3 b^Hi Antigrobianus oder Das ABC der guten Lebensart fiir Mittelschuler und Lehramtszoglinge. Von Florian Hintner, Laibach 1901. Druck und Verlag von Ig. v. Kleinraayr & Fed. Bamberg. I VORWORT. Willst du, dass wir mit hinein In das Haus dich bauen, Lass es dir gefallen, Stein, Dass wir dich behauen. Ludwig Fulda. die unmittelbare Erziehung der Jugend theilen sich Familie und Schule. Diese Erziehung geschieht durch Vorbild, Gewohnung und Einsicht. Vorbilder ziehen an, Gewohnung festigt, Einsicht erhellt und rnacht frei. Wo im Hanse gut erzogen wird, da braucht die Schule nicht mehr viel dazuzuthun. Aber nicht jedes Haus, nicht jede Familie ist darnach angethan, gute Vorbilder zu geben, nicht alle Vater und Mfltter haben ihre Kinder unter den Augen, nicht jedes Familienleben athmet den Geistguter Lebensgewohnheiten, und durchaus nicht alle Elternherzen durchleuchtet die rechte Einsicht und das nothige Pflichtgefuhl. So bildet denn die Schule fur viele heran- reifende junge Leute die einzige Statte, wo das Edle, Schone und Wahre gehegt und geehrt wird, wo alle Tugenden ihre štete, all- seitige und nachhaltige Pflege finden. Zu den schatzenswertesten, in mancher Hinsicht durch 4 Antigrobianus. nichts zu ersetzenden Tugenden der heran- wachsenden Jugend gehoren auch jene Formen des Umganges und Verkehres mit Menschen, die man in ihrer Gesammtheit Anstand oder gute Lebensart nennt. Gut und iiberaus loblich ist es, wenn diese Tugenden die Wurzeln ihrer Kraft im Hanse haben und die Schule hier nur hinzuzuthun, auszuftillen, neu anzuregen, zu befestigen braucht. Aber dies ist bei der Jugend unserer Mittelschulen und Lehrerbildungsanstalten nur aufierst selten der Fali. Ftir zwei Drittheile unserer Mittelschuljugend und vier Funftel unseres mannlichen Lehrernachwuchses be- deutet der Ubergang zur Schulbank ein Los- reifien von Vaterhaus und Eltern. Was gestern noch ein freies Naturkind war, ist heute ein Sttick in der Mietskaserne des Studenten- quartiers. Nur wenige Quartiergeber gehoren Lebenskreisen an, von denen Sachkunde und geklarte Grundsatze im erwahnten Punkte zu erwarten sind. Aber auch die Schiller, die unter den Augen ihrer Eltern leben, sind nicht viel besser daran. Es ist bekannt, dass von den wenigsten Familien in dieser Richtung das Erforderliche geschieht, sei es, dass die Meinung, die man von diesem Zweige der Erziehung hat, nicht hoch genug ist, sei es — und dies ist der haufigere Fali, — dassVater Vorwort. 5 oder Mutter oder beide, was Kenntnis und Besitz der in gebildeter Gesellschaft iiblichen Sitten anlangt, selbst mehr oder weniger zu wiinschen iibrig lassen. Darum ist es an der Schule, die ihr an- vertraute Jugend mit dem Wichtigsten von dem, was zur guten Lebensart gehort, bekannt und vertraut zu machen. Den Vorwurf, dass die Schule dadurch zu einer Abrichtungsanstalt fiir Aufierlichkeiten wird, braucht sie nicht zu fiirch- ten. Wohl den Schiilern, die in ihren Lehrern begeisternde Vorbilder und emsige Lichttrager der Wohlanstandigkeit haben! Sie brauchen das, was sich schickt, nicht weit suchen zu gehen. Wahrheit und Liebe sind die Augensterne der Erziehung. Die Wahrheit deckt den Irrweg auf und lehrt den rechten Weg finden, Liebe bekehrt und lehrt den letzteren freudig gehen. Durch Wahrheit haucht der Lehrer seiner Arbeit Geist, durch Liebe Leben ein. Die stachelige Wahrheit und die lind leitende Liebe — sie beide sind nothig fiir eine erfolgreiche Erziehungs- arbeit. Wer seine Schiiler vor Unkenntnis der Sitte und damit vor falscher Beurtheilung und Schaden im Leben schiitzen will, muss ihnen zunachst den Schleier von den Augen ziehen und sie das Licht vertragen lehren. In diesem Sinne versucht es das vorliegende Btichlein, das Wichtigste von dem, was die 6 Antigrobianus. Erziehungsschule und die gebildete Familie an Anstand und guter Lebensart lehrt, kurz zusammenzufassen und ihm eine Form zu geben, die geeignet sein diirfte, den kiinftigen Lehrern und Fuhrern des Volkes das rechte Verstandnis fiir die aufieren Formlichkeiten, die sich im Laufe der Zeit zu den sogenannten guten Sitten der gebildeten Gesellschaft aus- gestaltet haben, als theures Lebensgut zu ver- mitteln und ihnen durch Aneignung guter Gewohnheiten den Weg durch die Welt zu ebnen. Wenn ich mich auch von dem Wahne weit tern weifi, als hatte ich mit den nachstehenden Winken und Regeln das Gebiet des Noth- wendigsten aus dieser „Schule des Lebens" erschopft, so hoffe ich doch, der Sache selbst einen bescheidenen Dienst zu leisten und, durch freundliche Rathschlage meiner Collegen und gedruckte Wegweiser des guten Toneš untersttitzt, diesen Theil der Schul- und Haus- erziehung nach der padagogischen Seite hin fruchtbarer machen zu helfen, als er bislang gewesen ist. Rathschlage zu Verbesserungen nehme ich jederzeit mit herzlichem Danke entgegen. Laibach im November 1900. Der Verfasser. I. Allgemeines iiber den Anstand. Gute Lebensart ist der Wunsch nach dem Namen eines gebildeten Mannes. Rochefoucault. nter Anstand oder guter Lebensart versteht man die Gesammtheit jener auGeren Formen desUmganges und Verkehres derMenschen untereinander, welche von der gebildeten Gesell- schaft als gut und begriindet angesehen und all- gemein beobachtet werden. Die meisten Forderungen des Anstandes haben ihren inneren Grund; aber doch nicht jedem Warum entspricht ein Darum, das uns ohneweiters erkennen lieBe, weshalb man etwas gerade so und nicht anders machen soli. Die Gebote der guten Lebensart beriihren sich in ihren Grundlagen nahe mit der Moral und diirfen schon deshalb von keinem gutgearteten Menschen vernachlassigt werden. Unkenntnis der guten Sitte kann auch einen guten und charaktervollen Menschen in schlechtes Licht riicken und zu erheblichem Schaden bringen, wie Unkenntnis der Gesetze einen Menschen nicht vor Strafe schiitzt. Gute Lebensart, besonders, wenn sie nicht blofl auf auGerer Angewohnung beruht, sondern aus der Grundstimmung des Herzens hervorgeht,. ist 8 Antigrobianus. ein Geleitsbrief, der dich iiberall empfiehlt und dir die Thiiren der Herzen aufschlieBt. Drum merke dir, mein junger Freund, vor allem: L Kenntnis der guten Lebensart gehort zu den kostbarsten Errungenschaften, die du aus der Sekale als dauernden Besitz ins Leben hinaustragst. Die wichtigsten Anstandsregeln dir anzueignen, gehort zu deinen heiligsten Schulpflichten. II. Von der Korperpflege und Korperhaltung. Trachte, dass dein Aufi’res werde Glanzend und dein Inn’res rein, Jede Miene und Geberde, Jedes Wort ein Edelstein. Riickert. Hast du noch nie bemerkt, wie manche Leute schon durch ihre Erscheinung einen widerlichen und abstofienden Eindruck auf gebildete Menschen machen? Ich wenigstens komme einem jungen Menschen nicht ohne Widerwillen in die Nahe, dessen Gesicht nicht tadellos sauber gewaschen, an dessen beschmutztem, zerlumptem Ročke klaf- fende Nahte gahnen und dieser oder jener Knopf durch Abwesenheit glanzt, dessen Beinkleid durch- gesessen und ausgefranst, dessen Leibwasche gelb und fleckig und dessen Schuhwerk zerrissen oder schief getreten ist. Was laufen einem aber oft fiir II. Von der Korperpflege und Korperhaltung. 9 nachlassige Biirschchen in den Weg! In welchem Zustande sitzen da die Schiller niederer und hoherer Classen mitunter in der Schulbank! Die vertrocknete Seife sitzt ihnen noch unter den Kinnladen und hinter den Ohren, Hals und Nacken weisen eine Farbung auf, die zum Riibensaen einladen konnte, in den Ohren und inneren Augenwinkeln gibt’s Unterschiedliches zu schauen, der Rockkragen ist mit Kopfhautschuppen iibersaet, die mangelhatt gereinigten Hande zeigen tintenbekleckste Finger, iiberlange oder ungepflegte Nagel mit verabscheu- ungswiirdigem Trauerrande und vorstehender Haut am Nagelgrunde u. s. w. Ein anderer schiirft mit dem Finger in der Nase, streut die gewonnenen Producte neben sich umher und wischt sich die Finger an Armel und Schenkeln ab; ein dritter putzt sich die Nase, indem er nur einen Zipfel des in der Brusttasche steckenden Taschentuches gebraucht, oder zieht gar wahrend des Sprechens den nicht ausgeschneuzten Schleim weithin horbar in den Nasenraum hinauf; wieder ein anderer geht der Zahnbiirste aus dem Wege, wie der Teufel einer Procession, und der Geruch, der, von faulenden Speiseresten herriihrend, dir entgegen weht, wenn so einer den Mund aufmacht, erzeugt dir Brechreiz. Auch wer an seinen Fingernageln kaut, seine Schreib- ieder am Rockarmel oder im Gelock des Kopf- haares reinigt, wer ins Taschentuch anstatt in den Spucknapf spuckt und sich fortwahrend in 10 Antigrobianus. unappetitlicher Weise rauspert, versiifit seiner Um- gebung das Dasein nicht. Desgleichen sind stark auf- fallendes odergar horbares Gahnen, larmendes Niesen und Husten, lautes Schneuzen, Kreischen, Trillern und Pfeifen, wieherndes oder meckerndes Lachen, erzwungenes pro forma Husteln, Seufzen u. a. riigenswerte Dinge.* Diese und andere Unarten kann man nicht nur an der Jugend, sondern — Gott sei’s geklagt — auch an Erwachsenen wahrnehmen; freilich, die Empfindung, die man dabei hat, liefie sich gebiirend nicht anders als durch ein herzhaftes „Pfui!“ aus- drticken. Deshalb beherzige folgende Mahnungen und mache dir ihre genaue Beobachtung zur schonen Gewohnheit fiirs Leben: 2. Sorge, dass deine ganze Personlichkeit nicht einen unangenehmen Eindmck aaf andere hervor- bringe. 3. Halte den Leib aufs peinlichste rein und die Kleider — wenn es auch nicht immer ohne Flicken abgeht — mindestens sauber und ganz. „ Rein und ganz gibt schlechtem ■ Tuche Glanz. “ „Besser ein Flicken als ein Loch.“ * Ich bitte um Vergebung, wenn ich durch zwang- und scheulose Anfiihrung so unschoner Dinge in einer zarten Seele asthetisches Unbehagen hervorgerufen habe; man kann aber hier nicht Wandel schaffen oder Besserung bringen, wenn man diese heiklen Dinge nicht unverzagt anfasst, wie man einen Pelz nicht waschen kann, ohne ihn nass zu machen. II. Von der Korperpflege und Korperhaltung. 11 4. Ube nicht schlecht angebrachte Sparsamkeit an deiner Leibwasche. 5. Vergiss nie, dich griindlich zu wascheti — nicht nur Gesicht und Hande, sondern auch Ohren, Hals und Nacken. 6. Reinige deine Augemsuinkel , bearbeite die Zdhne tiichtig mit der Zahnbiirste und spiile dir den Mund taglich mehrmals — wombglich nach jeder Mahlzeit — aus. 7. Reinige deine Nase oft und griindlich und rduspere dich jeden Morgen ordentlich aus. Halte die Nasemvege immer frei und sieh fiir die Ziel- scheibe deines Spuckens nichts anderes an als den Spucknapf. 8. Schneide die Fingerndgel rund, pflege auch den Nagelgrund und entferne das Schwarze, das sich unter den Nageln festgesetzt hat, sorgsam. 9. Hiite dich, in Gegenwart anderer mit dem Finger in Mund, Nase und Ohren zu fahren; schniiffle nicht, kratze dich nicht und kaue nicht an den Nageln. 10. Niesen und H usten suche vor fremden Ohren so unhorbar als moglich zu erledigen und wende immer den Kopf dabei; wenn du ein Gahnen in Gesellschaft nicht unterdriicken kannst, so halte die Fland vor. Das Niesen anderer ubergehe mit Stillschveeigen, wie das Gdhnen und Husten. 12 Antigrobianus. 11. Die Schreibfeder wische nicht an deti Haaren deines Hauptes oder an Kleidungsstiicken ab, sondern sorge, dass dir zu diesem Zwecke ein kleines Leinwand- oder Lederldppchen, zum mindesten ein Fetzen Papier zur Hand ist. 12. Kreische nicht auf, wenn dir etwas Abscheu oder Schreck einjagt. Sei vorsichtig mit dem lauten Lachen, denn nicht jedes Menschen Lachen klingt wie Musik, die andere erheitert und hinreifit. Der Herrgott hat allerhand Kostganger. Auch solcher Individuen gibt es immer einzelne unter unserer Mittelschuljugend, besonders der gereifteren und besseren Familien entstammenden, die eine Vorliebe fiir das Auffallende, Hervorstechende in der Kleidung und das Lassige oder Flatterhafte in der Haltung zeigen und ein Gecken- oder Gigerlthum zur Schau tragen, das ihnen umsoweniger ansteht, je grofier der Zusatz von Selbstgefalligkeit ist, mit dem es in die Erscheinung tritt. Ins Auge geklemmte Monocles, Spazierstocke von auffallender Form und Grofie, Cravatten von ungewohnlichen Dimensionen und schreienden Farben, Ringe in grofier Zahl, Busennadeln und Uhranhangsel von augenfalligerer Art und dergleichen Dinge, durch welche mancher einen iiberwaltigenden Eindruck auf seine Mitschiiler zu machen hofft, finden unter denkenden Erziehern eine starke und vollig gerechtfertigte Gegnerschaft. Eines studierenden Jiinglings schonster Schmuck ist Bescheidenheit und schlichte Nettigkeit. II. Von der Korperpflege und Korperhaltung. 13 Das Allerschlimmste aber ist eine unechte oder sogenannte Talmi-Eleganz, eine Vornehmheit, die nicht bis auf den letzten Faden durchgefiihrt ist, z. B. wenn sich zu einem Anzuge von gesuchter Zierlichkeit defecte Schuhe, zerrissene Handschuhe oder ein stark vertragener Hut gesellen. Da sitzt beispielsweise ein anscheinend recht nett gekleideter Jiingling vor mir auf der Schulbank. Ich ziehe ihn heran, ein oberes Fenster zu offnen oder eine Wandkarte anzuhaken. Er steigt auf einen Stuhl, und zum Vorschein kommen zerrissene Striimpfe und Unterkleider von fragvviirdigsten Qualitaten. In solchem Falle ist das Verdammungsurtheil, das der Volksmund gepragt hat —• »Aufien hui, innen pfui!“ — nur zu berechtigt. Hier fasse ich meine Rathschlage in den Satzen zusammen: 13. Sorge, dass dein Aufieres nichts Auf- fallendes zeige, weder ein Zuviel noch ein Zuwenig. 14. Eifere nicht den Modegecken nach, die an ihrem. Korper Dinge anbringen, die du an ernsten und denkenden Menschen nicht siehst. 15. Trachte, dein Aufieres nach allen Theilen in richtige Zusammenstimmung zu bringen und deine Kleidung deinen gesammten Verhdltnissen in harmonischer Weise anzupassen. 14 Antigrobianus. III. Von Blick und Rede. Sprich, auf dass ich dich sehe. Sokrates. Besondere Beachtung erfordern auch Uneben- heiten des Benehmens, soweit es Blick und Rede unserer Jugend angeht. Nur wenige junge Leute verstehen es, sich bei einer Unterredung geschickt einzufiihren. Auch dass man sich vorstellen lasst oder, wo dies unthunlich ist, selbst vorstellen muss, wenn man mit fremden Leuten zusammengefuhrt wird, in deren Kreisen zu verkehren man die Berechtigung hat und den Wunsch fiihlt, ist unter der heranwachsenden Jugend nicht allgemein bekannt. Menschen, mit denen man zum erstenmale zu thun hat, mit aufgesperrtem Munde anzugaffen, im Ge- sprache iiber die Schultern, auf die Weste oder die Stiefel des Mitunterredners zu blicken, unbekannte und hohergestellte Personen scheu und lauernd von der Seite anzusehen, auf eine Ermahnung oder einen Tadel der Eltern oder des Lehrers Gesichter zu schneiden oder sonst seine Gereiztheit zu verrathen, ist durchaus unschicklich und eine grobe Verletzung der diesen Personen schuldigen Achtung. Einen ebenso ungiinstigen Eindruck empfangt man von einern Schiiler, der in der Rede sich iiberstiirzt, Silben und halbe Worte verschluckt, die Laute unordentlich articuliert, tiberlaut und in pol- terndem Tone oder mit so leiser Stimme spricht, III. Von Blick und Rede 15 dass er nicht verstanden werden kann. Beim Erzahlen dem Angesprochenen an den Leib zu riicken, mit den Handen herumzufuchteln, den Mitunterredner bei einem Rockknopfe zu fassen oder ihm die Hand auf die Schulter zu legen, ist sehr unfein. Mancher hat gar die leidige Gewohnheit, im Gesprache mit anderen die Hande in die Tiefen seiner Hosentaschen zu versenken, sie hinter dem Riicken zu kreuzen oder in die Armellocher der Weste einzuhaken. Mangel an gesellschaftlichem Schliff verrath die Wiederkehr gewisser Worter und Redewendungen, welche die Verlegenheit des Sprechenden bemanteln sollen, z. B. „hm“ — „ja freilich“ „also“ — „wissen Sie“ — „was ich sagen will“ — „ah, horen S’ auf" u. s. w. Affenhaft klingen haufig da- zwischen geworfene „Aaah“ bei Pausen etwaigen Besinnens, unbescheiden im Munde junger Leute eingestreute Zustimmungen, wie „selbstverstand- lich“ — „nicht wahr!“ u. a. Als vorlaut und un- hoflich wird es angesehen, anderen, namentlich Rangshoheren, in die Rede zu fallen oder sich in frernde Gesprache zu mischen. Eine Geschmack- losigkeit, die sich die ungelenke Jugend oft zu- schulden kommen lasst, ist es, bei allem, was ihr vor die Augen tritt, gleich ein beifalliges oder absprechendes Urtheil laut vverden zu lassen. In grofier Verlegenheit sieht man die unerfahrene Jugend ferner, wenn sie in die Nothwendigkeit 16 Antigrobianus. versetzt ist, mit Hohergestellten oder Damen zu verkehren. Es zeigt z. B. von wenig guter Lebens- art, auf eine Frage, die man nicht ordentlich ver- standen hat, als Gegenfrage ein barsches „Was?“ oder „Wie?“ oder gar ein flegelhaftes „Hm?“ ein- zuwerfen oder mit einem kurz angebundenen „Ja!“ oder „Nein!“ zu antworten. Grob und unziemlich ist es, durch ein „Das ist nicht wahr!“ oder noch scharfer abweisende Redensarten zu widersprechen. Dass die Jugend nicht uniiberlegt spreche und ihr Herz nicht auf der Zunge trage, dass sie keine rohen, gemeinen, aber auch keine geschraubten oder burschikosen Ausdriicke in den Mund nehme, dass sie in ihrer Rede sich von plumper Mischung verschiedener Sprachen und Einmengung fremden Flitters fernhalte u. a., sind Forderungen, auf deren Erfiillung zu dringen eine vornehme Pflicht jeder Mittelschule und Lehrerbildungsstatte ist. Darum, junger Freund, halte deine Augen fiir solche Dinge offen und lass dir ein fiir allemal eingeschSrft sein: 16. Hast du vor Unbekannten oder bei Hoheren ein Anliegen vorzubringen, oder folgst du einerEin- ladung in ein fremdes Haus, so fiihre dich nach Gruji und Namennennung mit hoflichen Worten ein. Sprich etwa: „Ich bin so frei, Sie mit einer Bitte zu bel&stigen", oder: „Gestatten Sie, dass ich Ihnen eine Bitte vortrage", „Ich erlaube mir — ich habe die Ehre (das Vergniigen), Ihrer freundlichen III. Von Blick und Rede. 17 Einladung Folge zu leisten usw. In jedem Falle muss der Niedere dem Hohergestellten, das mann- liche Geschlecht dem weiblichen vorgestellt voerden. 17. Es ist unartig, Leute, mit denen du sprichst, anzugaffen. Dein Blick sei stets offen, deiti Auge ruke frisch und frei im Auge eines jeden, der mit dir spricht. 18. Ein strafendes Wort, wenn du eins ver- dient hast, nimm nie anders als mit grofiter Ruke entgegen. Deine innere Erregung verrathe sich nicht durch die leiseste Miene oder Geberde. 19. Sprich stets deutlich und lautrein, liebcr etwas zu langsam als zu schnell, nicht zu leise und nicht zu schreiend. Beim Sprechen steile dicli nicht zu nahe an den Angesprochenen, dass du ihm nicht ins Gesicht hauchest; auch mache dabei nicht viel Handbewegungcn und verstecke die Hande nicht in Tiefen, wo die Sonne nicht hinscheint. 20. Vermeide es, haufig wiederkehrende Worter und stehende Redewendungen zur Ausfiillung von Verlegenheitspausen in den Mund zu nehmen. 21. Wenn jemand mit dir spricht, falle ihm nicht ins Wort. Solite eine Unterbre.chung nothig sein, so bitte um Entschuldigung, storen zu miissen. Mische dich nicht in anderer Leute Gesprach und. behorche dasselbe nicht. 22. Sei iiber Dinge, die andere angehen, nicht gleich mit einem lobenden oder absprechenden Urtheil zur Hand. Sage iiberhaupt nicht bei jeder 2 18 Antigrobianus. Gelegenheit, was du denkst and was du fiir wahr und recht hdltst. Bedenke, dass „Reden Silber, Schzoeigen Gold“ ist. Was du aber sagst, musst du verantworten konnen. 23. Hast du jemand nicht gleich verstanden, so denke einen Augenblick nach, ehe du eine weitere Frage einwirfst. Frage aber nicht mit einem blofien „Was?“ und „Wie?“, sondern wdhle eine verbind- lichere Form, wie etwa: „ Wie meinen Sie ?“ oder noch besser: „ Wie meinen Sie, mein Herr (Herr N.)?“ — „Wie belieben, gnadige Frau?“ — „Was ist gefdllig, mein Fraulein?" oder bitte um Erlaubnis, nochmals fragen zu diirfen. 24. Fertige niemand mit einem nackten „Ja“ oder „Nein“ ab, sondern gewohne dich zu ant- worten: „Ja, Herr Director!“ — „Nein, liebe Mutter!" — „Gewiss, gnadige Frau“ — „Leider nein!“ — „Sehr gern!" — „Mit Vergniigen!“ 25. Deinen Antvoorten auf theilnehmende Fra¬ gen vergiss nicht ein ,,Danke“ vorzusetzen. (,,Wie geht’s?“ ,,Danke, gut“ — „Wie haben Sie ge- schlafen?“ ,,Danke, nicht besonders!“ — ,,Wie gehfs Ihrer Fran Schwester?“ ,,Danke, seit gestern etwas besser“ usw.) 26. Sage nicht: „Sie miissen entschuldigen“, sondern: „Sie wollen entschuldigen", nicht: „Sie sollen so gut sein“, sondern: „Sie mochten so gut sein“, nicht: „Ich entschuldige mich“ sondern: „Entschuldigen Sie freundlichst". IV. Vom Gehen, Stehen und Sitzen. 19 27. Musst du einer Meinung r widersprechen, so thu es in der hoflichsten Form. Leite deine Ansicht etwa ein: „Soviel mir bekannt, soli sich die Sache nicht ganz so verhalten“ — „Es thut mir leid, aber ich denke iiber dlesen Punkt etwas anders“ — „Da diirfte sich Ihr Gewahrsmann geirrt haben“ oder so ahnlich. 28. Hiite dich vor derben, rohen u.nd gemeinen Ausdriicken und glaube nicht, dass dir geschraubte oder burschikose Redewendungen gut anstehen. 29. Aus Riicksicht auf die Schonheit, Wiirde und Deutlichkeit der Sprache, die du sprichst, — welche es auch sei — vermeide es, verschiedene Sprachen durcheinander zu mengen, und hiite dich, deine Rede mit unnothigen Fremdausdriicken zu spicken. Mache es dir zum unverriickbaren Grund- satze, kein Fremdwort zu gebrauchen, wo ein voll- kommen entsprechender Ausdruck im Wortschatze deiner Verkehrssprache sich finden lasst. IV. Vom Gehen, Stehen und Sitzen. Den Menschen erkennt man am Gange, Den Vogel am Gesange. Alt e s Sprichmort. Eine Menge hasslicher Erscheinungen, die, wenn sie den Tragern uber die Schulzeit hinaus anhaften bleiben, eine Quelle des Spottes und Verdrusses 20 Antigrobianus. vverden, bietet die Korperhaltung unserer Schiller beim Gehen, Stehen und Sitzen dem Auge dar. Da geht einer steif und starr, wie wenn er einen Eisen- stecken verschluckt hatte, ein anderer schleicht nach Duckmauserart, ein dritter trottet ungeschickt, dass der ganze Korper in wackelnder Bewegung ist; kleine Leutchen, die vom Lande in die Stadt kommen, marschieren gern „iiber die grofie Zehe“, grofie Herren aus den obersten Jahrgangen wiegen sich, ungeheure Priigel von Spazierstocken schwingend, dahin wie trabende Giraffen; der tanzelt im leichten Schwebeschritt liber die Strafien, jener donnert wie ein Ochsenknecht an uns voriiber, und wieder ein anderer schlottert seines Weges, den Oberkorper geneigt und die Schultern nach vorne gezogen, dass man jeden Augenblick fiir sein Gleichgewicht fiirchtet usw. Alles das kann man sehen, aber niemand wird behaupten, dass solche Gangweisen einen erquicklichen Anblick bieten. Und was fiir steife Stellungen kann man bemerken, wenn unsere Schiiler auf der Strafie oder auf einem Gange des Anstaltsgebaudes oder sonst wo plotzlich ange- sprochen werden! Viele haben auch die schlechte Gewohnheit, an der Schultafel oder bei einer Ubung im freien Vortrage mit seitlich gespreizten Beinen dazustehen, an den Wanden, auf der Lehne der Schulbank oder gar des Katheders ihren Stiitzpunkt zu suchen oder die Fauste in die Hiiften zu stemmen, wie die Verkauferinnen auf dem Gemiisemarkte. IV. Vom Gehen, Stehen und Sitzen. 21 Nicht so aufdringlich, aber immerhiti tadelns- wert sind die Unarten, die manche junge Leute beim Sitzen zeigen. Da legen sie sich denn faul im Sessel zuriick und strecken die Beine ihrer ganzen Lange nach von sich oder schlagen un- geniert ein Knie iiber das andere, schaukeln wohl auch ein wenig oder riicken auf ihrem Sitze herum, als ob sie in einem Ameisenhaufen stiinden; in der Schulbank „liimmeln“ einige, indem sie den Arm aufstiitzen und das theure Haupt sorglich in die innere Handflache betten, andere haben Quecksilber im Leibe und wetzen in unausstehlicher Weise hin und her, aus einer Stellung in die andere wackelnd. In allen diesen Punkten solite ein Mittelschuler oder Anwarter des Volksschullehramtes eigentlich keinen Rath nSthig haben. Solite aber doch der eine oder der andere unserer jungen Freunde Štab und Stiitze zu seinem Gehen und Stehen, Form und Norm zu seinem Sitzen brauchen: hier findet er ein paar Grundregeln. Sie heifien: 30. Halte dich beim Gehen und Stehen gerade und ruhig, weder militarisch steif und geziert, noch schlapp und schlotterig. 31. Setze die Ftifie sicher auf und die Fufi- spitzen mafiig nach auswdrts. 32. Lasse beim Gehen die Schultern nach riick- warts treten und die Hiiften sich mafiig in schonem Gleichgewichte bewegen. 22 Antigrobianus. 33. Wenn du auf deinen Wegen angesprocheti wirst, so stehe nicht steif, sondern in zwangloser Grund- oder Vorschrittstellung, so dass die Last des Korpers auf deti FufSballen ruht. Vor gesell- schaftlich Hoheren pflanze dich niemals mit aus- einander gespreizten Beinen auf. 34. Lehne dich nie an die Wand eines Zimmers. Stiitze dich nie auf die Lehne eines Sessels, auf dem jemand sitzt. Die Lehne der Schulbank oder das Katheder des Lehrzimmers missbrauche nicht als Ruhekissen fiir deine minderwertige Leibesseite. 35. Beim Stehen stemme die Fauste nicht in die Hilften und kreuze die HcLnde nicht liber dem Riicken. 36. Beim Sitzen — sei es auf einem Sessel oder in der Schulbank — bevvahre eine ruhige, den Oberkorper leicht nach vorwdrts legende Haltung. Vermeide das unschone „Liimmeln" und schlage in guter Gesellschaft die Beine nicht Ubereinander. 37. Sitze stili und schaukle nicht mit dem Sessel. _ V. Vom Griifien, Ausweichen und anderen Riicksichten der Ehrerbietung und guten Sitte. Ehre jeden nach seinem Stande und lass ihn sich schamen, wenn er es nicht verdient. Claudius. Zu den Dingen, die dem Geiste einer Schule kein Loblied singen, gehoren VerstoBe und Uneben- heiten der Schiller auf dem Gebiete des Respectes V. Vom Griifien, Ausweichen usw. 23 und der aufieren Hoflichkeitsbezeugungen. Auch hier gibt es unter der jungen Welt unserer Mittel- schulen und Lehrerbildungsanstalten mancherlei zu schauen, was einem nicht gefallen kann. Begriifiung und Verbeugung, Ausweichen, die Formen des Ein- und Austrittes in einen geschlossenen Raum, das Verhalten bei Besuchen, im Schauspielhause, Concert- saale und auf dem Spazierwege u. a. legen da un- geniigendes und mangelndes Feingefiihl in allen Abstufungen unbarmherzig blofi. Es kann hier nur das Wesentlichste beriihrt werden. Unter den stummen Zeichen eines hoflichen Grufies kommt zunachst das Abnehmen der Kopf- bedeckung in Betracht. Ein ganz artiger, den Ge- setzen des guten Toneš entsprechender Grufi durch Hutabnehmen ist unter unserer Jugend seltener zu sehen, als man glauben mochte. Besonders un- geschickt benehmen sich dabei naturgemafi land- liche Jungen der untersten Classen. Sie iiberlegen sich den Grufi, bis die zu griifiende Person un- mittelbar an ihnen voriiberschreitet, und auch dann liiften sie ihren Gedankendeckel hochstens ein paar Centimeter, als hatten sie Angst, ihr theures Haupt zu erkalten. Andere schieben die Hutkrampe nur auf einer Seite ein wenig hinauf, um sie auf der anderen Seite des Kopfes ebensoviel hinunter gleiten zu lassen, oder ziehen den Hut geradezu iiber das Gesicht herab, was auch nicht viel Achtung und 24 Antigrobianus. Verehrung fiir den so Begriifiten bekundet. Es gibt aber auch Kauze, die sich den Spass nicht entgehen lassen, den verehrten Lehrer oder eine bekannte Dame durch einen Grufi von der Tiefe der Arm- senke auszuzeichnen, was sich besonders bei klei- neren Knirpsen recht drollig ansieht. Von den Verneigungen, die bei dieser Gelegen- heit auf der Gasse zu sehen sind, will ich lieber gar nicht reden. Ich miisste zum Vergleiche der Form etwa Dinge, wie Schnappfedermesser, Stoppel- zieher, Schtirhaken u. a. heranziehen. Nicht viel gelungener sind gemeiniglich die Complimente, die wir in der Schule tagtaglich von zur Tafel oder zum Katheder tretenden oder an demselben vortibergehenden, bezw. sich entfernenden Schulern entgegenzunehmen haben. Ich weifi nicht, ob mir in diesem Betrachte alle Amtsgenossen recht geben: aber ich glaube, dass zur Abstellung solcher Zerrbilder das blofie Wort unkraftig, dagegen das lebendige Vorbild des Lehrers der beste und wirk~ samste Anstandsprediger ist. Ich schame mich durchaus nicht, zu gestehen, dass ich schon manchem ungelenken Schuljungen eine Verbeugung vorgemacht habe und stark misslungene Leistungen dieser Art zum Ergotzen der Mitschiiler gewohnlich reparieren lasse. Und das wirkt in der Regel. Eine Frage, die hier nahe liegt, ist, ob der Schiller beim Griifien eines Vorgesetzten etwas sprechen soli und was. Man kann namlich von V. Vom Grufien, Ausweichen usw. 25 unserer studierenden Jugend so ziemlich alle Grufi- formen vom kindergartenmafiigen „Kiiss dieHand!“ bis zum mannlichen „Habe die Ehre!“ oder „Er- gebener Diener!“ horen. Ich muss sagen, — und da werden mir wohl alle Collegen beipflichten — dass mich solche gesprochene Griifie aus Schiiier- munde im allgemeinen recht wenig freuen. Etwas anderes ist es, wenn mir etwa in den Ferien irgend- wo auf dem Lande draufien oder auf den Bergen ein frisch und freundlich gesprochenes „Guten Tag, Herr Professor!“ oder etwas Ahnliches entgegen- klingt. Da wiirde mich, offen gestanden, ein stummer Grufi nicht ganz befriedigen. Was aber in jedem Falle — auch in der Stadt — gefordert werden muss, ist, dass sich der Schiller vor seinem Lehrer nicht ver- stecke und verkrieche, sondern seinen Grufi gern und mit einem freundlichen Gesichte anzubringen suche. Dass von mehreren beisammen stehenden Per- sonen, die ein Anrecht auf einen Grufi haben, nicht jede besonders zu grufien oder gar anzurufen ist, dass man Personen, die man eben erst gegriifit hat, nicht kurz darauf wieder grufit, scheint auch noch manchem unserer Mittelschiiler und Praparanden neu zu sein. Mir begegnet es z. B. gar nicht selten, dass mich ein Schiller, rvahrend ich bei einer Gang- inspection den Corridor auf und ab pendle, bei jeder Begegnung aufs neue grufit. In der Damme- rung oder Dunkelheit zu grufien, diirfte nur guten Freunden gegeniiber am Platze sein. 26 Antigrobianus. Weniger lassen die schon durch die Disciplinar- vorschriften geregelten Formen der Ehrerbietung beim Eintritte des Lehrers oder fremder Besucher seitens der versammelten Schiller zu wiinschen iibrig. Festhalten mochte ich, dass der Wink deš Lehrers abzuwarten ist, der das Setzen befiehlt. Unsitten, die auf keinen Fali geduldet werden diirfen, sind das Anziehen der Oberkleider und gerauschvolle Zu- sammenpacken der Biicher vor dem Schulgebete oder das Niedersetzen vor dem Amen. Abzulehnen — aufier im Falle einer korperlichen Verletzung — sind Helferbemiihungen der Schiller, die dem Lehrer das Anziehen seines Uberrockes erleichtern wollen. Dass der Schiller, wenn er zur Tafel gerufen wird oder von dort zu seinem Sitze zuruckkehrt, dem Lehrer eine Verbeugung mache, ist gewiss zu billigen; nur wissen die Schiiler haufig nicht, wie sie es zu halten haben, wenn der Director, Landesschul- inspector oder sonst ein hoherer Wiirdentrager in der Classe weilt. Eine gewisse Aufmerksamkeit der Erzieher wird auch das Gehen auf der Promenade, das Passieren von Thtiren und Stiegen, das Ausweichen auf Wegen und Biirgersteigen (Trottoirs) beanspruchen diirfen. Auch in die-Lage, einen Besuch zu machen, das Theater oder den Concertsaal zu betreten, kann ein vrohlerzogener Mittelschiiler oder Lehramtszogling gelegentlich kommen. Auf dem Eislaufplatze tummelt sich unsere Schuljugend bekanntlich gern, ohne V. Vom GriiSen, Ausweichen usw. 27 dass sie gerade immer die rechte Form fur ihr Verhalten fande. Da es in diesen Punkten der Zweifel viele gibt im Gehirn eines jungen Menschen, so mogen fol- gende Winke in zweifelhaften Fallen Halt geben und den Manieren unserer Jugend feste Schienen anlegen: 38. Bekannte griifie auf der Strafie durch Ab- nehmen der Kopfbedeckung. Gilt der Gruji einetn Vorgesetzten oder einem gesellschaftlich Hoheren als da bist, so verbinde damit eine leichte, ganz ungezwungene Verneigung des Oberkorpers. 39. Zam Grufie verwen.de die entgegengesetzte Hand, damit da das Gesicht nicht verdeckest. 40. Die Kopfbedeckung liifte beim Griifien merk- lich, doch senke sie nicht unter die Mitte deiner Gestalt. 41. Griifie delne Bekannten und Vorgesetzten so zeitig, dass sie deinen Gruji dankend erwidern konnen, und warte nicht, bis sie sich in gleicher Schulterlinie mit dir befinden. 42. Griifie auch, wenn dein Begleiter grafit oder gegriifit wird. 43. Obliegt dir beim Grufie auf der Strafie oder in der Schule eine Verbeugung, so sieh zu, dass diese nicht zu hastig, nicht zu feierlich und gemessen, nicht zu tief, aber auch nicht steif aus- falle. Halte dich hiebei an gute Vorbilder. 44. Deinen Vorgesetzten und Standespersonen, die ein Anrecht auf deine Ehrerbietung haben, 28 Antigrobianus. biete einen stummen Gruji, es ware denn, dass du von ihnen angesprochen wiirdest oder die Begeg- nurig unter ungevvohnlichen Umstanden erfolgte. 45. Gehe zu griifienden Respectspersonen nicht aus dem Wege und biete deinen Gruji jederzeit mit freundlichem Gesichte. 46. Griijie deinesgleichen immer zuerst, zvenn du der hinzukommende Theil bist oder wenn du sie in Gesellschaft triffst. 47. Hast du mehrere Personen zugleich zu griifien, so widme nicht jeder einen besonderen Gruji. Auch lass in diesem Falle unter allen Um¬ standen Titel und Namen weg. 48. Leuten gegeniiber, die du eben erst ge- griijit hast, wiederhole den Gruji nicht kurz darauf •rnieder. 49. In der Ddmmerung oder Dunkelheit einen Grafi zu bieten, darfst du dir nar guten Freunden gegeniiber erlauben. Eine Dame wiirde dies gerade- zu als Beleidigung empfinden. 50. Fremde Leute griifie nur in folgenden Fallen: a) beirn Einsteigen in ein Eisenbahn- oder Trambahn-Coupe; b) im Gast- oder Speisehause, wenn du an einem bereits theilweise besetzten Tische Platz nehtnen willst (bei grofierer Gast- tafel kommt nur den Nachbarn und Gegeniiber- sitzenden ein Gruji zu); c) wenn du jemand in einer Verlegenheit hilfreich beispringen willst oder einer Dame einen entfallenen Gegenstand aufhebst; IV. Vom Gehen, Stehen und Sitzen. 29 d) wenn du einen verlorenen Gegenstand dem muth- maflichen Eigenthiimer zuriickstellst. 51. In der Kirche, in der Tramway usw. ilber- lass deinen Sitzplatz solchen Personen, denen das Stehen beschwerlich ist, z. B. alteren Leuten oder Frauen mit kleinen Kindern. Besonders gut erzogene Lente dehnen diese Gefdlligkeit auf Damen iiber- haupt aus. 52. In der Schule, sowie bei Arbeit und Spiel hat sich die Jugend bei Eintritt des Lehrers oder fremder Besucher zu erheben und ruhig stehen zu bleiben, bis ein das Niedersetzen gestattender Wink ergeht. 53. Wahrend des Schulgebetes zeige, dass du dir der Weihe dieses Actes ~bewusst bist und dass die Worte nicht nur von den Lippen fliefien, sondern aus dem Herzen kommen. Vollig unschicksam ist es, das Gebet durch gerauschvolles Zusammen- klappen der Biicher, durch Vervollstandigung deiner Kleidung usw. zu stdren, sich vor dem Amen nieder- zusetzen oder aus der Bank zu treten. 54. Im Schulzimmer von deinen Lehrern vor- gerufen, mache denselben jedesmal eine kleine, in der Form zwanglose Verbeugung. Desgleichen, wenn du auf deinen Platz zurilckkehrst. Ist ein Organ der Schulaufsicht oder sonst jemand, dem Ehrerbietung zukommt, in der Classe, so mache nicht dem Fachlehrer, sondern dieser Standesperson dein Compliment. 30 Antigrobianus. 55. Auf der Promenade ergehe dich nicht dort, wo der grofite Schmarm der Spazierganger seines Weges zieht. 56. Sprich auf der Strafie und auf deinen Spazierwegen nicht zu laut, behorche nicht fremde Unterhaltung und tausche nicht Bemerkungen iiber die Voriibergehenden mit deinen Begleitern. Ver- meide es, auf grofiere Entfernung oder zu einem Fenster hinauf zu griifien. Essen auf der Strafie ist kaum fiir kleine Kinder schicklich. 57. Ober andere Spazierganger in auffalliger Weise zu lachen, sich nach ihnen umzudrehen oder ihnen gar mit offenem Munde nachzusehen, gehort zum Allerunfeinsten, was du thun kannst. 58. Den Leuten in die Fenster sehen, nach dem Takte einer vorbeiziehenden Musikbande zu pfeifen oder zu trallern und ahnliches iiberlass den Gassenjungen. 59. Fiir wohlanstandige junge Leute schickt es sich nicht, zu mehr als dreien gereiht, auf der Strafie einherzuziehen. Nur ganz ungeschliffene junge Leute dr&ngen sich auf belebten Wegen so, dass sie den Voriibergehenden den Pfad sperren. 60. Wenn du auf einer Bank sitzest, steh auf, wenn eine Person voriibergeht, die auf einen Gruji von dir Anspruch hat. Es schickt sich, dass du deinen Sitz abtrittst, wenn ein Greis oder eine Dame sich setzen mochte und keinen Platz findet. IV. Vom Gehen, Stehen und Sitzen. 31 61. Geht man auf der Strafie zu zmeien nebeneinander, so geht der Untergeordnete zur linken Hand des Hoherstehenden. Wird zu dreien gegangen, so hat der Rangshochste in der Mitte, der Rangsniedrigste links seinen Platz. Auf dem Biirgersteige (Trottoir) iiberlass einem gesellschaft- lich Hoheren immer den Platz an den Hauser- reihen. 62. Wenn auf der Promenade hin und her gegangen wird, so begibt sich der Rangsniedrigere bei der Wendung durch eine halbe Umkreisung hinter seinem Begleiter unauffallig wieder an die linke Seite desselben. Bei einem Gang zu dreien ware es abgeschmackt, die strenge Geh- ordnung jedesmal beim Umkehren herstellen zu wollen. 63. Beim Passieren einer Thiire ist dem gesell- schaftlich Angeseheneren (naturlich auch Damen!) der Vortritt zu lassen. Auszunehmen ist hier der Fali, dass es draufien dunkel ist und man einem Gaste hinauszuleuchten hat. 64. Auf Treppen geht man neben oder vor einer Dame hinauf, nach ihr hinunter. 65. Beim Ausweichen auf Stiegen warte auf dem Treppenabsatz (Podest), wenn eine zu ehrende Person dir entgegen kommt. Auf Wendeltreppen oder anderen krummlinig gefiihrten Stiegen iiberlass als stiegenauf Gehender dem herunter Kommenden die breite Seite der Stufen. 32 Antigrobianus. 66. Hiite dich, stiegenab za laufen oder za hiipfen. Beim Treppenaufstiege Stufen za iiber- springen unterlass vor den Augen anderer. 67. Mache es dir zur schonen Gewohnheit, auf der Strafie rechts auszuweichen, darnii da die Leute nicht anrennest. Auf dem Gehsteig (Trottoir) weiche vor Rangshoheren strafienseits aus. Paare oder grofiere Reihen von Spaziergdngern, die ein- ander auf schmalem Wege begegnen, geben sich die Bahri frei, indem sie sich in ,,Gansemarsch“ auflosen. 68. Hast du das Ungliick, auf schmalem Pfade jemand zu stofien, so bitte um Entschul- digung. Dasselbe thue, wenn du mit einer dir begegnenden Person nach derselben Seite aus- VDeichen voillst und so ein komisches Heriiber und Hiniiber sich ergibt. Mit einem Menschen, der dich absichtlich anrempelt, lass dich in keinen Wortwechšel ein, denn der Gebildete zieht dabei immer den kurzeren. 69. Stock und Regenschirm trage so, dass du weder deine Begleiter, noch die Voriibergehenden damit belastigst. Bei Regenwetter hebe den ge- offneten Regenschirm iiber die Schirme der Be¬ gegnenden oder senke ihn, je nach dem Verhaltnis deiner Leibesgrofie. 70. Voriiberziehendeti Processionen, Verseh- gangen und Leichenziigen weiche ehrerbietig aus und entblofie auf jeden Fali deinen Kopf welcher V. Vom Griifien, Ausweichen usw. 33 Confession du auch angehorest. Wenn du einer Leiche das letzte Geleit gibst, so plaudere nicht mit delnem Nebenmanne; G ang und Haltung sei ernst und uuiirdig. 71. In einer fremden Wohnung iiberrasche niemand. Wenn du ein fremdes Zimmer betrittst, so klopfe an. Versdume dies auch nicht, wenn die Thtir oder ein Fltigel derselben geoffnet ist. 72. Reifie bei deinem Eintritte die Thtir nicht stiirmisch auf und schlage nie eine Thtir (auch die des Schulzimmers nicht!) gerauschvoll zu. 73. Bediene dich bei jedem Schliefien einer Thtir deiner Hande, nicht etwa eines Fufies oder gar deiner Kehrseite. Fasse die Thtir nicht am Holz, sondern an der Klinke an. 74. Behorden besuche im Amtszimmer wahrend der Sprechstunden. In diese Riicksicht schliefie — und wenn sie die schone Gabe haben, mogen es auch deine AngehOrigen thun! — die Lehrer und den Director der Anstalt mit ein. Mache es dir zur Gewohnheit, das Berathungszimmer des Lehr- korpers nicht zu betreten, sondern lass einen Lehrer, dem du etwas zu sagen hast, durch den Schul- diener herausrufen. 75. Bringe dein Anliegen nicht eher vor, als bis sich die betreffende Amtsperson nach dir um- wendet. Setze dich nie ungeheifien und nicht eher als der Altere und Standeshčhere. 3 34 Antigrobianus. 76. Dehne deinen Besuch nicht zu lang aus und erhebe dich, sobald sich die hohere Person erhebt oder durch ein Zeichen verrdth, dass die Unterredung zu Ende ist. Empfiehl dich durch eine Verneigung und wiederhole diese auch noch an der Thtir. Kratzfilfie dabei zu verschwenden oder sich mit der Riickseite voran durch die Thiir zu schieben, ist durchaus nicht nothig. 77. Besuche macht ein Mittelschiiler: a) wenn er sich von jemand eine Gefalligkeit erbitten will; b) wenn er jemand zu danken, Gliick zu wiinschen oder sein Beileid auszusprechen hat. Ein vortheilhaf- tes Licht wirft es insbesondere auf jeden von der An- stalt abgehenden Schiller, wenn er sich bei dieser Ge- legenheit bei seinen Lehrern dankend verabschiedet. 78. Einen nothwendigen Besuch schiebe nicht zu lang auf; mache einen solchen nicht friih morgens, spat abends oder zur Essenszeit. Beim ersten Besuche bleibe nicht langer als zehn, hoch- stens fiinfzehn Minuten. Bei kurzen Besuchen nimmt man den H ut mit ins Zimmer, nicht aber den Stock oder gar den nassen Regenschirm. Auch Uberschuhe Idsst man im Vorzimmer zuriick. 79. Im Zimmer gib den Hut nicht aus der H and, ehe du aufgefordert wirst, ihn abzulegen; stelle ihn in diesem Falle aber nicht auf den Tisch, sondern neben oder unter deinen Sessel auf den Boden. Imrner ist es zulassig, den Hut in der Hand zu behalten. V. Vom Griifien, Ausweichen usw. 35 80. In Privatgesellschaft griifie beim Konimen und beim Gehen zuerst cLie Frau des Hauses. 81. In fremdem Hanse fuge dich der Gezuohn- heit des Hauses, in fremdem Lande time nichts gegen die Gebrduche und Sitten desselben. Hiite dich, in einer Sprache zu sprechen, welche die anwesenden Personen nicht verstehen. 82. Ins Theater oder in den Concertsaal komme nicht zu spat und geh nicht bei offener Biihne oder mitten in einer Nummer weg. Store nicht das Vergniigen anderer durch Schwatzen, Lachen, Scharren und Taktschlagen mit den Fiifien oder Wackeln und Wiegen des theuren Hauptes. 83. Im Beifallklatschen und Beifallrufen halte Maji; am Zischen betheilige dich als zu voenig urtheilsfahig auf keinen Fali. 84. Hast du deinen Platz mitten in einer Sitz- reihe, die schon ganz oder theilmeise besetzt ist, so wende dich mit einem „Erlauben!“ oder „Darf ich bitten ?“ an den zunachst Sizenden. Erst wenn dieser und seine Sitznachbarn aufstehen, bezw. den Sitz zuriickklappen, schiebe dich an der Reihe voriiber, nicht ohne bei jedem zweiten oder dritten ein „Danke“ zu verlieren. Wende dabei den Leuten, die du beldstigen musst, immer die Antlitzseite deines Leibes zu. 85. Das Operhglas den ganzen Abend vor dem Gesichte zu haben, schddigt die Augen und verstojit gegen den guten Ton. Unartig ist es 36 Antigrobianus. auch, jemand durch das Glas allzulange zu fixieren. 86. Stofie and drange nicht beim Hinausgehen. 87. Bel Spiel und Šport sieh zu, dass die Haltung und die Bemegungen deines Korpers keinen eckigen und lacherlichen, sondern eineti gefdlligen und angenehmen Eindruck hervorrufen. 88. Das Schlittschuhlaufen leme zu einer Tageszeit, wo du wenig Zuschauer hast. Versuche dich nicht in Kunststiicken, ehe du dir die nothige Gewandtheit im Laufen angeeignet hast. Hetze dich nicht ab, und wenn du das Ungliick hast, jemand anzurennen, entschuldige dich hoflich. Wirf auf dem Eise nichts weg! Mit einer Dame fahre auf keinen Fali ohne Handschuhe. Bei Un- fallen, deren Zeuge du bist, saurne nicht, hilfreich einzugreifen. _ VI. Vom Verhalten in der Kirche. Als Schonstes acht’ ich Gottesfurcht zu pflegen, und sicher ist’s auch das weiseste der Erden- ziele, das ein Mensch sich stecken kann. Euripides. Auf diesem Gebiete ist der Katechet. der natiir- liche Rathgeber der Jugend und sein Zuchteinfluss der starkste. Weil aber dieses Biichlein darauf aus- geht, das Schone und damit das Sittliche zu lehren, nicht nur den Geist zu erheben, sondern auch das Herz zu veredeln, Licht undWarme in ihm wachsen VI. Vom Verhalten in der Kirche. 37 zu lassen, so will ich auch iiber dieses Capitel ein paarWorte sprechen, von denen ich ganz besonders wiinsche, dass sie nicht durch das Sieb fallen. Nach einem sinnreichen Worte Schillers sieht zwar Gott allein das Herz des Menschen, aber es ist doch Sache eines jeden, zu sorgen, dass auch die Menschen etwas Ertragliches an ihm sehen. Dies gilt von den geistlichen Pflichten eines studierenden Jiinglings in erster Linie. Auf dass man also an eurem Verhalten in der Kirche nichts Tadelnswertes finde, lasst euch fol- gende Gebote in Herz und Gewissen geschrieben sein: 89. In die Kirche nimm ein ernstes, gemessenes, wiirdiges Benehmen mit. Wahre Andacht ist eine Blute, die nar aus dem Baume geistiger Satnm- lung hervorspricJU. 90. Komme in die Kirche — sei es zur Schul- messe oder bei anderer Gelegenheit — nicht zu spat und sturme nicht davon, ehe die heilige Handlung zu Ende ist. 91. Marschiere in die Kirche nicht mit halleti- dem Schritt ein und vermeide aufs peinlichste Schwatzen und Umschauen. Bekannte griifie nicht anders als durch leichtes Neigen des Kopfes. 92. Befolge die ublichen Ceremonien deiner Kirchengemeinde, bleibe nicht steif wie ein Stock stehen, wenn alle anderen Leute knien, und store 38 Antigrobianus. die Andacht nicht durch schnattcrndes Lippen- gebet oder unschicklich.es Mitbrummen des Chor- gesanges. 93. Dedne Religiositdt fliefie nicht blofi von den Lippen, sondern habe ihren Sitz and ihre Nahrquelle im Herzen. „Fromm aus Zwang wdhrt nicht lang. “ VII. Vom Benehmen bei Tische. Mit Neid und Gier geniefit das Thier, Der Menscli mit Wiirde und Manier. Sprichnuort. Nicht verfriiht diirfte es sein, den Schiilern unserer Mittelschulen und Lehrerbildungsanstalten ein paar wichtigere Einzelheiten iiber die Formen, die ein gebildeter Mensch beim Essen und Trinken beobachtet, mitzutheilen. Denn audi in dieser Hin- sicht gibt es unter unserer Jugend noch recht viel ungeschliffene Edelsteine. So mancher, der iiber die Schwelle der Reifeprufung springt, tragt die Spuren mangelhafter Erziehung zu seinem Schaden ins Leben hinaus. Und die Welt iibt an diesen haften gebliebenen Mangeln der jungen Leute harte und strenge Kritik, ohne dass der Betreffende in die Lage kame, sich der gesellschaftlichen Ketten, die er nachschleppt, bewusst zu werden. Im Folgenden sei es mir gestattet, einige der landlaufigen Unarten in ihrer Hasslichkeit aufzu- decken und die Mittel zu ihrer Heilung kurz VII. Vom Benehmen bei Tische. 39 anzugeben. Willst du zielkundig und wegsicher werden auf diesem Felde, so iiberschlage diese Seite nicht, sondern prage dir Folgendes wohl ein: 94. Bei Tisch erscheine mit reinen Hdnden. Deine Ellenbogen lege nicht auf den Tisch, damit andere Leute Platz hab en. Schlenkere nicht mit den Beinen herum, damit du niemand auf die FUfi e trittst und die Mobel nicht beschadigst. 95. Stelle Messer und Gabel nicht auf, als wolltest du jemand aufspiefen; halte die Gabel aber auch nicht zu steil nach unten, tvetin du Fleisch schneidest, denn das quiekende Gerdusch, das dabei entsteht, macht deinen Tischgenossen wenig Freude. 96. Messer und Gabel fasse so, dass der Daumen nach unten gerichtet ist. Fiihre den Loffel nicht mtt der Breitseite, sondern mit der Spitze zum Munde, die Speisen nicht mit dem Messer, sondern mit der Gabel. Die Suppe schliirfe nicht geriiuschvoll, auch blase sie nicht an, wenn sie zu heifi ist. 97. Schmatze und schnalze nicht horbar beim Essen und wčilze nicht den Bissen aus einer Backe in die andere. Kaue nicht zu schnell, nimm nicht zu grofe Bissen und den Mund nicht zu voli. Trinke, sprich und lache nicht mit vollem Munde. 98. Lange nicht mit den Fingern in den Mund und wisch den Mund nicht mit dem Handrticken ab. Knochen, Fischgrdten, Obstkernen und. anderen 40 Antigrobianus. Abfallen weise, wofern nicht eigene Tellerchen dafiir vorgesehen sind, ihren Platz auf dem Teller- rand, nicht auf dem Tischtuch oder unter dem Tische an. 99. Nage in guter Gesellschaft nicht an den Knochen. Zerstiickle das Brot nicht mit dem Messer, sondern brich es. Die ganze Schnitte zum Munde zu fiihren and davon abzubeifien, ist eine grofe Unart. Fisch iss nur mit der Gabel. Du kannst diese Thdtigkeit mit einem Stiickchen Brot unterstiitzen, darfst aber nicht damit den Teller blank scheuern. 100. Wenn zerlegte Speisen herumgereicht werden, nimm nichts mit deinem Essgerathe von der Schiissel, sondern bediene dich dabei der Fleischgabel and des Gemiiseloffels, die auf der Schiissel liegen. Fahre nicht mit gebrauchtem Messer ins Salzfass. Beriihre nichts mit der Hand, was andere in den Mund nehmen sollen. Wenn du Messer oder Gabel zu reichen hast, so thue es so, dass du nur den Stiel anfassest. 101. Kommt eine unbekannte Speise an dich heran, so geh vorsichtig zuwerke und sieh, wie die Nachbarn sie essen. Macht dir deine Ungeiibt- heit berechtigte Sorge, so lass das Gericht lieber mit Dank an dir voriibergehen. 102. In Privatgesellschaft sage nie, du konnest dies oder jenes, was auf den Tisch kommt, nicht VIL Vom Benehmen bei Tische. 41 essen; nimm einen sehr kleinen Theil davon oder lass die Speise voriibergehen, ohne davon zu sprechen. 103. Niesen, Husten and Ausspucken ist bei Tische nach Moglichkeit zu vermeiden. Schon beim geringsten Anreiz dazu empfiehlt es sich, eine Wendung seitvoarts zu machen und die Serviette (oder noch besser: ein reines Taschentuch) vor das Gesicht zu halten. 104. Etwas iiber deri Tisch zu reichen, ist unsckicklich. Ldsst jemand aus Unachtsamkeit etwas fallen oder kommt sonst eine Ungeschick- lichkeit vor, so blicke nicht hin, urn die Verlegen- heit nicht zu vergrofiern. VZenn du dir von deinetn Nachbar etwas reichen lassest, vergiss nicht zu bitten und zu danken. 105. Hast du etwas Unappetitliches in der Speise gefunden, so fische es unbemerkt heraus und lass die Speise stehen. Davon zu sprechen aber wdre eine grobe Unart. 106. Iss nicht zu schnell, nicht zu heifi und nicht zu viel. „Gut gekaut, ist halb verdaut." „Lieber einen Tag gefastet, als den Mageti iiber- lastet." „ H alte Maji in Speis und Trank, so wirst du alt und selten krank." 42 Antigrobianus. VIII. Was sonst noch zum guten Ton gehort Lind in der Schule des Lebens beobachtet werden soli. Wir sehen die verstandigsten Menschen im gemeinen Leben Schritte thun, wozu wir den Kopf schiitteln miissen. Knigge. Altgewohntes erscheint uns selbstverstandlich. Dies ist so wahr, dass ein bekannter Ausspruch versichert, die Verwunderung sei der Anfang aller Philosophie. Was man im Lebenskreise der Jugend gesehen, gehort, um sich gehabt hat, das hat man sich angeeignet, ohne iiber die Giite des Gelernten sich viel den Kopf zu zerbrechen und den tiefen und feinen Wurzeln nachzuspiiren, mit denen diese Alltagsgewohnheiten ins dunkle Reich der Zwecke des Lebens hinabtauchen. Es gibt Dinge, die sich ohneweiters recht unliebsam zu Zerrbildern ver- schieben, sobald man das Messer der Kritik an- setzt; und doch nimmt sie der „gesunde Menschen- verstand" in der Meinung hin, es miisse so sein, und das Gegentheil sei ebenso wenig denkbar, wie die Moglichkeit, dass der Apfel vom Baum in den Mond falle. Diesen Gevvohnheitsschleier, der den Dingen die scharfen, klaren Umrisse verwischt, unserer Jugend von den Augen zu reifien, je eher desto lieber, sie ihre eigene Art und Wesenheit, ihr Thun VIII. Was sonst noch z um guten Ton gehort usw. 43 und Geniefien durch fremdfe, scharfe Augen an- sehen, mit veranderterri Gesichtswinkel betrachten und mit neuen Mafistaben messen zu Iehren, ist ein Bemiihen, das des Sdrvveifies aller berufenen Erzieher wert ist. Das Sebeniernen ist fiir die Er- ziehung die allerwichtigste Sache. Denn mit dem rechten Sehen kommt das Merken und mit dem Merken das Aufmerken, d. h. die Aufgelegtheit, einen Zmvachs von entgegenkommenden Vorstel- iungen zu gewinnen. Wer es aber einmal zum Aufmerken gebracht hat, in dem scbwingt das Pendel unruhig weiter, bis er sich zurecht gefunden und sich Lebensformen angeeignet hat, an denen jedermann seine helle Freude hat. Bevor du also, lieber junger Leser, dieses Btich- lein aus der Hand legst, will ich dir noch einmal ein fremdes Augenglas aufsetzen, durch welches du ein paar Dinge dieser Welt in neuer Beleueh- tung sehen und mit ungewohntem Mafistabe ab- schatzen kannst. Hast du dir beispielsweise schon Fragen beantwortet, wie: Was erleichtert mir den Umgang mit Menschen und weshalb suche ich denselben? Bestehen meine Absichten vor dem Forum eines gelauterten Sittlichkeitsprincipes? Bin ich imstande, mit jedermann, welches Ranges und Standes er auch sei, unter Beobachtung ent- sprechender Formen zu verkehren? Wenn nicht, wie befahige ich mich dazu ? Wie erwerbe ich mir die Liebe und das Zutrauem anderer? Wie verfahre 44 Antigrobianus. ich mit fremden Sachen ? Wie beherrsche ich meine Stimmungen? Verstehe ich es auch, Achtung, Liebe, Freundschaft, Dankbarkeit gut und schicklich aus- zudriicken? Welcher ist mein Verkehrston gegen altere Leute, gegen Kinder und Kranke, gegen geistig zuriickgebliebene Menschen? Wie stelle ich es an, dass meine Unterhaltung niemand anstofiig und zur Last werde ? Ubertreibe oder verwechsle ich nicht Hoflichkeitsformen ? Wie pflege ich Lob zu spenden, Tadel auszusprechen und fremdes Verdienst anzuerkennen ? Wie verhalte ich mich gespendetem Lobe gegeniiber? Rede ich immer von Dingen, die andere interessieren konnen? Kann ich Widerspruch vertragen? Bin ich in meinem Verkehre genug zartfiihlend und zuruckhaltend? Lege ich meiner Zunge auch immer den nothigen Zaum an ? Bereite ich nicht anderen gern Verlegen- heiten ? Karge ich nicht mit Aufmerksamkeiten ? Wie nutze ich die mir zugebote stehenden Bildungs- mittel fiir Herz und Geist? Wie suche ich meinem Leben den rechten Inhalt zu geben und worin sehe ich das Ziel nleines Daseins? — Hier ein paar Antworten darauf. Priife sie, mein junger Freund, und lass sie ein Echo in deinem Herzen finden! 107. H alte fest, dass ein wirkli.ch freundlicher Umgang unter Menschen nicht moglich ist, wenn jeder Theil tmr moglichst viel empfangen und moglichst wenig leisten will (dies im materiellen VIII. Was sonst noch zum guten Ton gehort usw. 45 und geistigen Sinne genommen). Das Schonste in der menschlichen Natur und die Quelle and Grund- lage wahrhaft forderlichen Verkehres der Menschen untereinander ist die G ute, die darin besteht, dass man entschlossen ist, auch dort zu geben, wo man dafiir nichts erwarten kann. „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!“ (Goethe.) 108. Bemiihe dich, an deinen Mitmenschen die beste Seite herauszufinden und das Lobens- werte an ihnen zu sehen. Misstrauen zerstort jedes Menschenverhaltnis unwiederbringlich im Keime. 109. Auch deiner Selbstsucht trachte Meister zu werden! Versetze dich stets im Geiste in die Lage der anderen und halte dich ans Sprichwort: „Was du nicht willst, dass man dir thu’, das fiig’ auch keinem andern zu." Der Unaufrichtig- keit, Gleichgiltigkeit und Riicksichtslosigkeit wehre den Eintritt in dein Herz. 110. Betrage dich immer deinem Alter und Stande gemd.fi. Nimm in atleti Fallen auch Riick- sicht auf Rang und Stand der Personen, mit denen du zu thun hast. Beriicksichtige stets auch Ortlich- keit und Zweck deines Verkehres. llberschatze dich nie und lass keine Wallungen in dir aufkommen, die deine Selbsterkenntnis triiben konnten. Hast du Fehler gemacht oder sonst einen Misston in deine Handlungen und Benoegungen gebracht, so verliere das Selbstvertrauen deshalb nicht, 46 Antigrobianus. sondern suche den iiblen Eindruck, den du hervor- gerufen hast, sobald als moglich za verbessern. 111. Kaum durch etwas erwirbst da dir so sicher and dauernd die Achtung and Freandschaft der Menschen, wie wenn da dir den Grundsatz zaeigen rnachst: immer and iiberall, auch in der kleinsten Sache, Wort za halten and jede deiner Zasagen trea za erfilllen. 112. Piinktlichkeit nennt ein bekanntes Sprich- wort die „Hoflichkeit der KonigeSie ziert auch dich and erwirbt dir Vertrauen and Ganst. Keine Entschuldigung kana sie ersetzen. Erscheine zur rechten Zeit, wo du erwartet wirst, mag die Zusammenkunft za einem Vergniigen oder einem Geschiifte bestimmt sein. Das Zuspatkommen ist eine der schlechtesten Gewohnheiten and Miss- brdache der ungesitteten Gesellschaft. 113. Mit fremdem Eigenthame verfahre be- sonders sorgsam! Verleihe nie Biicher oder andere Sachen, die du selbst entlehnt hast. Entlehntes stelle rechtzeitig zuriick and erwarte nicht, dass deine Bekannten Wege machen, um za ihrem Eigenthame za kommen. 114. Jeder Mensch hat seine Stimmungen. Eine eigentlich schlechte Laune aber, die ihre Stacheln nach aufien kehrt, lasst ein gebildeter Mensch bei sich nicht aufkommen. Selbstbeherr- schung kleidet jeden gat, Zorn, unwirsches und aufbrausendes Wesen bringt nie gute Frucht. Vlil. Was sonst noch zum guten Ton gehort usw. 47 115. Wenn du unter Menschen kommst, thue nichts, wodu.rch die Achtung gegen irgend jemand in der Gesellschaft verletzt werden konnte. Suche deinen Mitmenschen gegenuber in Wort and That immer die gebiirende Form zu gebrauchen. Sei bestrebt, sittsam und bescheiden zu sein, doch ohne Furcht und scheues Zagen, offen und natiir- lich, aber ohne Ausgelassenheit , freundlich und liebenswiirdig, doch ohne Kriecherei und Zudring- lichkeit. Scherze mit keinem, der nicht gern mit sich scherzen lasst. Schlage hdhergestellten Personen gegenuber keinen zu vertraulichen Ton an. Lies in Gesellschaft nicht Biicher oder Briefe. Wenn jemand in deiner Gesellschaft schreibt oder liest, so tritt ihm nicht so nahe, dass du mitlesen kannst, wofern er dich nicht darum bittet. Zeichne nie eine anwesende Person so aus, dass sich die ubrigen dadurch zuriickgesetzt fiihlen miissten. Fliistere in Gesellschaft niemandem ins Ohr. Kehre keinem den Riicken, der mit dir spricht; sitze nicht, wenn andere stehen, gehe nicht weiter, wenn die anderen stehen bleiben. 116. Im Verkehre unterscheide stets, ob du es mit alteren oder jiingeren Leuten zu thun hast. Ehre das Alter! Alten Leuten thut Floflichkeit und zuvorkommendes Benehmen vor allen anderen wohl. Gegen Kinder gib dich freundlich und gemuthlich, und wenn du irgendwelchen Belastigungen von dieser Seite ausgesetzt sein solltest, so iibe Nachsicht. 48 Antigrobianus. Mache Kinder nie zum Ob jede liebloser Neckerei! Sei lustig mit den Kleinen, aber mache dich nicht lustig tiber sie. Vergiss nicht den alten Grundsatz: „Sammam reverentiam deberi pueris“ und sei vor- sichtig mit deinen Antworten auf Kinderfragen. Mafiige die laute Freude vor Kranken und Traurigen. Spiele am Krankenbette nicht den Arzt, wenn du nichts von der Sache verstehst. Rede nicht iiber korperliche Mangel und Vorziige vor gebrechlichen. Menschen, und wdren sie die be- schranktesten und geistig zuriickgebliebensten, in Gesellschaft lacherličh und zur Zielscheibe des Witzes zu machen, ist roh und bringt dir keine Ehre ein. Ist ein solcher Mensch gutmiithig und gefiihlvoll, so krankst du ihn; ist er tiickisch, so wird er dir’s auf eine Rechnung setzen, die du friiher oder spater gewiss bezahlen wirst. Steht er geistig hoher, als du glaubst, so kannst du der Gegenstand seines heimzahlenden Spottes werden. 117. Wenn dir daranliegt, dass deine Unter- haltung in Gesellschaft nicht zur Last werde, so wiirze deine Gesprache nicht mit Lasterungen und Tadel. Gewohne dich nicht an den lieblosen Ton der Spottsucht. Leute, die sich immer auf Kosten anderer vergniigen, werden zwar viel belacht und gefiirchtet, aber im Grunde von niemand geliebt. Sprich nicht zuviel von deiner eigenen Person, deinen Verhaltnissen und Geschdften. Vermeide es selbst dann, viel von dir zu reden, wenn gute VIII. Was sonst noch z um guten Ton gehort usw. 49 Freunde das Gesprach aus Hoflichkeit auf delne Person, deine Arbeiten und Erfolge leiten. Ein auch in guter. Absicht gespendetes Lob ohneweiters anzunehmen, gilt fiir unbescheiden, es ganz zuriick- zuweisen, fiir unhoflich. In solchen Fallen sucht man dankend einen Theil des Lob es auf den freund- lichen Sprecher abzulenken. Rede nicht von Ditigen, die aufier dir schvverlich jemand interessieren konnen. Hiite dich, in die Fehler derjenigen zu verfallen, die aus Mangel an Aufmerksamkeit auf sich selbst dieselben Geschichten, Anekdoten, Spasse, Wortspiele und Witze bei jeder Gelegen- heit wiederholen. In Gegenwart von Damen ge- brauche die grof te Vorsicht, wenn man liber Schon- heit, Alter, Hasslichkeit und korperliche Gebrechen spricht. Frage eine Dame niemals, was fiir eine Krankheit sie hatte. Eine unverzeihliche Grobheit wdre es, zu einer Dame zu sagen: „Sie sehen heute nicht gut aus“ oder: „Sie haben friiher besser ausgesehen". Sogenannte „Kalauer“ meide in guter Gesellschaft, denn sie setzen beim Zuhorer einen ungebildeten Geschmack voraus. Beim Lobe, das du anderen spendest, brauch keine iiber- schwenglichen Worte; ein Zuviel macht deine Worte nicht glaubwiirdiger. Wenn du etwas er- zahlst, thue, als wolltest du langst Bekanntes in Erinnerung bringen. Im iibrigen sei dein Grund- satz: horen, sehen und schweigen. 50 Antigrobianus. 118. Lerne Widerspruch ertragen! Obersieh nicht aus Eitelkeit und Diinkel die Meinung anderer Letite. Werde nicht hitzig oder unartig im Streite der Anschauungen. Bewahre auch kaltes Blat, wenn man deinen Griinden Spott und Bitter- keit entgegensetzt. Du hast bei der besten Sache schon halb verloren und wirst nie uberzeugen konnen, wenn du dich aus dem Gleichgewicht der Seele heben lassest. 119. Erkundige dich nicht und kiimmere dich nie um Angelegenheiten, die dich nichts angehen und fiir die du auch nicht verantvuortlich bist. „Was dich nicht brennt, das blase nicht." An Orten, wo man sich zur Freude versammelt, rede nicht von hduslichen Geschaften oder gar von verdriefilichen Dingen. Thu, als hortest du ’s nicht, wenn jemand einem dritten unangenehme Dinge sagt oder ihn beschamt. Unkluge Theilnahme und Mangel an Zartgefiihl ist es, Fragen zu thun, die sich auf die wirtschaftliche Lage oder die Familienverhdltnisse deiner Mitmenschen beziehen. 120. Sprich nie von etwas, was geheim ge- halten werden soli. Verlass dich nie auf die Be- theuerungen der Menschen, die ein unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertrautes Geheimnis fiir sich zu behalten versprechen. Schwatze auch Geheimnisse nicht aus, die gedankenlosen und red- seligen Leuten in unverzeihlicher Unvorsichtigkeit im Gesprdche mit dir entfahren sind. Nicht weniger VIII. Was sonst noch zum guten Ton gehort usw. 51 klug gehe mit deinen eigenen Heimlichkeiten, Planen and Angelegenheiten um. Sei vorsichtig, wenn man sich bei dir iiber jemand erkundigt. Kannst du keine gute Auskunft geben, so gib eine ausweichende Antnuort oder hiille dich in ein weises Schweigen. Der Fragende weifi dann schon, was es zu bedeuten hat. 121. Erschrecke and necke niemand, auch deine Freunde nicht, mit falschen Nachrichten, unzarten Spassen oder Bemerkungen, die in Verlegenheit setzen. Es gibt des Widrigen und Unangenehmen soviel in jedem Menschenleben, dass es Bruder- pflicht ist, alles wegzuraumen, was die Last der wirklichen oder eingebildeten Plagen auch nur um ein Sandkorn vergrofiern kann. Menschen geflissent- lich in Verlegenheit zu bringen, ist immer unedel, mitunter sogar strafbar. Wenn jemandem in Ge- sellschaft ein Verstoft begegnet ist, so fordert es die Menschenliebe, nicht hinzublicken, um seine Verwirrung nicht zu vermehren. 122. Mit den Schwachen deiner Nebenmenschen habe Geduld; es ist oft nicht ihre Schuld, da sie es nicht besser verstehen. Verletzt dich jemand absichtlich ' in deiner Ehre, so setze seinem bosen Willen Kalte und berechnete Ruhe entgegen. Zeige ihm, dass du sein verletzendes Benehmen empfunden hast, nur dadurch, dass er von dir unbeachtet bleibt. 52 Antigrobianus. 123. Bekannten und Unbekannten gegeniiber sei stets gefallig, zuvorkommend und aufmerksam. Diene deiner Umgebung, wo und wie du nur kannst. Auch mit Personen, die unter dir stehen, sei leutselig, entgegenkommend und halte fiir jeden ein gutes Wort bereit. Gegen Dienstboten sei freund- lich, aber nicht vertraulich. Hdhergestellte bitte hoflich und danke ihnen herzlich und verbindlich. Damen gegeniiber ist lobende Ervoahnung von Vorziigen des Korpers, Geistes, Charakters und Benehmens, bei schicklicher Gelegenheit und in feiner Weise vorgebracht, nicht nur erlaubt, son- dern gilt sogar als gesel lige Tugend. Riickhalts- lose Anerkennung fremden Verdienstes, ohne Neid und Norgelei, ehrt den Sprecher und den Horer. 124. Benutze die dir zugebote stehenden Bil- dungsmittel fiir Herz und Geist aufs gezvissen- hafteste. Willst du nidit zuriickgehen, wie der abnehmende Mond, nicht dufierlich rosten und innerlich verkiimmern, so halte dich an die leben- digen Jungbrunnen, die in Kunst und Wissenschaft sprudeln. Gehe nicht auf der Weide einer wert- losen, verflachenden Tagesliteratur grasen, sondern heilige dein Geniefien durch das, was die grofien Dichter und Denker der Menschheit hervorgebracht haben. Sorge, dass die Classiker deines Volkes nicht blofi auf deinem Biicherbrett stehen, sondern ab und zu herabsteigen, um dein Leben zu be- gliicken und deine Erfahrung zu bereichern. VIII. Was sonst noch zum guten Ton gehort usw. 53 125. Kostlich ist das Leben nur, wenn es ein Vorwarts - and Aufvoartsstreben ist. Woht dir, wenn dein Herz freudig Ja sagt, sooft eine Pflicht ruft. Wer freudig and frei seine Pflicht erfiillt, Goti, dem Ndchsten and sich selbst gegeniiber, der besitzt das Gibek. „Denken, was wahr ist, und fuhlen, was schon, und wollen, was gut ist, darin erkennt der Geist das Ziel des vernunftigen Lebens" (Plato). NARODNA IN UNIVERZITETNA KNJIŽNICA >u