DAS BILD SLOWENIENS IN DER ÖSTERREICHISCHEN LITERATUR Anmerkungen zum Werk von Joseph Roth, Ingeborg Bachmann und Peter Handke Armin A. Walias Das »Eigene« und das »Fremde« — ein (scheinbarer?) Gegensatz als (beliebter) literarischer Topos.1 Im Bild des — geographisch, zeitlich, sozial etc. — »Anderen« offenbaren sich Ängste, aber auch Wünsche und Hoffnungen. Das »Andere« kann zur Projektion eigener Unzulänglichkeit und geheimgehaltener, auch verdrängter Wünsche werden, aber auch zur Projektion utopischen Denkens. In der Ambivalenz zwischen der Tradierung von Stereotypen (nicht selten von Vorurteilen) und dem Bemühen um die intellektuelle Erfassung fremder Lebenswelten, aber auch in der Ambivalenz zwischen der Sehnsucht nach einer Gegen-Welt und der konkreten Auseinandersetzung mit der historischen Tradition, Sprache, Kultur und Lebensform des »Anderen« bewegt sich die Konstruktion literarischer Bilder. Diese Konstruktion ist auch ein Akt der Selbstreflexion: im Bild, das man sich vom »Anderen« macht, ist man selbst mit-enthalten.2 Das literarische Bild des »Anderen« ist zugleich SelbstInterpretation, es sagt oft mehr über den Interpreten, als über den Gegenstand der Interpretation aus. Das »Andere« wird zum Objekt, zum »image«, das aus der Perspektive des Betrachters, der zugleich Gestalter ist, gedeutet vird, aber auch zum Spiegel des Beobachter-Interpreten, der darin — je nach Standort (und im Extremfall) — die Fratze seines Vorurteils oder das Ideal seiner utopischen Sehnsucht sehen kann (oder zu finden vermeint). Die literarischen Bilder Sloweniens, die uns im folgenden beschäftigen werden, haben in den meisten Fällen wenig mit der historischen oder gesellschaftlichen Realität des Landes zu tun, vielmehr stellen sie Versuche dar, eine Gegenwelt zu errichten. Für deutschsprachige österreichische Autoren 1 Vgl. hierzu etwa die Beiträge im Sammelband: Die andere Welt. Studien zum Exotismus. Hrsg. v. Thomas KOEBNER u. Gerhart PICKERODT. Frankfurt am Main 1987. 2 Es gilt hier — cum grano saüs — die Aussage Werner Hofmanns über die Konstruktion von Frauen-Bildern: »Das Bild der Frau ist das Bild des Mannes von der Frau. [...] In den Bildern, die der Mann sich vom anderen Geschlecht macht, ist er selber mitenthalten. Im Gegenüber bringt er das Wunschbild hervor, das er sich von seiner eigenen Rolle im Geschlechterdialog erfindet«, Werner HOFMANN: Evas neue Kleider. In: Eva und die Zukunft. Das Bild der Frau seit der Franzö-sichen Revolution. Hrsg. v. Werner HOFMANN. München 1986, S. 13—23, hier S. 13. 55 stellt Slowenien ein zugleich fremdes, und. doch vertrautes Land dar3: bis 1918 war Slowenien — oder genauer: das Kronland Krain mit der Hauptstadt Laibach (heute Ljubljana) und die Untersteiermark mit dem Zentrum Marburg/ Maribor — ein Teil der Habsburgermonarchie, seither grenzt es als Nachbarland an Österreich, und in Kärnten, dem südlichen Bundesland Österreichs, lebt eine slowenische Minderheit, die einen beträchtlichen Beitrag zur kulturellen Vielfalt leistet, jedoch von Germanisierung bedroht ist. Hiermit sind bereits einige Stichworte genannt, die eine literarische Annäherung an das Phänomen Slowenien reizvoll mach(t)en. In den Werken von Joseph Roth, Ingeborg Bachmann und Peter Handke etwa finden sich solche »images« des Landes und seiner Menschen: während Joseph Roth Slowenien im Kontext der kulturellen Synthese, die er in der Habsburgermonarchie verwirklicht sah, interpretiert, betrachtet Ingeborg Bachmann diese Möglichkeit einer supranationalen Existenz durch die Perspektive der Zerstörung der mitteleuropäischen Kultur und die Erfahrungen des Nationalsozialismus; Peter Handke schließlich erkundet auf seiner Suche nach der slowenischen Identität die Möglichkeit des (literarischen) Widerstands gegen eine lebensfeindliche Zivilisation. Slowenien: die Transformation eines Landes in Fiktion? — Begeben wir uns auf eine literarische Spurensuche. Slowenien — die »südliche Schwester« Galiziens? Joseph Roths Roman Radetzkymarsch (1932) erzählt die Geschichte des »Helden von Solferino«, des Infanterieleutnants Joseph Trotta, der 1859 Kaiser Franz Joseph I. das Leben rettet und dafür geadelt wird, und verfolgt das Schicksal der Familie Trotta bis in die Generation des Enkels, der im Ersten Weltkrieg fällt. Eine Familiengeschichte wird zum Spiegel für den Niedergang der Donaumonarchie. Bemerkenswert ist es nun, daß Roth als Symbolfigur dieser Handlung einen Slowenen wählt: der »Held von Solferino« wird als »der Sohn eines Wachtmeisters der Gendarmerie« und »Enkel analphabetischer slowenischen Bauern«4 aus dem Dorf Sipolje vorgestellt. Sein Sohn Franz, der zum Bezirkshauptmann in Mähren ernannt wird, distanziert sich von der slowenischen Herkunft und fühlt sich als österreichischer Beamter, der über den Nationalitäten steht5; erst der Enkel, Carl Joseph, zu einer 3 Zu Literaturbeziehungen zwischen Österreich und Slowenien (bzw. Jugoslawien) vgl. (in Auswahl) Zoran KONSTANTINO VIC: Der literarische Bezugspunkt. Zum Komplex der deutschen Literatur im Prozeß der nationalen Wiedergeburt Südosteuropas. In: Deutsche Literatur in der Weltliteratur — Kulturnation statt politischer Nation?. Hrsg. v. Franz Norbert MENNEMEIER u. Conrad WIEDEMANN. Tübingen 1986 (= Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985, Bd. 9), S. 86—90; Jugoslawien — Österreich. Literarische Nachbarschaft. Hrsg. v. Johann HOLZNER u. Wolf gang WIESMÜLLER. Innsbruck 1986 (= Innsbruckner Beiträge zur Kulturwissenschaft, Germanistische Reihe, Bd. 28); als vorbildliche imagologische Studie vgl. Zdenko SKREB: Name und Gestalt des Kroaten in der deutschen Dichtung. In: Anzeiger für slavische Philologie 9 (1977), S. 281—299. 4 Joseph ROTH: Radetzky marsch. Roman. In: J. R.: W erke, Bd. 2. Hrsg. u. eingeleitet v. Hermann KESTEN. Köln 1975 (= Neue erweiterte Ausgabe in vier Bänden), S. 9—323, hier S. 126. 5 Vgl. ebd.: »Er selbst, der Bezirkshauptmann, hatte niemals den Wunsch gespürt, die Heimat seiner Väter zu sehn. Er war ein Österreicher, Diener und Beamter der Habsburger, und seine Heimat war die Kaiserliche Burg zu Wien.« 56 ungeliebten militärischen Karriere bestimmt, sucht bewußt nach seinen Ursprüngen. Die Suche nach dem Land der Vorfahren und die Sehnsucht nach dem einfachen bäuerlichen Leben scheint für ihn eine Möglichkeit zur Überwindung der Identitätskrise zu eröffnen. Als ihm jedoch versagt wird, in die slowenische Heimat zurückzukehren, entscheidet er sich für den Dienst in einer Garnison an der russischen Grenze. Hier, in Galizien, glaubt er eine (ebenfalls slawische) Ersatz-Heimat zu finden: »Dieses Land war die verwandte Heimat der ukrainischen Bauern, ihrer wehmütigen Ziehharmonikas und ihrer unvergeßlichen Lieder: es war die nördliche Schwester Sloweniens.«6 Die slawische Kultur einer Bevölkerung mit überwiegend bäuerlicher Lebensweise sowie die Rolle als Grenzland stellen im Bewußtsein des Protagonisten eine Gemeinsamkeit zwischen Galizien und Slowenien her.7 Zugleich figurieren diese Elemente als Projektion der psychischen Situation Carl Josephs: als Angehöriger der »Enkel«-Generation steht er unter dem Eindruck des Zerfalls veralteter Wertsysteme; die Begleiterscheinungen des sozialen und ideellen Strukturwandels irritieren ihn. Als Heimatloser, der sich auf die Suche nach einer geistigen (Identifizierung mit dem Großvater als Symbolfigur der vermeintlich noch nicht entfremdeten alten Ordnung)8 und geographischen (Imagination der Rückkehr nach Slowenien) »Heimat« begibt, wird er zum Grenzgänger. In der Vorstellung Carl Josephs verknüpft sich der Großvater-Mythos mit dem Mythos von Sipolje: »Der Vater des Großvaters noch war ein Bauer gewesen. Sipolje war der Name des Dorfes, aus dem sie stammten. Sipolje: das Wort hatte eine alte Bedeutung. Auch den heutigen Slowenen war es kaum mehr bekannt. Carl Joseph aber glaubte, es zu kennen, das Dorf. Er sah es, wenn er an das Porträt seines Großvaters dachte, [...]. Eingebettet lag es zwischen unbekannten Bergen, unter dem goldenen Glanz einer unbekannten Sonne, mit armseligen Hütten aus Lehm und Stroh. Ein schönes Dorf, ein gutes Dorf! Man hätte seine Offizierskarriere darum gegeben!«9 Der Versuch zur Ent-grenzung, d. h. der Wunsch nach Rückkehr zu den Ursprüngen, erweist sich jedoch als Irrweg: die imaginierte Heimat kann nicht gefunden werden, weil sie nicht existiert und nie existiert hat. Der verehrte Großvater hat selbst mit der Tradition gebrochen und mußte mitansehen, wie seine Heldentat zu Propagandazwecken verfälscht wurde; und die vorindustrielle Utopie des bäuerlichen Lebens decouvriert sich angesichts der Anforderungen des modernen Industriezeitalters als intellektueller Eska-pismus. 6 Ebd., S. 127. 7 Nach der Ermordung des Thronfolgers nimmt Carl Joseph Abschied von der Armee und versucht — wie seine Vorfahren —• ein bäuerliches Leben, allerdings in Galizien, zu führen: »Genauso wie sein Großvater [ ...] zählte er mit hageren, harten Fingern harte Silbermünzen [...]. ,Gelobt sei Jesus Christus!' sagten die Bauern. ,In Ewigkeit. Amen!' erwiderte Trotta. Er ging, wie sie, die Knie geknickt. So waren die Bauern von Sipolje gegangen. [...] Man lebte wie der Großvater, der Held von Solferino, und wie der Urgroßvater, der Invalide im Schloßpark von Laxeriburg, und vielleicht wie die namenlosen, unbekannten Ahnen, die Bauern von Sipolje«, ebd., S. 301 ff. Diese kurze (Schein-)Idylle wird jedoch schon bald vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges, der als »Krieg des Enkels« (ebd., S. 306) bezeichnet wird, und zu dessen ersten Opfern Carl Joseph von Trotta gehört, beendet. 8 Vgl. ebd., S. 40: »Die Neugier des Enkels kreiste beständig um die erloschene Gestalt und den verschollenen Ruhm des Großvaters.« 9 Ebd., S. 65; vgl. auch ebd., S. 117: »Es ist Abend in Sipolje. [...] Die gewohnten Bilder kamen auf den ersten Wink. Über allem glänzte der rätselhafte Blick des Großvaters.« 57 Die Grenzländer Slowenien und Galizien gewinnen nur in der Imagination des Grenzgängers Carl Joseph von Trotta Realität als mögliche Lebens-Orte. Die slowenischen und ruthenischen Bauern, die im Einklang mit der Natur leben, stehen in einem antithetischen Verhältnis zu den Entfremdungen in der modernen Großstadt; die Wunschprojektion des Eskapisten, die in der Tradition des Gegensatzpaares Natur versus Zivilisation steht, gibt jedoch nicht die Realität einer bäuerlichen Gesellschaft, die sich gerade in Auflösung befand, wieder, sondern erweist sich als Versuch zur Selbsttherapie. Die Welt der slawischen Bauern symbolisiert das archetypische Ensemble der Einheit von Ich und Welt. Der Wunsch, in diese Ursprungs-Landschaft zurückzukehren, bleibt jedoch unerfüllt. Der von Ich-Dissoziation und Depersonalisation bedrohte, der Entfremdung in einer kapitalisierten Industriegesellschaft ausgesetzte moderne Mensch imaginiert das Sehnsuchts-Land als Kehrbild seines Mangels — das Sehnsuchts-Land erweist sich als intellektuelles Konstrukt. Joseph Roth beschreibt zwar das Scheitern Carl Josephs von Trotta und analysiert die Schwächen und Mängel der Habsburgermonarchie, zugleich jedoch erkennt er in der supranationalen Struktur des Reiches ein Modell kulturell-ethnischer Vielfalt sowie die Chance zur Wahrung der Rechte von Minderheiten. Eine wichtige Inspirationsquelle für sein späteres Schaffen wurde für ihn das Herkunftsland Galizien, worauf David Bronsen hingewiesen hat: »Galizien, mit seinem Nebeneinander von Juden, Polen, Ruthenen und Deutschen, bedeutete für Roth den Inbegriff und die Fülle jener Vielfalt der Volkstümer, samt der daraus resultierenden Kulturunterschiede, die sein Werk kennzeichnen; dort machte er sich seinen schwankenden und doch fesselnden Begriff von Vaterland zu eigen, der für ihn, den späten Enkel des alten Reiches, von Jugend an mit dem brittersüßen Geschmack des Verfalls durchtränkt war.«10 Das Bewußtsein der Nichtzugehörigkeit, bedingt duch die jüdische Herkunft, machte ihn hellhörig für Grenzbereiche, für die »Wurzellosigkeit und Entfremdung des Individuums, seine Einsamkeit und Isolation als Folge einer konkreten gesellschaftlichen Realität.11 Die Heimatlosen, Wanderer und Grenzgänger, die Joseph Roths Romane bevölkern, durchleiden die Problematik des entfremdeten Menschen. Die Heimatsuche der Protagonisten gestaltet sich als Prozeß der Mythisierung: »Die Heimat ist allgemein Vergangenheit, betrachtet aus der Entfernung, wird sie bewußt idealisiert und zum Mythos kreiert. Das, was im Erzählvorgang hergestellt wird, sind rückgewandte Utopien, die als Realitäten vorgetäuscht und wirksam gemacht werden. Aus Sehnsucht und existentieller Not vor allem.«12 Kehren wir nun jedoch zurück zu den symbolischen Orten Galizien und Slowenien. Die Korrespondenz, die Roth zwischen diesen beiden Grenz-Land-schaften konstruiert, verdichtet er durch die Interaktion jüdischer und slo- 10 David BRONSEN: Joseph Roth und sein Lebenskampf um ein inneres Österreich. In: Joseph Roth und die Tradition. Aufsatz- und Materialiensammlung. Hrsg. u. eingeleitet v. David BRONSEN. Darmstadt 1975 (= Schriftenreihe Agora. Bd. 27), S. 3—16, hier S. 4. — Vgl. auch DERS: Joseph Roth. Eine Biographie, Köln 1974. 11 Marcel REICH-RANICKI: Über Ruhestörer. Juden in der deutschen Literatur. Erweiterte Neuausgabe. Stuttgart 1989, S.31 (dieses Zitat bezieht sich nicht explizit auf Joseph Roth, sondern allgemein auf jüdische Schriftsteller des 20. Jahrhunderts). 12 Stefan H. KASZYNSKI: Die Mythisierung der Wirklichkeit im Erzählwerk von Joseph Roth. In: Literatur und Kritik 25 (1990), S. 137—143, hier S. 140. 58 wenischer Protagonisten, die er im Radetzkymarsch bereits andeutet und in der Kapuzinergruft zu einem Strukturprinzip des Romans erhebt. Im R.a-detzkymarsch begründet er die Freundschaft zwischen Carl Joseph von Trotta und dem jüdischen Regimentsarzt Max Demant mit ihrer gemeinsamen Großvater-Verehrung. Als Pendant zum »Helden von Solferino« zeichnet er hier das Bild eines frommen jüdischen Schankwirts, der »vor dem großen Torbogen der Grenzschenke saß«13: »,Mein Großvater', hat der Regimentsarzt gesagt, ,war ein alter, großer Jude, mit silbernem Bart!'«14 Diese (aus der Perspektive des Enkels) mythisierte Gestalt repräsentiert die Kultur des Ostjudentums, deren »Authentizität«15 der Enkel, der unter dem »Bewußtsein eines Mangels, einer fortdaurnden Abwesenheit«16 leidet, verloren hat. Und wieder verwendet Joseph Roth das Motiv der Grenze als Symbol für Abgrenzung und Verbindung (»Grenzschenke«): Max Demant hat die Grenze zwischen der Welt des Ostjudentums und der westlichen Kultur, in der er jedoch »als Jude« isoliert und verfemt wird, überschritten; zur Kompensation seiner inneren Zerrissenheit und Heimatlosigkeit schafft er sich ein Sehnsuchtsbild der jüdischen Kultur (symbolisiert in der Figur des Großvaters) und sucht imaginativ an eine Tradition, die ihm realiter nicht mehr zu Gebote steht, anzuknüpfen (Spaziergänge am Friedhof), scheitert jedoch (er findet den Tod in einem von einer antisemitischen Beleidigung ausgelösten Duell). Im Roman Die Kapuzinergruft (1938), dessen Erzähiintention Joachim Reiber »auf den antithetischen Nenner ,Kritik und Verklärung'« bringt,17 erweitert Joseph Roth die Konstellation Slowenentum-Judentum, indem er die Gestalt des Slowenen in zwei Figuren aufspaltet. Der Roman erzählt die Geschichte Franz Ferdinand Trottas, eines entfernten Verwandten des »Helden von Solferino«, eines Angehörigen des nicht-geadelten Familienzweigs der Trotta, der den Untergang der Donaumonarchie miterlebt, den Verlust einer festgefügten Ordnung und Tradition beklagt, den Erscheinungen der Nachkriegszeit, etwa der Emanzipation der Frau, verständnislos gegenübersteht und am Ende — beim Einmarsch der Hitler-Truppen in Österreich 1938 — an einem symbolischen Ort — in der Kapuzinergruft, der Begräbnisstätte der habsburgischen Kaiser — resigniert: »Wohin soll ich, ich jetzt, ein Trotta? .. .«1S Roth strukturiert den Roman durch Begegnungen des Ich-Erzählers, dessen 13 ROTH: Radetzky marsch (Anm.4), S.81. " Ebd., S. 92. Das dekadente Lebensgefühl, letztes Glied einer Tradition, die mit ihnen zu Ende geht, zu sein, verbindet Trotta mit Demant: »,Es gibt so viel Tote', sagte der Regimentsarzt. ,Fühlst du nicht auch, wie man von den Toten lebt?' ,Ich lebe vom Großvater', sagte Trotta. [...] Sie waren Enkel, sie waren beide Enkel«, ebd., S. 91 f. 15 Vgl hierzu Alain FINKIELKRAUT: Der eingebildete Jude. Frankfurt am Main 1984, S. 109, der unter »Authentizität« »ein Judentum, das von selber kommt, ein[en] unnachahmliche[n] Stil, eine bestimmte Art, in einer Kultur zu Hause zu sein«, versteht. 16 Ebd. Finkielkrauts Analyse der Bewußtseinslage der jüdischen Generation nach Auschwitz läßt sich, wenn auch mit Einschränkungen, auf die Bewußtseinslage von Juden anwenden, die (wie Max Demant) ihre geistige Heimat im Judentum verloren haben. 17 Joachim REIBER: »Ein Mann sucht sein Vaterland.« Zur Entwicklung des Österreichbildes bei Joseph Roth. In: Literatur und Kritik 25 (1990), S. 103—114, hier S. 113: »Erst der Sich-Erinnernde identifiziert sich mit der Monarchie, die dem Erlebenden fremd geblieben war.« 15 Joseph ROTH: Die Kapuziner gruft. Roman. In: J. R.: Werke, Bd. 2 (Anm.4), S. 863—982, hier S. 982. 59 Vater im Kreis der Reformer um Thronfolger Franz Ferdinand »von einem slawischen Königreich unter der Herrschaft der Habsburger« geträumt hat,19 mit seinem Vetter Joseph Branco Trotta, der jenem Familienzweig angehört, der in Slowenien geblieben ist, und der im Winter als Maronibrater durch die Kronländer der Monarchie zieht, während er das übrige Jahr als Bauer tätig ist. Er übt somit in zweifacher Weise einen symbolischen Beruf aus, als Bauer lebt er im Kreislauf der Natur und als Maronibrater wird er zu einer Integrationsfigur des Vielvölkerreiches, zu einem ständigen Grenz-Überschreiter.20 Bereits die erste Begegnung der beiden Vettern im April 1914 steht unter dem Eindruck der Vertrautheit der gemeinsamen Herkunft: Da saß er nun, hager, schwarz, stumm, [...]. Und obwohl sein Haar und sein Schnurrbart so schwarz waren, seine Hautfarbe so braun war, war er doch inmitten des morgendlichen Goldes im Vorzimmer wie ein Stück Sonne, ein Stück einer fernen südlichen Sonne allerdings. Er erinnerte mich auf den ersten Blick an meinen seligen Vater. Auch er war so hager und so schwarz gewesen, so braun und so knochig, dunkel und ein echtes Kind der Sonne, nicht wie wir, die Blonden, die wir nur Stiefkinder der Sonne sind. Ich spreche slowenisch, mein Vater hatte mir diese Sprache gelehrt. Ich begrüßte meinen Vetter Trotta auf slowenisch. [...] Er sagte mir sofort du. Ich fühlte: dies ist ein Bruder, kein Vetter!21 Zum zweiten Mal treffen sich die beiden im galizischen Städtchen Zlotogrod im Haus des jüdischen Fiakers Manes Reisiger, wo sie vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs überrascht werden. Die Grenz-Orte Sipolje und Zlotogrod symbolisieren die Einheit der Habsburgermonarchie,22 in deren Mittelpunkt Wien liegt;23 das Beziehungsgeflecht zwischen den handelnden Personen verweist auf die kulturelle Vielfalt des Reiches. Zlotogrod ist jedoch ein ambivalenter Ort: in der Grenzschenke Jadlowkers, eines »uralte[n], silberbärti-ge]n] Jude[n]«,24 wo sich der zwielichtige (auch aus anderen Romanen Roths bekannte) Agent Kapturak mit russischen Deserteuren, die er über die Grenze geführt hat, aufhält, steht der Wirt unter dem Eindruck der nahenden Katastrophe. In der Erzählung »Das falsche Gewicht« wird Zlotogrod sogar als 19 Ebd., S. 866. 20 Unter dem Eindruck des Zusammenbruchs der Monarchie weist der polnische Graf Chojnicki auf diese Symbolfunktion hin: »,Man braucht jetzt ein Visum für jedes Land extra!' sagte mein Vetter Joseph Branco. ,[...] Jedes Jahr hab ich überall verkaufen können: in Böhmen, Mähren, Schlesien, Galizien' — und er zählte alle alten, verlorenen Kronländer auf. ,Und jetzt ist alles verboten. Und dabei hab' ich einen Paß. Mit Photographie.' [...] ,Dies ist nur ein Maronibrater' sagte Chojnicki, ,aber sehn Sie her: es ist ein geradezu symbolischer Beruf. Symbolisch für die alte Monarchie. Dieser Herr hat seine Kastanien überall verkauft, in der halben europäischen Welt, kann man sagen. Überall, wo immer man seine gebratenen Maroni gegessen hat, war Österreich, regierte Franz Joseph. Jetzt gibt's keine Maroni mehr ohne Visum [...]'«, ebd., S. 969. 21 Ebd., S. 867. 22 Vgl. ebd., S. 887: »Der Bahnhof [von Zlotogrod, A. d. V.] war winzig, wie jener in Sipolje, [...]. Alle Bahnhöfe der alten österreichisch-ungarischen Monarchie gleichen einander, [...]. Überall, in Sipolje wie in Zlotogrod, war der Portier der gleiche, [...].« 23 Vgl. ebd., S. 890: »Ich spreche vom mißverstandenen und auch mißbrauchten Geist der alten Monarchie, der da bewirkte, daß ich in Zlotogrod ebenso zu Hause war wie in Sipolje, wie in Wien.« 24 Ebd., S. 895. 60 fruchtbare Gegend bezeichnet;25 hier, an der Grenze, wird der Zerfall der Werte offensichtlich: »Auf diesem Randfleck des alten Österreich, wo die Auflösung so stark in Erscheinung tritt, findet sich Eibenschütz [der Held der Erzählung, A. d. V.] zugleich in einer Randsituation, der existentiellen Grenzsituation, wie sie Jaspers beschreibt.«26 Irn Krieg läßt sich Trotta in das Regiment versetzen, in dem sein Vetter und Manes Reisiger dienen.27 Alle drei geraten in russische Kriegsgefangenschaft und treffen sich in den 20er Jahren in Wien wieder: Joseph Branco kommt, »als wäre unser Land nicht zerfallen«,28 berichtet über seine glückliche Familie, klagt jedoch, daß er in den ehemaligen Kronländern nicht mehr Kastanien verkaufen darf; Manes Reisiger, dessen Sohn Ephraim als Redakteur der kommunistischen Roten Fahne arbeitet (und 1934 hingerichtet wird), berichtet über die Vernichtung Zlotogrods: »Gott hat die Welt verwirrt, das Städtchen Zlotogrod hat er vernichtet. Krokus und Gänseblümchen wachsen dort, wo unsere Häuser gestanden haben, und meine Frau ist auch schon tot. Eine Granate hat sie zerrissen; wie andere Zlotogroder auch.«29 Der slowenische Bauer und Maronibrater bleibt von den Zeitereignissen nahezu unberührt, während der jüdische Fiaker schwere Opfer bringen muß. Mames Reisiger ist einer jener »Odysseuse des ,shtetl'« (Claudio Magris)30, der seinen Mittelpunkt verloren hat. Er teilt mit dem Ich-Erzähler das Schicksal der existentiellen Obdachlosigkeit; beide haben ihre »Heimat« (die sich für Reisiger in der geordneten Welt des jüdischen Shtetl und für Trotta in der k. und k. Monarchie dargestellt hat) verloren; sie befinden sich in einem Zustand des »nicht da nicht dort«,31 der permanenten Identitätskrise. In Kontrast dazu verkörpert der Slowene Joseph Branco Trotta die Einheit der Person. Eingefügt in die Tradition gründet er eine Familie und scheint von den Entfremdungserscheinungen der neuen Wirklichkeit unberührt zu bleiben. In der Figur des Joseph Branco Trotta gestaltet Joseph Roth einen Mythos des »ganzen Menschen«. Es ist nun aufschlußreich, daß er gerade einen Slowenen für diese Rolle auswählt, wenn er auch, wie erst jüngst von Zoran Konstantinovic nachgewiesen wurde, »eigentlich mit Sipolje in Slowenien einen Ort in der weiter südöstlich gelegenen ehemaligen Militärgrenze meint,32 hier im besonderen in der Vojvodina. [...] So kann man sehr wohl von der Annahme ausgehen, daß Roth mit Slowenien eine Bezeichnung gewählt hat, die 25 Vgl. Joseph ROTH: Das falsche Gewicht. Die Geschichte eines Eichmeisters. In: J. R.: Werke, Bd. 2 (Anm. 4), S. 767—862, hier S. 774. In Reise-Erzahlung wird Sipolje nach Bosnien (ebd. S. 772 f) verlegt. Vgl. auch die Verunsicherung des Bezirkshauptmanns Trotta anläßlich seines Besuches in der galizischen Garnison: »Man sah keine Bären und keine Wölfe an der Grenze! Man sah nur den Untergang der Welt!«, ROTH: Radetzkymarsch (Anm. 4), S. 163. 26 Roman S. STRUC: Die slawische Welt im Werke Joseph Roths. In: Joseph Roth und die Tradition (Anm. 10), S. 318—344, hier S. 335. 27 Vgl. ROTH: Kapuzinergruft (Anm. 18), S.909: »Aber ich wollte mit Joseph Branco zusammen sterben, mit Joseph Branco, meinem Vetter, dem Kastanienbrater, und mit Manes Reisiger, dem Fiaker von Zlotogrod, und nicht mit Walzertänzern.« 28 Ebd., S. 967. 29 Ebd., S. 968. 30 Vgl. Claudio MAGRIS: Der ostjüdische Odysseus — Roth zwischen Kaisertum und Golus. In: Joseph Roth und die Tradition (Anm. 10), S. 181—226, hier S. 206. 31 Vgl. den Titel des Erzählbandes von Albert EHRENSTEIN: Nicht da nicht dort. Leipzig 1916 (= Der jüngste Tag, Bd. 27/28). 32 Vgl. etwa folgende Stelle, ROTH, Radetzky marsch (Anm. 4), S. 116: »Mitten im Schlaf hätte er Sipolje finden können. Im äußersten Süden der Monarchie lag es, das stille, gute Dorf.« 61 etwas unklar bleiben soll, um auch in diesem Falle das Vergangene in die weite Ferne des Utopischen zu entrücken und die Verwandlung des Wirklichen zum Mythischen noch mehr zu verschlüsseln.«33 Sipolje wird in der Kapuzinergruft »letztlich entterritorialisiert«34: bereits im Einleitungskapitel wird berichtet, daß der Ort — infolge einer Eingemeindung — schon »lange nicht mehr« besteht; Realität gewinnt der Ort nur noch in der Kindheitserinnerung Franz Ferdinad Trottas an seinen Besuch zu einem symbolträchtigen Datum, dem Geburtstag Kaiser Franz Josephs.35 Sipolje wird somit — im Gegensatz zu dem im Ersten Weltkrieg verwüsteten Zlotogrod — zu einer Chiffre, zu einer »geistige[n] Zufluchtsstätte«.36 Das Dorf Sipolje und die Figur Joseph Branco Trotta sind Abstraktionen der Wirklichkeit, die in den Bereich des Utopischen weisen. In Joseph Roths slowenischer Ideal-Landschaft scheint die Utopie des harmonischen Menschen und eines nicht-entfremdeten Lebens Konturen zu gewinnen. Joseph Branco Trotta teilt mit den Heimatlosen der Werke Roths zwar die Situation des Wanderers, für ihn ist das Wandern jedoch funktional, es dient der Ausübung eines Berufs, der ihn in die Kronländer eines einheitlichen Reiches führt, ein Wandern, das zeitlich begrenzt ist und ihn wieder in die engere Heimat zurückführt. Unbelastet von der Identitätskrise der übrigen Protagonisten erscheint er als deren Gegenbild. Die slawische Lebenswelt kontrastiert — wie die Kultur des Ostjudentums — als positives Ideal zu den (geistigen, sozialen und politischen) Auflösungserscheinungen der modernen Welt, zugleich äußert sich in Roths Vorliebe für diese »Rand«-Kulturen seine Abneigung gegen die Ideologie des Nationalismus (als deren Exponenten er Ungarn und die Deutsch-sprachig-»Alpenländischen«37 kritisiert). Der Entwurf der Images von Slowenen* und Judentum kann auch verstanden werden als Selbstidentifikation, »die sich in den tiefsten Zweifeln und Verzweiflungen erlebt« (Friedrich Heer)38, mithin als Versuch, die Identitätskrise durch Auseinandersetzung mit heterogenen Traditionen zu bewältigen. Die Wiederkehr der Trottas oder: Galizien liegt in Kärnten In der Erzählung Drei Wege zum See (aus dem Zyklus Simultan, 1972) knüpft Ingeborg Bachmann an Joseph Roths Kapuzinergruft an, indem sie Nachkommen der Rothschen Protagonisten in Beziehung zu ihrer Ich-Erzäh- 33 Zoran KONSTANTINO VIC: Rittmeister Jelacich zwischen der Liebe zur Monarchie und zu seinen Söhnen. In: Literatur und Kritik 25 (1990), S. 151—156, hier S. 151 f. Vgl. ebd. auch die Ausführungen über die Figur des slowenischen Rittmeisters Jelacich (aus Radetzkymarsch), der sich zur Monarchie bekennt, während seine Söhne für die Selbständigkeit der Südslawen agitieren. 34 Vgl. ebd., S. 152. 35 Vgl. ROTH: Kapuzinergruft (Anm. 18), S. 865. 36 KONSTANTINOVIC: Rittmeister Jelacich (Anm. 33), S. 152. 37 Vgl. etwa ROTH: Kapuzinergruft (Anm. 18), S. 873; hier sagt Graf Chojnicki: »[...] Freilich sind es die Slowenen, die polnischen und ruthenischen Galizianer, die Kaftanjuden aus Boryslaw, die Pferdehändler aus der Bacska, die Moslems aus Sarajewo, die Maronibrater aus Mostar, die ,Gott erhalte' singen. Aber die deutschen Studenten aus Brünn und Eger, die Zahnärzte, Apotheker, Friseurgehilfen, Kunstphotographen aus Linz, Graz, Knittelfeld, die Kröpfe aus den Alpentälern, sie alle singen ,Die Wacht am Rhein'. [...] Das Wesen Österreichs ist nicht Zentrum, sondern Peripherie. Österreich ist nicht in den Alpen zu finden [...].« 38 Friedrich HEER: Der Kampf um die österreichische Identität. Wien-KölnGraz 1981, S. 437. 62 lerin, der Foto-Reporterin Elisabeth Matrei, setzt.35 Die aus Klagenfurt stammende Journalistin begegnet in Paris Franz Joseph Eugen Trotta, den Sohn Franz Ferdinands aus Roths Kapuzinergruft40, der als Exilant unter dem Bewußtsein existentieller Heimatlosigkeit leidet. Die Erfahrungen Nationalsozialismus, Emigration und Sprachverlust (bzw. Mehrsprachigkeit) prägen sein Leben, in dem es keinen Halt mehr gibt; Trotta lebt — wie Jean Amery, dessen Essay Die Tortur Bachmann in ihrer Erzählung auch zitiert — in der Erkenntnis seiner »Fremdheit in der Welt«41, einer Fremdheit, der er zu entgehen sucht, indem er in seiner Geburtsstadt Wien Selbstmord verübt. Die Liebesbeziehung zwischen Trotta und Elisabeth gestaltet sich als Prozeß der Verunsicherung: dann war doch Trotta [...] die große Liebe, die unfaßlichste, schwierigste zugleich, [...] aber zumindest hatte er sie gezeichnet, [...] weil er sie zum Bewußtsein vieler Dinge brachte, seiner Herkunft wegen, und er, ein wirklich Exilierter und Verlorener, sie, eine Abenteurerin, die sich weiß Gott was für ihr Leben von der Welt erhoffte, in eine Exilierte verwandelte, weil er sie, erst nach seinem Tod, langsam mit sich zog in den Untergang, sie den Wundern entfremdete und ihr die Fremde als Bestimmung erkennen ließ.42 Elisabeth wird in ihrer bisherigen Lebensführung und auch in ihrer beruflichen Tätigkeit (die von Trotta als Ästhetisierung des Grauens decouvriert wird) verunsichert: »zum erstenmal hatte ihr jemand den Boden unter den Füßen weggezogen«.43 Die durchlittenen Schrecken und die Erfahrung der Zerstörung von Geist und Humanität machen es für Trotta unmöglich, sich in die von Verdrängung der Vergangenheit und Fortschrittseuphorie geprägte Nachkriegsgesellschaft zu integrieren. Er stellt sich bewußt in eine Position des »Außerhalb«, stilisiert zur Rolle des eigentlich Toten, nur Schein-Lebenden: »Ich lebe überhaupt nicht, ich habe nie gewußt, was das ist, Leben. Das Leben suche ich bei dir, aber ich kann mir nicht einmal einbilden, daß du es mir geben könntest.«44 Trottas Selbstinterpretation als eines Nicht-Lebenden, wenn w Vgl. Gudrun B. MAUCH: Ingeborg Bachmanns Erzählband Simultan. In: Modem Austrian Literature 12 (1979), H. 3/4, S. 273—304; — Irena OMELANIUK: Ingeborg Bachmann's Drei Wege zum See: A Legacy of Joseph Roth. In: Seminar 19 (1983), S. 246—264; — Bärbel THAU: Gesellschaftsbild und Utopie im Spätwerk Ingeborg Bachmanns. Untersuchungen zum »Todesarten-Zyklus« und zu »Simultan«. Frankfurt am Main-Bern-New York 1986 (= Europäische Hochschulschriften, Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 893). 40 Vgl. ROTH: Kapuziner gruft (Anm. 18), S. 977: »Ich kümmerte mich nicht mehr um die Welt. Meinen Sohn schickte ich zu meinem Freund Laveraville nach Paris.« (1934 nach der Niederschlagung des Arbeiteraufstands in Wien); — und Ingeborg BACHMANN: Drei Wege zum See. In: I.B.: Werke, Bd. 2: Erzählungen. Hrsg. v. Christine KOSCHEL, — Inge von WEIDENBAUM u. Clemens MUNSTER. MünchenZürich 1978, S. 394—486 (aus dem Zyklus »Simultan«, ebd., S. 283-486), hier S.416: »Elisabeth hatte damals nicht auf alle Sätze Trottas geachtet, der aus jenem sagenhaften Geschlecht kam, wo keiner ,darüber hinwegkam', und auch von seinem Vater wußte sie durch ihn, daß der auch wieder einmal die Zeit nicht mehr verstanden hatte und zuletzt fragte: Wohin soll ich jetzt, ein Trotta? als die Welt wieder unterging, für einen Trotta im Jahr 1938, einer von denen, die noch einmal zur Kapuzinergruft gehen mußten und nur wußten, was ,Gott erhalte' heißt, aber vorher alles getan hatten, um die Dynastie Habsburg zu stürzen.« 41 Jean AMERY: Die Tortur. In: Merkur 19 (1965), S. 623—638, hier S. 638. 42 BACHMANN: Drei Wege zum See (Anm. 40), S.415f. 43 Ebd., S. 417. 44 Ebd., S. 420. 63 auch Leben-Suchenden, der allerdings von vornherein an der Möglichkeit, auch etwas zu finden, zweifelt, beruht zum einen auf der literarischen Tradition (der von Joseph Roth entworfenen Familiengeschichte der Trottas und ihrer existentiellen Heimatlosigkeit), zum anderen jedoch auf der konkreten Erfahrimg des Nationalsozialismus.45 Ingeborg Bachmann erweitert somit die von Roth entworfenen Koordinaten der existentiellen Obdachlosigkeit, indem sie die Rothsche Problematik unter dem Eindruck der »Herrschaft des Gegenmenschen« (Jean Amery)4i neu zu formulieren versucht. Bevor wir diesen Gedankengang weiterverfolgen, ist es jedoch notwendig, die Personenkonstellation der Erzählung zu beschreiben, zumal die Protagonistin auch mit den Nachkommen des Fiakers Manes Reisiger und des Maroniverkäufers Joseph Branco Trotta in Berührung kommt. In Paris trifft Elisabeth, kurz nachdem sie über den Selbstmord Trottas informiert wurde, einen Mann namens Manes, den sie zudringlich und unsympathisch findet, und mit dem sie dennoch eine Liebesnacht »in einer Ekstase, die sie nie gekannt hatte«, verbringt. Ausgelöst wurde diese zwei Jahre dauernde Liebesaffäre durch eine beiläufige Bemerkung Manes': »in einer kurzen Pause sah sie ihn einmal genau an und bemerkte: Sie sind aber auch ¡kein Franzose, kein echter jedenfalls. Nein, ein falscher, sagte er befriedigt, aus Zlotogrod, Galizien, und obendrein gebe es diesen Ort gar nicht mehr, [.. .].«47 Manes aus Zlotogrod gehört, wenn auch seine jüdische Herkunft nicht erwähnt wird, in das Assoziationsfeld des Rothschen Manes Reisiger. Der Hinweis auf das galizische Shtetl, das es »nicht mehr« gibt, macht Zlotogrod zu einem in den Bereich des Mythischen entrückten Ort. Allerdings fehlt der Bachmannschen Figur die Einbettung in die jüdische Lebenswelt, stattdessen erscheint sie als Repräsentant der westlich-gewinnorientierten Geschäftswelt, die Erfolg höher bewertet als Humanität (Manes verläßt Elisabeth auf brutale Weise).48 Pointiert formuliert, wird Manes auf die Assoziationsmächtigkeit des Wortes Zlotogrod reduziert. Ohne die Identitätskrise des der (ost-)jüdischen Kultur entfremdeten Mannes oder die Problematik der Überlebens der Shoah zu reflektieren, assoziiert die Autorin Manes mit den Bereichen Sexualität und Kapitalismus. An dieser Stelle der Interpretation befinden wir uns an einem heiklen Punkt: der Tradierung von Stereotypen in der Zeichnung von jüdischen Figuren, die auch Ingeborg Bachmann nicht ganz vermeiden kennte. Weitaus positiver als Manes wird der Sohn Joseph Branco Trottas gezeichnet. Elisabeth begegnet dem Vetter Franz Josephs auf dem Flughafen Wien-Schwechat und durchlebt mit ihm einen Moment der völligen — stummen — Hingabe. Die Liebeserklärung kommt jedoch für Elisabeth zu spät, denn Branco, der in Ljubljana lebt, ist inzwischen verheiratet. Wie jene von Manes wird auch die Herkunft Brancos auf einen mythischen, dem fiktiven (habsburgischen) Universum des Joseph Roth entnommenen Ort zurückgeführt: »es 45 Gerhard F. PROBST: Ingeborg Bachmanns Wortspiele. In: Modern Austrian Literature 12 (1979), H. 3/4, S. 325—345, hier S. 337 f, interpretiert Trotta als »zentrale Symbolfigur« für Bachmanns Werk, dessen Namen er (sehr gewagt) als Anagramm von »Tatort« auffaßt: »Insofern ist der Tatort, an dem der Mord an diesem Mann verübt wurde, die Sprache«. 46 AMßRY: Die Tortur (Anm. 41), S. 631. 47 BACHMANN: Drei VJege zum See (Anm. 40), S. 436. 48 Darüber hinaus wird Manes als Vertreter eines traditionellen Frauenbildes gezeichnet, wenn er zu Elisabeth sagt: »mit Frauen ihrer Art habe er nie etwas zu tun gehabt, [...] intelligente Frauen seien für ihn keine Frauen«, ebd., S. 439. 64 mußte dieser Vetter von Trotta sein, dieser Branco, einer von denen, die in Jugoslawien geblieben waren, ein Sohn oder Enkel von Bauern oder Händlern, oder waren es Maronibrater gewesen? aus jenem Sipolje, das es nicht mehr gab«.49 Wie Joseph Roth errichtet Ingeborg Bachmann ein Interpretationsgewebe zwischen Sipolje und Zlotogrod, den beiden Orten, die es »nicht mehr« gibt: der slowenische und der galizische Ort existieren nur noch in der Fiktion, können nur noch durch die Umsetzung in Worte wieder-erinnert werden. Die Liebes-Begegnung mit Branco schließlich vollzieht sich an einem ex-territorialen Ort (Flughafen), worin ein Hinweis auf den utopischen Charakter der stummen Harmonie enthalten ist: die Liebe geschieht in einem Bereich des Ort- und Wort-losen. Vermittelt wird diese Utopie durch den Rückgriff in die literarische Tradition und den Entwurf mythischer Modelle. Elisabeth Matrei, die in einer existentiellen Krisensituation ihren Vater in Klagenfurt besucht, kehrt an den Ort ihrer Kindheit zurück. Sie wandert, wie in ihrer Jugend, auf den »drei Wegen zum See«, doch keiner von ihnen führt mehr zum Wörthersee, alle werden unterbrochen durch den Bau der Autobahn (Symbol für den technisch-zivilisatorischen Fortschritt, der das Wiederanknüpfen an die mythisch erlebte Kindheit unmöglich macht). Die drei Wege zum See symbolisieren zugleich die Suche nach Antworten auf die Identitätskrise der Ich-Erzählerin. Für unser Thema ist es nun von Interesse, daß sich auf den Wanderungen Elisabeths Ausblicke auf Slowenien eröffnen: Von der Zillhöhe blickt sie zu den Karawanken und stellt sich das Dorf Sipolje wie auch Branco Trotta vor, den sie als »hünenhafte[n] fröhliche[n] Slo-wene[n]« in Erinnerung hat; im Spiegel einer Aussage Franz Josephs erscheint Branco als dessen Gegenbild, als Inbegriff des von der Identitätskrise verschont gebliebenen Menschen: »[er ist] so verflucht gesund, ich weiß nicht, wie die es fertig gebracht haben, dort unten, zuhause, sich nicht zu irren und gesund zu bleiben.«50 (Möglicherweise könnte, wie Irena Omelaniuk vermutet, die Idealisierung der bäuerlichen Lebensweise in Slowenien auch auf ein ma-triarchales Sozialmodell verweisen).51 Die Karawanken, die die Grenze zwischen Österreich und Slowenien markieren, geben der Ich-Erzählerin Anlaß, das Land jenseits der Grenze zu ima-ginieren. Hinter dem Grenzgebirge eröffnet sich für sie die Ahnung von kultureller Vielfalt und die Erinnerung an die »nicht mehr existierende Welt« der Donaumonarchie (assoziiert durch die Aufzählung der Namen der ehemaligen Kronländer), ja mehr noch, sie erlebt die Imagination Sloweniens als stumme Zwiesprache mit dem toten Trotta: »sie [...] schaute [...] hinüber zu den Karawanken und weit darüber hinaus, nach Krain, Slawonien, Kroatien, Bosnien, sie suchte wieder eine nicht mehr existierende Welt, da ihr von Trotta nichts geblieben war, nur der Name und einige Sätze, seine Gedanken und ein Tonfall. [...] die Geistersätze kamen von dort unten, aus dem Süden: Verschaff dir nichts, behalt deinen Namen, nimm nicht mich, nimm dir niemand, es lohnt sich nicht.«52 Auf ihrer letzten Wanderung schließlich verknüpft sie ihre Sehnsucht nach einem einfachen Leben mit einer Reminiszenz an Kakanien: 45 Ebd., S. 474. 50 Ebd. S. 422. 51 Vgl. OMELANIUK: Bachmann's Drei Wege... (Anm.39), S.262. 52 BACHMANN: Drei Wege zum See (Anm. 40), S. 429. 5 Acta 65 sie nahm das Dreiländereck ins Aug, dort drüben hätte sie gerne gelebt, in einer Einöde an der Grenze, wo es noch Bauern und Jäger gab, und sie dachte unwillkürlich, daß sie auch so angefangen hätte: An meine Völker! Aber sie hätte sie nicht in den Tod geschickt und nicht diese Trennungen herbeigeführt, da sie doch gut miteinander gelebt hatten, immer natürlich in einem Mißverständnis, [...], und sie dachte belustigt an ihren Vater, der ganz ernsthaft erklärt hatte, es sei damals alles ganz und gar unvernünftig gewesen und sonderbar, und gerade das hätten alle verstanden, weil sie eben allesamt sonderbare Leute waren, und auch die Revolutionäre seien ganz erschrocken gewesen, wie es dann dieses verhaßte, aber mehr noch geliebte sinnlose Riesenreich nicht mehr gab.53 Durch den Hinweis auf den Ersten Weltkrieg und die Dekomposition der Habsburgermonarchie relativiert die Autorin zwar die Vorbildfunktion des übernationalen Reiches, dennoch stellt sie es »als Modell [...] der als negativ empfundenen Gegenwart« gegenüber.54 Es gelingt ihr, diesen Modellcharakter durch ein subtil konstruiertes Textgeflecht aus literarisch-historischen Verweisen, mythisch-utopischen Entwürfen und der Reflexion von Sprach- umd Identitätsverlust transparent zu machen. Zunächst adaptiert Ingeborg Bachmarm die Personenkonstellatioii und die Thematik der Trotta-Romane Joseph Roths: die Heldin Elisabeth Matrei, deren Vorname jenem der Frau Franz Ferdinand Trottas (Kapuzinergruft) gleicht, erlebt Liebesbeziehungen mit den Nachkommen der Rothschen Helden, ihr Vater wiederum (als Idealisierung eines kaka-nischen Beamten) wird mit dem Bezirkshauptmann von Trotta aus dem Radetzkymarsch verglichen; der Symbolwert der Grenze, die Tendenz zur Mythisierung der Habsburgermonarchie sowie die Thematisierung von Peripherie, Heimatlosigkeit und Identitätsverlust benennen weitere Übereinstimmungen mit der Romanwelt Roths (auch die Methode, dieselben Figuren in mehreren Werken, die somit durch ein untergründiges Beziehungsgeflecht miteinander verbunden werden, auftreten zu lassen, verbindet Bachmann mit Roth). Neue Akzente setzt sie, indem sie die Mann-Frau-Beziehung und die Sprachnot des modernen Menschen ins Zentrum ihrer literarischen Reflexion stellt, sowie durch die Einbeziehung der Problematik des Nationalsozialismus. Die von Elisabeth gesuchten drei Wege zum See symbolisieren auch ihre Liebesbeziehungen (zu Franz Joseph, Manes und Branco) als Suche nach einer Möglichkeit des Zusammenlebens von Mann und Frau.55 Während jedoch mit Franz Joseph, dem »exterritorial«56 lebenden Emigranten, und Manes, dem Repräsentanten der negativ bewerteten Nachkriegsgesellschaft, keine dauerhafte Beziehung möglich wird, scheint Branco dem Ideal des »Neuen Mannes« zu entsprechen, der Elisabeth aus der »Unstimmigkeit aller Beziehungen« äi Ebd., S. 444 f. 54 Vgl. Sigrid SCHMID-BORTENSCHLAGER: Die österreichisch-ungarische Monarchie als utopisches Modell im Prosawerk von Ingeborg Bachmann. In: Acta Neophilologica 17 (1984), S.21—31, hier S.31. 55 Die Interpretation von Sigrid SCHMID-BORTENSCHLAGER: Frauen als Opfer — gesellschaftliche Realität und literarisches Modell. Zu Ingeborg Bachmanns Erzählband Simultan. In: Der dunkle Schatten, dem ich schon seit Anfang folge. Ingeborg Bachmann — Vorschläge zu einer neuen Lektüre des Werks. Hrsg. v. Hans HÖLLER. Mit der Erstveröffentlichung des Erzählfragments »Gier«. Aus dem literarischen Nachlaß hrsg. v. Robert PICHL. Wien-München 1982, S. 85—95, hier S.91, wonach Elisabeth Matrei zwei Arten der Beziehung zu Männern kennt, einmal das Verhältnis der überlegenen Frau zum schwachen, gestrauchelten Mann, zum anderen die Beziehung zu »wirklichen Männern« (Franz Joseph Trotta, zum Teil Manes, Branco Trotta), läßt sich in dieser Vereinfachung nicht halten. 56 BACHMANN: Drei Wege zum See (Anm. 40), S. 475. 66 durch ein »stark[es]<< und »mysteriös[es]« Erlebnis befreien (könnte57, wenn auch die Intensität dieser Begegnung nur für kurze Zeit aufrechterhalten werden kann. Der »Neue Mann« hat — beheimatet in Slowenien — seine Identität bewahrt; das Mysterium des Zueinanderfindens vollzieht sich jedoch außerhalb von Raum, Zeit und Sprache. Slowenien figuriert als utopische Projektion — als Ideal-Landschaft, der Modellcharakter (ein nicht-entfremde-ter Ort) zukommt, jedoch ein Modell, das »literarisch vermittelt« ist und von dem in der Realität »keine Rettung zu erwarten«58 ist. Auch die Liebes-Begegnung zwischen Elisabeth und Branco bleibt letztlich im Bereich des UtopischUnverbindlichen — eine Ahnung, was Liebe sein könnte. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Identitätsverlust äußert sich für Ingeborg Bachmann als Sprachverlust und, damit eng verbunden, als Namensverlust.59 Im Romanfragment Der Fall Franza (aus dem geplanten Todesarten-Romanzyklus; entstanden in den frühen 60er Jahren) erlebt die Protagonistin das Zerbrechen ihrer Identität als Verlust ihres Namens. Durch die versuchte Integration in die Wiener Gesellschaft und die Heirat mit dem berühmten Psychotherapeuten Leo Jordan wird aus Franza Ranner vulgo Tobai, gebürtig aus dem Kärntner Dorf Galicien, Franziska Jordan. Von ihrem Mann wird sie jedoch als Studienobjekt mißbraucht und systematisch in eine Geisteskrankheit getrieben; auf stenographischen Notizen über ihr Liebes- und ihr alltägliches Verhalten wird ihre Person zu einem eninzigecn Buchstaben (»F.«) marginalisiert, die Frau dient als Objekt wissenschaftlicher Analyse (Der Fall F.), Sie wird zur Gefangenen im »Käfig« der »Notizen« ihres Mannes60; die Nicht-Nennung ihres Namens im Vorwort des Buches von Leo Jordan, das Psychosen bei ehemaligen Konzentrationslagerhäftlingen und auch Versuche an weiblichen Häftlingen beschreibt61 (implizit wird das Verhalten Jordans dem der KZ-Ärzte gleichgesetzt, die Frauen als Objekte menschenverachtender Versuche verwenden),6: interpretiert sie als Versuch, »mich aus[zu]löschen, mein Name sollte verschwinden, damit ich danach wirklich verschwunden sein konnte.«63 57 Vgl. ebd., S. 450. 53 Vgl. SCHMID-BORTENSCHLAGER: Die österreichisch-ungarische Monarchie... (Anm.54), S.31. 55 Vgl. hierzu Andreas HAPKEMEYER: Die Funktion der Personennamen in Ingeborg Bachmanns später Prosa. In: Literatur und Kritik 19 (1984), S. 352—363; — Robert PICHL: Rhetorisches bei Ingeborg Bachmann. Zu den .redenden Namen' im »Simultan«-Zyklus. In: Akten des VI. Internationalen Germanisten-Kongresses Basel 1980, Teil 2. Hrsg. v. Heinz RUPP u. Hans-Gert ROLOFF. Bern-Frankfurt am Main-Las Vegas 1981 (= Jahrbuch für Interiiationale Germanistik, Reihe A, Bd. 8), S. 298—303. 60 Ingeborg BACHMANN: Der Fall Franza. Unvollendeter Roman. In: I.B.: Werke, Bd. 3: Todesarten. Malina und unvollendete Romane. Hrsg. v. Christine KO-SCHEL, Inge von WEIDENBAUM u. Clemens MÜNSTER. München-Zürich 1978, S. 339—482, hier S. 407. 61 Vgl. Ingeborg BACHMANN: Das Gebell. In: I. B.: Werke, Bd. 2 (Anm. 40), S. 373—393, hier S. 383 (aus dem Zyklus »Simultan«); und DIES.: Der Fall Franza (Anm. 60), S. 455 f. 62 Vgl. auch den direkten Vergleich Jordans mit dem KZ-Arzt Körner, dem Franza in Kairo begegnet, ebd., S. 462. 63 Ebd., S. 410. Eine Parallele zu ihrem eigenen Schicksal findet Franza im Tempel der Königin Hatschepsut, deren Zeichen und Gesicht Thutmosis III. zerstören ließ: »Siehst du, sagte sie, aber er hat vergessen, daß an der Stelle, wo er sie getilgt hat, doch sie stehen geblieben ist. Sie ist abzulesen, weil da nichts ist, wo sie sein soll. [...] sie [Franza, A. d. V.] sagte nur: Er hat sie nicht zerstören können«, ebd., S. 436 f. 5* 67 Dem drohenden Identitätsverlust sucht sie durch die Rückkehr in ihre (geographische) Heimat und durch die Flucht nach Ägypten zu entgehen. In ihrer Kindheits-Landschaft Galicien erlebt sie die Einheit ihrer Ahnen als Einheit der Namen, die sie auf Grabsteinen (am Friedhof von Maria Gail) findet: sie [Franza und ihr Bruder Martin, A. d. V.] fingen an, die Namen auf den Grabsteinen zu studieren, und schätzten ab, mit wem sie noch verwandt sein könnten und mit wem doch nicht, mit den Gasparin gewiß, so müßten wir doch eigentlich heißen? sagte Franza, mit den Katzianka, den Napokojs, Wutti, den Kristan V JEZUSU KRISTUSU JE ŽIVLJENJE [sie!] IN VSTAJENJE, und dann wunderten sie sich, wie wenig Vornamen rund um Galicien immer in Gebrauch gewesen waren, immer wieder dieselben, Martin, Jakob, Kaspar, Johann, Albin, viel weiter ging es nicht, Elise, Agnes, Terezija, Marica, Magdalena, Angela, dann schon wieder Elise und Joseph und Magdalena. Es drehte sich im Kreis. Nicht nur die Ranner und die Gasparin hatten sich so immer im Kreis gedreht, und dazu um ihre Hausnamen, die vulgo Tobai, damit sie doppelt getauft waren wie das Haus Österreich, das sich mit seinen drei doppelten Namen immer im Kreis gedreht hatte bis zu seinem Einsturz und davon noch an Gedächtnisverlust litt, die Namen hörte für etwas, das es nicht mehr war.64 Franzas Vorfahren, slowenische Bauern aus Galicien, sind erhoben in den Bereich des Mythischen (Kreislauf des Immer-Gleichen) und assoziiert mit dem ebenfalls mythisch konnotierten Begriff »Haus Österreich«, der auf die Utopie einer supranationalen Kultur verweist. Wie Elisabeth Matrei65 gehört Franza einer »aussterbenden« Familie an. Als ihren letzten Namen wählt sie ihren ersten, den Kindheits- und Ahnen-Namen, wenn er sie auch »nicht mehr ganz«, sondern »nur noch die Blößen« bedeckt.66 Der mythische Name wird zum magischen Abwehrsymbol gegen die Grausamkeit der wissenschaftlichtechnischen Zivilisation, als deren Repräsentat Leo Jordan erscheint. Franza identifiziert sich mit den Angehörigen von Naturvölkern, »die sterben, seit sie mit der Zivilisation in Berührung kommen«: »von Tag zu Tag wird dies schlimmer, dieses Leiden, es macht die Magie möglich, ich bin eine Papua, (---)«.67 Der Rückzug in den Mythos scheint für die Frau einen Weg zu öffnen, sich der Kolonisierung, Analyse und Schematisierung durch den Mann zu entziehen. Franzas Flucht nach Galicien gestaltet sich als Suche nach den Ursprüngen. In der Erinnerung an den »schönsten Frühling«68, den sie hier (im Jahre 1945) verbracht hat, erlebt sie ihre Begeisterung für Frieden und Befreiung (von der Hitler-Herrschaft) sowie ihre erste Liebe (die einem Captain der englischen Besatzungstruppen gegolten hat) wieder; zugleich beginnt sie sich gegen ihre (Ehe-)Rolle, deren Zwangs-Charakter ihr nun bewußt wird, zu wehren. Für Franza ist Galicien der Inbegriff der positiv konnotierten Begriffe 64 Ebd., S. 371 f. 65 Vgl. BACHMANN: Drei Wege zum See (Anm. 40), S. 399: »Denn sie wußte nur und auch genau, warum Familien wie die Matreis aussterben sollten, [...], und Robert und sie sich zwar in die Fremde gerettet hatten und tätig waren wie tätige Menschen [...]. Aber was sie zu Fremden machte überall, war ihre Empfindlichkeit, weil sie von der Peripherie kamen und daher ihr Geist, ihr Fühlen und Handeln hoffnungslos diesem Geisterreich von einer riesigen Ausdehnung gehörten, und es gab nur die richtigen Pässe für sie nicht mehr, weil dieses Land keine Pässe ausstellte.« 66 Vgl. BACHMANN: Der Fall Franza (Anm. 60), S. 372. 47 Ebd., S. 413 f. 68 Ebd., S. 377. 68 Heimat, Kindheit, Frühling, Friede, Freiheit, Liebe. Lokalisiert wird dieser Ort an der Gail in der Nähe von Villach; mittels der Montage von realen Ortsnamen wie Warmbad, Dobrowa oder Tschinowitz ¡und des fiktiven Namens Galicien (der allerdings auf einen Gehöftsnamen verweisen könnte) entrückt Bachmann den Ort der Realität und chiffriert ihn zum Mythos. Galicien wird zu einem symbolischen Ort, dessen Name den Kärntner Ort Gallizien/ Galicija (am Fuß des Hochobir), aber auch das ehemalige Kronland der Habsburgermonarchie Galizien (Galicia) und die nordwestspanische Landschaft Galicia assoziiert.69 Somit erscheint das fiktive Galicien als Brennpunkt eines imaginären west-östlichen Reiches. Galicien ist für Bachmann jedoch auch Grenz-Ort und zugleich ein (geistiges) Zentrum des Beharrens gegen die Ziehung politischer Grenzen, wie sie im Roman Malina ausführt: Am liebsten war mir immer der Ausdruck ,aas Haus Österreich', denn er hat mir besser erklärt, was mich bindet, als alle Ausdrücke, die man mir anzubieten hatte. Ich muß gelebt haben in diesem Haus zu verschiedenen Zeiten, denn ich erinnre mich sofort, in den Gassen von Prag und im Hafen von Triest, ich träume auf böhmisch, auf windisch, auf bosnisch, ich war immer zu Hause in diesem Haus [...]. Stellen Sie sich vor, daß nach den beiden letzten Kriegen jedesmal mitten durch das Dorf Galicien die neue Grenze gezogen werden sollte. Galicien, das niemand außer mir kennt, das anderen Menschen nichts bedeutet, von niemand besucht und bestaunt wird, geriet immer genau unter den Federstrich auf den Stabskarten der Alliierten, aber beide Male wurde es, jedesmal aus anderen Gründen, wieder bei dem, was heute Österreich heißt, gelassen, die Grenze liegt nur wenige Kilometer davon, auf den Bergen, [...]. Galicien wäre natürlich Galicien geblieben, unter jeder Flagge, und viel gemeint hätten wir nicht dazu, weil wir uns um Ausdehnungen überhaupt nie gekümmert haben, in der Familie hieß es immer, wenn das vorbei ist, dann werden wir wieder nach Lipica fahren, wir müssen unsere Tante in Brünn besuchen, was mag aus unseren Verwandten in Czernowitz geworden sein, die Luft ist besser im Friaul als hier, wenn du groß bist, mußt du nach Wien und Prag gehen, wenn du groß bist.. .70 Schließlich: Galicien ist auch ein Ort der slowenisch-deutschen Synthese; bereits .in der Schreibweise des Namens sind slowenische (»c«) und deutsche (»-en«) Elemente vereint. Galicien ist zugleich Zufluchts-Ort und Todes-Ort (in seiner Nähe liegt die Begräbnisstätte für die in einem Hotel in Kairo gestorbene Franza). Untergründig entfaltet sich ein Beziehungsgeflecht zwischen Galicien und der ägyptischen Wüste, insbesondere zu dem untergehenden, vom Nil überschwemmten Wadi Haifa.71 Die Protagonistin betrachtet die Wüste als Alternative zum »Dschungel« der »Weißen«,72 aber auch die »von zerbrochenen Gottesvorstellungen umsäumt[e]«73 arabische Wüste offenbart sich — wie Galicien — als ambivalente Symbollandschaft. Franza, »die letzte " Vgl. Neva SLIBAR-HOJKER: Entgrenzung, Mythos, Utopie: Die Bedeutung der slowenischen Elemente im Oeuvre Ingeborg Bachmanns. In: Acta Neophilolo-gica 17 (1984), S. 33—44, hier S. 40 f. 70 Ingeborg BACHMANN: Malina. Roman. In: I. B.: Werke, Bd. 3 (Anm. 60), S. 9— 337, hier S. 99 f. " Vgl. BACHMANN: Der Fall Franza (Anm. 60), S.471: »Wadi Haifa würde bald untergehen, dort sollte sie liegen, weil sie dort am glücklichsten gewesen war und der Nil bald über die Ufer durfte, um die Wüste fruchtbar zu machen und den Sandboden wegzunehmen, auf dem sie gestanden war.« 72 Vgl. ebd., S.404, 421, 438 u.a. 73 Ebd., S. 447. 69 aus einer Familie, eine mythische Figur«74 — zerbricht letztlich an den »Weißen«; am Friedhof von Galicien/Maria Gail wird sie neben den Gräbern ihrer Ahnen, die mit slowenischen Inschriften75 versehen sind, begraben. Die positive Bewertung der »Heimat« darf nicht mit Nostalgie oder Hei-mattümelei verwechselt werden: im Sinne Ingeborg Bachmanns ist Heimat Synonym für Gegenwelt, ein potentielles Refugium gegen die Entfremdungen der zeitgenössischen Wirklichkeit. Hier wird keine konfliktlose Idylle errichtet, denn die Heimat-Sucher sind allesamt Unbehauste, Exilierte, die unter dem Verlust von Sprache und Identität leiden. Die Konturen der Gegenwelt (Geburtsort, »Haus Österreich« und vor allem Slowenien) zeichnen sich — gebrochen durch die Erfahrung von Nationalsozialismus und »alltäglichem Faschismus« — als Möglichkeit zur Wiederfindung der Einheit von Sprache und Wirklichkeit, aber auch der Kommunikation zwischen Mann und Frau ab, wenn sie auch im Bereich des Imaginären bleiben. Dennoch behält diese (fiktional konstruierte) Gegenwelt Orientierungsfunktion. Das slowenischösterreichische Grenzgebiet, in dem das mythisierte Galicien — von dem imaginäre Assoziationsfäden ausgehen, die ein ebenso imaginäres (mittel-)euro-päisches »Geisterreich«76 konstituieren — liegt, wird transzendiert zu einer ent-grenzenden Landschaft, in der (wie bei Joseph Roth) die Utopie des »ganzen Menschen« denk-möglich scheint. Der slowenische Karst — das »Land der Erzählung« Auf seiner Suche ¡nach der verschwundenen Schwester, die ihn auf dem Umweg über Wien nach Galicien führt, fährt Martin Ranner zweimal durch den Semmeringtunnel, »der ihm einmal als der längste der Welt erschienen war«;77 Filip Kobal, der Ich-Erzähler in Peter Handkes Roman Die Wiederholung (1986), überschreitet auf seiner Suche nach seinem (im Zweiten Weltkrieg verschollenen) Bruder die Grenze zwischen Österreich und Slowenien, genauer: er unter-schreitet die Grenze durch den Karawankentunnel, in dem er dem Erlebnis der »Sprachlosigkeit«78 ausgesetzt ist. Filip Kobal wieder-holt schreibend eine Reise, die ihn im Jahre 1960, er war damals 20 Jahre alt, nach 74 Ebd., S. 357. 75 Zur slowenischen Inschrift »V JEZUSU JE ŽIVLJENJE IN VSTAJENJE« (»In Jesus Christus ist das Leben und die Auferstehung«), ebd., S. 372, vgl. ŠLIBAR-HOJ-KER: Entgrenzung (Anm. 69), S. 39 f. (»Auferstehung« als Ahnung eines »ganzheitlichen Lebens«); hier werden noch weitere slowenische Figuren aus Bachmanns Werken beschrieben: Malina, der wie die Ich-Figur »von der jugoslawischen Grenze« kommt und manchmal Slowenisch spricht: »Jaz in ti. In ti in jaz« (»Ich und du. Und du und ich«), BACHMANN: Malina (Anm. 70), S. 20, Jaslo im Fragment »Gier« und den Hausierer Mate Banul in der Jugenderzählung Das Honditschkreuz. — Vgl. auch Andreas HAPKEMEYER: Ingeborg Bachmann: Die Grenzthematik und die Funktion des slawischen Elements in ihrem Werk. In: Acta Neophilologica 17 (1984), S. 45—49, über Josip in der Erzählung Die Fähre, Mara in Ein Schritt nach Gomorrha (ein »slawische[s] Elementarwesen«); auch das Märchen der Prinzessin von Kagran in Malina spielt im slawischen Grenzgebiet, das hier als »grenzenlose Landschaft« erscheint. 76 BACHMANN: Drei Wege zum See (Anm. 40), S.399. 77 BACHMANN: Der Fall Franza (Anm. 60), S. 344. 78 Peter HANDKE: Die Wiederholung. Frankfurt am Main 1986, S. 112; die folgenden Ausführungen gründen auf meiner Studie: Armin A. WALLAS: »und ich gehörte mit meinem Spiegelbild zu diesem Volk«. Peter Handke als Schöpfer eines slowenischen Mythos. Zu Handkes Roman Die Wiederholung. In: Österreich in Geschichte und Literatur 33 (1989), S. 332—338. 70 Slowenien geführt hat. Bereits in seiner Jugend fühlt sich Filip als »der Ungefüge, der aus dem Zusammenhang Geratene«,79 für den »das Unterwegssein« — »das Fahren« und »das Warten an Haltestellen und Bahnhöfen«80 — zur Chiffre für seine existentielle Unbehaustheit wird. Die Lebenssituation des Pendlers wird von Filip, den es drängt, »ewig unterwegs zu sein«,81 überhöht zur Lebenssituation des permanenten Exils. Aus der Perspektive des Außenseiters, der die Fahrt-Strecken als ErsatzHeimat empfindet, entidyllisiert er den Begriff »Heimat« (verstanden als My-thisierung des Geburtsortes): er erkennt, daß auch die Eltern in dem Dorf Fremde waren«.82 Das Kärntner Dorf Rinkenberg, in dem die Kobals, nach außen hin geachtet, leben, decouvriert sich als Verbannungs-Ort.83 Die Familientradition führt ihre Herkunft auf Gregor Kobal, den Anführer des Tol-miner Bauernaufstands von 1713, dessen Nachkommen nach seiner Hinrichtung aus dem Xsonzotal vertrieben wurden, zurüok. Der in Kärnten lebende Familienzweig befindet sich gewissermaßen in einer Situation der Diaspora; die Herkunftslegende wird für die Familie zur Orientierungsmöglichkeit im Exil. Während sich jedoch Filip und seine (deutschsprachige) Mutter84 eher am Mythos des Rebellentums orientieren, richtet sich der Vater nach dem resignativen Mythos von Hinrichtung und Vertreibung. Die »Verdammung« der Kobals, einer »Sippe von Knechten« und »Wanderarbeitern«, ist somit dreifach begründet: »Exil, Knechtschaft, Sprachverbot«.85 Die Verinnerlichung des resignativen Mythos veranlaßt den Vater, die Verwendung der slowenischen Sprache auf das Innere des Hauses zu beschränken und auch hier immer weiter zurückzudrängen. Die Suche nach dem Bruder wird für Filip Kobal auch zu einer Suche nach der verlorenen Heimat in Slowenien und zur Suche nach seiner Identität. In der Grenzstation Jesenice erkennt er bereits seine Verwandtschaft mit dem slowenischen Volk, als er Passanten »durch ein in den Glaswänden gespiegeltes Gesicht, das mein eigenes war«, betrachtet: Die Alten waren alt, die Paare waren Paare, die Familien waren Familien, die Kinder waren Kinder, die Einsamen waren einsam, die Haustiere waren Haustiere, ein jeder einzelne Teil eines Ganzen, und ich gehörte mit meinem Spiegelbild zu diesem Volk, das ich mir auf einer unablässigen, friedfertigen, abenteuerlichen, gelassenen Wanderung durch eine Nacht vorstellte, wo auch die Schläfer, die Kranken, die Sterbenden, ja sogar die Gestorbenen mitgenommen wurden.86 " HANDKE: Die Wiederholung (Anm.78), S.45. 80 Ebd., S. 63. 81 Ebd., S. 67. 82 Ebd. 83 Zu Handkes Bild des Dorfes, dessen Affinität zum Slowenischen in den Werken Die Hornissen, Das Wunschlose Unglück und in der Tetralogie Langsame Heimkehr deutlich wird, vgl. Johann STRUTZ: »Das Dorf an der Grenze«. Ein historisch-ästhetischer Versuch über Interferenzen zwischen der neueren slowenischen und deutschsprachigen Literatur in Österreich. In: JugoslavAen — Österreich (Anm.3), S.49—76, hier S.67, 71. 84 Die Mutter Filips psalniontiert die Ortsnamen auf einer Landkarte Sloweniens, die im Vorhaus hängt, als »slowenische Litanei«, vgl. HANDKE: Die Wiederholung (Anm.78), S.74f.; für sie ist Slowenien eine »Stätte der Erwartung«, (re-)konstruiert aus Namen, »ein Land, das nichts gemein hatte mit dem tatsächlichen Gebiet von Slowenien, sondern gebildet wurde rein aus den Namen, den vom Vater, ob schaudernd oder auch nur beiläufig, erwähnten Schlacht- und Leidensstationen«, ebd., S. 77. 85 Ebd., S. 70 f. 86 Ebd., S. 17 f. 71 Im Spiegel-Motiv wird das Sowohl-als-auch des Dazugehörens zum slowenischen Volk und der Fremdheit symbolisiert. Hier eröffnet sich ein Mythos der Ganzheit; Filip findet Konturen einer Gegenwelt zu den ihn umfeindenden Bewohnern der österreichischen Städte, in deren Menge »nicht wenige ihre Kreise zogen, die gefoltert und gemordet oder dazu wenigstens beifällig gelacht hatten, und deren Abkömmlinge das Althergebrachte so treu wie bedenkenlos fortführen würden«.87 Von der »österreichischen Mehrzahl« fühlt sich Filip ständig »eingeschätzt, beurteilt, schuldiggesprochen«, in Slowenien dagegen findet er »ein vielfältiges und zugleich einhelliges Treiben« auf der Straße, im dem es »keine Mehrzahl, und so auch niemanden in der Minderheit« gibt.88 Im Mit-Gehen mit den Passanten von Jesenice schließlich erkennt er seine »Ähnlichkeit« mit ihnen, »die äußerliche und die innerliche, wie kein Spiegel sonst -sie mir hätte zeigen können«: das Wesen von Leuten, die durch die Jahrhunderte Königlose, Staatenlose, Handlanger, Knechte gewesen waren (kein Adeliger darunter, kein Meister) — und zugleich strahlten wir Finsterlinge gemeinsam vor Schönheit, vor Selbstbewußtsein, vor Verwegenheit, vor Aufsässigkeit, vor Unabhängigkeitsdrang, jeder in dem Volk der Held des andern." Slowenien figuriert als Gegen-Wirklichkeit: Am Land seiner Herkunft findet Filip »ganze« Menschen, die unbelastet sind von den Entfremdungserscheinungen der Industriegesellschaft, aber auch unbelastet von Herrschafts-Geschichte. Die Identifikation mit einem Volk von Unterdrückten, Nicht-Herrschenden, das zur Freiheit gelangt ist, ermöglicht ihm die Findung seiner (slowenischen) Identität. Das Slowenien, das sich Filip imaginativ er-schafft, stellt sich als herrschaftsfreier Raum dar, dessen utopische Konturen im Erzählprozeß hergestellt werden. Die Erfahrung der Ausgrenzung, als Angehöriger einer Minderheit dem Assimilationsdruck der Mehrheit ausgesetzt zu sein, von der Filip geprägt wurde, wie auch die Konfrontation mit der verdrängten, nur oberflächlich verdeckten nationalsozialistischen Vergangenheit in Österreich, erleichtern ihm die Idealisierung eines nicht mit der Wirklichkeit identifizierten, sondern mythisierten Sloweniens. Die Menschen erscheinen ihm im Rahmen einer universalen Schrift als Konsonanten, die Dinge (in Slowenien) als Vokale, »ohne daß sich daraus aber Wörter bildeten«.90 Auf der zweiten Station seiner Reise, dem Hochland der Wochein, setzt sich Filip mit den beiden Büchern seines Bruders auseinander, zum einen mit Aufzeichnungen über die Anlage eines Obstgartens (der Garten symbolisiert die Harmonie von Mensch und Natur), zum anderen mit einem deutsch-slowenischen Wörterbuch aus dem Jahre 1895. Die Beschäftigung mit dem Wörterbuch als Symbol für transkulturelle Kommunikation vermittelt ihm das Erlebnis des Wortes, er erkundet die Bedeutungsintensität der Wörter, die »Bedeutungspfeile«91 aussenden; mit Hilfe der vom Bruder angekreuzten Wörter gelingt ihm so die Rekonstruktion des slowenischen Volkes: 87 Ebd., S.325. 88 Ebd., S. 130. 89 Ebd., S. 131 f. 90 Ebd., S. 132. 91 Ebd., S. 193. 72 Ein so zärtliches wie grobianisches Volk entstand da vor ihm, [...] einsilbig, fast stumm, in der Hoffnungslosigkeit, mehrsilbig, geradezu beschwingt, in der Freude und Sehnsucht; ohne Adel, ohne Marschtritt, ohne Ländereien (das Land nur gepachtet); [...]. Und dabei war es doch, recht bedacht, gar nicht das besondere slowenische Volk, oder das Volk der Jahrhundertwende, welches ich, kraft der Wörter, wahrnahm, vielmehr ein unbestimmtes, zeitloses, außergeschichtliches — oder, besser, eins, das in einer immerwährenden, nur von den Jahreszeiten geregelten Gegenwart lebte, in einem den Gesetzen von Wetter, Ernte und Viehkrankheiten gehorchenden Diesseits, und zugleich jenseits oder vor oder nach oder abseits jeder Historie [.. .].92 Filip ist sich bewußt, daß er von der konkreten Realität des slowenischen Volkes abstrahiert und — im Erzählvorgang — einen Prozeß der Mythisierung initiiert; er folgt den Zeichen der Landschaft und der assoziativen Kraft der Wörter, die ihm Identifikationsmöglichkeiten eröffnen.93 Das Wörterbuch stammt jedoch aus einer Zeit, als die Sprachkrise noch nicht offensichtlich war, als die Sprache noch nicht ihre Unschuld in den Katastrophen des 20. Jahrhunderts verloren hatte. »Auswanderung« hat noch nicht die Bedeutung von »Aussiedlung« angenommen und »Partisane« bezeichnet noch eine altertümliche Spießwaffe. Die Rekonstruktion des slowenischen Volkes wirkt somit retardierend, in die Sphäre des Märchenhaften entrückt;94 die Vorstellung eines Volkes, das seine Verwirklichung nicht in Staat oder Krieg, sondern im Kleinen, Unscheinbaren, Verborgenen sucht,95 belegt jedoch erneut die Gegenwelt-Funktion Sloweniens. Bei seinen, immer wieder relativierten und in Frage gestellten Annäherungen an das Phänomen Slowenien läßt sich Filip Kobal von Zeichen, die er zu entziffern sich bemüht, leiten. Und diese Annäherung vollzieht sich als Prozeß der Umsetzung von Sprache in Schrift. Die Begegnung mit einem Schriftenmaler in Filips Jugend und die Beschäftigung mit dem Wörterbuch des Bruders lassen den Erzähler erkennen, daß die Neudefinition von Ich und Welt nur über eine Neudefmition von Sprache und Schrift ermöglicht werden kann. Im Gebiet mit den »meisten Sprachfundorte[n]«,96 dem slowenischen Karst, findet er schließlich die »Überlebensstätte« —das »Ziel meiner Spuren- 52 Ebd., S. 201 f. 93 Vgl. ebd., S. 202: »Wie nicht sich jenem unbekannten Volk zuzählen wollen, das für Krieg, Obrigkeit und Triumphzüge sozusagen nur Lehnwörter hat, aber einen Namen schafft für das Unscheinbarste, [...] — und das sich zugleich nie, gegen ,die Völker', als das eine, das auserwählte, abgrenzen muß (denn es bewohnt und bebaut ja, in jedem Wort sichtbar, sein Land)?« Vgl. ebd., S. 209: »Und es waren doch zugleich Märchen; denn als Antwort auf jedes mich befragende Wort, auch wenn ich die Sache nie gesehen hatte, und auch wenn diese längst aus der Welt war, kam von der Sache immer ein Bild, oder, genauer, ein Schein.« 55 Die Vorliebe für das Kleine ist Widerstand gegen die Macht, wie es Elias Canetti am Beispiel von Franz Kafka ausführt: »Am erstaunlichsten ist ein anderes Mittel, über das er [Franz Krafka, A. d. V.] so souverän verfügt wie sonst nur Chinesen: die Verwandlung ins Kleine. Da er Gewalt verabscheute, sich aber auch die Kraft nicht zutraute, die zu ihrer Bestreitung vonnöten ist, vergrößerte er den Abstand zwischen dem Stärkeren und sich, indem er im Hinblick auf das Starke immer kleiner wurde. Durch diese Einschrumpfung gewann er zweierlei: er entschwand der Drohung, indem er zu gering für sie wurde, und er befreite sich selbst von allen verwerflichen Mitteln zur Gewalt; die kleinen Tiere, in die er sich mit Vorliebe verwandelte, waren harmlos«, Elias CANETTI: Der andere Prozeß. Kafkas Briefe an Feiice. In: E. C.: Das Gewissen der Worte. Essavs. Frankfurt am Main 1982, S. 78—169, hier S. 145. Ä HANDKE: Die Wiederholung (Anm.78), S.271. 73 suche«.97 Das bäuerliche Leben in den Dolinen des Karsts erscheint als Alternative zu den Dissoziationserscheinungen der modernen Wirklichkeit, während die archaisch-ursprüngliche Benennung der Welt durch das Wort im Kontrast zu Sprachverlust und Sprachverwirrung steht. Der Erzähler findet in der Karstlandschaft Urbilder, in denen er »das Modell für eine mögliche Zukunft«98 erkennt. Der Karst, in der Realität »ein Mangelgebiet«,99 wird im Erzählvorgang zu einem utopischen »Land der Erzählung«100 mythisiert, in dem die »Orgie des Einander-Erkennems«101 möglich wird. Das »Mangelgebeiet« wird zum »Fruchtland«, schließlich zum Märchenland; das »Land der Erzählung« offenbart sich im Rahmen des Privatmythos der Kobals als das »neunte Land« der slowenischen Sage: In einem Frontbrief erwähnt Gregor das sagenhafte Land, das in der Sprache unserer slowenischen Vorfahren ,das neunte Land' heißt, als das Ziel der gemeinsamen Sehnsüchte, in dem Satz: .Mögen wir uns eines Tages alle wiederfinden, in der geschmückten Osternachtskalesche, auf der Fahrt zur Hochzeit mit dem Neunten König im Neunten Land — erhöre, Gott, meine Bitte!' Seinen frommen Wunsch sah ich nun übertragbar in die irdische Erfüllung: die Schrift.102 Die Suche ¡nach dem Bruder, der wie der mythische Ahnherr den Namen Gregor trägt, offenbart sich als Suche nach der Schrift, die Filip Kobal in der Traum-Landschaft des Karsts, umgeben vom Karstwind, der ihn die Entzifferung und Benennung der Welt lehrt, findet. Der Roman mündet in eine Apotheose der Erzählung, die der Ich-Erzähler zum »Allerheiligste[n]«, zu einer irdisch-sakralen Instanz, die er als Zukunftshoffnung der Menschheit versteht, erklärt: »Erzählung, wiederhole, das heißt, erneuere; immer neu hinausschiebend eine Entscheidung, welche nicht sein darf.«103 Filip Kobal, der die Welt als universales Zeichensystem erlebt, verkörpert das Urbild des Wanderers: des Suchenden und des Grenzüberschreiters (Identifikation mit Odysseus). Auf diesen Zusammenhang verweist auch Handkes Ubersetzung des slowenischen Wortes »kobal«, das er zunächst als »Schritt«,104 schließlich als »die Grenznatur«105 wiedergibt. Das assoziative Beziehungsgeflecht, das er durch diese Namensgebung errichtet, wird ergänzt durch die historische Dimension des Tolminer Bauernaufstands und die Hinrichtung des Ahnherrn der Kobals, wodurch die Geschichte der Slowenen als Geschichte des Beherrschtwerdens, der Unterdrückung, Verfolgung und Vertreibung interpretiert wird. Filip Kobals dreifache Wieder-Holung der (individuellen, genealogischen und sprachlichen) »Kindheit« (»Wiederholung« bedeutet für ihn, daß im Ursprünglichen Erneuerung möglich wird) ist ein Versuch der Identitätsfindung. Hinter der individuellen Identitätsproblematik des Ich- Erzählers werden jedoch die Konturen eines slowenischen Mythos sichtbar. Peter Handke kreiert Slowenien zum Mythos; das Land und seine Menschen erscheinen als Gegenwelt zur (österreichischen) Wirklichkeit. In Slowenien erscheint nicht-entfremdetes Leben möglich: die Menschen leben in Einklang " Ebd., S. 249. 95 Ebd., S. 285. " Ebd., S. 293. 100 Ebd., S. 285. 101 Ebd., S. 293. 102 Ebd., S. 317. 103 Ebd., S. 333. 104 Ebd., S. 10. 105 Ebd., S. 235. 74 mit Natur und Gemeinschaft, hier wird die Einheit von Ich, Welt, Sprache und Schrift neu erlebt, ja der Karst wird sogar als Überlebensstätte genannt, in der nach einer atomaren Katastrophe neues Leben begonnen werden kann.106 Der Erzähler nähert sich Slowenien nicht als politischer Wirklichkeit, sondern als Flucht-Raum, den er sich erzählerisch er-schafft. Die implizit politische Dimension einer solchen Erzählhaltung liegt in der Sichtbarmachung der Vernetztheit der zeitgenössischen Realität, der die Einfachheit von Wort und Buchstabe entgegengesetzt wird. Handke ist sich durchaus bewußt, daß er diese Utopie nicht im realen Slowenien finden kann: »Die freie Welt, das war, so die Übereinkunft, die, aus der ich gerade kam — für mich dagegen im Augenblick die, die ich so buchstäblich vor mir hatte. Daß es eine Täuschung war, das wußte ich schon damals.«107 Das Slowenien, in das uns Handkes Protagonist Fdlip Kobal führt, enthüllt sich als Land der Imagination (die Assoziierung Sloweniens mit China108 und dem »verschwundenen Volk« der Maya109 unterstreicht diesen Zusammenhang). Die Utopie gewinnt Realität nur für den Moment der Umsetzung der Erzählung in Schrift. Danach muß die Suche nach dem »neunten Land« immer wieder von neuem begannen werden. Dieses »neunte Land«, das er als »Land der Erzählung« erlebt, hat Filip Kobal im slowenischen Karst gefunden: Peter Handke assoziiert den von ihm geschaffenen Mythos der Erzählung mit Elementen literarisch vermittelter Mythen und identifiziert ihn mit dem Sehnsuchtsland Slowenien, dem er die Züge einer real-fiktiven Gegenwelt verleiht. Epilog Die literarische Gestaltung des Themas Slowenien bewegt sich in den für unsere Untersuchung ausgewählten Texten zwischen Identifikation und Mythi-sierung. Während Joseph Roth, der aus dem galizischen Brody stammende Romancier jüdischer Herkunft, Slowenien als Symbol für die Integrationsfähigkeit der Donaumonarchie wählt,110 nähern sich die beiden in Kärnten 106 Vgl. auch Johann STRUTZ: Eine »kleine Literatur«. Zur Soziologie und Ästhetik der neueren slowenischen Literatur in Kärnten. In: Profile der neueren slowenischen Literatur in Kärnten. Monografische Essays. Hrsg. v. Johann STRUTZ. Klagenfurt/Celovec 1989, S. 11—35, hier S. 18 f.: »[...] Handke, der seit seinem ersten Buch (Die Hornissen, 1966), am intensivsten in der Erzählung Die Wiederholung (1986), eine emphatische Annäherung an die slowenische Kultur als einer mythischen, naturbezogenen, bäuerlichen und dörfisch organisierten Lebens- und Erfahrungsform vollzieht, aus der er einen utopischen Gegenentwurf zur konformistischen Konsumgesellschaft zu konstruieren scheint. Bernhard, Jonke, Lipuš, Winkler und andere entwickeln dagegen gerade aus dem dörflichen Sozial- und Kulturmodell den Ansatz für ihre jeweilige literarische ,Beseitigung' bzw. Destruktion des Dorfes.« 107 HANDKE: Die Wiederholung (Anm.78), S. 119 f; vgl. auch folgenden relativierenden Satz: »In Wirklichkeit ist der Karst ein Mangelgebiet, und der Übergang kein bizarrer Indianerfels«, ebd., S. 293; und: »diese Landschaft, ohne daß ich damit das Tal der Save oder Jugoslawien meinte, konnte ich anreden als ,Mein Land!'«, ebd., S. 114. 108 Vgl. ebd., S. 135. 109 Vgl. ebd., S. 212 f.; vgl. auch ebd., S.269: die Karstbewohner als das »Umkehrvolk« zu den Maya, und S. 301 der Ausdruck »Karst-Indianerin«. 110 Die Tradierung des »habsburgischen Mythos« — für Joseph Roth und Ingeborg Bachmann offensichtlich — findet sich auch, wenngleich peripher, eher in Form eines Zitats, bei Peter Handke, wenn Filip Kobal in den Bahnhöfen Österreichs und Jugoslawiens »dasselbe Grundmuster: das des einstigen Kaiserreichs« findet, ebd., S.232; zum Begriff vgl. Claudio MAGRIS: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur. Salzburg 1966. 75 geborenen Autoren Ingeborg Bachmann und Peter Handke dem Thema aus einem Gefühl der persönlichen Betroffenheit. Beide haben slowenische Vorfahren und wurden in einer — von Germanisierung bedrohten — deutschslowenischen Mischkultur sozialisiert, bzw. versuchten, sich mit dieser Kultur zu identifizieren.111 Das von ihnen entworfene Bild Sloweniens enthält bei allen drei Autoren Attribute einer utopisch gesehenen Gegenwelt. In der Tradition der Konstruktion literarischer Utopien entsteht das Wunschbild als mögliches Korrektiv einer defizitär erlebten Realität.112 Joseph Roth formuliert seine Utopie unter dem Eindruck des Aufstiegs des Nationalsozialismus; Bachmann ■und Handke schreiben im Rückblick auf die nationalsozialistische Herrschaft und verstehen ihre Literatur auch als Versuch zur Auseinandersetzung mit dieser .im Nachkriegs-Österreich nur allzuoft verdrängten Vergangenheit.113 Die fiktionale Annäherung am das Phänomen Slowenien wird ausgelöst vom Wunsch nach Orientierung: die utopischen Attribute, mit denen das Bild Sloweniens ausgestaltet wird (Ganzheit, Lebensnähe, Identität), lassen die Möglichkeit einer Überwindung der Identitätskrise, die vor allem als Sprachkrise perzipiert wird,114 erahnen. Die Utopie verflacht jedoch nirgends zur Idylle — sie bleibt eine Denkfigur des Möglichen, an der sich die Protagonisten, ausgesetzt den Dissonanzen — und auch: der Orientierungslosigkeit — ihrer Zeit, zu orientieren versuchen. Und: sie bleibt eine Denkfigur des Widerstands. Im Bild Sloweniens äußern sich, nicht zuletzt, Selbst-Interpretationen. 111 Zu Ingeborg Bachmann vgl. die oben genannte Literatur; zu Peter Handkes Auseinandersetzung mit seiner Kärntner Herkunft vgl. etwa Hans WIDRICH: Die Hornissen — auch ein Mosaik aus Unterkärnten. In: Peter Handke. Hrsg. v. Raimund FELLINGER. Frankfurt am Main 1985 (= suhrkamp materialien), S.25—35. 112 Allzu schematisch wirken die Ausführungen von Ivo RUNTIC: Jugoslawien als Topos der Abenteuerlichkeit in der zeitgenössischen österreichischen Literatur. In: Jugoslawien — Österreich (Anm. 3), S. 91—102, der betont, daß Jugoslawien in der österreichischen Literatur »ein Land, welches weniger gesucht als vielmehr zufällig gefunden wird, wohin man sich flüchtet und wo man sich verborgen aber dafür nicht vertraut fühlen kann; nicht Zielland, vielmehr Fluchtpunkt; ein Ausbruchs- oder Exil- oder Transitland vom höchsten Unbekanntheitsgrad«, S. 97, letztlich »ein literarisch nicht gestaltetet] Raum«, S. 101, sei. 113 Bemerkenswert ist es, daß die Problematik der sozialistischen Gesellschaftsordnung Sloweniens nur marginal betrachtet wird, bei Handke in Hinweisen auf Tito-Bilder und der Apostrophierung der »Volksrepublik Slowenien« als »sogenannt fortschrittliche[s] Land«, HANDKE: Die Wiederholung (Anm. 78), S. 10; bei Brachmann durch den Verweis auf die Moskau-Reise Branco Trottas. Ohne die konkrete Situation näher zu analysieren, firmiert Slowenien als »fortschrittliches« Land, wie es Hilde Spiel in ihrer Erzählung Mirko und Franca den Triestiner Commendatore Bauer-Bonfante aussprechen läßt, als er auf den Vorwurf des jungen slowenischen Bildhauers Mirko, Triest sei in den eigenen Untergang verliebt, antwortet: »Du hast recht. Auch das ist ein Erbe des alten Österreich. Ihr Slowenen könnt das wirklich nicht begreifen, ihr habt euch von Österreich befreit und nichts davon zurückbehalten. Ihr geht mit der Zeit. Sie arbeitet für euch. Für uns arbeitet sie nicht«, Hilde SPIEL: Mirko und Franca. Erzählung. München, 2. Aufl. 1980, S. 44. 114 Elisabeth Matrei fragt sich, ob »es denn überhaupt noch nie jemand in den Sinn gekommen [ist], daß man die Menschen umbringt, wenn man ihnen das Sprechen abnimmt und damit das Erleben und Denken«, BACHMANN: Drei Wege zum See (Anm. 40), S. 448; — für Filip Kobal heißt, »einen wie den Bruder zu beseitigen, der [...] begabt war, die Wörter und durch sie die Dinge zu beleben, [...] die Sprache selber — die gültige Überlieferung, die Uberlieferung des Friedens — töten und war das unverzeihliche Verbrechen, der barbarischste der Weltkriege«, HANDKE: Die Wiederholung (Anm. 78), S.215.