Dean Komel Zur Erfahrung der Kunst (Ein Versuch) Für die Philosophie ist es heute allerdings keine leichte Aufgabe, über das Kunstwerk bzw. über die wesentliche Anwesenheit der Kunst zu sprechen. Es stellt sich dabei die Frage, ob und inwieweit das überhaupt möglich ist. Es gilt - sowohl seitens der Kunst als auch seitens der Philosophie - diese Möglichkeit selbst als mögliche hinterzufragen. Die Schwierigkeit der Frage liegt nicht nur darin, dass die zeitgenössische Ästhetik und Kunsttheorie im Grunde durch das Bemühen um eine Abgrenzung von überlieferten philosophischen Auffassungen der Kunst gekennzeichnet sind. Über die Angemessenheit und Reichweite solcher Abgrenzungen liesse sich über kurz und lang diskutieren. Das Gewicht der Frage steckt vielmehr im gegenwärtigen Prozess der künstlerischen Produktion und der dadurch bedingten Anwesenheit von Kunstwerken. Kurz: Kunstwerke werden heute prozessiert, um auf die Art und Weise der Produkte produziert und konsumiert zu werden. Das künstlerische Schaffen ist etwas geworden, was strenggenommen weniger als Produktion ist, und das Kunstwerk ist dazu etwas geworden, was weniger als Produkt ist. Es stimmt zwar, dass für die Kunst seit eh und je nicht gewusst wurde, ob sie unterhalb der Realität zu rangieren wäre oder doch über diese erhaben ist, ob der künstlerische Schein eine blosse Verschönerung der Realität ist oder eine höhere - um nicht zu sagen göttliche - Wirklichkeit darstellt. Aber das waren Zeiten, als die Schönheit noch als eine natürliche Art der Anwesenheit des Kunstwerkes betrachtet und die Kunst selbst an der Nachahmung der Natur gemessen wurde. Die Kunst hatte sich insbesondere bei den alten Griechen in ihrer Identität mit der Natur bzw. physis ausgewiesen und bewiesen, woran sich 9 10 ursprünglich poiesis - Herstellen, Hervorbringen - anknüpft. Das sind richtige und zugleich falsche Übersetzungen für „poiesis" - das Herstellen und Hervorbringen werden nämlich heute fast ausschliesslich mit vielfältigen Weisen der Produktion der Natur und nicht mit der Natur selbst in Verbindung gebracht, wie das im Falle der griechischen physis galt. Es ist nicht etwas, was als Natur hervorgeht und aufkommt, sondern das, was mit der in das Produktionsmaterial umgewandelten Natur getan wird. In diesem Sinne wird die Natur auch der Kunst genommen bzw. von ihr ausgenommen. Dieses Ausnehmen der Natur von der Kunst bietet sich als das wichtigste und zudem auch als ein immer mehr ausschliessender Massstab der „schöpferischen Produktion" an. Die Kunst, mag sie in uns noch so viel „Bewunderung", „Faszinierung", „Genuss", ja, vor allem verzehrenden Genuss erwecken, wird somit nicht mehr als etwas massgebend Wesentliches betrachtet, als etwas, wodurch uns zu sein gegeben ist, sondern als etwas, was bis zu seiner Wesenlosigkeit ausgestellt, installiert wird, als eine durch uns und für unsere Bedürfnisse herausgeforderte und nicht von der Kunst herrührende Zurschaustellung. Auch da, wo sich die Kunst durch bewusste Rückkehr und Hinwendung zur Ursprünglichkeit ihrer Zurschaustellung und Beraubung ihres Wesens widersetzt, rutscht die Rede von der Kunst gewissermassen automatisch in die Sphäre eines „kritischen gesellschaftlichen Wirkens", einer „Kulturrolle", eines „Kommunikationswertes", des „Symbolhaften", „Metaästhetischen" usw. hinein. Philosophisch betrachtet, bleibt die Kunst darin in ihrer wesentlichen Anwesenheit und ihrem Grundursprung nicht anerkannt. Das alles wirft die Frage auf, wie es mit der Erfahrung der Kunst steht, wenn darauf Bedacht genommen wird, dass die Kunst selbst schon eine Erfahrung oder vielmehr die grundlegende Erfahrung ist, was durch das slowenische Wort „umetnost", oder das deutsche „Kunst" und das russische „iskustvo" sowie freilich durch das lateinische Wort „ars" und das griechische „techneu angedeutet wird. Wenn aber heute versucht wird, die Erfahrung der Kunst zu erfahren, dann gibt es fast nichts zu sagen. Es fallen uns dabei zunächst die Bezeichnungen „Abstraktion", „Konkretismus", „ready made", „Konzeptualismus" usw. ein. Und dieses „Und-so-weiter" ist in der Tat die einzige Bezeichnung, die für alle diese restlichen übrig bleibt. Es scheint hier von Bedeutung folgendes hervorzuheben: heute vermag weder die Kunst noch die Philosophie die Anforderung nach der Echtheit der Erfahrung zu erfüllen. Diese ist sowohl mit der Wirklichkeit der Erfahrung als auch mit der Erfahrung der Wahrheit verbunden - in der Kunst des 20. Jahrhunderts gibt es Werke, welche die Wirklichkeit der Erfahrung durch die Erfahrung der Wahrheit ausweisen, sowie Werke, welche die Erfahrung der Wahrheit durch die Unwirklichkeit der Erfahrung beweisen. Bereits in den ältesten Überlegungen zur Kunst, etwa bei Hesiod, ist die Rede davon, dass die Kunst eine Lüge sei und dass sie nur hie und da auch die Wahrheit sage. Auch die Hegelschen Überlegungen zur Kunst innerhalb der Philosophie finden ihren Gipfelpunkt im Gedanken, dass die Kunst für uns nicht länger als Repräsentantin der Wahrheit gelten könne. Aber auch diese schon mehrmals erörterte, jedoch in ihrer wesentlichen Erfahrung jedoch noch nicht genügend bedachte Überlegungen vermögen die gegenwärtige, von der Kunst mit für Philosophie geteilte Problematik einer echten Erfahrung nicht zu erfassen. Es kann dabei wohl nicht übersehen werden, dass die philosophische Reflexion über die Kunst seit Baumgarten eine philosophische Teildisziplin ist, die den Namen Ästhetik trägt und auf eine Anwesenheit der Erfahrung, nämlich auf aisthesis,. sinnliche Wahrnehmung hinweist. Durch die letztere sei die Echtheit im Sinne eines unmittelbaren Auffassens geprägt. Es ist aber offensichtlich, dass die Kunst mit dem Bezug auf das Schaffen und Rezeption nur teilweise zu dieser Sphäre des Unmittelbaren gehört. Die Kunst stellt dar „als ob ...", d.h. sie vermittelt das Unmittelbare wie einen Schein. Roman Ingarden spricht in diesem Zusammenhang von der „Quasirealität" und der slowenische Phänomenologe France Veber von der „irrealen Gestalt". Die Kunst wird als Schein der Realität erlebt und darin liegt auch die Voraussetzung dafür, dass sie überhaupt erlebt werden kann. Dieses Erleben soll unmittelbar und als solches eine „Sache des Geschmacks" sein, aber an sich ist es schon dadurch vermittelt, was einem als ein „Als ob" erscheint. Dieses „Als-ob"-Erscheinen ist das innere Korrelat des Scheins. Die Korrelation von Erscheinen und Schein ist Indikator der Echtheit der ästhetischen Erfahrung, die aber mit Bezug auf die unmittelbare Erfahrung der Wahrnehmung schon immer eine vermittelte ist. Die Folge ist, dass sich das Kunstwerk in Hinsicht auf seine wesentliche Anwesenheit entzieht uns selbst unecht wird - ihre Erfahrung ist „bloss" eine Sache des Geschmacks. Dieser Entzug hängt vor allem mit der Qualität der Schönheit des Kunstwerks zusammen, die nach der oben erwähnten ästhetischen Korrelation von Erscheinen und Schein als Verbindung der beiden begriffen wird, und nicht als das, was das Kunstwerk selbst fügt, wie die Herrlichkeit in der altgriechischen Kunst gedeutet wurde. Solange die Kunst feierte, wurden keine Fragen nach ihrem Bestehen gestellt. Als sie zu feiern aufhörte und nur noch zu bestehen begann, wurde künstlerische Erfahrung mit Gefühlen und Gegenständen in Verbindung gebracht. Unterschiedlichen Formen von Empfindung, Erlebnis, Kontemplati- 11 on, Abbildung, Typisierung, Bekenntnis, die in die ästhetische Funktion der Gestaltung von Schönheit durch das Verbinden von Erscheinen und Schein Eingang finden, wird heute allerdings eine echte künstlerische Erfahrung und ein echtes Bestreben zu einer solchen Erfahrung aberkannt. Aber diese Destruktion erstreckt sich bis hin zum Verzicht auf das Künstlerische. Ist das eine besondere echte Erfahrung der Unechtheit oder als solches auch selbst unecht? Ist das nur ein Nervenreiz, wie es bereits von Nietzsche wohl als erstem und verbindlich festgestellt wurde?1 Nicht nur die Kunst, sondern jedes Handeln verläuft heute „über die Nerven". Es ist im Grunde oder eben in seiner Grundlosigkeit hinsichtlich der Erreichung der Echtheit nervös. Man erlebt nicht, man geniesst nicht, sondern lebt sich tatsächlich aus. Worüber? Über die Möglichkeit einer echten Erfahrung, über die Möglichkeit einer echten Wirklichkeit. Das Aus-leben bedeutet also hier Geworfenheit aus dem Leben mit dem Ziel, diesem möglichst viel und immer mehr zu entlocken. Der erste Indikator dieses Zustandes ist eine 12 allgegenwärtige Ästhetisierung von Lebensformen, die am intensivsten von der Medienindustrie diktiert wird. Wenn oben die neuzeitige Umwandlung des Ästhetischen erwähnt worden ist, die in seinem erkenntnistheoretischen Verstehen und zugleich auch im nicht aufgeklärten ontologischen Erfassen des Kunstwerkes entworfen wird, dann zeigt sich nun, im „postmodernen Zustand", eine weitere und wohl vollendete Umwandlung des Ästhetischen. Die Welt wird somit attraktiv gemacht, um dem von Nerven gesteuerten Leben möglichst viel zu entlocken. Die Nerven werden dabei nicht in ihrer gewöhnlichen physiologischen Funktion behandelt; mit neuen sensitiven Empfängern, die sie in Form unterschiedlichster „Additive" anbieten, verändern sie vor allem die Physiologie. Es genügt schon ein Katalog der Medizinindustrie aufzuschlagen, um einzusehen, wohin wir mit unserer Physiologie gelangt sind - unsere Körperlichkeit ist in einen Bereich von Sensationen verortet, der nicht auf unseren wahrnehmbaren Bereich beschränkt ist, sondern diesen gleichsam unabhängig von unserem Willen in die Funktion der Machtgewinnung setzt. Diese Machtgewinnung wird als Virtualisierung bezeichnet - ohne dass man sich überhaupt im Klaren darüber wäre, worum es sich in der Tat handelt, denn es wirkt hier noch immer die Vorstellung des Subjekts, das die Kohärenz des Vorstellungsfeldes - als Virtualisierung - rückwirkend sicherstellen sollte. Aber das Subjekt ist virtuell schon immer projektiert; es ist eigentlich zum Projektil geworden. 1 Vgl. dazu Friedrich Nietzsche, „Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne", KSA 1, Deutscher Taschenbuch Verlag de Gruyter, Berlin/New York 1988, S. 882. Das ist zwar nirgends besser ersichtlich als da, wo versucht wird, die Echtheit durch das „etwas aus dem Leben herausgewinnen" zu erzwingen. Die Phänomenologie dieser Modi von Erzwingung der Echtheit ist selbst so faszinierend und megalomanisch, dass sie sich in keine der Kulturwissenschaften einordnen lässt, denn sie geht über jede Wissenschaft und jede Kultur hinaus und hat sich dazu auch der Möglichkeit der Kunst selbst bemächtigt. „In welchem Masse?" lautet nun die Frage, die für den Versuch einer Reflexion über die Kunst massgebend ist. Was heute als Kunst erklärt und ausgestellt werden kann, ist bereits gestimmt und in ein Netz der Verfahren hineingestellt, deren alleiniges Ziel die Erzwingung der Echtheit ist. Es ist gar keine Besonderheit, etwa Tsunami, den 11. September, Vogelgrippe, Street Rave Parade, Atom-U-Boot-Unfall, Massaker in Ruanda, Orkan Rita, Landung auf dem Mars, Kopftransplantation oder langweilige wissenschaftliche Beratungen über verschiedene Aspekte der Kunst und Philosophie, Modeschau, Fahrradmarathon, Fernsehserien und Unterhaltungssendungen oder mehr oder weniger erhebliche wissenschaftliche Entdeckungen und technologische Erfindungen, die gesamte Mobiltelefonie, Reisedestinationen sowie Klimaveränderung, Umweltverschmutzung, politische Skandale usw. zum künstlerischen Ereignis zu erklären. Es ist auch nicht ungewöhnlich, dass all das zu einem künstlerischen Ereignis umgewandelt werden kann, dass die Kunst gezwungen ist, nach ihrer eigenen Echtheit in diesen Bereichen der Erzwingung von Echtheit zu suchen, und dass die Macht dieser Erzwingung ihre Freiheit unmöglich macht. Es geht nicht um die künstlerische Freiheit, die sich ein Künstler gönnt oder nicht, sondern um das, was als Bereich der Freiheit und Befreiung vorbestimmt ist, der heute in der wesentlichen Formlosigkeit wieder die unmöglichsten Umformungen annimmt. In dieser Formlosigkeit ist die gesamte Kunst ausnahmslos für demokratisch erklärt. Ihre spezifische Freiheit versteht sie als unspezifische Freiheit des Informationsaustauschs, freien Wettbewerb, soziale Kritik, kulturelle Bereicherung, Wahrung nationaler und individueller Identität. Ihre besondere Echtheit sucht sie nachträglich in der Erzwingung der Besonderheit. Man hört so während der Aufführung eines Konzertstücks den Klang einer Motorsäge oder man wird durch die das ausgestellte Gemälde einrahmenden Blinkleuchten auf dessen Relevanz hingewiesen. Diese Erzwingung der Besonderheit erweist sich ferner auch in unglaublicher Vergewaltigung der Künstlerperson, wenn einen z.B. Mozart von Pralinen oder Kafka von T-Shirts anguckt. Die Architektur nimmt die Räume der Öffentlichkeit ein und die Filmkunst bemächtigt sich immer mehr auch der intimen Sphäre. Es 13 14 verbleiben nur noch „Strasse und Beton", auf die man sich nackt legen und das Eingreifen der Ordnungsbehörde abwarten kann. Es ist aber dabei interessant, dass die moralische Anwendung der Kunst bei dieser populären Verwendbarkeit unberührt bleibt. Die Erzwingung der Besonderheit bereichert sich ebenso durch verschiedene Formen der Entpersönlichung, durch Wahnsinn, Depression, Panik, soziale Ausgrenzung, Esoterik, Adrenalinsporte, kollektive Unterhaltungen, Abmagerungskuren. Überall gibt es schon eine klare Abgrenzung zwischen einer Männer- und einer Frauenkunst, die auch nach sozialer, ethnischer, politischer oder irgendeiner anderen Zugehörigkeit weiter unterteilt werden. Die Kunst ist zum Teil einer allgemeinen Reality-Show geworden. Sie passt sich an die Bedürfnisse von Medien-, Tourismus-, Nahrungs-, Pharma-, Textil- und anderen Industrien an. Sie kann sowohl eine wissenschaftliche, ökologische, religiöse, politische, ethische, elektronische Kunst als auch eine Atom- oder Weltraumkunst sein; die Kunst kann alles sein, was denkbar ist, nur nicht sie selbst. Was heute als Kunst geschaut, gehört und gelesen wird, spielt sich in der Nichtigkeit des Kunst-wesens und in der Zerbrochenheit des Kunst-werks ab -und es kann sich nur so abspielen. Die Kunst ist heute ein wesenloses, unsachliches Nicht-Werk und kann sich nur noch in dieser Nichtigkeit und Zerbrochenheit wesentlich darstellen. Die Kunst ist nichts mehr und kann zugleich alles sein. Mit Werten, Kriterien sowie Kunst- und Philosophiekritik aufzutreten, ist gegenstandslos, denn das Kunstwerk selbst ist gegenstandlos. Das wird von denjenigen Bestrebungen verkannt, die der Kunst ihre ehemalige Würde sowie Ruhm und Ehre wieder verleihen wollen, denn durch sie wird die Echtheit der Erfahrung in keinem geringeren Masse erzwungen als durch künstlerische Phänomene und Urphänomene. Die Verehrung der Kunst ist keinesfalls echter als deren Entehrung, wenn etwa durch die Zerstörung von Kunstwerken auf die wesentliche Nichtigkeit der Kunst „hingewiesen" wird. Es macht dabei keinen Unterschied, wenn über den Wert von Kunstwerken an den prominentesten Akademien diskutiert wird oder wenn blosse Meinungsumfragen darüber durchgeführt werden, was die Menschen für Kunst halten. So verbleiben und beharren wir bei diesem Nullpunkt einer echten Erfahrung der Kunst, ohne uns einzubilden, dass dieser Nullpunkt des Nichtigwerdens nun eine echte Erfahrung sei - und wie könnte sie überhaut eine Erfahrung sein, wenn sie weder eine Tragweite noch eine Reichweite hat? Von hier aus lassen sich Entwicklung, Werte und Spezifika in der Erscheinung der „modernen" Kunst nicht erörtern. Auch können die Künstler keine konkreten Hinweise bekommen, womit sie sich beschäftigen sollen. Es stellt sich nur die Frage nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Echtheit der Erfahrung, die aber als solche schon eine wesentliche Entscheidung verlangt. Es geht einzig und allein darum, also um eine wesentliche Entscheidung, die in der Erfahrung der Kunst heute grundlegend fehlt, so dass diese in einer Nichtunterscheid-barkeit, einem verworrenen Strom von Erzwingungen der Echtheit ohne eine wesentliche Entscheidung erfolgt. Eine echte Erfahrung kann sich nämlich nur aus einer Vorentscheidung ergeben. Da die Er-fahrung ihrem Wesen nach einer Entscheidung vorangeht, kann ihre Zeit und Dauer ohne sie überhaupt nicht zu-kommen. Die Entscheidung braucht eine in ihrer Bestimmtheit entschlossene Standnahme, so dass sie eine grundlegende Unterscheidung wagen kann, die sie selbst nicht gelegt hat, aber auf ihr liegt. Was kann die Grundlage und der Grund der Entscheidung sein, durch welche die Möglichkeit einer echten Erfahrung der Kunst heute erschlossen wird? Unterscheidung von Kunst und Technik Es geht nicht um eine Unterscheidung der Kunst von der Technik oder umgekehrt der Technik von der Kunst, sondern um die Unterscheidung von Kunst und Technik. Das bedeutet, dass Kunst und Technik durch die Unterscheidung zu dem gebracht werden, was für sie entscheidend und wesentlich bestimmend ist. Aber wer möchte in der Unterscheidung von Kunst und Technik etwas so entscheidend Wesentliches sehen und dabei irgend etwas Bestimmendes erfahren? Kaum jemand ist bereit zu gestehen, dass davon vielleicht ein ganzes Zeitalter oder sogar der „historische Sinn" abhängt. Worauf kann sich eine solche Forderung nach der Unterscheidung von Kunst und Technik sich konkreter stützen? Was könnte solche Konkretheit bedeuten? Das Konkrete ist, wie wohl bekannt, eine wichtige Kategorie in der Philosophie Hegels, die allerdings nicht zugunsten der Unterscheidung von Kunst und Technik spricht, sondern vielmehr die Konkretisierung ihres Zusammenfalls befürwortet, insofern die Kunst von ihr als vollendet betrachtet wird. Alle vollendeten Formen des Geistes - Positivismus im breitesten Sinne - werden zu Techniken der Positionierung. Die Unterscheidung von Kunst und Technik kann sich nur auf das stützen, was in seiner Konkretheit als Unkonkretes ausfällt. Dieser Ausfall und Auswurf ist - wie sich in allen künstlerischen Abstraktionsrichtungen des 20. Jahrhunderts offenbart - eben die wesentliche Anwesenheit der Kunst als Kunstlosigkeit. Wie die Kunst im Zusammenfallen mit der Technik als Unkonkretes wirkt, wird auch durch die modernen Versuche ihrer Besinnung bezeugt. Zur Her- 15 vorbringung einer Anknüpfung sollen hier zwei gleichsam gleichzeitig unternommene Versuche in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts hervorgehoben werden: die Abhandlung Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (erste Fassung 1935, zweite Fassung 1936-1939) von Walter Benjamin und der Aufsatz Der Ursprung des Kunstwerks (Vortrag 1935, Wiederholung 1936) von Martin Heidegger. Wenn Benjamin den Aspekt der „Technisierung" moderner Kunst ausdrücklich in den Vordergrund stellt, dann stösst Heidegger bei seinem Versuch der Bestimmung des Ursprungs von Kunst an den „gleichen Ursprung" der Frage nach der Technik und der Frage nach der Kunst. Auf diesen Sachverhalt wird von Heidegger anlässlich der Ausgabe dieses Textes nach dem Zweiten Weltkrieg ausdrücklich verwiesen - er weist hier auf die Überlagerungen im Gebrauch des Wortes „Gestell" in dem Aufsatz über den Ursprung des Kunstwerkes und im Aufsatz über die Technik hin: „Gemäss dem bisher Erläuterten bestimmt sich die Bedeutung des auf S. 64 gebrauchten Wortes „Ge-Stell", die Versammlung des Her-vor-bringens, l6 des Her-vor-ankommen-lassens in dem Riss als Umriss (peras). Durch das so gedachte „Ge-stell" klärt sich der griechische Sinn von morphe als Gestalt. Nun ist in der Tat das später als ausdrückliches Leitwort für das Wesen der modernen Technik gebrauchte Wort „Ge-stell" von jenen Ge-Stell her gedacht (nicht von Büchergestell und der Montage her). Jener Zusammenhang ist ein wesentlicher, weil seinsgeschichtlicher. Das Ge-Stell als Wesen der modernen Technik kommt vom griechisch erfahrenen Vorliegenlassen, logos, von der griechischen poiesis und thesis. Im Stellen des Ge-Stells d. h. jetzt im Herausfordern in die Sicherstellung von allem, spricht der Anspruch der ratio reddenda, d.h. des logos didonai, so freilich, das setzt dieser Anspruch im Gestell die Herrschaft des Unbedingten übernimmt und das Vorstellen aus den griechischen Vernehmen zum Sicher- und Fest-stellen sich versammelt." 2 Dass dieser „wesentliche Zusammenhang" für Heidegger einer entscheidenden Besinnung wert ist, zeigt auch der Abschluss seines Aufsatzes über die Frage nach der Technik: „Einstmals trug nicht nur Technik den Namen techne. Einstmals hiess techne auch jenes Entbergen, das die Wahrheit in dem Glanz des Scheinenden hervorbringt. Einstmals hiess techne auch das Hervorbringen des Wahren in das Schöne. Techne hiess auch die poiesis der schönen Künste. Am Beginn des abendländlichen Geschickes stiegen in Griechenland die Künste in die höchste Höhe des ihnen gewährten Entbergens. Sie brachten die Gegenwart der Götter, brachten die Zwiesprache des göttlichen und mensch- 2 Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks, Reclam, Stuttgart 1960, S. 89-90. liehen Geschickes zum Leuchten. Und die Kunst heisst nur techne. Sie war ein einziges, vielfältiges Entbergen. Sie war fromm, promos, d.h. fügsam dem Walten und Verwahren der Wahrheit."3 Die entscheidende Besinnung der griechischen techne soll eine wesentliche Unterscheidung von Kunst und Technik in unserer Zeit herbeirufen. Sie ist mit der Möglichkeit einer echten Erfahrung grundlegend verbunden, die von der Technik der Kunst weggenommen wird und die von der Kunst noch gegeben werden kann: „Weil das Wesen der Technik nichts Technisches ist, darum muss die wesentliche Besinnung auf die Technik und die entscheidende Auseinandersetzung mit ihr in einem Bereich geschehen, der einerseits mit dem Wesen der Technik verwandt und andererseits von ihm doch grundverschieden ist. Also fragend bezeugen wir den Notstand, dass wir das Wesende der Technik vor lauter Technik noch nicht erfahren, dass wir das Wesende der Kunst vor lauter Ästhetik nicht mehr bewahren. Je fragender wir jedoch das Wesen der Technik bedenken, um so geheimnisvoller wird das Wesen der Kunst. "4 Auf die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen Kunst und Technik verweist Heidegger wohl am konzisesten in seinem in Athen abgehaltenen Vortrag „Die Herkunft der Kunst und die Bestimmung des Denkens": „Die Kunst ist techne, aber keine Technik. Der Künstler ist technites, aber weder Techniker noch Handwerker."5 Heidegger geht offenbar von der „Einheit" des Ursprungs von Kunst und Technik aus, wie dieser in griechischer techne seinen Ausdruck findet, und hebt dabei hervor, dass die Herkunft der Kunst trotz ihres gleichen Ursprungs mit der Technik dennoch anders und eine andere ist. Ja, die Herkunft der Kunst verlangt eine klare Unterscheidung von Kunst und Technik. Das Paradox von Ursprung und Herkunft der Kunst und ihrem gleichen Ursprung mit der Technik ist mehr als offensichtlich. Am ursprünglichen Aufgang der Kunst brauchten die Griechen keine Unterscheidung von Kunst und Technik, dagegen ist aber in der gegenwärtigen Zeit, die durch das Ende der Kunst wesentlich gekennzeichnet sei, eine klare Unterscheidung beider erforderlich, um dadurch eine massgebende Erfahrung der Herkunft der Kunst erschliessen zu können. Das Paradox ist dadurch noch nicht beseitigt. Wie es für die Griechen selbstverständlich war, keine besondere Unterscheidung zwischen Kunst und Technik zu treffen, obwohl der Unterschied zwi- 3 Martin Heidegger, „Die Frage nach der Technik", in: Vorträge und Aufsätze, Neske, Pfullingen 1990, S. 38. 4 Ibid., S. 39 f. 5 Martin Heidegger, „Die Herkunft der Kunst und die Bestimmung des Denkens", in: Distanz und Nähe. Reflexionen und Analysen zur Kunst der Gegenwart, hg. von Petra Jaeger und Rudolf Lüthe, K&N, Würzburg 1983, S. 33. 17 schen beiden ihnen klar war, so ist für uns die Unterscheidung zwischen Kunst und Technik etwas Selbstverständliches, wobei wir uns des Unterschieds selbst nicht innegeworden sind. Wir stehen nicht in der Lichtung dieses Unterschieds, die für die Griechen so einfach war. Nur das Einlassen in die Lichtung der Unterscheidung vermag uns eine echte Erfahrung der Kunst aus ihrer Herkunft heraus anzunähern, die im gleichen Ursprung von Kunst und Technik verborgen bleibt. Die Lichtung der Unterscheidung schenkt uns das, was in der Entbergung der Technik als Kunst verborgen bleibt: Kunst als Geheimnis. Auf diesen Zustand wird später nochmals eingegangen. Nun wäre es wohl nicht fehl am Platze, in Anlehnung an die oben bezeichnete Abhandlung von Benjamin einen Umriss des modernen Aspekts der Verflechtung von Kunst und Technik zu geben. Den Ausgangspunkt der Abhandlung von Benjamin bildet das oben erörterte Problem der Echtheit des Kunstwerks, die sich angesichts der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks seiner Meinung nach in einem ganz neuen Licht sich zeigt bzw. dem Kunstwerk das Licht wegnimmt. 18 Benjamin beschreibt das als Aura: „Die Umstände, in die das Produkt der technischen Reproduktion des Kunstwerks gebracht werden kann, mögen im übrigen den Bestand des Kunstwerks unangetastet lassen - sie entwerten auf alle Fälle sein Hier und Jetzt. Wenn das auch keineswegs vom Kunstwerk allein gilt, sondern entsprechend z. B. von einer Landschaft, die im Film am Beschauer vorbeizieht, so wird durch diesen Vorgang am Gegenstande der Kunst ein empfindlichster Kern berührt, den so verletzbar kein natürlicher hat. Das ist seine Echtheit. Die Echtheit einer Sache ist der Inbegriff alles von Ursprung her an ihr Tradierbaren, von ihrer materiellen Dauer bis zu ihrer geschichtlichen Zeugenschaft. Da die letztere auf der ersteren fundiert ist, so gerät in der Produktion, wo die erstere sich dem Menschen entzogen hat, auch die letztere: die geschichtliche Zeugenschaft der Sache ins Wanken. Freilich nur diese; was aber dergestalt ins Wanken gerät, das ist die Autorität der Sache. Man kann, was hier ausfällt, im Begriff der Aura zusammenfassen und sagen: was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verkümmert, das ist seine Aura. Der Vorgang ist symptomatisch; seine Bedeutung weist über den Bereich der Kunst hinaus. Die Reproduktionstechnik, so liesse sich allgemein formulieren, löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab. Indem sie die Reproduktion vervielfältigt, setzt sie an die Stelle seines einmaligen Vorkommens sein massenweises."6 6 Walter Benjamin, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit", Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1977, S. 13. Benjamin fasst sein Verständnis der Echtheit des Kunstwerks mit folgenden Worten zusammen: „Die Einzigkeit des Kunstwerks ist identisch mit seinem Eingebettetsein in den Zusammenhang der Tradition."7 Durch die technische Reproduzierbarkeit, wie sie vor allem durch Photographie und Film gekennzeichnet wird, tritt insbesondere der Ausstellungswert des Kunstwerks hervor, der das Kunstwerk für das Politische erschliesst, wo Benjamin die „Politisierung der Kunst" der faschistischen „Ästhetisierung der Politik" entgegenstellt. Sowohl Benjamin als auch sein Gegner Marinetti betrachten die (auf die Reproduktion beschränkte) Wirkung der Technik als positive „Befreiung" und denken gar nicht an eine Unterscheidung von Kunst und Technik. Benjamin bindet nämlich die Möglichkeit der echten künstlerischen Erfahrung an die technologische Wirklichkeit der Befreiung von der „Aura" und „Tradition". Beide Auffassungen sind bei Benjamin gleichermassen verweisend und irreführend: Verweisend, insofern sie auf das Problem der Echtheit des Kunstwerks hinweisen, die durch die technische Reproduktion aufgehoben wird, und irreführend, insofern sie gemäss der Möglichkeit der Aufhebung, also im Grunde technisch behandelt werden - wobei die Thematisierung des „Technischen" nebensächlich ist und ihre Wirkung nicht als solche behandelt wird, sondern als begrenzt, mit Bezug auf die Möglichkeit der „Reproduktion', der Vervielfältigung, die für die „Massen" bestimmt ist. Da auch die Kunst nicht nur hinsichtlich der Vervielfältigung von Kunstwerken, sondern auch grundlegend als produktiv verstanden wird, sind ihr mimetischer Charakter und ihre echte Sprache verborgen. Warum kommt es also mit der Angeberei der Technik dazu, dass die Kunst ihre Sprache nicht nur ändert, sondern sogar verliert? Liegt der Grund darin, dass die Technik selbst nicht spricht? Und was bedeutet „nicht sprechen'? Wie betrifft diese Nicht-Sprechbarkeit die Unterscheidung von Kunst und Technik? Diese Frage steckt weder in der wesenlosen Macht der Technik noch in der wesentlichen Ohnmacht der Kunst, sondern ist zuerst und vor allem das eigentliche Eigentum der Sprache selbst. Wie ist nun der Unterscheidung von Kunst und Technik der Weg aus der wesentlichen Eigentlichkeit der Sprache einzuebnen, wenn ihr eigenes Wesen eben die verlorengegangene aurische Eigenschaft der Kunst bildet? Heideggers Aufsatz über den Ursprung des Kunstwerks wird eben durch die ausdrückliche Umkehrung zur Sprache abgeschlossen. Heidegger hebt dabei hervor, dass die Sprache nicht deshalb Dichtung ist, weil sie Urpoesie ist, sondern die Poesie ereignet sich in der Sprache, weil diese „das ursprüngliche 7 Ibid., S. 16. 19 Wesen der Dichtung"8 verwahrt. Auch alle übrigen Kunstgattungen geschehen immer im „schon Offenen der Sage und des Sagens". „Sie sind ein je eigenes Dichten innerhalb der Lichtung des Seienden, die schon und ganz unbeachtet in der Sprache geschehen ist."9 Die Kunst als Erfahrung ist also erst durch die Sprache möglich. Heidegger macht auf dem Weg zum Ursprung der Kunst in der Poesie und aller Dichtung in der Sprache mehrere Schritte, auf die wir hier nicht näher eingehen können. Darunter ist wohl der wichtigste derjenige, durch den die Wahrheitsfrage erneut und breiter thematisiert wird, und zwar mit Bezug darauf, was in dieser Hinsicht in Sein und Zeit erreicht wurde, wobei dem Sichverbergen gegenüber dem Sichentbergen der Wahrheit eine besondere Bedeutung zukommt und zugleich auch die Weltmässigkeit ihren Kontrapunkt im Irdischen erhält. Die klassischen Kategorien der „Form" und „Materie" sind somit, wenn es sich um die Erörterung der wesentlichen Anwesenheit des Kunstwerks handelt, überwunden. Das Kunstwerk übergibt sich uns als ein ereignishaftes Zwischen der die Welt eröffnenden und zugleich die Erde schlies-20 senden Bewegung der Wahrheit, dem Setzen der Wahrheit in das Werk. Die Echtheit des Kunstwerks wird somit von Heidegger als ursprüngliches Dichten, als Stiften erfasst. Hier wird nochmals der gleiche Ursprung der Frage nach der Technik und der Frage nach der Kunst mit Bezug auf die Stiftung der Welt im Setzen auf die Erde, d.h. mit Bezug auf Wohnen angedeutet. Dieser gleiche Ursprung ist archi-tektonisch, indem er von dem, worauf er gegründet wird, zu dem, was gegründet wird, übergeht. Das ist die Architektonik des Grundes und der Bewegung des westlichen Geistes, die sich einerseits in der Stiftung der Kunst zeigt, anderseits aber in der Setzung der Wissenschaft/Technik, die sich heute als Diktatur der Produktion auch das künstlerische Schaffen unterwirft. Darin lassen sich Kultur und Technik nicht ursprünglich unterscheiden, es ist aber vielmehr möglich und notwendig, die Herkunft der Kunst zu unterscheiden, insofern sie den Weg zur Sprache verbirgt. Dieser Weg kann aber nur dann echt erfahren werden, wenn die Sprache als Beweggrund der Erfahrung und dessen Bewegung angenommen wird. Aus dem Sagen der Sprache fliesst der Fluss der Erfahrung hervor. Die Sprache bewegt jede mögliche Erfahrung. Die Sprache ist die tragende Erfahrung der Kunst. Das Kunstwerk könnte keine Wahrheit tragen, wenn diese nicht durch die Sprache in das Kunstwerk eingetragen worden wäre. Dadurch wird auch die „künstlerische Form" bestimmt, die nichts Formales ist, sondern der tragende Austrag von poiesis. Die Griechen verstanden diesen grundlegenden Ursprung, dem die Kunst ent- 8 Ibid., S. 74. 9 Ibid., S. 76. springt, aus dem Musischen der Musen, der Töchter der Mnemosyne. Dem musischen Charakter der Kunst entsprechend sammelt sich die echte Kunsterfahrung in Nachahmung, mimesis, an, die eine ursprüngliche Bewegung (rhythmos) der Sprache ist. Vor diesem Hintergrund zeigt sich die Technik als Überflüssigkeit der Nachahmung. Die Technik bewegt sich strenggenommen nicht, sondern sie treibt und betreibt. Sie ist ein Betrieb, dessen Trieb das Dasein dadurch treibt, dass die Ruhe, auf der die Welt beruht, von der Erde vertrieben wird. Das Irdische wird im Treiben der Technik als selbstkreisende nicht einfangbare Grundlosigkeit abgelöst, als Schildkröte des Achilles, wenn diese als ein altes Sinnbild des Irdischen verstanden wird. Das Treiben der Technik geht in der Tat nirgendwohin, obwohl es überall zum Fortschritt treibt. Unter der Dominanz der Uniformität kommt die Entweltlichung auf, der sich der Mensch mit allen nur denkbaren Reformierungen von Produktionsverhältnissen nicht zur Wehr setzen kann. Die Fertigkeit der Welt, in der alles gesichert ist, löst eine panische Ungewissheit aus. Heidegger war sich dessen bewusst, dass der Verlust der Kunst im Treiben des Betriebs der Technik unüberwindbar und unaufhebbar ist. In seiner Abhandlung Beiträge zur Philosophie spricht er von der Kunstlosigkeit als wesentlichem Zustand der modernen Kunst. Der Kunstverlust zeigt sich am deutlichsten im Rahmen dessen, was Heidegger nach Hölderlin als Flucht der Götter zu denken versucht. Der Flucht der Götter, der als Verlust der Kunst erfolgt, vollzieht sich als Bevollmächtigung der Technik und vollendet sich als Wesensverarmung der Menschlichkeit. Wie sich in dieser Ar-mut der wesentliche Mut der Menschlichkeit verbirgt, so ist auch im Verlust der Kunst ihre Ein-falt und damit ihr Falten als verlorene, aber dennoch gesuchte echt bewegende Erfahrung enthalten. Diese wurde bereits durch das griechische Wort mimesis bezeugt, die wir beharrlich nach einer vulgären Abbildtheorie darstellen und wobei nach mehr poetischen Alternativen in der Erzwingung der Echtheit gesucht wird. Nach der griechischen Auffassung von mimesis weicht die Kunst vor jede Erzwingung dessen, was ist, zurück. Die Kunst wird bewegt und sie bewegt sich auf die Weise der Herum-bewegung, was übrigens von Ästhetiktheorien als ihre „Interesselosigkeit" gedeutet wird. Es ist aber wichtig, dass diese Herumbewegung der Kunst eigentlich die Mimik der Tanzbewegung darstellt, womit sich auch die ursprüngliche Auffassung von mimesis verknüpft, wie es von H. Koller in seiner Abhandlung über die Mimesis in der Antike hervorgehoben wird: „Der Tanz ist bei den Griechen die alles umfassende Kunstform; sie schliesst das Wort, die Bewegung und Haltung und das Melos 21 in sich ein. Wir könnten konstruierend ableiten: wenn Tanz von Griechen als Mimesis, als Darstellung, 'Ausdruck', gefasst wird ... dann ist er eine mimesis phonaîs kai schémasin (Darstellung, Audruck niitest der Laute und Gebärden). Ihre Mittel sind lôgos, mélos, rhytmôs, ihr Resultat: Ausdruck, Formwerdung der éthe, pâthe, prâxeis der menschlichen Seele."10 Mimesis betrifft jene echte Erfahrung der Kunst, die nicht nur die in der gegenwärtigen Medientechnologie präsente Ab-bildung ist, sondern auch die Nachahmung, Mimik, Mimikry - das Falten der heute verlorengegangenen echten Kunsterfahrung. Die Erfahrung dieses Faltens bringt uns zwar die verlorengegangene Echtheit der Kunsterfahrung nicht zurück, wenn diese als Aura im Benjaminschen Sinne gedacht wird. Den Hinweisen von Heidegger folgend ist aber das, was von Benjamin als Aura und Tradition erfasst wird, als Sprache in ihrer grundlegenden Bewegung und Bewegungsmöglichkeit zu denken, durch die jede Bewegung erst möglich ist. Nur da, wo es eine Bewegungsmöglichkeit gibt, ist es auch möglich, dass etwas überhaupt zur Erfahrung gelangt, 22 und somit ist die Sprache als die bewegende Urerfahrung die Grundlage aller Echtheit. Etwas ist echt, wenn es uns echt anspricht, und das heisst, dass die Echtheit der Erfahrung das Element der Sprache selbst ist. Die Kunst bewegt uns durch ihre umfaltende Herumbewegung, was von Aristoteles in der Poetik als das Gefühl von katharsis, Reinigung, erörtert wurde. Wir werden dadurch gereinigt, was uns bewegt, indem sich in uns das Wesentliche ent-faltet. Kunst ist eine ent-faltend-herumbewegende Bewegtheit. Was bewegt sich in uns? Die Sprache bzw. genauer das, was in uns als Sprache schmerzlich schweigt. Die Kunst ist der Schmerz der Sprache. Wenn wir sie vermögen, dann können wir auch Kunst und Technik unterscheiden. Die Sprache ist keine Kunst, dagegen ist aber jede Kunst Sprache, was die Technik nie sein kann. Die Technik mit ihrem massenweisen Informations- und Kommunikationsaustausch spricht nicht und sie spricht auch niemand an. Die Technik zerstört das Gespräch der Welt, und zwar auch dadurch, dass die Kunst heute nicht mehr vermag, etwas zum wesentlichen Ausdruck zu bringen. Aber eben in dem Masse, in dem die Kunst in der echten Erfahrung der Sprache verloren ist, sucht sie nicht nur nach Ausdruck und Form, sondern sie er-fährt die Sprache im Falten der Zwiefalt, in der Ent-faltung der Einfalt. 10 Hermann Koller, Die Mimesis in der Antike. Nachahmung, Darstellung, Ausdruck, Francke Verlag, Bern 1954, S. 25.