Tine Hribar WELTETHOS UND DiE EUROPÄiSCHE ZiVilREliGion Geprägt hat den Begriff Zivilreligion (la religion civil — die bürgerliche Religion) 133 in seinem Werk Gesellschaftsvertrag Jean Jacques Rousseau, der ihn auch philosophisch begründet und von beiden anderen Religionen, d.h. von der Religion des Menschen (la religion de l'homme) einerseits und der klerikalen Religion (la religion du Prêtre — Priesterreligion) andererseits abgegrenzt hat.1 Eingang in die Terminologie der Gesellschaftswissenschaften hat dieser Begriff mit dem US-amerikanischen Religionssoziologen Robert Bellah gefunden, als er das Syntagma amerikanische Zivilreligion prägte, wobei von mir nach dessen Vorbild das Syntagma europäische Zivilreligion eingeführt wird. Diese eigentümlichen Bezeichnungen deuten schon an, dass es im Gegensatz zur Religion des Menschen, die bei Rousseau das bezeichnet, was heute Weltethos genannt wird, keine einzige, etwa globale Zivilreligion gibt oder diese zumindest noch nicht gibt, sondern es herrschen vielmehr auf der Welt mehrere Zivilreligionen. 1 Nähere Analyse des Verhältnisses zwischen diesen drei „Religionen" siehe in meiner Abhandlung „Civilna družba, pravna država in človekove pravice" [Zivilgesellschaft, Rechtsstaat und Menschenrechte], erschienen im Sammelwerk Varstvo človekovih pravic [Schutz der Menschenrechte], hg. von P. Jambrek, A. Perenič, M. Uršič, L. Bavcon, Mladinska knjiga, Ljubljana 1988, S. 276-295. 134 1. Die Begriffe der Zivilreligion und der klerikalen Religion Zivilreligionen gibt es nur im Plural. Sie sind dennoch nicht mehr auf einzelne (National)Staaten eingeschränkt; in ihren Formulierungen sind sie nicht länger an die Verfassung dieses oder jenes Staates gebunden, sondern sie begannen sich durch den Zusammenschluss der Staaten auszubreiten, so dass die europäische Zivilreligion diejenige Religion ist, die die Entstehung der Europäischen Union ermöglichte und zugleich ihr Antlitz, ihre Materialisierung, zumindest ansatzweise, im EU-Verfassungsvertrag fand. Dieser wird, nachdem man ihn - wenn überhaupt - ratifiziert haben wird, d.h. wenn er von allen EU-Mitgliedstaaten verifiziert worden ist, die Europäische Union im nachhinein geistig befestigen und ihre Identität rechtlich bestätigen. Worin liegen nun die grundlegenden Unterschiede zwischen den einzelnen Zivilreligionen, wie sie die amerikanische und die europäische Zivilreligion darstellen? Der Hauptunterschied zwischen den beiden Zivilreligionen geht von der Stellung aus, die in ihnen die Todesstrafe einnimmt. Für die amerikanische Zivilreligion ist die Todesstrafe durchaus akzeptabel, was dagegen für die europäische Zivilreligion nicht gilt. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union legt in ihrem Artikel 2 folgendes fest: „Niemand darf zur Todesstrafe verurteilt oder hingerichtet werden." Dieses Verbot der Todesstrafe bedeutet nicht nur die Niederschreibung eines ethischen Grundsatzes, sondern bildet seine gesetzliche Verankerung, d.h. eine europäische Rechtsnorm. Es bedeutet nicht nur die Achtung und Durchsetzung der Heiligkeit des Lebens als eines der Grundwerte des Weltethos, sondern es erklärt die bislang höchste Strafe für ein Verbrechen wie Menschenmord selbst für verbrecherisch. In der europäischen Zivilreligion und der ihr entstammenden Verfassungsordnung wären somit sowohl der eine Todesstrafe verhängende Richter als auch der Vollstrecker der Todesstrafe als Verbrecher zu ahnden: als Verbrecher gegen die Menschheit. Denn das Recht auf Leben ist das erste unter den aus der Menschenwürde unmittelbar hervorgehenden Rechten. Oder, im Rückblick gesagt, dasjenige, woran die Menschenwürde am ursprünglichsten gebunden ist, ist eben die Heiligkeit des Menschenlebens. Und da die Heiligkeit des Lebens zu den Urwerten aller Weltreligionen gehört, wäre es zu erwarten, dass die Heiligkeit des Lebens auch von Religionsgemeinschaften in Slowenien als Wert geachtet und durchgesetzt wird, als Wert, dem sie absolut verpflichtet sind. Und dadurch würden sie sich nicht nur als jemand verifizieren, der Achtung vor dem Weltethos, diesem kleinsten gemeinsamen ethischen Nenner aller Weltreligionen bzw. -kulturen hat, sondern auch als feste Unterstützer der europäischen Zivilreligion und zuverlässige Verteidiger der europäischen verfassungsrechtlichen Normen. Das bedeutet schließlich, sie sollten, wenn sie ihre ethische Glaubenswürdigkeit und ihre Verbundenheit dem rechtlichen Europa bezeugen möchten, ihre Stimmen gegen jede irgendwo auf der Welt verhängte Todesstrafe und deren Vollstreckung erheben, insbesondere gegen solches verbrecherische Handeln in Ländern, die sich auf die Zehn Gebote berufen, zu denen auch das Tötungsverbot zählt. Aber dem ist leider nicht so! Wenn wir unter den Religionen bzw. Kirchen, die die Bibel befolgen, die in Slowenien zahlenmäßig am stärksten vertretene Römisch-Katholische Religionsgemeinschaft näher betrachten, dann lässt sich allerdings die Tatsache nicht verkennen, dass der Katechismus der Katholischen Kirche die Todesstrafe zulässt. Das heißt, er hält die Heiligkeit des Lebens in Wirklichkeit nicht für einen absoluten und bedingungslosen Wert, ja die Römisch-Katholische Kirche (RKK) legt dabei zweierlei Maßstab an. Indem von der RKK hervorgehoben wird, dass „Abtreibung und Tötung des Kindes verabscheuens-würdige Verbrechen" sind, und somit die formelle Mitwirkung an einer Abtreibung für ein „schweres Vergehen" hält, wobei der mitwirkende Arzt mit „Exkommunikation" zu ahnden ist2, werden mit dieser Strafe weder die Richter noch die Vollstrecker der von diesen verhängten Strafe bedroht, geschweige denn die Politiker, die einen Hinrichtungsbeschluss unterzeichnen. Sie hält also ihr Handeln nicht für ein „verabscheuenswürdiges Verbrechen", obwohl sie es vor dem Hintergrund des Weltethos und der europäischen Zivilreligion, wenn nicht schon wegen ihrer klerikalen Religion, für ein solches doch halten sollte. Jeder, der bei einer Todesstrafe mitwirkt oder mitgewirkt hat, gilt in den Augen der europäischen Gemeinschaft als ein Verbrecher, und zwar nicht nur unter dem ethischen, sondern auch unter dem juristischen Aspekt. 2. Die amerikanische und die europäische Zivilreligion Angesichts dieses Widerspruchs in einem der grundlegenden Texte der RKK ist also nicht besonders verwunderlich, warum sich eben die Politiker aus einigen katholischen Religionsgemeinschaften, z.B. in Polen, so vehement für die Wiedereinführung der Todesstrafe einsetzen, wobei sie sich auf das USA-amerikanische Vorbild berufen. Es handelt sich dabei um eine Situation, die derjenigen anlässlich des militärischen USA-Angriffs auf den Irak analog ist. Der verstorbene Papst Johannes II. hat diesen Anschlag verurteilt, wobei zu den Staaten, die unter den ersten dem Papst in den Rücken gefallen sind, eben diejenigen gehörten, die 135 2 Katekizem katoliške Cerkve [Katechismus der Katholischen Kirche], Slovenska škofovska konferenca, Ljubljana 1993, S. 569. Der Katechismus gibt zwar an, dass das menschliche Leben „absolut zu achten und zu schützen" ist (S. 569), indem er aber behauptet, dass „in schwerwiegendsten Fällen die Todesstrafe" nicht auszuschließen ist (S. 567), dass sie also unter bestimmten Voraussetzungen zulässig ist („Alles hängt von Umständen, Zeit und Ort ab."), bewegt er sich innerhalb eines offensichtlichen Widerspruchs. sich zumeist für katholisch halten: Italien, Spanien und auch Polen, die Heimat des Papstes.3 Zum Glück ist Slowenien dieser Gruppe nur teilweise beigetreten, denn wir haben in den Irak keine Soldaten entsandt. Ich erwarte, wir werden, nämlich als Staat, auch zukünftig dabei bleiben, d.h. dem USA-amerikanischen oder irgendeinem anderen Druck nicht nachgeben.4 Und ich hoffe zudem, es 3 Im Interview Sind Christen bessere Politiker (Die Zeit, 18. 08. 2005) hat Rocco Buttiglione (italienischer Kulturminister und Kandidat für das Amt des EU-Justizkommissars) auf die Behauptung, der Papst Johannes habe dem Irak-Krieg nicht zugestimmt, wie folgt erwidert: „ Hat der Papst diesen Krieg für falsch gehalten? Ich würde eher sagen: Der Papst hält jeden Krieg für falsch. Aber er weiß nach dem Katechismus der katholischen Kirche, dass nicht er das letzte Urteil über diesen Krieg fällt, sondern die Politiker. Der Papst ist wie eine Mutter, die auch niemals sagen würde: „Es ist gut, dass mein Sohn zur Todesstrafe verurteilt wurde." Eine Mutter wird dem Richter immer sagen: „Bist du sicher? Gibt es nicht eine andere Möglichkeit?" Aber wenn ein Politiker keine andere Möglichkeit findet, um gegenüber einer drohenden Gefahr Widerstand zu leisten, was soll er tun? Er muss nach dem eigenen Gewissen handeln. Im Übrigen ist es nicht wahr, dass Italien diesen Krieg im Irak geführt hat. Erst nach dem Krieg haben wir unsere Soldaten geschickt, um am Wiederaufbau teilzuhaben und um dem irakischen Volk zu helfen." Angesichts dieser Ausflüchte und der Verstellung stellt sich einem folgende Frage: Wurde das, was vom Papst erklärt worden war, schon von ihm selbst nicht ganz ernst genommen oder wird dagegen vielleicht der Papst von Christen wie Buttiglione nicht ernst genommen. Battiglione vergisst nebenbei auch die Tatsache, dass die Todesstrafe von der EU abgeschafft worden ist und dass daher keine europäische Mutter in die von ihm dargestellte Lage geraten kann. 4 Leider haben auch wir unterlegen. Gemäß Regierungsbeschluss vom 12. Januar 2006 werden vier Militärausbilder in den Irak entsandt, die — auch laut Staatsoberhaupt Dr. Janez Drnovsek — bei der Stabilisierung der von den USA herbeigeführten Lage im Irak helfen sollten. Unsere Teilnahme ist freilich ohne jedes militärische Gewicht, d.h. unbeträchtlich, wobei es überhaupt nicht um die Teilnahme selbst geht, sondern vielmehr darum, durch diese Entscheidung ohne irgendwelche Ausflüchte, zu denen wir bisher Zuflucht nahmen, den angeblichen Weltherrscher auch als unseren eigenen Herrn anzuerkennen. Ich bin absolut gegen diesen Regierungsbeschluss; nicht wegen unserer zweifelsohne größeren Bedrohung durch die Terroristen, sondern wegen unserer persönlichen Autonomie und unversehrten nationalen Souveränität. Diese Regierungsentscheidung hat nämlich nicht nur die Übertragung einiger Kompetenzen zur Folge, wie es im Verhältnis zur EU der Fall ist, sondern bedeutet auch eine Unterwerfung: dadurch sind wir US-amerikanische Vasallen geworden. Unser Verhältnis gegenüber den USA ist dem ehemaligen Verhältnis gegenüber den Bayern ähnlich geworden: damals ging es um die Christianisierung, heute aber um die Amerikanisierung, die auch die amerikanische Zivilreligion mit sich bringt. Die These, Slowenien hat an der Besatzung des Irak zur Behebung der „negativen Folgen des US-amerikanischen militärischen Eingriffs" (Matej Makarovic: Globalna odgovornost [Globale Verantwortung], Delo, 18. Januar 2006), also der US-amerikanischen Besatzung, teilzunehmen, steht nicht nur im Widerspruch mit sich selbst, sondern auch mit den Tatsachen, denn der Eingriff ist doch immer nicht zu Ende. Die Berufung auf die „globale Verantwortung" und „Ethik" in diesem Zusammenhang ist nichts anderes als Heuchelei. Was bedeutet die ethische Verantwortung angesichts der Tatsache, dass die US-amerikanischen Streitkräfte durch gezielte Bombardierungen ganze Familien zusammen mit Kindern bewusst töten, wenn sie einen angeblich unter ihnen sich verstek-kenden Terroristen umbringen wollen? Und was bedeutet die Zusammenarbeit mit der irakischen Regierung, von der die Todesstrafe wiedereingeführt worden ist? Ich weiß nicht, was noch mehr unethisch ist, wenn nicht eben solches Handeln! In erster Linie geht es keinesfalls um unsere eigene Sicherheit oder die Sicherheit unserer Söldner, sondern vielmehr um das Leben und die Würde der Menschen, die zum Opfer werden sich für diese Haltung mit allen Kräften, d.h. laut, deutlich und klar, zusammen mit der katholischen als der stärksten, größten und einflussreichsten Religionsgemeinschaft in Slowenien auch alle übrigen in Slowenien praktizierenden Religionsgemeinschaften einsetzen. Es wäre noch besser, wenn die Religionsgemeinschaften in Slowenien, zumindest für sich selbst, die Entscheidung treffen würden, kein einziges US-amerikanisches militärisches Abenteuer zu unterstützen, d. h. keinen weiteren gewaltsamen Demokratieexport und keine gewaltsame (weder harte, militärische noch weiche, missionarische) Einmischung der westlichen Kultur in andere Weltkulturen zu akzeptieren. Dies würde schließlich eine konsequente Achtung des ersten weltethischen Urwertes, der Goldenen Regel als eines Rahmenwertes aller anderen Werte des Weltethos bedeuten. „Was du nicht willst, dass man dir tu', das füg' auch keinem anderen zu." Diese Regel, durch die der Vergeltungsgrundsatz ersetzt und abgeschafft wird, ist Jahrtausende alt; sie kommt in heiligen Schriften aller Weltreligionen vor, einschließlich der Bibel („Heilige Schrift des Alten und des Neuen Testaments"; in Anführungszeichen, denn die jüdischen heiligen Schriften erscheinen als alttestamentarische Texte nur vom Aspekt der christlichen Evangelien her). Es gibt aber diese Regel nicht in der amerikanischen Zivilreligion. Im Gegenteil. Diese wird von Harold Bloom - der kein Linker, sondern ein hoch renommierter amerikanischer konservativer Denker ist - in seinem Werk The American Religion — The Emergence of the Post-Christian Nation (1999) wie folgt betrachtet und beurteilt: 137 „Die amerikanische Religion ist an sich keine Gewalt; es wird aber sowohl das eine wie das andere durch einen Wirrwarr begleitet, wobei unsere Haltung eher eine gewaltsame Haltung ist. Die Religion des Ich wird nur schwerlich eine Religion des Friedens sein, denn das amerikanische Ich strebt danach, sich durch den Krieg gegen die Andersheit zu definieren. Und wenn deine Haltung dir schließlich sagt, du bist jenseits der Natur, weil du schon seit jeher über sie hinausgehst, dann können dich deine natürlichen Taten nicht beflecken. Kein Wunder also, wenn die einmal erlangte Erlösung vom amerikanischen Gläubigen, ungeachtet dessen, was er tut, nicht mehr abfallen kann. Wir exportieren unsere Kultur, sowohl die niedrige als auch die hohe, und immer mehr wird auch die amerikanische Religion exportiert. Wird sich zeigen, dass Woodrow Wilson recht gehabt hat und wir dafür bestimmt sind, als führender Geist der Weltnationen zu agie- des Handelns unserer Soldaten fallen werden, und dabei spielt es überhaut keine Rolle, ob wir an einem Krieg teilnehmen, der von den USA begonnen wurde, oder an einem Krieg, der von den USA herbeigeführt wurde, nämlich am Bürgerkrieg. 138 ren, dann wird das einundzwanzigste Jahrhundert gewiss durch die allumfassende Rückkehr zu Glaubenskriegen geprägt sein."5 Es droht uns also ein Rückfall um zwei- oder dreihundert Jahre in die Geschichte, jedoch diesmal nicht auf der europäischen, sondern globalen Ebene. Auf diese Gefahr, die drohende Gefahr einer erneuten Wende von der Goldenen Regel zum Vergeltungsgrundsatz (Auge um Auge, Zahn um Zahn, Terrorismus um Terrorismus - militanter Antiterrorismus), was unausweichlich eine Weltkatastrophe herbeiführen wird, weist auch der Autor des Werkes Der Kampf der Kulturen (1997) hin. Im Gegensatz zur gängigen Meinung seiner oberflächlichen Leser ruft Samuel P. Huntington nicht zur Vorbereitung auf einen globalen Kampf der Kulturen bzw. einen planetarischen Zusammenprall der Zivilisationen auf, sondern versucht nachzuweisen, wie sehr es notwendig ist, im Namen der Erhaltung der Menschheit diesem Zusammenprall auszuweichen, d.h. ihn mit Hilfe der Durchsetzung eines Weltethos zu verhindern. Er hat sich somit zukunftsweisend gegen die gegenwärtige Politik der USA-Regierung gestellt: „In der kommenden Ära ist es also zur Vermeidung großer Kriege zwischen den Kulturen erforderlich, dass Kernstaaten davon absehen, bei Konflikten in anderen Kulturen zu intervenieren. Das ist eine Wahrheit, die zu akzeptieren manchen Staaten, insbesondere den USA, schwer fallen wird. Dieses Prinzip der Enthaltung, demzufolge Kernstaaten sich der Intervention bei Konflikten in anderen Kulturen enthalten, ist die erste Voraussetzung für Frieden in einer multikulturellen, multipolaren Welt."6 Huntington ist sich so wie Bloom darüber im klaren, dass die Grundausrichtung der amerikanischen (Zivil)Religion sowohl für die anderen als auch - wenn nicht insbesondere - für die USA selbst verhängnisvoll ist. Er setzt sich daher für die Erhaltung der einzigartigen westlichen, euroamerikanischen Kultur ein, jedoch mit der Unterstützung für eine auf dem Weltethos und dessen Werten basierenden Multikulturalität/Multireligiosität.7 Huntington 5 Kommentar zu diesem Text von Bloom und entsprechende damit zusammenhängende Daten siehe in: Tine Hribar, Obvladovanje sveta in svetovni etos [Weltbeherrschung und Weltethos], Filozofska fakulteta, Ljubljana 2003, S. 229 ff. 6 Samuel P. Huntington: Kampf der Kulturen, Spiegel-Verlag, 2006/2007, S. 520. 7 „Die menschliche Gesellschaft ist „universal, weil sie menschlich ist, partikular, weil sie Gesellschaft ist". Manchmal marschieren wir mit anderen; meistens marschieren wir allein. Gleichwohl entspringt der gemeinsamen conditio humana doch eine „dünne" minimale Moral, und es sind in allen Kulturen „universale Dispositionen" anzutreffen. Anstatt der vermeintlich universalen Aspekte einer Kultur zu prognostizieren, gilt es, im Interesse der kulturellen Koexistenz nach dem zu suchen, was den meisten Hochkulturen gemeinsam ist. Der konstruktive Weg in einer multikulturellen Welt besteht darin, auf Universalismus zu verzichten, Verschiedenheit zu akzeptieren und nach Gemeinsamkeiten zu suchen. ... Ferner sind, worauf viele hingewiesen haben, den großen Weltreligionen — Westliches Christentum, Orthodoxie, Hinduismus, Buddhismus, Islam, Konfuzianismus, Taoismus, Judentum —, mögen sie auch die Menschheit in einem größeren oder geringerem Maße gespalten haben, doch gewisse zentrale Werte gemeinsam. Falls die Men- stellt sich die Frage: „Gibt es eine allgemeine, säkulare Tendenz - jenseits einzelner Kulturen - zu immer höheren Zivilisationsgraden?" und beantwortet sie bejahend. 3. Projekt Weltethos Das Projekt des Weltethos, einer Religion des Menschen als Menschen, das bereits von Rousseau angedeutet, und vor zwanzig Jahren von Hans Küng wieder ins Leben gerufen und ausdrücklich konzipiert wurde8, gewinnt immer mehr Fürsprecher. Hier braucht man den uns allen bekannten Dalai Lama mit seiner buddhistischen Ethik der Heiligkeit des Lebens aller Lebewesen gar nicht besonders zu erwähnen, sondern vielmehr den UN-Generalsekretär Kofi Annan: Er erklärte das Jahr 2001 zum „Jahr des Dialogs der Kulturen" und berief unter der Schirmherrschaft des UN-Sicherheitsrates eine aus zwanzig renommierten Personen bestehende Gruppe („group of eminent persons") ein, deren Mitglied auch Küng war, und beauftragte sie damit, einen Bericht mit dem Titel „Ein neues Paradigma für globale Beziehungen" bis zum Jahresende vorzulegen. Der Titel des überreichten Berichts lautet „Crossing the Divide: Dialogue among Civilizations"9 und beruht auf dem Welt(Global)Ethos, dessen Werte trotz bestehender Divergenzen eine Konvergenz möglich machen. Die UN-Vollversammlung befasste sich mit dem überreichten Bericht im November 2001 und verabschiedete einstimmig die Resolution A/RES/56/6 mit „Global Agenda for Dialogue among Civilizations".10 Alle Diskussionsteilnehmer stellten fest, das schen je eine Universalkultur entwickeln, wird sie nach und nach aus der Erkundung und Ausweitung dieser Gemeinsamkeiten hervorgehen. So wäre, neben dem Prinzip der Enthaltung und dem Prinzip der gemeinsamen Verhandlung, ein drittes Prinzip für den Frieden in einer multikulturellen Welt das Prinzip der Gemeinsamkeiten: Menschen in allen Kulturen sollten nach Werten, Institutionen und Praktiken suchen und jene auszuweiten trachten, die sie mit Menschen anderer Kulturen gemeinsam haben." (Huntington, ibid, S. 523, 525-26) 8 Hans Küng: Projekt Weltethos, Piper, München 1990. Küng war beim Zweiten Vatikanischen Konzil offizieller theologischer Berater, später wurde er durch die kirchlichen Behörden suspendiert und es wurde ihm zudem die kirchliche Lehrerlaubnis entzogen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts gründete er in Tübingen die Stiftung Weltethos, in deren Rahmen unter anderen folgende renommierte Personen ihre Reden abgehalten haben: 2000 — britische Premierminister Tony Blair mit seinem Vortrag Werte und die Kraft der Gemeinschaft; 2002 — UN-Hochkommissarin für Menschenrechte und ehemalige Präsidentin Irlands Mary Robinson mit ihrem Vortrag Ethik, Menschenrechte und Globalisierung; 2003 — UN-Generalsekretär Kofi Annan mit seinem Vortrag Gibt es noch universelle Werte?; 2004 — Bundespräsident Horst Köhler mit seinem Vortrag Was gehen uns andere an?. 9 In Buchform ist dieses Dokument zusammen mit Diskussionen erschienen in School of Diplomacy and International Relations, Seton Hall University, New Jersey 2001. 10 Es ist symptomatisch, dass die slowenischen Medien darüber wie über die in Den Haag am 7. September 2004 abgehaltene Konferenz über die Werte in der EU („The Politics of European Values) gar nicht berichteten. Unsere Medien sind für solche Sachen offenbar ebenso taub wie die meisten unseren Politiker. der ii. September 2001 gezeigt hatte, es sei die höchste und eigentlich bereits versäumte Zeit für die Verabschiedung einer solchen Resolution. Auf der Grundlage dieser Resolution und auf die Initiative der Türkei und Spaniens errichtete Annan 2005 das Sekretariat der Allianz der Zivilisationen.11 Die Aufgabe der Allianz der Zivilisationen ist auf der Grundlage des Weltethos („der globalen Ethik"), den Kampf zwischen diesen zu verhindern und einen Dialog zwischen allen Kulturen in der Welt zu ermöglichen. Es gibt verschiedene Konzepte des Weltethos, so dass eine Auflistung, ein Katalog seiner Werte noch nicht zur Gänze vorliegt. Es ist zudem eine solche Auflistung auch schwierig zu erstellen, denn es geht dabei um die unterschiedlichen Theismen und auch den unterschiedlichen Atheismen gemeinsamen Werten. Es ist nämlich nicht jede Gottlosigkeit auch schon Glaubenslosigkeit.12 Dem ur- 11 Zum Direktor des Sekretariats bestellte Kofi Annan den Slowenen Tomaž Mastnak (Wissenschaftliches Forschungszentrum der Slowenischen Akademie der Wissenschaften und Künste, Ljubljana). Darüber berichtete in einem Artikel mit dem Titel „Naš človek v Združenih narodih" [Unser Mann bei der UNO] (A. H. Žerdin) die Zeitschrift Mladina vom 28. November 2005 (S 44, 45); Mastnak erhielt diesen Posten wohl aus dem Grund, weil er eine Reihe von Beiträgen veröffentlichte, in denen er unter anderem auch die andere, dunkle Seite christlich-europäischen Auseinandersetzungen mit arabischen und türkischen Muslimen bloßlegte. 12 Am beharrlichsten wird die Gottlosigkeit mit der Glaubenslosigkeit von Kardinal Franc Rode (ehemaliger Erzbischof von Ljubljana und nunmehr der Präfekt der vatikanischen Ordenskongregation) gleichgestellt, der somit auch die Tatsache verkennt, dass einige Atheisten mit Bezug auf die Achtung der Heiligkeit des Lebens und der Heiligung der Toten sogar konsequenter als die Theisten sind. Dass er sogar die Existenz der Atheisten fast gänzlich verneint, ist nichts anderes als Ausdruck einer rücksichtslosen Aneignung der Anderen und Andersdenkenden, deren geistig gewaltsamen Gleichsetzung mit sich selbst. „Hier in Italien kenne ich nur einen Menschen, von dem die atheistischen Gesichtspunkte konsequent vertreten werden - er heißt Umberto Galimberti und schreibt für „La Republica". Dieser Galimberti schlug vor, alle Bestattungen und Friedhöfe abzuschaffen, weil sie schon zu viel Platz einnähmen. Die Verstorbenen sollten laut ihm den Kliniken zu ihren eigenen Zwecken überlassen oder verbrannt werden. Das ist, sehen Sie, ein wahrer Atheismus." (Mene so se lotili s silo, škofa Urana hočejo omrežiti z laskanjem [An mich hat man sich mit Gewalt gemacht, und den Bischof Uran will man mit Schmeicheleien umgarnen], Dnevnik — Zelena pika, Ljubljana, 24. Dezember 2005) Nein, das ist Glaubenslosigkeit, der Mangel an einem achtungsvollen Verhältnis gegenüber dem Heiligen — in diesem Fall gegenüber der Heiligung der Toten, der Mangel, dem man manchmal anheimfiel, als etwa im Falle einer Selbsttötung die kirchliche Bestattung auch seitens der Theisten, der katholischen Priestern, verweigert wurde. Die Studien des Verhältnisses zwischen den Theisten und Atheisten haben übrigens im Hinblick auf ihre Erkennung des Ethischen folgendes gezeigt: „Auf die Frage, warum manche Fälle zulässig und andere verboten seien, antworteten die Teilnehmer entweder ratlos oder boten Erläuterungen an, die die relevanten Unterschiede nicht erklären konnten. Bedeutsam dabei ist, dass Menschen mit religiösem Hintergrund genau so ratlos oder in sich unstimmig argumentierten wie Atheisten. Diese Studien bieten uns einen empirischen Beleg für die Vorstellung, dass wir, so wie mit anderen psychologischen Fähigkeiten des Verstandes einschließlich der Sprache und der Mathematik, mit einem moralischen Vermögen ausgestattet sind, das unsere intuitiven Entscheidungen über Gut und Böse lenkt. Diese Intuitionen sind das Resultat von Jahrmillionen, in denen unsere Vorfahren als soziale Säugetiere lebten, und sind Teil unseres gemeinsamen Erbes. Unsere so entstandenen Intuitionen geben uns da- sprünglichen Buddhismus folgend ist der Zen-Buddhismus atheistisch, ohne Götter, und gilt dennoch als Religion. Der europäische Atheismus des Freiden-kertums lehnt den Glauben an Gott ab, glaubt aber an eine absolute Gültigkeit der Urwerte des Weltethos und steht somit im Gegensatz zum kommunistischen kämpferischen Atheismus, der auf keinen dieser Werte Rücksicht nahm. Ich selber sehe den Kern des Weltethos, den kleinsten gemeinsamen ethischen Nenner aller Menschen, dieses Minimum des Minimums, in folgenden vier Urwerten: Menschenwürde, Heiligkeit des Lebens, Heiligung der Toten und Goldene Regel. Da in zwei von den bezeichneten Urwerten des Weltethos das Heilige unmittelbar vorkommt, handelt es sich beim dargestellten Ethos nicht nur um eine Ethik im gewöhnlichen Sinne, sondern auch - wenn nicht auch vor allem - um Religiosität, jedoch nicht um die klerikale Religiosität im gängigen, konfessionellen oder sogar theistischen Sinne. Da das Weltethos mit seiner ursprünglichen religiösen Dimension sowohl die Theisten im gängigen als auch die Atheisten im bezeichneten Sinne durchdringt, lassen sich nicht alle Gebote/Verbote der Weltreligionen in seinen Rahmen einordnen. Der Weltethos-Katalog kann z. B. die ersten drei Gebote des biblischen Dekalogs, d. h. die auf der ersten Tafel gestandenen Gebote Gottes nicht berücksichtigen, denn diese schließen diejenigen aus, die nicht an (einen) Gott glauben; diese drei Gebote machen sich selbst für einen gemeinsamer Nenner aller Menschen ungeeignet. Sie gehen nicht von dem Menschen als Menschen, sondern von den Menschen eines bestimmten Glaubensbekenntnisses aus. Sie bilden somit die ethische Grundlage einer biblischen Superkultur, nicht aber auch einer möglichen Kultur (im Sinne Huntingtons). Eine zusätzliche, auch unsere Zeit bestimmende Schwierigkeit rührt vom Verständnis des Gottes her, auf den sich das erste der Zehn Gebote bezieht. Die Schwierigkeit beruht auf einigen Eigenschaften Gottes, die im Gegensatz zu Urwerten des Weltethos stehen, oder mit anderen Worten, die sich vom Gesichtspunkt des Weltethos her für nicht ethisch erweisen. Zu diesen Eigenschaften ge- bei nicht notwendigerweise die richtigen oder in sich schlüssige Antworten auf moralische Dilemmata. Was gut für unsere Vorfahren war, ist es heute möglicherweise nicht mehr. Aber Einsichten in die sich wandelnde moralische Landschaft, in der Fragen wie die der Rechte der Tiere, der Abtreibung, Euthanasie und der internationalen Hilfe in den Vordergrund gerückt sind, entstammen nicht der Religion, sondern der sorgfältigen Reflexion unserer Humanität und dessen, was wir als ein gut gelebtes Leben betrachten. Insofern ist es wichtig, dass wir uns des universellen Sets moralischer Intuitionen bewusst sind, damit wir über sie nachdenken und — wenn wir uns dazu entscheiden — ihnen zum Trotz handeln können. Wir können dies tun, ohne eine Gotteslästerung zu begehen, denn es ist unsere eigene Natur, nicht Gott, die die Quelle unserer Moral darstellt." (M. Hauser, P. Singer: Morala nevernikov [Gottlose Moral], Dnevnik — Zelena pika, 21. Januar 2006). hören der völkermörderische13 Zug Gottes, sein brudermörderischer Befehl14 zur Durchsetzung des Dekalogs und noch einige andere die Menschenwürde und die Heiligkeit des Menschenlebens verletzende und zerstörende Eigenschaften. 4. Fundamentalismen Es gibt kein ethisches Problem, bis der biblische Text als ein Dokument einer archaischen historischen Epoche betrachtet wird. Das Problem taucht dagegen sofort auf, wenn religiöse Fanatiker, religiöse Fundamentalisten dieser oder jener an die Bibel gebundenen Religion beginnen, sich auf den Gott mit den dargestellten Eigenschaften zu berufen. Mit einem noch größeren ethischen Problem sieht man sich dann konfrontiert, wenn ein Theologe - insbesondere wenn es sich um einen führenden kirchlichen Theologen handelt - damit beginnt, durch ein Rundschreiben Mordtaten im Namen des Gottes und damit durch Gott selbst zu rechtfertigen: etwa durch die bedingungslose Subsumierung des fünften Gebotes Gottes, das den Bestandteil des Weltethos bildet, unter das ausschließende erste Gebot, wobei das fünfte Gebot als solches durch diese Relativierung entwertet wird. Demgemäss wird ein solcher Theologe nicht den Mörder im Namen Gottes und dessen ersten Gebotes zum Verbrecher erklären, sondern denjenigen, der diesem vom Theologen als Gebot aller Gebote aufgestellten Gebot zuwiderhandelt. Von dem mit seiner monotheistischen Logik ausgerüsteten Theologen werden in diesem Fall nicht nur die religiösen und säkularen Atheisten, sondern auch die Polytheisten zu Verbrechern erklärt. Eine Massakrierung wäre demnach von untergeordneter Bedeutung, denn das ganze damit zusammenhängende Blutvergießen sei nur die Folge einer früheren religiösen Selbsttötung der Ketzer bzw. Gottlosen: „Das Geschehen ist ein Ausdruck dafür, dass 13 Zum Beispiel das Buch Deuteronosmium, 5 Mz 2,31-34: „Zu mir aber sagte der Herr: Hiermit fange ich an. Ich liefere dir Sihon und sein Land aus. Du fang an, in Besitz zu nehmen! Fang mit seinem Land an! Sihon rückte mit seinem ganzen Volk gegen uns aus, um bei Jahaz zu kämpfen. Der Herr, unser Gott, lieferte ihn uns aus. Wir schlugen ihn, seine Söhne und sein ganzes Volk. Damals eroberten wir alle seine Städte. Wir weihten die ganze männliche Bevölkerung, die Frauen, die Kinder und die Greise der Vernichtung; keinen ließen wir überleben." So sprach Mose - und berief sich dabei aufJahwe. 14 Das Buch Exodus, Ex 32,25-29: „Mose sah, wie verwildert das Volk war. Denn Aaron hatte es verwildern lassen, zur Schadenfreude ihrer Widersacher. Mose trat an das Lagertor und sagte: Wer für den Herrn ist, her zu mir! Da sammelten sich alle Leviten um ihn. Er sagte zu ihnen: So spricht der Herr, der Gott Israels: Jeder lege sein Schwert an. Zieht durch das Lager von Tor zu Tor! Jeder erschlage seinen Bruder, seinen Freund, seinen Nächsten. Die Leviten taten, was Mose gesagt hatte. Vom Volk fielen an jenem Tag gegen dreitausend Mann. Dann sagte Mose: Füllt heute eure Hände mit Gaben für den Herrn! Denn jeder von euch ist heute gegen seinen Sohn und seinen Bruder vorgegangen und der Herr hat Segen auf euch gelegt." So sprach Mose - und berief sich dabei auf Jahwe. Das Paradox liegt darin, dass Moses durch die beschriebene Erschlagung eben die bedingungslose Einhaltung der Zehn Gebote Gottes - einschließlich des fünften Gebotes: „Du sollst nicht töten!" - begründen wollte. der, der von Gott abfällt, der sich nicht nur aus dem Bund, sondern aus dem Raum des Lebens weggibt, des Leben selbst zerstört, und insofern bereits in die Todeszone hineingetreten ist."15 Er beging Selbstmord. Gemäß der biblischen Mahnung: entweder „wähle das Leben"16, mich, den Gott, oder bereite dich auf den (ewigen) Tod vor. Da der Katechismus der Katholischen Kirche einerseits die Abtreibung als ein ver-abscheuenswürdiges Verbrechen brandmarkt und andererseits die Todesstrafe zulässt und da der ehemalige Präfekt der vatikanischen Glaubenskongregation und der aktuelle Papst jede Missachtung bzw. Nichteinhaltung des ersten der Zehn Gebote Gottes für ein Verbrechen hält, gibt es einen offenbaren Unterschied schon zwischen der klerikalen Religion der Katholiken und der europäischen Zivilreligion, geschweige denn zwischen dem Katholizismus und dem Weltethos, d. h. der Religion des Menschen als Menschen. Die katholische klerikale Religion steht eher der amerikanischen als der europäischen Zivilreligion nahe. Die RKK wäre somit wohl viel zufriedener, wenn der EU-Verfassungsvertrag statt des Todesstrafenverbots das Abtreibungsverbot enthalten würde und der Vertrag selbst auf dem ersten Dekaloggebot und nicht auf den aufklärerischen Grundsätzen Europas gründete. 15 Joseph Ratzinger Benedikt XVI.: Gott und die Welt, Deutsche Verlags-Anstalt GmbH, Stuttgart, München, 2005, S. 182. Es handelt sich um den Schlusssatz der Antwort Ratzingers auf die Frage, die samt Erläuterung wie folgt lautet: „Als Moses vom Heiligen Berg zurückkehrt, tanzt das Volk um das berühmte Goldene Kalb. Voller Zorn über den Götzendienst zertrümmert der Gottesstreiter die Gesetzestafeln. Nur die Leviten, die Nachkommen von Levi, die später Priesterkaste bilden, scharen sich um ihn und stellen sich damit auf die Seite Gottes. ,Zieht hin und her im Lager, von Tor zu Tor!', befiehlt Moses, ,es töte ein jeder selbst den Bruder, Freund und Nächsten.' Die Geschichte der Zehn Gebote begann also im Grunde mit einem riesigen Frevel gegen Gebot Nr. 5: Du sollst nicht töten. Moses müßte es eigentlich besser gewußt haben." Die ersten Sätze der Antwort Ratzingers lauten nun wie folgt: „Sie begann zunächst mit einem Frevel gegen das erste, das tragende Gebot: Du sollst keine fremden Götter anbeten. Der Mensch ist dann im Lot, wenn er Gott als Gott anerkennt und in der Anbetung Gottes lebt. Und er begibt sich in die Verkehrung, in die Perversion seines Daseins, wenn er das, was nicht Gott ist, anbetet. Wenn er sich selber Gottheiten macht und damit letztlich sich selber anbetet. Von diesem Grundfrevel her ist das Volk zerfressen und innerlich entstellt. Es hat sich in den Tod hineingegeben. Denn von Gott weggehen, der die Quelle des Lebens ist, heißt ja, aus dem Leben weggehen." Es scheint, dass auf der Grundlage einer solchen Auffassung des von Moses anbefohlenen Blutbads und der dazu führenden Gründe kein Weg zum Weltethos gefunden werden kann, d.h. zu den sowohl den Polytheisten als auch den Monotheisten und Atheisten gemeinsamen Werten. Die Kluft zwischen der klerikalen Religion und der Religion des Menschen als Menschen ist un-überwindbar, und ins Visier des ersteren wird auch jede Zivilreligion genommen. Dass es in die Präambel des EU-Verfassungsvertrags kein Gottesbezug aufgenommen worden ist, muss für Ratzinger eher ein Verbrechen darstellen. 16 Es ist symptomatisch, dass die Slowenische Bischofskonferenz zum Leitspruch der Synode eben diesen alttestamentarischen Spruch gewählt hat, und nicht einen neutestamentarischen, nicht eine Anweisung aus den Evangelien, denen die christlichen Konfessionen am meisten verbunden sein sollten. Es besteht daher ein latenter Wertkonflikt zwischen der europäischen Zivilreligion, in der auch die Verfassung der Republik Slowenien ihre Grundlage hat, auf der einen Seite und der katholischen klerikalen Religion sowie, in einem größeren oder kleineren Maße, auch den klerikalen Religionen anderer Religionsgemeinschaften in Slowenien auf der anderen. Von rechtgläubigen Katholiken wird der „verbrecherische" Verfassungsartikel über „freie Entscheidung über die Geburt eines Kindes" nur schwerlich ertragen. Auf der anderen Seite wird von den Atheisten und zugleich Fürsprechern der Gewissensfreiheit, d.h. der Menschenwürde, der Entzug des Rechtes alleinstehender Frauen auf Zeugung eines Kindes mit Hilfe der Biomedizin schwerlich akzeptiert. Unseres Erachtens ging es bei der Kampagne zum gesetzlichen Verbot derartiger Hilfe um einen aus kirchlichen Dogmen hervorgehenden Missbrauch der Medizin oder sogar um den Verstoß gegen eine dieser Dogmen, denn das Verbot steht im Gegensatz zur Heiligkeit des Lebens als einem Wert, der auch vom Katholizismus stark unterstrichen wird. Es handelt sich dabei zugleich auch um einen Angriff auf die Gewissensfreiheit, weil diese durch das gesetzliche Verbot unter Anwendung der Rechtsgewalt aberkannt wird, indem die Verfassungsnorm über die freie Entscheidung über die Geburt eines Kindes dies nicht tut: sowohl eine gläubige Frau als auch ein gläubiger Arzt wird nach eigenem Gewissen und/oder eigenem Glauben die eine oder andere Entscheidung treffen. Die im ersteren Fall durchgesetzte Rechtsgewalt ist somit der Ausdruck des Unglaubens, des Misstrauens gegen die Glaubensfestigkeit eigener Glaubensgenossen, wobei eine kleine Gruppe alleinstehender Frauen zur Zeit der Kampagne zunächst zum Sündenbock, Gegenstand der Verhöhnung geworden ist und noch weiterhin das Opferlamm des traditionellen Patriarchalismus und modernen Klerikalismus bleibt.17 Aus den angeführten Beispielen ist auch schon ersichtlich, an welchem Punkt der Konflikt zwischen den klerikalen Religionen und der europäischen Zivilreligion bzw. dem Weltethos sich zuspitzen und vom latenten zum akuten übergehen 17 In diesem Falle gilt fast wörtlich die für heutige Zeit übrigens zu strenge Rousseausche Bestimmung der klerikalen Religion: „Dazu tritt eine dritte, noch seltsamere Religionsweise, die dadurch, dass sie den Menschen zwei Gesetzgebungen, zwei Oberhäupter und zwei Vaterländer gibt, sie widersprechenden Gesetzen unterwirft und es ihnen unmöglich macht, gleichzeitig fromme Glieder der Kirche und gute Staatsbürger zu sein. Zu dieser Klasse gehört die Religion der Lamas und der Japanesen sowie der Katholizismus. Man kann letztere eine Priesterreligion nennen. Aus ihr geht ein gemischtes, jeder Gesellschaft widerstreitendes Recht hervor, das sich mit keinem bestimmten Namen bezeichnen lässt." (Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, Reclam, Stuttgart 1991, 4. Buch, 8. Kapitel.) Es ist hier die Rede von der Vorherrschaft der klerikalen Religion, der Priesterreligion, über die Zivilreligion, die bürgerliche Religion, zu der bei uns in Slowenien zwar auf einem verfassungsmäßig festgelegten Gesetzgebungsweg (Volksentscheid) gekommen ist, was jedoch noch kein Beweis für die Sittlichkeit des Resultats ist: durch einen Volksentscheid könnte „im richtigen Augenblick" bei einer vergleichbaren, oft stark irreführenden populistischen Propaganda wohl auch die Wiedereinführung der Todesstrafe erzielt werden. kann. Der Grad der Konflikthaftigkeit hängt davon ab, in welcher Bedeutung der Verbrechensbegriff von den Theologen (und Repräsentanten anderer Religionsgemeinschaften) verwendet wird, wenn sie vom Verbrechen sprechen. Solange die Verwendung des Verbrechensbegriffs auf einer rein religiösen Ebene, d. h. intern bleibt, gibt es in der Tat noch keinen Konflikt. Er taucht dagegen auf, wenn dieser Begriff auf die ethische Ebene verschoben wird und zutage tritt. Wenn er auf die rechtliche Ebene überspringt, nimmt er erheblich zu, denn es gibt kein Recht ohne Gewalt (von der gerichtlichen bis hin zur polizeilichen). Die Toleranzschwelle wäre vom Gesichtspunkt der Zivilreligion abgeschafft, wenn eine Religionsgemeinschaft tatsächlich mit der Exkommunikation der bei der Abtreibung mitwirkenden Ärzte beginnen und im Apell einer Unterstützung seitens des Staates stehen würde, so dass die Exkommunizierten auch vom öffentlichen Dienst ausgeschlossen wären bzw. ihnen die weitere Ausübung des ärztlichen Berufs untersagt wäre. Das würde eine völlige Vorherrschaft der klerikalen Religion über die Zivilreligion und die Religion des Menschen als Menschen sowie die Herrschaft der äußersten Intoleranz, also einen religiösen Bürgerkrieg zur Folge haben, d.h. einen Krieg, der uns von den im Namen des Lebens tötenden amerikanischen und anderen Fundamentalisten bereits jetzt aufgedrängt wird. 145