9 Marija Javor Briški: DAS BILD LUTHERS IN DER LITERATUR DES 21. JAHRHUNDERTS Marija Javor Briški Philosophische Fakultät, Universität Ljubljana marija.javorbriski@ff.uni-lj.si DAS BILD LUTHERS IN DER LITERATUR DES 21. JAHRHUNDERTS 1 EINLEITUNG Schon seit rund 500 Jahren inspirieren Luthers Leben und Wirken Autoren immer wieder zu literarischen Produktionen, die trotz gemeinsamer Daten differente Lutherbilder ent­ werfen (vgl. Mecklenburg 2017). 1 Obwohl sie sich u. a. auf allgemein bekannte histori­ sche Fakten (vgl. van Dülmen 2017), wie den Thesenanschlag von 1517, die Verbannung Luthers auf dem Reichstag zu Worms, Luthers anschließenden Aufenthalt auf der Wart­ burg und vieles mehr, wie auch auf Luthers Schriften stützen, präsentieren sie den Refor­ mator – je nachdem in welchen Sinnzusammenhang sie diese Fakten stellen (vgl. White 1991) und welche Position sie ihm gegenüber vertreten – in einem positiven, negativen, kontroversen oder scheinbar neutralen Licht. Denn Literatur lässt sich, wie Graf (1992: 233) schreibt, „unter anderem auch als Ausdruck der Gesellschaft, in der sie entsteht, definieren“. Diese Gesellschaft impliziert im Produktionsprozess von Literatur auch die Autoren, die, zumeist von einer gewissen Intention geleitet, für ein bestimmtes Publikum schreiben. Doch ist das in der fiktiven epischen Welt erschaffene Bild als „mental or discursive representation or reputation of a person“ (Beller/Leerssen 2007: 342) nicht zu reduzieren auf die Vorstellung des Autors. Miteinzubeziehen in die Analyse von Bildern ist vielmehr auch die Erzählperspektive, wie Michaela Voltrová (2015: 47) feststellt, sich auf eine Überlegung von Gabriella Schubert (2003: 9) stützend: „Bilder vertreten häufig nicht den Autorenstandpunkt, sondern den Standpunkt eines fiktiven Erzählers oder die Wahrnehmungsperspektive der erzählten Figuren. Die Gren­ zen sind hier häufig fließend.“ Neben Autorintention und Erzählperspektive können auch Motive (vgl. Mehnert 1997: 44), besonders wenn sie als Leitmotive mit einer Person oder Sache in engen Zu­ sammenhang gebracht werden, ein wichtiges Element der Bildkonstruktion darstellen, wie das Motiv des ‚Feuers‘, das schon im Titel zweier Luther-Romane vorkommt, die in diesem Jubiläums-Dezennium erschienen sind. 1 Das Forschungsprogramm Nr. P6-0265, in dessen Rahmen der vorliegende Aufsatz entstand, wurde von der Öffentlichen Agentur für Forschung der Republik Slowenien aus dem Staatsetat mitfinanziert. UDK 821.112.2.09-31''20":929Luther M. DOI: 10.4312/vestnik.10.9-24 Vestnik za tuje jezike 2018_FINAL.indd 9 21.12.2018 14:04:50 10 VESTNIK ZA TUJE JEZIKE/JOURNAL FOR FOREIGN LANGUAGES Es handelt sich um zwei biographische Romane: Waldtraut Lewins Feuer (2014) und Richard Böcks Durchs Feuer hindurch (2015). Wie Lewin (vgl. 2014: 7f.), eine ehemalige DDR-Schriftstellerin mit Stasi-Kontakten (Mecklenburg 2015: 245) im „Vor­ spruch“ zu verstehen gibt, kreiert sie in ihrem Roman auf der Grundlage historischer Bausteine, die sie neu anordnet und phantasiereich ergänzt, ein für Historiker und Religi­ onswissenschaftler ungewohntes Lutherbild. Während dieses Werk vornehmlich einem breiteren, auf Unterhaltung und Sensation erpichten Lesepublikum 2 zugedacht ist, ist das Werk Böcks, eines Diakons der evangelisch-reformierten Kirche (Böck 2015: 295), dezi­ diert auch für Lesungen in evangelischen Kreisen 3 bestimmt und dient der anschaulichen Vermittlung von Wissen über Leben und Werk des Reformators vor den Hintergründen weltlicher und kirchlicher Machtspiele. Im Fokus der folgenden Untersuchung stehen die in diesen Romanen auf narrativer, thematischer und motivischer Ebene konstruierten Lutherbilder, die, so meine Hypothe­ se, von der jeweiligen Autorintention und Rezeptionssituation beeinflusst werden. 2 LEWINS UND BÖCKS LUTHER-ROMAN 2.1 Erzählstruktur und Erzählperspektiven Im Rahmen des vorliegenden Beitrags kann eine detaillierte narrative Analyse der beiden Werke natürlich nicht erfolgen. Es soll lediglich auf markante Tendenzen hingewiesen werden, die für die Schaffung des jeweiligen Lutherbildes relevant sind. Das Handlungsgerüst in Lewins Roman umfasst wichtige Stationen aus Luthers Leben und Wirken, eingebettet in die historischen Geschehnisse der Reformation und ihrer Folgen. Das erste Kapitel (Lewin 2014: 9–96) zeigt ihn eingepfercht auf der Wartburg; hier wird er mit seinen Schwächen und Ängsten konfrontiert, denen er sich mehr oder wenig erfolgreich mit dem Schreiben von Briefen und der Übersetzung des Neuen Testaments entgegenstellt. Der Handlungsverlauf ist nicht kontinuierlich linear, bisweilen wird die chronolo­ gische Ordnung durch Analepsen, meist in Form von Luthers Wachträumen, in denen er sein Leben Revue passieren lässt, durchbrochen. Die Erinnerungen an vergangene Schlüsselerlebnisse 4 gewähren einen intimen Einblick in das fiktive Bewusstsein Luthers, 2 http://www.niederrhein-museen.de/veranstaltungen/113364_2015_03_15_feuer_der_luther_roman (Zugriff: 10.01.2018), https://kulturkreis-hn.de/files/kulturkreis/nachrichten/Flyer.pdf (Zugriff: 10.01.2018), http://www.ost­ see-zeitung.de/Mecklenburg/Wismar/Autoren-lesen-bei-18.-Ausgabe-des-Buecherfruehlings (Zugriff: 10.01.2018). 3 Vgl. https://www.ref-flawil.ch/bericht/685 (Zugriff: 10.01.2018), https://www.ref-uzwil.ch/bericht/500 (Zu­ griff: 10.01.2018), https://www.bvsga.ch/Wil/getimage.ashx?id=687 (Zugriff: 10.01.2018), https://www.facebook. com/editionwortschatz/posts/richard-b%C3%B6ck-liest-aus-seinem-luther-roman-durchs-feuer-hindurch9-februar- 1415-u/1277138785686083/ (Zugriff: 10.01.2018), https://www.ref-wil.ch/bericht/1035 (Zugriff: 10.01.2018). 4 An seinen Auftritt auf dem Reichstag zu Worms, seine Kindheit, die Studentenzeit in Erfurt, den Eintritt und das Leben im Kloster, die Reise nach Rom, seine Lehrtätigkeit in Wittenberg und seinen Kampf gegen den Ablasshandel (Lewin 2014: z. B. 14–24, 24–27, 29–32, 48–49, 54–59, 60–78). Vestnik za tuje jezike 2018_FINAL.indd 10 21.12.2018 14:04:50 11 Marija Javor Briški: DAS BILD LUTHERS IN DER LITERATUR DES 21. JAHRHUNDERTS dessen subjektive Wahrnehmung durch erlebte Rede (ebd. 15, 17, 79, 81) oder inneren Monolog (ebd. 94) verstärkt wird. Doch der auktoriale Erzähler nimmt nicht nur die Position des Protagonisten ein, er wechselt vielmehr seine Perspektiven, so dass eine „dialogisierte Redevielfalt“ (Bachtin 1979: 166) einander sich spiegelnder Stimmen, die von Luther sprechen, erzeugt wird. Das zweite Kapitel (Lewin 2014: 97–170) knüpft chronologisch an das Geschehen des vorhergehenden Kapitels an und handelt im Wesentlichen von Luthers Wirken in Witten­ berg: seinem Einsatz für die Wiederherstellung der Ordnung und die Arbeit an der Überset ­ zung des Alten Testaments. Daran anschließend wird Luther im dritten Kapitel „Die Feuer“ (ebd. 171–235) hauptsächlich mit dem im Land tobenden Aufruhr konfrontiert, zu dem er sich, aufgefordert von beiden Gegenparteien, positionieren soll. Im vierten Kapitel (ebd. 236–289) folgt in generell chronologischer Abfolge die Schilderung von Luthers durch schwere Selbstvorwürfe hervorgerufener Krankheit, Katharinas Fürsorge für den Patienten, ihrer gegenseitigen Annäherung und ihrer Ehe. Das fünfte Kapitel (ebd. 290–332) erzählt von der nächsten einschneidenden Etappe in Luthers Leben: dem Augsburger Reichstag von 1530, den der von Krankheiten Geplagte wegen des aufrechterhaltenen Banns nur aus sicherer Ferne verfolgen kann. Die beiden letzten Kapitel (ebd. 333–382) handeln schließ- lich von Luthers ungeschicktem Einsatz für die „evangelische Sache“ (ebd. 358), seinen leiblichen und seelischen Leiden, seinem Judenhass, seiner unrühmlichen Involviertheit in die Bigamie-Affäre des Landgrafen Philipp von Hessen und seinem Bewusstsein, im Wittenberger Hexenprozess durch sein passives Verhalten versagt zu haben. Auch in diesen Kapiteln wechseln immer wieder die Erzählperspektiven, so dass auch hier ein komplexes, ambivalentes Lutherbild entworfen wird, dessen Subjektivität zum Teil durch erlebte Rede (ebd. 111, 168, 176) oder inneren Monolog (ebd. 130, 176, 316) wie schon im ersten Kapitel hervorgehoben wird. In Böcks Roman erzählt ein auktorialer Erzähler Luthers Lebensweg von seinem einschneidenden Erlebnis in der Gewitternacht bei Stotternheim, als er aus Todesangst das Gelübde ablegt, Mönch zu werden, bis zu seiner Beisetzung in der Schlosskirche zu Wittenberg. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf Luthers ‚Ringen um einen gnädigen Gott‘ (Böck 2015: 31–36, 45, 58–60, 105), auf seinen aus dem profunden Bibelstudium resul­ tierenden theologischen Überlegungen (ebd.: 41–45, 51–53, 55, 58–60, 84, 86), seiner Kirchenkritik (ebd. 46–48, 56, 62f., 67, 69f., 79–83, 123, 152, 170) und seinem Einsatz für den evangelischen Glauben (ebd. 80–126, 137–150, 166–176, 188–194). Die Darstel­ lung erfolgt meist in chronologischer Reihenfolge, nur das Geschehen auf dem Wormser Reichstag wird in einem Rückblick aus Luthers Perspektive geschildert (ebd. 188–190). Durch die Abweichung der dominierenden narrativen Struktur wird diesem Ereignis eine besondere Bedeutung verliehen. Der Einsatz von innerem Monolog und erlebter Rede konzentriert sich bei Böck auf Luthers Perspektive (ebd. 9, 11, 25, 80, 206, 221) und erweckt beim Leser durch unmittel­ baren Nachvollzug seiner Nöte, Ängste und Überlegungen eine gewisse Verbundenheit Vestnik za tuje jezike 2018_FINAL.indd 11 21.12.2018 14:04:50 12 VESTNIK ZA TUJE JEZIKE/JOURNAL FOR FOREIGN LANGUAGES mit dem Protagonisten; Wilpert (1969: 230) spricht in Bezug auf die Wirkung der erleb­ ten Rede von einer „fast suggestive[n] Unmittelbarkeit des Mitfühlens“. Wenn sich – was nicht häufig vorkommt – kritische Stimmen gegen Luther erhe­ ben, haben sie allerdings kein Gewicht, denn der auktoriale Erzähler steht eindeutig auf Luthers Seite, indem er die Kritiker diskreditiert (vgl. ebd. 162, 206, 209) und Luther nicht nur erklärend für etwaiges Fehlverhalten entschuldigt (ebd. 284), sondern sogar idealisiert (vgl. ebd. 183, 201). Mit Hilfe der ‚textinternen Wertungen‘ (vgl. Prinz/Winko 2014), die gezielt die Sympathie des Lesers lenken, wird ein durchaus positives Luther­ bild vermittelt. 2.2 Luthers Erscheinung, Krankheiten, Temperament und Eigenschaften Immer wieder wird in Lewins Werk das Aussehen Luthers geschildert, der infolge seiner Völlerei (Lewin 2014: 29, 36) wohl als Reaktion auf die Entbehrungen in seiner Kindheit (ebd. 29) von einem schmächtigen Mönch (ebd. 11, 41) zu einem wenig ansprechenden, dickleibigen (ebd. 28), von schweren Krankheiten gezeichneten Mann mutiert. Verächt- liche Stimmen werden laut: Luther, eine „Elendsgestalt“ (ebd. 10); eine Erscheinung, ob deren „übergroßen Wamses“, man „sich des Grinsens nicht enthalten“ (ebd. 28) kann; „Junker Jörg. Ein Zerrbild eines Niemand“ (ebd. 82); „Anstelle des mageren jungen Hahns in der Mönchskutte erscheint ein rund gefütterter Kerl im Ritterhabit, das bleiche Gesicht umwuchert vom Bart“ (ebd. 96); „Gierschlund“ (ebd. 110) und anderes mehr. Aus Luthers Essgier, Schuldbewusstsein und Hypersensibilität resultieren viele sei­ ner Krankheiten (ebd. z. B. 266, 289, 291, 354), die sich auf Körper und Geist niedersch- lagen. Seine Beschwerden, besonders seine Halluzinationen (ebd. z. B. 34f., 258–261), werden oft durch narrative Ausgestaltung exponiert. All seiner Schwächen zum Trotz erscheint Luther im Allgemeinen als willensstarker Mensch, der keine Widerreden duldet und auf Andersdenkende, auf Menschen, die ihn missverstanden oder übergangen haben, oder auf ihm widerwärtige Situationen mit Zorn und Wutausbrüchen reagiert (ebd. 37, 97, 103, 112, 122, 211, 297f., 327, 329 u. passim). Kurzum er ist, wie man ihn in der Humoralpathologie bezeichnen würde, ein Choleriker. Eine ganz andere Darstellung Luthers findet man in Böcks Roman und es hat bisweilen den Anschein, als ob von einer ganz anderen Person die Rede ist. Dem äußeren Erschei ­ nungsbild widmet der Erzähler im Allgemeinen keine große Aufmerksamkeit, Luthers Aussehen wird wertneutral beschrieben: der zunächst „dünn[e] und schmächtig[e]“ (Böck 2015: 147) Mönch legt „auf der Burg aufgrund des Mangels an Bewegung und des üppigen Essens deutlich an Gewicht zu[...]“ (ebd. 201) und hat im Alter einen „massigen Körper“ (ebd. 285). Sein Aussehen ist insofern relevant, als es Luthers Grundsätze reflektiert: „Unverändert waren sein scharfer Blick, sein selbstbewusster Gang und seine Haltung, Vestnik za tuje jezike 2018_FINAL.indd 12 21.12.2018 14:04:50 13 Marija Javor Briški: DAS BILD LUTHERS IN DER LITERATUR DES 21. JAHRHUNDERTS die einen Menschen mit Prinzipien zeigen“ (ebd. 75). Seine körperlichen und seelischen Beschwerden werden im Unterschied zu Lewins Werk weder erzählerisch verhandelt, noch als Folge eines Schuldbewusstseins betrachtet (vgl. ebd. 271f., 284f., 289). Der Akzent liegt vielmehr auf seinen positiven Eigenschaften und Begabungen. Luther wird als rücksichtsvoll (ebd. 12, 18, 25) und feinfühlig (ebd. 116), klug und ge­ bildet (ebd. 81, 105, 118, 119, 134, 157) beschrieben. Johann Staupitz, sein Beichtvater, „bescheinigt ihm Ehrlichkeit, Klugheit, Intelligenz und große Umsicht“ (ebd. 157). Er ist „einer der besten Studenten“ (ebd. 19) und Bibelkenner (ebd. 32) und ist mutig, für seine Überzeugungen einzutreten: „Und wenn es mich zwanzig Hälse kosten würde, so will ich doch hingehen in die Höhle des Löwen 5 “ (ebd. 169, vgl. auch 117, 165, 172). Er ist ein „hervorragender Lautenspieler“ (ebd. 51), ein Meister der Sprache (ebd. 167, 183 6 ) und ein wortgewaltiger Prediger (ebd. 187), der die Menschen in seinen Bann zu ziehen vermag (ebd. 114, 201), doch predigt Luther nicht nur das Evangelium, er praktiziert die frohe Botschaft auch im Alltag (ebd. 53, 54, 269f., 283). Wie jeder Mensch hat aber auch Luther seine Schwächen. Ihm wird Sturheit (ebd. 16, 29, 118f., 122, 283) angelastet, doch ist er bereit, von seiner Meinung Abstand zu nehmen, wenn er „durch vernünftige Worte und Beweise aus der Heiligen Schrift über­ zeugt“ (ebd. 102) werden sollte. Seine Wutausbrüche werden relativiert, insofern sie Ausdruck eines ‚gerechten‘ Zorns (vgl. Althoff 2001: 675) im Kampf für das Evangelium (vgl. ebd. 123–125) sind, wie auch sein grobes Auftreten (ebd. 169) und seine scharfen Worte (ebd. 138), für die er sich entschuldigt. 2.3 Der ‚teutsche Herkules‘ Seit Hans Holbein d. J. um 1520 in einem Holzschnitt Luther als Hercules Germanicus darstellte, hat sich dieses Image als „Vorkämpfer christlicher Freiheit“ (Kuhn/Stüber 2016: 16f.) bei den Anhängern des Reformators etabliert. Auch in Lewins (2014: 11, 13, 26, 41f., 92, 96, 101, 103, 127, 133, 187, 227f., 304, 315) Roman wird er etliche Male als ‚teutscher Herkules‘ bezeichnet. Aber wie fügt sich die Vorstellung dieser kraftstrotzenden Heldenfigur in den narrativen Kontext? Erscheint sie doch oft in Zusammenhängen, die dieser positiv besetzten Bedeutung widersprechen. Ein schmächtiges Mönchlein oder ein von Leiden Geplagter – ein ‚teutscher Herkules‘ (vgl. ebd. 11, 41 u. passim)? Abhängig vom Erzählzusammenhang (ebd. 13, 42, 315) wird – in ironischem Gebrauch – aus der Wertschätzung Luthers ein „zweistimmiges Wort“ (Bachtin 1997: 213), das als „karnevalis­ tische Verquickung von Lob und Schmähung“ (Bachtin 1990: 64) eine „widersprüchliche Realität“ (Bachtin 1997: 317) enthüllt. Die Bezeichnung ‚teutscher Herkules‘ entwirft also 5 Wormser Reichstag. 6 Dass Luther der Schöpfer der deutschen Schriftsprache ist, entspricht nicht den neuesten Erkenntnissen der Sprachgeschichtsforschung. Vgl. Besch 2014. Vestnik za tuje jezike 2018_FINAL.indd 13 21.12.2018 14:04:50 14 VESTNIK ZA TUJE JEZIKE/JOURNAL FOR FOREIGN LANGUAGES aufgrund ihres bisweilen mehrdeutigen Charakters ein ambivalentes Bild Luthers, der Stär­ ken und Schwächen in sich vereint. In Böcks Roman spielt Luthers Ruf als ‚teutscher Herkules‘ wegen anderer Akzent­ setzung keine bedeutende Rolle, denn sein Kampf soll weder hervorgehoben noch ironi­ siert werden, der Schwerpunkt liegt vielmehr auf theologischen Inhalten. 2.4 Luther und das Verhältnis zu seinen Eltern Um ein besseres Verständnis von Luthers schillernder Persönlichkeit zu evozieren, wird in Lewins (2014: 29–33, 48f.) Roman von einer Kindheit in einem von der Gewalt des Vaters beherrschten Elternhaus, der „Stätte des Schreckens“ (ebd. 58), erzählt. Hans Lu­ der, ein wegen jeder Geringfügigkeit zu Zornausbrüchen neigender Mann, tyrannisiert und züchtigt Frau und Kinder, aber auch die Mutter ist unerbittlich: „Sie ist eine harte Frau und spart auch selbst an der Rute nicht. Im Hause des Minenbesitzers Hans Luder wird nicht geküsst oder gestreichelt“ (ebd. 48). Luthers Verhältnis zu seinen Eltern ist demnach geprägt von Angst und Strafe, die sich auch auf seinen Glauben auswirken: „Eltern strafen, Gott straft.“ (ebd. 30). Im Unterschied dazu wird in Böcks biographischem Roman ein ‚intaktes‘ Elternhaus präsentiert. Der Vater sorgt für das Wohlergehen der Familie (Böck 2015: 11, 157), ist aber äußerst streng (ebd. 76) und beharrt darauf, seinen Willen durchzusetzen. Er ist ein Übervater, der den Lebensweg seines Sohnes, Juristenkarriere und gut situierte Ehe, genauestens vorausbestimmt (ebd. 11). Er fordert Respekt und Gehorsam (ebd. 26). Das Gelübde, ins Kloster einzutreten, bringt Luther in große Gewissensnöte, weil er Vater, Mutter und Verlobte enttäuscht (ebd. 11–13, 24). Der Klostereintritt, der die Pläne seines Vaters durchkreuzt und einen Bruch mit dem Elternhaus heraufbeschwört (ebd. 14–17), bietet ihm aber zugleich eine Möglichkeit, aus diesen Zwängen auszubrechen: „Der Gedanke an seinen Vater erschien ihm kaum weniger bedrohlich als der Gewittersturm damals. [...] Bisher wurde jeder seiner Schritte von seinem Va­ ter entschieden. Martin galt solange als guter Sohn, wenn er das tat, was der Vater für richtig hielt. [...] alles musste der großen Karriere dienlich sein. So viele Jahre schon war ihm all dies zuwider. Eine Bürde, die schwer auf ihm lastete, ihn niederdrückte. Natürlich war es die Todesangst in diesem grausa­ men Gewitter, die ihn zu diesem Gelübde gedrängt hatte. Doch tief in seinem Innersten spürte er, wie befreiend der Gedanke war, einmal das tun zu können, was er selbst entschieden hatte und selbst zu verantworten habe – auch wenn der ‚Wink‘ von oben kam.“ (ebd. 25) Vestnik za tuje jezike 2018_FINAL.indd 14 21.12.2018 14:04:50 15 Marija Javor Briški: DAS BILD LUTHERS IN DER LITERATUR DES 21. JAHRHUNDERTS Trotz Überzeugungsversuche des Vaters geht Luther unbeirrt seinen Weg (ebd. 26–29), leidet aber wegen des abgebrochenen Kontaktes zu seinen „Eltern, die er doch herzlich liebte“ (ebd. 71). 2.5 Luthers Protest gegen den Ablasshandel und seine Folgen Die Erklärungen für Luthers Protest gegen den Ablasshandel sind in Lewins Roman ‚mehr stimmig‘. Einerseits soll sein Kampf gegen diese Praktiken aus seinen theologi­ schen Überlegungen herrühren. Wie ein Kaplan zu verstehen gibt, „wendet sich dieser Mann [Luther] in aller Dreistigkeit an Kaiser, Fürsten, welt­ liche Herren und den Adel insgesamt, die deutsche Nation, wie er sich ausdrückt, vor der Ausplünderung durch Rom zu beschützen. Denn, so ist seine Meinung, da durch die Taufe jeder Christenmensch berechtigt ist, das Priesteramt auszuüben, so bestünde keine Notwendigkeit, der römischen Kurie das Recht einzuräumen, Gnadenmittel wie den Ablass zu gewähren.“ (ebd. 44) Aus dieser Sicht geht die Initiative von Luther aus, so dass er als selbstbestimmender Akteur erscheint, der sich dem Übel entgegenstellt. Andererseits wird der ahnungslose Luther, dem lediglich aufgefallen ist, dass die Zahl seiner Beichtkinder abgenommen hat, ohne die Hintergründe zu kennen, im Namen des Kurfürsten Friedrich erst darauf hingewiesen, „dass ein Dominikanermönch namens Tetzel einen schwunghaften Handel mit dem Erlass der Sünden betreibt“ (ebd. 72). Da auch der Fürst selbst in den Ablasshandel involviert ist, stellt dies für ihn einen Einnah­ meverlust dar. Deswegen soll Luther eingreifen. So wird er zu einer Marionette in den Händen des Kurfürsten degradiert und der Ablass zu dessen finanziellem Problem, wie den Worten Spalatins zu entnehmen ist: “Kurfürstliche Gnaden setzen ein großes Vertrauen in die Herren Professo­ ren seiner Universität Wittenberg. [...] Eine Streitschrift, ein starkes Wörtlein, welcher Art auch immer, könnte helfen, die Dinge ins rechte Lot zu rücken. [...] zögert nicht zu lange. Ansonsten hat dieser Tezel an der Landesgrenze die Taschen der Untertanen Kurfürst Friedrichs leergefegt. [...] Ich denke, es wäre im Sinne unseres kurfürstlichen Herrn, er würde ein paar schlagende Thesen aufstellen ...“ (ebd. 73f.) Nicht einmal der Thesenanschlag soll Luthers Idee gewesen sein. Aus dieser Pers­ pektive ist er lediglich ein Spielball weltlicher Obrigkeit. Vestnik za tuje jezike 2018_FINAL.indd 15 21.12.2018 14:04:50 16 VESTNIK ZA TUJE JEZIKE/JOURNAL FOR FOREIGN LANGUAGES Erst im Nachhinein, als die Folgen des Thesenanschlags und des verweigerten Wi­ derrufs auf dem Wormser Reichstags eskaliert sind, erkennt Luther, dass es nicht darum gegangen ist, die Missstände in der Kirche zu beheben, sondern dem Kurfürsten den ungestörten Ablauf seiner Macht-Spiele zu ermöglichen (ebd. 107). Luthers Aktionen entfachen gewaltsame Aufstände gegen Kirche und Obrigkeit. Doch weist er jegliche Verantwortung für die Revolten und das Gemetzel zurück (ebd.), auch dann, als er sich mit seinem Pamphlet Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern aus purem Eigennutz auf die Seiten der Fürsten stellt, die seine Schrift als Legitimation für die blutige Niederschlagung der Bauernaufstände nutzen (ebd. 177, 226–230). Luther bekennt sich zunächst nicht zu seiner Schuld, er hat sie vielmehr in sein Unterbewusstsein verdrängt, wovon die Schreckensbilder seiner Halluzinationen zeugen (ebd. 257–261), bis er schließlich vor Melanchthon bedauert, „die Thesen verfasst zu haben, durch die alles in Gang kam“ (ebd. 316). Luthers Kampf gegen den Ablass und die Konsequenzen werden in Böcks roman­ hafter Biographie in andere Zusammenhänge gestellt. Sein Protest resultiert hier ein- deutig aus genauer Beobachtung kirchlicher Missstände (ebd. 46, 48, 56–58.) und seiner Suche nach Wahrheit, die sich ihm in der Heiligen Schrift offenbart (ebd. 43f., 58–61): „Um die Wahrheit wollte er ringen, bis er den Weg zur Freiheit, zu Gott gefun­ den habe. Denn er kannte Gott als einen, der die Sünde hasste, aber er kannte auch die Stellen in der Schrift, in denen er als der Liebende beschrieben wurde. Wenn es nun ein liebender Gott war, der die Menschen erschaffen hatte, so muss es einen Weg der Liebe geben, der zu diesem Gott führt. Doch mit Geld konnte diese Liebe doch nicht erkauft werden.“ (ebd. 59) „Er schrie, weil er [Christus] die Schuld der ganzen Welt auf sich geladen hat­ te. Auch meine Schuld. Und wenn Paulus im Brief an die Römer schreibt ‚Der Gerechte wird aus Glauben leben‘, dann bedeutet das doch, dass der, der an ihn glaubt, der ihm vertraut, neues Leben erhält, neues Leben, frei von Schuld. Denn Christus hat sie für mich getragen! Für mich und alle Menschen.“ (ebd.) Wie betont, ist eine Spaltung der Kirche nie Luthers Absicht gewesen (ebd. 75). Da er für die Folgen seines Thesenanschlags verantwortlich gemacht wird (ebd. 192), will er sich klar abgrenzen von den Auswüchsen der Reformation. Während er dem Wittenber­ ger Bildersturm als Friedensstifter noch Einhalt gebieten kann (ebd. 196–201), hat sein Bemühen um Frieden in den Bauernkriegen keinen Erfolg und sowohl Bauern als Fürsten fühlen sich von Luther hintergangen (ebd. 205–213). Angesichts der Beschuldigungen und Gewaltauswüchse sucht Luther Zuflucht bei Gott (ebd. 214–221). Vestnik za tuje jezike 2018_FINAL.indd 16 21.12.2018 14:04:50 17 Marija Javor Briški: DAS BILD LUTHERS IN DER LITERATUR DES 21. JAHRHUNDERTS 2.6 Luther und Melanchthon Das Verhältnis von Luther und Melanchthon, seinem „Freund und Mitstreiter“ (Lewin 2014: 79) wird in Lewins Roman ausgiebig thematisiert. Melanchthon und Luther ver­ bindet zwar eine enge Freundschaft, die aber nicht ungetrübt ist. Denn nur zu oft ist der besonnene Graeculus, der Luther bei der Bibelübersetzung und der Reformation unter­ stützt, der „Grobheit, Rechthaberei [und] Unbeherrschtheit“ (ebd. 149) des Reformators, der „keine Widerworte“ (ebd. 98) duldet, ausgesetzt. Verehrung (vgl. ebd. 125, 128 u. passim) und Kritik (vgl. ebd. 139, 142f., 230f., 274 u. passim) sind die beiden entgegen­ gesetzten Pole, die Melanchthons Beziehung zu Luther kennzeichnen. Melanchthon, der zunächst im Schatten des berühmten Freundes steht, vor allem was dessen sprachliche Schöpferkraft anbelangt (vgl. ebd. 151), emanzipiert sich im Laufe der Zeit immer mehr, bis er auf dem Augsburger Reichstag mit der Abfassung der Confessio schließlich die führende Rolle im Einsatz für die Reformation einnimmt (ebd. 304–308, 332, 356). Luther und Melanchthon pflegen in Böcks Roman ein freundschaftliches Verhältnis, das von gegenseitigem Respekt zeugt. Luther ist zwar gegenüber seinem besonnenen und feinfühligen, auf Ausgleich bedachten Freund aufbrausend, wenn er dessen Zorn und Hass zu beschwichtigen versucht (vgl. Böck 2015: 161), aber er lässt sich eines Besseren beleh- ren und entschuldigt sich bei Melanchthon für seinen ungebührenden Auftritt (ebd. 162). Resignierend überlässt er Melanchthon die führende Rolle auf dem Augsburger Reichstag 1530 (ebd. 277) und freut sich trotz der Zugeständnisse, die Melanchthon dort einräumen muss, auf die erzielten Ergebnisse: „[...] sie waren sich einig, dass dies ein großer Schritt für die Erneuerung der Kirche gewesen war, für die evangelische Kirche!“ (ebd. 281). 2.7 Luther und die Juden Luthers unrühmliches Verhalten (vgl. Lewin 2018) den Juden gegenüber ist in Lewins Roman kein Tabuthema. 7 Der Reformator hat die Absicht, mit seiner Schrift Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei (Lewin 2014: 138) die Juden zum evangelischen Glau­ ben zu bekehren, und hofft auf ihre Unterstützung. Da ihm sein Vorhaben nicht gelingt, was in einem fiktiven Treffen Luthers mit dem Schtadlan Jossel von Rosheim deutlich wird (ebd. 207–214), wendet er sich in grimmigem Hass gegen sie und nicht einmal Me­ lanchthon vermag, ihn davon abzubringen (ebd. 329–331). Denn der Sprecher der Juden macht auf dem Augsburger Reichstag dem Kaiser Zugeständnisse, der ihm dafür den Schutz der Juden in Aussicht stellt (ebd. 328–331). Nach Philipp von Hessen hat Luther „längst seinen Ruf in Deutschland verscherzt durch Uneinsichtigkeit, Grobheit, ungerechten Zorn und üble Verleumdung. Unerhört, wie er kürzlich wider die 7 Zum Verhalten Luthers gegenüber die Juden vgl. Mecklenburg 2016: 246f. Vestnik za tuje jezike 2018_FINAL.indd 17 21.12.2018 14:04:50 18 VESTNIK ZA TUJE JEZIKE/JOURNAL FOR FOREIGN LANGUAGES Juden gewettert hat in einer Flugschrift, obgleich er weiß, dass ich gerade eine Judenordnung höchstselbst verfasst habe, in denen ich den Söhnen des Alten Bundes gerechten Handel in Hessen gestattet [...] da erdreistet er sich, sie zu schmähen und sie eine gottlose Brut zu nennen!“ (ebd. 347) Die heikle Judenproblematik wird in Böcks Roman indes kaum thematisiert. Eher beiläufig findet sie gegen Ende des Romans Erwähnung in einer beschönigenden, ver­ harmlosenden Darstellung, die nichts von Luthers blindem Judenhass erahnen lässt und Verständnis für Luthers Haltung beim Leser suggerieren soll: „Wie hatte er sich vor Jahren für die Juden eingesetzt. Man darf ihnen kein Berufsverbot auferlegen, hatte er gefordert. Wie hatte er doch gehofft, die Ju­ den würden endlich Jesus als den Messias anerkennen. Doch dies war nicht in Erfüllung gegangen, so sah er nun enttäuscht und verbittert in ihnen die Christusmörder.“ (ebd. 284f.) 2.8 Luther und sein Verhältnis zu den Frauen Trotz frauenfeindlicher Einstellung 8 ist Luther, wie ihn Lewin darstellt, nicht unempfäng- lich für weibliche Reize. Die Autorin kann sich, so Mecklenburg (2016: 246), „nicht enthalten, Luther eine Jugendliebe anzudichten (52ff.), die sie ebenso schwül erzählt wie auch weitere sexuelle ‚Anfechtungen‘ des Mönchs, dessen ‚Fleisch‘ sich gewaltig regt und dessen ‚Manne ssaft seinen Strohsack durchweicht (249)“. Katharina von Bora gegenüber ist er zunächst abweisend, denn „Weibsbilder, die ein freches Mundwerk haben, sind ihm zutiefst zuwider“ (Lewin 2014: 243) und darüber hinaus entspricht sie nicht seinen Schönheitsidealen (ebd. 248), doch schließlich kann er – wie magisch angezogen von ihrem Körper (ebd. 265, 268f.) – der tatkräftigen Frau, die ihn während einer Krankheit pflegt, nicht widerstehen (ebd. 270). Ihre intime Beziehung wird bald darauf legitimiert (ebd.). Mit der Heirat fügt sich der sonst rechthaberische und grobe Luther unter das Regiment seiner temperamentvollen Frau, die für sein Wohlergehen und das der Kinder Sorge trägt. Seine Frau und seine Familie werden zwar zu Luthers Rückzugsort (ebd. 319, 327), aber das Verhältnis Luthers und seines ‚Herrn Käthe‘ basiert, ohne dass er sich dessen bewusst ist, nicht immer auf gegenseitigem Verständnis und inniger Verbundenheit (ebd. 320f.). Von amoureusen Abenteuern und sexuellen Begierden ist in Böcks Roman keine Rede. „Im Umgang mit Frauen hatte er“, wie es heißt, nämlich „keine große Übung.“ (Böck 2015: 242) Beiläufig erwähnt wird lediglich eine Verlobte, die der Vater für ihn bestimmt 8 Vgl. „Und vor allen Dingen werft das freche Weib aus eurer Mitte, denn nichts ist verkehrter als Weiberrat!“ (Lewin 2014: 116). Vestnik za tuje jezike 2018_FINAL.indd 18 21.12.2018 14:04:50 19 Marija Javor Briški: DAS BILD LUTHERS IN DER LITERATUR DES 21. JAHRHUNDERTS hat, im Zusammenhang mit der Auflösung des Eheversprechens vor seinem Klostereintritt, die Luther aus Verantwortungsgefühl in große Gewissensnöte bringt (ebd. 11). Auch die Annäherung von Luther und Katharina von Bora (ebd. 238–251) basiert nicht auf erotischer Anziehungskraft und Luther weist jegliche Unterstellungen vorehe­ licher sexueller Kontakte entschieden zurück (ebd. 255–258). Es ist vielmehr das gegen­ seitige Verständnis und der reziproke Respekt, die die beiden zunächst verbinden. Wie Luther zu verstehen gibt, gründet ihre „Ehe [...] auf der Vernunft, nicht auf der Liebe“ (ebd. 258), aber „[a]us der Vernunft ist schon mehr geworden. [...] Die Liebe sprießt bei Tag und Nacht!“ (ebd., vgl. 270). Wenn Luther Käthes trotzige Haltung anfangs auch irritiert, weil sie nicht der dama­ ligen Frauenrolle entspricht, ist er von ihrer Ehrlichkeit und dem Mut, das zu sagen, was sie denkt, zutiefst beeindruckt (ebd. 244f.). Auch während ihrer vorbildlich erscheinenden Ehe schätzt er die Meinung seiner Frau, die auch in ‚Männergesprächen‘ – ungeachtet der Missbilligung von den „meisten Zeitgenossen Martins“ (ebd. 270) –, ihre Überlegungen frei äußert. Die Toleranz gegenüber seiner Frau und ihre Wertschätzung zeigt Luther als vorbildhaften Ehemann, der seiner Zeit weit voraus ist. 2.9 Das Motiv des Feuers Das Motiv des ‚Feuers‘ – und seiner Synonyme ‚Flamme‘ und ‚Brand‘ – durchzieht in verschiedenen Bedeutungen leitmotivartig Lewins Roman. Es bezieht sich vor allem auf Luther oder die Folgen seines Handelns in verschiedenen Kontexten und kann sowohl positiv als auch negativ konnotiert sein. Als Luther predigt, scheint „die Feuerzunge der Inspiration [...] über seinem erleuch­ teten Haupt zu schweben“ 9 (Lewin 2014: 17). In einem symbolischen Akt des Widerstands schleudert Luther die päpstliche Bulle „in die Flammen“ (ebd. 77). Das „Feuer in seiner Brust“ (ebd. 81) entspricht seiner Begierde und Luther ist „Feuer und Flamme“ für eine Frau (ebd. 248). In Bezug auf ihre scheinbare Unvereinbarkeit und Gegensätzlichkeit werden Luther und Katharina mit „Feuer und Wasser“ (ebd. 249) verglichen. Es ist schließlich aber auch das unheilvolle Feuer des Scheiterhaufens, das Luther als ‚Ketzer‘ droht (ebd. 179). Dieses relativ breite semantische Spektrum fokussiert sich schließlich auf das ‚Feu­ er‘, das Luther durch den Thesenanschlag und die Verweigerung des Widerrufs im Land entfacht, zunächst „die friedlichen Feuer. Die Feuer der Freude und des Sich-Sammelns“ (ebd. 180, vgl. auch 209), die aber bald umschlagen in „das verderbliche Feuer“ (ebd. 225, vgl. auch 226, 233, 235), „die Feuer des Aufruhrs“ (ebd. 179), die Luther nicht nur nicht zu löschen vermag, sondern mit seinem partiellen Zugeständnis an die Bauern und 9 Vgl. Apg. 2,3f.: Und es erschienen ihnen Zungen, zerteilt, wie von Feuer; und er setzte sich auf einen jeglichen unter ihnen; und sie wurden alle voll des Heiligen Geistes und fingen an, zu predigen mit anderen Zungen, nach dem der Geist ihnen gab auszusprechen. Vestnik za tuje jezike 2018_FINAL.indd 19 21.12.2018 14:04:50 20 VESTNIK ZA TUJE JEZIKE/JOURNAL FOR FOREIGN LANGUAGES seine Streitschrift zur Unterstützung der Fürsten sogar schürt. Luther ist „schuld an die­ sem Höllenbrand“, so pointiert es Müntzer in einem Zwiegespräch mit Luther (ebd. 258), und kurz vor seinem Tod erscheint er Luther mit demselben niederschmetternden Urteil in seinen Halluzinationen (ebd. 379), die, hervorgerufen aus seinem Schuldbewusstsein, einem „Fegefeuer“ (ebd.) gleichkommen. Auch Böck verleiht dem Motiv des Feuers eine bedeutende Rolle. Das Feuer ‚lodert‘ in vielen Bedeutungsvarianten: als ‚Fegefeuer“ (ebd. 63, 65), ‚Freudenfeuer‘ (ebd. 165), als ‚wärmendes Feuer‘ (ebd. 154, 163), in metaphorischem Gebrauch (ebd. 159, 254) und als ‚zerstörendes Feuer‘, worin Luthers Bücher (ebd. 163f.) oder die päpstliche Bulle (ebd. 165) verbrennen. Auffällig ist, dass an keiner Stelle das Feuer mit dem Aufruhr, den Luthers Thesen entfachten, in direkten Zusammenhang gebracht wird. Höchstens einmal wird diese Verbindung nur angedeutet (ebd. 86), aber von Luther gleich in einem anderen Sinn interpretiert: als das Feuer des Scheiterhaufens (vgl. auch 30, 83, 98, 142, 178), das seine Gegner für ihn schüren. Die Gefahr als Ketzer verbrannt zu werden, droht ihm vor allem 1518 in Augsburg und 1520 in Worms, aber er ist mutig genug, sich dieser Heraus­ forderung zu stellen und seine Thesen dort nicht zu widerrufen. Das Syntagma „Durchs Feuer hindurch“, so der Titel des Buches und eines zentralen Kapitels (ebd. 166–176), tritt immer wieder in Erscheinung (ebd. 172, 175, 190–192, 227, 280) und unterstreicht so Luthers Mut und Standhaftigkeit im Einsatz für seine Lehre. 3 FAZIT Trotz gemeinsamer historischer Fakten werden durch deren Einbindung in verschiedene Sinnzusammenhänge, deren unterschiedliche Akzentuierung und fiktive Ausschmückun­ gen, abhängig von der jeweiligen Autorintention und Gebrauchssituation, in den beiden vorliegenden Romanen divergierende Lutherbilder kreiert. Auf der Ebene der Narration wird in Lewins fiktiver Biographie infolge verschie­ dener Perspektivierung ein ambivalentes Bild von Luther geschaffen, der Negatives und Positives in sich vereint. Die im Wesentlichen lineare Narration eines meist auktorialen Erzählers, der die Sympathie des Lesers lenkt, stilisiert in Böcks biographischem Roman Luther zum evangelischen ‚Vor-‘ oder ‚Leit‘-Bild. Auch die vergleichende Untersuchung auf thematischer Ebene ergab unterschiedli­ che Resultate: Die Darstellung von Luthers Aussehen und die narrative Ausgestaltung seiner vielen Krankheiten, Phantasmen und Schwächen konstruiert in Lewins Roman ein groteskes Luth­ erbild, das mit der Präsentation eines willensstarken, zu Zornausbrüchen neigenden Luthers kontrastiert wird. Auch trägt das Bild des ‚teutschen Herkules‘ ambivalente Züge. Das prob ­ lematische Verhältnis zu seinen Eltern bietet zum Teil eine psychologisierende Erklärung für seine Ängste. Im Zusammenhang mit dem Protest gegen den Ablasshandel wird wieder ein Vestnik za tuje jezike 2018_FINAL.indd 20 21.12.2018 14:04:50 21 Marija Javor Briški: DAS BILD LUTHERS IN DER LITERATUR DES 21. JAHRHUNDERTS mehrdeutiges Lutherbild entworfen: Aus einer Perspektive spielt er die Rolle eines selbstbe ­ stimmenden Akteurs, aus der anderen wird er zur Marionette degradiert und sein Eingreifen in die blutigen Bauernkriege, das verheerende Konsequenzen nach sich zieht, erfolgt eher aus egoistischem Kalkül als aus seinem Bestreben, der Gewalt Einhalt zu gebieten. Seine Freundschaft mit Melanchthon überschattet das grobe und rechthaberische Auftreten Luthers und ein gegenseitiges Konkurrenzdenken. Auch die Verhandlung der Judenfrage wirft ein eher negatives Licht auf Luther. Das teils misogyne Verhältnis Luthers zu den Frauen ist geprägt von sexueller Begierde. In seiner Ehe mit Katharina von Bora findet der sonst grobe Luther zwar ein wohltuendes Refugium, aber auf Kosten der Unterordnung unter die Vor ­ herrschaft seiner resoluten Frau, die ihm nicht immer Verständnis entgegenbringt. In Böcks Roman liegt der Schwerpunkt hingegen auf Luthers positiven Eigenschaf­ ten und wenn von Schwächen die Rede ist, dann werden sie ins Gute verkehrt. Das Bild des ‚teutschen Herkules‘ hat hier keine Relevanz. In dem intakt scheinenden Elternhaus wird er von den Zwängen des Vaters beherrscht, aus denen er sich mit seinem Klosterein- tritt zu befreien vermag, so dass er sich der Suche nach einem gnädigen Gott widmen kann. Luthers Protest gegen den Ablasshandel gründet auf seiner Beobachtungsgabe und vor allem auf seinen theologischen Überlegungen. Bei seinem Eingreifen in den blutigen Aufständen, die in ihm große Gewissennöte hervorrufen, wird er im Wesentlichen von der Idee geleitet, Frieden zu stiften. Luthers und Melanchthons Freundschaft basiert auf gegenseitigem Respekt und ist mehr oder weniger harmonisch, auch wenn Luther schließ­ lich seine führende Rolle im Einsatz für die Reformation seinem Freund überlassen muss. Luthers problematisches Verhältnis zu den Juden, das nur kurze Erwähnung findet, wird hier in ein positives Licht gerückt wie auch Luthers Beziehung zu seiner Frau. Das Motiv des Feuers ist in Lewins Roman auf die blutigen Bauernaufstände fokussiert, für die Luther mit seinen Aktionen, die den ‚Höllenbrand‘ entfachen, die Schuld und Verant ­ wortung trägt. In Böcks Werk bezieht sich das Motiv des Feuers dagegen auf das inquisito ­ rische Feuer, einer Bedrohung, der Luther mehrmals ausgesetzt war, aber er hatte den Mut, dieses „Feuer zu durchgehen“. Verschiedener könnten die Lutherbilder auch auf motivischer Ebene nicht sein: dem ‚Feuerleger‘ wird ein ‚Bezwinger des Feuers‘ gegenübergestellt. LITERATURVERZEICHNIS Primärliteratur und andere Quellen BÖCK, Richard (2015) Durchs Feuer hindurch. Ein Luther-Roman. Schwarzenfeld: Edi­ tion Wortschatz. (1985) Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Mit Apokryphen. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft. LEWIN, Waldtraut (2014) Feuer. Der Luther-Roman. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Vestnik za tuje jezike 2018_FINAL.indd 21 21.12.2018 14:04:50 22 VESTNIK ZA TUJE JEZIKE/JOURNAL FOR FOREIGN LANGUAGES Sekundärliteratur ALTHOFF, Gerd (2002) Zorn. II: Politisches Denken und Handeln. Lexikon des Mittel- alters. Bd. IX. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 675. BACHTIN, Michail M. (1979) Die Ästhetik des Wortes. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. BACHTIN, Michail M. (1990) Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkul- tur. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag. BELLER, Manfred/Joep LEERSSEN (2007) Imagology. The cultural construction and literary representation of national characters. A critical survey. Amsterdam: Rodopi. BESCH, Werner (2014) Luther und die deutsche Sprache. 500 Jahre deutsche Sprachge- schichte im Lichte der neueren Forschung. Berlin: Erich Schmidt Verlag. DÜLMEN, Andrea van (2007) Luther-Chronik. Daten zu Leben und Werk. Mainz: Patrimonium-Verlag. 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Vestnik za tuje jezike 2018_FINAL.indd 22 21.12.2018 14:04:51 23 Marija Javor Briški: DAS BILD LUTHERS IN DER LITERATUR DES 21. JAHRHUNDERTS Internetquellen https://kulturkreis-hn.de/files/kulturkreis/nachrichten/Flyer.pdf (Zugriff: 10.01.2018). https://www.bvsga.ch/Wil/getimage.ashx?id=687 (Zugriff: 10.01.2018). https://www.facebook.com/editionwortschatz/posts/richard-b%C3%B6ck-liest-aus-sei­ nem-luther-roman-durchs-feuer-hindurch9-februar-1415-u/1277138785686083/ (Zugriff: 10.01.2018). http://www.ostsee-zeitung.de/Mecklenburg/Wismar/Autoren-lesen-bei-18.-Ausgabe­ -des-Buecherfruehlings (Zugriff: 10.01.2018). https://www.ref-flawil.ch/bericht/685 (Zugriff: 10.01.2018). https://www.ref-uzwil.ch/bericht/500 (Zugriff: 10.01.2018). https://www.ref-wil.ch/bericht/1035 (Zugriff: 10.01.2018). http://www.niederrhein-museen.de/veranstaltungen/113364_2015_03_15_feuer_der_ luther_roman (Zugriff: 10.01.2018). POVZETEK Podoba Luthra v književnosti 21. stoletja Članek se osredinja na podobo Martina Luthra (1483–1546) v dveh romanih 21. stoletja: Feuer. Der Luther-Roman (2014) avtorice Waldtraut Lewin in Durchs Feuer hindurch. Ein Luther-Ro- man (2015) Richarda Böcka. Analizo romanov, ki zasnujeta različni Luthrovi podobi, avtorica izvede na narativni, tematski in motivni ravni, ob upoštevanju ciljne publike in namena avtorjev. Ključne besede: imagologija, Martin Luther (1483–1546), nemška književnost 21. stoletja, Wald­ traut Lewin, Richard Böck ABSTRACT The Image of Luther in the Literature of the 21 st Century The paper focuses on the image of Martin Luther (1483–1546) in two novels of the 21 st century: Waldtraut Lewin’s Feuer. Der Luther-Roman (2014) and Richard Böck’s Durchs Feuer hindurch. Ein Luther-Roman (2015). The analysis of the novels, that construct different images of Luther, is in consideration of the authors’ intentions and target audience, and carried out on the narrative, thematic and motivic levels. Key words: imagology, Martin Luther (1483–1546), German literature of the 21 st century, Wald­ traut Lewin, Richard Böck Vestnik za tuje jezike 2018_FINAL.indd 23 21.12.2018 14:04:51 24 VESTNIK ZA TUJE JEZIKE/JOURNAL FOR FOREIGN LANGUAGES ZUSAMMENFASSUNG Der Beitrag fokussiert sich auf das Bild Martin Luthers (1483–1546) in zwei Romanen des 21. Jahrhunderts: Waldtraut Lewins Feuer. Der Luther-Roman (2014) und Richard Böcks Durchs Feuer hindurch. Ein Luther-Roman (2015). Die Untersuchung der Romane, die differenzierte Lutherbilder entwerfen, erfolgt unter Berücksichtigung der Autorintention und der Rezeptionssi­ tuation auf narrativer, thematischer und motivischer Ebene. Schlüsselwörter: Imagologie, Martin Luther (1483–1546), deutsche Literatur des 21. Jahrhun­ derts, Waldtraut Lewin, Richard Böck. Vestnik za tuje jezike 2018_FINAL.indd 24 21.12.2018 14:04:51