SPIEGEL-VÖLKER Das Bild der Juden, Indianer und Slowenen als utopische Chiffre im Werk Peter Handkes Armin A. Wallas "Es gibt das andere Volk, der anderen Geschichte." Peter Handke: Kindergeschichte (56) Im Prozeß der Sprach-Arbeit, die Peter Handke in seinen Texten beschreibbar zu machen versucht, indem die Aufmerksamkeit des Lesers auf Verborgenes, Unscheinbares, Übersehenes gelenkt und gleichsam ein Zeichen-System der aus ihrer Banalität entrückten Alltagsgegenstände konstruiert wird, unternimmt der Erzähler immer wieder neue Anläufe zu einer Umgrenzung seines historischen Standortes.* Die Ich-Erzähler bzw. Personen in Handkes Erzählungen wie der Geologe Sorger, der Archäologe Loser oder der Grenz-Gänger Filip Kobal sind Suchende, Überschreiter von Grenzbereichen, geographisch und existentiell Heimatlose; die Tätigkeit des Geologen wie jene des Archäologen verweist symbolisch auf das Freilegen und Vermessen des Verborgenen bzw. Verschütteten, das gerade in Grenz-Bereichen, an der Peripherie, in den Schwellen-Zonen, erkundet wird. Im Kontext dieses ständig in Frage gestellten, letztlich ausweglosen Prozesses der Identitätsfindung bzw. -suche sehen sich die Protagonisten, ausgesetzt der existentiell bedrängenden Erfahrung eines drohenden Subjekt- und Sprach-Verlusts, auch vor die Notwendigkeit zu einer Reflexion über die Begriffe * Im folgenden Text werden folgende Siglen der zitierten Werke Peter Handkes verwendet: CS = Der Chinese des Schmerzes. Frankfurt am Main 1986 (= suhrkamp taschenbuch, Bd. 1339) GB = Die Geschichte des Bleistifts. Frankfurt am Main 1985 (= suhrkamp taschenbuch, Bd. 1149) K = Kindergeschichte. Frankfurt am Main 1984 (= suhrkamp taschenbuch, Bd. 1071) KB = Der kurze Brief zum langen Abschied. Frankfurt am Main 71979 (= suhrkamp taschenbuch, Bd. 172) LH = Langsame Heimkehr. Erzählung. Frankfurt am Main 1984 (= suhrkamp taschenbuch, Bd. 1069) LSV = Die Lehre der Sainte-Victoire. Frankfurt am Main 1984 (= suhrkamp taschenbuch, Bd. 1070) PW = Phantasien der Wiederholung. Frankfurt am Main 1983 (= edition suhrkamp, Neue Folge, Bd. 168) ÜD = Über die Dörfer. Dramatisches Gedicht. Frankfurt am Main 1984 (= suhrkamp taschenbuch, Bd. 1072) VÜJ = Versuch über die Jukebox. Erzählung. Frankfurt am Main 31990 VÜM = Versuch aber die Müdigkeit. Frankfurt am Main 1992 (= suhrkamp taschenbuch, Bd. 2146) Weitere Siglen vgl. in Anm 17. 63 'Volk' und 'Geschichte' gestellt, die sich in der Spannung zwischen dem Bewußtwerden von Schuld und der Konstruktion von Utopien vollzieht. Im folgenden soll versucht werden, eine Annäherung an Handkes Begriff des 'Volkes' zu finden, der in der Ambivalenz zwischen Bewältigungsversuchen seiner eigenen Herkunft aus einem 'Volk der Täter' und dem Wunsch nach der Konstruktion und zumindest imaginativen Identifikation mit Gegen-Völkern (Juden, Indianern, Slowenen), die ihm gleichbedeutend mit einer Überwindung der Herrschafts- und Gewalt-Geschichte erscheint, steht. In einem zweiten Teil wird am Beispiel der Stellungnahmen Handkes zur slowenischen Staatsgründung im Jahre 1991 die Interdependenz von Fiktionalisierungsstrategien und politischer Argumentation untersucht. Das 'Unvolk' und die 'erträumten Völker' Die Herkunft aus Österreich erlebt Handke als traumatisch erfahrene Zugehörigkeit zur Geschichte des nationalsozialistischen Völkermordes.1 Die Deutschen und Österreicher sind behaftet mit dem Stigma der Täterschaft, einer historischen Verantwortung, die nicht aufgearbeitet, sondern überdeckt und verdrängt wurde, so daß unter der Oberfläche der Anpassung an die westliche Konsumgesellschaft ein explosives Gemisch von Gewalttätigkeit und Haß virulent bleibt. Der Ich-Erzähler der Kindergeschichte fühlt sich als "der Abkömmling eines Unvolks, als der würdelose Ohne-Volk" (K 62), für den es keine Tradition gibt; Valentin Sorger interpretiert sich in der Langsamen Heimkehr als "Nachkomme von Tätern" und "sah sich selber als Täter; und die Völkermörder seines Jahrhunderts als Ahnherren" (LH 103); im Versuch über die Müdigkeit werden die Österreicher als "das erste unabänderlich verkommene, das erste unverbesserliche, das erste für alle Zukunft zur Sühne unfähige, umkehrunfähige Volk der Geschichte" bezeichnet (VÜM 32), als das Volk der Un-Müden, als "Haufen fortgesetzter Gewalttäter und Handlanger [...], von alt, doch nicht müde gewordenen Massenmord-Buben und -Dirndeln" (VUM 31); im Roman Die Wiederholung fühlt sich Filip Kobal unter seinen Landsleuten als Ausgestoßener, der ihnen gegenüber 'Haß' und 'Ekel' empfindet: "In dem Zwanzigjährigen lebte auf, wie in dieser Menge nicht wenige ihre Kreise zogen, die gefoltert und gemordet oder dazu wenigstens beifällig gelacht hatten, und deren Abkömmlinge das Althergebrachte so treu wie bedenkenlos fortführen würden" (W 325).2 In einem Interview teilt Peter Handke mit, daß er auf 1 Vgl. hierzu Peter Handke: Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen. Ein Gespräch, geführt von Herbert Gamper. Zürich 1987, S. 116: "Ich wüte und bin zornig über die Nachwehen des Dritten Reiches, die vor allem in Österreich noch fast ungehemmt weitergehen; aber zugleich bestimmt es eigentlich ganz wenig, ziemlich wenig - es bestimmt schon mit - von meinem täglichen Blick aus dem Fenster, also ich müßte dann übertreiben. Man übertreibt zwar immer, aber in diesem Fall macht einem die Übertreibung keine Freude [...]. Ich hab in meinem Leben außer dem, was ich über den Nationalsozialismus gelauscht, gesehen und gelesen habe, im Grund kein historisches, mich bestimmendes Ereignis gehabt - es sei denn [...] die Zweisprachigkeit in dem Süd-Kärnten, wo ich aufgewachsen bin". - Zu Handkes Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus vgl. Ursula R. Mahlendorf: Confronting the Fascist Past and Coming to Terms With It: Peter Handke's 'Der Chinese des Schmerzes'. In: Austrian Writers and the Anschluss: Understanding the Past - Overcoming the Past. Edited and introduced by Donald G. Daviau. Riverside 1991, S. 286-297; Thomas F. Barry: Nazi Signs: Peter Handke's Reception of Austrian Fascism. In: ebd., S. 298-312; vgl. auch Norbert Gabriel: Peter Handke und Österreich. Bonn 1983. 2 Vgl. auch die Aussage der 'Alten Frau' in Über die Dörfer. "Du bist in einem Land, das so klein ist wie bösartig; voll von Gefangenen, die in ihren Zellen vergessen werden, und noch voller von den vergeßlichen Kerkermeistern, die nach jeder Schandtat dicker im Amt sind" (ÜD 83f.); der Ich-Erzähler in Der kurze Brief zum langen Abschied denkt als Kind, daß es in Österreich "nicht die üblichen Zeichensysteme" gäbe (KB 70). 64 seinen Wanderungen durch Österreich versucht habe, sich "ein anderes Österreich vorzustellen", daß ihm dies aber "eigentlich nicht gelungen" sei.3 In Eine andere Rede über Österreich heißt es: "Tatsache ist: An der Stelle von Staatsmännern haben wir Staatsmännlein, und folglich sind wir kein Volk, sondern bloße Bevölkerung."4 Die Assoziierung der Österreicher mit der Gewalt-Geschichte des Nationalsozialismus beinhaltet eine Schuldzuweisung, die ihnen den Status als 'Volk' aberkennt und anstelle der Vorstellung eines 'Volkes' die Vision eines sprachlosen 'Haufens' von in ihrer Vereinzelung voneinander abgekapselten wirklichen und potentiellen Tätern evoziert. Der Begriff 'Volk', wie ihn Handke versteht, entspricht nicht der herkömmlichen Definition einer ethnisch umgrenzten Bevölkerungsgruppe, sondern beinhaltet die utopische Dimension im Sinne einer 'idealen Gemeinschaft'. Das 'Volk' ist demnach als eine in die Imaginarität der fiktional konstruierten Utopie entrückte Kategorie eines als ideal empfundenen menschlichen Zusammenlebens zu verstehen. Im Œuvre Peter Handkes finden sich zahlreiche Stellen, in denen der Begriff 'Volk' - als existentielle Kategorie - im Sinne einer Chiffre für Zusammengehörigkeit verwendet wird: so etwa unterscheidet der Erzähler bei der Erinnerung an seine Kindheits-Landschaft zwischen dem Un-Volk, wie er die Mehrheitsbevölkerung Österreichs nennt, und dem "Volk der Müdigkeit" (VÜM 32f.), dem seine aus der ländlichen Unterschicht stammenden Vorfahren angehörten; im entbehrungsreichen Leben der Knechte und Keuschler wie auch des 'Volkes der Zimmerlcutc' (ÜD 43) findet er Ansatzpunkte zu einer Identifikation; eine solche nicht ethnisch, sondern sozial definierte Verwendung des Wortes 'Volk' wird ergänzt durch Ausdrücke, in denen das Wort eine psychische oder mentale Übereinstimmung signalisiert, wie jene über das "fremdartige Volk" der Kinder (K 94)-\ das verstreute und vereinzelte "Volk der Täter" (CS 108), das "Volk der Henker", dem ein Hund zugeordnet wird (SV 46), oder das "Volk der Schöpfer" (ÜD 120), das im Dramatischen Gedicht Novas, in dem der "Geist des neuen Zeitalters" (ÜD 109) verkündet wird, als utopische Kategorie perspektiviert ist.6 Der heimatlos gewordene Erzähler ist sich sowohl der Unmöglichkeit von 'Heimat' und 'Heimkehr' als auch seiner Nichtzugehörigkeit zu einem außerhalb seiner Imagination existierenden 'Volk' bewußt, dennoch unternimmt er immer wieder hinausgeschobene, auf Umwege geleitete und erneut verzögerte Versuche zur 'Heimkehr' (vgl. etwa LH 40f., 146f.). Der Wunsch nach Zugehörigkeit decouvriert sich jedoch - wie sich der Ich-Erzähler der Kindergeschichte anläßlich einer Reise in seine Kindheits-Landschaft eingesteht - als Phantasmagorie: "Das vielbeschworene 3 Vgl. Handke: Aber ich lebe... (vgl. Anm. 1). S. 153; in diesem Zusammenhang weist Ilandke darauf hin, daß die Langsame Heimkehr ursprünglich den Titel "Ins tiefe Österreich" tragen sollte. 4 Peter Handke: Eine andere Rede über Österreich, in: Peter Handke: Langsam im Schatten. Gesammelte Verzettelungen 1980-1992. Frankfurt am Main 1992, S. 64-73, hier S. 71; zuerst in: Profil (25. März 1985). 5 In der Kindergeschichte hat Handke den Versuch unternommen, "die Geschichte eines einzelnen Menschen so [zu] schreiben, wie man sonst die Geschichte eines ganzen Volkes beschreibt [...]. Und ich hab' gedacht, ich möchte einmal von einem Menschen so erzählen, wie man von einem ganzen Volk erzählt - wozu es aufblühen kann, wozu es sich entfalten kann, was für Möglichkeiten ein Mensch hat, als ob er ein ganzes Volk wäre - und er ist ja ein ganzes Volk", vgl. Peter Handke: Ein Gespräch Uber das Schreiben und die "Kindergeschichte". In: Die Rampe (1981), II. 2, S. 7-15, hier S. 9 (das Gespräch führte Krista Fleischmann). 6 Vgl. auch folgende Stelle im 'Dramatischen Gedicht' Novas: "die Künstler sind die Lebensfähigen - sie bilden das Volk" (ÜD 112); vgl. auch Handke: Aber ich lebe... (vgl. Anm. 1), S. 200, worin Handke auf den doppelten Aspekt des Wortes 'bilden' (erziehen und ergeben) hinweist. 65 (auch von ihm erträumte) Volk gab es da - das war inzwischen Gewißheit - seit langem nicht mehr" (K 97). Im Bewußtsein von der Unmöglichkeit der 'Heimkehr' gestaltet sich der Erzähler Identifikations-Räume in der Sprache: Sprach-Bilder erweitern sich zu Zeichen-Systemen, die die Konturen des 'erträumten Volkes' denk-möglich machen. Handke imaginiert die Vorstellung eines "nie bestimmbaren, verborgenen Volkes" (SV 57f.), das seine Konturen durch Sprache gewinnt. In den Phantasien der Wiederholung heißt es: "Man möchte einmal wieder von einem edlen Volk hören" (PW 49). Eine Möglichkeit zur Identifikation mit solchen - nur noch in der Fiktion möglichen - 'edlen Völkern' eröffnet sich Handke in der Beschreibung von 'Spiegel-Völkern', die er in Form einer zwischen Realitätsfragmenten und mythisierenden Erzählstrategien oszillierenden Montage literarisch konstruiert. Die Sprach-Bilder, die er mit den Begriffen 'Juden', 'Indianer' und 'Slowenen' assoziiert, umgeben diese Begriffe mit der Aura einer GegenWirklichkeit. Zur Verdeutlichung der mehrfach gebrochenen, im real-irrealen Grenzbereich der Imagination sich vollziehenden Identifikation mit den 'erträumten Völkern' wählt nun Handke die Spiegel-Metapher: im Roman Die Wiederholung erfährt Filip Kobal seine Zugehörigkeit zum Volk der Slowenen bei der Betrachtung der Passanten "durch ein in den Glaswänden gespiegeltes Gesicht, das mein eigenes war" (W 17); auf einer Zugfahrt durch Slowenien erkennt er seine Ähnlichkeit mit den Mitreisenden, "wie kein Spiegel sonst sie mir hätte zeigen können" (W 131). Filip Kobals Reise nach Slowenien wird so zur Beschreibung einer Identitäts-findung, die mit dem Erlebnis der Zugehörigkeit zum Spiegel-Volk ihren Anfang nimmt: "und ich gehörte mit meinem Spiegelbild zu diesem Volk" (W 18). Das Volk der Juden bezeichnet Handke in der Kindergeschichte als das "einzige Volk". Anläßlich des Besuchs seines Kindes in einer Pariser jüdischen Schule reflektiert der Ich-Erzähler ('der Mann', 'der Erwachsene') über das Verhältnis zwischen Tätern und Opfern sowie über seine Interpretation des Judentums: "Denn eigentlich war sie [die Schule, A. d. V.] nur den Kindern jenes einzigen Volkes bestimmt, das auch so genannt werden konnte, und von dem schon lange vor seiner Zerstreuung in alle Länder der Erde gesagt worden ist, daß es auch 'ohne Propheten', 'ohne Könige', 'ohne Prinzen', 'ohne Opfer', 'ohne Idole' - und sogar 'ohne Namen' - ein 'Volk' bleiben werde; und an das man sich, nach dem Wort eines späteren Schriftgelehrten, wenden müsse, um 'die Tradition' zu wissen: das 'älteste und strengste Gesetz der Welt'. Es war das einzige tatsächliche Volk, dem der Erwachsene je anzugehören gewünscht hatte" (K 59). In der Langsamen Heimkehr klagt Sorger darüber, aufgrund der Täter-Rolle seiner Vorfahren "nicht mit den Opfern dieses Jahrhunderts sich zur Großen Klage zusammenfinden" zu können (LH 103); die Figur der Tilia Levis in Der Chinese des Schmerzes, die als imaginäre Idealfigur des Weiblichen gezeichnet ist, könnte - zusätzlich zur Anspielung an die antike Literatur - möglicherweise auch als Assoziation an das Judentum gedacht sein7 (CS 206, 214ff.); in der Wiederholung finden sich eine beschwörende 7 Vgl. hierzu folgende Stelle, die ebenfalls eine Verbindung zwischen Antike und Judentum herstellt: "'Pogromartig' mußte Mandelstam den Lindenflaum in der Mailuft nennen: es war ihm nicht erlaubt, so zu leben, daß er die Dinge beim Namen nennen konnte wie Vergil, der einfach sagen konnte: 'tilia levis', die leichte Linde" (PW 98). Das Assoziationsgefleclit, das mit der Nennung des Namens 'Tilia Levis' aufgebaut wird, stellt imaginäre Verbindungslinien zwischen den Bereichen der Antike (unter dem besonderen Aspekt der von Handke intensiv rezipierten Landschaftsdarstellungen antiker Schriftsteller), des Judentums (Assoziation an den jüdischen Familiennamen 'Levi', der auf die Herkunft aus dem Priestergeschlecht der Leviten verweist) und Sloweniens (Verweis auf die Linde als Symbol für Slowenien) her. 66 Nennung der biblischen 'Bundeslade' (W 298) und mehrfache Hinweise auf das Singen der Psalmen (W 216, 302); im Gespräch mit Herbert Gamper ließ Handke auch die Interpretationsmöglichkeit offen, daß die Nennung der Kärntner Ortschaft Gallizien, die in der Kindergeschichte als der "dritte Ortsname in der Geschichte des Kindes" (K 99) genannt wird, einen symbolischen Bezug zum polnischen Galizien und somit zum Ostjudentum enthält.8 Das Judentum assoziiert somit in Handkes Texten die Vorstellungsbereiche 'Volk', 'Tradition' und 'Opfer', die auf die utopische Dimension einer nicht-entfremdeten, außerhalb der Staats- und Herrschaftsgeschichte, im Bereich des Geistigen - in Wort und Schrift - sich verwirklichenden Gemeinschaft verweist. Bei seiner Spurensuche im slowenischen Karst stellt Filip Kobal ein imaginatives Bezugssystem zwischen den Landschaftsformen in Slowenien und jenen auf der Halbinsel Yucatán, wie auch ein solches zwischen den Karstbewohnern und den Indianern her: während die Karst-Trichter als 'Umkehrformen' der Pyramiden der Maya erscheinen9, werden die Karstbewohner als das 'Umkehrvolk' zu den Maya interpretiert (W 268f.). Die Maya repräsentieren in der Wiederholung den Prototyp eines 'verschwundenen Volkes', das "es nie zu einem Staat gebracht" hat (W 212f.) und dessen kulturelle Tradition Kobal über das Medium der Sprache (die Erzählungen seines Geschichtslehrers) vermittelt werden. Innerhalb des dichten, durch symbolische Vergleiche bzw. Identifikationen (z.B. zwischen den leeren Viehsteigen im Karst und der Pyramidentreppe der Maya)10 strukturierten Interpretationsgeflechts des Romans assoziiert die Nennung der Maya die utopische Dimension einer Gegen-Wirklichkeit (im Lauf des Erzählvorgangs werden die Konstruktionsmechanismen der Utopiebildung zwar offengelegt, die Integration historischer Informationen in den Prozeß der Mythenbildung bildet jedoch nur Teil einer letztlich auf Ahistorizität zielenden Erzählintention). Das staaten-lose Volk der Maya symbolisiert in der Wiederholung weniger ein Volk der Geschichte, als vielmehr ein Volk des Mythos, dem im Rahmen der Privatmythologie des Erzählers die Identifikationsbereiche des 'Verschwundenen', der 'Freiheit' und der 'Schrift' zugeordnet sind.11 8 Vgl. Handke: Aber ich lebe... (vgl. Anm. 1), S. 86f. - Im Versuch über die Müdigkeit teilt Handke die Erzählung eines französischen jüdischen Freundes mit, der während der deutschen Besatzung versteckt gelebt hat und sich daran erinnert, wie nach der Befreiung "wochenlang ein Strahlen durch das ganze Land gegangen" sei (VÜM 30); aus dieser Erzählung leitet Handke sein Bild vom 'Volk der Müdigkeit' ab; in der Kindergeschichte beschreibt er die Konfrontation des Ich-Erzählers mit einem Juden, der gegen den Besuch des Kindes in der jüdischen Schule mit einer Todesdrohung protestiert; diese Begegnung wird zum Anlaß zu einer Reflexion über Geschichte: "hier verwünscht er auch die Geschichte selber und schwört ihr für seine Person ab; hier erschaut er erstmals sich allein mit dem Kind in der Nacht des Jahrhunderts und in der leeren Grufthalle des Kontinents - und zugleich gibt das alles für später die Energie einer neuartigen Freiheit" (K 73). Im Schauspiel Die Stunde da wir nichts voneinander wußten (Frankfurt am Main 1992) integriert Handke eine Reihe biblischer bzw. jüdischer Figuren (Abraham, Isaak, die 'Jüdin aus Herzliya') in das (wortlose) dramatische Geschehen. 9 In Der Chinese des Schmerzes wird auch der Salzburger Untersbergkarst als "Pyramiden-Umkehrform" (CS 46) bezeichnet. 10 Verweise auf die Pyramidenform und indianische Tempel in Zentralamerika finden sich auch an mehreren Stellen der Erzählung Der Chinese des Schmerzes (CS 107f., 192); im Versuch über die Jukebox beschreibt Handke, daß er im Prozeß des Schreibens "einen Salzburger Viehsteig nach Jugoslawien" (VÜJ 73) versetzt hat. 11 Besonders deutlich wird dieser Zusammenhang an der folgenden Stelle: "'Im Jahr 900 nach unserer Rechnung', sagte er [der Lehrer, A.d.V.], 'wurde in eine Säule unweit der Grasfläche, welche bei den Spaniern dann Die Savanne der Freiheit hieß, die letzte Inschrift gemeißelt [...].' Besonders sinnfällig werde das Ende des Volks an einer Pyramidentreppe [...]. Diese Treppe erschien mir an dem leeren Viehsteighang [...]" (W 214). 67 Während in der Wiederholung die Maya als das 'Umkehrvolk' zu den Slowenen interpretiert und durch ihre 'heilige Zahl' Neun (W 332) mit der slowenischen Sage vom 'Neunten Land' (W 317) in einen geheimen (für den Erzähler entschlüsselbaren) Zusammenhang gebracht werden, stellen die nordamerikanischen Indianer in der Langsamen Heimkehr den Inbegriff einer friedlichen, in Zusammenhang mit der Natur und der dörflichen Gemeinschaft lebenden Kultur dar, die der in Alaska arbeitende Geologe Sorger insgeheim als das 'Große indianische Volk' (LH 56) anredet. Sorger lernt es, die Indianer "als Zusammengehörige in einem Dorfverband" zu begreifen12 und erkennt während des Beobachtens der Passanten "das Bild einer unverwüstlichen, lebhaften, oft sogar heiter ausgelassenen Gemeinde" (LH 55f.), der er sich soweit zugehörig fühlt, daß er die Sprache der Indianer mit jener seines Herkunftslandes identifiziert: "Es waren indianische Laute, die aus der menschenleeren Stromrinne widerhallten, und doch glaubte Sorger (ohne daß er ein einziges Wort verstand), seine eigene Sprache zu hören, ja die besondere Mundart der Gegend, die die Heimat seiner Vorfahren gewesen war" (LH 70). Die Befassung mit den Lebensformen der Indianer sowie die Beobachtung und zeichnerische Erfassung der geologischen Formationen ihres Lebensbereichs macht ihm den Ort eines "möglichen ewigen Frieden[s]" erkenn- und beschreibbar "wo diese verheißungsvolle Weltgeschichte, in der nichts Gewaltsames oder auch nur Jähes mehr vorkam" (LH 54f.), sichtbar wird.13 Die Spiegel-Völker im Werk Peter Handkes gewinnen Modellcharakter als Beschreibungen nicht-entfremdeter Lebensformen. Die von Handke ausgewählten Identifikations-Völker - Juden, Indianer und Slowenen - sind allesamt 'kleine' Völker, die - scheinbar - unbelastet von Macht- und Staatsgeschichte, sozialer Unterdrückung, Krieg und Ausbeutung ihre Verwirklichung im 'Kleinen', Unscheinbaren - im Alltäglichen, in der Natur, in der Religion, in Erzählung und Schrift - finden. Das verbindende Element, das die 'erträumten' Völker in einen Kommunikationszusammenhang stellt, liegt in ihrer Fixierung auf Sprache und Schrift14: die Staaten- und Herrschafts-losen finden ihre Selbstverwirklichung in der Konzentration auf geistige bzw. seelische Erfahrungsbereiche (Verflechtung von Immanenz und Transzendenz, Einordnung in den Kosmos, Utopie einer friedlichen Integration in den Lebensbereich der Natur), die mittels Sprache zum Ausdruck gebracht und über Schriftzeichen (bzw. schriftähnliche Zeichensysteme) entschlüsselbar gemacht werden. Das Volk der Juden findet sein geistiges Zentrum in der 'Schrift', die seine religiöse und philosophische Überlieferung bewahrt; in den Reifenspuren im Wegschlamm identifiziert Sorger "Ornamente einer geheimen indianischen Bilderschrift" (LH 67); die Inschriften der Maya tradieren ihr 12 Während des Aufenthalts in der Indianersiedlung erhält Sorger eine Vorstellung von der "Idee, was ein Dorf sein kann" (LH 60), die er in seinem Herkunftsland nicht erfahren hat; auch in der Erzählung Der kurze Brief zum langen Abschied wird der Besuch des Ich-Erzählers in einer Indianerreservation zum auslösenden Erlebnis seiner Selbsterkenntnis (vgl. KB 161-169). 13 Die in der Langsamen Heimkehr beschriebene Episode der Beziehung Sorgers zu einer Indianerin hat eine Parallele im Versuch über die Jukebox (VÜJ 92f.); Andreas Loser, der Ich-Erzähler in Der Chinese des Schmerzes, wird desöfteren als 'Indianer' bezeichnet (CS 48f.); die Bezeichnung 'indianisch' verwendet Handke auch im Zusammenhang mit 'Leiden' (vgl. PW 59); das Wort 'Indianer' trägt, wie er im Gespräch mit Herbert Gamper (vgl. Anm. 1), S. 242, ausführt, einen "mythischen Zug". 14 Zu Handkes mystischer Schriftkonzeption vgl. Martina Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne. Die visionäre Ästhetik der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert. Stuttgart 1989, S. 172-207; Axel Gellhaus; Das allmähliche Verblassen der Schrift. Zur Prosa von Peter Handke und Christoph Ransmayr. In: Poetica 22 (1990), S. 106-142. 68 religiöses Weltsystem, während der grenzenüberschreitende Spuren-Sucher in den Landschaftsformen Sloweniens Schrift-Zeichen, die ihn an die Maya erinnern, zu entziffern versucht; das Volk der Slowenen wird in der Wiederholung aus Wörtern rekonstruiert. Die Identifikations-Völker gewinnen für den Erzähler auch durch die zentrale Rolle, die die Namensgebung in ihrer Kultur spielt, an Bedeutung: die Namensgebung stellt sich als Akt der ursprünglichen (adamitischen) Sprachschöpfung, der Welterkenntnis durch Sprache, dar; ausgesetzt der Erfahrung seiner Herkunft aus dem Bereich einer 'belasteten', durch die Gewalt-Geschichte des 20. Jahrhunderts kompromittierten, schuldhaft gewordenen Sprache, bedroht vom ständig wiederkehrenden Trauma des Sprachverlusts, findet er in der archaischen Form der Namensgebung die Möglichkeit zur Neu-Konstruktion des über Sprache hergestellten Zusammenhangs zwischen Ich und Welt (vgl. etwa LH 75, CS 101). Eine weitere Gemeinsamkeit der Spiegel-Völker findet sich in ihrer Opfer-Rolle: die Juden sind Opfer der Shoah, die Maya werden als 'verschwundenes' Volk bezeichnet, die Indianer Nordamerikas sind Opfer der Kolonisation und die Slowenen Opfer nationaler Kämpfe, sozialer Diskriminierung und deutschnationaler Assimilationsbestrebungen. Als zusätzliche Identifikations-Metapher, die noch stärker auf die mythische Assoziationskraft des Wortes reduziert ist, verwendet Handke das Bild des Chinesen15, das in der Erzählung Der Chinese des Schmerzes zur Beschreibung der existentiellen Grenzsituation der Fremdheit und des Leides verwendet wird. Handke stellt die Elemente seines Gegenbild-Entwurfs in ein subtil konstruiertes Verhältnis der gegenseitigen Interpretation und Verknüpfung: so etwa weist Tilia Levis' Erzählung über den 'Chinesen des Schmerzes' (CS 217f.) auf eine Verbindung zwischen dem antiken, jüdischen und chinesischen Bereich hin, die Aufschrift einer Tankstelle in Slowenien wiederum assoziiert der Ich-Erzähler der Wiederholung mit der Erinnerung "an ein, nur im Traum erlebtes, China", im Giebelfeld einer Villa liest er das "altgriechische Chaire, Sei gegrüßt!", und hinter den Hochhäusern öffnet sich in seiner Imagination "eine gleichermaßen fremdartige Sinaiwüste", während ihm beim Vorbeifahren eines- Fernbusses "das Fragment einer hebräischen Schriftrolle [...] in die Augen sprang" (W 135) - mittels Symbolen und literarischen Bildern wird so ein integratives, eine Vielfalt möglicher Konnotationen und Bedeutungsvarianten auslösendes Interpretationsgeflecht errichtet. Juden und Indianer sind für Handke imaginäre, literarisch rezipierte Objekte einer (gewünschten) Identifikation, während er sich den Slowenen durch seine Herkunft (seine slowenische Mutter und die Kindheit im zweisprachigen Gebiet Kärntens) auch biographisch zugehörig fühlt. Die Besonderheit der literarischen Verfahrensweise, die Handke wählt, um seinen Gegenwelt-Entwurf zu formulieren, liegt nun darin, daß sie sich in Form einer metasprachlichen Reflexion vollzieht. Handkes Utopie gestaltet sich als Sprach-Konstruktion - Sprache (in ihrer Gesamtheit als kommunikatives System, aber auch in ihren Einzelelementen) wird zugleich Medium, Darstellungsmittel und Zielpunkt der Gestaltung von Utopien. Wie Handke im Versuch über die Müdigkeit schreibt, kommt es ihm beim Erzählen weniger auf den Inhalt, als vielmehr auf des 15 Vgl. hierzu insbesondere Hugo Caviola: 'Ding-Bild-Schrift ': Peter Handke 's Slow Homecoming to a "Chinese" Austria. In: Modern fiction studies 36 (1990), S. 381-394. 69 "reine Bild" an (VÜM 29). Wendet man dieses poetologische Konzept auf eine Interpretation der Handkeschen Texte an, so erscheinen ihre inhaltlichen Aussagen als Elemente eines Sprach-Spiels (im Sinne Martin Bubers verstanden als Sprach-Ernst), das von konkreten politischen und historischen Verhältnissen abstrahiert und seine Funktion im Rahmen einer die Ambiguität und Undurchschaubarkeit des (post-)modernen Daseins beschreibbar machenden Fiktionalisierungsstrategie erhält. Eine solche Interpretation wäre jedoch eindimensional, wenn sie über der Beschreibung der Konstruktion eines letztlich arbiträren Zeichensystems die politische (in einem umfassenden Sinn zu verstehende) Intention der Texte übersieht: Sprachreflexion gestaltet sich - auch -als Akt historischer und politischer Sinnstiftung. Bei der Beschreibung der Rekonstruktion des slowenischen Volkes aus einem deutsch-slowenischen Wörterbuch erlebt Filip Kobal, wie sich "Wort für Wort [...] ein Volk zusammensetzte" (W 199); diese imaginativ - über Sprache (konkret: die Assoziationsvielfalt von Einzelwörtern) - sich vollziehende Konstruktion eines Spiegel-Volkes ermöglicht dem Erzähler die Identifikation mit seinem Wunsch-Bild der Slowenen: "Wie nicht sich jenem unbekannten Volk zuzählen wollen, das für Krieg, Obrigkeit und Triumphzüge sozusagen nur Lehnwörter hat, aber einen Namen schafft für das Unscheinbarste" (W 202). Diese Stelle legt die Konstruktionsmechanismen der Utopie - ihren Ursprung als Sprach-Schöpfung - offen, macht somit die Voraussetzungen des fiktionalen Gegenwelt-Entwurfs transparent, ohne jedoch auf die politische Funktion des so entstandenen Sprach-Bildes zu verzichten. Ganz im Gegenteil, die Offenlegung des Prozesses der Umsetzung der Utopie in Sprache und Schrift verweist auf die Polyvalenz der im Kontext der fiktionalen Erzählung getroffenen Aussage. Wiewohl Handke sich von der Eindimensionalität der politischen Aussage distanziert16 und über die Beschreibung von Einzelheiten -Dingen, Landschaften, Pflanzen und alltäglichen Begebenheiten - Chiffren für die Suche nach Identitäten zu entwerfen versucht, verweisen jene Textelemente, die sich auf die Spiegel-Völker beziehen, auf die Ebene gesellschaftstheoretischer Reflexion. Peter Handkes Texte der 80er und frühen 90er Jahre stehen in einem engen gegenseitigen Interpretationszusammenhang, der durch die Einfügung autobiographischer Elemente noch zusätzlich verdichtet wird. Diese Texte stellen im Grunde genommen einen zusammengehörigen, auf dialogischem Prinzip aufgebauten und von unterschiedlichen Betrachtungs- und Zugangsweisen aus unternommenen Versuch zu einer Standortbestimmung des Subjekts dar, die sich der Vorläufigkeit und Fragmenthaftigkeit eines solches Versuchs bewußt ist. Im Rahmen des textimmanenten Verweissystems, das Ding-Symbole (wie die Jukebox oder die Hinweise auf Hakenkreuz-Schmierereien) ebenso umfaßt wie metaphorische Assoziationen (wie das Motiv der Schwelle, das Bild des Gartens oder Anspielungen auf den Orpheus- und Odysseus-Mythos), kommt den Hinweisen auf die Spiegel-Völker die Funktion zu, Möglichkeiten zu einer Überwindung der bedrängenden, als schuldhaft erfahrenen Realität, Angehöriger und Nachkomme eines 'Volkes der Täter' zu sein, zu eröffnen. Die Sprach-Bilder, die die Umrisse der 16 Vgl. folgende Stelle: "Warum wird mir, sowie ich selber auch nur einen einzigen mich beklagenden, mich oder andere beschuldigenden oder bloßstellenden Satz hinschreibe - es sei denn, es ist der Heilige Zorn dabei! -, buchstäblich schwarz vor den Augen?" (LSV 18). 70 Spiegel-Völker zur Darstellung bringen, beinhalten zwar eine utopische Dimension, sind jedoch nicht als Flucht-Projektionen gedacht, sondern als Visionen des Möglichen, die die Potentialität einer Überwindung von Entfremdung und Verdinglichung zum Ausdruck bringen. Sloweniens Emanzipation vom Mythos Slowenien, vornehmlich die Landschaft des slowenischen Karsts, stellt im fiktionalen Werk Peter Handkes ein Land der Imagination dar, dessen Konstituenten im Erzählvorgang, der einen Prozeß der Mythisierung in Gang setzt, entworfen werden. Das Bild Sloweniens, das Handke im Roman Die Wiederholung gestaltet hat, ist ausgestattet mit Attributen des Märchenhaft-Utopischen; das zu einem möglichen Überlebens-Ort stilisierte Land der Sehnsucht, dem im Rahmen der Handkeschen Privatmythologie die Funktion einer Gegen-Welt zugeordnet ist, erscheint entrückt in den Bereich einer außerzeitlichen, enthistorisierten, mithin mythischen Gegenwärtigkeit. Die politischen Ereignisse des Jahres 1991, die Erklärung der staatlichen Unabhängigkeit durch Slowenien, die Loslösung aus dem jugoslawischen Staatsverband und die kriegerische Auseinandersetzung mit der jugoslawischen Bundesarmee, schienen sich mit Handkes Slowenien-Bild nicht vereinbaren zu lassen. Sein 'Absage-Brief' an Slowenien, der unter dem Titel Abschied des Träumers vom Neunten Land in der Süddeutschen Zeitung und später als selbständige Publikation erschienen ist, sowie Stellungnahmen in Zeitungsinterviews, in denen er recht drastisch seine ablehnende Haltung zur politischen Entwicklung in Jugoslawien ausdrückt,17 lösten unter slowenischen Intellektuellen -wie eine Studie von Neva Slibar dokumentiert - eine Flut von Reaktionen aus18; Ulrich Weinzierl erklärte Handkes Position in pauschalisierender Weise als "charakteristisch für die im Westen verbreitete Mischung aus Arroganz und Ahnungslosigkeit den Problemen Sloweniens gegenüber."19 17 Peter Handke: Abschied des Träumers vom Neunten Land. Eine Wirklichkeit, die vergangen ist: Erinnerung an Slowenien. In: Süddeutsche Zeitung (27./28. Juli 1991), Beilage, S. I; eine erweiterte, um Abbildungen aus Handkes Notizbüchern (zu seinen Wanderungen in Slowenien im Jahre 1980) ergänzte Fassung dieses Essays erschien im Oktober 1991 im Suhrkamp-Verlag (Frankfurt am Main) (im folgenden zit. mit der Sigle A); auch in Handke: Langsam im Schatten (vgl. Anm. 4), S. 182-197; vgl. desweiteren die Interviews "Wirklich nur aus Anschauung reden". In: Der Standard (11. Oktober 1991), Beilage, S. A4f. (das Interview führte Christian Ankowitsch) (Sigle St), und "Treu bleiben den Dingen". In: Kärntner Kirchenzeitung (22. Dezember 1991), S. 8-11 (geführt von Michael Maier und Janko Ferk) (Sigle KK). Für die Erlaubnis, in die Druckfahnen des Interviews Noch einmal vom Neunten Land (geführt im November 1992) Einsicht zu nehmen, danke ich dem Wieser-Verlag (Klagenfurt); der Text erscheint in: Noch einmal vom Neunten Land. Peter Handke in Gespräch mit Jože Horvat. Klagenfurt-Salzburg 1993, S. 73-103 (Sigle Horvat). 18 Vgl. Neva Slibar: Auf das neunte Land ist kein Verlaß. Zur Kontroverse um Peter Handkes Slowenienbuch. In: Literatur und Kritik 27 (1992), H. 261/262, S. 35-40; die am stärksten differenzierte Reaktion auf Handkes Essay stammt vom slowenischen Schriftsteller und Essayisten Drago Jančar. Aufschluß darüber, wie Handkes Text als Stichwortgeber zu einer pauschalisierend vorgetragenen politischen Argumentation verwendet wurde, die die poetologischen Reflexionen wie auch den Kontext des fiktionalen Werkes Handkes mehr oder weniger negiert, geben die beiden folgenden Beiträge, die mit divergierender Intention (Pluch: Pro-Slowenien, Anti-Handke; Zwitter: Pro-Jugoslawien, Pro-Handke) am kritisierten bzw. befürworteten Text vorbeischreiben: Thomas Pluch: Franci Zwitter: Das neunte Land zwischen Traum und Wirklichkeit. Reaktionen zu Peter Handkes Slowenien-Essay. In: Aufrisse 13 (1992), H. 4, S. 43-47. 19 Ulrich Weinzierl: Die neue Zeit bricht an. Alltag zwischen Hoffen und Bangen: eine slowenische Szene. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (9. Dezember 1991), S. 33. 71 Ohne ein solch vorschnelles Urteil fällen zu wollen, soll hier versucht werden, Handkes Stellungnahme im Vergleich zur fiktionalen Konstruktion des SlowenienMythos im Roman Die Wiederholung und im Kontext seiner Reflexionen zu Staat und Geschichte zu untersuchen. In der Wiederholung erwähnt Handke die Sage vom 'Neunten Land' als "das Ziel der gemeinsamen Sehnsüchte" des slowenischen Volkes, als dessen "irdische Erfüllung" der Ich-Erzähler des Romans, Filip Kobal, die "Schrift" identifiziert (W 317).20 Filip Kobal, der Grenz-Überschreiter, der sich schreibend seiner Identität zu vergewissern sucht und zugleich einen Mythos der Slowenen schafft, erkennt im Mit-Gehen mit den Passanten von Jesenice seine "Ähnlichkeit" (W 131) mit ihnen; mit seinem fiktionalen alter ego Filip Kobal verbindet Handke nicht nur die Herkunft aus Kärnten und die slowenische Ahnenreihe, sondern auch die Imagination der Verbundenheit mit Slowenien als Akt des Mit-Gehens. Slowenien bedeutet für Handke "etwas Drittes, oder 'Neuntes', Unbenennbares, dafür aber Märchenwirkliches" - dieses in die Imaginarität des Außer-Sprachlichen entrückte Land stilisiert er zu seiner "Geh-Heimat" (A 28f.): "Im 'Gehen-dort' bin ich zu Hause" (KK 9). Die Märchen-Wirklichkeit seines Wunschbildes - Seiner "Illusion" (Horvat 83f.) - von Slowenien bewahrt Handke auch angesichts eines politischen Umbruchs, dessen vielschichtige Ursachen er nicht anzuerkennen bereit ist; auf das mögliche Argument: "Der ist ein Österreicher, der einen Traum hatte", antwortet er: "Aber ein Traum ist immer das Wirklichste und bringt die wirklichsten Bilder hervor" (St A4). In der Wiederholung rekonstruiert Filip Kobal das slowenische Volk aus "Bedeutungspfeilefn]" (W 193), die von einzelnen Wörtern eines deutschslowenischen Wörterbuchs aus dem Jahre 1895 ausgesandt werden; das Volk, das sich für Filip Wort für Wort "zusammensetzte" (W 199), stellt sich als "ein unbestimmtes, zeitloses, außergeschichtliches - oder, besser, eins, das in einer immerwährenden, nur von den Jahreszeiten geregelten Gegenwart lebte [...] und zugleich jenseits oder vor oder nach oder abseits jeder Historie" (W 201 f.) dar; als Menschen, "die durch die Jahrhunderte Königlose, Staatenlose, Handlanger, Knechte gewesen waren" (W 1320), repräsentieren die Slowenen einen Bereich abseits von Herrschafts-Geschichte. Diese im Roman fiktional entworfene Argumentationslinie durchzieht auch Handkes politische Stellungnahme zu den Bestrebungen Sloweniens, die staatliche Selbständigkeit zu erringen: Handke behauptet, daß das slowenische Volk "niemals [...] so etwas wie einen Staatentraum" gehabt und "nichts, gar nichts [...], bis dahin in der Geschichte des slowenischen Lands zu einem Staat-Werden" gedrängt habe (A 39). Die Kritik an der Staat-Werdung Sloweniens gründet sich auf Handkes grundsätzlichem Mißtrauen gegen den Staat als Institutionalisierung der Gewalt. Als Volk, das nicht im 'Großen', in Staat und Krieg, sondern im 'Kleinen' seine Verwirklichung sucht, erschienen ihm die Slowenen als utopische Gemeinschaft, die er mit Attributen einer gleichsam mythischen ländlich-bäuerlichen Gegenwart 20 Zu Handkes Slowenienbild vgl. Neva Slibar: "...wie etwas vertraut Fernes und verloren Heimisches...". Zu Funktion und Verfahren der Mythisierung eines kleinen Nachbarlandes in der neueren österreichischen Literatur. In: Komparatistik als Dialog. Literatur und interkulturelle Beziehungen in der Alpen-Adria-Region und in der Schweiz. Hrsg. v. Johann Strutz u. Peter V. Zima. Frankfurt am Main-Bern-New York-Paris 1991 (= Europäische Hochschulschriften, Reihe 18, Bd. 56), S. 73-83; Armin A. Wallas: "und ich gehörte mit meinem Spiegelbild zu diesem Volk". Peter Handke als Schöpfer eines slovenischen Mythos. Zu Handkes Roman 'Die Wiederholung'. In: Österreich in Geschichte und Literatur 33 (1989), S. 332-338; Ders.: Das Bild Sloweniens in der österreichischen Literatur. Anmerkungen zum Werk von Joseph Roth, Ingeborg Bachmann und Peter Handke. In: Acta Neophilologica 24 (1991), S. 55-76. 72 umschrieben hat.21 Den Prozeß der Staatswerdung Sloweniens erlebte Handke als Verlust seiner imaginären Heimat, die er mit den Begriffen 'Volk' und 'Landschaft' assoziiert hat (vgl. Horvat 77). Die Ablehnung der Staatlichkeit ist kombiniert mit dem Mißtrauen "gegen das, was man Geschichte nennt oder Historie" (KK 8); in der Pose eines "Hasser[s] dieses Molochs Geschichte" betont Handke, daß er sich "am liebsten in einem Land, wo man nur Gegenwart und Wirklichkeit und Greifbarkeit spürt", aufhält, und daß er ein solches Land in Slowenien gefunden zu haben geglaubt hat: "Aber in Slowenien war die Geschichtslosigkeit, die Gegenwärtigkeit so wirklich, da das Leben nicht leicht, da der Tag schwer war. [...] In Slowenien mußte man sein eigener Pionier werden" (St A4). Die Stilisierung Sloweniens zu einem Refugium der Geschichtslosigkeit enthüllt sich als intellektuelles Konstrukt,22 das von den konkreten Problemen des beschriebenen Landes abstrahiert und seine Funktion im Rahmen des Handkeschen Gegenwelt-Entwurfs erfüllt; die Aussagen betreffen nur peripher die tatsächliche Situation in Slowenien, aufschlußreicher sind sie hingegen für Handkes Selbst-Interpretation und für sein Geschichtsbild, so stellt der Autor relativierend fest, daß er zwar nicht daran geglaubt hat, daß die Geschichtslosigkeit, die er in Slowenien gefunden hat, "von Dauer" hätte sein können, daß er aber an dieser Vorstellung festgehalten hat, weil sie ihm die Flucht aus der bedrängenden Wirklichkeit einer Staats- und GewaltGeschichte - jener seines Herkunftslandes - ermöglicht hat: "Aber ich war in Slowenien erst einmal der österreichischen Geschichte entkommen" (St A4). Die im Essay und den Interviews geäußerten Aussagen Handkes über 'Geschichte' und 'Geschichtslosigkeit' stehen im Kontext des in seinem fiktionalen Œuvre entworfenen Geschichtsbildes23: Der für Handkes Poetologie zentrale Begriff der 'Wiederholung' beinhaltet in seinem Doppelaspekt von 'Ursprünglichkeit' und 'Erneuerung' auch die Fiktion eines 'Freiseins von Geschichte'.24 Eine solche utopische Konzeption perspektiviert die Flucht aus der bedrängenden Wirklichkeit einer von Gewalt beherrschten Menschheitsgeschichte in die poetische Konstruktion einer im Kleinen, Wort für Wort, im Prozeß der Sprach-Arbeit, neugefundenen 'Geschichte der Formen'. Die Neuinterpretation der Geschichte als einer im Alltäglichen auffindbaren 'friedensstiftende[n] Form" vermag den Fluch der Formlosigkeit zu überwinden: "Die Nacht dieses Jahrhunderts, wo ich zwanghaft in meinem Gesicht nach den Zügen der Despoten und Weltherrscher forschte, hat für mich damit ein Ende genommen", heißt es in der Langsamen Heimkehr (LH 177). Auf ähnliche Weise wie Valentin Sorger im Erlebnis der Form die Möglichkeit eines Ausstiegs aus der Gewalt-Geschichte erfährt25, beschreibt 21 Vgl. Wallas: "und ich gehörte..." (vgl. Anm. 20), S. 334f. 22 Zu Handkes Verständnis von Geschichte vgl. etwa Karl Wagner: Peter Handkes Rückzug in den geschichtslosen Augenblick. In: Literatur und Kritik 14 (1979), S. 227-240; Doris Runzheimer: Peter Handkes Wendung zur Geschichte. Eine komponentialanalytische Untersuchung. Frankfurt am Main-Bern-New York-Paris 1987 (= Beiträge zur neuen Epochenforschung, Bd. 8). 23 Vgl. hierzu auch Peter Strasser: Handkes Vision der Wirklichkeit. Ein Essay. In: Die Bühne (Mai 1992), S. 18-21. 24 Vgl. Handke: Aber ich lebe... (vgl. Anm. 1), S. 112; Handke weist in diesem Zusammenhang auf das slowenische Wort für 'Wiederholen': 'ponovitev' hin, in dessen Stamm das lateinische Wort 'novus', 'das Neue', enthalten ist. 25 Vgl. hierzu Handkes Interpretation in der Geschichte des Bleistifts: "Sorgers Geschichte soll ganz abseits von der öffentlichen Geschichte vor sich gehen, ähnlich wie die des ins Abseits verschlagenen Odysseus" (GB 85), und: "Das furchtbare Problem beim Schreiben von Sorgers Geschichte: da diese vom Fähigwerden, vom Volkommenen, Reinen handeln soll, muß sie in Konflikt kommen mit der Historie, besonders der des Dritten Reichs, wo diese Dinge wie für immer verschandelt wurden (Macht, Ehe, Liebe, Natur)" (GB 193). 73 Andreas Loser seinen "Zugang zu einer ganz anderen Geschichte - die in der Regel mit einem bloßer Beiwort erzählt wird" (CS 44f.)26 - gleichsam eine Geschichts-Poetologie, die von Dingen des Alltagslebens und von Naturerscheinungen ihren Ausgang nimmt. In den Prosaskizzen, die Handke unter dem Titel Noch einmal für Thukydides veröffentlicht hat, bemüht er sich, ausgehend von der genauen Beschreibung des Kleinen in örtlich und zeitlich fixierbaren Wirklichkeitsausschnitten (Landschaften und Orten in Jugoslawien, Japan und Frankreich), die Denkmöglichkeit einer alternativen Geschichtsschau und Geschichtsdeutung zu perspektivieren, die die Gewalttätigkeit der Geschichte - besonders in Form der stets präsenten Erinnerung an die Geschehnisse der Shoah - nicht verleugnet, sondern gerade durch und in den Brüchen des ständig in Frage gestellten Erzählvorgangs deutlicher sichtbar macht.27 Die scheinbar ahistorische Geschichtskonzeption Peter Handkes28 interpretiert die "sich selbst erzählende Welt als sich selbst erzählende Menschengeschichte, so, wie sie sein könnte" (VÜM 57). Die Karstlandschaft als "Modell für eine mögliche Zukunft" (W 285) enthüllt sich somit als Chiffre, hinter der sich die Konturen eines alternativen Geschichtsbildes, das sich den Stereotypien der historiographischen Kanonbildung verweigert, abzeichnen. Im Sinne dieses geschichtsphilosophischen Denkmodells interpretiert nun Handke die slowenische Unabhängigkeit als Beginn einer Geschichte der Macht-Ausübung und Gewalt-Anwendung. Als "poetischer Mensch" distanziert er sich vom "politischen Denken" aus einem grundsätzlichen Mißtrauen gegen Macht; wie er 1973 in seiner Rede anläßlich der Verleihung des Büchner-Preises ausgedrückt hat, ekelt er sich vor der Macht und fühlt sich von Politik erst betroffen, wenn sie blutig wird: "Und von jeher fühlte ich mit den Opfern: Beim Anblick von Opfern erschien mir meine frühere Parteinahme für eine Ideologie nur mehr als sportliches Daumenhalten. Auch das sei Ideologie, sagt man. Ein dialektischer Sprung wäre nötig, dann würde ich zwischen Opfern und Opfern unterscheiden können. Ich sehe, daß dieser Sprung vernünftig ist [...], aber sobald die Opfer leibhaftig werden, mache ich ihn rückgängig."29 Als 'leibhaftiges' Opfer betrachtete er im Krieg um Sloweniens Unabhängigkeit etwa einen 18jährigen Makedonien der von einem slowenischen Soldaten erschossen wurde; im "Verhalten der slowenischen Grenzschützer" glaubte er - im Gegensatz zu ihren "kriegspielenmüs-senden Altersgenossen" - die Bereitschaft zum Töten zu erkennen (A 48f.). Handkes Interpretation gemäß wandeln sich die Slowenen aus Opfern zu Tätern, ein Prozeß, den er (im Kontext seines Spiegel-Völker-Konzepts) in einen vagen Konnex zur jüdischen Geschichte stellt: "Ich habe gedacht: Ihr habt die Slowenen immer 26 Vgl. auch folgende Stelle: "So wurde es ihm allmählich zur Gewißheit, daß für seinesgleichen seit je jene andere Weltgeschichte galt, die ihm damals an den Linien des schlafenden Kindes erschien" (K 21). 27 Vgl. Peter Handke: Noch einmal für Thukydides. Salzburg-Wien 1990. Besonders deutlich wird diese Vorgangsweise im Text: Versuch des Exorzismus der einen Geschichte durch eine andere, ebd., S. 25f., der das Lyoner 'Hotel Terminus', das "Folterhaus des Klaus Barbie", als Schauplatz hat, und mit dem Satz: "und die Kinder von Izieux schrien zum Himmel, fast ein halbes Jahrhundert nach ihrem Abtransport, jetzt erst recht", endet. 28 Im Versuch über die Jukebox bezeichnet Handke das Jahr 1991 mit den politischen Umbrüchen in Mittel- und Osteuropa als das "Jahr der Geschichte", in dem sich der Ich-Erzähler "fernweg", in eine "von Steppen und Felswüsten umgebene, geschichtstaube Stadt" (VÜJ 26f.) im kastilischen Hochland, einen Ort "fast außerhalb der Geschichte" (VÜJ 10) zurückzieht, um über die Jukebox, eine "Sache 'für Weltflüchtlinge'" (VÜJ 27), zu schreiben. 29 Peter Handke: Die Geborgenheit unter der Schadeldecke. In: Büchner-Preis-Reden 1972-1983. Mit einem Vorwort v. Herbert Heckmann. Stuttgart 1984, S. 42-48, hier S. 44. 74 verachtet, wie ihr die Juden immer verachtet habt, weil sie sich willenlos haben abschlachten lassen. Und jetzt schießen sie, so wie die Juden dann angefangen haben, und auf einmal steigen sie in der Achtung. Das ist ein scheußliches Phänomen" (St A4). Abgesehen von der mangelnden Differenzierung zwischen dem Geschehen der Shoah und der Unterdrückung der Slowenen auf der einen, und der Geschichte der Entstehung eines wehrhaften jüdischen Selbstbewußtseins ('Selbstwehr', Galuthnationalismus, Zionismus) und der Bestrebung zur Herauslösung Sloweniens aus dem jugoslawischen Staatsverband auf der anderen Seite, argumentiert Handke simplifizierend, wenn er die Opfer-Rolle vornehmlich den Soldaten der jugoslawischen Bundesarmee zuerkennt, vor allem wenn man an die Ereignisse während der folgenden, ungleich blutiger geführten Kämpfe in Kroatien und Bosnien denkt, die eine solche vereinfachende Täter-Opfer-Relation nicht mehr aufrechterhalten lassen. Bei seiner Argumentation begeht Handke den Fehler, sein Plädoyer für den Bestand des Vielvölkerstaates Jugoslawien nicht nur in Widerspruch zur Faktizität des Geschehenen, sondern auch in Widerspruch zu seinem eigenen Konzept der Solidarität mit den Opfern zu formulieren. Die Diffamierung der "sogenannten 'Emigranten'" als "alte Revanchisten" (St A4) decouvriert sich ebenso als Element einer Mythologisierung wie das von Handke zu Recht zurückgewiesene Schlagwort vom 'Panzerkommunismus'. Bei seinem Versuch, den Opfern unter der Bundesarmee Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, wählt Handke den unangemessenen Weg der Negierung der slowenischen Opfer.30 Handkes Hinweis, daß Jugoslawien "mit dem Zweiten Weltkrieg dem entkommen zu sein schien, was man 'Fluch der Geschichte' nennt" (A 49), verschleiert, wie auch die Aussage vom "gemeinschaftlichefn] Kampf der Völker Jugoslawiens [...] gegen das Großdeutschland" (A 22), die tiefgreifenden, gewaltsam ausgetragenen nationalen und ideologischen Konflikte im Partisanenkampf; Handkes retrospektiv konstruiertes Panorama von der internen Konfliktlosigkeit des jugoslawischen Widerstands gegen Hitler-Deutschland enthüllt sich als Teil eines Jugoslawien-Mythos, den er als Paradigma für - über Sprache vermittelte -Interkulturalität ausgestaltet: "Ich empfand Jugoslawien immer als das Gegenteil von einem Turmbau von Babel, wo die verschiedenen Sprachen den Turmbau zum Stoppen gebracht haben. Im Gegensatz dazu fand ich diese Sprachenvielfalt von slawischer, albanischer, ungarischer, oder auch rumänischer Sprache in Jugoslawien fruchtbar, als ob das eher ein Turm himmelwärts gewesen wäre" (KK 8).31 Im Gegensatz zum Jugoslawien-Mythos denunziert Handke den von slowenischen Intellektuellen rezipierten Mitteleuropa-Mythos, der ebenfalls auf Vielfalt der Sprachen und Kulturen hin ausgerichtet ist, als reaktionäres "Gespenstergerede" (A 29). Während er die Nationalitätenpolitik der Habsburgermonarchie als restriktiv kritisiert, verharmlost er das Dominanzstreben Serbiens Slowenien gegenüber als 30 Im Interwiev mit Joze Horvat gestellt Handke "kleine Felller", die kritisierbar sind, ein, betont aber, daß er diese "extra drin gelassen" habe, um "sich preis[zu]geben" und im Leser Vertrauen zu erwecken: "Und ein Idealist, der zugleich aber einen guten Blick hat auf dieses und jenes an Realität, der wird sicher nicht als Feind angesehen" (Horvat 102). 31 Vgl. auch folgende Stelle: "Das Lied, das an diesem Abend, gedrückt von einem der Schüler nach dem andern, immer wieder durch die Säle geht, wird gesungen als ein selbstbewußtes, dabei kindlich-heiteres und sogar, in der Vorstellung von einem Volk, tanzbares Unisono und hat als Refrain ein einziges Wort: 'Jugoslavija!'" (VÜJ 114f.). Zu Handkes Jugoslawien-Mythos vgl. auch Peter Handke: Noch einmal für Jugoslawien. In: Handke: Langsam im Schallen (vgl. Anm. 4), S. 198f.; zuerst in: taz (14. August 1992). 75 gelegentliche 'Schikanierung' und 'Übervorteilung' (A 35, 38). Ohne sich mit den multikausalen - sozialen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen -Voraussetzungen für das Unabhängigkeitsstreben Sloweniens im Kontext des Zerfalls der sozialistischen Gesellschaftsordnung in Jugoslawien auseinanderzusetzen,32 erklärt es Handke rundweg zu einem "Nachgeplapper" (A 34), das sich die Slowenen "von außen [haben] einreden lassen" (A 31). Im Zuge dieser Polemik verliert Handke sein berechtigtes Anliegen, vor den Gefahren des Nationalismus zu warnen, zunehmend aus den Augen, und führt, anstatt zu argumentieren, eine wilde verbale Attacke gegen die slowenischen Intellektuellen: den Teilnehmern am Schriftstellertreffen von Vilenica etwa wirft er vor, eine "Gespensterwelt mit Mitteleuropa" errichtet zu haben, die "für die westlichen Medien inszeniert" wurde (St A4);33 die Feststellung, das slowenische Volk hätte "niemals" einen "Staatentraum" gehabt (A 39), bleibt bloßes Postulat;34 vollends den Blick für die reale Situation verliert er, wenn er sagt: "Wenn man nachschaut, was die Slowenen an Weltliteratur übersetzt haben, ist das einfach eine Schande. Die sind völlig in ihrer eigenen Folklore aufgegangen und haben sie hochgehalten, bis die Folklore, wie das mit ihr immer ist, ranzig wurde" (St A4); gerade angesichts der reichhaltigen Übersetzungstätigkeit durch slowenische Autoren disqualifiziert sich diese Aussage von selbst.35 Bei der Verteidigung seines Wunsch-Bildes von Jugoslawien konstruiert Handke eine die Komplexität der politischen Realität auf ein vereinfachendes Freund-Feind-Schema reduzierende Agententheorie und läßt sich in der Hitze der Diskussion zu Unterstellungen und Verdächtigungen verleiten. Wenngleich er behauptet, "ein großer Teil" seiner Stellungnahme "kommt aus der Erfahrung, der Anschauung, denn ich war oft in Jugoslawien" (St A4), stellen seine Äußerungen weniger einen Beitrag zur Erhellung der politischen Situation in Slowenien dar, als vielmehr ein Dokument für Handkes persönliche Weltanschauung. Für den Autor gewinnt ein Mythos, der Mythos der Staats- und Geschichtslosigkeit, 'Wirklichkeit'. Einer im Gespräch mit Herbert Gamper geäußerten Aussage zufolge bedeutet für Handke 'Wirklichkeit' "nicht mehr das, was man sieht, sondern es sind verborgene komplexe Strukturen, Funktionszusam- 32 Vgl. hierzu Frane Adam: Die politische Modernisierung in postsozialistischen Gesellschaften - am Beispiel Slowenien. In: Beiträge zur historischen Sozialkunde 21 (1991), S. 112-118. 33 Zu einer Handke vergleichbaren Einschätzung der Situation kommt die Lyrikerin MaruSa Krese in ihrem Essay: Abschied von Slowenien. In: Die Zeit (6. September 1991), S. 66: "ich erinnere mich an das Schriftstellertreffen in Vilenica im vorigen Jahr, an das Treffen von Schriftstellern aus Mitteleuropa. Drei Tage lang war ich Zeugin des slowenischen Nationalismus, der slowenischen Folklore, des slowenischen Jammers, drei Tage lang war ich Zeugin des slowenischen Chauvinismus, der slowenischen NichtSolidarität mit den Literaten im Kosovo, die in diesen drei Tagen inhaftiert wurden. Darüber verloren die slowenischen Dichter kein Wort"; Krese entwirft ein düsteres Bild der slowenischen Zukunft im Zeichen des Nationalismus: "Ich habe Angst vor den kommenden Jahren der slowenischen Demokratie, ich fürchte mich vor der Herrschaft der kleinen Männchen [...], die in meinem Namen und im Namen des slowenischen Volkes nach neuen Königen suchen." 34 Zu den politischen Vorstellungen der slowenischen Parteien zwischen der bürgerlichen Revolution des Jahres 1848 und dem Ersten Weltkrieg vgl. Janko Pleterski: Die Slowenen. In: Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Bd. 3: Die Völker des Reiches. Hrsg. v. Adam Wandruszka u. Peter Urbanitsch. 2 Bde. Wien 1980, S. 801-838. 35 Vgl. etwa Neva Slibar: Zur Rezeption der österreichischen Literatur in Slowenien nach 1945, ausgehend von der Aufnahme der Werke Ilse Aichingers, Ingeborg Bachmanns und Paul Celans. In: Jugoslawien - Österreich. Literarische Nachbarschaft. Hrsg. v. Johann Holzner u. Wolfgang Wiesmüller. Innsbruck 1986 (= Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, Germanistische Reihe, Bd. 28), S. 129-137. 76 menhänge..."; mit seinem Tun, d.h. seiner Sprach-Arbeit, stellt der Schriftsteller eine 'Gegenwelt' auf, "die vorhanden ist, nicht erfunden ist".36 Angesichts der Vernetztheit moderner Wirklichkeit(en) beschränkt sich die Tätigkeit des Schriftstellers darauf, "Zwischenräume sichtbar werden" zu lassen;37 im Verlauf der Umsetzung der Erzählung in Schrift konstituiert sich ein stets erneut in Gang gesetzter Prozeß der Selbstbefragung, verstanden als (letztlich ausweglose) Suche nach Sinn und Identität. Im Rahmen dieses poetischen Entwurfs kommt nun der Konstruktion von Mythen Modell-Funktion zu, geben doch Mythen "Paradigmata oder Vorschläge zu einer allgemeinen und systematischen Weltdeutung an die Hand".38 Slowenien kam sowohl in der Poetik als auch im Weltbild Handkes die Rolle einer Gegenwelt, die mit den Eigenschaften der Ahistorizität und der Herr-schaftslosigkeit ausgestattet war, zu, seine emotionale Prägnanz erhielt dieser Entwurf durch die Identifikation des Autors mit seiner slowenischen Ahnenreihe und seinem Engagement für die Rechte der slowenischen Minderheit in Kärnten. Ausgelöst durch einen Prozeß der Identitätssuche fand Handke in Slowenien einen -über Sprache vermittelten und in Sprache (bzw. Schrift) umgesetzten - Ort der Flucht und, wie er es im Roman Die Wiederholung dargestellt hat, einen Ort, an dem Erneuerung im Ursprünglichen (denk- und sprech-)möglich wird. Die politischen Ereignisse des Jahres 1991, die Handke als Eintritt Sloweniens in die von ihm befehdete Herrschafts-Geschichte interpretiert, zerstörten seinen Mythos. Anstatt nun sein poetisch entworfenes Bild zu modifizieren und nach der möglichen Rolle Sloweniens im Rahmen der neugestalteten politischen Konstellation in Europa zu fragen, machte er, bildlich gesprochen, den Slowenen die Emanzipation von einem Mythos, auf den hin sie von ihm fest-geschrieben wurden, zum Vorwurf. Jener Vorgang, der aus einem Volk des Mythos ein Volk der Geschichte macht, impliziert Handkes Auffassung zufolge einen Akt des Schuldig-Werdens: aus Opfern werden Täter, aus Machtlosen werden Machthaber, aus Poeten werden Politiker. Der Abschied Handkes vom 'Neunten Land' erweist sich als Abschied des Dichters von einem selbstgeschaffenen Mythos. Gemäß seinem Weltverständnis, demzufolge Träume und Mythen 'Wirklichkeit' repräsentieren, wird die Destruktion des Slowenien-Mythos durch die Schaffung eines neuen Mythos, jenes Wunsch-Bildes vom Vielvölkerstaat Jugoslawien, abgelöst. In Verbindung mit dem Mythos eines - gelungenen - Turmbaus von Babel wird zwar der Aspekt der ständigen Gefahr des Scheiterns angesprochen, dennoch verkörpert sich für Handke 36 Handke: Aber ich lebe... (vgl. Anm. 1), S. 41, 119; vgl. auch folgende Selbstaussage: "Ich mein, sowie es mir gelänge [...], die Geschichte für den Einwurf - für die Gegenwart natürlich - fruchtbar zu machen, dann bin ich jederzeit bereit, mich in jeden Vorfall der Geschichte zu vertiefen. [...] Also so viele Leute, viel zu viele, die mich - was an sich schon eine Zumutung ist - beschreiben wollen, machen das auch noch mit Hilfe der Geschichte und verdoppeln dann das Ungehörige. Ich fühl mich nicht beschreibbar, ich möcht mich auch nicht bcschreibbar fühlen. Insofern bin ich wahrscheinlich wirklich geschichtslos und sogar anügeschichtlich, daß ich halt mich mehr wiedererkenne in der Beschreibung einer Wolke [...] als in der Beschreibung von mir selber [...]", ebd., S. 132. 37 Vgl. ebd., S. 129. 38 MANFRED FRANK: Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Myüiologie. 1. Teil. Frankfurt am Main 1982 (= edition suhrkamp. Neue Folge, Bd. 142), S. 110. Vgl. auch folgende Definition des Mythos, die Handke formuliert hat: "Der Mythos besteht aus Wiederholungen: vergleichbare Geschehnisse mit verschiedenen Personen an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten" (PW 83). Zu Handkes Mythen-Suche vgl. auch JÜRGEN EGYPTIEN: Die Heilkraft der Sprache. Peter Handkes "Die Wiederholung" im Kontext seiner Erzähltheorie. In: Peter Handke. Hrsg. v. HEINZ LUDWIG ARNOLD. München 51989 (Neufassung) (= Text + Kritik. Bd. 24), S. 42-58. 77 in jenem "großen Jugoslawien" zwischen Karawanken, Ohridsee und makedonischen Ebenen (A 20) das gelungene Modell multiethnischer Kommunikation. Handke schafft eine rückwärtsgewandte Utopie vom konfliktfreien Zusammenleben der südslawischen Völker und ein selektives, auf die Perspektive der nationalen Freiheitsbestrebungen des 19. Jahrhunderts und die Heroik des Partisanenkampfes zurechtgeschnittenes Panorama vom Entstehen Jugoslawiens. Angesichts des unaufhaltsamen Zerfalls Jugoslawiens und unter dem Eindruck des Bürgerkrieges in Bosnien ist sich Handke jedoch der illusionären Dimension seines Konzepts bewußt und muß sich die Ohnmacht und Ausweglosigkeit einer Reaktion auf die blutigen Ereignisse eingestehen: "Diese Dinge zwingen uns. Aber wir wissen da nicht weiter. Wir wissen nicht weiter" (Horvat 74). Als warnende Stimme vor den Gefahren des Nationalismus, den er als "die schrecklichste Kellerassel der Menschheit" (St A4) bezeichnet, und als Dokument einer Enttäuschung über Ab-grenzungen, Grenz-ziehungen, wird man Handkes Stellungnahme ihren Korrektiv-Wert gerade angesichts euphorischer Akklamationen eines 'neuen Nationalismus' zuerkennen, dennoch war der Zeitpunkt hierfür gerade angesichts der Heuchelei und des auch unter 'westlichen' Intellektuellen festStellbaren zynischen Verhaltens der internationalen 'Völkergemeinschaft' den Problemen Sloweniens und den Kriegen in Kroatien und Bosnien gegenüber - falsch gewählt. Eine differenzierter argumentierende und sensibler formulierte Stellungnahme hätte Handkes zentralem Anliegen, der Warnung vor Nationalismus und Staatsmacht, mehr genützt; in der vorliegenden Form jedoch provozierten seine Aussagen entrüstete oder polemische Abwehr-Reaktionen, als Grundlage zu einer notwendigen Selbst-befragung des 'slowenischen Weges' eigneten sie sich aber nur in beschränktem Maß. Anders als mit seinen fiktionalen Texten, deren poetische 'Konstruktionen' sich jeder Eindeutigkeit entziehen und die Widersprüchlichkeit der Einzelerscheinung ausloten, verfiel Handke bei seinem 'Seitensprung' als politischer Essayist in das Dilemma der Linearität und der "Totalitätsansprüche"39 der mit Begriffen operierenden, von der Einzelerscheinung abstrahierenden politischen Aussage. 39 Handke: Die Geborgenheit... (vgl. Anm. 29), S. 46. 78