Reisetage in England und Schottland. Von Dr. Emil Vock. Svnderabdruck aus der «Laibacher Zeitung». «(())>- Laibach 1808. WM i» WM M AeitinS. Von Dr. Emil Vock. Die Fahrt von Laibach nach London kann man ganz bequem zurücklegen, weil ein Eisenbahnwagen von Triest bis nach Ostende verkehrt, worin man die 37stündige Reise angenehm verbringt, ohne durch Umsteigen aus einem Zuge in den anderen belästigt zu werden. Ein heiterer aber kühler Morgen begrüßt mich in Wien. In Heller, sonniger Fahrt geht es durch wohlbekannte liebe Gegenden an den Abhängen des anmutigen Wiener Waldes. An Pöchlarn und Melk fliegen wir vorbei, an den Ufern der Donau geht es ohne Aufenthalt weiter durch fruchtbare Gefilde. In der altehrwürdigen Bischofsstadt Passau hält der Zug das erstemal auf deutschem Boden. Die folgende Gegend ist eintönig, denn die niederen Hügel, Felder und Wiesen mit Obstbäumen geben nur wenig Abwechslung. In der Ferne steht auf breitem Vergesrücken die Walhalla, die deutsche Ruhmeshalle, zu der eine breite Freitreppe hinauf¬ führt. Die Beleuchtung ist so günstig, daß man alles präch¬ tig deutlich sieht. Am Abende längerer Aufenthalt in Nürn¬ berg, wo es ganz wohl tut, ein wenig auf und ab gehen zu können. Im ersten Morgengrauen sehe ich die Dächer und zierlichen Giebel Kölns, der dichte Nebel wich schwachem Sonnenschein erst, als wir nach Herbestal di« belgische Grenze überschritten hatten. In der Kühle des Morgens gehen die Arbeiter lässig mit den Händen in den Hosen- 2 laschen, die Pfeife im Mund, an den Füßen plumpe Holz¬ schuhe. Die Städte sind kohlengeschwärzt, die Häuser hoch, schmal und dünn. Die Gegend ist recht reizlos, auf den Wiesen weiden Pferde kräftigen Schlages, Windmühlen strecken ihre Flügel in die Luft, stehende Gewässer bilden in der Nachbarschaft kleiner Schlößer malerische Weiher mit Schilf und Schwänen. Aus den Feldwegen ziehen die Pferde, eines vor das andere gespannt, plumpe Karren auf zwei hohen Rädern. Auf dem Riesenbahnhofe in Brüssel braust flutendes Leben. Im Menschengewühl sieht man viele Geistliche, aber wenig Militär. Bei Gent, noch mehr aber bei Brügge fallen die weit ins Land reichenden Kanäle auf und es macht einen eigentümlichen Eindruck, wenn auf den flachen Wiesen plötzlich geblähte Segel auf¬ tauchen, während der dazu gehörige Schiffskörper, im tief versenkten Wassergraben dahingleitend, von den Ufern gedeckt ist. Um 10 Uhr vormittags hält der Zug in Ostende, und zwar so hart am Pier, daß man aus dem Wagen unmittelbar das Schiff besteigt. Dieses fährt erst eine Stunde später ab, man hat also reichlich Zeit, den Hafen¬ teil von Ostende mit seinen vielfarbigen einfachen Häusern zu begucken, hinter denen das leibhaftige Ebenbild der Votivkirche in Wien steht. Ein großes Gewühl von Men¬ schen strömt dem Dampfer zu, die Damen alle in vor¬ nehmer und großer Kleidung; man hört nur englisch und französisch reden, letzteres mit aufdringlich scharfen Tönen und ebenso lärmendem Treiben. Langsam schwebt die „Königin Henriette" zwischen den hölzernen Hasenbauten dahin. Der von unzähligen Menschen und Badewagen belebte Strand von Ostende mit seinen Prachtbauten zieht an unserer Linken ganz nahe vorüber; zur Rechten erstreckt sich endlos die Düne, an deren Sandwellen die hochauf¬ spritzenden Fluten des Meeres von Scharen Badender jauch¬ zend begrüßt werden. Das Schicksal war mir günstig; fast unbeweglich lag die Fläche des Wassers im gefürchteten 3 Aermelkanal. Von der warmen Sonne beschienen, genoß ich in vollen Zügen die erfrischende Meeresluft. Bald war das Ufer in blauem Dunst verschwunden, nur wenige Dampfer, aber viele Segelschiffe gaben dem Auge Blick¬ punkte auf der unbegrenzten Meeresfläche. Mehrere große Kriegsschiffe kreuzten in träger Bewegung; von Dampf ge¬ triebene Fischerfahrzeuge tanzten auf den Wellen, und man sah deutlich ihre großen Fangnetze in die Tiefe sinken und dann wieder an die Oberfläche kommen. Unter allen diesen Bildern träumte ich so dahin, als plötzlich die hohen Kreide¬ mauern von Dover auftauchten. In dem leichten Dunste des Sommermittags heben sie sich offenbar von Himmel und Wasser zu wenig ab, so daß ihr noch nicht erwartetes Erscheinen geradezu gespenstisch ist. Sie sind der erste Gruß Englands. Auf hoher, sanft abschüssiger grüner Fläche liegen von Mauern umgebene Befestigungswerke, Dover Castle ist die erste englische Burg, die ich sehe, und tausend Gedanken blitzen durch meinen Kopf. Alles, was ich über England gelesen und gehört, stürmt in diesem Augenblicke auf mich ein, ich sehe die Angelsachsen landen, die hochschnabeligen Schiffe der Wickinger und der Nor¬ mannen fahren an mir vorüber, und oben auf hoher Klippe steht am Rande todbringenden Abgrundes der greise König Lear mit windzerzausten Haarlocken . . . Nach einigen Drehungen und Wendungen legt unser Schiff an; ihm folgt unmittelbar jenes aus Calais und nun entwickelt sich am Hafendamm im Angesicht einer hundertköpfigen Zuschauermenge ein Menschengxwoge, in welches die Packträger allein eine gewiße Ordnung bringen, indeni sie das Gepäck der Reisenden zu großen Tischen schaffen, an denen die Zollbeamten — übrigens in der freundlichsten Weise — ihrer Pflicht nachkommen. Hart dabei stehen Eisenbahnzüge, nach den Bestimmungsbahn¬ höfen in London geordnet. Dover wird in weitem Bogen umfahren; in den tiefen Einschnitten der Kreidefelsen hat - 4 man nur hie und da einen freien Blick auf das graugrüne Meer; ar: kleinen und großen Orten vorübersausend, emp¬ fangen wir den lieblichen Eindruck sanfter Wiesenlandschaft. Nach fast zweistündiger ununterbrochener Fahrt erreichen wir die Grenze Londons und befinden uns über einem Walde von kleinen Kaminen, indem eine große Strecke des Schicnenstranges über den Dächern geführt ist. Im Bahn¬ hofe Charing Croß dieselbe Ordnung und Ruhe in der Abwicklung des Verkehres wie in Dover. Nach wenigen Minuten halte ich vor Morleys Hotel am Trafalgar Square, einem alten Hause, das durch neue Einrichtung ersten Ranges die Gemütlichkeit eines Familienhauses nicht verloren hat. Am frühen Morgen und am späten Abend ist das Straßenleben Londons viel ruhiger als in manchen klei¬ neren Städten; am vollen Tage aber erreicht es eine Höhe, die im Anfänge geradezu beängstigend wirkt. Um die Mittagszeit vor der Börse und der Bank von England scheint es bisweilen ganz unmöglich, daß in die dicht ge¬ drängte Masse von Menschen, Fahrzeugen und Tieren eine entwirrende Ordnung kommt; und doch löst sich alles glatt und ruhig, ohne Geschrei. Freilich ist die Hauptperson der Straße der Polizeimann. In seiner dunkelblauen Kleidung mit dunklem Tropenhelm lenkt er alles durch Heben seiner Hand: im Nu steht alles still, ebenso rasch setzt sich wieder alles in Bewegung, und in der dichtest besetzten Straße versteht er es Platz zu schaffen für den heransausenden Wagenzug der Feuerwehr. Natürlich gehört dazu auch ein so gut geschultes Großstadtvolk, Fahrzeuglenker, die sich dem Befehle unterordnen, also alles in allem Leute, denen die Erziehung von Kindheit auf beigebracht hat, daß Ordnung die Grundlage ersprießlichen Lebens ist; denn bei Tag hat der Polizeimann keine andere Waffe als die von jedermann anerkannte persönliche Würde und Macht. Bei Regenwetter trägt er einen kleinen wasserdichten Kragen und ebensolche 5 Beinkleider, die, unten kappenartig, wie Schiffsschnäbel die Schuhe überragen. Berittene Polizisten habe ich nur wenige und nur an den Grenzen der Stadt gesehen. Einen kleinen Begriff von dem Straßenleben können die Zahlen geben, die man bei der London Bridge gewonnen hat: Ueber sie gehen täglich über 100.000 Menschen zu Fuß und 20.000 Wagen. Von ihr kann man auch einen weiten Blick auf das niemals stille stehende Leben der Themse genießen, die auf ihrer breiten Oberfläche die großen Personendampfer Deutschlands und Frankreichs bis in die Mitte Londons bringt, außerdem noch befahren von zahllosen kleinen und großen Schiffen der verschiedensten Art, die gegen die starke Strömung ganz tüchtig anzukämpfen haben. London ist die Stadt des Pferdes; elektrische Bahnen gibt es nur am Rande der eigentlichen Stadt, ohne ins Innere dieser zu gelangen. Fast den ganzen Verkehr be¬ streiten nur Pferdefuhrwerke der verschiedensten Art, vom Kutschierwagen des Vornehmen mit feschen Juckern bis zum Omnibus und Lastwagen mit den schweren Norfolk-Pferden, deren Feste! von großer Haarkrause umrahmt ist. Die PferSe werden sichtlich gut behandelt; in den großen Straßen sorgen wafsergefüllte Steintröge für die Tränkung der Tiere. Was sonst noch an Verkehr zu leisten ist, erledigt der Benzinmotor in Mietwagen und Riesenomnibus, die mit ihrem Geruch die Luft erfüllen, der im Anfänge ganz unleidlich, später als etwas Selbstverständliches hingenom¬ men wird. In diesem scheinbar unentwirrbaren Getümmel fahren junge Mädchen und Kinder sorglos auf ihren Rädern. Die Straßen sind vortrefflich gebaut: wenige Steine, fast nur geteertes Holzstöckelpflaster oder Asphalt mit Basaltschotter gemischt. Die Straßen und Gehsteige sind sehr rein gehalten, die Staubentwicklung ist sehr gering, dafür sorgt reichliche Bespritzung und eine Anzahl von Knaben, die mit kleinen Besen und Handschaufeln sozusagen 6 unter den Hufen der Pferde den Unrat unermüdlich zu- fammenkehren und ihn gleich in große, offene eiserne Be¬ hälter schütten, die in die Kanäle münden. Daneben stehen Drahtkörbe, in welche von den Fußgängern Papierabfälle, Orangenschalen und dergl. geworfen werden. Schon em gewöhnlicher Bummel durch die großen Straßen der eigentlichen Stadt ist eine unerschöpfliche Quelle nicht nur der gewöhnlichen Schaulust, sondern auch ernster Eindrücke. Die mehr als drei Kilometer lange Oxford Street ist größtenteils nur von Kaufläden besetzt, an ihrem westlichen Ende aber vermitteln Adelspaläste die Verbindung mit dem vornehmen Westen Londons. In dieser Straße, Strand und Regent Street, kann man alles laufen, was die Erde an Erzeugnissen bietet. Beson¬ ders großartig sind Läden mit Pferdeausrüftung, Sätteln und dergl. in einer solchen Menge, daß man eine ganze Reiterschwadron an Ort und Stelle mit allem Notwendigen versehen könnte. In Holborn gibt es in der Mitte der Paläste der Neuzeit durch mehrere alte Häuser noch manche Erinnerung an Londons Vorzeit. Holborn Viaduct ist eine der großartigsten Straßenbauten der Erde, indem es hier baumeisterlichcr Kunst gelang, das 8 Meter tiefe Tal eines Baches durch eine eiserne Brücke mit Häusern darauf aus- zufllllen. Eine Straße größten Stils, eigentlich ein ganzer Stadtteil für sich, ist das Victoria Embankement, 2 Kilo¬ meter lang, 26 Meter breit, dem linken Themseufer ab¬ gewonnen, mit schönen Parkanlagen und monumentalen öffentlichen sowie privaten Gebäuden. In der Mitte der Straßenlänge steht hart am Ufer der Themse die Nadel der Kleopatra aus Heliopolis, die Schwester des in Neu- York befindlichen Obelisken. Reizend ist in einem Parke an der Stadtseite das Wassertor des Jork-House, das an einem Palaste des Herzogs von Buckingham die frühere Grenze und Höhe der Themse zeigt. 7 Die schmalen Straßen abseits von den großen Ver¬ kehrsadern bieten manch lauschigen Winkel, in dem die Wände stiller Familienhäuser von Efeu oder wildem Wein bedeckt sind. Das englische Familienhaus verdiente mit sei¬ nen einladenden Eigenschaften eine Schilderung für sich: Mit seinem schmalen Vorgärtchen, mit dem wohlgepflegten, von bunten Beeten umrahmten Wiesenplan an der Rück¬ seite, mit der Ausnützung des Raumes in seinem Innern ist es das Muster der Verbindung anheimelnder Ruhe und Stille mit einem auf gesundem Genüsse fußenden Leben. Merkwürdigerweise besitzt das englische Haus nur einfache Fenster, und zwar zweiteilig, zum Hinaufziehen und zum Hinunterlassen. Zu den regelmäßig wiederkehrenden, London eigen¬ tümlichen Straßenfiguren gehören der Sandwich-Mann, der mit auffallenden Tafeln, so groß wie er selbst, beladen, für Sachen aller Art die Aufmerksamkeit erregt, die Blumenverkäuferin, meist nicht mehr in der ersten Blüte der Jahre, die mit pfauenartigem Geschrei einige anpreisende Worte hervorstößt, und — mit Rücksicht auf den Straßen- lärm doppelt merkwürdig — der Leiermann. Auf kleinen stillen Plätzen sieht man bisweilen den schottischen Schwert¬ tänzer, einen jungen Burschen, der in schottischem Gewände, von den Tönen eines Dudelsackes begleitet, seinen Volks¬ tanz aufführt, umringt von einer kleinen, aber dankbaren Zuschauermenge. Ein Teil des Straßenbildes der festlän¬ dischen Städte fehlt in London, überhaupt in England, fast vollkommen: das Militär. Man kann es nur in den Kasernen und deren unmittelbaren Umgebung sowie bei den Wjachparaden sehen. Außer Dienst geht der Offizier fast nie in Uniform, der Soldat trägt außer Dienst keine Waffe, sein rechter Arm schlenkert mit einem kleinen Stock in der Hand. Ganz eigentümlich muteten mich die Werbehäuser für Soldaten an, an deren Außenwand die Uniformen der englischen Armee in schreienden Farben angebracht sind mit 8 der Aufschrift: Urs Nnjsstxs urrn^ vurrts solcUsrs. Am Sonntagsmorgen sieht man auf großen Plätzen Freiwillige sich militärisch sammeln, unter der Führung von Unter¬ offizieren zum Abmarsch zu Schießübungen bereit, alte und junge Männer, in schmuckloser Gewandung, nur mit Gewehr und Patronenriemen ausgerüstet. An ihrer Spitze schreitet dann entweder ein Trompeterchor oder eine voll¬ kommene Musilbande, deren große Trommel von ihrem Träger mit zwei Schlägeln auf beiden Seiten kräftig be¬ arbeitet wird. Ebenso selten sieht man Geistliche, fast nie Mitglieder eines geistlichen Ordens, dagegen viele junge Mädchen, die durch weißes Häubchen und dunklen Mantel als Krankenpflegerinnen kenntlich sind; denn es gehört zur Erziehung der Engländerin, auch aus dem besten Hause, Krankenpflege in einem der zahlreichen großen Spitäler Londons gelernt zu haben. Manche davon widmen sich diesem Berufe fürs Leben, so daß die Aerzte Englands auch gesellschaftlich gebildete Pflegerinnen an ihrer Seite haben, die dann im Rahmen des Hauses eine gewisse Rolle spielen, um so mehr, als die innere Einrichtung der Kranken¬ häuser mit bequemen Lehnstühlen, Ruhebetten, Blumen¬ tischen, Kaminen und dergl. den Leidenden es vergessen macht, daß sie sich in einem von vielen Menschen gemeinsam benützten fremden Raum befinden. Ein riesengroßer Teil des Verkehres Londons spielt sich unter der Erde ab, auf der Untergrundbahn, deren Tunnels auch unter der Themse geführt sind. In der Mitte großör Straßen oder Plätze stehen wie riesige Souffleur¬ kasten die Eingänge zur Unterwelt, in welche man mittelst Lift befördert und dann wieder an die Oberfläche gebracht wird, die Fahrkarte kostet einheitlich 1 Penny, die Wege sind tadellos sauber, die Wände des Tunnels mit weißen Kacheln ausgekleidet, Wagen sehr bequem, die Bahn wird elektrisch betrieben, die Luft ist rein und kühl, denn sie wird durch Pumpen immer wieder erneuert; dadurch g enisteht freilich auch eine ununterbrochene Zugluft, die aber den Londonern nichts macht, denn gegen ihre Heimat ist Wien ein windstiller ruhiger Ort. Alles ist abgehärtet; ohne Rücksicht auf Wind und Wetter sitzt alt und jung, männlich und weiblich, letzteres alles in leichten lichten Blusen auf dem offenen Dach des Omnibus und läßt sich anblasen in einer Ameise, die mir durch Mark und Vein ging und mich öfters zwang, den Kragen meines Ueber- rockes aufzuschlagen. Man meint aber, in eine andere Stadt versetzt zu fein, wenn cs Sonntag ist. Schon am frühen Sonnabend nachmittags werden die meisten Kaufläden gesperrt; am Sonntag ist am Morgen der Straßenverkehr fast gleich Null; die wenigen Menschen, die man steht, eilen in Hack- neys, der eigentümlichen Londoner einspännigen Droschke, oder auf dem Rade zu den Bahnhöfen, um ins Freie zu gelangen. Während aus diesen an Wochentagen, besonders zwischen 8 und 9 Uhr morgens, ununterbrochen jene Leute herausströmcn, die außerhalb des Weichbildes der Stadt wohnen, in dieser aber beruflich beschäftigt sind, kommen an Sonntagen nur wenig Menschen in die Stadt; alles trachtet ihr zu entrinnen. Kein Kaffeehaus, lein Gasthaus, kein Var ist offen, erst gegen Mittag wird der Massen¬ verkehr lebhafter. Die reizenden Glockenspiele mancher Kirche weichen dem eintönigen Glockengeläute. Ebenso ändert sich das Bild der Stadt, wenn die Bank von England aus irgend einem Grunde geschloffen bleibt. Bank Holiday ist für ganz London ein halber Feier¬ tag, denn wenn der Mittelpunkt des Geldmarktes der ganzen Erde nicht atmet, dann geht auch den anderen Geschäften der Atem aus, beziehungsweise, sie freuen sich, nicht atmen zu müssen: alle Läden gesperrt, aber überall eine fröhliche Menschenmenge, die sich der Freiheit freut. Straßenbilder besonderer Art bieten sich, je mehr man gegen den Osten der Stadt wandert. Ich will mich nicht L 10 weiter über jene Stadtteile auslassen, von denen seit jeher mit Recht gesagt wird, daß nirgends schrankenloser Reich¬ tum so hart an bodenloses Elend grenzt als in London. Da ist tatsächlich alles anders: Schmutz, Armut, Verwahr¬ losung, Trunksucht bei Bier und Branntwein, und alle Laster liegen unverhüllt zutage. Ich möchte lieber jener Teile des Ostens der Stadt gedenken, in denen man den lebendigen Herzschlag der ganzen Erde spürt: der Docks und des Hafens von London, der eigentlich so lang ist, als sich die Themse im Bereiche der Stadt befindet. Alles, was die Erde an Menschen und Waren besitzt, kann man hier sehen: Weiße, Braune, Schwarze und Gelbe; die ganze Erdbeschreibung kann man hier wiederholen, wenn man die Tafeln liest, die einem sagen, was in den einzelnen Vorratsräumen aufgestapelt ist: hier Zucker aus Jamaika, dort Harze aus Persien, da Weine aus Portugal, daneben Korke aus Spanien, Erze aus Afrika, Riesenbauhölzer aus Nordamerika, und so geht es weiter, bis man sich müde nach etwas Ruhe sehnt, müde vom Schauen und vom Lärm beim Verladen, bei dem di« Ketten der Dampfkrane betäubend klirren. Bei der Erinnerung an den Hafen denke ich unwill¬ kürlich an den Fischmarkt Londons, zu dem man von London Bridge aus nur „der Nase nach" zu gehen hat, denn schon von weitem kündet der Geruch seine Nähe. Zu¬ erst an einer Unzahl kleinerer und größerer Läden vorüber, aus denen die Fische, in Kisten verpackt, auf große Last¬ wagen verladen werden, die sie in alle Teile Londons brin¬ gen. Dann kommt man in die riesengroße Fischhalle, wo man im Wasser watet. In beängstigender Eile tragen in Wachstuch gekleidete Männer auf dem ebenso geschützten Kopfe mit Fischen gefüllte, von Wasser triefende Körbe und Kisten; Lachse, so groß, daß jeder für sich in einer Kiste in Eis eingeschlossen liegt, kommen aus Schottland und Norwegen; Flundern, so groß wie Kinderdrachen, liegen 11 aufgeschichtet auf dem Boden; lebendige Hummer bilden ruhelos krabbelnde Haufen, und dazwischen türmen sich Mengen von frischen Heringen, die auch auf dem Tische des armen Mannes einen Teil feiner täglichen Mahlzeit bilden. Bilingsgate Fish Market besteht schon seit dem 17. Jahrhundert, ein Zeichen, daß man schon frühzeitig die Bedeutung des Fisches als Volksnahrungsmittel erkannt hat. Die Versorgung des Magens von London ist an und für sich schon eine Sehenswürdigkeit, besonders der Central Meat Market mit seinen unerschöpflichen Fleischmengen aller Art, hinter dem der mit Blumen vereinigte Gemüsemarkt an Größe weit zurUcksteht, eben ganz entsprechend dem Speisezettel des Engländers. Unvergleichlich ist die Menge und Güte der frischen Früchte aller Art, die man in Eng¬ land überall zu billigen Preisen erhält; am reichsten stellen sich die Kolonien ein, Australien mit Aepfeln, Ostindien mit Ananas und Bananen, Afrika mit Apfelsinen und Man¬ darinen. Die Warmhäuser Englands liefern die herrlich¬ sten Weintrauben; sein Flachland bringt Birnen und Beerenobst; Frankreich schickt Reineclaudes. Das alles sind so die ersten Eindrücke in der größten Stadt der Erde, Eindrücke, die dann täglich an unzähligen Einzelheiten zunehmen, und dann erst findet man Ruhe und Sammlung, um sich den beispiellos reichen Genüssen hin¬ zugeben, welche die wissenschaftlichen und künstlerischen Sammlungen in Englands Hauptstadt bieten. In erster Linie steht das British Museum. In einem ungeheuren Gebäude mit mächtiger tempelartiger Säulen¬ vorhalle sind Sammlungen untergebracht, die sich im Laufe von zwei Jahrhunderten zu einem einheitlichen Ganzen ver¬ einigt haben. Was die Erde geschaffen hat, seit sie besteht, was Menschenhände gemacht, was die Kunst ersonnen, ist hier zu sehen in einer Fülle und Mannigfaltigkeit, die man auch bei mehrfachem Besuche kaum erfassen kann. Bedarf man doch mehrerer Stunden, um nur einmal in lang- 2» - '12 - samem Zeitmaße die Säle ohne Aufenthalt zu durch¬ schreiten. Hier sind Sachen aufgestapelt, die man sonst nir¬ gends sehen kann, wie die Altertümer aus Babylon und Assyrien mit den Funden aus Ninive, Nimrod und Meso¬ potamien. Aegyptisches Leben wird in hochragenden Säulen¬ hallen vorgezaubert; Vorgeschichtliches, Etruskisches, Angel¬ sächsisches und deutsches Mittelalter mit Vasen, Bronzen, Schmuck, Goldsachen, Rüstungen, Waffen, die Geräte und Kunsterzeugnifse aller Völker der Jetztzeit werden uns vor- geführt; die Schätze des Rothschildschen Schlosses Waddeston Prunken hier in auserlesenen Stücken mit allem, was die gesegnete Zeit des Cinquecento hervorgebracht hat. Die Kunst des alten Griechenlands erhebt den Beschauer in begeisterte Höhe wahrer Bewunderung: Von der archaisti¬ schen Zeit angesangen können wir teils an hervorragenden echten Steinarbeiten, teils an trefflichen Nachbildungen die griechischen Künstler bis zur höchsten Vervollkommnung ihrer Meister verfolgen. Die Reste des Artemis-Tempels zu Ephesos erinnern uns an die wahnsinnige Tat des Herostratos, die Steinbilder des Mausoleums zu Hali- carnassus, eines der sieben Weltwunder, sind die Zeichen der liebevollen Verehrung der Artemisia von Karten für ihren Gatten Mausolus; die Metopen sowie die berühmten Giebelgruppen des Parthenon zeigen uns, was alles die gebildete Welt mit dem Untergänge der griechischen Kunst Und der Zerstörung ihrer Werke verloren. Man kann Lord Elgin nicht genug preisen, daß er diese Sachen als Bot¬ schafter in Konstantinopel gerettet und 1801 nach London gebracht hat, sonst wäre die Menschheit um Erhabenes und Schönes ärmer; denn wer das Gefühl der Wirkung hoher und ausgeglichener, künstlerisch vollendeter Form kennen lernen will, der verweile im Riesensaale der Elgins Marbles; er wird die Andacht dieser Stunde nicht vergessen. Das British Museum besitzt auch die größte Bücherei der Erde; die Bücherständer sind zusammengenommen 65 Kilometer 18 lang. Eine chinesische Enzyklopädie aus dem Jahre 1726 enthält in über 6000 Bänden die chinesischen Klassiker von 1150 v. Ehr. G. bis 1700 n. Ehr — die Büchersamm¬ lung wird sehr fleißig benützt. In einem von einer Kuppel, die der der Peterskirche an Gröhe gleich kommt, überwölbten Saale finden bei 600 Leser Platz; treffliche Einrichtungen sichern raschen Erhalt des gewünschten Buches; außerdem sind aber im Lesesaale 20.000 Bände Wörterbücher, Zeit¬ schriften und dergl. untergebracht, deren man sich ohne weiteres bedienen kann, wenn man eine entsprechend aus¬ gestellte Eintrittskarte hat; sonst darf man nur an der Tür dieses Himmelreiches stehen bleiben und hineingucken. Nicht vergessen darf ich der Briefmarkensammlung Taplings, bei deren Anblick es auch einem kühlen Sammler heiß wird; denn Stücke, die im gewöhnlichen Sammlerleben märchen¬ haft genannt werden, sind hier in Blockstücken vorhanden, also im wahren Sinne des Wortes ein Schatz, dessen Wert sich nach den heutigen Begriffen von diesem Gegenstände überhaupt nicht bestimmen läßt. Eine andere Riesensammlung oder, besser gesagt, eine ganze Gruppe von Sammlungen, das South Kensington Museum oder, wie es jetzt heißt, Albert and Victoria Mu¬ seum, ist ein Beweis für di« Sorgfalt und die zielbewußte Tätigkeit der englischen Regierung, die eine eigene Staats- abieilung mit 600 000 Pf. St. jährlich ausrllstet zum Zwecke der Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse und des Verständnisses für schöne Künste, was durch Errichtung von Sammlungen, Büchereien und Ausstellungen zu er¬ reichen getrachtet und auch erreicht wird. Das Museum ist eine Gruppe von Gebäuden und Galerien mit einer Stirn¬ seite von 215 Meter Länge mit breiter Ausdehnung nach rückwärts und großer Gartenanlage in der Mitte. Die Galerien reichen durch mehrere Stockwerke und enthalten die Nachbildungen berühmter Bauwerke, z. B. der Trajans- säule in Rom, Kirchenfaffaden und dergl.; die bildende 14 Kunst ist in zahlreichen Stein- und Metallstandbildern sowie Gipsabgüssen vertreten. Man kann hier bequem die ganze Kunstgeschichte wiederholen. Die riesige Sammlung von Werken der Kleinkunst aller Völker Europas in Metall, Elfenbein, Porzellan, Glas usw. ist unerschöpflich. Die künstlerische Bedeutung der englischen Malerei mit Wasser¬ farben betont eine Reihe von Zimmern mit zum Teile hervorragenden Bildern. Der künstlerische Schatz dieses Museums sind die Kartons, welche Raffael auf Anordnung Leo X. verfertigt hat und welche dann, zu Arras als Wandteppiche gewoben, heute im Vatikan Gegenstand be¬ wundernder Ehrfurcht sind. Ostindien ist durch eine eigene Sammlung vertreten, in der Nachbildungen von Tempeln usw. sowie alles zu finden ist, was dieses Wunderland in Kunst und Gewerbe hervorbringt, so recht ein Prunk¬ stück der Macht und des Reichtums der englischen Kolonial¬ herrschaft. An diese Gebäude und Galerien schließen sich womöglich noch größere an mit Darstellung von Bergbau, Maschinenwesen, Naturlehre, Schiffswesen und allen Natur¬ wissenschaften. Räumlich nahe befindet sich das naturhisto¬ rische Museum, wo nur die paläontologische Sammlung Sachen zeigte, die ich noch nie gesehen hatte, alles in höchst übersichtlicher Aufstellung. Mit innerer Bewegung betrach¬ tete ich hier auch die Tagebücher und Pflanzensammlungen LinnSs. Ueberall sieht man Scharen von Schulkindern, ge¬ führt von Lehrern, die ihren Schützlingen alles erklären. Unter diesen findet man auffallend viele, die Brillen tragen; die englischen Augenärzte verordnen eben schon bei ganz geringen Augenfehlern Brillen. So ist es auch nichts Außergewöhnliches, daß Stubenmädchen mit der Brille auf der Nase Tee auftragen. Eine Schöpfung englischer Eigenart ist die ethno¬ graphische und Kolonial-Sammlung, die im Kellerraum der Universität untergebracht ist. Alles, was die Kolonien Großbritanniens besitzen, enthalten, erzeugen und ver- 15 schicken, ist hier in reicher Fülle und übersichtlich ausgestellt. Vom Käfer und vom Fisch angefangen bis zum Elefanten; Wurzeln, Rinden, Hölzer und Früchte; Gesteine und ihre Ergebnisse — alles ist hier aufgestapelt, mit großen Licht¬ bildern und Oelgemälden erläutert, gar nicht zu reden von der Pracht der Säle des asiatischen Ostens. Stunden Hellen Entzückens verbrachte ich in der Na¬ tional Gallery. In einem Palast mit tempelartigem Säu¬ lenvorbau ist in großen Sälen mit Oberlicht eine aus¬ erlesene Sammlung von Gemälden aller Schulen unter¬ gebracht, alle Bilder durch Glasscheiben geschützt, daher die Farben in leuchtender Pracht erhalten. Die Anordnung ist so geschickt, daß man auch ohne störendes Lesen des Ver¬ zeichnisses genußreich die Säle durchwandert. Besonders die italienischen Schulen sind reich und durch erstklassige Bilder vertreten. Namentlich der große Saal mit Perugino, Raffael und Moretto übt einen unauslöschlichen Eindruck. Holländische und vlämische Meister reihen sich ebenbürtig an. Spanien und Frankreich zeigt seine Hauptmeister, und die englischen Maler älterer und neuerer Zeit wird man Wohl kaum wo anders besser kennen lernen können. Ich muß aber gestehen, daß ich nur bei wenigen dieser englischen Bilder warm geworden bin; die Bildnisse sind oft „geleckt", das Stimmungsbild führt uns Menschen und Orte vor, welche — weil uns fremd — nur wenig Teilnahme erwecken können, und die Landschaften, auch die des vielgerühmten Turner, entbehren meiner Art des Wichtigsten: der Wahr¬ heit. Großartig ist die National Gallery of British Art oder, wie sie nach ihrem Gründer und Spender heißt, Täte Gallery. Ihr edles Gebäude steht auf einem Teile des Grundes, wo sich früher Londons größtes Zellengefängnis befand. Die ganze moderne englische Malerei zieht hier mit ihren guten und ihren schlechten Seiten an unseren Blicken vorüber. Sie steht uns entschieden näher als die früherer 16 Zeit, obwohl auch sie etwas für sich Eigenes bildet. Millais, Burne, Brown, Watt, Rosetti, sie alle fesseln uns durch besondere Eigentümlichkeiten des Stoffes und seiner Be¬ handlung sowie der jedem von ihnen eigenen künstlerischen Mache und Fertigkeit. Hier fühlt man mit jedem Teile eng¬ lischen Boden, englisches Leben, das einem durch die Fenster des Oberstockes auch von der Themse heraufgrüßt. Viele der Bilder üben auf den Fremden gewiß nicht den vollen Ein¬ druck, weil man englische Geschichte und englische Landschaft zu wenig kennt, und nur diese find in den Darstellungen berücksichtigt; Bilder mit Vorwürfen vom Festlande fehlen fast gänzlich, auch ein Beweis für das Selbstbewußtsein des Engländers. Will man französische Kunst kennen lernen, so widme man der Wallace-Collection einig« Besuche. In den mittel¬ großen Zimmern eines Palastes sind französische Bilder an den Wänden mit Uhren, Möbeln und dergleichen unter¬ einander übereinstimmend höchst geschmackvoll angeordnet. Eine reiche Waffensammlung, herrliche Majoliken und nicht wenige Bilder italienischer und englischer Schulen geben glänzendes Zeugnis von dem hohen Kunst- und Sammel¬ verständnis des Sir Richard Wallace und seiner Gattin, deren Erbe das englische Volk ist. Alle diese Sammlungen sind immer gut besucht. In der Täte Gallery herrschte geradezu Gedränge, meist Mäd¬ chen und Frauen mittlerer Stände in lichten Sommerkleidern, die, ohne nur eine Miene zu verziehen, auch Bilder mit ge¬ wagten nackten Darstellungen betrachteten; auch sieht man Gruppen von netten Kindern, die selbständig die Säle durchwandern. Hart neben der National Gallery befindet sich die National Portrait Gallery. Alle Achtung vor der Verehrung der Engländer für ihre großen Männer und Frauen, die hier in unzähligen Bildnissen zum Ausdruck kommt; für den Fremden aber ist dies langweilig, um so mehr, als die 17 künstlerische Höhe mit der großen Zahl der Bilder nicht in gleichem Verhältnis steht. Aehnliche Gedanken, in dem Sinne, daß mancher un¬ verdient in Englands Ruhmesbuche verewigt ist, beschleichen den Besucher, wenn er die Westminster Abtei mit ihren Denkmälern und Erinnerungstafeln durchschreitet. Sie bildet mit dem Parlameutsgebäude trotz der Größe des trennenden Straßenraumes ein wohlabgetöntes Ganzes: das Parlamentsgebäude wie eine stolze Burg am Ufer der Themse, die Westminster Abtei, heute nur mehr Kirche, in grünem Wiesengrunde, von Bäumen umgeben, ein Bau, in dem sich Kraft und zierliche Schönheit glücklich verbinden, daneben wie eine bescheidene Tochter die alte Kirche Sankt Mavgareth. Nach rückwärts schließen sich einzelne kleine Häuser an, deren Aeußeres darauf hindeutet, daß sie zur ehemaligen Klosteranlage gehört haben. Die Besichtigung des Innern wurde durch einen Gottesdienst unterbrochen, während dessen ich mich in einer stillen Ecke niederließ. Für die Ruhe während der geistlichen Handlung sorgte der Kir¬ chendiener, der peinlich jedem einzelnen der zahlreich herein¬ gekommenen Menschen einen Sitz in der Kirchenbank an- wies. Die meisten der eigentlich so gefangen gehaltenen Fremden vertieften sich in ihre Reisehandbücher; ich ver¬ folgte aufmerksam die einzelnen Teile des mir unbekannten anglikanischen Kirchendienstes, der bei dieser drei Viertel¬ stunden dauernden Handlung hauptsächlich aus der Wechsel¬ rede und den Responsorien zweier Geistlichen bestand, die sich bei kanzelartigen Pulten zu Enden des langen Haupt¬ schiffes befanden. Hier stehen auch Altäre, die aber heute keine Benützung fanden. Die nicht kurzen Zeiten zwischen den genannten Reden füllte ein vierstimmiger Chor a capella aus, die hohen Stimmen von Knaben, die tiefen von Män¬ nern, alles schulmäßig heruntergesungen. Auch die Musik als solche übte auf mich keinen künstlerischen Eindruck; sie ist durch die allzuhäufige Wiederholung einer und derselben 18 Wendung recht eintönig. Unwillkürlich stellte ich in meinem Innern einen Vergleich an mit den Gefühlen, die ich wahr¬ haft tief empfunden habe, wenn ich in der größten Papst¬ kirche Palestrinas Messen gesungen hörte, die sich mit ihrer einfachen festgefügten Form auch bei der manchmal hand¬ werksmäßigen Wiedergabe durch die vatikanischen Sänger niemals aus ihrer unbesiegbaren Stellung der edelsten Ton¬ schöpfung verdrängen lassen. Nach dem Gottesdienste versammelte sich die ganze Menge, um sich von einem amtlichen Führer alles in der Kirche erklären zu lassen. Dieser war aber gleich bei den ersten Gräbern der Könige und Königinnen so überflüssig weitschweifig, daß ich mich vom Rummel trennte und — nur zu meinem Besten — auf eigene Faust weiterging. Wenn man von einigen geschmacklosen Denkmälern absteht, so stimmen alle Erinnerungen an die großen Mitglieder des englischen Volkes gut zu der würdigen Kirchenhalle; frei¬ lich fragt man sich bei manchem, wieso er einen solchen Ehrenplatz erhalten konnte! Glanz und Geschmack in der höchsten Entwicklung zeigt die Decke der Kapelle Hein¬ richs VII., so daß nach ihr alles grau und düster erscheint. Die Kirchen in London nehmen in mancher Beziehung, gerade was ihre Verwendung für Denkmäler großer Eng¬ länder betrifft, eine besondere Stellung ein. In diesem Punkte liegt auch die Stärke der St. Pauls-Kathedral«. Sie ist nach Roms Peterskirche und den Domen in Mai¬ land, Sevilla und Florenz das größte christliche Gotteshaus. Sie aber mit der Peterskirche in Rom zu vergleichen, ist kühn; denn ihr Inneres macht einen düsteren Eindruck, der nur am Schlüsse des Hauptschiffes mit dem prächtigen Hoch¬ altar und den vielfarbigen Mosaiken einem blendenden weicht. Eine Kirche ganz besonderer Art, aber in einem stillen Winkel verborgen, ist St. Bartholomews the Great, ein im Jahre 1123 gegründetes Gotteshaus mit einem von hohen 19 Miethäusern umschlossenen Friedhöfe, nach der Kapelle im Tower die älteste Kirche Londons. In den Hauptzügen ein normannischer Bau, entbehrt sie doch Erinnerungen an Gotik nicht. Die Lady Chapel ist von hervorragender Schönheit. Bei der Großzügigkeit des Bauwesens Londons er¬ wartet man gar nicht, daß es im „stillen Gäßchen" gelegene Sehenswürdigkeiten gibt; gerade abseits von den großen Straßen findet man solche verborgene Schönheiten der Baukunst und malerischer Anordnung, sei es im Aeußern oder im Innern des Hauses. Bei diesen Besuchen geht auch der Geschichtsfreund nicht leer aus. Im Charterhouse emp¬ fängt uns schon ein stimmungsvoller Hof; die geschnitzten Holzgeländer der Stiege, die Holztäfelung der alten Zimmer versetzt uns in die Zeit der Königin Elisabeth. Alles das ist der Rest eines 1371 auf einem Begräbnisplatze für an der Pest Verstorbene erbauten Kartäuserklosters, das später einer berühmten Knabenschule gewidmet wurde. Merkwür¬ digerweise liegt auch das Rathaus der City, die Guildhall, auf einem lauschigen Platze, dessen mit Efeu und wildem Wein bewachsene Häuser den Beschauer für die nichtssagende, geradezu geschmacklose Stirnseite des Hauses der Bürger entschädigen müssen. Im Vorraume sitzen ein junger und ein alter Invalide; der letztere ist freundlich bereit, mich ins Innere zu geleiten. Die Great Hall hat eine offene Decke, eine bei uns so selten verwendete bauliche Schönheit, reiche, bunte Glasfenster und altersgeschwärzte Holzschnitzereien. Sie wird nicht selten zu Festmahlen benützt und soll bei 1000 Menschen fassen können. So still liegt auch ein Block von Gebäuden, eigentlich ein ganzer Stadtteil, der Temple. Zwischen dem Victoria Embankment an dem linken Ufer der Themse und den belebtesten Straßen der City stehen in schmalen Gassen, eng aneinander gedrängt, große und kleine Häuser, deren Bau¬ art und grauschwarze Mauern uns verraten, daß sie schon Jahrhunderte geschaut haben. Ein Ordenshaus der Tempel- 20 ritter bildete bis ms 14. Jahrhundert den Mittelpunkt, an den sich neue Ansiedlungen lehnten. Später schlugen Rechts- schulen hier ihre Stätte auf, die hier heute noch neben Geschäfts- und Wohnräumen bestehen. Auch hier, inmitten der Stadt, wo Grund und Boden Unsummen kosten, fehlen große, wohlgepflegte Rasenplätze nicht, die sich in sanften Abstufungen bis zur Themse erstrecken. In diesem Garten läßt Shakespeare die roten und die weißen Rosen pflücken, die Sinnbilder der Häuser Lancaster und Dort. Die große Halle des Temple hat einen mächtigen offenen, gotischen geschnitzten Dachstuhl. Hier hat Königin Elisabeth nicht selten gespeist und hier hat sie an einem kleinen Tische das Todesurteil der Maria Stuart unterschrieben. In der Mitte des Temple liegt eine sehr sehenswürdige Kirche, St. Marys Church, ein normannischer Rundbau mit Chor, im ersteren Grabdenkmäler von Tempelrittern aus dem 12.. und 13. Jahrhundert, alles, dank einer mit großer Sorgfalt und Sachkenntnis durchgeführten Wiederherstellung, in vor¬ trefflichem Zustande. Wenn man diesen tiefstillen Stadtteil verläßt, dröhnt der betäubende Lärm der Fleet Street ge¬ radezu beleidigend an die Ohren und das hier am Nordost¬ ende des Strand befindliche Haus der Gerechtigkeit, Royal Courts of Justice, findet nicht die Aufmerksamkeit, dis einem so vornehmen gotischen Bau gebührte. Durch ein Gewirr von Straßen, die immer wieder neue Bilder bieten, führte mich mein Weg zum Tower. Da ich einen Tag mit freiem Eintritt getroffen hatte, so herrschte ein nicht gerade angenehmes Gedränge. So wenig mich die Einzelheiten berührten, so groß ist die Wirkung des Ganzen. Von Wall und Graben umgeben, liegt dieser türm- und zinnenreiche Stadtteil innerhalb grüner Anlagen und dem Ufer der Themse. Wenn dies auch das Düster der ehemali¬ gen Zitadelle und des Staatsgefängnisses einigermaßen mildert, so läßt es doch dem Altertümlichen eine große Wir- ZI kung. Alte Soldaten — das Volk nennt sie Beefeaters — in mittelalterlicher Kleidung versehen den Aufsichtsdienst. Auf freiem Rasenplan steht die Lafette, worauf der Leich¬ nam der Königin Viktoria nach Windsor gebracht wurde. - Von hier aus betritt man das Gebiet des White Tower, unter dessen beängstigend enger Treppe Richard III. seine beiden ermordeten Neffen begrub. Auf Schritt und Tritt wird man an Mord, blutige Grausamkeiten und Knechtun¬ gen erinnert, welche die mit der höchsten Gewalt ausgestat¬ teten Personen verübten. Die Geschichte des Towers ist mit Blut geschrieben und im Kalkbewurfe einsamer Turmzellen kann man heute Noch die eingekratzten Schriftzeichen der unglücklichen Opfer gekrönter Häupter lesen. Wie ein Hohn wirkt hier die trotz aller Düsterheit erhebend schöne nor¬ mannische St. Johns Chapel, sowie das Glitzern und Fun¬ keln der Edelsteine an den Kronen und anderen Zeichen königlicher Würde, die in vergitterten Schränken im Tower aufbewahrt werden. Die Waffensammlung enthält manch schönes Stück von künstlerischer oder geschichtlicher Bedeu¬ tung, Heute ist der Tower hauptsächlich Kaserne und Ar¬ senal, einer der wenigen Orte, wo man in England Sol¬ daten in größerer und geschlossener Menge sehen kann. Ich muß jetzt noch meines Besuches im Parlament ge¬ denken. Sowohl die der Westminster Abtei als auch die der Themse zugekehrte Langseite sind mit ihrem Reichtum an Verzierungen und Steinbildern in edler und vornehmer Schönheit gehalten, die gewiß noch mehr zur Geltung kämen, wenn das Riesengebäude nicht so tief in der Erde stäke. Das Innere ist mit einer berückenden Pracht ausgestattet: Holzgetäfel, Mosaik, Fresken, bunte Fenster, Steinbilder in Hülle und Fülle; der stilvolle Reichtum ist bis auf die Tiir- und Fensterbeschläge ausgedehnt. Der Sitzungssaal des Oberhauses, Home of Peers, schaut mit seinen rotledernen Sitzen ganz fröhlich drein im Vergleich zu den dunklen Eichenholzschnitzereien des Unterhauses, House of Commons. 22 König und Königin finden auf reichen Thronseffeln Platz. Durch die mit großen Steinbildern geschmückte St. Ste¬ phens Hall kommt man zur Westminster Hall. Seinerzeit war diese der Schauplatz von Krönungen und Thronent¬ setzungen; Staatsmänner wurden hier zu hohen Ehren ge¬ bracht, andere wieder zum Tode verurteilt. Heute ist sie ein kalter und kahler Raum, durch dessen Gittertor Zug¬ luft ungemütlich bläst. Die neu hergerichtete Krypta Sankt Stephens, heute Church of St. Mary's Undercrost, paßt mit ihrem gleißenden Gold und glänzenden Farben ganz und gar nicht zu dem öden, grauen Steine. Unter der Einwirkung des großstädtischen Lebens mit seinem Lärm, der unreinen Luft sehnt man sich immer nach Stunden der Ruhe im Grünen. Die zahlreichen An¬ lagen in den Straßen, die großen Parke im Mittelpunkte der Stadt sind wahre Oasen, die auch fleißig von allen Leuten benützt werden. Das Leben im Hyde Park gibt zu jeder Stunde des Tages neue Bilder. Doch was ist er mit allem seinem Ruhme in landschaftlicher Beziehung gegen unseren Wiener Prater! Ich will gar nicht sprechen von den diesem im weiteren Sinne des Wortes zugehörenden Auen mit ihren weltabgeschiedenen Plätzen unter großen mächtigen Bäumen, das läßt sich ja mit keinem Parke irgend einer Stadt vergleichen; ich will nur die großen Alleen usw. be¬ rücksichtigen, und da hält auch mit seinen bescheidensten Teilen der Prater den Wettbewerb mit dem Hyde Park aus. Dadurch setze ich die Bedeutung einer solchen Riesenanlage in der Mitte einer Sechsmillionenstadt gewiß nicht herunter und ich war auch entzückt von dem Anblicke der großen Welt, die sich zu Wagen und zu Pferde oder in leichtem Boote fröhlich bewegte oder in lebendiger Unterhaltung auf fein geschorenem Rasen ihren Tee schlürfte. Man hätte aber London nicht gesehen, wenn man nicht auch die Umgebung besuchte. Diese ist mit Stimmung und Bildetn das Grenz- und Uebergangsgebiet aus dem toll- 23 hastenden Leben der Stadt in die ländliche Ruhe und Ein¬ fachheit. Die zahlreichen Bahnen vermitteln den Verkehr mit Leichtigkeit; da es mir aber darum zu tun war, auch ein Stück englischen Landlebens kennen zu lernen, so mietete ich mir ein Automobil und fuhr eines Mittags nach Windsor. In einer halben Stunde war ich aus dem ärgsten Gewühle der inneren Stadt und alles begann ein anderes Gesicht zu bekommen. Große Scharen von Mädchen und Knaben kehren unter Führung ihrer Lehrer und Lehrerinnen blumenbeladen in großen Wagen von Ausflügen in die Stadt zurück. Auch außerhalb der Stadt sind die Straßen breit und asphaltiert, zu beiden Seiten Weißdornhecken, auf den Wiesen verein¬ zelte Häuschen, vor ihnen spielen rotbackige Kinder und mir fällt die herzige Geschichte von dem Papste des Mittelalters ein, der beim Empfange angelsächsischer Pilger die Kinder mit den Worten begrüßte: „i^on nnZsti, 8s<1 unesti!" Die Heranwachsende Jugend betreibt Ballspiel in allen Formen; die Eltern sitzen behaglich im Gärtchen vor dem Tore des Hauses. Mit einem Mal umfängt uns Dickens Humor der englischen Landstraße, der unter Tränen lacht und der uns das Menschenleben vorführt, wie es unveränderlich immer dasselbe ist. Flüßchen, die wir auf zierlichen Brücken über¬ setzen, geben uns Kunde von der Nachbarschaft der Themse, deren Windungen wir bald zu sehen bekommen und deren User reich an lieblichen Bildern ist. Nach einer einundein¬ viertelstündigen Fahrt haben wir Windsor, ein nettes Land¬ städtchen, erreicht. Es liegt am rechten Ufer der Themse gegenüber dem durch seine Erziehungsanstalten berühmten Eton. Alte Häuser und neue Bauten stehen einträchtig neben¬ einander, ohne Besonderes zu bieten. Unmittelbar an die gewundene Hauptstraße von Windsor schließt sich wohlge¬ pflegtes, von einer guten Straße durchquertes Flachland bis zur Gemarkung des Königsschlosses; dieses macht von jeder seiner freistehenden Seiten einen mächtigen Eindruck. Da ich im Kraftwagen gekommen war, durfte ich durch das 24 weite, aber niedrige Tor in den äußeren Schloßhof fahren, von dem man die dem militärischen und anderen Dienste gewidmeten Gebäude sehen kann. Gerade findet die Ab¬ lösung der Schloßwache statt. Die mit hohen Bärenmützen stolz einherschreitenden Rotröcke gehen dann paarweise ihre Posten beziehen. Ihre frei gewordenen Kameraden sah ich dann später mit schief aufs Ohr aufgesetzten Käppchen und dünnen Stöckchen in der Hand der Stadt Windsor zu¬ wandern. Die Geschichte des Bodens des Schlosses reicht bis in die ältesten Zeiten angelsächsischer Kenntnis. Im Laufe der Jahrhunderte standen hier Burgen und Schlösser, deren Mauern und Türme von der Königin Viktoria zum größten und stolzesten Herrschersitze der Erde vereinigt und umge¬ wandelt wurden. In dem Chor der St. Georges Chapel sind an den Wänden die Fahnen der Ritter vom Hosen¬ bandorden ausgesteckt, so daß sie Uber den reich geschnitzten Chorstühlen flattern. Hier erinnert das Marmorbild eines liegenden Jünglings an ein großes Trauerspiel, an den Tod des Prinzen „Lulu" im Zululande. Die Albert-Kapelle, wo der Prinzregent bestattet ist, darf man nicht betreten; sehr schad«, denn was man bei der Tür bescheiden stehend erschauen kann, läßt vermuten, daß hier Kunst und Pracht in seltener Eintracht die Höhe des besten Geschmackes er¬ reicht haben. Die Staatsgemächer unterscheiden sich von denen anderer Schlösser vor allem durch den verblüffenden Reichtum an den kostbarsten Oelgemälden der bedeutendsten Meister; so gibt es ein Rubens-Zimmer, einen Van Dyck- Saal; in anderen Zimmern sind Holbein, Rembrandt, Tizian, Andrea del Sarto und viele andere geschmackvoll vertreten. Den Boden des Waterloo-Chamber bedeckt ein in einem Stück gewobener Teppich von 30 Meter Länge und 14 Meter Breite. Mein Wagenführer, ein in der Gegend wohlbewander¬ ter Mann, führte mich nun auf neuen Wegen der Haupt- 25 stadt zu. Schon nach der ersten Biegung der Straße macht er mich auf ein wahrhaft großartiges Bild aufmerksam, das wir auf einer von zahlreichen weidenden Schafen bedeckten wohlgepflegten Wiese erschauen: In einem dichten Bestände alter Eichen ist ein breiter Verhau geschaffen, an dessen Schluß der Hauptturm des Schlosses Windsor wie in einem Rahmen steht. Hatte ich auf der Hinfahrt das Leben auf dem Flusse nur von der Ferne gesehen, so verschaffte mir die Rückfahrt dies aus der nächsten Nähe, und zwar mit desto größerer Bequemlichkeit, als die schmalen Abzweigun¬ gen Von der Landstraße wegen ihres weichen Bodens ein rasches Fahren nicht gestatten. Zahlreiche Ruderboote be¬ decken die Wasserfläche des Flusses, hie und da wie ein Ruhepunkt in der frisch bewegten Meng« ein oder das andere Segelschiff, meist nur von einem einsamen Schisser benützt, der sich mit geschicktem Zug an der Leine die schwach be¬ wegte Luft dienstbar macht. Das Ufer ist so niedrig, daß der glatt geschorene Rasen der Wiese beinahe in die Wasser¬ fläche übergeht. Im Gelände ist die Wiese der weitaus überwiegende Teil; nur selten sieht man einen Hain alter Bäume, die ein von Garten umgebenes zierliches Landhaus beschützen. Manchmal steht nahe am Ufer ein Zelt, dessen geringe Ausdehnung zeigt, daß es nur für einen Bewohner bestimmt ist; und es dient auch nur für einen Mann, der sich von der Körper und Geist zerstörenden Berufsarbeit der Großstadt in der Einsamkeit erholen will. In seinem Boote ist er flußaufwärts gefahren und hat an einer ein¬ ladenden Stelle sein Zelt aufgeschlagen; den Tag über rudert er und badet er und zu der Zeit, wo er sonst in London seine Kleidung wechselt, um sich dann an reich- besetzter Tafel niederzulassen, wärmt er hier auf ländlichem Boden mit Holzkohle seinen kleinen Feldherd, bereitet sich seine Eierspeise sowie sein Beefsteak und sitzt dann in der Dämmerung des milden Sommerabends, seine Pfeife rauchend, am Ufer des Flusses, dessen spielenden Mllen 26 er vielleicht manchen Wunsch seiner träumerischen Gedan¬ ken mitgibt, bis er in seinem Zelt die Ruhe der Nacht findet. In die Hauptstadt zurückgekehrt, wird er wieder das reiche gesellige Leben in vollen Zügen gemeßen, wenn nicht anders, so die vielen Schauspielhäuser und ihnen mehr oder weniger verwandte Unternehmungen, von denen es eine Unzahl gibt. Zur Sommerszeit ist der Spielplan in den großen Theatern gerade nicht besonders anziehend ge¬ wesen: Alte Rührstücke und Detektivkomödien. Desto reicher war die Abwechslung im Varisfs, Zirkus u. dgl., wo wirk¬ lich alles Mögliche geboten wird vom reizendsten Ballett augefangen bis zu halsbrecherischen Radfahrübungen; da¬ zwischen etwas Elefantenkunststücke und komische Einakter. Alles dies findet immer freundliche Anerkennung, begeistert aber klatscht alles Beifall, wenn Musikproduktionen ge¬ bracht werden, auch solche, die bei uns schon längst abgetan sind, z. V. Hammerspicl auf gestimmten Holzstücken u. dgl. Es ist merkwürdig, daß ein Volk, das auf dem Gebiete der Musik so wenig, fast nichts Selbständiges geleistet hat, so warm fühlt und es auch zum Ausdrucke bringt, wenn Musik ertönt, und zu seiner Ehre sei es gesagt — nicht nur bei der „Lustigen Witwe", sondern auch bei edlen Tonstücken; denn es gibt keinen besseren Hüter für alte deutsche Musik als England. Eine Woche war wie im Fluge vergangen, und ich mußte ernstlich an meine Abreise von London denken, wollte ich die mir noch verfügbare Zeit benützen, um noch gegen Norden zu fahren. Bei schwerem Abschied ist es am besten, man macht es schnell und so packte ich rasch ent¬ schlossen meinen Koffer und fuhr zur Paddington-Station, weil von dort gerade zur Nachmittagszeit ein guter Zug nach Oxford geht. Das ist auch bezeichnend für die ins Riesenhafte ausgedehnte Größe des Verkehres, daß man zu jeder Zeit nach allen Richtungen Züge zur Verfügung hat; nur muß man sich schon ein wenig in der Wahl des 27 betreffenden Bahnhofes auskennen. Die Bahnhöfe sind an¬ nähernd gleichmäßig in der ganzen Stadt verteilt und sind die Endpunkte der Privatgesellschaften gehörenden Linien, auf denen nun naturgemäß ein gesunder Wettbewerb be¬ trieben wird, der auch in den verschiedenen Fahrpreisen bis zu einem gewissen Grade zum Ausdrucke kommt. Die Wagen sind mit großer Bequemlichkeit ausgestattei, auch die der dritten Klasse; eine zweite ist nicht immer vorhan¬ den. In der ersten Klaffe fährt man besonders im Nicht¬ raucherabteil fast immer allein, wenigstens nie gedrängt; farbige Lichtbilder an den Wänden sorgen mit Vorführung berühmter englischer Landschaften für die Unterhaltung des Reisenden. Mit der Zulassung des Handgepäckes ist man in England sehr freigebig; größere Stücke gibt man ins Abteil des Zugführers, für Aufgabe und Weiterbeförderung großer Stücke muß man bis zu deren Unterbringung im Gepäckswaaen selbst sorgen; freilich hat man in der Regel nichts zu zahlen. Das Einsteigen in die ausnahmslos mit Seitengängen versehenen Wagen geschieht unmittelbar von der Höhe des Bahnsteiges. Die elektrische Beleuchtung ist ausnahmslos — ich spreche übrigens nur von den großen Eilzügen — - reichlich. Man steigt ein und aus, ohne be¬ rücksichtigt zu werden; auf jeder Haltestelle springt der Ticketcollector zum Reisenden, bittet um die Fahrkarte und macht einen aufmerksam, falls die nächste Haltestelle das Ziel des Reisenden ist. Diese Aufmerksamkeit ist ganz an¬ genehm, denn den ausgerufenen Namen versteht man nie und die Tafel mit diesem ist in einer in diesem praktischen Lands doppelt merkwürdigen Art so ungeschickt angebracht, daß man sie in Ruhe schwer findet, geschweige denn vom sausenden Eilzuge aus. Eine Unterbrechung der Fahrt be¬ darf keiner besonderen Meldung. Man steigt einfach aus und kann dann innerhalb desselben Tages einen anderen gleichartigen Zug benützen. Abfahrt und Ankunft eines Zuges vollzieht sich ohne Lärm. Vor der Abfahrt bläst der > s* 28 Zugführer aus seiner kleinen Pfeife einen sanften, eigen¬ tümlich verwaschenen und dadurch unschönen Ton. Da auf den großen Strecken überallhin gesonderte Wagen gehen, braucht man fast nie umzusteigen. Auffallend war mir, daß ich längs der Bahnstrecke nirgends Wächterhäuser sah. Die Bahnschranken stellen sich quer über die Geleise, wenn kein Zug verkehrt und wenden sich gegen die Fahrstraße, wenn diese gesperrt werden soll. Ueberall findet man rein und gut ausgestattete Bahnwirtschaften. Die Bahnstrecke von London nach Oxford ist vier¬ geleisig und Züge sausen nach beiden Richtungen. Themse¬ bilder und Wiesen mit Kühen auf der Weide und Pferde in Pferchen wechseln ab; weit draußen fahren wir an einem großen Militärlager vorüber, das mit seinen zahlreichen Zelten eher zierlich als kriegerisch aussieht. Unerwartet schnell, nämlich in ein und einer Viertelstunde, sind die 120 Kilo¬ meter zurückgelegt; der Zug hat zwischen London und Oxford nirgends gehalten. In dem warmen Lichte des Sommerabends war das Bild der Stadt mit ihren vielen spitzen Dächern und Tür¬ men von überraschender Schönheit. Dieser Eindruck vertieft sich, wenn man in der Stadt umherstreift. In den an den Grenzen dieser gelegenen Straßen kommt das englische Familienhaus so recht zum Ausdruck; ein kleines Gebäude reiht sich an das andere, mit Vorgärtchen, hinter dem aus dem Efeu und wilden Wein das Rot der Ziegelmauern kräftig hervorleuchtet. Bezeichnend ist es für diese Stu¬ dentenstadt, daß man überall Vermietung von Zimmern und kleinen Wohnungen angekündigt sieht. Den Mittelpunkt studentischen Lebens bilden di« verschiedenen Colleges, von denen es zahlreiche und in verschiedenen Abstufungen der Vornehmheit gibt. Christ College und Magdalen College sind nicht nur durch ihre Größe, sondern auch durch ehr¬ würdiges Alter und edle Bauart besonders hervorzuheben; das erstere mit seiner hohen mauerartigen Stirnseite, dem 29 großen Hofe und den Türmen gleicht mehr einer alten Ritterburg als der Heimstätte junger lernbeflissener Männer. Als ich im Verlaufe des Vormittags Oxford verließ, erschien die Wiesenlandschaft mit ihren in Reihen und Gruppen gepflanzten Eichen noch ärmer an Abwechslung, als es mittlerweile trüb und kühl geworden war. Weiße und gelbe Teichrosen schwimmen auf den Ausflüssen stehen¬ der Gewässer und sind die einzigen bemerkenswerten Blüten, denn die Wiesen sind vom weidenden Vieh kahl gefreßen und an den steilen Abhängen der Bahneinschnitte finden Schafgarbe und kleine Glockenblumen in nur kümmerlichen Formen kaum genügenden Platz. Heu und Stroh ist haus¬ hoch aufgeschichtet und zeltartig mit Leinwand bedeckt. Auch auf den kleinsten Wasserläufen bewegen sich träge Fracht¬ schiffe, von einem schweren Pferde gezogen, das gleichzeitig seinen Lenker trägt. Ganz absonderlich berührt es hier, gar nicht so selten schöne Zedern zu sehen. Ihre Herkunft erklärt sich von selbst in dem an diesen Bäumen reichen Parke des Schlosses Warwick, das ich nun besuchte. Es liegt bei dem Städtchen gleichen Namens an der Eisenbahn. Eine schwerfällige, alte Kutsche mit ebensolchem Rosselenker führte mich durch das an einer Anhöhe anmutig gelegene, an alten Häusern reiche Städtchen, mit dem manche Er¬ innerung an den Grafen Dudley Leicester, den Günstling der Königin Elisabeth, verknüpft ist, bis zu dem mit starker Mauer umgebenen Schloßgart-en. Das erste Stück der Zufahrtsstraße in diesem, die der Fremde nur zu Fuß be¬ treten darf, ist ein tiefer und breiter Einschnitt in dem weichen Sandstein des Hügels. Auf den wallartigen Begren¬ zungen dieses Weges thronen in stolzer Höhe uralte Bäume, die mit weit ausgreifenden Zweigen die Schlucht beschatten. Eine auffallend große Edelkastanie ist jetzt in später, aber voller Blüte, der kräftige Windstoß, der ihren Wipfel schüt¬ telt, streut blühende Büschel auf den Weg zu meinen Füßen, wie ein Gruß von Erinnerungen aus dem Süden im hohen 30 Norden. Nach einem großen Teppichgarten als Vorplatz kommt man durch ein schlankes Spttzbogentor in der Schloßmauer in den inneren Schloßplatz. Von hier genießt man den vollen Anblick des Hauptgebäudes; runde und vier¬ eckige Türme, unter denen der größte, Caesars Tower, ein Vollwerk alter kriegerischer Zeiten ist, unterbrechen die geraden Linien des Schlosses und der Parkmauer, über welche die breiten Wipfel riesiger Zedern ragen. In den Aesten dieser sitzen blaue und silberne Pfaue, die auch auf dem Rasenteppich mißtönig schreiend in großer Menge umherstelzen. Wir sind im ganzen nur vier Leute, die Einlaß be¬ gehren, der uns wie überall in England auf höfliches Er¬ suchen mit höflicher Bereitwilligkeit gewährt wird. Ein alter Diener des Hauses führt uns durch das Stammschloß derer, die es heute noch bewohnen. Warwick Castle soll das einzige alte Schloß Englands sein, das heute noch in seinen Grundformen unverändert von den Nachkommen des Er¬ bauers (im 13. Jahrhundert) bewohnt wird, was haupt¬ sächlich darauf zurückzufllhren ist, daß die Grafen von Warwick Cromwells Freunde waren und so ihr Hab und Gut vor der Zerstörung bewahrt blieb. Eine Menge von Kunstschätzen, in erster Linie Oelgemälde, finden in diesem Hause gastlichen Schutz und stimmungsvolle Verteilung in den einzelnen Räumen. In der kleinen gotischen, von Däm¬ merlicht durchwobenen Schloßkapelle hängt ein Heiligenbild umbrischer Schule, in dem großen Empfangssaale blicken die von Van Dyck gemalten Ahnen auf die festliche Runde; in dem Zimmer der Dame des Hauses tändeln die zier¬ lichen Gestalten Watteaus in sanft abgetönten Farben, und Holbeins Bilder aus der Zeit des Hoflebens Heinrichs VIII. erinnern mit ihren herben Zügen an den Ernst und unbe¬ rechenbaren Wechsel des Lebens. Die große Halle mit mächtigem, freitragendem Gebälke gäbe Raum für eine nicht kleine Kirche und ist reizend und mannigfaltig eingeteilt 31 durch Aufstellung von alten und neuen Möbeln, chinesischen Riesenvasen, in denen elektrische Bogenlampen verborgen sind, durch höchst geschmackvolle Anbringung von gestickten Teppichen aus Belgiens und Italiens besten Zeiten sowie solchen, die in den glühenden Farben des Morgenlandes prangen, in lauschige Teewinkel, große Musikräume, Lese¬ zimmer und malerische Erker mit alten Waffen und kost¬ barer Jagdbeute aus allen Gegenden der Erde. Von den Fenstern dieser Halle sieht man auf den Avon, der den Park durchströmt. In diesem birgt ein gesondert stehen¬ des Häuschen einen der größten Kunstschätze des klassischen Altertums, die sogenannte Warwick-Vase, die in Tivoli bei Rom in der Villa Hadrians gefunden und nach England gebracht worden war. Nach einer kleinen Rundfahrt an den Grenzen des Städtchens Warwick, in besten Nähe die Ruinen des uns durch Walter Scott so wohlbekannten Kenilworth liegen, kam ich gerade zu rechter Zeit, um noch einen Zug benützen zu können, der in der Richtung nach Stratford-on-Avon fährt. Die große Anzahl der Mietwagen auf dem kleinen Bahnhofe der räumlich so unbedeutenden Shakespeare-Stadt weist auf den Umfang des Fremdenverkehres hin, der für ihr Leben ausschlaggebend ist und der sich um alles dreht, was mit dem großen Dichter zusammenhängt. Wenn man den modernen Einspänner verlassen hat und durch das niedrige Tor den holzgetäfelten Gang der alten Taverne Golden Lion betritt, in dessen Mansardenstübchen ich mei¬ nen Koffer niederfetzte, so dauert es eine geraume Weile, bis man das noch vor wenig Augenblicken durchgemachte geräuschvolle Getriebe des Weltenverkehres vergißt. Die nächste Straßenecke weist uns mit großer Tafel den Weg zu Shakespeares Geburtshaus, vor dem eine end¬ lose Reihe von Wagen steht, vom einfachen Mietgefährte angefangen bis zur stolzen Karosse hoher Herrschaften; Automobil und Fahrrad vervollständigen das Bild des 32 Wallsahrtszuges. Wenn die Menschen auf der Straße auch noch so selbstbewußt aufgetreten waren, auf dem Estrich des unansehnlichen Hauses und aus der knarrenden Stiege bewegt sich jeder ehrfürchtig nur langsam und spricht leise. Wie ein Flüstern geht es durch die Hütte armer Leute, deren Sohn mit seinem Geiste und seiner Kunst Glück und Begeisterung spenden wird, solange Menschen leben. Im anstoßenden Hause ist eine Sammlung von Shakespeare- Erinnerungen untergebracht, unter denen mich am meisten die ältesten Ausgaben des „Kaufmanns von Venedig", des „Othello" und der Gedichte Shakespeares fesselten, die ersteren in tadellos erhaltenen Oktavbänden, Geschenke einer vor nicht langer Zeit unverheiratet und hochbetagt gestor¬ benen Bllrgerdame, die schon als junges Mädchen zu Ende des 18. Jahrhunderts Shakespeare-Erinnerungen sammelte. Daß diese Stätte schon seit langen Zeiten Verehrung genoß, kann man aus einer Tafel ersehen, die, mit Schrift¬ zeichen von den zu Anfang des 18. Jahrhunderts gebräuch¬ lichen Formen an dem Hause angebracht, aufmerksam machte, daß der Größten einer hier den ersten Atemzug getan. Walter Scott hat seinen Namen in eine Fenster¬ scheibe des ersten Stockes eingeritzt. Geburtshaus und Nach¬ barhaus sind nach rückwärts von einem Garten umschlossen, worin das englische Volk in sinniger Weise alle Bäume, Sträucher und Blumen gepflanzt hat, deren Shakespeare in seinen Werken Erwähnung tut. Auf dem Wege durch die Stadt begegnet man überall Erinnerungen an ihn, den Großen und Unvergleichlichen, sei es Häusern und Stätten, die mit seinem Leben unmittelbar Zusammenhängen, sei es, daß sie zu seinen Zeiten schon bestanden haben, so auch die Guild-Hall, ein altes Fachwerkhaus, in dem wandernde Schauspieler Vorstellungen gaben. Am Rande des Städt¬ chens liegt der Friedhof, dessen Gräberstellen durch üppiges Grün bedeckt und von großen Bäumen beschattet werden. In seiner Mitte steht die Kirche, worin Shakespeare 33 begraben ist. Das fahle Licht eines von Gewitterwolken bedeckten Himmels zitterte mit schwachem Scheine in dem unansehnlichen Gotteshause. Ein plötzlicher Gußregen ging strömend nieder, ich war der einzige Besucher, tiefe Andacht ergriff mich mit unwiderstehlicher Gewalt, als ich vor den Gräbern Shakespeares, seiner Frau und seiner Tochter stand, zu Füßen der trotz ihrer grellen Farben nicht un¬ schönen, hoch in der Mauer eingelassenen Büste. Am ent¬ gegengesetzten Ende des Kirchenschiffes ruht auf messingenem Tisch mit eisernen Ketten befestigt das alte Buch, in dem die Geburten, Eheschließungen und Todesfälle verzeichnet sind, darunter auch getreulich die Shakespeare betreffenden. Der Regen hatte aufgehört, die Sonne trat wieder ihre Herrschaft an, und jetzt kam nach der tiefsten Be¬ wegung der menschlichen Seele die nüchternste Wirklichkeit: Auf dem Friedhof überfiel mich eine Schar von Mücken und Fliegen, die aus den feuchten Gründen des Gräber¬ feldes aufgestiegen waren, und jetzt kam es mir erst in den Sinn, daß ich bis nun in England, auch in dem pserdereichcn London, niemals von Fliegen belästigt worden war. Der Regen war nur der Begleiter eines Gewitters gewesen, ein blauer Himmel und angenehme Kühle er¬ freute mich auf der Weiterfahrt nach Birmingham. Schon lange vor dieser Riesenstadt sieht man kleine Städte zier¬ licher Arbeiterhäuser; aus Birmingham selbst ragt ein Schlot neben dem anderen hervor, aber man merkt nur wenig Dunst und Rauch. Hier Wagenwechsel im Angesichte eines Verkehres, der jeder zahlenmäßigen Beurteilung spottet, es ist Samstag und man merkt es, daß alles die Stadt flieht und dem Freien zueilt. Auf der Weitersahrt nach Shrewsbury sehe ich wieder einmal kleinere Hügel in der Ferne; bei Wolverhampton fährt man lange durch Hügel von Schlacke und Asche, weit und breit ist nichts Grünes zu sehen, wir befinden uns im Black Country, wo 34 Kohle und Eisen alles verdrängt. Der Ort Wellington aber liegt auf einem Hügel, dem man den vulkanischen Ursprung deutlich ansieht. Es ist 7 Uhr abends, als ich in Shrewsbury den Zug verlasse. Bei der Einfahrt in die Stadt erinnert mich Darwins Denkmal daran, daß mich heute sein Geburtsort gastlich beherbergt. Beim Abendmale stört mich eine fast italienische Menge von Fliegen. Die Straßen sind von Men¬ schen vollgepfropft, so daß das Bummeln ungemütlich wird. Als ich in früher Morgenstunde die Straße wieder betrat, stand ihre Leere in auffallendem Gegensätze zu dem leben¬ digen Treiben am Abend vorher. Die Stille des sonnigen Sonntagmorgens war so recht dazu geschaffen, in den Gassen und Gäßchen der kleinen, alten Stadt alle die Reiz« efeu- und weinbewachsener Höfe, alter hochgiebeliger Häuser mit Riegelwänden und reichgefchnitztem altersschwar¬ zen Gebälke und niedliche Gartenanlagen zu genießen. Kein Wagenrollen unterbricht die Ruhe, die wenigen Menschen, denen man begegnet, tragen große Gebetbücher in der Hand; sie kommen aus der jenseits des Flusses gelegenen Kirche, zu welcher eine steil abfallende Straße führt. In einem von alten und neuen Bautrümmern erfüllten Nachbarfelde er¬ innert eine steinerne Kanzel an die ehemals hier gestandene, vom Erdboden verschwundene Abtei. Es ist auffallend, wie oft man in England und Schottland Ruinen von Kirchen und Klöstern begegnet, an denen man noch vollendete Bau¬ schönheit erkennen kann, so daß man klagend fragen muß, warum dies der Nachwelt nicht erhalten bleiben konnte. Auf dem Rückwege hat man die auf einem Hügel liegende, vom Severn umflossene Stadt vor sich; am Rande be¬ findet sich in einem ausgedehnten Parke eine Augenheil¬ anstalt, die sich eines guten Rufes erfreut. Als ich vormittag nach Chester weiterfuhr, war die Sonne wieder etwas gedeckt, eigentlich die richtige Luft¬ stimmung für das Flachland mit dem Schlachtfelde von 35 Shrewsbury, wo Heinrich IV. Percy, den Heißsporn, be¬ siegte. Nach sumpfiger Gegend erfreut mich ein reizendes Flußtal, das man auf hoher Brücke übersetzt; blühende Edelkastanien schmücken die Hügel. Durch einen an Kohle und Eisen reichen Bezirk über Ruabon komme ich an mein heutiges Ziel. Chester macht einen größeren Eindruck, als man bei einer Einwohnerzahl von 36.000 erwarten würde, und bietet in seinen wohlerhaltenen baulichen Erinnerungen aus der ältesten und aus alter Zeit so manches, was man in den Städten deutschen Mittelalters, wie Rothenburg ob der Tauber, Hildesheim und Nürnberg, nicht sehen kann. Es hat hier eben keine Brandfackeln des 30jährigen Krieges und keine sengenden Horden französischer Räuber gegeben und die Römer haben mit bewährter Breite und massiger Sicherheit gebaut, so daß ihre Mauern heute noch nach fast 2000 Jahren dem eilenden Fuße geschäftiger Menschen wohlerhaltene Bahn bietet. Die zwei Meter breite, fast vier Kilometer messende, aus rotem Sandstein bestehende Römermauer umschließt im Viereck das alte Chester und ist ein abwechslungsreicher Spaziergang: Häuser und Gär¬ ten zu Füßen, Fluß und weites Feld in der Ferne. Es war gegen die Mittagszeit; sonntäglich geputzte Kleinstädter wanderten denselben Weg wie ich, sie eifrig plaudernd, mich aber hielt die eigenartige Schönheit dieses Fleckes Erde vollgefangen. Nach einer kleinen Unterbrechung der Mauer kommt man auf offenes Feld, wo die berühmten Pferde¬ rennen abgehalten werden, am Ufer des rauschenden Flusses Dee stehen 800 Jahre alte Mühlen, zu deren Schwer¬ fälligkeit die luftige Hängebrücke einen niedlichen Gegensatz bildet. Das letzte Stück der Mauer führt zwischen und ober den Dächern eines recht alten Stadtteiles, in dessen Winkel¬ werk treupflegende Hände Blumen und Ziergewächse frisch erhalten. Einige Stufen hinab, und ich stehe wieder auf der breiten, modernen Straße vor meinem Gasthofe. Nun schlendere ich in die vom Market Croß senkrecht abzwei- 36 gendcn Gaffen, Eastgate-, Bridge- und Watergate Street, berühmt durch ihre an geschnitzten Holzverzierungen reichen Häuser aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Diese sind durch eine besondere Eigenart ausgezeichnet, die man sonst nir¬ gends findet: der erste Stock hat keine Zimmer, sondern ist gegen die Straße offen, und so kommen Räume zustande, die man mit den ebenerdigen Lauben der deutschen Städte vergleichen kann; die „Rows" von Chester übertreffen sie aber durch den Formenreichtum ihrer Holzbalken. Inmitten eines grünen Planes steht die große rote Steinkathedrale von Chester, von der die Geschichte der Stadt und die der Kunst so manches zu sagen weiß. In den ersten Nach¬ mittagsstunden fuhr ich nach Liverpool, das erstemal in England mit einem langsamen Zuge, es war ja Sonntag und an diesem ist auch der Eisenbahnverkehr auf ein Mindestmaß herabgedrückt. Ebenso leer wie der Zug ist die Landschaft; eintönige Wiesen, auf denen es aber von Birkhühnern wimmelt, ein neuer Anblick gegen die bis nur» gesehenen Rasenplätze, auf denen Dohlen in ungezählter Menge ihr Unwesen trieben. Vor Birkenhead kommt aber Leben in das Ganze, denn dieser Ort ist sozusagen eine Vorstadt von Liverpool, davon getrennt nur durch den hier fast 1'5 Kilometer breiten meerähnlich ausgedehnten Mersey, welcher der Hasen beider Städte ist, ein Bild drängenden Lebens mit seinem Gewimmel von Schiffen. Mit Stolz macht mich mein Gepäcksträger auf ein Kriegsschiff auf¬ merksam und gibt seinem völkischen Selbstbewußtsein Aus¬ druck, daß, wo «in Engländer ist, auch das Kanonenrohr der englischen Flotte die Rechte jenes schützen wird. Ein Teil des von mir benützten Zuges wurde in Birkenhead abgekuppelt und fuhr nun geradeaus in einem t '6 Kilometer langen Tunnel unter dem Flusse nach Liverpool; der an¬ dere Teil brachte mich bis hart an den Dampfer, der den Verkehr nach Liverpool besorgt. Ich meine, daß der Lan¬ dungshafen dieser Stadt auch erfahrenere Leute, als ich es 37 bin, in Staunen und Verwunderung versetzen muß. Er ist ein über 600 Meter langer schwimmender, von 200 eiser¬ nen Pontons getragener Kai, von dem 10 Brücken aufs Festland führen, alles so zweckentsprechend hergerichtet, daß trotz der unerschöpflichen Menschenmenge leine Unordnung, kein Gedränge entsteht. Freilich muß man auch damit rechnen, daß man es hier mit an Zucht und Ordnung ge¬ wohnten Leuten zu tun hat. Hackneys, Omnibusse, elek¬ trische Straßenbahn verkehren bis knapp ans Ufer und man wird so mit Schwung aus dem Eisenbahnwagen auf das Dampfschiff und von hier in den Mietwagen befördert, der mich, allerdings mit auffallend schlechtem Pferde auf dem steinernen Pflaster dahinraffelnd, ins Northwestern Hotel brachte, ein Fremdenhaus, dessen Stiege mit ihrem mächtigen Raume zu dem Schönsten gehört, was ich gesehen habe. Die letzten Stunden des angenehm kühlen Sommernach¬ mittages verwendete ich für eine Fahrt zu den Docks, Hafenanlagen von unermeßlicher Ausdehnung und so bedeu¬ tender Waffertiefe, daß die größten Schiffe, von denen ge¬ rade zwei zur weiten Fahrt bereit lagen, gefahrlos Platz finden. Speicher von 10 bis 12 Stockwerken Höhe sind in ganzen Reihen vorhanden; es machte mich schwindlig, als ich am folgenden Morgen sah, wie auf einem gang¬ artigen Vorsprung, der gerade für zwei Männer Platz genug bot, solche oben ganz frei standen und den Seilauf¬ zug mit schweren Säcken lenkten. Die Hafenstadt Liver¬ pools zeigt mit ihren Zinskasernen, Matrosenschenken, alten und jungen schmutzigen Weibern und verwahrlosten Kindern auf der Straße die düsteren Nachtseiten menschlichen Lebens. Die Dämmerung war nicht mehr ferne, als ich wieder beim Gasthofe ankam, der durch einen breiten Platz von der monumentalen St. Georges Hall getrennt ist. Dieses Haus, eines der größten der Erde, macht einen desto gebietenderen Eindruck, als es auf einem mit Gartenanlagen und Stein¬ bildnissen gezierten Hügel steht. An seiner rückwärtigen 38 Seite, zu Füßen einer von hohen Säulen getragenen Halle, hatten sich drei Menschengruppen getrennt angesammelt. Die mittlere, kleinste, scharte sich um einen barhäuptigen alten Mann, dessen faltenreiches Gesicht von einem großen langen Bart umrahmt war. Aufgeregt, mit großen Schritten auf und ab gehend, hielt er an seine Hörer eine fromme Rede. In der Gruppe zur Linken wurden fromme Lieder gesun¬ gen, dasselbe in der Gruppe zur Rechten, hier aber mit der Unterstützung einer bebrillten, ältlichen Dame, die mit einem kecken Hütlein auf dem Kopse an einem mit Rädern ver¬ sehenen Harmonium die frommen Weisen begleitete. Die Töne ihrer dünnen, krähenden Stimme vertrug der mittler¬ weile unangenehm gewordene Sturm, der mir den weiteren Aufenthalt auf der Gasse so wenig freundlich machte, daß ich unter das Dach meines gastlichen Hauses flüchtete. Aber auch hier hatte ich nicht Ruhe, denn der Sturm brauste und rüttelte an den Dächern während der ganzen Nacht wie die Bora in Triest. Er hatte aber das Gute, daß er den Himmel rein fegte. Des Morgens schien die Helle Sonne, als ich durch die Straßen Liverpools schlenderte, das unter dem Zeichen einer Ausstellung stand, einer Jubelfeier zur Erinnerung an seine vor sieben Jahrhunderten erfolgte Gründung: In allen Schauläden nur Bücher, Bilder und Ansichtskarten, die darauf Bezug haben. Und nun geht es nordwärts nach Schottland! Das erste Stück Weges ist nichtssagend und leer. Wir fahren durch Preston mit seinem riesengroßen Bahnhofe, dann erreichen wir den Rand der Westküste, das Meer braust schmutzig schäumend wie Gletscherwasser. Wir befin¬ den uns am Südrande des Lake Districts, einer wegen ihrer Schönheit in Wort und Bild vielgepriesenen Land¬ schaft Nordenglands, deren sanftgeschwungene Hügel recht niedlich aussehen. Trotz des Wasserreichtums, der von hier dem Innern des Landes zuströmt, tritt die Eiche in den Hintergrund und wird von der Kiefer verdrängt. Von allen 39 Seiten stürzen die Gewässer herab. Die früher stark an¬ steigende Bahnstrecke fällt nun rasch ab. In großen Eichen¬ waldungen liegen wie Inseln große Wiesen, die sich durch ihre an unseren Karst erinnernden, aus aufgeschichteten Steinen bestehenden Grenzmauern von ihren Schwestern im südlichen England unterscheiden, welche immer mit Draht¬ gittern oder Holzzäunen versehen sind. Einsam gelegene kleine Schlößchen sind hier die einzigen Wohnstätten, denn nirgends ist ein Dorf oder dergl. zu sehen. Der Zug fährt wie rasend; er ist glänzend ausgestattet, reichliche elektrische Beleuchtung, elektrische Klingel aus jedem Abteil zum Zugs- fiihrer, Seitengänge, so breit, daß Kinder bequem spielen können, vermitteln den Verkehr zum Speisewagen. Im letzten Schimmer des Hochsommernachmittag-s komme ich nach Glasgow. Das Central Hotel ist ein wahrer Palast, der reichgetäfelte Speisesaal geht durch zwei Stockwerke, dessen künstlerisch geschmückte Decke von acht monolithischen Riesensäulen getragen wird. Mein Abendspaziergang brachte mir von der Stadt nur einen nüchternen Eindruck, der Geschäftsverkehr sehr groß auf Straßen, die sich keines¬ wegs durch besondere Reinlichkeit auszeichnen. Der herrliche Sonnenuntergang versprach mir schönes Wetter, und ich stand am anderen Morgen um 5 Uhr auf, um das Dampfschiff zur Fahrt nach Oban und weiter zur Fingalshöhle zu erreichen. Der Abschiedsgruß des jungen Fräuleins am Zahlschalter des Hotels war die erste und letzte Freundlichkeit dieses Tages, an dem mich mein Reise- glück im Stiche ließ und mir Mißgeschick, das denkbar schlechteste Wetter brachte. Dichter Nebel erfüllte die Straßen Glasgows, als ich zum Hafen fuhr, wo die Columba, ein nettes Schiff, lag. Das Sternengefunkel am blauen Himmel des verflossenen Abends hatte mich so sicher ge¬ macht, daß ich nicht im entferntesten daran dachte, dem häßlichen Nebel eine üble Bedeutung beizulegen und ihn mit seinem Laibacher Bruder in eine Reihe stellte. Leider 40 hatte ich Unrecht! Denn noch vor Abgang des Schiffes begann es leicht zu tröpfeln, was aber niemanden abhielt, am Verdeck zu bleiben, um all das Großartige zu sehen, was sich dem Auge darbot, als sich der Dampfer auf den sich dahin wälzenden schmutzigen Wässern des Clyde zwi¬ schen, einer Unzahl von Schiffen hindurchdrängte: Rechts und links ausgedehnte Schiffswerften, ein Schiffgerippe neben dem anderen, ich zählte nicht weniger als neun riesen¬ große Überseeische Dampfer. Zur Rechten lag im Nebel ein ungeschlachtes Ungetüm, auf das alle Finger wiesen, die Lusitania, die damals zu ihrer ersten so berühmt ge¬ wordenen Fahrt ausgerüstet wurde. Während links nie¬ driges Flachland reizlos dahinzieht, erhebt sich rechts ein mäßig hoher Felsenzug, über den vom Wind getrieben dicke Nebelschwaden dahineilen; von Zeit zu Zeit zerreißen diese und lassen den Blick auf kleine Häuschen und Schlö߬ chen frei. Ein eisiger Wind bläst von Norden und peitscht uns den strömenden Regen ins Gesicht. Matrosen bringen diensteifrig große Stücke wasserdichten Stoffes zum Bedecken der Beine, und die Kotzen der Schiffsbediensteten sind bald eifrig begehrte Wärmespender. Aber auch die hartnäckigsten Fischer und Angler — an ihrer Ausrüstung als solche kenntlich — ergreifen schließlich die Flucht, und alles eilt in den großen Schiffssaal, wo außer den zahlreichen Damen eine Gruppe alter Herren steht, welche die aufregenden Straßenereignisse in Dublin lebhaft besprechen. Es war mittlerweile so eisig kalt geworden, daß ich an «ine Fort¬ setzung der Seefahrt nicht zu denken wagte. In Greenock, dem letzten Ort, an dem sich Eisenbahn und Dampfer be¬ rühren, stieg ich ans Land, um nach Glasgow zurück und von hier nach Edinburgh zu fahren. Ein glücklicher Zufall ließ mich einen Verschleißladen deutscher Zeitungen erblicken und zu meinem gewiß berechtigten Erstaunen erhielt ich hier in Glasgow am Dienstag früh um 9 Uhr das Morgen - blatt der „Neuen Freien Presse" vom Sonntag, also nur 50 Stunden später als beim Frühstück in Wien! 41 Die Landschaft zwischen den beiden bedeutendsten Städten Schottlands ist recht einfach; Wiesen, kleiner Wald und niedrige Hügel wechseln hier miteinander ab. Eine wahrhaft leuchtende Stelle war eine die Bahnstrecke begren¬ zende Wand, auf der roter Fingerhut üppig wucherte. Edinburgh macht von vorneherein einen mächtigen Eindruck, denn in seltener Weise ist Schönheit, Pracht und Vornehmheit miteinander verbunden, Kunst und Geschmack des Menschen haben sich vollendet dem angepaßt, was die Natur als die größte Meisterin hier geschaffen hat. Zwischen einigen kleinen und einer großen Erderhebung verlaufen senkrecht aufeinander breite Straßen, deren Schönheit das Bergauf und Bergab nicht schadet. Mein Royal Hotel liegt in der Princeß Street, einer der Hauptstraßen. Die erste Frage des Lohndieners war, ob ich den Kamin meines Zimmers geheizt wünsche! Also ein überall fühlbarer Wettersturz, der im August ans Heizen denken ließ! Bei klarem Himmel fegte ein eisiger Wind durch die Straßen, so daß die Sonne gar nicht zu ihrem Rechte kommen konnte. Beim ersten Schritte aus dem Hause blieb ich gebannt stehen: Gegenüber erhebt sich inmitten einer rei¬ zenden Parkanlage Walter Scotts Standbild. Ein mäch¬ tiger gotischer Steinbau mit aller Zierlichkeit und aller Kraft dieser Bauart schützt das marmorne Standbild des größten schottischen Dichters, der nicht nur seinem Volke gesungen, sondern auch uns Fremden viele genußreiche Stunden bereitet hat. Neben sich seinen schottischen Hund, blickt er milde sinnend in die Ferne. Ich mietete mir jetzt einen Hackney und hatte das Glück, einen wirklich klugen und bewanderten Kutscher gefunden zu haben, der mich durch die Luke des Wagendaches eifrig auf alle Sehenswürdigkeiten aufmerksam machte. Durch die drei Hauptstraßen der Stadt, Queen-, Princeß- und George- Street, ging's zum Castle. Auf einem hohen Basalthügel, der nur nach einer Seite sanft, nach allen anderen aber so >4 42 - senkrecht absällt, daß kaum hie und da dürftige Pftanzen in schwindelnder Höhe bescheidenen Platz gefunden haben, gebietet ein malerisches Schloß, der alte Sitz der schot¬ tischen Könige. Bor ihm hat ein mäßig großer Exerzier¬ platz gerade noch Raum gefunden. Sein mit Zugbrücke, Fallgatter und Festungsgraben ausgestattetes Tor ist der Verkehrsweg für die schottischen Soldaten, die hier oben in dem zur Kaserne umgewandelten Gebäude untergebracht sind. Auf breitem, gewundenem Wege kommt man zu einer kleinen Plattform, wo eine wunderbare Aussicht auf die Stadt, das ferne Meer und die in graublaues Licht ge¬ tauchten Berge des Hochlandes fesselt. Eine Kanone nimmt einen großen Teil des Raumes ein, der nach der anderen Seite von einem niederen düsteren Steinbau begrenzt ist, St. Margareths Chapel, einem Heiligtum aus dem 12. Jahrhundert. Im Hauptgebäude des Schloßes werden die schottischen Kronjuwelen aufbewahrt. In der weiten, von einer offenen hölzernen Decke überdachten Halle brennt helloderndes Kaminfeuer; wohltuende Wärme durchzieht den Raum und man kann gemütlich die an Erinnerungen reichen Waffen und Rüstungen der schottischen Vergangen¬ heit besichtigen. Von hier aus setzte ich die Fahrt durch die Stadt fort. Man kann sich nicht bald einen größeren Unterschied denken, als den zwischen den neuen Straßen der Hauptstadt und denen der alten: enge, steile, holprige Straßen mit Häusern von zehn bis zwölf Stockwerken, die aber trotzdem keine besondere Höhe erreichen, die niedrigen Fenster umrahmt von schnörkeligem Gebälke, manches mit Sprüchen und figurenreichen Holzschnitzereien geziert. In einem solchen, mit niedlichem Erker gezierten soll John Knox gewohnt haben. Mein Kutscher hält vor einer turmgekrönten Kirche und fordert mich dringendst auf, es nicht zu versäumen, St. Giles Church zu besichtigen. Sie stammt aus dem 14. Jahrhundert und ist tatsächlich mit ihren schönen Stein- 43 türen, massigen Säulen, ihrer geschnitzten Kanzel und ihren Kirchenstühlen sehenswert. Mein nächster Besuch galt Holyrood Palace, dem Schlöffe der schottischen König«. In seiner heutigen Gestalt stammt es aus dem 17. Jahrhundert. Von seiner Lage muß man bezaubert sein; die Zinnenkrönung hebt sich von einem gras¬ bedeckten hohen Hügel scharf ab, der mich lebhaft an den Monte Pelegrino Palermos erinnerte, aber durch seine teppichartige Grasbedeckung ins Sanfte umgewandelt. Auf dem weiten Platze vor dem Schlöffe hält eine Unzahl von Fuhrwerken aller Art, und in den breiten Gängen strömt ununterbrochen eine große Menschenmenge, die drängend und zwängend nur mit Mühe in den inneren Gemächern Platz findet, wo sich alles staut, denn jedermann oder, besser gesagt, jede Dame kann sich nicht sattsehen an den Zimmern, die Maria Stuart bewohnte. Zahlreiche Erinnerungen an diese unglückliche Frau, besonders aber die Gedenktafel, wo der Sänger Rizzio ermordet wurde, entlocken unausgesetzt laute Worte des Bedauerns für „poor und „poor tZuesir". An das Schloß grenzen die Ruinen einer früh- gotischen Kirche, Holyrood-Abbey, welche David I. zu An¬ fang des 12. Jahrhunderts in dankbarer Erinnerung er¬ richtete, da di« wunderbare Erscheinung eines leuchtenden Kreuzes einen wütenden Hirsch von dem Könige todbrin¬ gender Verfolgung abhielt. Die Rückfahrt von Holyrood erfolgte nach der anderen Seite auf einer breiten, von elektrischer Bahn belebten Straße, von der aus man auf sanft ansteigendem Wege Calton Hill erreicht, einen mit schönen Anlagen bedeckten Hügel, auf dem sich ein Denkmal Nelsons und «ine kleine Sternwart« befindet. Zur Erinnerung an die Schlacht von Waterloo haben die Bürger Edinburghs hier ein National- Denkmal zu errichten begonnen, das aber nicht vollendet wurde, weil die Hinaufschaffung schon der wenigen Riesen¬ säulen Unsummen verschlang, ein Zeichen der „stolzen 44 Armut" Edinburghs! Von hier genießt man eine herrliche Aussicht nach allen Seiten, besonders bemerkenswert bis zum Firth of Forth, von dessen Riesenbrücke man einen Bogen ganz deutlich sieht. Auf dem Rückwege zur Stadt fuhren wir an dem erst vor kurzem eröffneten Museum vorüber, dessen Besuch mir mein Kutscher nicht erlassen konnte. Er hatte ganz recht! Das große Haus birgt eine Zusammenstellung von allem Schönen und Sehenswerten der Erde in trefflichen Nach¬ bildungen. Einzig ist der Saal mit Schiffs- und Ma- schincnmodellen, Darstellungen des Bergbaues, der Glas¬ macherkunst, der L-Strahlen usw. Ein Druck auf einen Knopf setzt die Maschinen elektrisch in Bewegung und man kann sie in voller Tätigkeit sehen. Die letzten Stunden des Nachmittags verbrachte ich in der National-Gallery, wo schöne Bilder aller Schulen den Besucher fesseln. Ich machte es dann den anderen Menschen nach, die trotz heftigen Windes die von der Abendsonne beschienenen Straßen durchfluteten. Ueberall, wohin man sieht, in den Auslagen und an den Menschen, alles das, was wir schottisch nennen, in den verschiedensten Abwechslungen der bekannten Farben: Kleider, Tücher, Mützen, Handschuhe usw. Ganze Köpfe von Heidschnucken oder ihre gewundenen Hörner finden sich, zu Tafelaufsätzen, Beleuchtungsgegenständen und dergl. verarbeitet, in den Auslagen der Goldarbeiter, die Augen der Tiere durch Edel¬ steine ersetzt. Die Form der schottischen Tasche, welche die echten Schotten ständig tragen wie unsere Jäger den Muff, findet man in allen möglichen Abwechslungen, von der kleinsten Geldbörse angefangen. Stöcke aus derben Distel¬ stauden erinnern an die Wappenblume Schottlands. Von Knaben sieht man ein« große Menge in schottischer Tracht, ebenso Highlander-Soldaten, Männer dagegen nur selten, und die sind fast immer alte Jahrgänge; offenbar nimmt auch hier das Tragen der Volkstrachten ab. Die Frauen 45 sind meist groß und kräftig gebaut, sie haben mich durch Schönheit des Wuchses und Anmut der Bewegung beinahe an die Wienerin erinnert; sie unterscheiden sich vorteilhaft von denen Glasgows, die von schwererem Schlage sind. In den Straßen Edinburghs treiben sich massenhaft Gassen¬ buben herum, viele davon mit blondem Haar und blauen Augen, obwohl im ganzen in der Bevölkerung die braune Farbe vorzuherrschen scheint. Nach einer von wahnsinnigem Sturm durchtobten Nacht begrüßte mich ein heiterer, aber kühler Morgen, an dem ich'frohgemut dem Norden Schottlands, nach Jnver- neß als erstem Halt, zufuhr. Zu den mit den Geräten für Tennies und Golf ausgerüsteten Reisenden kommen jetzt die Angler mit ihren langen Stöcken und den um den Hut gewundenen Lachsfäden. Der übrigens unbedeutenden Landschaft schenkt man gar keine Aufmerksamkeit, weil man in der größten Spannung dem Wunder der Erde, der Brücke über den Firth os Forth, entgegensieht. Diese ist mehr als zwei Kilometer lang und erhebt sich 110 Meter über dem Spiegel des grünfchimmernden Meeres, auf das man aus dem Eiseubahnzuge mit heimlichem Grauen blickt, ob¬ wohl die Eisenbestandteile der Brücke, dick wie die Schlote eines Ozeandampfers, sehr beruhigend aussehen. Ich will nur noch anführen, daß ihr Bau fast 8 Jahre dauerte und 72 Millionen Kronen verbraucht hat. Nach der Ueberschreitung der Meeresbucht ändert sich die Landschaft angenehm. Zwischen langgestreckten niedrigen Hügeln liegt ein großer See, der Loch Leven, mit braun¬ bewachsenen großen und kleinen Inseln; am Rande der Wälder grünt in üppiger Fülle hohes Farnkraut, von dem sich Heidekraut, Ginster und Glockenblumen lieblich ab¬ heben. In Eichenhainen liegen Ortschaften und die kleinen Schlößchen sind wohl die Sitze jener, denen die sorgfältig eingehegten Wildparke gehören. Die der nördlichen Lage ent¬ sprechend kümmerlichen Getreidefelder werden von Männern 46 in Sportkleidung besorgt, Bauerntrachten in unserem Sinne habe ich in England nirgends gesehen, ebenso fehlen weib¬ liche Feldarbeiter fast vollkommen. Alles das kann ich prächtig sehen, denn ich sitze in einem nach allen Seiten mit großen Fenstern ausgestatteten Abteil an der Stirnseite des Wagens. Bei Murthly fahren wir zu Füßen von Birnam Hill, dessen Wald zu Macbeth wanderte. In sanfter Steigung fährt die eingeleisige Bahn durch den Engpaß von Killiecrankie. Man könnte sich fast an die Wischer Klause erinnern lassen; doch fehlen hier, die mächtigen Berge der Julischen Alpen im Hintergründe. Nachdem wir noch an einer mäßig hohen Bergwand vorübergekommen sind, von der ein schäumender Gießbach mit schmutzigem Wasser — wie alle Wässer dieser Gegend — tosend niederstürzt, fahren wir nun während mehr als einer Stunde durch das Gebiet eines Hochmoores. Kaum merkliche Erhebungen un¬ terbrechen die von ferne gleichmäßig braune Fläche, näher gekommen, sieht man erst das herrliche Rot und Weiß des Heidekrautes. Dieses, Ginster und Farnkraut sind hier so hoch gewachsen, daß die gewiß nicht kleinen Heidschnucken nur mit ihren weißen Rücken hervorragen, wenn sie, durch das Dickicht drängend, zu den verstreuten Wiesenplätzen ziehen. Auf diesen sieht man dann außer wenigen Kühen derbe langmähnige Pferde und stämmige Ponies. Nach dem Loch Garry, der von niedrigen Hügeln mit Schotte rabhängen umschlossen ist, erreichen wir den höchsten Punkt der Bahn, 461 Meter, also eine verhältnismäßig geringe Höhe, und doch glänzen in einer Waldesmulde des Berges zwei große Schneeflecken, von der Sonne beschienen. Hier steht auch ganz einsam eine aus Granit gebaute Whisky-Brennerei. Die Gegend wird wieder baumreicher, mit besonderem Hervortreten der Erle, zu deren Füßen riesige Flächen von Heidel- und Preiselbeeren ausgebreitet sind. Die soeben verlassenen Berge sind nun noch von der anderen Seite zu sehen, die ein geradezu karstartiges Bild - ^7 bietet. Kingussie, eine der wenigen Ortschaften, an denen man vorüberkommt, liegt im anmutigen Tale der Spey, noch besonders geziert durch eine malerische Abtei-Ruine. Am kleinen Bahnhof eine Menge von Menschen, Damen mit schönen Schäferspitzen, Jäger mit kräftigen Otter- Hunden. Wie ich von einem hier eingestiegenen jungen Schotten hörte, ist die ganze Gegend von Sommerfrischlern besetzt, die sich die Zeit mit Jagd und Fischfang vertreiben. Die Seen — Lochs — sind im Besitze einzelner Persön¬ lichkeiten, die das Gelände an Liebhaber vermieten, und da um solche auf nur wenige Tage beschränkte Pachtung große Nachfrage herrscht, so nimmt der Besitzer während der „Season" hübsch viel Geld ein. Mit der Bahnstrecke läuft eine vortreffliche Straße, auf deren Windungen ich während der ganzen Fahrt ein junges Paar im Automobil verfolgen konnte. Die Kühle ist mittlerweile so arg gewor¬ den, daß die Dame sich immer mehr in Pelzwerk hüllt und ich die Fenster meines Wagens schließe. Kurz vor Jnverneß hat man das letzte landschaftlich bedeutende Bild dieser Fahrt, den Anblick der weitausholenden Bucht von Jnverneß, Beauly Firth, auf deren Spiegel zahlreiche Segel¬ schiffe schaukeln. Es war 2 Uhr, als ich vom unscheinbaren Bahnhof aus dem in der Mhe gelegenen Caledonian Hotel zuschritt, einem einfach aussehenden, netten, gemütlichen Hause mit großer Halle. Die Straßen sind voll von Frem¬ den, jedermann mit einem Sträußchen von weißem Heide¬ kraut geschmückt, die Damen tragen es am Busen oder am Gürtel, die Männer auf der Kopfbedeckung; alles befindet sich in fröhlicher, ja ausgelassener Stimmung, ein Ton, der mir in diesem Lande so auffiel, daß ich mich erkundigte, ob irgend eine Festlichkeit abgehalten werde, was aber ver¬ neint, und nur gesagt wurde, jetzt sei in Großbritannien für alle Welt die Reisezeit, alles ströme den Hochlanden zu, die man am besten vom „rosenroten" Jnverneß aus besuchen könne. In den Kaufläden herrscht Gedränge; man 48 muß froh sein, wenn man überhaupt bedient werden kann; Ansichtskarten werden an allen möglichen und unmöglichen Orten geschrieben, auf dem Rakett, oder auf der Mauer eines Hauses, oder auf der Brüstung eines Brunnens, oder selbst auf dem Rasen einer Anlage. Sehr zahlreich sind die Läden, in denen Schokolade verkauft wird. Jnverneß scheint überhaupt die Stadt ausgesuchter Eßgeniisse zu sein, denn außer den zahlreichen Handlungen, wo Hasen — auf¬ fallend kleine — Rebhühner — auffallend große — und gewöhnliche Seefische feilgeboten werden, gibt es in allen Straßen Läden, in denen riesengroße Lachse, Austern, Kognak und Whisky zu haben sind. Auch hier im Norden kann man sich frischer Früchte aus den Kolonien erfreuen, alles reinlich und nett hergerichtet. Die kleine, einladend saubere Stadt von über 20.000 Einwohnern ist bald durch¬ wandert; vor der Town Hall, einem Baue der jüngsten Zeit aus rotem Sandstein, steht ein aus ebensolchem Stein gemachter Auslaufbrunnen, der das Wahrzeichen von Jn¬ verneß birgt, den Clach-na-Cudden, Kübelstein, der mir nur als solcher genannt wurde, ohne daß ich jemanden gefunden hätte, der die damit zusammenhängende Sage oder dergl. gekannt hätte. Auf dem Wege zum „Schloß" von Jnverneß fesselte mich eine Tafel mit der Inschrift „Mu¬ seum". Dieses als solches ist eine Trödelbud«, abgesehen von einigen mir noch unbekannt gewesenen keltischen Alter¬ tümern, aber gute Bildung oder, besser gesagt, den Durst nach Wissen habe ich hier kennen gelernt: In zwei großen Sälen liegen Zeitungen aller Art zu unentgeltlichem Ge¬ brauche auf; trotz der verlockenden Schönheit des sonnen¬ geklärten Sommertages war kein Plätzchen frei und unter den Lesern waren alle Stände und Altersstufen vertreten. Nach wenigen Schritten befand ich mich auf der Plattform des niedrigen Hügels beim „Schloß", welches heute Aemter und Gefangene beherbergt, im schneidenden Gegensatz zu seiner hohen Vergangenheit, denn hier stand 49 Macbeths Schloß, in dem König Duncan ermordet wurde. Die Aussicht von hier ist lieblich, auf die nette Stadt mit grünen Anlagen, auf das Meer und die Neß, zu deren tiefem Wstfser die Möven zu Besuch lommen. Zur Zeit des Sonnenunterganges war der Firth of Jnverneß ein Bild tiefer Stimmung, und am späten Abend genoß ich vom Fenster meines Zimmers mit innigem Behagen den sternenklaren Himmel, der sich über die nun stillgewordene Stadt wölbte. So war es eine grausame Enttäuschung, als ich am frühesten Morgen alles grau in grau sah. Es nieselt ganz fein, die Steine des Bürger¬ steiges sind mit einer dünnen Kotschichte bedeckt, die mich recht ärgert. Ich benütze gleich den ersten Zug, der mich an die Nordspitze von Schottland bringen kann. Ich sitze allein in meinem großen Abteil mit großen Spiegelscheiben, bequemer Sitz und ein nettes Tischchen gestatten, daß ich mich gemütlich und häuslich niederlasse. .Wir fahren über den Caledonian Canal, in dem ein in ein schwimmendes Wohnhaus umgewandelter großer Schiffsrumpf liegt. Schwere Wölken hängen herunter bis zur trägen Wasserfläche des Beauly Firth; weiße Möven kreisen über ihr und hochstelzige Wasservögel patschen im Schlamme des Ufers. Das Ackerland ist mager, das Ge¬ treide kümmerlich, die Rüb« blickt kaum aus der Erde her¬ vor, das Gras ist kurz und struppig. Weit und breit ist kein Schiff zu sehen. Das Licht der Morgensonne erhellt das düstere Bild nur dürftig. Jenseits des Firth sieht man in weiter Ferne eine Hügelkette, deren unteren Teil grüne Wiesen, deren Kamm schwarze Wälder bedecken. Außer den mit Wellblech bedachten und mit wilden Rosen bewach¬ senen bescheidenen Bahngebäuden ist weit und breit kein Haus zu sehen. Wir kommen nun zum Cromarty Firth, dessen nordöstliches Ufer von tiefen und steilen Schluchten durchklüftete Felshügel zeigt. Endlich kommt etwas Leben: Auf den kleinen Wiesen weiden zottige Schafe, gehütet von 50 langhaarigen Hunden und Schäfern mit langem Haken stock und großem Schlapphut. Nette Steinhäuser stehen in Gruppen beisammen, die kurzgeschorenen Gebüsche am Rande der Wege sind von blühendem Geißblatt umrankt und hohe, wohlgewachsene Thujen machen sich hier im hohen Norden doppelt ausfallend. Auf der regungslosen Wasser¬ fläche gleiten Segelschiffe, Ruderboote und ein Dampfer dahin. Wir umfahren noch einige Firths, von denen mancher sich wie eine Riesenzunge ins Innere des Landes erstreckt und mehr wie ein Binnensee aussieht. Trotz der immer siegreicher werdenden Sonne ist es bitterkalt, an ein Oeffnen der Fenster ist gar nicht zu denken: in dem Schlößchen, an dem wir vorüberfahren, raucht es aus allen Schornsteinen, also man heizt in allen Räumen des Hauses. Nach einem großen Dorfe an der Küste, Golpsie mit Namen, hält der Zug bei einem reizen¬ den Waldhäuschen; Körbe und Kisten werden ausgeladen und von herrschaftlichen Dienern übernommen. Der Zug¬ führer, der mir auf der Fahrt manche freundliche Aufmerk¬ samkeit erwies, sagte mir, das sei eine dem Herzog von Sutherland gehörende Haltestelle, von der aus er zu seinem Besitze Dunrobin Castle gelangt. Jetzt öffnet sich auch ein freier Blick auf das in der Mitte eines herrlichen Parkes am Meere gelegene Schloß, die stolze Burg eines offenbar ebenso mächtigen wie reichen Herrn. Jetzt fahren wir von Dornoch angefangen fortwährend an der Küste, vor uns immer die unendliche Fläche des Meeres, das nur mit träger Brandung seine niedrigen Wellen ans sandige Ufer trägt. In Helmsdale (über 68 Grad nördliche Breite) ver¬ lasse ich nach fünfstündiger Fahrt den Zug, um auf jenen zu warten, der von Thurso nach dem Süden geht. Ein kleiner, auffallend unsauberer Bahnhof liegt beträchtlich ent¬ fernt von dem Ort am Meere. Weit und breit kein Gasthaus oder ein einem solchen ähnliches nützliches Unternehmen. Schon sieht man von ferne den Zug um einen Hügel — 51 - biegen und ich sitze dann wieder in einem ebenso bequemen Wagenabteil wie am Morgen und erfreue mich meiner letzten Tafel Schokolade. Die Sonne kam immer besser her¬ vor, und so sah ich dieselbe Gegend, die ich am Morgen in düsterem Grau durchfahren hatte, nun im verklärenden Lichte der Sonne: die Seen schön, aber nicht großartig, das Meer zwar wunderbar, aber nicht so zauberisch ge¬ waltig, und ich verstand es, warum die alten Meister das Meer lieber bei halber Bewölkung als im vollen Lichte genialt haben, denn so im Düsteren gibt es erst so recht mannigfaltige und starke Farbenwirkungen. Jetzt sah man auch überall mehr Menschen, Frauen mit Kopftüchern tru¬ gen volle Körbe am Rücken an quer über die Brust ge¬ spanntem, breitem Bande. Die Berge waren wolkenfrei und auf der Höhe des Ben Bhragie (382 Meter) war deutlich ein Riesenbauwerk sichtbar, eine Erinnerung an den ersten Herzog von Sutherland. Endlich Lairg mit einem Refresh- ment Room, in dem zwei freundliche Mädchen Tee und Rosinenkuchen anboten. Von Jnverneß fuhr ich noch am selben Tage nach Aberdeen. Ich zähle diese Fahrt landschaftlich zu dem schönsten, was ich in Schottland gesehen habe. Im Anfang schöne Meeresblicke, dann durch Kieferwaldungen zu baum¬ bedeckten Hügeln. Ueberall rennen in der eilenden Hast sich überschlagend Hasen, Rebhühner steigen in Ketten auf und hinter der Drahteinfriedung herrschaftlicher Wildparke blicken Rehe furchtlos auf den vorübersausenden Zug. Alle Züge hatten heute Verspätung, und so war es schon 8 Uhr, als ich in Aberdeen ankam. Das Palace Hotel daselbst ist so recht das Beispiel eines großen englischen Eisenbahngast¬ hauses: Vom Bahnsteige gelangt man durch einen gedeckten Gang geradewegs in das höchst ansehnliche wohnliche Haus, dessen Halle sogar einen eigenen Raum für Hunde hat, in Schottland die unzertrennlichen Begleiter der meisten Menschen. 52 Am anderen Morgen machte ich bei prachtvollem Wetter einen Spaziergang durch die von hoher Vornehm¬ heit zeugende Stadt. Nennt man Jnverneß die „rosenrote", so möchte ich Aberdeen die „graue" nennen, denn alle Häuser sind aus Granit gebaut, die Stadt bekommt aber dadurch keineswegs eine düstere oder unfreundliche Farbe. Die Straßen sind schon in aller Frühe von tadelloser Rein¬ heit, auf den Schwellen großer und kleiner Häuser stehen die Kannen mit Milch und liegen die Papiersäcke mit dem Morgengcbäck. An das ältere Aberdeen schließt sich eine breite, an Gärten reiche Straße an, auf deren einen Seite die Häuser wie Schlösser, auf der anderen Seite wie Tempel und Museen gebaut sind. Auf blankgeputzten Messingschil¬ dern prangen überall die Namen von Akademikern, auch von nicht wenigen weiblichen Doktoren. Aberdeen ist ja der Sitz einer altbcrühmten Hochschule, an der auch viele Mäd¬ chen ihre Prüfungen ablegen. In allen Auslagen sieht mau Lichtbilder von Damen in Talar und Barett. Die großen Hafenanlagen mit ihrem Arbeitsgetriebe vervollständigen das Bild einer Stadt mit zielbewußter, weitausgreifender Tätigkeit. Auf der nun folgenden Fahrt von Aberdeen nach Edinburgh erfreute ich mich im Hellen Sonnenscheine wahr¬ haft entzückender Blicke auf die Nordsee. Die Ufer sind alle steil und steinig. Die Felsen ragen mit großen wiesen¬ bedeckten Flächen weitausladend ins Meer hinaus und find der Tummelplatz zahlloser Golfspieler. Dazwischen kommen kleine parkartige Niederungen, in denen Bächlein zwischen von Vergißmeinnicht umsäumten Schollen dahinfließen. Dann folgt wieder felsiges Meeresufer; auf einer kleinen Platt¬ form liegt abgeschieden von aller Welt ein kleiner Fried¬ hof, umgeben von verfallenen niedrigen Mauern, zu feinen Füßen die Reste eines nicht mehr benützten Hafens. Wer mag wohl hier ausruhen von den Stürmen des Lebens im Angesicht der rastlos brandenden See, umtost von den Stürmen der Unendlichkeit?! 53 Nächst Arbroath, einer hübschen Seestadt, sind die großen teils sandigen, teils Wiesenflächen am Rande des Meeres der Tummelplatz fröhlichen und ernsten Lebens. Die hier liegenden berühmten Golf Links sind mit Spielern, Damen und Herren besetzt, die ersteren trotz der argen Kälte in leichten weißen Gewändern, die gut zu den an¬ mutigen Bewegungen der Spielerinnen passen. In Strand¬ körben sitzt vornehm aussehende Gesellschaft und schaut den Badenden zu. Vor kleinen Puppentheatern jubeln Scharen von kleinen Kindern; Gruppen von großen Buben stehen auf den Sandwellen der Düne und sehen der Artillerie zu, die hier einen großen Uebungsplatz und ein riesiges Zeltlager hat. Schon recht weit davon steht im feuchten Sande einer brackigen Pfütze eine verlassene Kanone. Wir kommen nun zum Firth of Tay, über den von der Stadt Dundee aus eine drei Kilometer lange Brücke führt. An sie knüpft sich eine traurige Geschichte, denn sie wurde gebaut, nachdem am 28. Dezember 1879 die frühere, in schwindelnder Höhe geführte Brücke samt einem Personen¬ zuge von einem entsetzlichen Sturm ins Meer geschleudert wurde. Ich erinnere mich noch ganz gut an die Bilder, die damals in allen Zeitungen diesen grauenhaften Unglllcks- fall vorführten. Jetzt kann man ohne Sorge über diese Seezunge fahren, denn die neue Brücke liegt tiefer und auf mächtigen Grundpfeilern. Von jetzt angefangen gehören die Golfspieler zum ständigen Teile der Landschaft, denn wir kommen in die Gegend von St. Andrews mit seinen großen Golf Links, die überall mit Anschlagzetteln angepriesen werden. Zweimal im Jahre finden hier Wettkämpfe statt, zu denen unzählbare Menschenmengen herbeiströmen. Dann geht es wieder auf der unbeschreiblich gro߬ artigen Brücke über den Firth of Forth und um 1 Uhr bin ich in Edinburgh, das ich schon wie eine alte Bekannte begrüße. 54 Ich besuchte den botanischen Garten, der recht weit draußen liegt. Wohlgepslegter Rasen mit prachtvollen Vaum- riesen begleiten mich bis zu dem in Edinburgh vielgerllhm- ten Palmenhaus, in dem ich mit stillem Entzücken daran dachte, daß ich ein Jahr vorher in Sizilien und in Tunis im offenen Felde unter Palmen gewandelt bin. Mitten im botanischen Garten ist ein „Felsengarten" angelegt, wo alles gedeiht und blüht, was an Pflanzen in allen Gebirgen der Erde vorkommt. Große Büsche unserer Alpenrosen standen in voller Blütenpracht, Edelweiß, allerdings etwas grün und grobfilzig, zierte im Vereine mit Glockenblumen aus dem Himalaja ein anderes Beet, Fettpflanzen aus dem Kaukasus sahen gerade so Protzig aus wie in unseren Bergen. Abends fuhr ich nach London, 650 Kilometer in acht Stunden. Von hier ging's dann wieder über Dover nach Ostende bei sehr stürmischer, aber gewaltig schöner See. Der Expre߬ zug nach Triest nahm mich gastlich auf; ohne Ermüdung zu spüren, langte ich glücklich zu Hause an.