Alfred Denker DIE SOZIALE WELT -VOLLZUGSSTRUKTUREN. HERMENEUTIK DER FAKTIZITAT1 Diese Tagung steht unter einem doppelten Thema „Ontologie des Sozialen" und „Virtualität". Was heißt hier Ontologie? Was bedeutet hier „Virtualität? Was ist das Soziale? In meinem Vortrag möchte ich versuchen einige Schritte auf einem Denkweg zu gehen, auf welchem das Phänomen des Sozialen und der Virtualität sich zeigen könnten. Beide Phänomene zeigen sich in dem, was ich die Vollzugsstruktur des Daseins nennen möchte. Zuerst möchte ich versuchen einen Zugang zum Phänomen des Sozialen zu finden. Wo zeigt das Soziale sich von sich selbst her in seinem Eigenart? Der Zugang zum Sozialen kann nur in der Ontologie gefunden werden, weil nur diese es uns ermöglicht das Seiende als das, was von sich aus uns angeht, zu entdecken. Ontologie ist wiederum nur als Phänomenologie möglich, weil wir nur in unserem Seinsverständnis einen Zugang zum Seienden haben. Phänomenologie verstehe ich hier als eine Hermeneutik der Faktizität. Was ist das Soziale und wie geht es uns an? Wie und wo wird das Phänomen des Sozialen für uns zugänglich? Dies sind alles vorläufig nur mehr oder weniger klare und verständliche Behauptungen, die im Folgenden eine Grundlegung finden sollen. 57 1 Vortrag auf der Konferenz »Virtualität. Phänomenologische Zugänge, PTHV 21.23 11, 2013, Vallender Martin Heidegger hat im Sommersemester 1923 eine berühmte Vorlesung „Ontologie (Hermeneutik der Faktizität)" gehalten.2 Schon der Titel zeigt, dass es in dieser Vorlesung um eine Ausarbeitung der Ontologie als eine phänomenologische Hermeneutik der Faktizität handelt. In einem ersten Gang möchte ich die Grundgedanken dieser Vorlesungen verfolgen. Die Hermeneutik der Faktizität erlaubt uns das Phänomen des Sozialen an seinem Ort zu entdecken und zu verstehen. Danach werde ich anhand der wichtigsten Einsichten des ersten Teils das Phänomen des Sozialen in eine Richtung, die Heidegger nicht gegangen ist, weiter verfolgen. Heideggers Vorlesung wird oft als erste Ausarbeitung von Sein und Zeit gekennzeichnet. Gegenüber Sein und Zeit, das in jeder Hinsicht eine systematische und dadurch terminologisch genau festgelegte Arbeit ist, ist die Vorlesung von 1923 offener und hat vielmehr den Charakter eines Unterwegsseins. In der Vorlesung verwendet Heidegger die formalen Anzeigen 58 „Umwelt, Mitwelt und Selbstwelt", die in Sein und Zeit durch den Trias „inder-Welt-sein, Mitsein und Jemeinigkeit" ersetzt wurden. Jemeinigkeit hat als formale Anzeige den Nachteil, dass ein Teil der Offenheit der Selbstwelt verloren zugehen scheint. In der Einleitung zu seiner Vorlesung geht Heidegger zuerst auf den Titel „Ontologie" ein. Heidegger nimmt die Termini „Ontologie" und „ontologisch" als eine unverbindliche Anzeige in Anspruch: „Sie bedeuten: ein aus sein, als solches gerichteten Fragen und Bestimmen; welches Sein und wie, bleibt ganz unbestimmt".3 Heidegger kritisiert das Ungenügen der überlieferten und der modernen Ontologie. Für jede Ontologie „ist von Anfang an das Gegenstandsein Thema".4 Daraus entspringt, dass sie „sich den Zugang zu den innerhalb der philosophischen Problematik entscheidenden Seienden: Dasein, aus dem und für das Philosophie ,ist', verlegt".^ Was ist dieses Seiende Dasein? Dasein ist das Seiende, das wir je selbst sind. Formal angezeigt ist das Dasein „Faktizität", d.h. „das eigene Dasein als befragt auf seinen Seinscharakter".5 2 Martin Heidegger, Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), hrsg. von Käte Bröcker-Oltmanns (GA 63), Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main, 1988. 3 Martin Heidegger, Ontologie (GA 63), 1. 4 Martin Heidegger, Ontologie (GA 63), 3. 5 Martin Heidegger, Ontologie (GA 63), 3. Dies bedeutet, dass die Frage nach dem Sozialen eine ontologische Frage ist, die nur in einer Hermeneutik der Faktizität beantwortet werden kann. „Das eigene Dasein ist, was es ist, gerade und nur in seinem jeweiligen ,Da'."6 Dasein zeigt sich so als Erschloßenheit und Zeitlichkeit. In diesem Da ereignet sich der Sinn von Sein und damit auch der Sinn des Seins des Sozialen Welt. Die Faktizität ist die formale Anzeige der Vollzugsstruktur des Menschseins. Als solche ist sie unhintergehbar. Es gibt zuerst die Faktizität und weiter nichts. Dieses „Es gibt" ist das große Wunder, dass unser Denken ins Staunen versetzt und so der Anfang alles Philosophierens ist. Die Faktizität ist das Urphänomen der Phänomenologie und sollte es eine soziale Welt geben, dann soll sie sich innerhalb dieser Beweglichkeitsstruktur zeigen. Anders gesagt, die soziale Welt kann es nur innerhalb der Faktizität geben. Ehe wir uns näher mit der formalen Anzeige und der Faktizität befassen werden, möchte ich noch kurz auf ein Moment dieses „Es gibt" hinweisen. Es gibt. Was gibt es? Die Faktizität und nichts weiter? Oder doch: In diesem „Es 59 gibt" der Faktizität verbirgt sich das „Es gibt". Wie wir dieses oft übersehene Moment des „Es gibt" deuten können, soll hier eine offene Frage bleiben. Eine Möglichkeit wäre dieses „Es gibt" der Faktizität mit Heidegger ales Ereignis des Seyns zu denken. Es wäre auch möglich mit Schelling zu versuchen dieses „Es gibt" als Freiheit zu verstehen. Und selbstverständlich öffnet dieses „Es gibt" der Religion die Tür. 2. „Die Vorhabe, in der Dasein (jeweilig eigenes Dasein) für diese Untersuchung steht, läßt sich in formaler Anzeige fassen: Dasein (faktisches Leben) ist Sein in einer Welt."® Hierin liegen drei Momente: die Vorhabe ist die Anschauungsquelle (das je eigene Dasein), die formale Anzeige ist leer und muss vom Phänomen her erfüllt werden. Die formale Anzeige kann aber nur vom Phänomen her erfüllt werden, wenn sie unser Verstehen auf die rechte Blickbahn bringt. Hier ist das Phänomen die Vollzugsstruktur der Faktizität als ein Oszillieren zwischen Aktualität und Virtualität. Diese Vollzugsstruktur aber ist nur im Vollzug unseres eigenen Mensch-Seins zugänglich. Dies bedeutet, dass Da- oder Mensch-Sein nie Gegenstand einer objektiven Betrachtung werden kann. Die Sache der Phänomenologie ist nur in meinem eigenen Leben auffindbar. Der Vollzugsmoment hängt eng mit dem ständig sich wandelnden Leben zusammen und führt dazu, dass wir nur im Mitgehen mit der Lebensbewegung den Zugang zum Phänomen finden können. Eine begriffliche Festlegung dieser Bewegung würde das Phänomen von vornherein auf einen bestimmten „Wasgehalt" einengen und damit die Art und Weise, wie es sich von sich selbst her gibt, wieder zum Verschwinden bringen. Der „Schlüsselbegriff" der phänomenologischen Methode Heideggers ist die formale Anzeige. Dennoch zeigt sich hier auch ein Problem, weil Heidegger die 60 phänomenologische Methode der formalen Anzeige nie als Methode wirklich ausgearbeitet hat. Für ihn ist sie eine Methode, die nur im Vollzug erlernt werden kann und daher einer langen Einübung bedarf. Was es heißt, Mensch zu sein, können wir nur in unserem eigenen Leben erfahren, dass wir selbst leben und also vollziehen müssen. Doch auch wenn dieser Vollzug immer ganz konkret und einmalig ist, bleibt dieser doch in seiner Struktur ein allgemeinmenschliches Phänomen. Die formale Anzeige ist von daher der Versuch, in diesem konkreten Vollzug die Vollzugsstruktur des Menschseins als solche aufzudecken. In die eine Richtung abstrahiert die formale Anzeige alles Inhaltliche vom jeweiligen konkreten Vollzug des Daseins, etwa die Art und Weise, wie Paulus sein Christ-Sein vollzieht, bis schließlich nur noch die reine formale Vollzugsstruktur übrig bleibt. In die andere Richtung versucht die formale Anzeige dann, diese formale Struktur wieder ins Konkrete zurückzubinden, um zu gewährleisten, dass diese sich nicht im rein Abstrakten verliert. Die formale Anzeige gleicht von daher einem Hin- und Herbewegen zwischen diesen beiden Polen. Eine formale Anzeige zeigt uns nicht, was eine Vollzugsstruktur des Daseins ist, sondern zeigt an, wo wir diese Struktur in unserem eigenen Dasein finden können. Die formale Anzeige ist formal, weil sie von allen konkreten inhaltlichen Bestimmungen abstrahiert. In der Phänomenologie Heideggers geht es nicht darum, die Phänomene des Menschseins in ihrer konkreten, inhaltlichen Fülle zu beschreiben. Was er sichtbar machen will, ist der lebendige Bezug zum Seienden, das selbst noch einmal in seinem konkreten Vollzug betrachtet werden muss. Besonders deutlich wird dies für Heidegger z.B. im Phänomen der Angst. Was die Angst tatsächlich ist, lässt sich nicht in einer distanzierten theoretischen Betrachtung sagen, sondern nur in der konkreten Situation selbst, in der sie uns als unausweichliche Stimmung überfällt und dadurch unser Dasein als Ganzes bestimmt. 3. Der Mensch ist das Seiende, das da ist, also aus-steht im Da des Seienden im Ganzen. Dieses Da ist eine Offenheit, die mit dem Sinn schwanger geht. Das unscheinbare und uns zumeist entgehende „es gibt" ist der Ausgangspunkt von Heideggers Überlegungen. Alles, was ist, ist das, was sich in der menschlichen 61 Faktizität zeigt. Dasein kann nie objektiv und messbar gegeben sein, weil Dasein immer bereits verstehend ist. Verstehen meint hier sowohl den apriori, also von vornherein schon stattgefunden habenden Entwurfvon Sinn und Bedeutung als auch das a posteriori, nachträglich vorgenommene Interpretieren dieses Sinns und dieser Bedeutung. A priori bedeutet hier also vorab schon mitgegeben sein und zugleich die Möglichkeit des Phänomens mit bedingend. Am einfachsten können wir uns dies verdeutlichen, wenn wir einmal darauf achten, dass die Welt, in der wir uns befinden, uns immer schon in ihrer Verständlichkeit erschlossen ist, also bereits eine Interpretation der Wirklichkeit ist. Das Dasein hat die Welt immer schon interpretiert und verstanden, noch ehe ein individuell daseiender Mensch auf die Welt kommt, um sich diese Interpretation und diesen Entwurf anzueignen. Das Dasein des Menschen ist ein solches, das von Anfang an bereits aus sich herausgegangen ist und sich in einem geordneten und bedeutungsvollen „Da" befindet. Und auch dieses „Da" ist eine formale Anzeige, die eine Grunderfahrung des menschlichen Lebens anzeigt. Dasein ist je ein aus-stehendes Dasein, das nie in sich verschlossen ist, weil es sich immer schon in einer Welt (als sinnvoller Bedeutungsganzheit) befindet und daher von vornherein in Korrelation steht zu allem, was es in dieser Welt 62 gibt. Weil es aber in dieser Welt neben meinem Dasein auch das Dasein der Anderen gibt, ist das Dasein immer auch ein Sein mit Anderen - und bleibt dennoch je meines, das durch die Beziehung zu sich selbst gekennzeichnet ist. Umwelt, Mitwelt und Selbstwelt sind daher gleichursprüngliche Strukturen des Daseins, die einander gegenseitig bestimmen. In seiner Spätphilosophie verwendet Heidegger die formale Anzeige des Spiegelspiels der Vier im Geviert. Hier könnten wir das Verhältnis der drei Welten auch als ein Spiegelspiel formal anzeigen. Es ist ein Spiel, da es faktisch ist und kein Grund oder Zweck außer sich hat und weil das Spiegeln immer schon stattgefunden hat und nie aufhören wird. Ohne Verständnis meiner Um- und Mitwelt kann ich mich in meiner Selbstwelt nie verstehen. Die drei Welten sind nicht außer einander, sondern letztlich in ihrem Spiegeln eine und dieselbe Welt. 4. Die Sorge zeigt die Vollzugsstruktur des Daseins formal an. Konkret offenbart das Phänomen der Sorge sich im Besorgen von diesem und jenem, in der Sorge um andere Menschen und in der Selbstbekümmerung. Diese dreigliedrige Struktur zeigt sich in der Intentionalität des Daseins, in seinem ursprünglichen Ausgerichtetsein auf etwas hin. Das Dasein ist das Leben, das sich selbst als Leben erfährt, immer schon erfahren hat und das wir je selbst sind. Das Dasein ist immer auch außer sich - zugleich auf etwas anderes und sich selbst bezogen. Die Selbstbeziehung vollzieht sich als Reflexion, die bereits eine Offenheit (formal angezeigt: das Da) voraussetzt, in welcher das Seiende und der daseiende Mensch frei gegeben werden. Erst innerhalb dieser Offenheit kann es den Sinn von Sein geben. Nach Heidegger sind die Selbst-, Mit- und Umwelt konstitutiv für die Seinsweise des Daseins. Wir befinden uns immer schon in einer Welt, die uns in ihrer Verstehbarkeit bereits erschlossen ist. Das Verhältnis von Dasein und Sein ist ein Verstehen. In allem, was wir tun und lassen, haben wir ein vages und durchschnittliches Seinsverständnis. Die Frage: Was heißt Sein? kann nicht unmittelbar und eindeutig beantwortet werden. Denn was Sein heißt, können wir nur erfahren in der Verflechtung von Vollzugsstrukturen, die konstitutiv sind für das Dasein. Auch hier wiederum zeigt sich, dass die allgemeine Frage nach der Struktur des Daseins immer zugleich eine ganz konkrete ist. Das Sein ist ein Phänomen, das sich nur im Seinsverständnis des Daseins zeigt. Dasein ist die Unverborgenheit des Seins und so auch die Lichtung, innerhalb derer das Sein erfahren werden kann. Sein ist nur, insofern und solange es Dasein gibt. Heidegger spricht daher auch vom ontologischen Vorrang des Daseins. Das Dasein ist das Seiende, dem „es in seinem Sein um dieses Sein selbst geht".7 Die Vollzugsstruktur dieses Verständnisses muss allererst entdeckt und aufgedeckt werden, damit man den Sinn von Sein in seiner Bedeutsamkeit überhaupt erschließen kann. Daraus ergeben sich nach Heidegger zwei Schwierigkeiten: Die erste besteht darin, dass wir das Dasein ontisch selbst sind, was zugleich der Grund dafür ist, dass uns dieses Dasein ontologisch das fernste ist. Die existenziale Vollzugsstruktur des Daseins zeigt sich zwar in den konkreten Phänomenen des menschlichen Lebens, bleibt aber als solche zumeist verdeckt, weil diese immer sofort unsere ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Im Grunde ist dies ein Wesenszug, der für alle wissenschaftlichen Disziplinen 63 kennzeichnend ist, die sich mit dem Menschen befassen. Die nur im eigenen Dasein erfahrbare Vollzugsstruktur bleibt in ihnen außen vor und kann daher auch nicht ins Blickfeld ihres Interesses gelangen. Wir sind immer schon bei dem Seienden in der Welt und unseren Mitmenschen und kommen erst von dorther auf uns selbst (in unserer Jemeinigkeit) zurück. Die zweite der genannten Schwierigkeiten besteht darin, dass das Dasein nie mit sich selbst zu einem Ende kommt, sondern immer ein Dasein ist, das auf dem Weg bleibt. Doch auch wenn wir niemals in der Lage sein werden, das Dasein als Ganzes phänomenologisch zu erschließen, so können wir dennoch versuchen die Strukturganzheit dieses Daseins aufdecken. Heidegger wird daher in seiner existenzialen Analytik die Vollzugsstruktur des Daseins mithilfe von Existenzialien herausstellen und eben nicht anhand von Kategorien, die für das Sein alles natürlichen Seienden bestimmend sind. Die Existenzialien haben die Funktion einer formalen Anzeige und zeigen daher auch nur das Dasein in seiner Offenheit und Nicht-Festgelegtheit oder Virtualität an, ohne inhaltlich etwas über das Was-Sein auszusagen. 64 Heidegger beschreibt das Sein des Daseins als Möglichkeit und Seinkönnen. Existenz ist Heideggers formale Anzeige des Phänomens, dass das Dasein sich zu seinem Sein als seiner eigensten Möglichkeit verhält. Dasein ist buchstäblich ein Sein-bei, ein bei seinem eigenen Sein dabei sein. Als wirkliches Möglichsein hat das Dasein nicht nur Eigenschaften, die es bestimmen, sondern auch Möglichkeiten, die es verwirklichen und auch wieder verwerfen kann. Das Dasein ist je seine eigene Möglichkeit und erfährt sich darin in seiner Freiheit. Statt Freiheit könnten wir auch die formale Anzeige Virtualität verwenden, wobei wir aber streng darauf achten sollen, dass Virtualität kein Begriff ist. Da das je seine eigene Möglichkeit-sein des Daseins virtuell ist, erscheint es in dem Existenzvollzug als Wirkung in der Welt, aber die Virtualität als solche erscheint nie, weil sie immer ein Möglichsein bleibt und nie ein Realsein wird. Das Ereignis des Seins ist in diesem Sinne auch als ein Freilassen zu verstehen. 5. Wie wir schon gesehen haben, ist unser Dasein in seiner Faktizität sein in einer Welt. Da, wo Dasein ist, befindet es sich immer schon in einer verständlichen Welt. Ein Mensch kann nie ohne Welt sein. Aber zugleich, geht es jedem Mensch in seinem Sein um dieses Sein selbst. Formal angezeigt ist dieses Phänomen die Sorge. Die Welt ist das, innerhalb welches alles Seiende uns in je unterschiedlichen Weisen angeht. Die Welt ist je meine und in meinem Sein geht es mir um dieses Sein selbst: Selbstwelt. Die Welt, die sich faktisch in der Besorgnis erschließt, ist die Umwelt. Dasein ist nie isoliert, sondern faktisch immer sein mit anderen: Umwelt. Diese drei „Welten" sind immer je zugleich erschlossen und bestimmen einander gegenseitig. Es gibt weder eine Selbstwelt an sich, isoliert von der Mit- und Umwelt, noch eine Umwelt isoliert von einer Selbst- und Mitwelt und auch keine Mitwelt isoliert von einer Selbst- und Umwelt. Das Dasein ist Heidegger zufolge immer verstehend und hat ein vages und alltägliches Seinsverständnis. Das Verstehen zeigt sich in der Erschlossenheit des Daseins. In dieser Erschlossenheit weiß das Dasein, wie es mit dem Seienden umzugehen hat, und erschließt so gleichursprünglich das Sein des Seienden. Das Sein des Seienden entdecken wir als das, was Heidegger Zuhandenheit nennt. Das Seiende ist uns zuerst in die Hand gegeben und wird von uns in seiner handfesten Verwendbarkeit als „Zeug", seine Verwendbarkeit als Ding; aufgenommen. Ein Hammer eignet sich zum Hämmern. Das zuhandene Seiende steht in einer Beziehung zum Sein des Daseins. Eine Kreide, die zu hart ist, behindert mich beim Schreiben an der Tafel. Erst wenn das Zeug, wenn Dinge nicht richtig funktionieren, werden wir uns des Seins des Zuhandenen bewusst. Wir schauen uns dann das Zeug als Gegenstand eigens an und betrachten es in seiner reinen Vorhandenheit. Das Seiende, das zunächst dem Dasein als Zeug in seiner Verwendbarkeit zuhanden war, kommt erst jetzt als Gegenstand, und damit als ein Objekt, dem Dasein gegenüber, zum Stehen. Diese objektive Beziehung zwischen dem vorhandenen Gegenstand und dem Dasein als Subjekt ist die Möglichkeitsbedingung der Wissenschaft. In ihr spielt es keine Rolle mehr, wer konkret das Erkenntnissubjekt ist, denn wissenschaftliche Ergebnisse sind objektiv und allgemeingültig. Das Sein von anderen Menschen haben wir immer schon als Mit-Sein 65 verstanden. Mein eigenes Sein verstehe ich als das, worum es mir in meinem Sein geht. Als existierendes Verstehen hat das Dasein die Struktur des Entwurfs. Dasein ist je schon in die Möglichkeiten, die es wirklich ist, vorausgeworfen, und es entwirft sich im Hinblick auf Möglichkeiten, die es sein könnte. Dasein ist wesentlich Freiheit und Möglichkeit. Weil das Dasein, solange es ist, nie alle seine Möglichkeiten verwirklicht hat, ist es auch mit sich selbst nie ganz an sein Ende gekommen. Das Dasein hat, solange es ist, immer noch zu sein und eine Schuld abzutragen. In seinen Entwürfen erschließt das Dasein den Spielraum, innerhalb dessen es seine Möglichkeiten hat. Diese Erschlossenheit erhellt die Existenz des Daseins. Heidegger bezeichnet dies durch die formale Anzeige der Lichtung: Das Dasein „ist an ihm selbst als In-der-Welt-Sein gelichtet, nicht durch ein anderes Seiendes, sondern so, daß es selbst die Lichtung ist. Nur einem existenzial so gelichteten Seienden wird Vorhandenes im Licht zugänglich, im Dunkel verborgen".8 Verstehen, Erschlossenheit und Entwurf bilden in ihrem Wechselspiel, die ekstatische Einheit der Zeitlichkeit, die das Dasein ursprünglich erhellt. Das In-der-Welt-Sein des Daseins wird also in erster Linie als ein pragmatisches verstanden. Selbst das Dasein von anderen Menschen erfahren wir zuerst in den Spuren, die dieses in der Welt hinterlassen hat. So zeigt sich etwa das Feld zunächst als das Eigentum dieses oder jenes Bauern und als entweder gut oder schlecht bestellt. Das Buch, das wir lesen, haben wir bei diesem oder jenem Buchhändler gekauft, oder es war das Geschenk von dieser oder jener Freundin. Weil das Dasein ursprünglich ein pragmatisches In-der-Welt-Sein ist, droht das Sein der Natur auf einen bloßen Gebrauchswert für den Menschen reduziert zu werden. Alles Seiende was uns in der Welt angeht, möchte ich formal mit Ding anzeigen. Das Ding dingt Welt: Selbst-, Mit- und Umwelt. Im geschenkten Buch ist die Freundschaft des Schenkers geborgen, ebenso wie meine Freude über das Geschenk. Jedes Ding verweilt die drei Welten, darum sind wir vom Ding immer betroffen. Ein Ding kann ein Zeug werden oder als Zeug 66 ein Gegenstand. Für ein Kind ist jedes Ding noch ein Ding. Meine Tochter von gerade fünf hat ein Kuscheltier: ein Krokodil. Er ist ihr Freund; ohne ihn kann sie nicht schlafen und wenn ich seine Stimme „tue", unterhaltet sie sich sehr ernsthaft mit ihm. Dennoch weiß sie ganz genau, dass es ein Kuscheltier ist. Für sie dingt das Krokodil Welt. Das Krokodil ist teil ihrer Selbstwelt als Spiegel ihres Selbst, Teil ihrer Mitwelt als Freund und Teil ihrer Umwelt als Kuscheltier. Ein ernsthafteres Beispiel ist eine Kirche. Sie ist zuerst ein Ding, da sie Welt dingt. Oft bestimmt sie die Silhouette des Dorfes oder der Stadt in der Umwelt. Sie bestimmt die Mitwelt der Glaubensgemeinschaft und wenn ich sie betrete um zu beten, bestimmt sie meine Selbstwelt. Ich merke jedes Mal, dass ich, wenn ich eine Kirche betrete, in eine andere Stimmung versetzt werde. In unserer Zeit stehen Kirchen oft nur noch als Gebäude oder Gegenstände herum. Manchmal werden sie zur Buchhandlung, Hotel, Cafe oder Kinderspielplatz umgebaut. Ihr Dingcharakter bleibt dann noch zumindest einigermaßen erhalten. Max Weber hat vor fast 100 Jahre von der Entzauberung unserer Welt gesprochen. Dass die Welt des Kindes während des Aufwachsens entzaubert wird, gehört zu unserer Faktizität und lässt sich auch nicht auf irgendeiner künstlichen Weise rückgängig machen. Das Phänomen, das Weber beschreibt, ist der Dingverlust des Dinges. Wenn alles zum Gegenstand reduziert wird, wird es letztlich keine Dinge mehr geben. 6. Dasein ist Sein in einer Welt. Aber wie kann das in einer Welt Sein überhaupt möglich sein? Genau an diesem Punkt können wir das Phänomen über Heideggers Denken hinaus in eine andere Richtung weiter verfolgen. Die Einheit der drei Welten liegt in dem, was ich mit Leiblichkeit anzeigen möchte. Dasein ist je leiblich und erst diese Leiblichkeit ermöglicht uns in einer Selbst-, Mit- und Umwelt gelichtet zu sein. Ohne Leiblichkeit gibt es weder Zeug, noch Sprache, weder ein Selbstverhältnis, noch einen anderen Menschen. Leiblichkeit können wir in drei weiteren Richtungen erschließen: 1. Gebürtigkeit 2. Geschlechtlichkeit 67 3. Sterblichkeit Jedes leibliches Wesen ist geboren. Die Geburt setzt die Eltern voraus in ihrer geschlechtlichen Differenz. Jedes leibliches Wesen ist sterblich, aber nur der Mensch hat ein Verhältnis zu seiner Sterblichkeit. Damit haben wir auch den ontologischen Ort des Sozialen gefunden. Die Mitwelt ist die soziale Welt und ist als solche in der Leiblichkeit des Daseins verwurzelt. Da das Dasein leiblich ist, ist es geboren, geschlechtlich und sterblich. Dennoch bleibt Dasein eine Vollzugsstruktur, die von der Virtualität bestimmt ist. Mein Dasein als das Haben einer Selbst-, Mit- und Umwelt, muss ich je neu vollziehen. Dieser Vollzug kann immer Gelingen oder Misslingen. Gelingen und Misslingen sind die zwei Seinsarten der menschlichen Existenz. Ich vermeide hier ganz bewusst Heideggers formale Anzeige „Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit". Der Vollzug der Existenz kann nie ganz eigentlich und auch nie ganz uneigentlich sein. Dazu kommt, dass diese Begriffe leicht als ethische Kategorien missverstanden werden können. Menschliches Dasein, menschliche Existenz, menschliches Leben vollzieht sich in der Spannung von Gelingen und Misslingen. Philosophen wie Rainer Marten haben versucht das menschliche Leben als Lebenskunst einsichtig zu machen. Ich halte diesen Versuch für verfehlt. Leben ist keine Kunst - wir vollziehen es von selbst in 68 der Spannung zwischen Aktualität und Virtualität. Leben kann in all seiner Formen gelingen oder misslingen. 7. Da alles, was für mich ist, nur ist, wenn ich davon angegangen werde, können wir mit Hilfe von Nähe und Ferne auch das Spiegeln der drei Welten besser verstehen. „Das Ausbleiben der Nähe bei allem Beseitigen der Entfernung hat das Abstandslose zur Herrschaft gebracht."9 Damit geht auch die Ferne verloren. Die Virtualität gedacht als virtuelle Welt ist im eigentlichen Sinne keine Welt, sondern ein Ding. Ich möchte für die virtuelle Welt die formale Anzeige „Internet" verwenden. Als Ding hat das Internet das Vermögen des Näherns. Internet kann nur in unserer Welt zugänglich sein. Wenn wir verstehen, dass das Internet ein Ding und keine Welt ist, zeigt sich dass, das Internet in unserem in-der-Welt-sein vernetzt ist. Deshalb kann das Internet als Virtualität im engen Sinne eine Wirkung haben in unserer Selbst-, Mit-und Umwelt. Wenn ich on-line ein Buch oder ein Pizza bestellen, möchte ich doch das ein Buch oder Pizza nicht virtuell, sondern „wirklich" geliefert wird. Die „soziale Netzwerken wie Facebook gehören heutzutage zu unserer Mitwelt. Da das Internet virtuell ist, gibt es unendliche Möglichkeiten unsere Inter-Identität zu gestalten. Das Internet hat etwas mit dieser Abstandlosigkeit zu tun. Wir können jede Sekunde erleben, was 20.000 Kilometer von uns entfernt, geschieht. Aber hat das Internet auch das Vermögen zu nähern? Anders gesagt, ist das Internet ein Ding? Um diese Frage beantworten zu können sollten wir versuchen die Vollzugsstruktur des menschlichen Internetgebrauchs zu verstehen. Wie oben gesagt, steht jeder Vollzug menschlicher Existenz in der Not des Gelingens und Misslingens. Das Internet hat das Vermögen unsere Selbst-, Mit- und Umwelt zu bestimmen. Das Dasein des Menschen vollzieht sich. Es ist nie gegeben und kann nur von meiner in der Welt sein aus erschlossen werden. Gelingen und Misslingen 9 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen, Max Niemeyer,19 2006, 2. sind die Seinsarten des menschlichen Lebensvollzugs. Sie bestimmen unser in der Welt seins und damit auch unsere soziale Welt. Die soziale Welt ist nur in meiner eigenen Existenz zugänglich und kann deshalb nur phänomenologisch erschlossen werden. Die Wissenschaft reduziert die soziale Welt zu einem Gegenstand der Betrachtung und Forschung. Solange wir nicht verstehen, dass die soziale Welt unabtrennbar von unserer Selbst- und Umwelt ist, werden wir das Phänomen des Sozialen verpassen. Die Gleichursprünglichkeit von Selbst-, Mit- und Umwelt und ihr Spiegelspiel führen uns aber auch in einen hermeneutischen Zirkel. Wir können nur versuchen uns selbst besser zu verstehen, aber wir werden uns nie durchsichtig werden. Das menschliche Dasein ist und bleibt immer geheimnisvoll, weil es als Seinkönnen immer virtuell bleibt. Mein Lebensentwurf ist virtuell, solange ich diesen nicht in meinem Dasein vollziehe und so aktualisiere. Die Geburt ist ein Geheimnis, ebenso wie der Tod. Wir sind geboren, leiblich und sterblich und letztlich nur 59 menschlich - vielleicht oft allzumenschlich, oder anders gesagt allzuvirtuell.