Prejeto / received: 9. 1. 2019. Odobreno / accepted: 14. 3. 2019. CC BY-NC-ND 4.0, DOI: 10.3986/dmd16.1.02 GEORG PHILIPP TELEMANNS DER NEUMODISCHE LIEBHABER DAMON (1724) UMWANDLUNG EINES WIENER SCHÄFERSPIELS IN EINE SITTENSATIRE LIVIO MARCALETTI Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien Izvleček: Poleg tragedij in komedij so po Johan-nu Matthesonu med operne zvrsti 18. stoletja v Hamburgu sodile tudi satire (»Strafspiel«). Članek prikazuje, kako je Georg Philipp Telemann italijansko pastoralno opero I satiri in Arcadia (Dunaj 1714) preoblikoval v »Strafspiel« Damon (Hamburg 1724), satiro nezvestega ljubimca. Ključne besede: Georg Philipp Telemann, Johann Mattheson, Hamburg, satira, satir, prevod, operna zvrst Abstract: According to Johann Mattheson, operatic genres in eighteenth-century Hamburg included besides tragedy and comedy also satire ("Strafspiel"). The present article shows how Georg Philipp Telemann transformed the Italian pastoral opera I satiri in Arcadia (Vienna 1714) into a "Strafspiel", Damon (Hamburg 1724), a satire of the contemporary unfaithful lover. Keywords: Georg Philipp Telemann, Johann Mattheson, Hamburg, satire, satyr, translation, opera genre Unter den bisher wenig erforschten Operngattungen des 18. Jahrhunderts ist das von Johann Mattheson genannte „Strafspiel" für das deutschsprachige Musiktheater seiner Zeit von besonderer Bedeutung. Anders als im heute etablierten dichotomischen Modell, das anhand späterer Kennzeichnungen zwischen Opera seria und Opera buffa unterscheidet, entwickelte Mattheson in seinem Kern melodischer Wissenschaft (1737) eine anderswo nicht belegte Dreiteilung zwischen Tragadia, Comadia und Satira, bzw. Trauer-, Lust- und „Strafspiel". Mattheson zufolge ist das Letztere seltener als die anderen zwei Gattungen vorgekommen, wie er selbst bei der knappen Beschreibung musikstilistischer Spezifika jeder Untergattung spezifiziert: Ist die Absicht eines Sing-Spiels tragisch, so muß sich der Gesang darnach richten, und müssen lauter majestätische, ernsthaffte, klägliche Melodien, nach Befinden der Umstände, dabey eingeführet werden, absonderlich zuletzt. Ist aber das Ende einer Oper comisch und lustig, so kehret man es um, und bedienet sich vornehmlich zu rechter Zeit, freudiger, frölicher und anmuthiger Melodien. Ist endlich der Inhalt satyrisch (wiewol deren wenige seyn werden) so müssen die Sang=Weisen hie und da etwas lächerlich, poßierlich und stachelicht herauskommen.1 1 Mattheson, Der vollkommene Capellmeister, 219. Hervorhebung im Original. 37 De musica disserenda XVI/1 • 2020 Welchen Opernwerken ist danach die Kennzeichnung „Satyra" oder „Strafspiel" zuzuschreiben? Keine dieser beiden Bezeichnungen wird in den Libretti oder Partituren der Zeit verwendet. Zur Verdeutlichung dieser Begriffe muss zunächst klargestellt werden, was zu dieser Zeit unter Satire verstanden wurde. Die zeitgenössischen Poetiken wie etwa Christian Friedrich Hunolds Die allerneueste Art zur Reinen und Galanten Poesie zu gelangen (1722) enthalten zwar zahlreiche Anweisungen für Opernlibretti, aber kaum relevante Gattungsdefinitionen einer Satire. Darum muss auf Martin Opitz' Erläuterung der Eigenschaften und der Ziele der Satire (Buch von der deutschen Poeterey, 1624) zurückgegriffen werden: Zue einer Satyra gehören zwey dinge: die lehre von gueten sitten vnd ehrbaren wandel / vnd höffliche reden vnd schertzworte. Jhr vornemstes aber vnd gleichsam als die seele ist / die harte Verweisung der laster vnd anmahnung zue der tugend: welches zue vollbringen sie mit allerley stachligen vnd spitzfindigen reden / wie mit schaffen pfeilen / vmb sich scheußt. Vnd haben alle Satyrische scribenten zum gebrauche / das sie vngeschewet sich vor feinde aller laster angeben / vnd jhrer besten freunde ja jhrer selbst auch nicht verschonen / damit sie nur andere bestechen mögen: wie es denn alle drey Horatius / Juuenalis vnnd Persius meisterlich an den tag gegeben.2 Von den Modellen der lateinischen Literatur ausgehend, hebt diese Definition das moralische Ziel einer Satire hervor, bei der Tugend gepriesen und Laster gestraft wird. Während Opitz offenbar an nicht-dramatische Gedichte denkt (Horatius, Juvenalis und Persius waren keine Dramatiker, und er nennt in demselben Kapitel das Epigramma „eine kurtze Satyra"), verknüpft Mattheson den Begriff Satire mit der Oper und mit dem Terminus „ Strafspiel". Die Etymologie des letzteren Wortes verweist auf die vorbildliche Bestrafung der Untugend eines Bösewichts im Kontext eines „Spiels" - und damit wird das Theater miteinbezogen. Die Idee eines „Straftheaters" im weiteren Sinne war im Hamburg der Zeit Matthesons sehr präsent, einer Stadt, die um 1700 aufgrund der virulenten Konflikte zwischen Bürgerschaft und Rat besonders stürmische politische Verhältnisse erlebte. Die Bestrafung der Aufhetzer dieser Unruhen diente gelegentlich der Wiederherstellung des Friedens und stellte ein tatsächliches „Straftheater" und „Theater des Schreckens" dar.3 Besonders abschreckend wirkten etwa 1686 die Hinrichtungen von Reeder Cord Jastram und Kaufmann Hieronymus Snitger, die wegen Hochverrats zum Tode verurteilt worden waren: Sie hätten die Bewohner der Stadt an Dänemark ausliefern wollen, angeblich um sie von der Bedrohung durch das Herzogtum Braunschweig-Lüneburg zu verteidigen. Die Exekution „folgte einer virtuos ausgearbeiteten Dramaturgie",4 welche Enthauptung, Entkleidung, Aufschlitzung, Zergliederung der Körper in vier Teile und Ausschmückung der Stadttore durch die Häupter vorsah. Das „Theater des Schreckens" schlägt sich in der theatralischen Produktion nieder, etwa 2 Opitz / Buch von der deutschen Poeterey / [14v]. 3 Die Bezeichnung „Theater des Schreckens" stammt von Dülmen, Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit. Siehe auch Lohsträter, Hinter den Kulissen eines Schreckenstheaters. 4 Martus, Aufklärung, 155. 38 Livio Marcaletti: Georg Philipp Telemanns Der neumodische Liebhaber Damon (1724) in der des Dichters Barthold Feind. Er griff in seiner Komödie Das verwirrte Haus Jacob / Oder Das Gesicht der bestrafften Rebellion An Stilcke und Lütze (1703) zwei Unruhestifter an, die quasi als neue Jastram und Snitger galten. Da in dem Theaterstück „zentrale Figuren mit Klarnamen" auftraten, wurde das Stück als Pasquill verurteilt und verboten.5 Auf der Bühne wurde hingegen die bekannte Oper Il Masagniello furioso (Musik von Reinhard Keiser) aufgeführt, welche den neapolitanischen Aufstand aus dem Jahre 1647 inszenierte. Die konventionell hinzugefügten Liebesintrigen und der politische Konflikt ergänzen sich in einer Oper, die eine klare Anspielung auf die zeitgenössischen Hamburger Ereignisse enthält. Feind zufolge liege der Wahnsinn des „zornigen" (ital. „furioso") neapolitanischen Fischers und Aufhetzers Masaniello darin, dass er „nämlich halsstarrig auf seinen Positionen beharrt und sich dem Vizekönig nach scheinbar beigelegtem Konflikt nur unter Bedingungen ausliefert".6 Kein Wunder, dass Feind für kurze Zeit aus Hamburg verbannt wurde, bevor er 1708 zurückkehren konnte und 1710 rehabilitiert wurde.7 Auch spätere Hamburger Opern, diesmal mit einem französischen Modell, weisen eine Satire des gegenwärtigen Lebens in Hamburg auf. Die beiden Werke von Johann Philipp Praetorius (Librettist) und Reinhard Keiser (Komponist) aus dem Jahre 1727, Der Hamburger Jahr-Marckt und Die Hamburger Schlacht-Zeit, stellen einen Versuch der Hamburger Oper dar, „mit dem Verlachen dessen, was sie nicht sein will, mit der satirischen Darstellung verschiedenster Unterhaltungsformen (Café, Spiel, Jahrmarkt) selbst zu unterhalten".8 Anders als vorige auf demselben Sujet basierende Opern, dessen einziges Ziel „nicht die Moral", sondern „Ergötzen" ist,9 hat die Komik dieser Werke „einen höheren, moralischen Zweck zu erfüllen".10 Angesichts dieses historisch-politischen Hintergrunds ist Matthesons Theoretisierung des „Strafspiels" als Operngattung im Einklang mit der obengenannten Idee eines „Straftheaters". Wurden in der Oper am Gänsemarkt Werke aufgeführt, die durch die exemplarische Bestrafung von Bösewichten ein ähnliches pädagogisches Ziel ausübten? Die einzige Oper, die Mattheson als Beispiel für ein „Strafspiel" erwähnt, ist die Karnevalsoper Don Chisciotte in Sierra Morena (Uraufführung Wien 1719) von dem Librettisten Pietro Pariati und dem Komponisten Francesco Bartolomeo Conti. 1722 wurde diese Oper in Hamburg mit direkter Beteiligung Matthesons aufgeführt, der die deutschen Rezitativtexte vertont und die Arien überarbeitet hatte.11 Es handelt sich um eine Operntragikomödie („Tragicommedia per musica"), die als satirisch bezeichnet werden kann, weil sie auf dem satirischen, ritterepische Literatur parodierenden Roman von Miguel Cervantes basiert. Es waren jedoch andere Themen vorhanden, die für das Hamburger Zeitgeschehen brisanter und infolgedessen geeigneter für eine satirische Oper waren. Wie bereits von 5 Dubbels, „Pasquill als Komödie", 198. Unter Pasquill „[...] versteht man eine anonym oder Pseudonym verfasste Schrift, die sich gegen eine bestimmte Person oder Personengruppe richtet, um deren öffentliches Ansehen nachhaltig zu schädigen [...]". Siehe ibid., 191-192. 6 Beise, „Neapel 1647 - Hamburg 1706", 230. 7 Dubbels, „Pasquill als Komödie", 195. 8 Scheidel, „Zwischen Schlachtfest und Passion", 407. 9 Ibid., 405. 10 Ibid. 11 Hirschmann, „Die Tragicommedia Pietro Pariatis und Francesco Contis", 116-128. 39 De musica disserenda XVI/1 • 2020 Bernd Baselt bemerkt,12 stellt die Oper Der neumodische Liebhaber Damon (1724) von Georg Philipp Telemann diesbezüglich eine besonders interessante Fallstudie dar. Es handelt sich um die deutsche Umschreibung der Schäferspiel-Oper I satiri in Arcadia von Pietro Pariati und Francesco Bartolomeo Conti (Wien 1714). Telemann wandelt die Wiener Vorlage in eine Satire des modernen Liebhabers um, der untreu und auf der stetigen Suche nach neuen Frauen ist. Das satirische Potenzial der Handlung war bereits in der Wiener Vorlage vorhanden, aufgrund des Aufführungsanlasses und der Eigenschaften der ursprünglichen Gattung - einerfavola pastorale - wurde es jedoch weitaus weniger ausgeschöpft. I satiri in Arcadia - die ursprüngliche favola pastorale Nachdem Francesco Bartolomeo Conti mit dem Dramma per musica Alba Cornelia (Uraufführung 5. Februar 1714) zum ersten Mal ein Libretto Pariatis vertont hatte, ging ihre Zusammenarbeit einige Monate später (Uraufführung 28. August 1714) mit der favola pastorale (Pastorale-Fabel) I satiri in Arcadia weiter. Es handelt sich um ein Huldigungswerk für den Geburtstag der Kaiserin Elisabeth Christine - einer der Anlässe, die am Wiener Kaiserhof gewöhnlich mit einem Musiktheaterwerk gefeiert wurden. In der Regel wurden jedoch andere Gattungen verwendet, entweder abendfüllende Drammi per musica (z. B. Teseo in Creta, Uraufführung 28. August 1715) oder kleinere musiktheatralische Gattungen - Poemetti drammatici, Feste teatrali, Serenate usw., die mit einer das jeweilige Kaiserfamilienmitglied huldigenden Licenza teatrale endeten. I satiri in Arcadia stellt einen Sonderfall dar, denn es handelt sich um eine für diesen Anlass und zu dieser Zeit bereits untypische favola pastorale. Ein einzelnes weiteres Beispiel dieser Untergattung ist im Repertoire der 1710er Jahre am Wiener Kaiserhof vorhanden: Il trionfo dell'amicizia e dell'amore (1711), auch von Francesco Bartolomeo Conti vertont, diesmal aber auf einem Libretto von Francesco Ballerini basierend. Contis zukünftiger Lieblingslibrettist Pariati war zu diesem Zeitpunkt noch nicht am Hof angestellt. Im Gegensatz zur Mehrheit der Huldigungswerke weist diese pastorale Oper einen teilweise komischen Charakter auf, der vielmehr zum Karneval gepasst hätte; vor allem wegen der Einbeziehung von Satyren in die Handlung, genau wie in den Schäferspielen des 16. Jahrhunderts etwa von Torquato Tasso und Giovanni Battista Guarini. Damone, ein Satyr aus Thessalien, erobert Arkadien mithilfe einer erheblichen Anzahl von Satyren - aus Rache an denjenigen, die ihn damals aus Arkadien verjagt haben. Tirsi, den er besonders hasst, wird tot geglaubt, ist jedoch nur untergetaucht; er verstellt sich und tritt als die Nymphe Nicea auf, während sich seine Schwester Mirtilla als Verrückte ausgibt, um sich vor den Satyren zu schützen. Die Nymphe Elpina liebt den Schäfer Laurindo vergebens, der seinerseits Mirtilla liebt; Elpina wird hingegen von Ergasto begehrt, der sich als Vertrauter Damones verstellt. Damone versucht vergeblich, 12 Baselt, „Zum Typ der komischen Oper", 74: „[...] und ,Der neumodische Liebhaber Damon' ist eine typische ,Satyra', ein Strafspiel, das den immer wieder bühnenwirksamen ,dissoluto punito' in den Mittelpunkt der Handlung stellt und obendrein auch noch deutliche Kritik an manchen Sitten und Konventionen der damaligen Gesellschaft enthält". 40 Livio Marcaletti: Georg Philipp Telemanns Der neumodische Liebhaber Damon (1724) alle Nymphen zu ergreifen, die ihm über verschiedene Auswege entkommen, während seine ehemalige Frau, die Zigeunerin Nigella, ihren Mann zurückfordert und ihm ihren gemeinsamen Sohn, einen kleinen Satyr, vorstellt. Anlässlich eines bacchischen Festes betrinken sich Damone und alle anderen Satyren, die daraufhin von den Nymphen und Schäfern gefesselt und ins Exil gesandt werden. Damone wehrt sich gegen die Verbannung, aber aus Angst um das Leben seines Sohns nimmt er das Exil an. Der komische Anteil von I satiri in Arcadia ist im Vergleich zu Pariatis und Contis nachfolgenden Tragicommedie per musica klein. Zu den komischen Figuren ihrer sechs Tragikomödien sind nicht nur das gewöhnliche Dienerpaar zu zählen, sondern auch andere ,mittlere' Figuren wie etwa lächerliche Philosophen, als Prinzen verkleidete niedrige Figuren, eifersüchtige Könige (wie etwa Odysseus in Penelope, 1724) und verrückte irrende Ritter (Don Chisciotte in Sierra Morena, 1719). I satiri in Arcadia enthält hingegen nur zwei komische Rollen, Damone und seine Frau Nigella, die insgesamt 8 Arien von 35 Stücken (Chöre ausgeschlossen) singen. Der Antagonist Damone singt in der Tat nur drei Arien, eine pro Akt, Nigella etwas mehr, nämlich fünf. Sie interagieren zwar in den Rezitativen miteinander, singen aber keine Duette oder intermezzoartige Szenen am Ende der Akte wie in den Tragikomödien üblich, sodass ihr komischer Beitrag zur Oper insgesamt eher schwach wirkt. Trotzdem finden im dritten Akt komische Liebeswortgefechte statt, wenn Damone sein Frauenvorbild beschreibt und dabei das Aussehen von Nigella für hässlich hält: Vo' una sposa spiritosa, Ich will eine frische / feine / vaga e bionda, grassa e tonda, rothe / runde / grosse / gsunde / bianca e rossa, che mi possa fette / weise / die den fleise far per lei d'amor languir. mich verliebt zu machen hab. Una mora goffa e brutta, Ein gesengtes Mohren=Früchtel / un'arringa al fumo asciutta, und geselchtes Häring=Gsichtel / una mummia secca e nera, eine Mumy auß Egypten non e cera da soffrir. solche Krippen seynd schabab.13 Nigella kontert ein paar Szenen später mit einem Mittelweg zwischen Selbstkritik und Selbstachtung: Fra le donne la piü bella, Wahr ist es / ich muß bekennen / lo confesso, e ver non sono; daß ich nicht die Schönste seye / ma ne men son la piü brutta. doch die wildeste auch nicht. Se l'ingrato tal mi appella, Wann er mich also thut nennen / e mi lascia in abbandono, und verstosset meine Treue / per mia fe non la sa tutta. so weiß er gwiß alles nicht. 14 Sie erhält jedoch ihre Revanche nach der Gefangennahme des betrunkenen, nun harmlosen Damone: Vor seinem Exil aus Arkadien muss er noch die Verspottung 13 Pariati, I satiri in Arcadia, Akt 3, Szene 7. Diese und die folgenden deutschen Übersetzungen des Libretto von Pariati stammen aus dem Wiener Librettodruck von Cosmerovio. 14 Pariati, I satiri in Arcadia, Akt 3, Szene 9. 41 De musica disserenda XVI/1 • 2020 Nigellas durch seine eigenen Worten ertragen - nur der letzte Vers wird in eine ironische Verabschiedung verändert: „buona sera, buona sera": Ungeachtet dieser komischen Einlagen herrscht in den meisten Arien der favola pastorale ein elegisch-pastoraler Ton. Der Aufführungskontext (der Geburtstag der Kaiserin) bot nämlich keinen Raum zur „Umkehrung der Hierarchie" und zur Parodie, wodurch „die Missstände bei Hof" aufgezeigt und „die Schattenseiten des Herrschertums" dargelegt worden wären.16 Von einer favola pastorale zu einem scherzhaften Singe-Spiel Als das arkadische Schäferspiel von Pariati und Conti an den Erwartungshorizont deutschsprachiger städtischer Opernhäuser angepasst wurde, nahm es andere Konturen an. Am 30. August 1724 wurde ein scherzhaftes Singe-Spiel im Hamburger Opernhaus am Gänsemarkt aufgeführt, und zwar Der neumodische Liebhaber Damon. Der von Bernd Baselt rekonstruierten Entstehungsgeschichte entsprechend basiert diese Oper von Georg Philipp Telemann auf einer Leipziger Vorlage aus den Jahren 1718-1719, und zwar auf der Oper Die Satyren in Arcadien, von der nur das anonyme Libretto überliefert ist.17 Die Überarbeitung der Leipziger Fassung für das Opernhaus am Gänsemarkt besteht aus zahlreichen, kleinen Veränderungen im Text der Rezitative und auch einiger Arien, ohne dass jedoch die allgemeine dramaturgische Struktur mit ihrer Szenenfolge grundlegenden Veränderungen unterworfen wird.18 Wer ist der Autor des Librettos? Johann Mattheson vermutet, der Autor könne Telemann selbst sein („Music vom Hn. Cap. Telemann. Vielleicht die Poesie auch")19 und Baselt widerspricht dieser Vermutung in seiner Edition nicht.20 Telemann konnte sich höchstwahrscheinlich der deutschen, relativ ,wortwörtlichen' Übersetzung bedienen, die üblicherweise mit dem italienischen Libretto in Wien gedruckt wurde. In dieser Wiener Übersetzung, die als Leselibretto zu verstehen ist, sind die Rezitative in Prosa übersetzt, 15 Ibid., Akt 3, Szene 11. 16 Michels, „Karnevalsoper am Hofe Kaiser Karl VI.", 96. 17 Siehe Maul, Barockoper in Leipzig, Bd. 2, 1016-1017. Aus demselben Jahre stammt auch eine Hamburger Pasticcio-Oper auf einem Libretto von D. Gazal, das auf einer ähnlichen Handlung wie I satiri in Arcadia aufgebaut ist, und teilweise Musik von Conti verwendet. Siehe Weigel Williams, Francesco Bartolomeo Conti, 71. 18 Einen ausführlichen Vergleich zwischen der Leipziger und der Hamburger Fassung auf Basis der beiden Libretti bietet Pegah, „,Weg, weg du Cerberus'", 196-209. 19 Mattheson, Der musikalische Patriot, 192. 20 Baselt, Vorwort zu Der neumodische Liebhaber Damon, vn. Una mora goffa e brutta, un'arringa al fumo asciutta, una mummia secca e nera, buona sera, buona sera. Ein gesengtes Mohrn-Früchtel / und geselchtes Häring=Gsichtel / eine Mumy auß Egypten / gute Nacht mein saubre Krippen. 15 42 Livio Marcaletti: Georg Philipp Telemanns Der neumodische Liebhaber Damon (1724) während reguläre Versmaße und Reime für die Arien verwendet werden, als ob sie zu singen wären. Die Umsetzung der Rezitativtexte in Versmaße erforderte eine grundlegende Überarbeitung der Wiener Übersetzung: Z. B. wird der von Pariati erfundene Superlativ "bestialissimamente" (Akt I, 2) in Wien mit "auf das allerabscheuchliste [sie]" übersetzt. In Telemanns Oper steht der wortwörtlich und knapper formulierte Ausdruck „Ja, ganz bestialisch", was auch prosodisch besser verwendbar ist. Ebenfalls wird „ich werde nicht der Erste seyn / der ein närrisches Weib hat" aus metrischen Gründen leicht verändert: „Ich werde nicht der erste seyn / der eine närrsche Frau bekommen", sodass es um vierhebige jambische Verse handelt. In den Arien kommt es hingegen vor, dass die Wiener Übersetzung bereits metrisch nah am Original liegt, und Telemann dasselbe Versmaß beibehält, jedoch die Wahl der einzelnen Wörter ändert: Con un guardo mio sdegnato la campagna, il colle, il monte per vendetta io struggerö. E col fiato mio infocato io nel mar, nel rio, nel fonte tutte l'acque accenderö. Wien 1714: Voller Rach wollte ich rasen / und verwüsten Berg / und Felder. So viel ich nur immer kann / mit erhitzen Athem blasen alle Wässer / Brünn / und Wälder auch das Meer selbst zünden an.* Hamburg 1724: Ich entflamme mit den Blicken / und vermag mit dieser Hand Feuer in das ganze Land über Berg und Feld zu schicken. Mein entbrannter Atem kann mich mit Glut und Flammen rächen; alles Wasser in den Bächen zund' ich so / wie Schwefel / an.T * Pariati, I satiri in Areadia, Akt 1, Szene 3. t Telemann, Damon, Akt 1, Szene 9. Der italienische Text und seine Übersetzungen teilen nicht nur den Inhalt - Damon will alles entzünden, wäre es möglich sogar das Wasser -, sondern auch das Versmaß, in beiden Fällen ein trochäischer Vierheber (-v-v-v-(v)), der dem italienischen verso ottonario nahekommt. Bei Telemanns Überarbeitung steigt die Anzahl der Stichwörter aus dem Wortfeld des Feuers, die mit tonmalerischen Koloraturen ausgedeutet sind („entflamme", „Feuer", „Flammen", „Schwefel"), und passen deswegen besser zur musikalischen Vertonung als die Wiener Übersetzung. Auf einer größeren Skala ist Telemanns Libretto eher als Umschreibung denn als bloße Übersetzung zu betrachten. Es werden nicht nur neue Szenen, sondern auch eine neue Figur hinzufügt, und zwar der Satyr Hippo, der Damon quasi als Buffo-Diener begleitet und ein paar komische Soloszenen erhält. Auf der dramaturgischen Ebene ist jedoch die Erweiterung der Hauptrolle des Damons erheblich wichtiger, denn sie verstärkt die satirische Komponente und wandelt die favolapastorale in ein tatsächliches „ Strafspiel" um. Bereits im Titel ist das satirische Ziel offenbart: „Der neumodische Liebhaber". Damon wird zum dramaturgisch und musikalisch absoluten Protagonisten, der sogar acht Arien, fast dreimal so viel wie in I satiri in Areadia, zu singen hat. 43 De musica disserenda XVI/1 • 2020 Das satirische Ziel der Oper ergibt sich nicht nur aus der quantitativen Verbreitung der Rolle Damons als verspotteten Satyr, sondern auch aus dem qualitativen, stilistischen Wandel der Vertonung. Contis Arien werden größtenteils von Hirten und Nymphen gesungen, die ihre Liebesqualen äußern, während Telemanns Vertonung überwiegend „satirisch" definiert werden kann. Nicht nur Damons Arien werden mithilfe von Melodien aufgebaut, die „lächerlich, poßierlich und stachelicht" klingen; auch Nymphen und Schäfer singen in Telemanns Oper mehrere Arien, deren Texte Beleidigungen und Verspottungen des „neumodischen Liebhabers" Damon enthalten, wie etwa „Höllenhund", „flatternd wie die Motten", „verliebter Wurm". Diese Texte passen keineswegs zu einem Trauerspiel, und ihr Inhalt ist eher satirisch als komisch, wodurch die Bezeichnung als Satyra oder „Strafspiel" gerechtfertigt wird.21 Wenn man das Satirische aus der literaturwissenschaftlichen Perspektive analysiert, entsteht es aus der Inkongruenz hoher stilistischer Elemente, die auf niedrige Rollen angewendet werden, oder umgekehrt niedriger Stilelemente, die gegen die Erwartungen auf hohe Figuren angewendet werden. Der Literaturwissenschaftler Gérard Genette hat diese sich überschneidende Beziehungen von Sujet und Stil mit den Kategorien von „burlesker Travestie" und tatsächlicher Parodie folgendermaßen beschrieben: Die burleske Travestie modifiziert also den Stil und beläßt das Thema; umgekehrt modifiziert die „Parodie" das Thema und beläßt den Stil, was auf zwei Wegen bewerkstelligt werden kann: entweder es wird der vornehme Text beibehalten und so wörtlich wie möglich auf ein vulgäres (reales und aktuelles) Thema angewandt: dies ist die Parodie im engeren Sinn [...]; oder aber es entsteht durch stilistische Nachahmung ein neuer, vornehmer Text, der auf ein vulgäres Thema bezogen wird: das komisch-heroische Pastiche.22 Welcher Stil charakterisiert die Satire in der Zeit Telemanns? Johann Adolph Scheibe bezieht sich etwa auf den „polnischen Stil" einiger Kompositionen von Telemann, deren Schreibart zugleich „lustig" und „von großer Ernsthaftigkeit" ist: Wir kommen nunmehro auf die Musikart der Pohlen, oder auf den so genannten pohlnischen Styl [...]. Der berühmte Hr. Telemann hat ihn am ersten in Schwang gemacht, und uns durch die schönsten Proben dargethan, wie schön dieser Musikstyl ist, wenn sie in seiner Vollkommenheit ausgeübet wird [...] Insgemein ist diese Schreibart zwar lustig, dennoch aber von großer Ernsthaftigkeit. Mann kann sich auch derselben zu satyrischen Sachen sehr bequem bedienen. Sie scheint fast von sich selbst zu spotten; insonderheit wird sie sich zu einer rect ernsthaften und bittern Satire schicken.23 Die „ernsthaft[e] und bitter[e] Satire", mit welcher Scheibe den „sogenannten pohlnischen Styl" verbindet, ist vom reinen Komischen deutlich unterscheidbar, deren Melodien laut Mattheson „freudig", „fröhlich" und „anmuthig" sein sollen. Telemann, der Scheibe zufolge diesen satirischen Stil für manche Instrumentalwerke auswählt, wendet ihn auch 21 Siehe Ruhnke, „Komische Elemente", 100. 22 Genette, Palimpseste, 36. 23 Scheibe, CritischerMusikus, 149. 44 Livio Marcaletti: Georg Philipp Telemanns Der neumodische Liebhaber Damon (1724) auf dieses „scherzhafte Singe-Spiel" an, um einen liebenden Satyr darzustellen. Dieser als satirische Figur schlechthin wird der Gattungsbezeichnung gerecht. Das Satyrspiel fand während der städtischen Dionysien nach drei Tragödien statt und involvierte zwar wiederum mythologische Figuren, aber mit einer leichteren, oft auch obszönen Handlung und mit glücklichem Ausgang. Der Satyr ist eine groteske Figur, die komisch wirkt und zugleich gewalttätig sein kann. Auf welchen Aspekt der Hamburger und Leipziger Aktualität bezieht sich aber die Verspottung Damons? Der neumodische Liebhaber und die Galanterie Wie der Titel der Oper ankündigt, verkörpert Damon den „neumodischen Liebhaber" aus der Zeit Telemanns, wie auch im Laufe der Oper angedeutet wird, wenn Hippo ihn „Spaß-galan" nennt,24 ein Stichwort des zeitgenössischen Diskurses über Galanterie und Liebe. Der „Spaß-galan" war in der Tat die Figur eines unanständigen Liebhabers, der auch in zeitgenössischen Romanen und Gedichten häufig vorkommt. Musiktheater spielt dabei eine grundlegende Rolle im norddeutschen Raum, vor allem in Städten wie Leipzig und Hamburg - nicht zufällig diejenigen, welche Aufführungsorte der zwei Fassungen von Telemanns Oper waren -, während die Oper in München und Wien keinen direkten Bezug auf den Diskurs über Galanterie aufweist.25 Während Galanterie ein offener Begriff ist, kann der Terminus „Spaß-Galan" nur eine einzige Bedeutung haben. Eine kompakte und wirksame Beschreibung dessen ist in Christian Weises Überflüssige Gedancken der grünenden Jugend (erw. Ausgabe 1701) zu finden; nämlich in dem Gedicht „Die unterschiedlichen Liebhaber": [...] Dann sagt ich / wer sich aller orten Zum lieben frauenzimmer macht / Und ist doch kalt in seinen worten Ob er gleich noch so freundlich lacht: Wer alle wochen eine neue Zum zeitvertreib erwählen kan / Und fragt nach keiner liebes=treue / Der ist ein blosser spaß=galan.26 Genau so verhält sich Damon vom Anfang der Handlung an, wenn er bereits in seinem ersten Auftritt die Nymphen zum Bleiben einlädt („Bleibt, bleibt ihr Schönen, bleibet hier"). Er zeigt dadurch, dass er nicht nur an einer, sondern an allen interessiert ist. Tyrsis, als Caliste verkleidet, versteht seine Natur und versucht in seiner ersten Arie, ihn für sich zu gewinnen: „Liebe mich, doch nur zum Scherze, / bloß zum Zeitvertreib, zur Lust". Als „ Spaß-Galan" folgt Damon überraschenderweise nicht den ethischen Regeln der 24 Telemann, Damon, Akt 1, Szene 4: „So recht, du lustger Spaß=Galan, / will eine nicht, so muß die andre dran". 25 Jahn, „Musiktheater und galanter Diskurs", 302-303. 26 Weise, Überflüssige Gedancken, [15]. 45 De musica disserenda XVI/1 • 2020 Galanterie, deren Verhaltensmodelle in diesen Jahren auf der Hamburger Opernbühne „gezeigt, kommentiert und auch parodiert" wurden.27 Im deutschsprachigen Diskurs der Zeit stand Galanterie „für ein ,modernes', von bestimmten Kreisen als neumodisch empfundenes Geselligkeitsideal, das durch die Gegenwart von Frauen erst ermöglicht wurde", und Telemann selbst definierte sich als „homme galante [sc]".28 Die von Romanen und Literatur der Zeit verbreitete Galanterie konnte jedoch „aggressiv patriarchal grundiert" sein, indem die Frauen, die in öffentlichen Räumen auftreten durften, „von Männern zu sexuellen Handlungen überredet" werden konnten.29 Eben diese negative Seite der Galanterie verkörpert Damon als „Spaß-Galan", während in einem der bedeutendsten Traktate über Ethos und galantes Leben, Die Galante Ethica (1. Aufl. Dresden 1720) von Johann Christian Barth, für die Beständigkeit der Liebe plädiert wird: „Verliebt seyn ist was menschliches; Aber verhuret seyn, was viehisches [...] hat man sich denn was erwählet, damit man gedenckt vergnügt zu seyn, so liebe man Beständigkeit, und lasse sich nicht gleich wieder eine andere Schönheit einnehmen, sondern bleibe bey dem, was man sich einmal auserlesen".30 Diesen Vorschriften entsprechend ist Damon kein ,galanter' Liebhaber. In Telemanns Überarbeitung lässt sich er von Anfang an als lasziver Frevler erkennen. Anders als in I satiri inArcadia fängt die Oper nicht mit einem Dialog zwischen zwei Schäfern an, welche die Eroberung Arkadiens durch die Satyren erzählen, sondern mit einer Tombeau-Szene, bei der alle den vermeintlichen Tod Tyrsis' beweinen. Mirtilla unterbricht die Threnodie mit ihrem geheuchelten Wahnsinn und stellt in einem tonmalerischen Accompagnato-Rezitativ vor, wie Tiere und Naturereignisse den Tod mythologischer Helden wie etwa Adonis und Orpheus beklagen. Alle bemitleiden ihren Wahnsinn, bis Damon dazwischenkommt und alles verwüstet. Seine Satyren zerstören die Pyramide von Blumen, die die Nymphen und Schäfer vorbereitet haben, und er wagt sogar, sich über den Tod Tyrsis' zu freuen: „Gut, gut! / So darf ich ihm nicht erst die Hundeseele nehmen. / Nun wird Mirtilla sich / um desto eh'r zur Liebe / gegen mich bequemen". Rashid-Sascha Pegah weist auf eine Nachahmung des „Pompe funèbre à la Quinault/Lully",31 etwa aus dem dritten Akt von Alceste (1674) hin. Da der beweinte Tod allerdings nur vermeintlich ist, so wie auch Mirtillas Wahn vorgespielt wird, könnte diese Szene eher als Parodie denn als bloße Nachahmung des Lully'schen Modells betrachtet werden. Damons Werbung um Schäferinnen in einem solchen ungeeigneten Kontext ist ein weiteres Zeichen, dass diese Tombeau nicht zu ernst zu nehmen wäre. Was jedoch Damon als Ziel der moralischen Bestrafung charakterisiert, ist vor allem der satirische Vertonungsstil seiner Arien. So etwa in der zweiten Arie, in der Damon 27 Kiupel, Zwischen Krieg, Liebe und Ehe, 338. 28 Ibid., 336, 340. 29 Ibid., 343. 30 Barth, Die Galante Ethica, 114. 31 Pegah weist auf einen „Pompe funèbre à la Quinault/Lully" hin (Pegah, „,Weg, weg du Cerberus'", 197), womit er auf eine Nachahmung der entsprechenden Szene aus dem dritten Akt von Alceste andeutet. 46 Livio Marcaletti: Georg Philipp Telemanns Der neumodische Liebhaber Damon (1724) vergebens versucht, sein Liebesgefühl zärtlich auszudrücken, das Ergebnis hingegen grotesk wirkt: Ich glühe vor Sehnsucht / ich lodre vor Liebe! Mein brennend Verlangen erhitzet die Triebe / und macht mich zum ^tna verzehrender Gluht! Es klopfet das Herze / es schlagen die Flammen in meinen lieb-äugelnden Blicken zusammen; es schwellen die Adern / es wallet das Blut.32 Der Text in daktylischen Versfüßen (mit den typischen Amphibrachen am Anfang und am Ende, v-vv-vv-vv-v) ist noch einmal vom Wortfeld des Feuers (zusammen mit dem Vulkan Ätna) geprägt: „glühe", „lodre", „brennend", „erhitzet", „Ätna", „Glut", „Flammen", sodass Damons Äußerung seiner unbeständigen Leidenschaft einfarbig und grotesk erscheint. Telemann mischt Stilelemente des ernsten Dramma mit anderen der Intermezzi und der komischen Opern. Von der klassischen Da-capo-Arie des Dramma per musica stammt die Begleitung des Orchesters mit Dissonanzen, Läufen in Zweiunddreißigstelnoten und wiederholten Doppelvorschlägen (auch wenn sie nicht als Manieren, sondern als Hauptnoten notiert sind), die zuerst die Streicher und dann die Stimme ausführen. Gerade die Repetitivität dieser Ornamente sowie die Deklamation des Textes auf Noten derselben Dauer und auf demselben Ton und darüber hinaus die Oktavsprünge dienen der satirische Wirkung dieser Arie (Beispiele 1 und 2). Die groteske, übertriebene Verwendung von Ornamenten findet auch im B-Teil statt, wenn Damon auf dem Wort "wallet" ein langes und langsames Tremolo singt, das für die Vokalmusik dieser Zeit ungewöhnlich ist (Beispiel 3). Eine ähnliche Tonmalerei ist in der nächsten Arie von Damon zu finden, der nicht anders als ein Opera-seria-Sänger eine Jagdarie singen würde, gäbe es nicht diese Tremoli auf mehreren Tönen (Beispiel 4). Diese Art der Tonmalerei ist interessanterweise derselbe Typus, den Mattheson in Der vollkommene Capellmeister kritisiert: Es gibt im Reden und Schreiben gewisse Wort-Spiele, die sehr albern und schulfüchsisch herauskommen, und die ein vernünfftiger Verfasser oder Redner wie die Pest vermeiden wird [...] Ebenermaassen finden sich auch im componiren offt solche leere Klang-Spiele, die fast auf eine unleidliche Art abgeschmackt sind, als wenn einer das zitterne Glänzen der sprudlenden Wellen, mit folgenden Noten ausdrücken würde [...].33 Das beigelegte Musikbeispiel und Telemanns Arien mit dem Tremolo weisen eine gewisse Ähnlichkeit auf (Beispiel 5). Nicht nur die „Bebung" auf „zitternde", sondern auch die daktylischen Versfüße sind mit den Melodien Telemanns vergleichbar. Soll sich daraus ergeben, dass Mattheson die 32 Der Text stammt aus dem Hamburger Libretto von 1724, von dem Baselts Edition an einigen wenigen Stellen abweicht. 33 Mattheson, Der vollkommene Capellmeister, 201. 47 De musica disserenda XVI/1 • 2020 Beispiel 1 ,Jch glühe vor Sehnsucht" aus Telemanns Damon, T. 15-22* Ich glü - he vor Sehn-sucht, ich Io - dre vor Lie - be! Mein bren-nend Ver - lall - geil er - 15 hit - zel die Trie - he - und macht mich zum Ät - na ver zeh-ren-der Glut, zum Ät - - - na_ Ii) * Alle Musikbeispiele aus Telemanns Damons folgen der kritischen Edition (siehe Quellenverzeichnis). Vertonung Telemanns kritisiert hätte? Im Laufe desselben Kapitels von Der vollkommene Capellmeister wird zwar auch Telemann zitiert, aber als Komponist, der Tonmalerei korrekt anwendet.34 Es ist deswegen wahrscheinlicher, dass Telemann die Wörter „wallet" und „Beben" in den obenerwähnten Abschnitten absichtlich „albern" und „schulfüchsisch" vertont, um die jeweiligen Arienmelodien von Damon „lächerlich, poßierlich und stachelicht" 35 zu machen und ihn grotesk darzustellen. 34 Ibid., 202: „Also ist es auch löblich und gescheut, wenn iemand eine Arie, die von der Flüchtigkeit handelt, mit solcher Begleitung versiehet, daraus diese Eigenschafft mehr, als aus der Melodie selbst, abzunehmen ist. Z. E. von Telemann [...]." 35 Ibid., 219. 48 Livio Marcaletti: Georg Philipp Telemanns Der neumodische Liebhaber Damon (1724) Beispiel 2 „Ich glühe vor Sehnsucht" aus Telemanns Damon, T. 43-49 Auch die Tanzsätze, die als Vorlage für die Arien fungieren, spielen bei der Darstellung der unzähmbaren Wollust Damons eine wichtige Rolle. Für die Arie „Lösche mein Feuer, sonst muss ich verbrennen", wiederum eine Arie mit einem Text über das Feuer, wählt Telemann eine Canarie in d-Moll, bei der Damon und das Orchester im stetigen Einklang musizieren. Mattheson zufolge drückt die Canarie (die er als Unterkategorie der Gigue klassifiziert) „grosse Begierde" und „Hurtigkeit" aus,36 was sie als besonders geeignet für die zügellose Leidenschaft Damons macht, der keine Zeit verlieren will, um den Nymphen den Hof zu machen (Beispiel 6). 36 Ibid., 228. 49 De musica disserenda XVI/1 • 2020 Beispiel 3 „Ich glühe vor Sehnsucht" aus Telemanns Damon, T. 116-122 Beispiel 4 „Das muntere Leben" aus Telemanns Damon, T. 9-17 Damon Continuo 50 Beispiel 5 Mattheson, Der vollkommene Capellmeister, 201 S1 De musica disserenda XVI/1 • 2020 Beispiel 6 „Lösche das Feuer" aus Telemanns Damon, T. 1-5 Violino I. II, Viola Damon Continuo Das Beharren auf Texten, die von Feuer, Schwefel und Bränden handeln, wirkt in der letzten Arie Damons besonders komisch, wenn er schon gefesselt ist und vergebens auf den Rettungseinsatz anderer Satyren hofft: „Tragt brennenden Schwefel, / tragt Feuer und Flammen / nebst glimmenden Bränden und Kohlen zusammen". Damon muss zum Schluss zugeben, dass er verspottet und geschlagen Arkadien verlassen muss: „O Spott, mich also zu vertreiben". Der Spott ist der Schlüssel des glücklichen Ausgangs dieser Satire, damit „die harte verweisung der laster vnd anmahnung zue der tugend"37 stattfinden kann. Telemanns Der neumodische Liebhaber Damon geht weit über eine bloße Übersetzung und dazugehörige Neuvertonung des Librettos von Pariati hinaus. Wie die Translation studies in den 1990er Jahren festgestellt haben, ist eine Übersetzung oft als Umschreibung („rewriting") eines Ausgangstexts zu betrachten, der nicht nur gemäß der Zielsprache, sondern auch anderer Faktoren wie Mäzenatentum, Ideologie, Poetik usw. überarbeitet wird.38 Während der enge Kreis des frommen Wiener Kaiserhofs keine Warnung vor sexueller Untugend geduldet hätte, war das Zielpublikum des Opernhauses am Gänsemarkt aus politischen Gründen bereits an das „Straftheater" der Hinrichtungen und der Pasquillen gegen einzelne öffentliche Persönlichkeiten gewöhnt. Vor dem Hintergrund des norddeutschen Diskurses über Galanterie konnte deswegen die Handlung von I satiri in Arcadia erfolgreich in eine satirische Oper gegen den modernen „Spaß-galan" umgewandelt werden, vor allem mithilfe musikstilistischer Elemente, welche die musikwissenschaftliche Forschung üblicherweise als „komisch" kennzeichnet, die aber Mattheson zufolge vielmehr als „satirisch" gelten. 37 Opitz, Buch von der deutschen Poeterey, [14v]. 38 Siehe Lefevere, Translation, Rewriting, and the Manipulation. 52 Livio Marcaletti: Georg Philipp Telemanns Der neumodische Liebhaber Damon (1724) Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen Ballerini, Francesco. Il trionfo dell'amicizia e dell'amore. Wien: Cosmerovio, 1711. Barth, Johann Christian. Die Galante Ethica Oder nach der neuesten Art eingerichtete Sitten-Lehre [...]. 6. Aufl. Dresden: Harpeter, 1748. Feind, Barthold. Masagniello furioso. Hamburg: [s.n.], 1706. --. 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Kaznovanja hujskačev so bila že sama po sebi neke vrste gledališče strahu in kazni, medtem ko je dejansko gledališče v Hamburgu na te odgovorilo s satiričnimi uprizoritvami. Primer tovrstnega dela je opera Der neumodische Liebhaber Damon (1724) Georga Philippa Telemanna, ki pa se izkaže za nemško predelavo pastoralne igre I satiri in Arcadia Pietra Pariatija in Francesca Bartolomea Contija, uprizorjene na Dunaju leta 1714. Telemann je predlogo, prvotno izvedeno v čast cesarice Elizabete Kristine ob njenem rojstnem dnevu, predelal v satiro modernega ljubimca. Protagonista opere, mitološkega satirja Damona, nenehno preganja želja po iskanju novih ljubimk. Telemann je v opero uvedel nekaj novih scen in hkrati tudi novo figuro satirja Hippa, ki Damona kot kakšna figura iz poznejše opere buffe spremlja kot služabnik in v operi nastopi v več solističnih komičnih scenah. Od teh je dramaturško pomembnejša razširitev glavne vloge Damona. Damonu je sedaj namenjenih kar osem, medtem ko v dunajski predlogi nastopi le s tremi arijami. Satiričnega cilja opere pa Telemann ni dosegel le s kvantitativno razširitvijo zasmehljive vloge Damona, temveč tudi z različnimi slogovnimi prijemi in popolno pretvorbo predloge. V Contijevi operi prevladujejo nastopi pastirjev in nimf, ki v arijah izražajo svoje ljubezenske stiske. V Telemannovi uglasbitvi ni mogoče spregledati za opero odločilnega satiričnega tona. Melodična struktura Damonivih arij je izrazito smešna in norčava, poleg tega se v besedilih arij nimf in pastirjev vrstijo žalitve in zmerljivke. Ti elementi, nikakor primerni za dramsko tragedijo, so ključnega pomena za satiro in gledališče kazni. V arijah je skladatelj spretno povezal slogovne elemente resne drame z lahkotnejšim momentom po zgledu opernih mediger in komičnih oper. Tudi plesni stavki izražajo Damonovo nebrzdano poželenje, tako na primer ples canarie, iz katerega izhaja arija »Lösche mein Feuer«. Iz neskladnosti različnih slogovnih prijemov postane vloga zasmehljiva in Damon galantni ljubimec, ki ljubi zgolj iz kratkočasja. V skladu s severnonemškim diskurzom o »galanterijah« je iz vsebine opere I satiri in Arcadia torej nastala zasmehljiva zrcalna slika sodobnega galantnega človeka. Glasbeno-slogovne elemente, ki jih muzikološka literatura pogosto šteje med »komične«, je po Matthesonovi razvrstitvi opernih zvrsti torej primerneje označiti za »satirične«. 55