das jetzt bestehende System der Steuerver-theilung noch lange laotisch aufrecht erhalten, wenn dasselbe auch otficiell schon aufgehoben wäre, nossenschafl von jeder schlimmen Lage und jeder Kette befreit sein wird, lässt sich die Probe machen und die Erfahrung feststellen. Welche Kefnrmcn man auch ausführen möge, so Hesse sich doch beute in Bezug auf die Solidarität der Steuern sagen, dass die russische Gemeinde erst dann ihre ganze Bedeutung zeigen werde, wenn der geistige Gesichtskreis des Mushik sich um Einiges erweitert und der Bauer nicht mehr schwere Zinsen in den Keichsschatz zu zahlen haben wird.1) Dieses Lösegeld der Leibeigenschaft, das auf neunundvierzig Jahr vertheilt ist, wird erst im ersten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts abgetragen sein. Es ist kaum wahrscheinlich, dass der Zustand der kaiserlichen Finanzen es gestatten werde, die Bauern vor dem zur Zeit der Emancipation bezeichneten Termin ganz frei zu machen. Es ist schon viel gewonnen, wenn die Regierung, wie Alexander III., es versucht hat, das Gewicht der Loskaufszinsen merklich zu erleichtern vermag, da sie deren Dauer nicht abkürzen kann. Sechstos Kapitel. .Modus der Auflösung «ler Feldgtwissenschaft. Die flauem jedes Doris können den Mir aufbetten. — Warum thun sie dies so selten? — Frtheil des Mushiks über den Mir. Trotz der Anhänglichkeit an den Gemeindebesitz keine Abneigung gegen das persönliche Eigenthum. — Bauerlandkaufe. — Vertheilung des urbaren Landes zwischen Dorfgemeinden und andern Figenthümern. — Nutzen und Wirkung des persönlichen Grundbesitzes. Können beide Formen des Besitzes neben einander stehn? Wird man mit der Entscheidung über die Dorfgenossen Schäften warten, bis sie volle Grundeigentümer geworden und von den Lasten, die sie zu Boden drücken, befreit sind, oder wird man sich ent-schliessen, den uralten Baum des Mir an der Wurzel abzuhauen, ohne früher den Versuch gemacht zu haben, ihn zu beschneiden und der parasitischen Pflanzen zu entledigen, die ihn ersticken? Es giebt nur wenig Leute, welche die unmittelbare Abschaffung des Gemeindebesitzes fordern, viele, welche Massregeln verlangen, die sein Aufhören vorbereiten und in sichere Aussicht stellen. Auch jetzt schon sind die Dorfgenossenschaften keineswegs unauflösbar; das ') Die Loskaufszinsen betragen factisch ungefähr 00% der Zahlungen, die der freigegebene Leibeigene zu geben hat; der Lest vertheilt sich auf die Staate und (Jcmciiideabgahcn. Gesetz, das sie aufrecht erhalten hat, lässt den Betheiligton das Recht, sie durch eine definitive Theilung des Gemeindelandes aufzuheben. Hierzu bedarf es nur eines Beschlusses der Bauernversammlung; ein solcher Beschluss braucht nur mit einer Majorität von zwei Dritteln aller Stimmen gefasst zu werden.1) Die Gegner des Gemeindebesitzes möchten das Schicksal der Gemeindeländereien dem Votum der einfachen Majorität anheimgeben, weil sie hoffen, dadurch die Unier-drückung aller Feldgenosscnsohaften rascher zu bewirken. Gegen diese scheinbar bescheidene und berechtigte! Forderung wird ein ernster und wichtiger Hinwand erhoben. Die Aullösung der der Stimmen entscheiden kann. Gleiches gilt bei allen Fragen von einiger Wichtigkeit. Es gilt zum Beispiel für Alles, was die Theilungen betrifft, und eine derartige Beschränkung bei der Abstimmung hat ihren guten Grund. Sie ist eine nützliche Zügelung der Freiheit des Bauern, eine weise Vorsiohtsmassregel gegen die Beeinflussungen der unwissenden Dörfler, die umsomehr gegen ihre eigenen Schwächen im Zaune gehalten und geschützt werden müssen, als die Gemeinde auf dem tiebiete der Ausführung unbeschränkt und allmächtig ist. Den wichtigsten Beschluss, den der Mir fassen kann, der einfachen Majorität zuweisen, ihr die Auflösung der Feldgenossenschaft anheimgeben, das hiesse in jeder administrativen und wirtschaftlichen Frage auf die heilsame Garantie der zwei Drittelmajorität verzichten. Selbst bei dieser Beschränkung ist die jetzige russische Gesetzgebung eine von denjenigen, die der Entäusserung oder Theilung der Gemeindeländereien am wenigstem Schranken setzen. In Frankreich, wo sie noch den elften Theil des Xationalbodens einnehmen,-) sind die Gemeindegüter ganz anders gegen jede Absicht auf Verkauf oder Theilung geschützt. Das Gesetz gestattet den Gemeinden, gewisse Erwerbungen zu machen, verbietet ihnen aber, sie ohne Genehmigung !) Mehr noch: ein Artikel des Emancipationsstatuts, der offenbar dazu dienen soll, dem Freigegeheuen die Wahl des Bositzinodtis nach seinem Ermessen zu überlassen, der Artikel 166 des l.oskaufrcglemonts, berechtigt die einzelnen Bauern, ihren Fandtheil aus dem Gemeindeland herauszuziehen, sobald sie persönlich dem Keichsschatz die auf ihren Theil fallende Loskaufssumme zahlen. Dieser Artikel, dessen Aufhebung mehrere Parteigänger des Mir gefordert haben, Scheint übrigem die Folgen für den Mir nicht gehabt zu haben, die von ihm gefürchtet werden konnten, da nur wenige Bauern im Stande sind, diese Möglichkeit zu benutzen. *.) 1,648,700 ohne Elsass-Lothriugen. 4,7ls,(XHUIekt., Elsass miteinbegriffen. der Centralgewalt zu veräussern. Die Rechtsauffassung des Staats-raths ist sogar durch aus gegen jede Theilung unter die Gcmeinde-glieder. In England, wo die Gemeinden eine so ausgedehnte Autonomie gemessen, können sie ebensowenig ihre Ländereien ohne Zustimmung der Regierung veräussern. l) Wollte man das jetzt in Russland geltende System in Frankreich einführen, sollten zwei Drittel der Bewohner durch ihre Abstimmung entscheiden können, dass das Gemeindeland getheilt werde, so wären unsre Gemeindeländereien bald verschwunden, um die Felder der Einen zu arrondircn und die Ausgaben der Andern zu decken. Wie hat nur in Hussland eine Gesetzgebung, welche den Gemeindebesitz SO wenig schützt, doch noch denselben nicht ganz zusammenfallen und sieh in Privatbesitz verwandeln lassen? Bis jetzt hat der Gemeindebesitz in der Regel noch die gesetzliche Majorität in den Bauernversammlungen sich bewahrt; immer aber und überall hat er nicht bestehen können. Ms hiess lange, es gebe Ländereien, die eins! von den Grundherren an ihre Leibeigenen vertheilt worden und später von den Freigegebenen zu Gemeindeeigenthum abgegeben seien, während man keine einzige ländliche Gemeinde kenne, die freiwillig den gemeinsamen Hodenbesitz aufgegeben habe. Das ist falsch. Die definitiven Theilungen sind selten und nur Ausnahme, aber sie kommen dennoch vor. Die landwirtschaftliche Enquete führt mehrere aus verschiedenen Gouvernements von Grossrussland an. In einigen Gegenden sind die Fälle der Theilung sogar verhältnissmässig zahlreich-), und es zeigte sich hierbei an den Hauern manche Spur von Meinungswochsel zu Gunsten des persönlichen Eigentimms. Wie ein Gutsbesitzer aus dem Gouvernement ') Geber die französische und englische Gesetzgebung in Bezug auf diesen Punct s. Faul Leroy-Beaulieu: „De l'adminißtration locale cn France et en Angtcterrc. 284—287. •) So hatten seit 1873 in einem Kreise des Gouvernements Nishni-Xowgorod von 1!K) Dörfern 4t), in einem Kreise von Mohilew von 344 — 25 auf den Gemeindebesitz verzichtet. Das waren übrigens zwei Ausnahmefalle. In vielen Kreisen, selbst in vielen Gouvernements zählte man nur eine oder zwei definitive Theilungen auf hunderte oder lausende von Dörfern (in Kursk z. I>. 2 auf 3591). Auch muss bemerkt werden, dass solche Beschlüsse häutig von einem dem Mir abgeneigten Beamten oder Gutsbesitzer eingeflüstert und Jucht immer ausgeführt sind. In dem Gouvernement Sunbirsk werden Gemeinden bezeichnet, die einen derartigen Beschluss nur fasston, um einigen reichen Hauern den persönlichen Ankauf ihrer Landantheile in Uebercinstimmung mit dem Art. L66 des Loskaufsreglements zu gestatten; die übrigen frühem Leibeigenen fahren fort, die Ländereien nach dem alten Herkommen zu theilen. Pskow mittheilt, ist einer der Hauptgründe für die definitive Theilung, nelten dem Wunsche, der solidarischen Haft zu entgehen, die Zunahme der Bevölkerung, die den Antheil jedes Einzelnen bei jeder Theilung verringert und so die Loose unter das in der Emancipations-acte bestimmte Areal sinken lässt, das ohnehin schon mitunter ungenügend war. Eür die Dorfgenossenschaften liegt darin übrigens eine Gefahr, die immer ernster, ja endlich verderblich werden kann, wenn man die periodische Theilung nicht durch einen andern Modus zu ersetzen vermag. Die Beispiele von der Aullösung der Eeldgenossenschaften würden unter allen Umständen genügen, um zu beweisen, dass das bestehende Gesetz der Theilung des Gemeindebesitzes durchaus keine unüber-steigliche Schranke entgegensetzt. Die definitiven Theilungen. die in den ersten Jahren sehr selten waren, sind es in den letzten Jahren nicht mehr. Der Bauer hat begonnen, häufiger von einem Rechte Gebrauch zu machen, von dessen Existenz er früher nichts wusste.1) Bei der jetzt geltenden Gesetzgebung liegt das Schicksal des Gemeindebesitzes in den Händen der Betheiligten; an dem Tage, wo der Mir eine wirkliche Majorität gegen sich haben wird, wird er vor einer einfachen Abstimmung fallen. Nur eine ausgedehnte Meinungsänderung unter den Mushiks, und das an Gemeindeland so reiche Hussland wird desselben noch mehr beraubt sein, wie Frankreich. Dieser Zeitpunct ist noch nicht eingetreten. Ausser der Gewohnheit und Tradition, die über den Mushik grosse Macht üben, streiten verschiedene Gründe und Vorurtheile gegen eine definitive Theilung. Zuerst die Anhäufung der Wohnstätten, da Jeder fürchtet, einen von dem Dorfe, in dem Alle wohnen, zu entfernten Antheil zu erhalten. Auch die Furcht, an ein schlechtes Loos zu gerathen, ohne dann, wie jetzt, die Möglichkeit zu haben, durch eine künftige Losung entschädigt zu werden. So führt die Enquete eine zu persönlichem Besitz übergegangene Gemeinde im Gouvernement Twer an, in der viele von den Bauern über den ihnen zugefallenen Landantheil klagen. Ein weiterer Grund für die Rfickweisung des persönlichen Besitzes entspringt aus den communistischen Sitten des Mir. Bei ]) In den ersten neun oder zehn .Iahreu nach der Aufhebung der Leibeigenschaft wurden vielleicht nicht ganz hundert Gemeinden gezählt, welche den Ge-meindebesitz aufgegeben hatten; später fanden sich — nach den 1880 vom Doinünenministeriuin veröffentlichten ,,Materialien" — in drei Kreisen des Gouvernements Tula allein 140 Gemeinden, die auf den Gemeindebesitz verzichteten, und ähnliche Fälle sind in andern Gouvernements vorgekommen. der definitiven Theilung fürchten die Hauern das ungleiche Waohs-thum der Familien, das natürlich in einer oder zwei Generationen die Landantheile ungleich machen würde. Endlich fürchten die Hauern dort, wo die Steuern den Ertrag übersteigen, durch Verzicht auf den Gemeindebesitz mit einem zu grossen Antheil und zu schweren Abgaben belastet zu werden: in diesem Falle ist es nicht die Ungleichheit im Besitz, was sie fürchten, sondern vielmehr das Gegentheil, ein Zuviel an Land und Steuern wegen Krankheit oder Todesfälle in dem Hause.1,) Alles in Allem: die meisten Mushiks hängen noch an dem alten Modus der Landnutzung, auch wenn sie die Uebelstände der periodischen Theilungen anerkennen. Hilter den von der Enquete-commission befragten Gutsbesitzern erklärten mehrere, sie hätten eS vergeblich versucht, ihre Bauern zur delinitiven Theilung zu bewegen; ich selbst habe Männer, die dem jetzigen System vollkommen abgeneigt waren, dasselbe Geständniss machen hören. LTebrigens ist es schwierig, die wirkliche Ansicht der Bauern über diese sie so nahe betreffende Angelegenheil zu erfahren. Wer sind denn im Mir die Anhänger des Gemeindebesitzes? Sind es die Faullenzer, die Trunkenbolde, die Leichtfüsse oder sind es die arbeitsamen und wohlhabenden Bauern? In der Enquete linden sieh die entgegengesetzten Antworten auf diese Frage. Man stellt die Hauern jetzt als in zwei Classen geschieden, gewöhnlich ohne Mittelstand dar. als reiche und als arme Hauern. Xaeh welcher Richtung neigen nun die einen, nach welcher die andern hin? Die verbreitetste Ansicht lud rächtet die ersferen, die sich bei dem gegenwärtigen System bereichert haben, im Ganzen als Gegner desselben, die andern dagegen die darin nur Elend gefunden haben, als die wärmsten Vertheidiger des Systems. Die wohlhabenderen, die zugleich die unternehmenderen und arbeitsameren sind, sollen für den Modus des Besitzes sein, der ihnen am besten die Frucht ihrer Arbeit sichert; die leichtsinnigeren oder fauleren für denjenigen, der ihnen die leichteste Existenz bereitet. Nach den landwirtschaftlichen Erhebungen sind jedoch Parteigänger und Gegner des Gemeindebesitzes keineswegs überall nach diesem Massstab vertheilt. Der eine von den Befragten, z. B. ein Gouverneur von Kursk, sagt wohl, dass die Wohlhabenderen die Auflösung der Feldgemeinschaft verlangen, und dass sie bisweilen sogar ') „Wie schlecht auch die Theibuigeii seien", antwortete ein Gcmoinde-ältestor auf die Fragen der Eiupieteconunission , ,,so stünde es ohne sie noch schlimmer. her, dessen Familie abnimmt, könnte sein Land nicht mehr bebauen noch die Abgaben zahlen". Loroy-llcaulicu, Bftloh tl. /.uroii u. d. kushcii. 30 Petitionen in diesem Sinne an die Regierung richten; aber in derselben Erhebung versichern uns viele Gutsbesitzer, dass der Vortheil "der Feldgenussenschaft nur einigen reichen Bauern zu gute komme, dass diese Dorfoligarchen den ganzen Mir in Abhängigkeit erhalten und ihre Autorität dahin verwenden, ein System zu stützen, das ihnen die Ausnutzung ihrer Genossen möglich macht. Ein anderer Befragter, Herr .Jeromejew, gelangt sogar zu der Behauptung, dass Dank der Tyrannei dieser Genieindefresser, dieser Mirojedüi eine Behörde, die über die Feldgenossenschaft gesetzt würde, nur deren Abschaffung aussprechen könnte. Um die Auflösung des Mir zu erleichtern, bat eine Adelsconimissioii von St. Petersburg vor Kurzem den Vorschlag gemacht, alle schlechten Subjecte und rückständigen Steuerzahler aus ihm auszuschliessen. Auf diesen Petersburger Vorschlag antwortete ein Moskauer Schriftsteller, die Taugenichtse, Faullenzer, Trunkenbolde seien gerade am meisten für die definitive Theilung, da sie am meisten den persönlichen Besitz eines Grundstückes wünschen, um es nach Belieben verkaufen und vertrinken zu können.1) Wenn uns die Russen, die den Mushik am besten kennen, so widersprechende Urtheile gehen, so kann ein Ausländer kaum zwischen den entgegenstehenden Meinungen wählen und nicht ohne Vermessenheit einen Schluss aus denselben ziehn. Dergleichen Meinungsverschiedenheiten lassen sich nur auf eine Weise erklären: entweder stellt sich der Bauer die grosse Krage, die Andre in seinem Namen hin- und herbewegen, noch selten, oder er hat über sie noch keine feste Meinung. Untcrdess halten die meisten die alten Sitten und das Herkommen der Väter fest. Thatsachen beweisen jedoch, dass der Mushik auch sohon anfängt, die Frage sich zu stellen, und dass er sie nicht immer zu Gunsten des Mir sich beantwortet. Man darf ferner nicht vergessen, dass ein grosser Theil der Gemeinden seit der Kmanoi-pation noch nicht zu Theilungen geschritten ist, ohne jedoch zum persönlichen Besitz übergegangen zu sein. In solchen Dörfern könnte der Wechsel von einer Form des Eigenthums zur andern sich mitunter ohne jähe Umwälzung, auf fast unmerkliche Weise vollziehen. Eines ist sicher: wenn die russischen Bauern am Gemeindebesitze dort, wo er besiebt, festhalten, so hegen sie doch für das entgegenstehende System, für das persönliche und erbliche Eigeiithuin den instinetiven Widerstand und die tiefgegründete Abneigung durchaus Dicht, wie sie die Einbildungskraft Herzens und der russischen ') Ginitricw „Revolutionärer Conservativismufc" l>. !>(>, t)7 russ. Socialisten sich ausmalt. Sie scheinen keineswegs — wie einige ihrer civilisirten Lobredner behaupten, in dem Gemeindebesitz die einzige natürliche und berechtigte Form des Grundbesitzes noch in dem persönlichen Eigenthum eine unnatürliche und ungerechte Usurpation zu sehen. Die Wohlhabenderen suchen ein Feld für sich zu kaufen. Hei dem Mushik ist dieser Hang aller Bauern der Erde zu persönlichem Dösitz nur noch durch den nationalen Hang zum Handel aufgewogen. Alle Missstände, die in der Zukunft auf die Auflösung der Feldgenossenschaft hin drängen, — der Druck der solidarischen Haft, die Kleinheit der Aecker — drängen schon heute auf den Erwerb persönlichen Eigenthums hin. Die freigegebenen Leibeigenen kaufen Land, aber bei ihren früheren Herren, ausserhalb des Gebietes des Mir. Dieses Verlangen nach Eigenthum ist seit der Emancipation von Allen bemerkt worden. Auch die Kaufleute erwerben viele früher herrschaftlichen Ländereien, aber gewöhnlich nur um sie paroollirt an Hauern weiter zu verkaufen. Die Nachfrage der Hauern ist so lebhaft, dass dieses Geschäft der Hodenzerstiickelung in der Regel sehr einträglich ist; der Unterschied zwischen den Preisen des im Ganzen verkauften und des zerstückelten Landes ist sehr gross. In dem Gouvernement Kursk allein hatten die Bauern im Laufe eines Jahres Land für 2 Millionen Rubel gekauft. Diese Bewegung im Besitzwechsel, auf die schon in der Enqudte von 1S72 hingewiesen wird, hat seither stark zugenommen, [n dem Gouvernement Twer haben die Hauern in den letzten Jahren der Regierung Alexanders IL ungefähr 500,000 Hektaren, in Taurien 430,000 Dess.. in dem Gouvernement Samara über .'100,000, in Saratow über 200,000, in Cherson über 150,000 Dess. gekauft.1) Der Mushik, meist ein reichgewordener Dauer, kauft gewöhnlich allein und in kleinem Stück, doch vereinigen sich mitunter mehrere zu einem Artel zur Erwerbung eines Landstückes, manchmal werden Landkäufe von Eidgenossenschaften abgeschlossen. So sind schon grosse Güter von mehreren tausend Hektaren in die Hände assoeürter Bauern gefallen. Bisweilen lassen diese das Land ungctheilt, gewöhnlich aber theilen sie es definitiv, was den Gegnern des Gemeindebesitzes ein Argument mehr an die Hand giebt.-; Auf diese Weise sind viele Mushiks zu gleicher ') Diese Zittern sind den „Materialien" von 1H80 entnommen und natürlich nur approximativ. 2) Im Gouvernement Twer sind beispielsweise von 4b!),(XM) Dessät. 11 ">, vim Gemeinden, 105,000 von Arteis oder Associationen, 248,000 von einzelnen Lauern gekauft, deren Gesanimtzahl L2,bOO betrug und von denen jeder durchschnittlich etwa gn Hektaren erwarb, In Saratow sind von 808,000 Ge) Es giebt in Russland noch zahlreiche Güter von 10,000, 20,000, 40,000 und mehr Dess., (1 Dess. gleich 1 Hekt. 9 Are). Für Kleingrundbesitzer gelten gewöhnlich Alle, die weniger als 100 Dess,, für mittlere, die 100—1000 Dess., für Grossgrundbesitzer endlich, die mehr als 1000 Dess. haben. Nach der neuesten Erhebung haben die letzteren in der fruchtbarsten Ackerzone noch mehr als die Hälfte allen Landes inne, ö;5<'/0. In den acht Gouvernements der centralen Ackerzonc, wo der Hoden den höchsten Werth hat, gab es: 1800 Gutsbesitzer von 1000— siOOO, III von ötKXI ..10,000, 82 von mehr als 10,(XH) Dess, (Statistik des Grundbesitzes, I. Heft 1880). Die Zahl der grossen Güter ist wahrscheinlich in den meisten andern Gegendell viel beträchtlicher. *} Das statist. t'entialcomite hat hierüber Gntersuchungeu angestellt, deren erste Ergebnisse 1880 veröffentlicht worden sind. („Statistik des Grundbesitzes n. s. w. im europäischen Russl." russ., Quelle der oben gegebenen Daten.) ■) Janson zählte 1877: 177 Mill. Hess, dem Staat und 7 Mill. der Apanage, 46 Mill. den Kronsbaueru, 64 Mill. den frühern Leibeigenen, etwas mehr als 4 Mill, den Apanagebauern, etwas weniger als 4 Mill. den Golonisten, nur 64 Mill. den adligen Gutsbesitzern, die vor der Freigebung mehr als 105 Mill. besassen, und endlich 21 Millionen den persönlichen Grundeigenlhünicrii verschiedener Stände zu. („Versuch stal. l'ntersuchungi'n u, s, w. 1S77 und 18S1) russ. europäische Frankreich. Von diesem ausgedehnten Areal isl der bessere Theil, vielleicht zwei Drittel, der Feldgonossenschaft unterworfen, die noch in ganz Grossrussland die herrschende ist. Die Kronsgüter bei Seite gelassen, die viele unzugängliche Wälder und wüste Steppen enthalten, besitzt der Bauer bereits mehr als die Hälfte des urbaren Landes, und dieses Yerhältniss wird noch günstiger für ihn, wenn man die reichen Gouvernements der Schwarzerde nimmt oder wenn man den Bodenwerth in Betracht zieht. Nach Janson („Versuche" u. s. w.) nehmen die Bauerländereiou 7t) bis 00% der Bodenfiäohe der Gouvernements Woronesh, Kasan, Orenburg, Ufa und Wätka ein; sie bilden über öl)0/,, in der mittleren Region der*Schwarzerde. Nach Semenow und dem statistischen Centralcomite besitzen die Bauergemeinden bereits in den acht ackerbauenden Centraigouvernements 56% der gesammten Bodenfläche und 66% des urbaren Landes, während die persönlichen < 1 utsbesitzer in derselben Region nur 37 % der llodenlläche und 31°/o des urbaren Landes haben, d. h. um die Hälfte weniger, als die Bauergemeinden.l) Es ist also in der fruchtbarsten Kegion Grossrusslands der grössere Theil der bebauten Ländereien tiein System des Gemeindebesitzes unterworfen. So ausgedehnt schon die Bauerländereieu sind. SO wachsen sie doch unablässig ohne hiezu die Gründung von < redithanken abzuwarten, die unter Alexander III. speciell zu dem Zwecke geschaffen wurden, ihre Ausdehnung zu beschleunigen. Die Bewegung, die all-nialich die Aecker in die Hände übergehen lässt, welche sie bebauen, vollzieht sich so rasch und machtvoll, dass sich bereits verschiedene landwirtschaftliche Vereine und mehrere Adelsversammlungen mit ') Folgende Tabelle über die Vertheiluug des Besitze« in den acht, last ganz zu der fruchtbarsten Zone der Schwarzerde Kusslands gehörenden Gouvernements giebt die „Statistik des ländlichen Grundbesitzes'4 U. s. w. von L880: Vorschiodono: Gouvernements Gemeindeland Penönl. Grandbe*iti Staut Geistlichkeit, Stidt« 11. h. w- Woronesh...... 66*/, 80% 1,8 2,1 Kursk....... 62 „ 35 „ 1,1 1,7 Kasan....... 55 „ 39 „ 4,4 Iß Pensa....... 54 „ 38 „ 5,8 1,5 Tauibow...... 53 „ 86 8,8 2,0 Kaluga...... 53 „ 39 „ 3,5 4,6 Tula....... 51 „ 45 „ 1,7 2,1 Orel........ 50 „ 38 „ 5,7 6,7 den Mitteln zur Rettung des Grossgrundbesitzes beschäftigt haben, dun die gierigen Erwerbungen des Mushiks zu verschlingen drohen. Ist gegenüber den fortgesetzten Eroberungen der Dorfgenossenschaften und der Hauern in Wirklichkeit kein Anlass, sich über die Auflosung der grossen Güter und der grossen Wiithschaften, über die bevorstehende Expropriirung des Adels zu Gunsten unwissender und capitalloser Hauern oder Kaufleute zu beunruhigen, die für das Land keinen Sinn und für den Acker kein Interesse haben, sondern den Boden nur schleunigst durch eine Behandlung erschöpfen zu wollen scheinen, die mit Recht den Namen des Raubbaues trägt? Hierin liegt gewiss für die wirtschaftliche Entwickelung des Reiches eine Frage, welche von vielen Hussen in ihrem natürlichen Verlangen, das Landgebiet des Volkes sich ausdehnen zu sehen, ganz ausser Acht gelassen wird. Ks ist für Land und Cultur nicht Alles gut in dieser Revolution, welche die Güter des Adels verkleinert, zumal wenn die Käufe des Mushiks nicht mehr die Ungeheuern Domänen einiger reichen Familien in Angriff nehmen, sondern täglich von dem mittleren und kleineren Grundbesitz etwas abbröckeln. Unter dieser allmälichen Ausscheidung des Adels in einigen Regionen Grossrusslands leidet nicht blos die allgemeine Civilisation die geistige, literarische und wissenschaftliche Hihlung, die europäische Cultur, deren einziger Träger auf dem Lande bei all seinen Fehlern und all seiner Frivolität der alte L'omeschtsehik war; es leidet darunter auch die materielle Cultur, die Cultur des Bodens, die sogar mitunter dadurch gefährdet wird; die Production, der Boden selbst gerathen in Hände, die allzu arm, allzusehr dem Schlendrian ergeben, allzu kenntnisslos sind, als dass sie der Erde abgewinnen könnten, was diese bilden müsste. Mögen derartige Befürchtungen heule noch verfrüht erscheinen, so sind sie doch offenbar wohlbegründet. Wenn bei dem jetzigen Entwicklungszustand des russischen Volkes das Privateigenthum morgen vor dem Gemeindebesitz verschwinden, wenn die neueren Erwerbungen des .Mushiks in die Ländereien des Mir aufgehen sollten, balle Hussland — so fürchte ich — kaum Anlass sich zu beglückwünschen, das ganze Innere des Reiches der Macht kleiner bäuerlicher, analphabeter und abergläubischer Demokratieen überlassen zu haben. Dem unparteiischen Beobachter ist es zweifelhaft, ob der Staat ein Interesse daran hat, alle urbaren Ländereien demnächst ob in der Horm des Gemeindebesitzes oder des persönlichen Eigenthums in die Hände der Gemeinden und der Hauern Übergehn zu lassen. Im heutigen Hussland, wo dir gestern erst freigegebenen Volksmaasen noch so wenig entwickelt und so wenig gebildet sind, fällt dem grossen und dem mittleren Grundbesitz mehr als irgend anderswo eine eigene wirtschaftliche Holle, eine sociale Aufgabe zu. Durch sie, durch das Privateigenthum und durch den Pomeschtschik im Gegensatz zum Hauern, muss die jetzt noch so weit zurückgebliebene Landwirtschaft in die Halm des Fortschritts geleitet werden. Wenn nur zuviel herrschaftliche Ländereien jetzt kaum besser bebaut sind, als die Felder des Mushiks, so giebt es doch unter ihnen auch die bestgeleiteten und rationellsten Wirthschaften. Noch auf lauge Zeit hinaus, so lange das geistige Niveau der bäuerlichen Volksmassen sich nichl wesentlich gehoben hat. wird man für die Verbesserung des Handbaiis auf den Mushik und auf die Dorfgenossenschaften nicht rechnen dürfen. Gehörte unter der einen oder der andern Form der ganze russische Hoden den letzteren, so wäre der Staat gezwungen, um nicht die ganze nationale Production stocken zu lassen, selbst die Leitung der Landwirtschaft in die Hand zu nehmen, die Aekerge-nossenschaften einer besonderen Verwaltung zu übergeben, kurz zu dem zweifelhaften und teuren Auskunltsmittel der Bureaukratie seine Zuilucht zu nehmen. So behält gegenüber den Dorfgemeinschaften, die in der Hegel ohne Kapital, ohne Bildung, ohne Initiative sind, der persönliche Besitz im Staate, mag er mm in den Händen des Adels bleiben oder nicht, eine Bedeutung, deren Nutzen man nicht bestreiten kann; ihm fällt es zu. das Beispiel und die Anregung zu geben, ihm, die neuen Methoden und die gesunde landwirtschaftliche Praxis zu verbreiten und heimisch zu machen. Der reichgewordene Kaufmann der Stadt, der wohlhabende Hauer des Dorfs sind nur in wenigen Fällen schon geeignet, diese Mission der Belehrung und Anspornung erfüllen zu kö.ineu. Noch linden sieh die hiezu am besten vorbereiteten Männer unter den alten Gutsbesitzern. Die Hussen lieben es. sociale Fragen zu behandeln: es macht ihnen, nicht ohne Grund. Freude, die Vertheilung des Grundbesitzes unter die verschiedenen Stände zu berechnen; vor Allem liegt ihnen daran, den grösstmögliclien Theil der nationalen Bevölkerung am Bodenbesitz teilnehmen zu sehen. Das ist ein edles Interesse, doch darf es nichl ausschliesslich'sein, wenn es nicht in Irrthum führen soll. Das dornige Problem des Grundbesitzes hat zwei Gesichter, von denen das eine das andere nicht vergessen machen darf. Die sociale Frage darf die ökonomische Frage nichl aus dem Sehfelde verdrängen, das augenscheinliche Interesse des Ackerbauers darf ebensowenig das Interesse des Böllens und des Ackerbaus in den Hintergrund schieben. Keines von diesen beiden Interessen kann ungestraft dem andern geopfert werden. Wenn gewisse Nutionen, wie die Engländer, sich allzueinseitig mit dem Landbau und der Production beschäftigt zu haben scheinen, so scheinen mir einige Bussen allzu geneigt, dem entgegengesetzten Extrem zu verfallen. Und von beiden Irrthiiinern ist der letztere wohl der schweren1, denn das Interesse des Landmanns konnte unmöglich lange von dem des Landes und der Production getrennt bleiben: wenn in einem reichen Lande der Reichthum in der Hand einer kleinen Zahl coiieeiitrirt sein kann, so kann ein armes und schlecht bewirtschaftetes Band schwerlich Reichthum oder Wohlhabenheit einer grossen Zahl erreichbar machen. Russland zeigt die traurige und lehrreiche Hrsehcinung, dass die Masse des Volkes dort zugleich grundbesitzlich und arm ist. Der Grund ist einfach; er liegt in der Unwissenheit des Volks und in der Bast der Steuern: er liegt hauptsächlich in dem Mangel an Kapital, ohne welches die Production kaum einen grossen Aufschwung nehmen kann. Statt sieh zu bemühen, so viel Band als möglich in die Hände des Bauern übergehen zu lassen, thäten die Freunde des Volkes vielleicht besser, auf Mittel bedacht zu sein, ihm zu besserer Ausnutzung zu verhelfen. Das grosse Problem für das Reich und für den Mushik selbst ist nicht, wie der Landantheil vergrössert, sondern wie dem Bauer materiell und moralisch die Mittel gegeben werden können, die Erde productiv zu machen. Hierin liegt für Hussland eine Hauptfrage, deren Wichtigkeil mau mehr und mehr empfindet, und die um der ( oncurrenz Amerikas willen nichl aus dem Auge gelassen werden darf. Wenn durch die, Ausfuhr der neuen Welt und aller transatlantischen Bänder der Ackerbau des allen Buropa jetzt eine ernste Krisis durchmacht, so fällt keine geringere Prüfung auf den russischen Bandbau, der in Gefahr steht, von allen europäischen Märkten durch einen Nebenbuhler verdrängt zu werden, der an jungfräulichem Hoden und besonders an Kapitalien reicher, unvergleichlich besser vorbereitet und weniger von Steuern und Hindernissen aller Art bedrängt ist. Fuldas grosse Reich, in dem der Ackerbau der wichtigste Betrieb und der Hoden hin und wieder schon allzufrüh erschöpft ist, liegt hierin eine ernste Sorge. Was die Vereinigten Staaten Nordamerikas überlegen macht, ist nicht so sehr die Fruchtbarkeit und Ausdehnung des bebaubaren Bandes. auch Hussland hat sein Far-West in dem südlichen Sibirien, das sich leicht durch Eisenbahnen und Kanäle mit Huropa verbinden liesse, — was Russland die unter- geordnete Stellung anweist, das ist nieht allein die Knvollkommenheit der Betriebsmittel und der Verkehrswege, das ist vor allem die Unwissenheit und Armuth des Volkes, und um hiegegon Heilung zu finden, genügt es nicht — ich wiederhole es -- den Bandkauf' den Bauern zu erleichtern, noch ihren Antheil zu vergrössern. Wenn Russland sieh nicht darauf beschränken Will, ganz für sieh allein zu leben, auf jeden Austausch mit dem Westen zu verzichten und die Kapitalien, deren es so sehr bedarf, nicht mehr bei uns aufzunehmen, so müssen der Mushik und der Pomeschtschik des Dons und der Wolga mit den Farmern des Mississippi zu rechnen beginnen. Diese amerikanische Concurrenz ist neben den schlechten Knollen und den Hungersnöthen der letzten Jahre eine neue Bedrohung des alten Agrarsystems, des Mir und der Feldgenossenschaft, die in den Augen vieler Hussen für den Niedergang des nationalen Bandbaus die Verantwortlichkeit tragen sollen. Heute würde indess bei den im Volke verbreiteten Ideen und Vorurtheilen die Abschaffung der Dorfgenossenschaften, unseres Er* achtens, kaum die Lage des russischen- Landbaus wesentlich bessern, denn sie würde die Wirthschaflsnullinden schwerlich ändern. Wie man auch über den Gemeindebesitz denke, es ist weniger die Korm des Besitzes, die im Interesse der Mehrung der Production geändert werden muss, als der Mensch, der Bandbauer selbst. Und eine solche Veränderung der Sitten, der Gewohnheiten, der landwirtschaftlichen und practischen Kenntnisse könnte bei so ungeheuren. so fest geschlossenen, SO sehr von den gebildeten Blassen isolirleii bäuerlichen Bevölkerungsmassen unmöglich in wenigen Jahren sich vollziehen. Auch die Schulen würden, selbst wenn man sie nach Massgabe des vorhandenen Notstands vermehren könnte, unfähig sein, allein eine solche Hmwandelung herbeizuführen. Hm dahin zu gelangen, muss auf dem Grunde des Volkes selbst, unter den kaum freigegebenen Mushiks. eine neue Blasse entstehen, eine verhältnissmässig gebildete uml wohlhabende Elite, die fähig wäre, aus den Belehrungen und Beispielen von oben Verl heil zu ziehen und sie um sich selbst auszubreiten. Es muss sich in den Dörfern das bilden, was auf dem Bande noch mehr, als in den Städten fehlt, eine Art dritten Standes, eine wirkliche Mittelklasse, welche zwischen den alten, jetzt isolirleii Eomeschtschiks und der Masse der noch analphabeton Mushiks das Bindeglied abgeben kann. Dass eine ähnliche, wohlhabende uml unterrichtete städtische Blasse geschaffen werde, ist politisch ebenso unerlässlich, wenn Hussland eine freie Regierung, ökonomisch aber, wenn es seine landwirtschaftlichen Producte auf die Höhe seiner natürlichen Hülfsquellen heben will. Nun, Russland schein! bereits den Keim dieses künftigen Aokerbürgerthums in dem Kern der Bauern zu besitzen, welche gegenwärtig den linden zu persönlichem Besitz kaufen. Man unterscheidet so seit einigen Jahren auf den russischen Landgütern ein neues Element, dem eine wichtige Bulle für die Zukunft vorbehalten zu sein scheint1). Dies muss der Ausgangspunkt einer ländlichen .Mitteltdasse sein, die sich aus gemischten Grundeigentümern zusammensetzt, welche zugleich an beiden Formen des Grundbesitzes interessirt sind und besser als jeder Andere Vorzug und Mangel beider zu erkennen vermögen. Diese neue (Masse wohlhabender Dauern, denen mit dem Wohlstand auch allmälich die Bildung kommen wird, wird auf den Mir, der jetzt den armen und unwissenden Mushiks überlassen ist, zersetzend oder erneuernd wirken. Guter ihrem naturgemäss wachsenden Kinlluss wird die Gemeinde ihre Gebräuche ändern, neue Kenntnisse und neue Methoden einführen müssen, oder wenn sie hiezu unfähig ist den Angriffen des Individualismus unterliegen. Iiis dahin, bis der Mushik seine Betriebsweise bessern kann, würde die Abschaffung der Feldgenossenschaft wenig wirthschaftliche Vortheile, vielleicht aber ernste politische Gefahren mit Bich bringen. Die Bauern selbst müssen Vorzüge und Nachtheile beider Besitzarten an sieh erfahren. Wie gross auch heute tue Gemeindeäcker seien, der wohlhabende und unternehmende Bauer lindet ausserhalb derselben noch Land genug, um zu persönlichem Besitz zu gelangen, ohne dass der Collectivbesitz des Mir doshalb durchaus abgeschafft werden müsste. Bussland ist heute nichl gezwungen, zwischen den beiden entgegengesetzten Systemen zu wählen, die beide alt und den nationalen Sitten entsprechend sind; nichts nöthigt es jetzt, das eine dem andern zu Opfern. Jede der beiden Besitzlörmen hat ihre An- ') Trotz wiederholter Landkäufe Ist die Gesanunlzahl der EU persönlichen] Grundbesitz gelangten Bauern noch sehr schwach; aber sie wächst ununterbrochen. In den 8 Gouvernements der centralen Ackcrbauzone erreichten gegen Ende der Regierung Alexanders II. die Bauern mit persönlichem Uesitz noch nicht die Zahl von ,r>7,, 97. ■) Fawcett, „Systems of bind tenure in various countries" p. ,'V.Jb. Gas könnte freilich dereinst das Loos der (ienieindehindereien sein, wenn sie weniger ausgedehnt wären ; aber in einem Lande, wo sie den grössern Theil des urbaren Bodens einnehmen, dürfte der Staat schwerlich die Dorfacker zur Dotation der Armen werden lassen; das hiesse aus Mangel an Kapital und Betriebsmitteln die landwirtschaftliche Production ersticken. linden, dass dies das einzige Mittel ist, den Collectivbesitz, wenn er noch besteht, am Leben zu erhalten und zu rechtfertigen. In dieser Beziehung bietet er in Wirklichkeit unbestreitbare Vorzüge vor dem persönlichen, parcellirten Grundbesitz. Würde sich in einem Lande ausgedehnter Ebenen und in einem Zeitalter der Dampfmaschinen das System der Fehlgenossenschaft nicht besser zu einem rationellen und wissenschaftlichen Betriebe passen, als der persönliche Besitz? Zu einer Art dauernder Association verbunden, Glieder einer land-vvirfh schuft liehen Gesellschaft, in der sie Actionäre und Arbeiter zugleich wären, so würden die Hauern an den Gemeindeländereien ein freies Gebiet zum Landbau in grossem Stile finden. Abgesehen von diesen Hypothesen einer entfernten Zukunft könnte die Feldgenossonschaft. die gewöhnlich für ein Hinderniss jedes Fortschritts gilt, selbst bei dem System der periodischen Theilungen noch mitunter den Mushiks die Meliorirung ihrer Aecker und die Verbesserung ihrer Betriebsweise erleichtern. Die Aoltosten des Mir haben bereits in einigen wenigen Dörfern rationellere Methoden eingeführt. Ks werden Genieinden genannt, die auf BeschluSS den alten Modus der dreijährigen Koppelwirtschaft beseitigt, andere welche die Düngung der Felder obligatorisch gemacht haben. Könnten die Fortschritte des Volksunterrichts nicht dereinst aus dieser Vereinigung der bäuerlichen Kräfte Vortheil ziehen? Die Association allein scheint im Stande, alle Hülfsquellon des russischen Hodens auszunutzen, allein im Stande. alle seine natürlichen Mängel abzuwehren; Wie Hesse sich den Verteidigern der Feldgenossenschaft bestreiten, dass sie besser als der einzelne Hauer die grossen Arbeiten unternehmen könnte, die notwendig sind, um das nationale Landgebiet auf seinen vollen Werth zu bringen: die Trockenlegung der Sümpfe im Norden und Westen, die Berieselung und Wiederbewaldung der Steppen im Süden und Osten? Ks lässt sich nicht leugnen, dass bei der jetzigen Armuth und Unwissenheit des heute allein am Mir interessirten Hauern alle diese Verbesserungen, welche als die natürliche Aufgabe der Feldgenossen* schalt erscheinen, offenbar über die Kräfte, wohl auch Über die Intelligenz dieser collectiven Grundbesitzer hinausgehen. Ks wird noch mehrerer Generationen bedürfen, bis die Gemeinden in dieser Beziehung ihren Vortheil und ihre Pflicht erkennen, bis sie sieh nach Bedürfniss mit einander verbinden lernen, um erfolgreicher gegen die Missstände des Bodens und Klimas zu kämpfen, die jetzt noch häufig durch die Sorglosigkeit des Menschen gesteigerl werden. Der Geist der Initiative und der Unternehmung, der allein aus der Feldgenossen- schaft Vortheil ziehen könnte, scheint den Bauergemeinden noch lange fremd bleiben zu sollen, und die (logner des jetzigen Systems sagen vielleicht nieht ohne Grund, dieses System selbst habe jenen Geist im Bauei und in der Gemeinde ertödtet. Kurz zusammengefasst: ich meinestheils wage es nicht, der Behauptung beizustimmen, der Besitzmodus der ältesten Zeiten sei durchaus unfähig, den Bedürfnissen der modernen AVeit angepasst zu werden. Von allen gegen den Gemeindebesitz erhobenen Einwänden ist aber gerade derjenige in meinen Augen der stärkste, den das Alterthum des oollectiven Bodenbesitzes liefert. Wenn das System der Feldgenossenschaft den Bewohnern nützlich und dem natürlichen Gesetz des Fortschritts entsprechend wäre, wie kam es, dass dasselbe fast ganz aus den reichsten und civilis!r-testen Ländern verschwunden ist? Dieser sein Untergang kann doch wohl nicht aus zufälligen Umständen erklärt werden. AVenn eine Institution, die früher über weite Landstrecken hin galt, sich jetzt nur noch in vereinzelten Spuren, in abgelegenen Gegenden vorfindet, so tritt die Frage nahe, ob sie nicht mit der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft unvereinbar sei? Hierin liegt sicherlich ein ernster Grund, an der Zukunft des Gemeindebesitzes zu zweifeln. Doch wie gross sein Gewicht auch sei, ganz entscheidend ist auch dieser Einwand nicht. Der Beweis ist keineswegs erbracht, dass ein wirth-scbaftliches Verfahren aus der Kindheit der Gesellschaft nicht wieder erneuert und dem Geiste einer reifen Civilisation angepasst werden könne. Lässt sich nicht in den Gesetzen und Rechtsgewohnheitcn des modernen Europa, wie z. B. in der Jury, mehr als ein Zug wiedererkennen, der aus barbarischer Zeit stammt? l'nd wenn dem nicht so wäre, wäre es nicht einigermassen keck, der menschlichen Gesellschaft jeden Weg ausser den alteingefahrenen zu verbieten, oder zu verlangen, dass alle Völker gerade in denselben Geleisen sich bewegen sollen? In der modernen Welt wird seit der französischen Revolution ein grosser Kampf gekämpft. Zwei feindliche Prinoipien, von denen das eine Alles auf das Individuum, das andre Alles auf die Gemeinschaft zurückführt, liegen unter verschiedenen Namen und Rechtsansprüchen mit einander in einem Kriege, dessen Ausgang Niemand vorauszusehn vermag. Zu einer Zeit, wo so viel von Association und Genossenschaft gesprochen wird, wo Millionen menschlicher Wesen von Gegenseitigkeit und Solidarität träumen, wird der Gesetzgeber lange zögern, ehe er durch gewaltsame Ukase eine Form des Eigon-thums streicht, die theilweise das wirklich macht, was in andern L o r u y ■ Ii c u u I i ( u , Kcich d. Zaren u. d. Kuaaon. .'! 1 Ländern eine Utopie scheint. Die Vergangenheit hat Russland, als sie ihm den Gemeindebesitz als Erbschaft übergab, ein Experimenl zur Aufgabe gestellt, das — einmal abgewiesen — nicht ohne Umsturz von Neuem aufgenommen werden könnte. Um je Grösseres es sieh hierbei handelt, um so ernster, um so geduldiger muss das Experiment zu Ende geführt worden. Russland hat gewissennassen der Civilisation Rechenschaft über den Ausgang seines Versuchs abzulegen. Einer der grossen Vorzüge der modernen Welt ist die Mannigfaltigkeit, die Individualität der Völker. Die Staaten sind für die Civilisation Werkstätten, verschiedenartige wetteifernde Laboratorien; jede Nation ist ein Arbeiter von besonderer Anlage und eigenem Werkzeug, und der Vortheil liegt darin, dass nicht alle nach gleichem Muster arbeiten, dass sie nicht unaufhörlich einander copiren. Aber wie gross auch die Mannigfaltigkeit von politischem, religiösem, juridischem Gesiohtspunct ist, vom Gesichtspuncl des Eigenthums ist sie fast null. In der ganzen christlichen Welt sind es nur die Slaven, die in dieser Beziehung eine gewisse Originalität bewahrt haben: hier ist ein Punct, in dem sie Bedenken tragen können, voreilig Europa nachzuahmen. In beiden Welten ist es Russland allein, das nach seinen Traditionen und nach der Ausdehnung seines Gebietes im Stande ist, die beiden entgegengesetzten Formen des Grundbesitzes im Wettkampf zu erproben. Auf die Südslaven darf hierbei nicht gerechnet werden, da sie in der Civilisation zurückstehn oder schon von germanischen und romanischen Einflüssen bestimmt sind. Soll die Bodengemeinschaft ausserhalb Utopiens oder eines revolutionären Ikariens auf die Probe gestellt werden, so kann es nur in Russland geschehn, und soll die Probe Beweiskraft haben, so muss sie mindestens bis zur Befreiung der Ländereien des Mushiks fortgesetzt werden. Unterdessen ist, wie mir scheint, dieser so leidenschaftlich behandelten Frage gegenüber die Rolle der Regierung und der Gesetzgebung eine der einfachsten und bequemsten, Zwischen diesen beiden Formen des Besitzes, die von den Linen so übermässig gepriesen, von den Andern so geringschätzig behandelt werden, hat die Regierung keim; Wahl zu treffen. Sie ist in dem lärmenden Process um den Bodenbesitz nicht Richterin. Dem Lande, dem Volke liegt es ob, mit Hülfe der Zeit ein endgültiges Urtheil über die beiden Gegner zu fällen. Die Obrigkeit hat unseres Erachtens nur Neutralität zu beobachten, keinen von Beiden zu verurtheilen, keinen zu begünstigen, sie beide sich selbst und ihrem eigenen Kampfe zu überlassen. Wenn auf den russischen Ebenen der Gemeindebesitz und der persönliche Besitz nicht neben einander Baum linden können, so werden die Thatsaohen, die Sitten, die Bedürfnisse des Landes, das persönliche Interesse des Ackerbauers naturgemäss den stärkeren, nützlicheren und productiveron Rivalen den Proooss gewinnen lassen. Kann sich der Mir nicht dem Furtschritt der Landwirtschaft und den Forderungen des modernen Lebens beugen, so wird er allmälieli aus freier Uebereinstimmung der Gemeinden, ohne Einmengung von Gesetz und Staat sieh selber auflösen. Es bedarf keiner Gesetze gegen die Dorfgenossensehaften; unter der Herrschaft der bestehenden Gesetzgebung sind sie leichter zu vernichten, als wiederherzustellen. Im Kampfe, der zwischen jenen beiden entstanden ist, wird sich hierin dereinst ein wichtiger Grund für die Inferiorität der Genossenschaft gegenüber dem persönlichen Besitze zeigen. Sollte einmal, nach einem halben, nach einem Vier-teljahrhundert ein Gesetz über die Gemeindcländercicn erlassen werden müssen, dann würde dasselbe wohl eher zu Gunsten als zu Ungunsten derselben lauten; es würden die gesetzlichen Schutzmassregeln, wie sie in Frankreich in gleicher Angelegenheit getroffen sind, die Trümmer des Gemeindelandes retten sollen.1) Bis zu dieser Periode, die nach dem gegenwärtigen Verhalten des Mushiks noch sehr ferne zu sein scheint, wird es wohl das Beste sein, der Zeit und der Natur, dem Fortschritt der Schulbildung und dem freien Spiel der Interessen, mit einem Worte, der freien Concurrenz zu vertrauen, die mehr als alles Andre fähig ist, zwischen den Formen des Bodenbesitzes zu entscheiden. Auf die Gefahr hin, ebenso den Gegnern wie den Parteigängern des Mir entgegenzutreten und gewisse wirtschaftliche Vorurtheile oder Traditionen zu verletzen, bekenne ich, dass. meinem Urteil nach, hier oder nirgend das „laissez-faire, laissez-passer" unserer alten Nationlökonomen angewandt werden muss. Wenn der Collectivbesitz in der Form des Mir siegreich aus seiner jetzigen Prüfung hervorgehn sollte, würde er sich wohl auch bei Nationen einführen lassen, bei denen die Ausdehnung des Bodens und die Dichtigkeit der Bevölkerung ganz andre Verhältnisse zeigen, als in Russland? Würde er sich auf den Hoden unseres alten Europas verpflanzen lassen, wo er seit Jahrhunderten fast ganz abgeschafft ist? Hierüber machen sich auch die grössten Enthusiasten x) Die Vertheidiger des .Mir möchten schon jetzt, dass das Gesetz die Auflösung der bVIdgeiiosscnschaften weniger leicht mache; mehrere von ihnen verlangen, dass die ( '<>mniumdgüter ganz den Beeinträchtigungen des privaten ftigontluuns entzogen und als [icrpetuollc Dotation der bäuerlichen Stände für unveräusserlich erklärt werden; so z. B, Giuitri Samarin (Russ. 3, 29. N. 1880), 31* für die moskowitischc Gemeinde unter den Russen nur selten Illusionen; sehr wenige von ihnen glauben, dass ihre Lieblingsinstitutiou jemals im Westen eingeführt werden könne. Und da sie keinen andern Rettungsanker für die modernen Nationen linden können, beklagen viele von ihnen, dass wir einem durchaus mangelhaften Besitzmodus verfallen sind, der früher oder später den Untergang unserer blühendsten Staaten zu Wege bringen müsse. Wo, wie in Frankreich, unter der Herrschaft des persönlichen Besitzes die Tendenz sich zeigt, dass der grösste Theil des Bodens in das unmittelbare Eigenthum der Bebauer übergehe, da wird die Versuchung innner nur gering sein, Institutionen einer früheren Zeil oder eines anderen Landes zu entlehnen, um eine Umwälzung einzuführen, die sich ohnedies vollzieht. Wenn je ein civilisirtes Volk unter der einen oder der andern Form seine Zuflucht zu dem, was man ..Nationalisirung des Bodens" nennt, nehmen sollte, so könnte das eher ein Staat, wie England sein, in dem die Bevölkerung dicht gedrängt, der Boden beschränkt und der Grundbesitz in wenige Hände eoncentrirt ist. In einem Lande, wie Frankreich, würde auch die Demokratie wenig bei einer solchen Revolution, so gross sie scheine, gewinnen. Der Triumph des Collectivismus im Grundbesitz wäre in Wirklichkeit keineswegs ein Triumph des Communismus, noch selbst, ein Triumph der I lleichheit der Lebensbedingungen, denn wenn die Feldgenossenschaften in Hussland oder anderswo lebensfähig sind, so kann dies nur dadurch stattlinden, dass sie sich der persönlichen Freiheit und somit einer gewissen Ungleichheit fügen. Zu glauben, wie viele Russen es thun, hier liege eine vollständige und rationelle Lösung des sogenannten socialen Problems, wäre ein (dienbarer Irrthum. Vielleicht wäre das eine Lösung für ein primitives, noch ganz bäuerliches und ackerbautreibendes Land, wie Hussland es lange gewesen ist. Bei den modernen Völkern, bei der Arbeitsteilung zwischen Landbau und Gewerbe, zwischen Land und Stadt stünde die Sache aber anders. Welch ein Landantheil sollte den Millionen Bewohnern unserer Hauptstädte zugetheilt werden? Wo den Grund und Boden zur Vertheilung an unsere in den Städten zusammengedrängten Familien hernehmen? Dank der Industrie und dem Handel, Dank auch der Entwicklung des Wohlstands werden die Städte immer mehr einen beträchtlichen Theil der Bevölkerung in ihre Mauern ziehen. Das Hauptübel, an dem Westeuropa, das fast einzige Uebel, an dem Frankreich leidet, das ist ein städtisches Ar-beiterproletariat, und das Heilmittel, das gewisse Russen uns wie eine Art socialer Panacee bieten, ist nur ein bäuerliches Recept, das im besten Falle nur für das flache Land zu verwenden wäre. Kann der Collectivbesitz in Kussland selbst jemals die hohen Ziele erreichen, die mehr als ein Patriot für ihn erträumt? ist es möglich, dass in dem alten slavischen Reiche, das durch seine geographische und historische Isolirung von jeder Ansteckung aus dem Westen geschützt ist, der moskowitische Mir zum Fundament einer neuen, eigenartigen, den Mängeln einer classischen Civilisation unzugänglichen Cultur werde, die sich rein von den Flecken der Lohn-frage, des Proletariats und des'Pauperismus erhalten könnte? Nach der Meinung einiger Russen hätte Russland nur seiner Landgemeinde treu zu bleiben, um einer ebenso glänzenden, ebenso blühenden, aber zugleich harmonischeren und gesunderen Gesellschaft, als die des Westens ist, das Leben zu geben, einer Gesellschaft ohne jeden Classenkampf, ohne alle die krankhaften Lehren, die — wenn man jenen glauben wollte — die Nationen Europas mit einer frühzeitigen Zersetzung bedrohen.J) Welchen Werth hat ein solcher Anspruch, mit Hülfe eines andern Agrarsystems eine neue Civilisation zu gründen, die der Schaden unserer westlichen Gesellschaft ledig ist? Im Grunde läuft diese ganze Behandlung auf die Frage hinaus: kann es eine hohe Civilisation, eine hohe Cultur ohne grosse Industrie, ohne grossen Handel, ohne grosse Städte geben? Kann es in der Zukunft, in Hussland oder anderswo, eine blühende und allezeit fortschreitende Gesellschaft geben, wo, wie im heutigen Hussland. das .städtische Element fortdauernd in verhältnissmässiger Bedeutungslosigkeit und Unterordnung bleibt? Wenn es möglich ist, mit Hülfe des Collectivbesitzes und des Mir eine neue Gesellschaft auf breiterer und festerer Grundlage, als die unsere sie hat, aufzurichten, so kann diese tieseilst halt thatsächlich nur eine ausschliesslich ackerbautreibende und wesentlich bäuerliche sein.2) Die sociale Panacee der Slavophilen und ihrer Nacheiferet- hat, wiederholen wir, nur für Dorfbewohner Werth; ist sie denn aber auch für diese und für das Land selbst ein sicheres Heilmittel, ein untrügliches Specilioum? Wie lässt sich übersehen, dass der auf dem ') Diese Ansichten, die gleichzeitig von den Slavophilen und von den Demokraten, wie Herzen, ausgesprochen werden, sind mit viel Glanz und Erfolg von dem Fürsten Wassiltschikow in seinem grossen Werk über den Grundbesitz entwickelt worden. (Landbesitz und Landwirthsehalt.) •) S. Revue d. Mondes, 1. Mz. l. die Studie des Verfassers: „Le Socia-lisme agraire et le regime de la proprio eu Lurope." (lachen Lande in Hussland übliche Modus des Hesitzes, breite und weite Ebenen zur Voraussetzung hat? Um jedem Bewohner, jedem mündigen Ehepaar eine Art Hecht auf den Boden zuzuerkennen, muss man vor Allein Land und freies Hand haben. Die russischen Gemeinden wenigstens die gut mit Land versehenen, — haben Reserven, die sie für neue Antheilsberechtigte zurückstellen. Das ist in Wirklichkeit das einzige Mittel, um alle Rechtsinhaber je nach ihrer Leistung in der Arbeit zufrieden zu stellen, aber ein derartiges System fordert Lücken in der Bevölkerung oder Vacanzen in den bebauten Ländereien. Ein unbearbeitetes Land macht es leicht, zum Mahle des Grundbesitzes neue Ankömmlinge zu laden, aber früh oder spät wird es schwer werden, den Kommenden Plätze anzuweisen, ohne die früheren Theilnehmer zu beschränken. Wenn die Zahl der Gäste stetig wächst, die Tafel aber nieht verlängert wird, müssen sich da nicht endlich alle beengt fühlen, wird nicht jeder auf eine schmale und ungenügende Portion angewiesen sein? Bei Beschränkung der verfügbaren Ländereien und Kürzung jedes Familienantheils bewirkt jede Zunahme der Bevölkerung nur die Erschwerung der Theilungen und die Verschlimmerung des ZustandeS der Theilenden. Das wird vielleicht dereinst den Collectivbesitz des Mushiks am meisten bedrohen. Eine erwiesene und leicht erklärliche Thatsache ist, dass die Einrichtung des Mir auf das Wachsthum der Bevölkerung ebenso wie auf die Eheschliessungen einwirkt, da jede Familie auf ein um so grösseres Landstück Recht hat, je mehr Arbeitskräfte sie zählt. Nimmt man das Wort Proletarier in seinem etymologischen Sinne, als Erzeuger von Nachkommen, so führt nichts so sehr zum Proletariat, als eine Form des Grundbesitzes, welche auf kopfreiche Familien eine Prämie setzt. Auch dadurch, dass das System der Feldgenossenschaft den Eltern einen Theil der Sorgen, welche der Kindersegen naturgemäss mit sich bringt, abnimmt, kann es mittelbar das Proletariat im ökonomischen Sinne des Worts gross-ziehn, denn bei beschränkter Hudenfläche droht dieses System zu einer Mehrung der Menschenzitler zu führen, die rascher steigt als die Mehrung der Existenzmittel und der Wohlhäbigkeit. l) In diesem Puncte steht der Collectivbesitz dem persönlichen Erbbesitz schnurstracks entgegen. In beiden bringt dasselbe Motiv, das persönliche 1) Diese Bemerkung, die ülmgcjis ihre volle Richtigkeit nur hätte, wenn die Familie ausser dem territorialen Rositz weder Arbcitsgcralhe uoeli Kapital hesüsse, ist zum Beispiel von Stuard Mill, einem Gegner des Gemeindebesitzes mit Theilung, gemacht. Interesse, entgegengesetzte Wirkungen hervor. Der persönliche Besitz wirkt — wenigstens bei der Sitte der gleichen Theilung — dahin, in jeder Familie die Zahl der Kinder kleiner werden zu lassen, welche das väterliche Gut theilen sollen. In unsern Augen wäre das vielleicht der ernsteste Vorwurf, den man ihm machen könnte. Unter der Frage des Besitzes entdecken wir das Problem der Bevölkerung. ') In dieser Beziehung üben die beiden Besitzformen unerwartete und fast gleich ungewöhnliche Wirkungen in entgegengesetztem Sinne aus. Vor noch kaum hundert Jahren schrieb Arthur Young, dass bei unserem Modus des Grundbesitzes Frankreich bald nur noch ein Kaninchengehege sein werde. Die Thatsachen haben gezeigt, wie unbegründet diese Furcht vor allzu grosser Vermehrung waren. Unser Agrarsystem zieht nicht nur dem Wachsthum der Bevölkerung Grenzen, sondern strebt auch dahin, der Zerstückelung des Bodens, die sie bis ins Unendliche zu führen beschuldigt wurde, Schranken zu setzen- Ganz anders ist es mit dem collectiven Grundbesitz; indem derselbe die Vermehrung der Bevölkerung anspornt, beschränkt er unausgesetzt den Antheil an dem den Einzelnen zu vergebenden Boden; er zerschneidet und zerbröckelt die Ländereien immer mehr, so dass er sich auf die Dauer selbst unmöglich oder illusorisch zu machen droht. Wie schwach dort auch selbst in den bevölkertsten Gouvernements die Dichtigkeit der Bevölkerung scheine, so macht sich doch schon in vielen Gegenden Russlands die Wirkung dieses Naturgesetzes fühlbar. In einer grossen Anzahl von Gemeinden sind die Bauern schon beengt, die dem Mushik bei der Freigebung zugesprochenen Antheile sind schon beträchtlich gekürzt und .werden bei jeder Theilung immer winziger; das Uebel wird mit den Jahren und mit der Zunahme der Bevölkerung immer drückender. Die Feldgenossenschaften — freilich grösstenteils durch die Fehler ihres Betriebes -verkommen auf Aeckern, die im Westen einer doppelten oder dreifachen Bewohnerzahl genügen würden. Wenn das schon weniger als 25 Jahr nach der Freigebung und der territorialen Belehnung ]) Bekanntlich hat man hierin nicht ohne Grund eine der Grsaehen für den fast stationären ISevölkerungsstand in Frankreich gesehen. Dieselbe Erscheinung ist auch in andern Ländern unter gleichen Verhältnissen beobachtet worden. So hat K. de Laveleve in Belgien bemerkt,' dass die beiden Provinzen des Königreichs, in denen der Grundbesitz am meisten gelbeilt ist, Gst- und Westflandern, die am wenigsten rasche Volkszunahme aufweisen. Die Schweiz könnte zu Wahrnehmungen derselben Art Anlass geben. der Fall ist, was wird nach einem, was nach zwei uder drei Jahrhunderten sein? J) In einem Reiche, wie Hussland, wu es diesseit und jenseit des Ural hunderte von Millionen unbesetzter Hektaren giebt, wo ausgedehnte Einöden vergeblich auf Ansiedler harren, dürfte man — so rufen die Vertheidiger des Mir, — um Mangel an Land nichl bangen. In einem solchen Staat ist es leicht, die Harum der Natur oder der Gesellschaft auszugleichen, leicht das Problem zu lösen, das für die alten Staaten des Westens unlösbar ist, das Problem von der gerechten Vertheilung des Hodens und des Heichthums. In Hussland sind Raum und 1 Hilfsquellen genug vorhanden, um soviel wie möglich die socialen Ungleichheiten verschwinden zu machen, um das Proletarial zu beseitigen, ohne die Rechte des Figenthums der Personen, der Gemeinde oder der Krone anzutasten. Man hat nur die Auswanderung oder vielmehr die Colonisation im Innern zu regeln, man hat nur den lausenden von Hauern, die in jedem Sommer in Haufen ihre Heimathgemeinde verlassen, um freies Land zu suchen und oft nur falschen Gerüchten oder betrügerischen Kniissären folgen, eine Leitung zu geben und Wohnstätten anzuweisen-). Hussland gleicht einer seiner reichsten mit vielem Land versehenen Gemeinden, die für die neuen Generationen weite Ländereien ') Die Verlegenheit ist bereits so weit gestiegen, dass sie sich auch in der Bewegung der Bevölkerung fühlbar macht, tan eminenter Statistiker, Semenow, bat eine der interessantesten Beobachtungen gemacht. In den 8 Gouvernements der centralen Ackerzone stand die Vermehrung der Bevölkerung durch den t'eberschuss der Geburten in direetein Verhältnies ZU der Ausdehnung der dem Bauer zugefallenen Ländereien. Wo die Bauern weniger als 1 Dess. pro Seele hatten, betrug die Zunahme Hi%> bei 1—2 Dess. 17,.'?, bei 2 .'5 Dess. 1<>, bei .'1 bis 4 Dess. 21, bei 1 bis 5 Dess. 25,4, bei o bis (5 Dess. 27,(>, über