Harald Wolter-von dem Knesebeck mappa mundi id est forma mundi Fragen von Form und Inhalt bei ausgewählten Weltbildern des Mittelalters Mappa mundi id est forma mundi - „die Karte der Welt, das ist die Form der Welt". Dieses Zitat stammt aus dem Textblock rechts oben auf der grossen 23 Weltkarte, die man 1830 auf zwei Stangen aufgewickelt im Kloster Ebstorf unweit Hannover fand (Abb. 1), wo sie um 1300 wohl auch entstanden sein dürfte.1 Da das Original aus zahlreichen zusammengenähten Pergamentbögen im Zweiten Weltkrieg verbrannte, überliefern nur noch Fotografien und Nachzeichnungen sowie originalgrosse Kopien ein allerdings recht getreues Bild der Karte, die mit ca. 3,6x3,6 Metern die grösste aus dem Mittelalter bekannt gewordene Weltkarte ist.2 1 Zur Ebstorfer Weltkarte vgl. Ernst Sommerbrodt (Hg.), Die Ebstorfer Weltkarte nebst Atlas von 25 Lichdrucken, Hannover 1891; Konrad Miller, Mappaemundi. Die ältesten Weltkarten 5: Die Ebstorfkarte. Mit dem Facsimile der Karte in den Farben des Originals, Stuttgart 1896; die Beiträge in: Hartmut Kugler, Eckhard Michael (Hg.), Ein Weltbild vor Columbus. Die Ebstorfer Weltkarte. Interdisziplinäres Colloquium 1988, Weinheim 1991, zur Datierung vgl. vor allem dort Renate Kroos, Über die Zeichnungen auf der Ebstorfer Weltkarte und die niedersächsische Buchmalerei, S. 223-244, sowie Jürgen Wilke, Die Ebstorfer Weltkarte, Bd. 1: Text, Bd. 2: Tafeln (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen 39), Bielefeld 2001. Jüngst stand die Karte im Zentrum des Bandes von Nathalie Kruppa und Jürgen Wilke (Hg.), Kloster und Bildung im Mittelalter (vgl. Anm. 1). Nicht mehr einsehen konnte ich für diesen Beitrag die gerade erscheinende Publikation von Hartmut Kugler (Hg.), Die Ebstorfer Weltkarte, Unter Mitarbeit von Antje Willing und Sonja Glauch, Bd. 1: Atlas, Bd. 2: Kommentar, Berlin 2006. Sehr empfehlenswert ist die Webside zur Karte von Martin Warnke, die in Zusammenhang mit dieser Publikation entstanden ist: http://kuhurinformatikuni-lueneburg.de/projekte/homepage_ebskart/con-tent/start.html (Recherche vom 10. 11. 06). 2 Aus der umfangreichen Literatur zu den Weltkarten sei hier nur verwiesen auf eine Arbeit, 24 Abb. 1: Ebstorfer Weltkarte (Kopie) In ihrer Gesamtheit ist die einleitend zitierte Aussage die Definition einer Weltkarte und benennt deren Form und Anliegen geradezu idealtypisch: Map-pa dicitur forma. Inde Mappa mundi id est forma mundi. "Karte heisst Form, daher ist die Karte der Welt die Form der Welt." Was ist hier mit Form gemeint? Und wie verhält sich diese Aussage zu einer weiteren, die Hildegard von Bingen noch im 12. Jahrhundert zum Mikrokosmos Mensch in seinem Verhältnis zum Makrokosmos formulierte, wie ihn die bekannte Hildegard-Handschrift in Lucca von ca. 1230 (Abb. 2) zeigt. Dort heisst die mir sehr hilfreich war: Jörg-Geerd Arentzen, Imago Mundi Cartographica. Studien zur Bildlichkeit mittelalterlicher Welt- und Ökumenekarten unter besonderer Berücksichtigung des Zusammenwirkens von Text und Bild (Münstersche Mittelalter-Schriften 53), München 1984, sowie einführend auf die jüngste Publikation zu diesem Thema von Evelyn Edson, Emilie Savage-Smith, Anna Dorothee von den Brincken, Der mittelalterliche Kosmos. Karten der christlichen und islamischen Welt, Darmstadt 2005. 25 Abb. 2: Hildegard von Bingen, Liber de operatione Dei, Lucca, Governativa, Ms. 1942, fol. 6r, Zweite Vision: Die Göttliche Schöpferkraft hält das Universum mit dem Kosmos-Menschen es zu diesem Bild:3 Et vidi [...] Dei imaginem, quasi hominis formam und Deus est forma mundi.: „Und ich sah das Bild Gottes gleichsam in der Form des Menschen", sowie: „Gott ist die Form der Welt". Wie kann es dazu kommen, dass im Mittelalter die „Form der Welt" (forma mundi) einmal mit Gott, einmal aber mit einer Weltkarte gleichgesetzt wer- 3 Vgl. etwa Arnim Wolf, Ikonologie der Ebstorfer Weltkarte und politische Situation des Jahres 1239. Zum Weltbild des Gervasius vonTilbury am welfischen Hofe, in: Ein Weltbild vor Columbus (vgl. Anm. 2), S. 54-116, bes. S. 100, zum Codex in Lucca, Governativa, Ms. 1942, fol. 6r, Liber de operatione Dei, vgl. etwa Karl Clausberg, Kosmische Visionen: mystische Weltbilder von Hildegard von Bingen bis heute (DuMont -Taschenbücher 98), Köln 1980, bes. S. 58ff, zur Miniatur der zweiten Vision vgl. bes. S. 77ff., S. 80, Farbabb. 8, 10. den kann? Und ist dies zugleich eine Erklärung dafür, dass in der Ebstorfer Weltkarte auf besonders eigentümliche Art und Weise ein Bild Gottes inseriert wurde? Denn an den vier Weltenden erscheinen die Gliedmassen Christi, so dass sich eine Gestalt Christi mit einem Weltleib ergibt. Oben im Osten - die Karte ist wie im Mittelalter üblich geostet - ist das Haupt Christi als Vera ikon zu sehen, d.h. das Schweisstuch, das Veronika der Legende nach Christus bei dessen Kreuztragung auf das Gesicht drückte, und das als wahres Abbild Christi im Hochmittelalter von einer Berührungsreliquie zur Ikone mutierte.4 Zu Seiten der Weltkarte im Norden und Süden erscheint jeweils eine Hand Christi, unten im Westen aber nebeneinander die Füsse. Schliesslich stellt sich noch eine weitere Frage. Wie verhält es sich damit, dass auf der Ebstorfer Weltkarte Christus, in der Vision Hildegard von Bingens aber der Mensch in vergleichbarer Weise weltumspannend mit dem Kosmos verbunden ist? Die letzte Frage ist einfacher zu beantworten. Der Mensch wurde gemäss der biblischen Schöpfungsgeschichte (Genesis, 1, 26) nach dem Bild Gottes 2Ö geschaffen. Diese Vorstellung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen steht hinter Hildegards Vision, bei der sie eine Bild Gottes gleichsam in der Form des Menschen sah. Sie ist zugleich einer der Grundpfeiler christlichen Bildverständnisses. Darüber hinaus wird Christus mit seiner Geburt, in der Inkarnation, Mensch und bleibt doch Gott. Nur aufgrund seiner Doppelnatur war es im Christentum letztlich möglich, das mosaische Verbot zu umgehen, sich von Gott kein Bild zu machen. Dieser Antagonismus von menschlichem Gott und göttlichem Mensch kehrt in beiden mittelalterlichen Weltdarstellungen wieder. In Hildegards optimistischer Vision reicht der Kosmos-Mensch in der Weltscheibe bis an die Ränder des Kosmos, da er in dieser von der rotleuchtenden göttlichen Schöpferkraft, der göttlichen Liebe gehalten wird. Auf der Ebstorfer Weltkarte ist es der als Mensch wiedergegebene Christus selbst, der den Platz des Menschen im Kosmos einnimmt. Hierbei ist er aber aufgrund seines Weltleibes sehr viel enger mit der Erde im Zentrum des Kosmos verbunden. Übersteigt das eine Mal der Mensch die engeren Grenzen seines Teils des Kosmos, die Erde, so ist das andere mal Gott in Christus besonders eng an diese gebunden. Vgl. etwa Wolter-von dem Knesebeck 2006, bes. 232-234, 258ff., sowie Christine Ungruh, Paradies und vera icon. Kriterien für die Bildkomposition der Ebstorfer Weltkarte, in: Kloster und Bildung im Mittelalter (2006), S. 301-329. Zur Veronica allgemein vgl. Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990, bes. S. 233ff., S. 246-252, S. 602-605, mit Literatur, sowie Ewa Kuryluk, Veronica and her cloth. History, symbolysm, and structure of a 'true' image, Cambridge Mass. 1991. Begriffs- und Problemgeschichte von Form Wie kann in den Begleittexten der beiden Darstellungen die Form der Welt aber einmal mit einer Weltkarte, ein andermal mit Gott gleichgesetzt werden? Die beste Annäherung an dieses Problem ist es auf einer Tagung zum Problem der Form, das Bindeglied der beiden Aussagen, das Substantiv forma/Form und seine Geschichte zu betrachten.5 Der lateinische Begriff forma dürfte in den hier behandelten Zusammenhängen Form bzw. Bild/Abbild meinen. Er kann aber auch mit Gestalt, Figur, Art, mit Norm, Ordnung oder mit Stempel übersetzt werden. Sein deutsches Äquivalent Form ist zuerst ab Mitte des 13. Jahrhunderts in der Dichtung bei Konrad von Würzburg nachweisbar, und „erst später in theoretischen Kontexten, wo das Lemma Begriffe wie , bilde, gestalt, figure1 ersetzt."6 In der Antike ist ebenso wie im Mittelalter für forma keine ästhetische Definition grundlegend, wohl aber eine, die letztlich auf handwerkliche Erfahrungen in einem Werkprozess zurückgeht. Die solcherart bezeichnete Form, griechisch morphe, ist stets aktivisch auf „Materie" bzw. „Material", also etwas Ungeformtes, aber Formbares, griechisch hyle, bezogen, das seine Formung durch die Form passiv erfährt. Die Form hängt dabei ihrerseits von etwas Geistigem ab, „das die Formung verursacht, durch sie zur Existenz gebracht und durch die gestaltete (materialisierte) Form präsentiert wird."7 Es ist vor allem Aristoteles, bei dem dieser nach seinen Bestandteilen Materie und Form benannte Hylemorphismus seine grundlegende Ausprägung erfuhr. Neben Plato bzw. neoplatonischen Autoren wie Plotin war es somit vor allem die schubweise Aristotelesrezeption des Mittelalters, welche diesem die Vorstellung von der Form als Mittler zwischen dem Geistigen und der Materie übermittelte. So liegt diese Vorstellung dem christlichen Verständnis der Biblischen 5 Vgl. zum Folgenden den Artikel „Form" in: Ästhetische Grundbegriffe, hg. von Karlheinz Barck u.a., Bd. 2, Stuttgart/Weimar 2001, S 462-494 (Klaus Städtke), bes. S. 466ff., sowie die Artikel zu „Form/Materie" im Lexikon des Mittelalters, Bd. 4, 1989, Sp. 636-645 (Rolf P. Schmitz), bzw. „Materia et Forma" in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 22, 1992, S. 259-262 (Fernando Inciarte, Michael-Thomas Liske). 6 Vgl. Städtke 2001 (wie Anm. 6), S. 463, mit Verweis auf den Artikel „Form" im Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 1, Berlin 19582, S. 468 (Walter Johann Schröder). 7 Diese steht nach Städtke 2001 (wie Anm. 6), S. 463t in „einer unaufhebbaren Relation zu ,Materie', ,Material', ,Stoff', d. h. zu einem Nicht-Geformten (bzw. Formlosen), und andererseits zu ,Zweck', ,Inhalt', ,Bedeutung', ,Idee', d. h. zu einem Geistigen, das die Formung verursacht, durch sie zur Existenz gebracht und durch die gestaltete (materialisierte) Form präsentiert wird." 27 Schöpfungsgeschichte zugrunde. Dementsprechend stellt der Kirchenvater Augustinus zum Beginn der Schöpfungsgeschichte Gen.1.1, „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde", fest, dass die ungeformte Materie, die materia infor-mis, bestimmt ist, „die Form von Himmel und Erde aufzunehmen".8 Hierbei sieht Augustinus Form und Materie als simultan geschaffen an und daher auch die Materie als letztlich gut. Allerdings behält die Form das Primat, da sie sich von der „Form alles geformten", forma omnium formatorum, im Wort Gottes herleitet.9 „Am Anfang war das Wort", heisst es ja programmatisch zu Beginn des Johannesevangeliums. Diese „Urform" ist unvergänglich und unentstanden, sie ist der Grund für alle entstehenden und vergehenden Formen.10 Es muss hier den Ausprägungen dieser grundlegenden Vorstellung im Mittelalter nicht detailliert nachgegangen werden, da letztlich immer Gott bzw. sein Wort an der Stelle des Geistigen erscheint, das durch die Form der Materie vermittelt wird. So ist in der Spätantike bei Boethius einfach Gott die Form, was bereits nahe an die Vorstellungen Hildegard von Bingens heranführt.11 2g Die Formen in den Körpern erscheinen ihm dabei nicht im eigentlichen Sinne als Formen, sondern als Abbilder, imagines. Dies verweist bereits auf die enge Berührung der mittelalterlichen Ausprägungen des Hylemorphismus mit den Ansätzen zu einer Bildlichkeitstheorie in Spätantike und Mittelalter. Für den karolingischen Gelehrten Johannes Scotus Eriugena ist der von niemandem geformte Gott selbst Form von allem (forma omnium),12 wobei er sein Verhältnis zur Materie paradox erklärt: „Nur aus dem Gegenteil verstehen wir diese Ähnlichkeit der Allursache, aus welcher und in welcher, durch welche und für welche alles ist, und der formlosen Ursache selber, der Materie, die dazu geschaffen ist, dass das, was die Sinne von sich aus nicht erreichen können, in ihr auf gleichsam sinnliche Weise erscheint." Auf solchen Vorstellungen von Form und Materie konnte später die anagogische, zu Gott hinauf führende Weltsicht des Mittelalters aufbauen. So sah etwa der bedeutende frühscholastische Theologe Hugo von St. Victor im 12. Jahrhundert in allen Erscheinungen der Welt Hinweise auf Gott. Dasselbe gilt auch für Thomas von Aquin, der festhielt: „Alles sinnhaft Wahrgenommene ist verwirklichte Idee, die Idee ist im Wahrgenommenen; Die ,formae' der Dinge sind ,nichts anderes als das Siegel göttlichen Wissens'."13 8 Vgl. Schmitz 1989 (wie Anm. 6), S.p. 438f. (De Gen. Ad. Litt. Libr. Imp. IV, 14). 9 Ebd. Sp. 639, (Sermo 117, II, 3). 10 Ebd. (De div. quaest. 83, qu. 46, 2). 11 Ebd. (De Trin. II, MPL 64, Sp. 1250). 12 Ebd. (De div. nat. I, 56). 13 Ebd., Sp. 642f., Paraphrase und Zitat nach De. Gen. ad litt. I, 15, 29. Form und Weltbild Die Vermittlerfunktion der Form zwischen einem Geistigen, das im Christentum letztlich immer Gott ist, und der zur Welt zu formenden Materie, die das Siegel diese göttlichen Wissens in der Form trägt, um mit Thomas von Aquins Worten zu sprechen, erklärt das Problem, das der Ausgangspunkt dieser Darlegungen war: Was ist mit Form in den beiden eingangs zitierten Beischriften zu den mittelalterlichen Weltbildern eigentlich gemeint und wieso war die Form der Welt in diesen Beischriften einmal mit einer Weltkarte, einmal mit Gott gleichzusetzen? Gott ist die Form der Welt als Form aller Formen und alles Geformten. Die Karte der Welt ist ebenfalls in dem Sinne Form der Welt, als sie diese Idee, die für Gott steht, gleichsam als göttlichen Bauplan der Welt in die diese erfahrende Materie einbringt. 14 Bei Hildegard ist es die göttliche Liebe, die zum Ausdruck dieser Idee den nach Gottes Plan geformten Kosmos mit dem nach Gottes Ebenbild geformten Menschen im Zentrum trägt. Auf der Ebstorfer Weltkarte ist es hingegen die Weltscheibe, die gleichsam mit dem Menschgewordenen Gott im materiellen wie inhaltlichen Sinne geprägt erscheint. Unter dieser Prämisse, d. h. der von Gott als Form aller Formen geformten Welt, konnte es im Mittelalter innerweltlich die Darstellung eines Formlosen eigentlich nicht geben, wie es die Vorstellung einer noch zu formenden Materie eigentlich zuliess. Und dies weniger deshalb, weil eine solche Darstellung als Bild bereits der Form bedarf, was eher ein moderner medientheoretischer Einwand wäre. Die Welt selbst ist in all ihren Teilen bereits ein Geformtes, das auf Gott zurückverweist, auch im Bereich des Ungeheuren oder Bizarren, das die Weltkarten in den Monstren an den Rändern der Welt bereithält. Nimmt man die dieser Tagung zugrundeliegende Definition von Form auf, so ist diese in der Erscheinungsgestalt eines Bildes als dessen sichtbare kompositorische Einheit in der christlichen Kunst des Mittelalters nicht hintergehbar, da sie geheiligt ist als Plan Gottes bzw. Anwesenheit Gottes in allem Geschaffenen. Diese Grundlage christlichen Bildverständnisses scheint mir in der europäischen Tradition durchgängig zu sein. Dies gilt auch für die Frühe Neuzeit, in der mit Konzepten wie denen von Idea, Invenzione und Ingegno der Künstler ihre Leistung am Werk und seiner Form prononciert in den Vordergrund ge- 14 Vor diesem Hintergrund ist Arentzen 1984 (wie Anm. 3), S. 18, zuzustimmen, wenn er bei der Ebstorfer Weltkarte mit dem schillernden Begriff forma die Intention umschrieben sieht, dass die Mappa mundi „zugleich Abbild der äusseren Erscheinung und Charakteristik des inneren Wesens der Welt" sei, rückt sie doch in dieser Beischrift an die Stelle, die Gott in derjenigen der Miniatur bei Hildegard von Bingen einnimmt. 29 30 rückt werden. Wenn dabei besondere Meister der Formung wie Michelangelo als Divinus=Göttlich bezeichnet werden, scheint hiermit doch eine Eigenschaft charakterisiert, die - so Pfisterer - „durch die Natur, d. h. als exzeptionelle Begabung oder aber [und das ist bezeichnend, Anm. des Verfassers] durch (,göttliche') Inspiration, eingegeben scheint, und die nicht durch Übung, Nachahmung oder durch das Regelwissen einer Kunst zu erlangen ist. Es handelt sich dabei" - so Pfisterer weiter - „um ein letztlich nicht rationalisierbares Vermögen, das quasi in Parallele zur göttlichen Schöpferkraft herausragend Neues hervorzubringen ... vermag".15 Das Modell der Form als Vermittlerin von etwas eigenständig Geistigem in die Materie bleibt somit ebenso gewahrt wie die Vorstellung, das letztlich Gott Ursprung dieses Vorganges bleibt. Darstellungsmodi von Defizienz im Mittelalter Da die Welt aber als defizient und vergänglich gedacht wurde, musste es auch im Mittelalter stets innerhalb bzw. unterhalb dieses Rahmens Möglichkeiten geben, diese Defizienz und Vergänglichkeit auch auszudrücken. Einen eher äusserlichen Weg hierzu demonstriert die zweitgrösste Weltkarte des Mittelalters aus der Kathedrale von Hereford von ca. 1280, die mit 162 x 132 cm allerdings nicht einmal ein Viertel so gross ist wie die Ebstorfer.16 Die Buchstaben auf den vier siegelartigen Annexen an den Diagonalen des Weltenrunds ergeben zusammen das Wort MORS, d. h. Tod. Nur wer im Jüngsten Gericht besteht, das oben über dieser Karte wiedergegeben ist, wird von der solcherart Todgeweihten vergänglichen Welt in die ewige kommen. Es gibt aber auch einen Weg, Formlosigkeit als Defizienz in einem eigenen Darstellungsmodus zu zeigen, der natürlich in einem Bild wie den Weltkarten auch eine Form hat. Dies kann wiederum am besten an der Ebstorfer Weltkarte vorgeführt werden. Gerade ihre visuelle Gestalt und deren Genese sind geeignet, Strategien zur Darstellung der Welt als eines auch chaotischen und defizienten Orts vor Augen zu führen, eine Form der Formlosigkeit als Darstellungsmodus von Defizienz zu umreissen. Hierzu ist aber zuerst eine genauere Beschreibung der Weltkarte nötig. 15 Vgl. Patricia A. Emison, Creating the „Divine" Artist. From Dante to Michelangelo, Leiden u.a. 2004, Zitat nach der Besprechung durch Ulrich Pfisterer, in: sehepunkte 6 (2006), URL: http://www.sehepunkte.de/2006/09/9828.html (Recherche vom 10. 11. 06.) 16 Zur Karte im Besitz der Kathedrale von Hereford vgl. etwa Scott D. Westrem, The Hereford Map. A Transcription and Translation of the Legends with Commentary, Turnhout 2001, sowie jetzt P.D.A. Harvey (Hg.), The Hereford World Map. Medieval World Maps and their Content, London 2006. Die Ebstorfer Weltkarte Keine andere Weltkarte versammelt ähnlich viele Elemente wie die Ebstorfer. Nach neueren Zählungen stehen 1500 lateinischen Texten 800 Bildelemente gegenüber, darunter 500 Stadt- bzw. Gebäudewiedergaben, 160 Gewässer, 60 Tiere sowie 45 Menschen bzw. Fabelwesen. Hinzu treten mehrspaltige Textblöcke in den Zwickeln rund um das Erdenrund mit Erläuterungen zu kartographisch relevanten Begriffen wie Kosmos oder Weltkarte, vor allem aber zu den verschiedenen Tieren. Trotz der Textfülle ist die Karte alles andere als ein auseinandergenommenes und an die Wand gepinntes illustriertes Buch. Ihre bildhafte Erscheinung sichert alleine schon die grosse Kreisform der Erdscheibe. Zugleich erscheint die Weltkarte aber als eine seltsame Mischung verschiedener Bildformen. Während ihre Grösse sie Wandmalereien annähert, verweist ihre Anlage als Deckfarbenmalerei auf 30 zusammengenähten Pergamentbögen und die reichliche Schriftverwendung auf die Buchkunst, das Medium also, in dem fast alle übrigen der weit über 1000 mittelalterlichen Weltkarten überliefert sind. Die Ebstorfer Weltkarte zeigt die Erdscheibe von oben mit den drei damals bekannten bewohnten Kontinenten Asien, Europa und Afrika im rings umlaufenden Randozean, der zum kugelförmig um die Erde gelegten Kosmos vermittelt. Die geostete Karte zeigt Asien oben, Europa im Nordwesten unten links, Afrika im Süden rechts. Das Weltenmeer wird dabei ebenso wie das T-förmig zwischen den Kontinenten angeordnete Mittelmeer zugunsten der Landmassen auf dünne Wasserstreifen reduziert. Dabei folgt die Karte aber nur bedingt dem weit verbreiteten T-O-Schema mit dem in einen Kreis eingeschriebenen T zwischen den Kontinenten, nach dem Asien den gesamten Osten einnehmen müsste, Europa und Afrika aber je ein Viertel der Welt. Auf der Ebstorfer Karte reicht statt dessen Asien über die Mittellinie herab, so dass Jerusalem symbolträchtig in die Mitte der Welt rückt. Dafür erstreckt sich Afrika im Süden bis weit in den östlichen Teil der Welt, also nach oben, wo es von Asien durch das Rote Meer getrennt wird. Europa erhält auf der Ebstorfer Weltkarte auf Kosten Afrikas besonderes Gewicht. Es drängt das Mittelmeer weit nach Süden. Afrika ist nur am Mittel- und am Roten Meer von den ansonsten omnipräsenten Städten gesäumt, ansonsten herrschen hier die im Mittelalter so beliebten Mischwesen des Erdrands vor, die oft von einander durch setzkastenartig angeordnete Gebirgszüge getrennt sind. So erscheinen hier etwa antike Satyre oder nasenlose Menschen. Dominieren in Afrika die Tiere und Mischwesen, so ist Europa ganz der Kontinent der Städte, zu denen nur ganz vereinzelt figürliche Beigaben treten. 31 Abb. 1a: Ebstorfer Weltkarte (Kopie) Beim Kontinent Asien wird die zunehmende Entfernung zum Betrachter dadurch ausgeglichen, dass seine grosse Landmasse eine Vielzahl von z.T. ungewöhnlich grossen Stadt-, Tier- und Menschdarstellungen aufnimmt, etwa das in seiner Grösse nur von Jerusalem überbotene Babylon mit dem babylonischen Turm daneben. An den Rändern Asiens mehren sich wiederum die wundersamen Völkerschaften, darunter auch die Amazonen. Hier liegt zudem in einem mit Bergzügen umgrenzten Bezirk ganz im Osten das verlorene irdische Paradies mit der Quelle der vier Paradiesströme, dem Baum des Lebens und demjenigen der Erkenntnis, an dem sich der Sündenfall vollzieht. Betrachtungsweisen Die komplexe Darstellung der Welt auf der Ebstorfer Karte mit ihrer eigentümlichen Text-Bild-Kombination bot verschiedenen Betrachtungsweisen Raum. Sie erscheint trotz des hohen Textanteils - 1500 Text- gegenüber 800 Bildelementen - und der verwirrenden Vielzahl dieser Bildelemente als ein Bild, in das in spezifisch mittelalterlicher Weise visuelle Ordnungs- und zu- Abb. ib-e: Ebstorfer Weltkarte (Kopie) 34 gleich Sinnstrukturen eingeschrieben wurden. Ein wesentliches Element dieser Bildhaftigkeit ist dabei die übergreifende geometrische Form des Erdenrunds. Der Kreis als perfekte Form dominierte immer schon die Darstellungsarten der Welt als sinnvolles Ganzes. Über diese perfekte Form hinaus erhält das Kreisrund seinen Sinn, indem seine - im geometrischen Sinne - herausragenden Orte Darstellungen Christi aufweisen. Zuerst fallen dabei die bereits behandelten Gliedmassen Christi ins Auge, die an den vier Himmelsrichtungen erscheinen: Analog zur VeronikaIkone als Passionsikone scheinen Hände und Füsse Christi ursprünglich die Wundmale Christi aufgewiesen zu haben. Erhalten blieb allerdings nur dasjenige der rechten Hand.17 So scheint er ungewöhnlicherweise für eine Weltkarte wie der Gekreuzigte, aber auch als Pendant des Weltenrichters, wie er auf der Hereford-Karte über der Weltscheibe zu sehen ist, wobei er nicht wie bei solchen Weltkarten üblich ausserhalb der Welt erscheint, sondern als ihr integraler Bestandteil. Dies vermittelt Christus auf der Ebstorfer Weltkarte auch wie dargelegt mit seinem Gestus des Offenbarens, der verdeutlicht, dass in ihm Gott, Welt und Mensch zusammenfallen. Das wiederum für Weltkarten singuläre zweite Ebstorfer Christusbild, der aus seinem Grab auferstehende Christus, verstärkt noch die inhaltliche Zuspitzung der Karte auf Passion und Erlösung. Er erscheint in Jerusalem, gleichsam am Nabel der Welt, genau in der Mitte der Weltkarte. In Kreuz und Auferstehung besiegt der Gottessohn den Tod und eröffnet den Christen das Paradies. Jerusalem ist daher hier nicht allein die historische Stadt der Passion und des Grabes Christi, zu dem die Pilger ziehen. Vielmehr ist sie mit zwölf Toren und goldglänzenden Mauern das himmlische Jerusalem der Apokalypse, das den Christen als ewige Wohnstätte verheissen ist. Es ist nun bezeichnend, dass die Welt rund um diese - ich sage einmal - „christologischen Grundkoordinaten" der Weltkarte nun alles andere als penibel geordnet ist. Vielmehr erscheint sie vor allem auf den Kontinenten mit ihren zahlreichen, massstäblich nicht allzu sehr differierenden Einzelbildern in einer Art „All-over"-Komposition angefüllt. Zwar sind die Einzelelemente in regionalen Ordnungsstrukturen wie etwa den astartig ausgebreiteten Flüssen bzw. den teilweise setzkastenartig ausgebreiteten Gebirgszügen organisiert. In Analogie zu den gegenüber dem T-O-Schema verschobenen Landmassen der Kontinente werden dabei aber keine geometrischen Fixpunkte der Erdscheibe bezogen. So sind etwa die grossen Städte Rom oder Babylon aus den 17 Den Passionsaspekt der Darstellung Christi auf der Ebstorfer Weltkarte betont nun besonders Ungruh (wie Anm. 5). Mittelachsen der Scheibe gerückt. Statt geometrischer Hierarchisierung des Raums scheint alles in einer schwingend-fliessenden Bewegung zu sein. Die christologischen Elemente werden hierdurch sinngebend den kleinteiligen Abbreviaturen für die Welt übergeordnet, die nur abgeleiteten Sinn haben. Die in der All-Over-Komposition angelegte „Unordnung" der Welt ist dabei kalkuliert. Dass die Welt jenseits von Christus in einer Art Modus der Formlosigkeit daherkommt, ist Teil der Hauptaussage der Karte. Diese besagt, dass Christus als menschgewordener Schöpfergott, Erlöser und Richter in Einem allein der Sinn der Welt ist - wozu er zugleich in der Karte mit seinem Weltenleib als Ursprung ihrer Form sowie von Form überhaupt auftritt. Diese Abstufung von Darstellungs- und zugleich Formmodi zeigt sich auch, wenn man nach den je nach Gegenstandsbereich wechselnden Arten der Betrachtung der Karte fragt. Die christologischen Elemente Kopf und Glieder Christi sowie der Auferstandene im Zentrum erschliessen ihren Sinne im sukzessiven Blick aufeinander. Wie die Kreisscheibe der Erde fordern sie einen Blick, der von einem geometrischen Fixpunkt der Welt zum anderen geht und sich dabei die Welt selbst strukturiert. Jenseits dieser Fixpunkte hingegen gerät eine nicht von den Texten geleitete Betrachtung der Weltkarte ins Schweifen. Dies ist eine andere Erfahrung der Welt. Sie löste daher eher Verunsicherung aus, da sie höchstens zur Befriedigung der curiositas diente, der im Mittelalter zumeist negativ besetzten Neugier, wie sie etwa bei Augustinus durchgängig als „ein begehrliches Interesse an der Äusserlichkeit der Welt" verstanden wird.18 Die Mitte zwischen diesen beiden Betrachtungsweisen bildet das textgeleitete Studium der Karte. Hierbei pendelte der Blick regelmässig zwischen Texten sowie zwischen diesen und Bildern hin und her, etwa von den Tierdarstellungen der Weltscheibe zu den auf sie beziehbaren langen Textglossen der Kartenzwickel. So erfuhr der von dem mächtigen Auerochsen im Baltikum frappierte Betrachter oben rechts in dem Textblock zu den Landtieren, dass dieser derart weit vorstehende Hörner, habe, dass diese an den königlichen Tafeln als Serviertische dienen. Aber auch bei den Bildelementen selbst finden sich nicht nur die in Grösse und Farbe systematisch differenzierten Benennungen, sondern etliche umfänglichere Beischriften. Sie beschreiben etwa einzelne Regionen und herausragende Städte. Dabei charakterisiern je nach Zugang einmal erst die Beischriften das Dargestellte, einmal ist dieses indexikalisch 35 18 Vgl. Curiositas. Welterfahrung und ästhetische Neugierde in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. von Klaus Krüger (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft, 15), Göttingen 2002, bes. Klaus Krüger, Einleitung, S. 9-18, bes. S. i2ff., Zitat S. 12. 36 für den begleitenden Text. Bei einer solchen, sicherlich als didaktisch wertvoll erachteten Betrachtungsweise verwies der Reichtum der Welt in all ihren Erscheinungen nicht nur auf Gott als ihren allmächtigen Schöpfer. Zugleich ergaben sich immer neue Kombinationen des Gesehenen und Gelesenen, etwa nach historischen oder geographischen Zusammenhängen. Einkapselung des Chaos Zeigt sich die defiziente Welt in ihrer ungeordneten Form als eine All-OverKomposition, so ist sie dabei aber wie gezeigt mit einem geometrischen und damit eindeutig ideenhaft geformten Rahmen bzw. Gerüst versehen, wobei ihre ungeordnete Vielfalt in die perfekte Kreisform eingekapselt ist. Diese Einkapselung teilt sie mit anderen Darstellungen der defizient-vergänglichen Welt, bei denen es bezeichnenderweise stets dieser Rahmen der geometrischen Einkapselung ist, den Gott berührt. Nie führt Gottes Griff in die solcherart eingekapselte Welt hinein. Diese Tendenz zur geometrischen Einkapselung von All-Over-Kompositionen ist allgemein. So sind die schlimmsten Höllenqualen in Dantes Inferno in einer regelmässig segmentierenden Einteilung des Höllentrichters fein säuberlich aufgereiht und somit in einem regelhaft strukturierten Ganzen verortet. Eine solche Einstellung spiegeln auch die Wiedergaben ewiger Höllenqualen wider, die eigentlich als Extrempunkt von Gottes- und damit auch Formferne nicht zu steigerndes Chaos verbildlichen müssten. In Ost und West sind die einzelnen Strafen zumeist wie etwa in Torcello fein säuberlich sortiert, je eine Höllenstrafe pro Kasten eines Schachbrettmusters.19 Gerade vor diesem Hintergrund bleibt Eines erklärungsbedürftig. Wieso werden auf der Ebstorfer Weltkarte in solch singulärer Weise für diese Bildgattung die Möglichkeiten der Ikone eingesetzt, wobei neben der Vera Ikon auch die bei ihren fast lebensgrossen Dimensionen auf Nahansicht berechneten Gliedmassen Christi erscheinen, die zudem ohne geometrisch abgrenzende Rahmung in die All-Over-Komposition der Welt eingesetzt wurden? Auch dass dies wesentlich dafür ist, dass die defiziente Welt wie der Leib Christi erscheint, erklärt noch nicht, wie es zu dieser Verbindung von All-Over-Komposition und Ikonen-Elementen kam. Hierfür ist ein Blick in die hochmittelalterliche Theoriebildung zu Bild und Weltbild und anschliessend die Entwicklung neuer Bildformen im Hochmittelalter hilfreich. 19 Vgl. den Artikel „Weltgericht" im Lexikon der Christlichen Ikonographie, hg. von Engelbert Kirschbaum, Bd. 4, Sp. 513-523 (Beat Brenk), Rom u.a. 1972. Weltbild und Bildtheorie Von zentraler Bedeutung für das hier angesprochene Verständnis der Weltkarten sind die Vorstellungen Hugo von St-Victors und der ihm nachfolgenden Victoriner, die von diesem bedeutenden frühscholastischen Pariser Lehrer und Theologen in der 1. Hälfte des 12. Jahrhunderts geprägt wurden. 20 Nach ihnen ist die Welt, wie ja bereits kurz erwähnt wurde, in allen ihren Erscheinungen als lehrhaftes Beispiel für den Weisheit und Gott suchenden Menschen zu verstehen. Für Hugo von St-Victor ist die Weisheit das höchste Gut, das der Mensch erstreben kann.21 Besondere Bedeutung kommt hierbei dem Visuellen, der Betrachtung zu. Ein Zentralbegriff der Victoriner in diesem Zusammenhang ist contuitus, d.h. eigentlich das Anschauen, der Anblick. Im Rahmen der verschiedenen Stufen der Betrachtung beschreibt er bei den Victorinern eine von Täuschungen und Fiktionen freie, vogelfluggleiche, umfassend-kosmische Schau alles Erkennbaren und der Wahrheit. Diese Schau kommt der Betrachtung der Welt durch Gott am nächsten. Gott sieht alles auf einmal. Gott erkennt jedes Einzelelement als solches und sieht es doch zugleich eingeordnet in seine grösseren Zusammenhänge, den ordo, an seinem rechten Platz. Gott ist auch alles Ungleichzeitige zugleich vorhanden und sichtbar. Vor Gottes Art der Betrachtung schwindet das Formlose und somit auch dessen Modus. Diese theoretischen Vorgaben lassen schon wesentliche Elemente einer Malerei erkennen, die auf das innere Auge zielt, das sich die Victoriner als vollkommener als das schwache äussere, körperliche Auge vorstellten, dabei aber auch auf eben die Schwächen des äusseren Auges reagiert. Mit schematisch-geometrischen Grundmustern wird dem schwachen äusseren Auge die 20 Vgl. zum Folgenden Harald Wolter-von dem Knesebeck, Die Weisheit hat sich ein Haus gebaut - Bilder, Buchkunst und Buchkultur in Hildesheim während des 12. Jahrhunderts, in: Abglanz des Himmels. Romanik in Hildesheim, hg. von Michael. Brandt [Ausstellung Hildesheim 2001] Regensburg 2001, S. 95-136, bes. S. 108, sowie ders 2006 (wie Anm. 1), S. 239ff. Zu den Ansätzen zu einer Bildtheorie, insbesondere bei den Victorinern, vgl. vor allem Christel Meier, Malerei des Unsichtbaren. Über den Zusammenhang von Erkenntnistheorie und Bildstruktur im Mittelalter, in: Text und Bild, Bild und Text, DFG-Symposion 1988, hg. von Wolfgang Harms, Stuttgart 1990, S. 35-65. 21 Hugo von St-Victor leitet sein berühmtes Didascalicon, sein Studienbuch, eine weitverbreitete Anleitung zum Studium bzw. zum rechten Lesen - das erste Buch überhaupt zu diesem Thema - programmatisch folgendermassen ein: Omnium expetendorum prima est sapientia in qua perfecti forma consistit. - „Unter allem, was erstrebenswert ist, ist das höchste die Weisheit, in der die Form des vollkommenen Guten existiert." Vgl. Didascalicon de studio legendi : lateinisch-deutsch = Studienbuch / Hugo von Sankt Viktor, übersetzt und eingeleitet von T. Offergeld (Fontes Christiani, Bd. 27) Freiburg u.a. 1997. 37 38 Erkenntnis des ordo erleichtert, der den Erscheinungen innewohnt. Zugleich wird mit einer oft abstrahierenden Wiedergabe der Einzelelemente deren Besonderheit zurückgenommen. Darüber hinaus wird mit einer synoptischen Darstellung ungleichzeitiger Dinge der innere Zusammenhang der Geschichte als Heilsgeschichte verstärkt. Dies alles trifft auch auf die Ebstorfer Weltkarte zu. Sie ist durch ein schematisch-geometrisches und zugleich sinngebendes Grundmuster geprägt, das von Christus besetzt ist und die formende Kraft der Welt zeigt, die zugleich ihre Erlösung verbürgt. Über dessen Darstellungen hinaus herrscht aber eine gewisse chiffrenartige Verkürzung der Einzelelemente und eine typologisch-heilsgeschichtliche Synopse. Diese ist in der Ebstorfer Weltkarte dadurch gegeben, das Geschehnisse vom Anfang der Welt, dem Sündenfall im Paradies, über alle Weltalter bis hin zur Gegenwart, die in der europäischen Städtewelt verkörpert ist, und dem Ende aller Zeiten mit dem himmlischen Jerusalem aufgereiht sind. Für das im Sinne der Victoriner geschulte Auge, das in der geschilderten Text und Bild vernetzenden Weise gleichsam arbeitend in die Karte eindringt, schwindet also das Chaos der endlichen Welt, das in der AllOver-Komposition der Weltkarte zum Ausdruck kommt, durch die Integration aller Einzelelemente in Gottes ordo und die Heilsgeschichte. Komplexe synoptische Bildformen im Vorfeld der Ebstorfer Weltkarte Die für die mediale Gestalt der Ebstorfer Weltkarte entscheidende Entwicklung, in der sich All-Over-Komposition, geometrische Grundformen und Ikonenformulare verschränken, lässt sich in ihrem norddeutschen Vorfeld im 13. Jahrhundert gut bei den sogenannten Beatusseiten dieses Zeitraums verfolgen.22 Beatusseiten gehören in die reich mit Miniaturenschmuck versehenen Pracht-psalterien, die im Hochmittelalter zumeist Laien, vielfach vornehmen Frauen als Gebetbücher dienten. Psalterien umfassen vor allem die 150 Psalmen Davids. Sie nehmen am Beginn der Psalmen auf den besagten Beatusseiten zumeist ganzseitig die grosse B-Initiale zum Beginn des ersten Psalms, Beatus vir, „Glückseliger Mann", auf, der sie ihren Namen verdanken. In dem bald 22 Vgl. hierzu Wolter-von dem Knesebeck 2006 (wie Anm. 1), S. 250ff. und zuvor Ders., Die Beatus-Seiten der sog. thüringisch-sächsischen Malerschule: Vom Bild für die Welt zum wahren Bild Christi, in: The Illuminated Psalter. Studies in Content, Purpose and Placement of its Images, hg. von F. O. Büttner, Turnholt 2005, S. 413-426, Abb. 418-433. nach 1200 entstandenen sog. Elisabethpsalter (Abb. 3) gestaltete ein sächsischer Buchmaler eine Sonderform dieser Initialseiten.23 Diese verdankt sich hier dem in der Psalmillustration durchgehaltenen Prinzip. Nach diesem wird das Ich des illustrierten Psalms mit einer der Figuren identifiziert, die in der textbezogenen Psalmillustration dargestellt sind. So erscheint etwa zu Psalm 26 Der Herr ist meine Erleuchtung der Blindgeborene, dem Christus sein Augenlicht wiedergibt, als Ich des Psalms und damit als Identifikationsfigur für den Psalmbeter. Bei Psalm 1 erklärt diese Illustrationsform die einzigartige Absonderung Davids, des Autors der Psalmen, von der restlichen Initiale. Sie erklärt ebenso seine Wendung aus dem Bild hin zum auf der Nachbarseite anschliessenden Text und sein ungewöhnliches Attribut, das Spruchband mit dem Beginn dieses Textes, dem Psalmbeginn Beatus vir. David ist eben dieser glückselige Mann seines Titulusartigen Spruchbandes und damit des ersten Psalms. Er kehrt sich ab von den weltlichen Dingen, um sich dem göttlichen Gesetz, dem auf der Seite gegenüber im Anschluss an sein Spruchband fortgesetzten Text der Psalmen, zuzuwenden. Die in und um die Rankeninitiale angeordneten Bilder im Rücken Davids, vor allem Szenen des Kampfes und der Jagd, stehen somit für die Welt in ihren negativen Seiten, als Fremde für die Seele. Dies legt auch die für das Mittelalter autoritative Interpretation des ersten Psalms durch den Pariser Theologen und Bischof Petrus Lombardus aus dem 12. Jahrhundert nahe, in der es von dem in Psalm 1 erwähnten Weg der Sünder, von dem sich der Beatus vir abkehrt, heisst, er sei die Welt.24 In ihrer Gegenüberstellung des Gesetzes Gottes mit der Welt verweist die Initiale auf das Verständnis der gesamten Psalmen, galt doch der selbst titellose Psalm 1 als Gesamttitel der Psalmen.25 Die All-Over-Komposition der Rankeninitiale umfasst hier nur sehr kleinformatige figürliche Elemente. In der reichen Nachfolge des Elisabethpsalters ändert sich dies, da sich die Bildersprache vor allem seit dem 2. Viertel des 13. 23 Zum Elisabethpsalter in Cividale del Friuli, Museo Archeologico Nazionale, Ms. cxxvii, vgl. Harald Wolter-von dem Knesebeck, Der Elisabethpsalter in Cividale del Friuli. Buchmalerei für den Thüringer Landgrafenhof zu Beginn des 13. Jahrhunderts, Berlin 2001, bes. S. 206-217 zur Illustration von Psalm 1; Salterio di Santa Elisabetta. Facsimile del ms. cxxxvii del Museo Archeologico Nazionale di Cividale del Friuli, hg. von C. Barberi, Trieste 2002. 24 Petrus Lombardus, Psalmkommentar: Vom Weg der Unfrommen, von dem sich der Beatus vir abkehrt, heisst es dort: Viapeccatorum mundus est, vgl. PL, Bd. cxci, Sp. 61. 25 Im Gesamtprogramm des Elisabethpsalters wird in den Psalmen dementsprechend gerade das Dasein der Kirche in der Welt und das Streben des Christen aus dieser zu Gott thematisiert. 39 Abb. 3: Elisabethpsalter, Cividale del Friuli, Museo Archeologico Nazionale, Cod. CXXXVII, fol. 14v, Beatusseite Jahrhunderts hin zu grossen Figuren entwickelte. So blieb auf den Beatusseiten vom Typus des Elisabethpsalters bald nur noch der deutlich vergrösserte David über. Dieser hält in einem Psalter in Wolfenbüttel von etwa 1250 einfach ein Spruchband mit der Beischrift „b(ea)t(u)s david", um sich als glückseliger Mann des ersten Psalms zu bezeichnen.26 Nur in einer Übergangsphase in diesem Prozess im 2. Viertel des 13. Jahrhunderts erscheint die Wurzel Jesse in den Rankeninitialen der Beatusseite. So in dem damals entstandenen sog. jüngeren Wöltingeroder Psalter (Abb. 4).27 Die Wurzel Jesse ist eine Verbildlichung der Genealogie Christi, die sich von der Prophetie des Jesaja 11.1ff. herleitet: Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Jesses und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. Entspre- 26 Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 989 Helmst., vgl. Wolter-von dem Knesebeck, Elisabethpsalter, 2001 (wie Anm. 24) S. 211f., Abb. 116 27 Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 515 Helmst., vgl. Johannes Sommer, Das Deckenbild der Michaeliskirche zu Hildesheim, Hildesheim 1966, ergänzter Reprint Königsstein im Taunus 2000, Abb. 32; Wolfenbütteler Cimelien. Das Evangeliar Heinrichs des Löwen in der Herzog August Bibliothek (Ausstellung Wolfenbüttel 1989) (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek, Bd. 58), Weinheim 1989, S. 161-166 (Renate Kroos). chend der christologischen Deutung dieser Prophetie erscheint in ihr unten Jesse, der Vater Davids. Von ihm aus führt der Pflanzentrieb der Wurzel Jesse sozusagen als Stammbaum Christi über Jesses Nachfahren bis zu Maria und dem aus dem Hause Davids stammenden Christus als Blüte bzw. Frucht. In dieser entwickelten Form als Baumschema ist die Wurzel Jesse eine Weiterentwicklung der sogenannten Schemabilder. Diese dienten eigentlich dazu, im Schulbetrieb komplexere Wissensstoffe zu visualisieren, wie sich dies im niedersächsischen Umfeld der Weltkarte zuvor besonders gut im Umkreis der Hildesheimer Domschule nachweisen lässt.28 Schemabilder waren seit der Antike im Schulbetrieb im Gebrauch, hatten ihre Hochzeit aber erst in der Frühscholastik. Ihre besondere Wertschätzung damals zeigt sich gerade auch darin, dass sie in dieser Zeit in Bereiche ausserhalb des Schulbetriebs, etwa in den liturgischen Bereich, wanderten. Dies ist letztlich auch der Hintergrund der hochmittelalterlichen Entwicklung der schemabildartigen Wurzel Jesse, die sich in diesem Zeitalter schnell von einfachsten Anfängen als zweigartiges Attribut zu einem der Hauptthemen der kirchlichen Bilderwelt der Zeit entwickelte, das dementsprechend zentrale Stellen im Kirchenraum einnehmen konnte. So in St. Michael in Hildesheim, wo sich auf der um 1240 entstandenen, 27 Meter langen Holzdecke des Mittelschiffs die grösste Verbildlichung einer Wurzel Jesse überhaupt befindet.29 Bezeichnenderweise geht dieser Endpunkt der hochmittelalterlichen Entwicklung des Themas einher mit der Verwendung von Ikonenformularen. Ihre bildhafte Erscheinung in einzeln gerahmten Feldern verdanken die Figuren der Decke letztlich der Herkunft ihrer Vorlagen aus dem Bereich der auf Nah-ansichtigkeit berechneten ikonenartigen Einzelfiguren. Solche bietet etwa die ungewöhnliche Reihe ganzseitiger Miniaturen, die in einem mit der Holzdecke von St. Michael zeitgenössisches Hildesheimer Gebetbuch, dem sog. Donaueschinger Psalter, nach denselben Vorlagen wie die Decke geschaffen wurde.30 28 Vgl. hierzu und dem Folgenden Wolter-von dem Knesebeck, Weisheit, 2001 (wie Anm. 21). 29 Zur Decke von St. Michael in Hildesheim vgl. Sommer 1966 (wie Anm. 28); Die Bilderdecke der Hildesheimer Michaeliskirche. Erforschung eines Weltkulturerbes. Aktuelle Befunde der Denkmalpflege im Rahmen der interdisziplinären Bestandssicherung und Erhaltungsplanung der Deckenmalerei, hg. von R.-J. Grote, V. Kellner (Arbeitshefte zur Denkmalpflege in Niedersachsen, Bd. 28) München/Berlin 2002. 30 Vgl. zum Donaueschinger Psalter in Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. Don. 309, und seine vgl. Harald Wolter-von dem Knesebeck, Kunsthistorische Beobachtungen zur Holzdecke von St. Michael. Ihr Verhältnis zur sächsischen Buchmalerei in der älteren Forschung und nach heutigem Wissensstand, in: Die Bilderdecke 2002 (wie Anm. 30), S. 36-58, bes. S. 44ff. 41 Abb. 4: Jüngerer Wöltingeroder Psalter, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 515. Helmst, fol. 9V, Beatusseite Im Wolfenbütteler Psalter verwandelte der Stamm der Wurzel Jesse die im Elisabethpsalter bewusst richtungs- und zentrumslos für die chaotische Welt stehende Rankeninitiale in eine Ordnungsstruktur. Dabei wird sie zu einem Bild der Heilsgeschichte, die der Welt Sinn gibt, wie auch die Welt der Ebstorfer Weltkarte durch die ikonenartigen Bilder Christi ihren Sinn eingeschrieben bekommt. Christus als Blüte der Wurzel Jesse weist bereits auf den Abschluss dieser Entwicklung in der Psalmillustrationen um und nach 1250 hin: die nach Ikonenformularen gestaltete Darstellung Christi im oberen B-Bauch der Initiale. So erscheint, jeweils über dem psalmierenden David im unteren B-Bauch in einem Psalter im München das Imago Pietatis, das nach byzantinischen Ikonen-Vorbildern geschaffene Bild Christi in der Grabesruhe, in einem nahe verwandten sächsischen Psalter in Pilsen (Abb. 5) die Vera ikon selbst.31 Beide 31 München, Bayerische Staatsbibliothek, clm. 23094, vgl. Elisabeth Klemm, Katalog der illuminierten Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek in München, 3: Die romanischen Handschriften, 2: Die Bistümer Freising und Augsburg. Verschiedene deutsche Provenienzen, Text- und Tafelband, Wiesbaden 1988, Kat.-Nr. 235 (S. 264), mit Bibliographie. Speziell zur Beatusseite vgl. Hans Belting, Das Bild und sein Publikum im Mittelalter. Form und Funktion 43 Abb. 5: Psalter in Pilsen, Stadtarchiv, Sign. 32 d7i, fol. 5V, Beatusseite Beatusseiten geben Christus als den eigentlichen Inhalt der Psalmen über deren Autor David wieder. Die Entwicklung der Bildaufgabe Beatusseite geht somit im 13. Jahrhundert in Sachsen von den kleinteilig ungeordneten Bildern für die chaotische Welt über die sinnhaft durch die Heilsgeschichte erfüllte und geordnete Welt in der Wurzel Jesse hin zu den nach Ikonenformularen gestalteten wahren Bildern Christi. früher Bildtafeln der Passion, Berlin 1981, S. 256; Kat. Ausst. Stadt im Wandel, hg. von Cord Meckseper (Ausstellung Braunschweig 1985) Braunschweig 1985, Bd. 1-4, bes. Bd. 2, Kat.-Nr. 1036 (Renate Kroos), Farbabb. auf S. 1190. Zum Psalter in Pilsen, Stadtarchiv, Sign. 32 d 71, ehem. Ossegg, Stiftsbibliothek, Hs. 69, vgl. Harald Wolter-von dem Knesebeck, Passionsfrömmigkeit und Psalterillustration: Ein unbekannter Psalter der Haseloffreihen in Pilsen, in: No-bilis arte manus. Festschrift zum 70. Geburtstag von Antje Middeldorf Kosegarten, hg. von Bruno Klein und Harald Wolter-von dem Knesebeck, Dresden, Kassel 2002, S. 97-122. Dass hier die Vera ikon zu sehen ist, belegt zudem der ganz ungewöhnlicherweise auf Passionsszenen konzentrierte Zyklus zum Leben Christi in den Psalmen. Zu Matthew Paris und der Vera ikon vgl. Suzanne Lewis, The art of Matthew Paris in the "Chronica majora" (California Studies in the history of art 21) Cambridge Mass. 1987, S. 126-131, Pl. IV-V. 44 Fazit Zieht man ein Fazit, so erscheint somit die Ebstorfer Weltkarte strukturell nicht allzu weit entfernt zu sein von den spätesten der hier vorgestellten Beispiele für Schemabilder im liturgischen Raum bzw. für Beatusseiten in den Psalterien der Laien: Wie die Holzdecke von St. Michael in Hildesheim verbindet sie ein Schemabild mit Ikonenformularen, der zum Passions-Christus bzw. Richter erweiterten Vera ikon, wie sie im gewissen Sinne auch der Pilsener Psalter bietet. Sie gipfelt somit in einem Bild Christi, in dem der Sinn der Welt bzw. der synoptisch gesehenen Weltgeschichte als Heilsgeschichte liegt. Wie in dem Münchner und vor allem dem Pilsener Psalter legt auch hier das wahre Bild Christi titelbildartig den Sinn einer ansonsten schwer zu strukturierenden Bilderwelt bloss. Diese Bilderwelt ist einmal die selbst bilderreiche Dichtung der Psalmen, von der es damals hiess, dass sie die ganze Bibel umfassen würde. Einmal ist sie eine in ihrer Vielteiligkeit überreiche Weltkarte, deren ihr eigene Wahrheit durch das titelartig angefügte wahre Bild Christi qualifiziert wurde. Dies mag besonders bei der grössten der anscheinend erst im Hochmittelalter aufgekommenen Grosskarten des Mittelalters wichtig gewesen sein. Gerade bei ihr ist die Gefahr besonders gross, das der Betrachter von der überreichen Bilderflut dieser doppelt überlebensgrossen Karte gleichsam „geschluckt" wird, wie etwa von einem Bild Barnett Newmans. Die synoptische Zusammenführung dieses Bilderreichtums im wahren Bild Christi legt auch dessen Beischrift auf dem Veronika-Bild der Weltkarte nahe: Alpha et Omega - primus et novissimus. - „Erster und Letzter". Seine Nahansichtigkeit wie auch die der stigmatisierten Gliedmassen Christi, immerhin alle in etwa lebensgross, verlangte dabei bewusst eine andere, mystisch sich versenkende Betrachtungsweise als die „Welt". In dieser Welt drohte sich ein nur schweifender Blick wie in den „Weltranken" der frühen Beatusseiten zu verlieren. Dem konnte der Blick eben entgehen, in dem er gezielt zwischen Bildern und Texten hin und her ging, sozusagen an ihnen im Sinne der didaktisch-unterweisenden Funktion der Weltkarten arbeitete, um dann im Sinne der Betrachtungsform des contuitus der Victoriner einen distanzierten, vogelflugartig-synoptischen Zugang suchte. Ruhe fand der Blick aber nur in den Fixpunkten, „in Christo", zu denen auch der Auferstandene gehört. Es ist dabei bezeichnend, dass gerade das Schweisstuch Christi und die deutlich mit den Stigmata gekennzeichneten Glieder Christi zu einer solchen Betrachtung einluden. So wurde im Zuge der sich seit dem 12. Jahrhundert verbreitenden Passionsmystik auch in Sachsen nachweislich vor dem Kruzifix zu den fünf einzelnen Wunden Christi gebetet, verhiess das Gebet vor der Vera ikon Ab-lass.32 Schon der Gegensatz zwischen dem haltlos in der Welt schweifenden und dem in Christus Halt findenden Blick konnte religiös unterweisende Bedeutung haben. Darüber hinaus lassen die Kontemplation der Wunden und der Ablass, der ein Gebet vor der Veronika bedeutete, eine Betrachtung der Karte vermuten, welche religiöse Belohnung versprach. Auch das „Schemabilder" wie die Wurzel Jesse in Norddeutschland Spitzenpositionen im liturgischen Raum einnehmen, weist in diese Richtung, auf eine Indienstnahme der Ebstorfer Weltkarte für religiöse Zwecke, für Frömmigkeitsübungen, jenseits der ebenfalls naheliegenden, aber kaum alleinigen Verwendung für didaktische Zwecke.33 Wie das vergleichsweise komplexe Beispiel der Ebstorfer Weltkarte vielleicht zeigen konnte, waren im Mittelalter Bilder durchaus geeignet, einen eigenen Modus des „Formlosen" in kaum mehr ganzheitlich lesbaren AllOver-Kompositionen (Abb. 1, vgl. auch Abb. 3) zu entwickeln. Dieser erfasste aber anscheinend nie das ganze Werk. Vielmehr sind die von diesem Modus erfassten Partien in geometrische Grundmuster eingekapselt und in geometrisch-symmetrische Kompositionen eingefügt. Und wenn, wie bei der Ebstorfer Weltkarte, die Dimensionen der All-Over-Kompositionen zu beherrschend zu werden drohen, wird neben der vogelflugartig-synoptischen Betrachtungsweise, die ohnehin wohl nur den wenigen (scholastisch) Gebildeten zugänglich war, noch die Christologische Ebene visuell besonders hervorgehoben. Dank dieser wird auch für den Laien verständlich, was grundlegend für das mittelalterliche Bild- und Formverständnis ist: dass mit Gott als Form aller Formen und alles Geformten die Form der Welt in der Welt präsent ist und somit in Christus in der Karte der Welt die Form der Welt durchscheint. 45 32 Zu diesem Gebet im Donaueschinger Psalter vgl. Die Zeit der Staufer, hg. von Reiner Haussherr und , Bd.1-4 (Ausstellung Stuttgart 1977), bes. Bd. 1, S. 601 (Renate Kroos); Wolter-von dem Knesebeck, Passionsfrömmigkeit, 2002, (wie Anm. 32), S. liof. Ein bestimmtes vor der Vera ikon gesprochenes Gebet etwa, wie es etwa ein heute in Besançon, Bibliothèque Municipale, Ms. 54, verwahrter Psalter von ca. 1250 zusammen mit dieser enthält, verlieh päpstlich akkreditierten Ablass, vgl. Hanns Swarzenski, Die lateinischen illuminierten Handschriften des xiii. Jahrhunderts in den Ländern an Rhein, Main und Donau, Berlin 1936, Text- und Tafelband, S. 126f., Abb. 555. 33 Vgl. Wolter-von dem Knesebeck 2006 (wie Anm. 1), S. 261. Epilog Das postmoderne Werk, dessen Formverlust im Zentrum dieser Tagung steht, erscheint mir bisweilen wie der aus seiner Einkapselung gelöste Teil eines mittelalterlichen, der für die defiziente Welt stand. Nun ist die Einkapselung aber durchaus noch gegeben. Sie ist nur um das Werk herum, in Form des Kunstbetriebes und oft auch eines common sense darüber, was Themenwürdig ist, sowie bisweilen als ein gemeinsames Wohlgefühl von political correctness. 46