Vida Jesenšek Universität Maribor UDK 803.0-086.6-316.1:070:801.73 NEOLOGISMEN IN DEN PRESSETEXTSORTEN NACHRICHT UND GLOSSE 0. Einleitung Die Pressetextsorten Nachricht und Glosse haben in der Tages- und Wochenpresse eine feste und längst etablierte Position. Einerseits gehört die Nachricht zum klassischen Bestand der Anfangsseiten einer Tageszeitung, und andererseits gibt es selten Tageszeitungen ohne eine regelmäßig oder wenigstens gelegentlich erscheinende Glosse. In dem vorliegenden Artikel wird versucht, in diesen hinsichtlich der Textfunktionen diametral unterschiedlichen Pressetextsorten lexikalische Innovationen zu beobachten, die in der Fachliteratur mit dem Terminus Neologismus benannt werden. Die einzelnen Texte verfügen über charakteristische Texteigenschaften, und bei ihrer Ermittlung und Festlegung sollen die zahlreichen Kommunikationsfaktoren nicht übergangen werden. Eine wichtige Rolle spielen dabei die jeweiligen Textfunktionen; Texte werden nicht selten unter funktionalen Gesichtspunkten in Textsorten klassifiziert. Es ist aber festzustellen, daß auch die sprachliche Realisierung der funktions-geprägten Textsorten, ihre Textformulierung, keineswegs beliebig und absolut frei verläuft;1 sie ist weitgehend textfunktions- und textsortenabhängig. Dasselbe mag auch für die Neologismen gelten. Meist sind sie Wörtbildungspro-dukte, die nicht frei und beliebig vorkommen;2 sie werden nach bekannten Wortbildungsmodellen gebildet, oder sie entstehen als Analogie-Bildungen zu usuellen Lexemen. Sie erscheinen nicht isoliert, sondern in Texten; es ist deshalb anzunehmen, daß ihre Bildung und Verwendung textsorten- und textfunktionsabhängig verläuft. Die Hauptfragestellungen der Untersuchung heißen demnach: 1. Wie korreliert die dominierende Textfunktion mit der sprachlichen (hier lexikalischen bzw. neologischen) Struktur der betreffenden Textsorte? 1 W. HEINEMANN und D. VIEHWEGER (1991, 164 ff.) sprechen diesbezüglich über die textklas-senspezifischen Formulierungsmuster. 2 Die Wortschöpfung als eine "erstmalige Zuordnung eines Lautkomplexes zu einer Bedeutung" (SCHIPPAN 1992, 107) vollzieht sich ohne Verwendung von bereits vorhandenen lexikalischen Elementen; als eine potentielle Art der Wortschatzerweiterung kommt sie relativ selten vor. 261 2. Weisen die untersuchten Textsorten typische Strukturen der lexikalischen Innovation auf? Können bestimmte Modelle und Muster, nach denen die Neologismen entstehen, als typische Merkmale einer Textsorte angesehen werden? 1. Zum Begriff des Neologismus Neologismen sind neue Wörter, lexikalische Innovationen, die in einer bestimmten Sprache zu einer bestimmten Zeit bei den Sprachbenutzern als neu und daher oft als auffällig verstanden/empfunden werden. Sie sind Ausdruck von Neuerscheinungen in allen Lebensbereichen einer Gesellschaft; sie sind demnach als lexikalische Entsprechungen veränderter kommunikativer Bedingungen zu verstehen. Sie entstehen aber nicht nur, um neue Sachverhalte, Wissensgebiete, Arbeitsbereiche zu bezeichnen; sie sind ebenso Ausdruck von neuen Betrachtungsaspekten der Realität. Sie üben dadurch nicht immer primär die Benennungsfunktion aus, sondern sie werden nicht selten in Konkurrenz mit usueller Lexik als wichtige stilistische Mittel verwendet. Die Motive für ihre Entstehung brauchen demzufolge nicht immer in der Benennungsnotwendigkeit begründet zu sein. Sucht man eine Erklärung und eventuell eine Definition der betreffenden lexikalischen Kategorie in der aktuellen linguistischen Fachliteratur, kommt man zur Feststellung, daß dafür mehrere, nicht selten unterschiedlich aufgefaßte und festgelegte Termini verwendet werden.3 Die terminologischen Differenzen sind Ergebnisse unterschiedlicher Aspekte der Neologismusbetrachtung. Manche Schwierigkeiten bereitet die Tatsache, daß für die Abgrenzung der Neologismen von anderen Wörtern keine exakten Kriterien herausgearbeitet worden sind. Es scheint sogar unmöglich, sie festzulegen, denn das wesentliche Merkmal eines Neologismus ist sein Neuheitswert; er ist aber eher "eine subjektiv-psychische Haltung gegenüber einem Wort" (GREULE 1980, 272) als eine feste und verbindliche Kategorie. Wenn der Ausdruck Neologismus für lexikalische Neuerungen in einer bestimmten Sprache gebraucht wird, scheint es notwendig zu sein, auch gelegentlich, okkasionell gebildete neue Worter (Okkasionalismen) als Neologismen zu betrachten. Es handelt sich dabei offensichtlich um lexikalische Innovationen, obwohl diese in der Fachliteratur selten zu den Neologismen gezählt werden; meist mit der Erklärung, daß sie gesellschaftlich nicht verbreitet sind, daß sie nicht zum Lexikoninventar einer bestimmten 3 Es sind folgende Benennungen zu finden: Neologismus, Neuwort, Neubildung, Neuprägung, Neuschöpfung, Neubedeutung, Neosemantismus, Neulexem, Neusemem, Neuformativ, Ok-kasionalismus. Eine Übersicht über die Neologismus-Terminologie ist zu finden in: V. JESENSEK: Medienwirksame Neologismen in der deutschen Gegenwartssprache, Magisterarbeit. Ljubljana 1994. 262 Sprache gehören.4 Es scheint aber, daß eben die Ungeläufigkeit okkasioneller Bildungen ihren Neuheitsweit betont. Außerdem treten alle Neologismen zunächst okkasionell auf; unter Umständen können sie sich im Sprachgebrauch festigen, sie können von einer Sprachgemeinschaft akzeptiert und ins lexikalische System eingenommen werden. Es ist festzustellen, daß gerade die Okkasionalismen einen beträchtlichen Teil der lexikalischen Innovation in der Presse darstellen, und es ist demnach notwendig, daß sie in die lexikalischen Untersuchungen der publizistischen Textsorten einbezogen werden. Aus den genannten Gründen werden die okkasionellen Neubildungen in der vorliegenden Untersuchung als eine Neologismenart akzeptiert. 2. Neologismen in der Textsorte Nachricht Die Klassifizierung von Pressetextsorten erfolgt nicht selten unter funktionalen Gesichtspunkten.5 Die jeweilige dominierende Textfunktion dient als Grundlage der Textsortenklassifizierung. Aufgrund der zwei für die Presse relevanten Textfunktionen (Informations- und Appellfunktion) unterscheidet BURGER (1990, 232) Texte mit dominierender Informations- bzw. Appellfunktion. Die Textsorte Nachricht (im Sinne der harten Nachricht, hard news), als Pressetextsorte längst etabliert, erweist demgemäß eine dominierende Informationsfunktion. Sie soll vorwiegend Fakten darstellen, und keinen Kommentar, keine Bewertung oder Kritik mitbringen. Sie soll den Leser aktuell, sachlich, möglichst objektiv und umfassend informieren. Es stellt sich aber die Frage, inwieweit eine sprachliche Äußerung (hier Nachricht) objektiv sein kann. Ein bestimmter Grad der Objektivität ist zwar dadurch gewährleistet, daß die Nachrichten an politischer und gesellschaftlicher Wirklichkeit meßbar sind. Es ist aber nicht möglich, über eine absolute Objektivität zu sprechen, da bereits die Auswahl der mitzuteilenden Informationen oder die Plazierung der Nachrichten in einer Zeitung Resultate subjektiver Entscheidungen sind. Die Aufbaustruktur einer Zeitungsnachricht ist konventionell festgelegt und leicht erkennbar. Sie beginnt mit der Basisinformation in der Überschrift und/oder im Lead; es folgen die Detaillierungen bzw. Spezifizierungen der Basisinformation nach dem Prinzip der abnehmenden Relevanz. Der Lead enthält ein Maximum an Information und ist (meist) fettgedruckt. Zur festen graphischen Gestaltung gehört auch die Angabe der Nachrichtenagentur am Anfang des Textes. Die bekannten Aufbauprinzipien und die leicht erkennbare, vom Leser sogar erwartete graphische Form sollen in Übereinstim- 4 Vgl. dazu Th. SCHIPPAN (1992, 244), D. HERBERG (1987, 276 f.), D. XUEFU (1987, 99). 5 H.-H. LÜGER (1983, 18 f.) unterscheidet drei wichtige Funktionen der publizistischen Texte: Information, Meinungsbildung und Unterhaltung. Ähnlich dazu auch C. GOOD (1989, 8); die Funktionen der Zeitungen sind Informieren, Kommentieren und Unterhalten. 263 mung mit der dominierenden Informationsfunktion dieser Textsorte eine rasche und problemlose Rezipierbarkeit gewährleisten. Zeigt sich nun die dominante Textfunktion auch in der Auswahl der Lexik? Ist das Streben nach der "objektiven" Informationsvermittlung auch am Gebrauch der lexikalischen Innovationen erkennbar? Es wäre zu erwarten, daß in den Nachrichten eine stilistisch neutrale Lexik vorkommt, und zwar neutral im Sinne der fehlenden impliziten oder sogar explizit ausgedrückten wertenden Elemente. In der Tat kommen oft solche Neologismen vor, die als lexikalische Kürzungen (Informationsverdichtungen) interpretierbar sind. Sie haben die Form von komplexen Wortbildungskonstruktionen und werden aus Platzgründen gebildet und verwendet, denn eine Zeitungsnachricht soll kurz sein; auch der begrenzte Raum, der zur Verfügung steht, zwingt zur Kürze: ... die Kameras könnten angeschaltet werden, wann immer die UN-Sonderkommission, welche die Zerstörung der irakischen Massenvernichtungswaffen überwacht, das wolle. /FAZ 223/1993/1/; auch August-Putsch, September-Umfrage, Ost-West-Gegensatz, Null-Toleranz-Politik, Null-Toleranz-Strategie u.a.m. Solche Wortbildungskonstruktionen (meist Komposita) werden oft reihenhaft gebildet; das gilt etwa für Komposita mit einem Initialwort als Erstglied: SPD-Bundesgeschäftsführer... betonte... /SüdZ 222/1993/5/; Der FDP-Ehrenvorsitzende ... wird die sogenannten Friedensgespräche ... übernehmen. /SüdZ 250/1994/2/; Die FDP-Bundestagsabgeordnete ... hat unterdessen vorgeschlagen, die FDP-Politikerin ... für das Präsidentenamt zu nominieren. /SüdZ 222/1993/1/. Einige Initialwörter erweisen einen hohen Grad der Wortbildungsaktivität, wie etwa EG, UN, UNO, US, PR, PC oder Kurzformen für zahlreiche politische Gruppierungen (SPD, CDU, FDP, G7 u.a.m.). Die erwähnten Modelle, nach denen zahlreiche Neubildungen entstehen können, ermöglichen eine prägnante Ausdrucksweise, die vor allem textsortenbedingt ist. Das Ähnliche gilt etwa auch für deonymische Komposita mit einem geographischen oder Familiennamen als Erstglied; es geht um ein in der Textsorte Nachricht stark produktives Wörtbildungsmodell: Alvarez de Miranda gehörte während der Franco-Diktatur zum christlichdemokratischen Widerstand... 264 /StidZ 250/1994/6/; Verfassungsklage gegen Saar-Pressegesetz erhoben /SüdZ 250/1994,2/; so auch Bosnien-Konflikt, Hongkong-Frage, Somalia-Aktion, Kongo-Mission... Es stellt sich aber die Frage, ob die gebrauchten Neologismen dem Kontext entsprechend verstanden werden, ob es im Rezeptionsprozeß zu keinen Verständnisschwierigkeiten kommt. Mit dem Streben nach konzentrierter Information steigt auch die Schwierigkeit und Vagheit des Wortschatzes, demnach ist nicht selten auch eine erschwerte Dekodierung anzunehmen, obwohl das der Verständlichkeit, die aufgrund der dominanten Textfunktion einer Nachricht vorausgesetzt wird, widerspricht. Ortsnamen als Erstglieder deonymischer Komposita setzen unterschiedliche konstruktionsinterne Beziehungen voraus; der Ortsname weist entweder lokale oder thematische Beziehung zum Zweitglied auf, wie z.B. Bosnien-Konflikt, Somalia-Aktion, Hongkong-Frage. Es handelt sich entweder um einen Konflikt in oder über Bosnien, um eine Aktion in oder für Somalia usw. Ähnliche Verständnisschwierigkeiten sind auch bei den folgenden Beispielen anzunehmen: Sie kommen ... für eine Ein-Prozent-Stichprobe von Gebäude und Wohnungen. /SüdZ 222/1993,5/; Regierungskoalition und SPD haben im Bundestag ihren Meinungsstreit in der Blauhelmfrage fortgesetzt. /SüdZ 222/1993/6. Mit bis zu fünf Jahren Haft müssen Atomschmuggler rechnen. /SüdZ 250/1994/6/. Es ist fraglich, ob der Leser darunter immer eine Umfrage, zu der ein Prozent der Bewohner einbezogen wird und eine Frage über die Teilnahme der Bundeswehr an den Blauhelm-Einsätzen bzw. einen Schmuggler mit Atomabfällen versteht. Auch der breitere Kontext gewährleistet nicht immer eine entsprechende Dekodierung; nicht selten auch deswegen, weil er aus textsortenbedingten Gründen mini-malisiert wird. Die folgenden Neologismen-Beispiele erweisen eine Art von lexikalischer Varianz; die gleichen Wortbildungsmodelle werden in einem Segment unterschiedlich besetzt: Kosten-Nutzen-Analyse, Kosten-Nutzen-Kalkül, Kosten-Nutzen-Überlegungen, Kosten-Nutzen-Rechnungen oder auch Fünf-Prozent-Grenze, Fünf-ProzentHürde. Das bestätigt die Annahme, daß auch in den primär der Informationsvermittlung dienenden Textsorten die jeweilige Auswahl der Lexik den subjektiven Kriterien wesentlich untergeordnet ist, sogar wesentlicher und stärker, als das zu erwarten wäre. 265 Die erwähnten Dekodierungsprobleme deuten darauf hin, daß die Neologismen in einer Nachricht nicht unbedingt eine reine Information vermitteln sollen/müssen. Motive für ihre Bildung und ihren Gebrauch mögen noch woanders liegen. Es ist festzustellen, daß die Neologismen auch stilistische Werte enthalten; sie bringen positiv oder negativ wertende Konnotationen mit: Der Supersommer hat den Bierabsatz in den ersten drei Quartalen kräftig angekurbelt. /SüdZ 250/1994/34/; Frankreich und Rußland wollen gemeinsam den Gesundheitszustand von 36 000 Katastrophenhelfern der Atomkraftwerks-Havarie von Tschernobyl untersuchen. /SüdZ 250/1994/8/; Früherer Stasi-Mitarbeiter scheitert bei PKK-Wahl. /SüdZ 250/1994/5/; Mit einer weiteren, für dieselbe Vorzimmerposition eingestellten Dame wolle Glombig nicht zusammenarbeiten. /FAZ 223/1993/4/. Die bildliche, expressive Lexik ist von subjektiv gefärbten Nebenbedeutungen geprägt, denn wenn eine Sekretärinnenstelle (Arbeitsstelle) mit Vorzimmerposition genannt wird, sind die wertenden, auch leicht ironischen Züge nicht zu übersehen. Ähnlich scheint die Bildung Stasi-Mitarbeiter Negatives im Kontext zu betonen -wenn das nicht der Fall wäre, wäre es zu erwarten, daß Politiker in einer Nachricht nicht durch ihre Funktionen charakterisiert, sondern mit vollen Namen genannt werden. Die Neologismen in den Zeitungsnachrichten weisen nicht selten auch eine Verschleierungsfunktion auf, sie sind Euphemismen. Ein Begriff oder ein anstößiger, unangenehmer Sachverhalt, der beim Leser Negatives assoziieren könnte, wird auf diese Weise gemildert oder verhüllt. So werden die Arbeitsstellen nicht gekündigt, sondern man spricht über den Stellen- bzw. Personalabbau. Im folgenden Beispiel möge es um Abrüstung gehen (so der breitere Kontext), obwohl auch andere Interpretationen möglich sind: Erstmals hat der Bund im Rahmen der Rüstungskonversion einen ... Militärflughafen ... verkauft. /SüdZ 222/1993/5/. 3. Neologismen in der Textsorte Glosse Der Begriff Glosse verfügt über eine besondere Bedeutungsvielfältigkeit; so kennen wir etwa Glosse als Gedichtform, Glosse im Bereich der medizinischen oder juristischen Fachtermini, Glosse in der philologischen Forschung, Glosse im Journalismus. 266 Die journalistische Glosse wird ausführlich untersucht bei CAMEN.6 An gleicher Stelle wird auch konstatiert, daß die Glosse in der Presse keine einheitliche Textsortenkategorie darstellt. Das heißt, daß sie nicht einfach einem Kurzkommentar gleichzusetzen ist, sondern daß sie "eigentlich ein Sammelbegriff für verschiedenartige, besonders kurze Meinungsartikel" ist. In der vorliegenden Untersuchung wird nur diejenige Art von journalistischer Glosse berücksichtigt, die nicht nur eine Erklärung und Kommentierung von aktuellen Ereignissen hervorbringt, sondern die eher ein ironischer, sarkastischer, von einem zugespitzten, polemischen Stil geprägter Kurzkommentar ist. Thematisch ist sie dabei nicht begrenzt. Es ist sogar nicht immer notwendig, daß in der Glosse die realen Gegebenheiten thematisiert werden; die Fabel kann gegebenfalls auch ausgedacht werden, um dadurch auf die aktuellen Ereignisse aufmerksam zu machen und sie kritisch zu beurteilen. Diesbezüglich liegt die journalistische Glosse in der Nähe von literarischen Texten. Hinsichtlich der Textfunktion ist bei der Glosse über die dominierende appellative Funktion zu sprechen. Die informative Funktion ist zwar nicht völlig auszuschließen, aber primär geht es nicht um die Informationsvermittlung, sondern es werden die aktuellen Ereignisse kommentiert, kritisch und/oder polemisch bewertet - all das mit dem Ziel, die Meinungen und Einstellungen der Leser zu bewirken. Der Appell besteht einerseits in der Meinungsbeeinflussung, andererseits aber auch in der Meinungsverstärkung, denn die Meinung der Leser wird nicht selten vorausgesetzt und in der Glosse bestätigt bzw. verstärkt. Es handelt sich um ein manipulierendes Verhalten gegenüber dem Leser. Außerdem soll die Glosse durch ihre kritischen, polemischen, spöttischen, pointiert kommentierten, oft zugespitzten, ironischen oder sarkastischen Aussagen Stoff zum Nachdenken anbieten. Nicht selten wird die Appellfunktion der Glosse auch metatextuell, metakommunikativ indiziert. Das geschieht durch explizite typographische Markierungen, etwa durch eine Spaltenüberschrift bzw. eine feste Glossenüberschrift (z. B. Sprachlupe (zugleich ein Kennzeichen der Thematik!) bzw. Das Letzte in Der Zeit, oder So gesehen, Zwischenzeit in der Süddeutschen Zeitung. Weiter wird die Glosse in einer Tageszeitung nicht selten an gleicher Stelle erwartet, da sie oft periodisch erscheint. Zusätzlich kann sie noch durch besondere graphische Gestaltung hervorgehoben werden (ein Glossenkästchen und/oder eine sich wiederholende Graphik bzw. Karikatur). Nicht zuletzt übt die Textsorte Glosse auch die unterhaltende Funktion aus; diese ist in einer engen Verbundenheit mit der appellativen Funktion zu betrachten. Sie wird o sogar als "Instrument journalistischen Wirkens" verstanden. Die Betrachtung der 6 R. CAMEN: Die Glosse in der deutschen Tagespresse. Bochum 1984. 7 E. NOELLE-NEUMANN, W. SCHULZ: Publizistik. Frankfurt am Main 1971, zit. nach R. CAMEN (1984, 46). 267 sprachlichen Ebene einer Glosse läßt die Feststellung zu, daß die s.g. Wortspiele (sie beinhalten auch Neologismen) zu charakteristischen Textsorteneigenschaften der Glosse gehören und daß sie zu ihren unterhaltenden Werten wesentlich beitragen.9 Eine bemerkenswerte Aussage über die Sprache in den Glossen macht DOVIFAT, indem er schreibt: "... Mit äußerster Sprachkraft prägt sie ihre Gedanken unfehlbar treffend und unfehlbar lesewerbend..."10 Eine Glosse soll kurz sein, deswegen sind auch hier Neubildungen zu finden, die auf eine äußerst prägnante Weise ihre Aussage präsentieren. Die Zeit warnt in einer Sprachglosse vor den übertriebenen Analogie-Bildungen und unnötigen Neubenennungen bzw. Umbenennungen altbekannter Berufe mit folgenden Beispielen: Der Hoffnungsträger bleibt hierbei nicht der einzige, der schweres Zeug transportiert: Neben ihm müht sich der ganz besonders mühselig beladene Verantwortungsträger, mit ihm Entscheidungsträger und Risikoträger, neben deren Phalanx der bloße Briefträger recht altbacken daherstapft und deshalb längst Postzusteller heißt. /Z 42/1994, 69/; dazu noch Funktionsträger und Strukturträger im gleichen Text. Die reihenhaft gebildeten Komposita mit demselben Zweitglied erzielen wegen ihrer partiellen Gleichförmigkeit eine besondere Wirkung; durch die ungewöhnlichen Univerbierungen von usuellen Wortgruppen (Risiko, Verantwortung tragen) und durch weitere Analogiebildungen wecken sie das Interesse am Lesen. Sie werben für das Lesen und implizit auch für das (kritische) Nachdenken der Leser über das Gesagte. Wenn dazu die Art und Weise, wie ein Hoffnungsträger seine Tätigkeit ausübt, mit muttertheresahaft gekennzeichnet wird, ist auch die unterhaltende Funktion solcher bildhaften und expressiven Neubildungen nicht auszuschließen: Keineswegs trägt er private Wünsche und Hoffnungen, sondern muttertheresahaft die Hoffnung derer, deren Hoffnungsträger er ist. /Z 42/1994, 69/. Die Verkehrslage bzw. Verkehrsprobleme oder die Verhältnisse in der Autoindustrie werden in der deutschen Tagespresse oft glossiert. Wenn die Rede von neuen Automodellen ist, dann können sie auch mit Caffice, Büro-Auto, Stauto oder Stehzeug benannt werden: "Wir werden das neue Modell Caffice nennen", sagt Dr. P. 8 R. CAMEN (1984, 19). 9 Ebenda, 171 ff.; die Wortspiele werden nach formalen und semantischen Kriterien differenziert und klassifiziert. 10 DOVIFAT, E.: Zeitungslehre. Berlin 1937, zit. nach R. CAMEN (1984, 37). 268 /Z 41/1994, 28/ "Das Fahren werden die Leute im Büro-Auto, im Caffxce, schnell drangeben it /Z 41/1994, 28/ "Also müssen wir kein neues Auto projektieren, sondern das Stauto. Ein Stehzeug..." /Z 39/1993, 44/. Es handelt sich um Wortkreuzungen (Car + Office, Stau + Auto); Stehzeug entsteht etwa analog zu Fahrzeug. Jedenfalls ist festzustellen, daß der Autor die entsprechenden außersprachlichen Kenntnisse beim Leser voraussetzt, denn sonst wird die gewünschte Dekodierung erschwert, sogar nicht möglich. Der Leser kann die gebrauchten Neubildungen nicht kennen, da sie gelegentlich okkasionell vorkommen; er soll/muß sie aber verstehen. Die Neubenennungen der Automodelle beinhalten die problematischen Verkehrsverhältnisse (Stauto, Stehzeug) bzw. die zu beurteilenden gesellschaftlichen Einstellungen zur Arbeit, Arbeitszeit, zu gültigen Weiten u. dgl.; der Leser soll all das von vorher kennen, um die suggerierte kritische Betrachtungsweise zu erkennen. Manche Neologismen bringen auch wertende Konnotationen mit. Die Benennung der Politiker (Abgeordneten) mit Staatsamateure ist pejorativ, in bezug auf den Kontext sogar ironisch: Auch im "Tauschen" und "Hinters-Licht-führen" sind unsere Staatsamateure nämlich Weltklasse. /Z 29/1993, 4/; oder auch: Und der Aufmarsch der Prominenz ist jedes Jahr ein enormer PR-Faktor für Promireuth. /Z 35/1994, 19/; "Aber dem alten Herrn fehlt doch jede Fernseh-Ausstrahlung..." /Z 35/1994, 8/. Jedenfalls ist eine ironisch-satirische und polemische Komponente der Bewertung nicht zu übersehen; so etwa auch bei den Okkasionalismen, die den Glossen über die Wahlen-Thematik entstammen: Inzwischen aber hat sich ein neues bedrohliches Ungeheuer eingeschlichen: der Stimmungswähler. /Z 23/1994, 9/; An den unberechenbaren Wechselwähler, den treulosen Wanderwähler, den rachsüchtigen Denkzettelwähler, ja sogar an den verdrossenen Protestnichtwähler hatten sich die Parteien wohl oder übel gewöhnt. 269 /Z 23/1994, 9/; oder auch: Hauptabteilung IV: Militärtouristik, in enger Zusammenarbeit mit Rußland /Z 30/1994, 19/; Diesmal war ein Psychotrip angesagt. /Z 35/1993, 58/, wobei mit Militärtouristik Verteidigungsministerium gemeint ist und mit Psychotrip ein Bildungsurlaub (Weiterbildung im Bereich der Psychologie) benannt wird. 4. Schlußbemerkungen Dieser kleine Einblick in den Neologismengebrauch in den Pressetextsorten Nachricht und Glosse erlaubt folgende Bemerkungen über die anfangs gestellten Fragen bzw. Annahmen: Die in der Nachricht verwendeten Neologismen unterstützen die dominante informative Textfunktion dieser Textsorte. Das sind meist komplexe Bildungen (vor allem Komposita), die als Informationsverdichtungen interpretiert und als neutrale Lexik verstanden werden können. Sie sollen den Rezipienten in verdichteter Form über neue Sachverhalte mögüchst umfassend und objektiv informieren. Trotz der angestrebten Objektivität und Verständlichkeit der Informationsvermittlung kommt es nicht selten zu Verständnisschwierigkeiten, da manchmal mehrere Interpretationen bestimmter Wortbildungsmodelle, nach denen die Neologismen entstehen, möglich sind. Der Neologismengebrauch kann hinsichtlich der Rezeption demnach auch ein störendes Merkmal der informationsorientierten Textsorte Nachricht sein. Die Neologismen in den Nachrichten werden nicht unbedingt wegen einer reinen Informationsvermittlung gebildet und gebraucht. Die neugebildete Lexik bringt auch Wertungen, Einstellungen, Konnotationen mit. Es ist daraus zu schließen, daß die Pressetextsorte Nachricht wohl nicht so sehr informationsbetont, objektiv ist, wie sie es sein mag. Eine Nachricht (Information) wird mittels einer Nachricht (Textsorte) nicht nur weitergegeben, sondern sie wird auch redaktionell interpretiert. Das geschieht implizit durch die Auswahl von Informationen bzw. ihre Plazierung in der Zeitung und explizit durch ihre sprachliche Bewertung. Die Neologismen können also auch für appellative Absichten einer Nachricht sprechen und demnach als wichtige stilistische Mittel fungieren. Die lexikalische Untersuchung der Textsorte Glosse in bezug auf den Neologismengebrauch erlaubt die Feststellung, daß die Neubildungen die dominante appellative Funktion der Glosse lexikalisch unterstützen, denn sie fungieren meist als Zweitbenennungen, als lexikalische Varianz zu den bereits existierenden und usuellen Wortern. Sie 270 sind seltener als eine notwendige neue Benennung zu interpretieren. Vor allem vermitteln sie des Autors Einstellungen, seine Wertungen und Beobachtungsaspekte der aktuellen Gegebenheiten, wodurch diese auch auf den Leser Einfluß nehmen sollen. Sie führen zu Assoziationen und diese weiterhin zu beabsichtigten Wirkungen. Die vielen Konnotationen, welche sie mitbringen, werden aber nur dann entsprechend dekodiert, wenn der Leser über das glossierte Thema bereits informiert ist. Es wird vorausgesetzt, daß er über ein breites Sach- und Erfahrungswissen verfügt bzw. daß er die Kenntnisse über die entsprechenden Kontextbedingungen in die Kommunikation mitbringt. Die lexikalische (neologische) Komponente spielt sowohl beim Autor als auch beim Leser eine wichtige Rolle; einerseits zielt sie auf die Individualität und Kreativität des Autors, andererseits ist sie ein bedeutender Faktor der gewünschten Dekodierung von glossierten Themen. Die in der Glosse verwendeten Neubildungen sind expressiv, bildhaft und kommen fast ausschließlich okkasionell vor. Die Expressivität beruht oft auf ihrer Wortbildungsstruktur. Es überwiegen Komposita, teilweise sind sie Analogie-Bildungen; sie können reihenhaft gebildet werden und in demselben Satz vorkommen, wobei die Gleichförmigkeit bestimmte stilistische Wirkungen hervorbringt. Sie sind auch Wortbildungskonstruktionen, bei denen die UK mit unerwarteten, semantisch sogar unkompatiblen Elementen besetzt werden. Die relativ oft gebrauchten Wortkreuzungen tragen zum polemischen und unterhaltenden Charakter der Glosse wesentlich bei. Die Beziehungen zwischen den dominanten Textfunktionen der ausgewählten Textsorten und ihrer lexikalischen (neologischen) Struktur sind evident, jedoch korrelieren sie bei der Textsorte Nachricht nicht eindeutig mit ihrer informativen Grundfunktion. Das erlaubt die Annahme, daß auch der Appell eine wichtige Rolle im Prozeß der Gestaltung und Rezeption der Textsorte Nachricht spielt. Bei der Bildung und Verwendung von Neologismen werden die Eigenschaften und Besonderheiten der jeweiligen Textsorte berücksichtigt. Es ist anzunehmen, daß bestimmte Wortbildungsarten und -modelle, nach denen die neuen Wörter entstehen (etwa bestimmte Komposita-Strukturen in der Nachricht oder Wortkreuzungen in der Glosse), typische Merkmale der betreffenden Textsorte sind. Ob sie als prototypische Elemente der genannten Textsorten gelten können, bleibt m.E. noch die Aufgabe einer detaillierten lexikologischen Untersuchung. LITERATUR BURGER, H.: Sprache der Massenmedien. 2. Aufl. Berlin, New York 1990. CAMEN, R.: Die Glosse in der deutschen Tagespresse. Bochum 1984. GOOD, C.: Zeitungssprache im geteilten Deutschland. Exemplarische Textanalysen. 1. Aufl. München 1989. FLEISCHER, W., I. BARZ: Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen 1992. 271 GREULE, A.: Erbwort - Lehnwort - Neuwort. Grundzüge einer genetischen Lexikologie des Deutschen. In: Muttersprache. H. 5-6, 1980, S. 263 ff. HEINEMANN, W., D. VIEHWEGER: Textlinguistik. Eine Einführung. Tübingen 1991. HERBERG, D.: Stand und Aufgaben der Neologismenlexikographie des Deutschen. Vortrag, IDS-Tagung, März 1987, S. 265 ff. JESENŠEK, V.: Medienwirksame Neologismen in der deutschen Gegenwartssprache. Magisterarbeit. Ljubljana 1994. LÜGER, H.-H.: Pressesprache. Tübingen 1983. PRESSE und Pressewesen. Hrsg. von O. Hestermann. Stuttgart 1993. SCHIPPAN, Th.: Lexikologie der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen 1992. XUEFU, D.: Neologismen im heutigen Deutsch. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht. H. 59, 1987, S. 98 ff. Zusammenfassung Der vorliegende Beitrag behandelt zwei in der Publizistik längst etablierte Textsorten: Nachricht und Glosse. Es wird versucht festzustellen, wie die jeweilige Aufbaustruktur und die jeweilig dominante Textfunktion auf die Bildung und Verwendung von Neologismen Einfluß nehmen. Aus der Analyse der ausgewählten Belege läßt sich entnehmen, daß die Neologismen in der Glosse ihre dominante appellative Textfunktion lexikalisch unterstützen. Primär fungieren sie nicht als stilistisch neutrale und notwendige Erstbenennungen, sondern meist als okkasionelle und oft expressive Zweitbenennungen. Die dominante Textfunktion der Textsorte Nachricht ist informativ, doch werden die untersuchten Neologismen nicht unbedingt primär wegen Informationsvermittlung gebildet und gebraucht; auch hier enthalten sie oft expressive Werte. Der Neologismengebrauch in der Textsorte Nachricht korreliert demnach nicht eindeutig mit ihrer dominanten Textfunktion; er spricht auch für ihre appellativen Absichten. Povzetek NEOLOGIZMIV PUBLICISTIČNIH BESEDILNIH VRSTAH "NOVICA" IN "GLOSA" V prispevku so primerjalno prikazane oblikovne in funkcijske značilnosti dveh uveljavljenih publicističnih besedilnih vrst - časopisne novice in glose - ki vplivajo na njuno besedoslovno podobo, torej tudi na tvorbo in rabo neologizmov. Analiza izbranih primerov kaže, da so neologizmi v glosi rezultat njene prevladujoče apelativne besedilne funkcije, zato niso prvotno obvestilni in stilno nevtralni, ampak predvsem priložnostni in ekspresivno zaznamovani. Prevladujoča besedilna funkcija novice je obvestilna, opazovani neologizmi pa niso nujno v soodvisnosti z njo - tudi tu niso prvotno obvestilni, ampak pogosto ekspresivni. Raba neologizmov v časopisni novici se ne podreja njeni prevladujoči besedilni funkciji in zanika njeno golo obvestilnost. 272