UDK 830 Wolfram v. Eschenbach 7 Parzival .06 UDK 830 Handke P. 7 Das Spiel vom Fragen... .06 PETER HANDKES PARZIVAL Anton Janko Es wird in der germanistischen Forschung noch immer danach gefragt, warum Wolframs Parzival seine berühmte Frage an den leidenden Gralskönig Amfortas nicht stellt, als er zum ersten Mal auf die Gralsburg kommt. Dieser Frage, die im Text des mittelhochdeutschen Romans zweimal formuliert wird, begegnet man zuerst in der Trevrizentepisode. Dort lautet sie: herre wie stet iuwer not? (484, 27). Das zweite Mal erscheint sie — etwas geändert — im letzten Buch des Romans, als sie tatsächlich an den König gerichtet wird: oeheim, waz wirret dir? (795, 29). Indem er diese Frage stellt, ist auch Parzivals letzte Hürde auf dem Weg zum Gralskönigtum überwunden, denn er hat die richtige Frage an die richtige Person zu richtiger Zeit gestellt. Warum hatte er diese Frage nicht gleich bei erster Gelegenehit verlauten lassen? Wolfram selbst versucht das Schweigen seines Helden zu erklären und deutet es als Folge einer allzu strikten Befolgung des Lehrsatzes irn sult niht vil gefrägen (171, 17). Das ist aber nur formell als zufriedenstellend zu akzeptieren. Die echten Gründe für das Nichtfragen sind tieferer psychologischer Natur und liegen begraben in Andeuteungen, zusätzlichen Erläuterungen und Nebenaussagen des Romans. Ausserdem zeigt Wolfram mehr Interesse am Gral und Rittertum als Idee einer vorbildlichen gesellschaftlichen Ordnung, als an einer ausführlicheren Untersuchung der Beweggründe, die die Taten seines Helden bestimmen und bedingen. Eine solche Erzählhaltung des Autors bietet verschiedenartige Interpretationsmöglichkeiten der Parzivalfabel, die gerade durch Wolfram zu einem gesonderten ritterlich-höfischen Mythos geworden ist. Außer der Anwendung der sohon vorher ausgebildeten Mythen — dem des Gral und des Artus mit seiner Tafelrunde, hat Wolfram aus dem vorhandenen literarischen Gut und auch seinen eigenen Überlegungen, einen neuen, auf das höfische Rittertum bezogenen Mythos erschaffen, der im Gegensatz zu Gral und Artus erst durch den höfisch-ritterlichen Inhalt seine differenzierte Gestaltung empfangen hatte. Erst dadurch, daß Parzival zu einem mythischen Helden (einem Helden der Mythos Klasse) geworden ist, hat seine Geschichte, die schnell und exakt skizziert werden kann (wie es übrigens bei jedem Mythos der Fall sein muß), zum fruchtbaren Boden für viele spätere dichterische aber auch historischliterarische Interpretationen werden können. Es bliebe hier die vielleicht etwas problematische Zuweisung des Komplexes Parzival zu einem selbstständigen Mythos, zu erörtern. Das aber muß 6 Acta 81 natürlich einer gesonderten Untersuchung vorbehalten bleiben. Aber ein Beweis dafür wäre schon in der Tatsache zu sehen, daß dieser Stoff in einigen neueren Behandlungen ohne Artus und auch ohne Nennung des Grals auskommt, ohne daß dabei das Mythische der Parzivaliabel verlorengegangen wäre. Die Suche nach dem Gral sowie die Zugehörigkeit zu einer Gruppe der Gleichdenkenden bleiben auch weiterhin wesentliche Bestandteile der Fabel bzw. Handlung, allerdings in verwandelter und umgestalteter Form. Wie ein moderner Parzival beschaffen werden kann, zeigt die Parzival-figur in Peter Handkes Spiel vom Fragen1, in welchem die Anwendung und Erörterung des Mythos sich auf die Sprachlosigkeit bzw. die Wiedergewinnung der Sprachkompetenz des Helden 'konzentriert. Wenn ein Mythos — wie Franz Fühmann es einmal formuliert hat2 — nachdrücklich auf die Realität verweist und doch fortwährend Irreales berichtet, darf gefragt werden, was diese Realität ist, oder anders gefragt: was ist der Vorgang von dem er kündet; was ist die Sache, die er weiß; kurzum, was ist sein spezifischer Gegenstand? Der spezifische Gegenstand des Parzivalmythos ist Parzival und sein Hauptanliegen ist das Problem von Wesen und Erscheinung. Das Ergebnis der seelischen Entwicklung Parzivals ist, daß er zwischen diesen beiden zu unterscheiden in der Lage ist. Alles Nichtwesentliche muß als überflüßig gezeigt werden und was bleibt, ist der wahre Inhalt, die Essenz der Sache und hier auch einer literarischen Gestalt. In Handkes Spiel vom Fragen ist Parzival am Beginn noch der aus der Wüstenei Soltane entlaufene Jüngling, der sprachlos und fragenfrei auf der Bühne erscheint. Die Frage ist nur, ob er stumm bleibt, weil er nichts zu sagen hat, oder aber, weil ihm das Sprechen infolge seiner (Welt)Erfahrungen verlorengegangen ist. Es ist eher anzunehmen — er ist noch sehr jung, ein Fastkind —, daß dieser Zustand bei ihm ein Naturzustand ist. Er ist ein edler Wilde, der Naturmensch und, mit Rousseau zu sprechen, im Zustand der simplicité des premiers temps, einer, der die Erfüllung der eigenen Pflicht und die Erkenntnis der Tugend in eigenem Herzen erst entdecken muß. Dieser Parzival ähnelt sehr einer früheren litararischen Figur, die Handke sich für seinen Kaspar aus der Geschichte des 19. Jahrhunderts geborgt hat. Kaspar wurde, durch die Einsager seiner ursprünglichen leeren, aber auch absoluten Subjektivität beraubt, der Gesellschaft angepasst und durch eine gewisse Gleichschaltung mit ihr seines wesentlichen Ich enteignet. Das Endresultat solcher Behandlung ist ein erneutes Verstummen. Diesmal (im Spiel vom Fragen) ist es anders. Wir dürfen in Kaspar eine negative Antwort auf die Frage sehen, ob der Mensch trotz der demagogischen und manipulatorischen Kraft der Gesellschaft und ihrer Sprache zu seinem wesentlichen Ich zurückfinden kann. Handkes Parzival dagegen ist eine positive Antwort auf die oben erwähnte Frage. Es darf schon hier gesagt werden, daß im Handkes Spiel die Suche nach dem Gral bzw. das Fragen selbst zu der wichtigsten Ingredienz des zu erörternden Problems wird. Die Suche ist das eigentliche Ziel aller Bestrebungen, sie wird zum Gral erklärt. 1 Peter Handke: Das Spiel vom Fragen oder die Reise zum sonoren Land. Frankfurt 1989. In Hinkunft wird aus dieser Ausgabe mit Seitenzahl in Klammern zitiert. 2 Vgl. Franz Fühmann: Essays. Gespräche. Aufsätze 1965—1981. »Das mythische Element in der Literatur«, 82—140, insb. 106 ff. Rostock 1983. 82 Das Spiel vom Fragen oder Die Reise zum sonoren Land ist Ferdinand Raimund, Anton Tschechow, John Ford und »all den anderen« gevidmet. Die personae dramatis werden im Text als »eigentlich keine schlechte Gesellschaft« (S. 64) beschrieben. Alle Generationen miteinander, Alte, Mittelalte, Junge, ein Fastkind. Ein Idiot, zwei Königskinder, einer, dessen Güte sein unverwüstliches Schauen ist, ein nützlicher Schwarzseher, ein im Wegeauskund-schaften erfahrenes Landmenschenpaar. — Aber ein wie ungewisser Weg, und vie schwach sie sind, ohne Rüstung — und dabei wie beladen, sie alle! Wie schlingert ihr Schiff in unbekannten Meeren. Und wie unwillkommen ihresgleichen heute allüberall. Den Fragemenschen, den Forscher, werdet ihr heutzutage daran erkennen, daß er ein Flüchtling ist. (S. 64) Zu folgern daraus ist die Feststellung, daß alle diese Gestalten gefährdete Persönlichkeiten sind. Sie befinden sich auf einer Fragereise. »Meine Vorstellung von unsrer Fragereise«, sagt einer der Reisenden, der junge Schauspieler, »ist die von einer Wanderung der Generationen in der leichten Luft eines Hochplateaus, dementsprechend wir wieder die alten Wanderschauspieler, unser Fragen ein gleichmäßig dahinfließender Wasserfall ohne Untiefen.« (S. 31) Der Geist des Fragens wird um Hilfe und Unterstützung angehalten: Geist des Fragens, erlaub uns Heutigen ein Schauspiel mit dir, denn das tut uns not. Und anders als einst durch die Orakeldiener sollst du uns auf unsre Fragen dann keine Antwort geben an deinem traditionellen Ort, sondern uns dort nur helfen, daß jeder einzelne sich fragt, was heute noch seine Fragen sind. (S. 31) Es geht demzufolge darum, die persönlichen Hauptprobleme einzelner Protagonisten zu präzisieren, die Verantwortung für die daraus folgenden Handlungen (d. h. die Antwort in Wirklichkeit umzusetzen) sollen sie selber übernehmen. Ein präzises und richtiges Fragen ergibt wie von selbst auch die Basis für die Lösung des Problems. Parzival, eine der Personen in diesem Spiel, der uns hier vor allem interessiert, wird eingeführt »so als sei er gerade irgendwo in der Wildnis ausgesetzt worden und werde, vielleicht mit einer Waffe, weggescheucht«. (S. 12) Er ist der jüngste auf dem Plateau, fast noch ein Kind, kurzgeschoren, mit zerrissenem Zeug, barfuß. Wie endgültig ausgestoßen, hoppelt er im letzten noch freien Winkel der Bühne im Kreis, schlägt dabei den Kopf erst gegen die Knie und dann, zu Boden gestürzt, gegen die Planken, Speichelfluß aus dem Mund. (S. 12) Das Spiel vom Fragen will zeigen, daß der heutige Jedermann zu Parzival geworden ist, einer Figur, die das Individuelle zugunsten des Masse Menschen aufgegeben hat. Wo Parzival bei Wolfram als tabula rasa beginnt, steckt der heutige Jedermann — im Anfangsstadium seiner persönlichen Entwicklung auch Parzival — schon am Beginn in der Sackgasse, in die er durch seine eigene Verschuldung geraten ist. Ein sinnvolles Weiterleben kann nur durch eine radikale Umkehr, Änderung erreicht werden. Man muß sich — biblisch gesprochen — auf den Weg nach Damaskus begeben. Der große Unterschied zu der ursprünglichen Parzivalg&stalt bestünde demnach darin, daß jetzt Vertreter aller Generationen Grundzüge des Parzi-valtypus aufweisen, die gesamte Menschheit ist sozusagen vom Parzivalfcom- 6* 83 plex befallen worden: man kann nicht mehr fragen. Der mittelalterliche Par-zival hat aus Unerfahrenheit und allzu strikter Befolgung der Lehrsätze, die man ihm beigebracht hatte, nicht gefragt, die entscheidende Frage nicht stellen können. Das Stummbleiben, das Nichtfragenkönnen der modernen Par-zivale ist dagegen nicht eine aus der Naivität resultierende Unfähigkeit zu fragen, sondern eine Art Verstocktheit, die aber paradoxerweise, den Weg aus der Sackgasse weist, denn sie ist »gerade in unserer als schamlos bezeichneten Neuzeit, das Lebenszeichen einer ursprünglichen Scheu« (S. 29). Etwas durchaus Positives also, was aber in Teilnahmslosigkeit auszuraten droht. Es ist diese Gefahr, die das Reifen des Menschen gefährdet und als solche erkannt und überwunden werden muß. Es sei nun hohe Zeit, uns »mit der Scheu als dem Kompaß, auf den Weg zu machen« (S. 29) und die durch das Nichtfragen zustandegekommene Schuld zu tilgen. Diese Scheu als Kompaß mit sich führend, muß man aber trotzallem überwinden und Fragen von Belang stellen lernen. Wie das gemacht werden kann, wird am Beispiel Parzival gezeigt. Im zweiten Abschnitt des Werks versuchen die ohnehin sehr redelustigen Mitreisenden den stummen und agressiv sich gebärdeten Parzival zum Sprechen zu bringen. Das gelingt aber trotz verschiedenen Sprechtechniken, wäch-selnder Intonation, trotz der ganau richtigen und genau falschen Fragen, nicht. »Hängt mein Nichtfragenkönnen jetzt damit zusammen, daß ich nie trösten konnte?« (S. 39) fragt sich die junge Schauspielerin. Hier wird der mittelalterliche Begriff der milte ins Spiel gebracht. Später zeigt es sich, daß wirklich nur einer, der ein ähnliches Schicksal wie Parzival erfahren hat und der nicht zu der Fragegesellschaft gehörende Einheimischer (der in »verschiedenen Spielarten« [S. 8] auftreten kann), Parzival zu sinnvollem Reden bewegen kann. Schon das alte Paar bringt Parzival dazu, daß er zu sprechen anhebt. Vorläufig hat sein Reden allerdings wenig Sinn. Er beginnt mit »Vater unser, der du bist im Himmel — Hier wacht ein Dobermann« (S. 50) etc. Es wird daraus ein langer unzusammenhängender Monolog, eine unverbindliche Assoziationskette von Aussagen, worin aber doch auch wichtige metaphysiche Verbindungen entdeckt werden können. Auch als er wieder verstummt, »redet es augenscheinlich in ihm weiter« (S. 51). Das Erlernen des Redenkönnens und Fragenstellens ist offensichtlich eine schwere Aufgabe. Um es noch schwieriger zu machen, gibt es »keine Wunderheilungen auf unserer Reise. Unsere Wunden sind möglichst lange offenzuhalten« (S. 52). Schon früher hat einer im Text verlauten lassen: »Ich lebe von der Frucht meiner Kindheitswunden« (S. 28). Diese können nur auf einer Reise in das Frageland beseitigt werden u. z. durch ein Fragenspiel, eine Therapie. Das Heilmittel für die Genesung der sehr kranken Menschheit (wenn wir das wichtigste Anliegen der Reisegesellschaft etwas verallgemeinern) ist in einer Selbstreflexion zu finden, die sich zuerst in der Erlernung des Fragens offenbart. Erst daraus ergeben sich später auoh die richtigen und richtig formulierten Fragen, wozu man natürlich auch die richtigen Worte nötig hat, das Problem muß demzufolge an allererster Stelle in seiner ganzen Komplexität begriffen werden. Schon ziemlich früh im Buch erfährt man, daß alle jene Wörter, mit welchen die großen alten Geschichten erzählt wurden und ohne die es keine Geschichten gibt, wie z. B. Segen, Fluch, Liebe, Zorn, Meer, Traum, Wahnsinn, 84 Wüste, Jammer, Salz, Elend, Frieden, Krieg, »für uns Heutige Fremdwörter geworden sind« (S. 26). Dem Menschen ist seine eigene Sprache fremd, er selbst in einem selbstverschuldeten Entfremdungsprozeß stumm geworden, wennauch in ihm »ständig etwas redet« (S. 51). Durch das Spiel vom Fragen gelangt man zur Einsicht, daß ein jeder sich selbst und auch den anderen eine Person vorgetäuscht hat, die es nie gab. Lauter Einbildung und Rollenspiel. Der Versuch einer Rückkehr zu einer nicht vorbeladenen Ausgangsposition besteht doch noch im Spielen von Rollen, es muß aber ein Spiel sein, in welchem wahr gespielt wird, man muß das echte Selbst spielen. Damit wird auch die Gefahr eines Rückfalls in die Barbarei ausgeschaltet, die ein neuer Versuch mit sich bringen kann. Das Problem wird erkannt und benannt. Auoh Handkes Parzival weiß es: »Das Nichtfragenkönnen: Mein Lebensproblem«. (S. 131) Die naive und un-reflektierte Subjektivität wird zugunsten der objektiven Selbstbetrachtung (und einer andersartigen Verhaltensweise) aufgegeben. Eine objektive Selbstbetrachtung ist, das versteht sich von selbst, ein schmerzvoller Prozeß, der nur mit Hilfe von Gleichdenkenden bewältigt werden kann. Und auch sie, als Gruppe, benötigen die Hilfe eines Außenseiters (im Spiel spielt diese Rolle Ein Einheimischer, in verschiedenen Spielarten). Wenn auch ein jeder aus der Fragegesellschaft auf seinem eigenen Wege wandert und die Wanderwege auch keinem vorgeschrieben sind, es sind auch keine Wunderheilungen zu erwarten, ist die Genesung trotzallem möglich. Die Gruppensolidarität hilft, keiner bleibt auf dem Wege liegen. Die Fragegesellschaft wird dadurch zu einer engverflochtenen Gruppe von Menschen, die von den gleichen Zielsetzungen beseelt sind. Am Ende der Reise werden sie an der Fragemauer versammelt, sie machen Station bei dem Rad des Fragens und erfreuen sich der Nähe des Palastes des Fragens. Der Orakelort ist erreicht, man kann, geläutert, in die jetzt anders verstandene Heimat zurück. Die Fähre, die die Reisenden nach Hause bringen soll, heißt dann, konsquen-terweise, Emmaus. Auch Parzival, bis zu dieser Zeit heimatlos, wird mitgenommen: Nehmt ihn mit euch, Schauspieler, und tragt ihn, denn er ist der Leib des Fragens und soll alle Zeit bei euch bleiben, damit ihr Leute von heute vielleicht doch noch einmal das Fragen darstellen lernt. (S. 146) Nicht nur hat Parzival auf der Suche -nach seiner Frage mit ihr zugleich auch den Gral gefunden, mehr noch: er selbst ist zum Gral (Frage) anderer geworden. Die große Frage heißt Parzival. So sieht Handkes angewandte Interpretation des Mythos aus. Indem die literarische Gestalt Parzival zu sakralem Objekt erklärt wird, wird die Suche nach der Frage bzw. nach dem Gral aufs Neue ins Metaphysische verrückt, der Mythos bleibt in seiner ganzen Prägnanz unangetastet. Das Problem kann nur individuell gelöst (d. h. interpretiert) werden, da innerhalb des mythischen Rahmens eine jede — durch die persönlich erfahrene Läuterung gewonnene Einsicht — Interpretation zulässig und legitim erscheint. In Handkes Parzival begegnen und vermengen sich in einer Gestalt Amfor-tas und Parzival Wolframs. Das Resultat davon ist, daß diese Gestalt jetzt in zweierlei Weise hilfsbedürftig ist, denn sie muß sowohl die erlösende Frage stellen, als auch ihr Empänger sein. Dazu muß Parzival die Frage selber for- 85 mulieren, sie ist nicht vorgegeben oder gar vorgeschrieben. In diesem Sinne ist die Interpretation, die Handke dem Leser entbietet folgerichtig, da es bei den beiden Gestalten um den Gralskönig geht, der jetzt zweierlei zu bewältigen hat: die Formulierung der großen, erlösenden Frage, aber auch die Einsicht aufbringen, daß er sie sich selbst stellen muß. Der Antwort bedarf man in einer solchen Problemstellung eigentlich nicht, da die Antwort, d. h. die Lösung des Problems in der Frage schon begriffen und eingeschlossen ist. Dazu Handke: »Zu einer Antwort, die man nicht aussprechen kann, kann man auch die Frage nicht stellen.« (S. 159) Anders gesagt, »die Zeit des Fragens« (S. 134) ist auch die Zeit der Gnade. Es wird dadurch auch der Zustand erreicht, »in dem unser Fragen eins wird mit unserem Gefragtwerden« (S. 139). Eine zusätzliche religiöse Komponente gewinnt die so gehandhabte Problemstellung durch eine Aussage des Mauerschauers: »Er hat ausgefragt«, ist bei uns daheim ein Ausdruck für »Er ist kein Kind mehr«, was in diesem Zusammenhang, wo nach Fragen gesucht wird, heißen kann, daß die Vorbedingung für die Wiedergewinnung der Fähigkeit des sinnvollen Fragenstellens ein Wie-ein-Kind-werden voraussetzt.3 3 Vgl.: Mt 19, 13—14; Mk 10, 13—16; Lk 18, 15—17. 86