'' " ^ Altsslmt^ DMn liild WcillAl ^anz d. Uökcr. G,/l l ii ö ll ch. Mckil lllltt Dlilleil vo,l ^kranz d. Holler. Crsles such. (Dünrhon. 13lkeodor A ck c r m n n n A l l o ^)i e ch to v 0 r b (' h a l t (' 1>, Wlorwort. Fur don Geschichtsforscher loie für dm Staatsmann giebt es gegenwärtig keinen Gegenstand, der anziehender zn beobachten, als die Entlviä'lnng im Innern des grüßen Ostreiche, das sich mit Niesenschritten nralter Gewöhnung eutunudet. Wie ist der Rest asiatischen Schuttes am leichtesten wegzuräumend Wie ist die Volks-masse ans dem Pflanzenschlaf, in welchem sie ein Jahrtausend befangen tag, zu hellfröhlichem Kulturleben zu erwecken? Rusilaud ist aber für die Welt außer ihm eine noch Ziemlich unbekaunte Welt, Man hat kciu Interesse dafür, uud uuch weniger ein Verständniß der ticfeu und heil-vullen llmn'ätzung, welche sich dort vollzieht, Auch in Teulschlaud töuuen sich Äianche noch immer nicht losmachen von einem fürchterlichen Scheiubilde russischer Macht, uud wieder Audere, meincu, das Zarenreich sei gänzlich von revolutionären Strömungen zerrissen und unterwühlt, ssür beide Ansichten ist kein ausreichender ('wind vorhanden, Wohl aber erscheint es mehr und mehr als Nothsache, daß wir Deutsche nns über die russische Politik nnd ihre Mittel und Streitkräfte klarer werden, damit wir nicht eines Tags uns nnangenehm überrascht sehen, Denn wahr ist es, dunkle Wolken hängen drohend über Nnßlands Ebenen! sie könnten sich in sturmvollen Gewittern entladen, die anch unsere ge-segucte Flur berühren. Hat sich nämlich Tentschland im letzten Menschenalter umgestaltet, so ist mich in Rußland cine neue Wacht aufgetreten, die früher nicht mitsprach, — das sind die wogenden Wünsche in den gebildeteren Kreisen nnd dnrch sie getrieben und geleitet die Instinkte der großen Masse. Wir haben nicht mehr mit Rußlands Regierung allein zu rechnen, sondern auch mit seinem Volke. Nm so mehr Grund zum Versuche, die russische Voltsseele, soweit das iu dieseu leichten Skizzen aus Geschickte nnd Gegenwart möglich, aus ihrem Dnnkel hervorzukehren und an's Tageslicht zn halten. Auch bei den Russen schadet es nns nicht, wenn wir ihnen zeigen, daß ihr Wollen nnd Können nns nicht nn« bekannt. Vei Türken nnd Magyaren hilft keine vernünftige Vorstellung, man muß sie sich selbst überlassen: dann tritt znerst geistiger, dann wirthschaftlicher, nnd daranf sittlicher Niedergang ein, nnd es ist nur zn verhüten, daß die Ansteckung andern Voltstheilen zn gefährlich werde. Anders ist unser nordöstlicher Nachbar geartet. Tritt man ihm entschlossen entgegen und zeigt, daß seine Absicht durchschaut, seine Mittel genan gekannt sind, knrz, sagt man ihm die blanke Wahrheit in's Gesicht, dann scheuet er zurück, überlegt sich die Sache und will znleht gar nichts Böses gedacht haben. Wohl aber wird kein patriotischer und einsichtiger Russe meine redliche Absicht verkennen, der Eine oder Andere mir vielleicht sogar Dank wissen, daß ich an manche tiefe Wnnde seiner Nation deu Dinger gelegt nnd das natürliche Heilmittel nicht verschwiegen habe. freilich — kann ich nur mit deutschen Augen sehen. Denn so herz. lich gerne ich andern Völkern Blühen nnd Gedeihen gönne uud, wenn ich könnte, anch ein Körnchen dazu beitragen möchte, — in Dingen, wo es auf Ehre und Vortheil meiner eigenen Nation ankommt, fühle ich mich als Deutschen vom Scheitel bis zur Sohle. ^lebcrsicht. I. ttiMchc wilder und /nM«. !. dializicn Zcite 1, Rnssischc Vorsindicü...... 3 2. Anlaß zur Mm....... 5 :;, Polnische ^n- nnd AdneicillNfien , . . . 5 4, Land llnd Voll....... 8 ö. L^inbcvss........ 9 II. Erstc russische Eindrücke. »',. Anf der Gmnze....... 12 7. Neisen durch Rußland...... 13 ^. NMschc (5'iscnbahncn ...... 16 <.'. Tchmcrinka........ 17 10, Landflächcu........ 1U lll. jiicw. 11. Nttssischcr GotttMcusl...... 21 1^!. ^ataloiiibon........ 2A 13. Der Tttjepr........ 25 14. Ttadt ^icw........ 27 15. Enropa und Asic»...... 2U 16. Altrusiische Ideen...... 31 IV. In der Ukraine. 17. Lccrc Flachen....... 3ö 18. Wladimirsaqctt....... 37 1'.'. Tentschc Ansiedler nnd rnssische Offiziere . . 40 2«.'. Russische Tprache....... 42 V. 6l,arkow. 21. Entstehung und Anwachsen..... 44 22. Amerikanische Aehnlichtcit..... 45 23. Ttraßenleben....... 40 24. Eine silberne Hochzeit ..... 48 II Seite VI. Neue Einrichtungen. 25). Lehranstalten....... 51 26. Gerichtswesen....... 54 27. Andere Reformen....... 55 28. Nihilistisches......' . 57 29. Aenderung in der Stellung des Adels - - - 59 VII. Uutcr KlcilN'ussen. 30. Ausflug anf's Land...... 62 31. Häusliches Leben....... 64 32. Kleinrusfen in den Karpathen . . . , 65 VII l. Ocgeusnlj zwischen Oroß- nud Kleinrnsscn. 33. Nationale Unterschiede...... «19 34. Gegenseitige Abneigung..... 72 35. Geschichte Kleinrußlands..... 7;i 36. Kostoniarow........ 75 37- Vedeutung der Kleiurusseu..... 78 VIII n. Klein- uud großrussische Volkslieder. 38. Natur der Volkslieder...... 78 39- Vier alte Lieder der Saporoger Kosaken . , 80 40. Vier alte Lieder der Tonischen Kosaken . . ^2 41. Drei kleinrussische Lieder..... !>5 42. Zwei historische Lieder der Großvussm ... 85 43. Sechs großrussische Liebeslicder . . , . 88 44. Drei Lieder von großrussischer Ehc ... 92 IX. Am ttdij. 45. Kirchen nnd Hülten...... 95 46. Landschaft........ 96 47. Dunkle Räthsel....... 99 X. Selbstverwaltung. 48. Schaffenslnst....... 102 49. Einrichtung der SemZtivo..... 103 50. Der Heunilschuh....... 104 » Ill Seite XI. Nach dein Norde». 51. Abreise von Charkow...... 108 52. Dentsehrnssen....... 1W 53. Kroßrnssische Landschaft . ' . . . 112 XII. Moskau. 54. Glückliche Ankunft...... 114 55. Fcst der Befreinnss von den Galliern . . . 115 50, Anf dein ^reinl....... 117 57. Andere Aanwerte....... 119 XIII. Moskauer Gcwerb. 58. Stilles Etmßenaewiihl...... 122 59. Handel nnd Fabriken . . , - . . 123 00. ^eituna^Presie.......- 125 XIV. Moskaus historische Bedeutuug. 01. AnfäiM........ 129 02. ^iossolenHerrschaft....... N!0 0>x 3ech'>^ehntes nnd Siebzehntes Iahrhnndert . . ^!1 04. Nnßland» Weltslellnng..... 132 65, Ztellnnli in der Knltnr..... 134 XV. Partei der Altrusscu. 00. Ihre Ideale....... . 136 67. Panslavi^nins....... 139 68. Slaventongreh....... 141 XVI. Zerstörende Wirkung der Altrusscn-Partei. 09. Zerfleischnnss der Polen..... 143 70- Niedertreten der baltischen Tentschen . - - 1.45 71. Etärknng des I^ihilisninv..... 147 XVII. Hoffuuugcu der russische» Kirche. 72. Ocssensah ;n Katholiken nnd Protestanten . - 150 73. Starrheit........ 151 IV Seite 74. Anfänge znr Aufklärung..... 153 75. Volksmoral und Geistlichkeit..... 155 XVlII. Russisches Archivwescn. 76. Das nene vanptarchw iu Ä(^»tau . . . 158 77. Die Archiustndt....... 160 7«. Alte und neue Archiue..... 164 7',>. Einrichtung des yauptarchivs in Nußland . . 166 80. Inhalt......... 171 81. Verwaltung........ 172 XIX. Thnti^keit auf historischen Gebieten. 82. Armuth au alteu Urkunden..... 175 83. Quellenwerke....... 177 84. Archiuschule........ 180 85. Urkunden zum Scheme......181 8l',. Geschichtschreibung...... 184 XX. Petersburg. 87. Walducrwüstuna........ 186 88. Armuth der Landschaft...... 187 89. Petersburgs Verhältnis; zu Mo>tau ... 183 90. Vergleich mit andern Städten . . - - 190 91. Knnstgeniisse....... 193 XXI. Rückreise. 92. Neue Landschaft....... 196 93. Gespräch im Bahnwagen..... 198 94. Ob ncnc Völkerwanderung?..... 200 95. Kürbis; und Orangen ...... 201 I. Rusftsche Oilder und Fragen. I. Galnien. 1. Russische Vorstndien. Von tonangebenden Völtern hatte ich anßer ^stindiern und Chinesen noch immer die Nüssen nickn besucht. Längst u>ar es wohl meill Vorhaben genn'sen, allein inl Orient nnd jenseits der Straße von (Gibraltar gab eo stetv> noch unbekannte Ooqrnocn, nach dcncn ich mcim' (5vholunn<' Ttvrisn^e auodchnt,,'. ^nlctzt schmnto ich Nlich hcinal)r, daß ich von nusovi» großen Nachbar volkc, da'> in dcntschnl Dingen schon öftcv ulit dveiulicvcdct bat, noch immer nichtö nnlßte, alö alls Anchern nno alls Gesprächen mit Reisenden aus Nnsilano. Rnssis6)e Ttlldicn hatte ich schon in meiner Intend qemacht, als ich Referendar am Ol'evlandsa,erichi in Paderbovir war. Damals kam Auqnst Freiherr v. ,^anhausen von seinen Neiscn in Rußland zurück, nnd die drei Bände, welche er darüber ver> öffentlichte, erregten verdientes Aiifsehen. Ta cr seinem jnngcn ^andstttanne wohl wollte, hatten wir öfter Erörterungen iilxr russische Tinge, ^lnn lvnrde ich auch mit zwei Tchnftstrllern bekannt, ^aramsin nnd Tnrcirnieiv, die Beide tiefe)! Vinflnß auf mich übten. Man Ulan l'iaramsino stclzenhaftcn Periodenbau, feine höfische Sinnesart, seinen Mangel an tieferer Forschnng tadeln, immerhin -^ es liegt ooch ein natürlicher Ren über seinen Vlättern, eine schöne Anschaulichkeit, und wa5 mehr ist, 4 ___ es liest ihn in Nußland Jeder, der eben leseil kann. hätten wir in Deutschland nur einen .^aramsin! In Mcherlnn und kritischen Geist zersetzt sich bei uns die historische Knust, mW das Ende ist, mit ganz seltenen Ausnahmen bleiben wir ewig gelehrte Handwerker. Karamfins bahnbrechendes Werk ließ mich erst die ganze Größe von Solowiews Arbeiten würdigen, sowie den poetischen Alick des Tittenschilderers Kostoinarow nnd das schöne Verdienst der andern zahlreichen russischen Alltoren, die ihres Volkes Geschichte ergründen. Und Turgenjew! Dürfte sich Einer über ihn stellen an graphischem Talent? Und gnillt nicht in jedem seiner Sähe eine stille geheime Krast der Poesie, so daß unausweichlich der Leser mitfühlen, mitschauen muß, was der Dichter empfindet nnd vor sich sieht!" Seiue Skizzen a>ls dem Tagebuch eines Jägers waren Jahre lang mir ein Lirblingsbuch. Von Tnr-genjew kam ich zn Gogol, von diesem zu Bestuschew Marlinski), Eollohub, Pawlow nnd wie die lange Reihe von Novellen^ und Romandichtern weiter heißt, die jene eigenthümlich rnssische Literatur anbaneten, deren einzig ^iel sich daranf richtet, die nackte Wirklichkeit in ihren: Lande so nackt zu zeichnen, daß kein .Härchen am Leibe und kein Fältchen im Gemüthe oerborgen bleibt. Ach eine tranrige Gcnugtliunng, ivo im Herzen die Er-bitterllng lodert über soviel Ttnmpfsinn, soviel Schlechtigkeit. Als König Maximilian ^ll. mich als seinen Sekretär für Literatur nnd Wissenschaft nach München berief, war kurz vorher auch Äodcnstedt eingetreten in den Kreis von Dichtern und Gelehrteu, welche der edle ^ö»ig um sich schaarte, der auch ohne Krone innigster Verehrung würdig. Vodenstedt übersetzte damals die russischen Epiker, besonders glücklich Puschkiuv Onägin, dieses Meisterbild aus Petersburger AdelZkreisen, und wenn in den allwöchentlichen Abendgesellschaften des Bönigs Veyse, Geibel, Schaet ihre vollendeten Uebcrschungen von berühmten Gedichten ans der Weltliteratur vortrugen, wählte Bodenstedt gewöhnlich ____5_____ etwas Russisches. Teiue „Russischen Fragmente" gaben noch mehr zn deilten »ud zll enträthseln. 2. Anlnß zur Ncise. So war ich mit russischen Geisteoblüthen nicht ganz unbekannt geblieben, und wie lebhaft mich später die Einrichtung des russischen Archiuwesens beschäftigte, werde ich noch in diesen Blättern erzählen. Nun hatte ich mir ernstlich vorgenommen, in einem der nächsten Frühsommer eine Fahrt bis zur Wolga m machen und eben deshalb abgelehnt, an der Feier der silbernen Hochzeit meiues Bruders in Charkow Theil zn nehmen. Da kam, während ich die Arbeiten im ^ireisarchiv zu Neuburg prüfte, Nachricht, daß mein Bruder ertrankt sei und sehnlichst mich zu sehen wünsche. Das entschied. Nun aber wollte ich wenigstens auch von ^iew nnd Moskau etwas haben, uud da hieß es die Zeit wohl auflaufen- Am !!_'. Oktober vorigen Jahrs kehrte ich von Neuburg nach München zurück, fuhr in der Nacht nach Wien, und war den andern Abend in ^rakau. A. Polnische Zu- und Abneigungen. hier waren noch alle Blätter voll von dem ,^raszen»ki-Fest, das in der 3hat bei den Polen eine nationale Frische nnd ^usnmmeugehörigkeit offenbarte, die Viele nicht mehr er^ wartet hatten. Tie waren aus aller Herren Bändern zusammen ssetommeu, Telbst die russische Regierung hatte den Zu'^ug ge stattet. Auch zwei .Veiurussen waren erschienen, uonKroßrussen iedoch unr ein bekannter Literat aus Petersburg, nm aw Vertreter der russischen Intelligenz und in: Namen der gronen Mehrheit derselben dem polnischen Jubilar die Hand entgegen zn strecken. Mit vollem Recht mochten die Polen das fünfzigjährige Jubiläum des Hochverdieuten Altmeisters ihrer Literatnr feieru. Das Fest verlief in schönster Eintracht, und unverkennbar zeigte sich auch 6 die Kraft kluger Mäßigung. Nebcrhauvt, 'vie bedeutend ist doch die Zahl der Polen, die sich in geistiger, sittlicher und wirth-schaftlicher Beziehung nütten in ibrein Unglück eniporgehoben über die verrotteten Zustände und Einbildungen, in welchen ihr Volk uor hundert Jahren befangen lag. Möchten sie nur nicht neuen Täuschungen ;mn Raube werden! Aus der Mitte der Nüssen reicht man ihnen vielfältig wieder die Hand zur Aussöhnung, nnd nnter den hervorragendeil Schriftstellern Rußlands giebt es wenige, bei denen die Herstellung Polens als einer slavischen Macht, so überquer sie auch über die Art nnd Weise dieser Wiederherstellung denken, nicht ein Lieb-lingskapitel wäre. Wie aber wares uor siebzehn Jahren? (^aben da die Russen nicht von freien Ttückeu den Polen eine fürchter liche Lehre? Damals waren die Polen die lieben Brüder, die den Nüssen kühn nnd tapfer in der Eroberung der Freiheit uorausgehn sollton. 5lamn hatte die Revolution in Nnrscban ihr Gauner erhoben, so gerieth ganz Nußland ansier Athem vor Hoffnung und Aufregung, Da hängte Preußen ein stählernes Schloß vor seine Gränze, blitzschnell schlugen die tNönuer uni nud klatschten wüthenden Beifall ,^u den gräßlichen russischen Streichen, die Polen todtlich in's Leben treffen sollten, Aei jenenl !,iras'ieni'?tifeste waren es wieder Miste ans Rußland, die in Toasten nuder die Oermanisation donnerten, die in das polnische Volk, ja selbst ii>5 russische Lithaueu eiu^ dringe. Diese Toaste fanden großen Beifall in Kt'rakan, noch viel größeren in den beiden russischen Hauptstädteu, und die russische St. Petersburger Zeitung sagte damals! „Die deutsche Kolonisation sei auf slavischem Boden das Unkraut, da5 allen guten Tamen ersticke." Ist denn das wirklich wahr? könnte sich die Tnche nicht auch wenden zur Ttärlimg der pol-nischen Nation, die sicher noch nicht untergegangen? Mögen sich die Polen wohl bedenken! Für nus wären sie unschätzbar als kräftige Vormauer gegen die Runen, von Tiefen aber haben sie 7 niemals Anderes zu erwarten, als planmäßige, stille oder gewalt-same Nussifizirung. Tie Polen schweifen ans der unbehaglichen Enge, in welcher sie zwischen Deutschen nnd Russen sitzen, mit ihren Gedanken ziern hinüber nach Frankreich. Insbesondere ein Theil ihres höheren Adels scheint noch immer festznsitzen in der leidenschaftlichen Ver-götternng Frankreichs, das ja Polen so oft seine unglückliche Schwester nannte. Wie für eine Heißgeliebte haben die Polen für diese Schwester gekämpft und geblutet, und die spröde Schöne hatte kaum ein Lächeln für die Armen, drehte ihnen sogar nach jedem neuen Dienst wieder den Nucken zn. Was hatte nicht Napoleon alles den Polen versprochen, nnd was gab cr ihnen? Im Verhältniß zn ihren nngeheuren Anstrengnngen gab er für Goldstücke Rechenpfennige, Erschütternd lantet, was Graf Wonkowiez dein Baron Bonrgoing einst für Napoleons 'Rcisctagebnch mittheilte. Wonkowicz befehligte das Schutzge^ leite des Baisers, als dieser auf dem Rnckznge uon Mostan sein Heer im Stiche ließ nnd mit Leföure und Canlaineonrt von dannen eilte. Als sie nach Oszmiana kamen, traf sie die Schreckensnachricht, die Kosaken seien schon in der Nähe, Wirk-lick, sah man in der Ferne ihre Wachtfeuer, Da befahl Napoleon: anf der Stelle gehe es weiter, nnr die polnischen fanciers sollten ihn begleiten, Wontoiuicz nnd Lef^ure Platz anf dem Bocke nehmen. Diesen beiden überreichte der Baiser vor allen Lenten seine Pistolen und sagte mit erhabener Geberde: mau solle ihn eher erschießen, als daß er in des gransamen Feindes Hände falle. Dieses heldemnüthige Wort wurde den Laneiers bekannt gemacht, da brachen sie in ein Hnrrah alls nnd schwnrcn, nut ihrem letzten Hanch des Kaisers Leben zn schützen. Die Nacht war dunkel, die Kälte furchtbar. Der Schlitten schoß durch den Schnee, die braven Polen galoppirten znr Seite. Einer nach dein Anderen stürzte, Mann und Pferd waren schon aufs Aeußerste mitgenommcu. Rastlos stürmte der Schlitten 8 voran, immer mehr Polen stürzten, des sicheren Todes Veute. die Anderen eilten weiter. Am Morgen waren uon den ^»tt Lanciers noch 3ü da. Die anderen Alle hatten sich in der fürchterlichen Nacht geopfert, — nnd wofür? 4. Land und Volk. Da ich 5trakau schon früher besucht hatte, fuhr ich noch am selben Abend weiter nnd konnte mich am andern Morgen wieder ill Galizien nmseheu. Polnische Landschaft hat etwas Mein-liches, Weiches, fast nwchtc i6) sagen Wehmüthiges. Der Voocn ist eben oder ganz leicht gewellt, am schleichenden Bache stehn die stillen Weiden, bei den kleinen Hütten die sanften Akazien Ulmen nnd andere? Gebüsch nnd leichtes Banmwerk, Tie Wohnungen sind so schmal nnd gering, daß es ein Räthsel bleibt, wo Mann nnd Weib nnd Mno mit Pferd nnd such, Gänsen und Schweinen nnter dem, niedrigen Strohdach Plcch finden, bis man selbst drinnen ist nnd sieht, wie alles nah uer-trant eine einzige Familie bildet. Die Felder zwischen den Dörfern erscheinen besäet mit weißgrauen dicken Männern, ein Jeder steckt im Schafpelz. Das Reich des Schafpelzes hat nun begonnen nnd erstreckt sich über die gmne breite Osthälftc Europas. Die Lente arbeiten mühselig mit kleinen Pferden nnd ärmlichem Gerätli, es geht langsam, aber in einen: fort. Das Bauernuolk selbst ist von derbem, kräftigen Schlag, scheinbar plump und doch rasch beweglich wie Aaren, Auch die Weiber trampen einher in schweren Stiefeln nnd Schafpelz, ein rothes Tnch über dem5topf. Wo man Frauen mit Männern beisammen stehen sieht, erscheinen Jene bedeutender nnd anmnthiger. Vs zeigt sich bei, ihnen hin nnd wieder ein hübsches Gesicht, und ein gewiffes zierliches Benehmen zeichnet einmal die Polinnen aus. Jede Dame aber, die in den Äahnwagen stieg, hatte kann: Plal; genommen, als sie auch schon ihre Zigarette anzündete, nnd wenn 9 eine zu rcdeu aufiug, wurde das Gewöhnlichste zlim Vortrast nut lebhafter (Gebärde uud reizeudein Tomvechsel- Sie sind ge^ borne Schauspieleriuneu, Die Manner, so will es scheinen, haben entweder zu leichte oder zu schwere Köpfe: bei ilmen quillt das slavisch Weiche nnd Gutmüthige überall dnrch. Völker aber sind langlebig, bei denen vorzugsweise den Fvanen Schönheit, Verstand und Willenskraft eigen sind. Es gehörte die ganze eigenthümliche Energie der Selbsttäuschung, welcher Bussen so leicht anheimfallen, dazu, daß die Murawicw. Miliutiu, Tscherkaßki, ^oscheleiu und ihre Parteigenossen vor sechzehn Jahren sich einbildeten, sie könnten nicht allein den polnischen Adel rniniren, sondern dnrch ihre Maßregeln anch sechs Millionen Polen ihre Sprache, ihre Kirche, ihre Nationalität entreißen. Galizieu ist der große Tack, ans welchem das Volk Israel über nns ausgeschüttet wird. Aller Orten sieht man die dnnkcln Laugröckigen und Üangloctigen mit den unruhigen Augen, Haar und Zeug glänzend von Natnr oder Schmiere. Die dritte Bahn-klaffe würde leer seiu ohue diese eigenthümliche Rasse, die seit alter Zeit sich ihr besonderes Iudeudcutsch nnd auch ein be sondcres Gesicht zngclegt hat, in welchem sich mit dem jüdischen Grnndzug deutsche nnd polnische Linien verschmelzen, ^b diese ^uden wirklich alle von Tentschland her in die polnischen Länder siekommcu 5 Uni so räthselhnfter, daß sie alle die deutsche Sprache zn der ihrigen machten. Wahrscheinlich deßhalb, weil im Mittelalter noch viel mehr, als jetzt, in polnischen Landen Großhandel und Gewerbe, sowie Landwirthscliaft auf großen Gütern in dentschen Häudeu war, höhere Bildung in Polen iiberhanpt noch mehr deutsches Gepräge hatte. Der Deutsche ist fort oder uerpolt (polonisirt), der Jude hat das Geld nud beherrfcht den Verkehr. 5. Lcmberg. In Leiuberg, wo ich einen 3ag Nast machte, ließ sich das 10 Völkergemisch nut Behagen ill seinen Bestandtheilen verfolgen. Vs war Nachmittags, als ich die endlosen halb dörflichen Vorstädte hinter mir hatte und zn meinem Gnsthof nnd anf die Straßen kam. Lange Reihen von Nauernivägelchen, die land-wirthschaftliä)e Erzeugnifse zn Markte gebracht, fuhren ab dnrch spritzenden Koth, Inden eilten znm Bahnhof, schlanke öster^ reichische Offiziere bildeten hie und da eine kleine Gruppe auf der Straße, und Kaufleute nnd Handwerker standen, häufiger als es bei uns gewöhnlich ist, vor ihren Läden. Reizende Polinnen stiefelten nmunthigcu Ganges über die Straßen. In den Kaffeehäusern hörte man Polnisch und Teutfch. Auf allen Schildern aber, allen Inschriften auf den Straßen herrschte nur polnische Schrift und Sprache. Beamte und Offiziere fprachen deutsch; polnische jnnge Aristokraten redeten französisch; wohl^ habende Ladenbesitzer hatten eiu halbpolnisches Aussehen und, wenn sie sich nach dem Inneren ihres Hauses umdreheten, sprachen sie deutsch; Juden, in deren Nähe ein Lusttragendcr Untersuchungen über ein Gemisch uou Gerüchen anstellen konnte, zankten sich in ihrem Iudcudcutsch; endlich die große Masse tleiner Hanowerkcr, Taglöhner, und anderem niederes Volt ließ nur Polnisch hören. Taß die größere WlfteGaliziens von Ruthenen oder Klein-russen bevölkert ist, gab sich in Lembevg durch kein Zeichen zn erkennen. Wie es scheint, hält die Negiernug noch immer daran fest, den Po'en diesen Volkstheil zu überantworten, der in seinein Dnnkcl nnd seiner Eruiedrignug kleine Schätze an Geist und Gemüth verbirgt, die wohl des Anbaues würdig wären- Im Ganze» empfängt man überall denselben Eiudruck, wenn man die deutsche Ostgrän^e überschreitet, sei es in süd oder nordöstlicher Richtung. Tie Bevölkerung erscheint ein paar Töne schwärzlicher, nicht bloß, weil sie im Aeußeren etwas unsauberer oder lumpiger ist, sondern anch die Gesichter sind ininder hell belebt. Auf westlicher Reise macht sich die Zn^ 11 uahme des Dunkeln und Starren in den Oesichtszügen erst bc-merklich, wenn mnn ganz in die Nähe der Pyrenäen kommt — im Süden erst im neapolitanischen Gebirge — in England und Dänemark nirgends — in Skandinavien bei den Lappen. Woran sich aber der Ankömmling in den östlichen Ländern gar schwer gewöhnt, das sind die maskirten Deutschen, die Schmier üiden, die Schafpelzlentc, Diese dreifache Macht stößt in die Angen, nnd der Dunst der beiden Letzteren auch in die Nase. Nachdem ich in der Löwenstadt — Lemberg heißt polnisch Llow nnd ist die Abkürznng für Leivenberg — ziemlich nmher-A'strichen, wollte sich, anßer einer prächtigen Synagoge, einem stattlichen Nathhaus nnd ein paar alten Mcheugebäuden mit orielltalischem Thunugewächs, gar wenig Sehenswerthes dar» stellen. Das Innere der Kirchen glänzt von Vergoldung, nnd die Weiber liegen in inbrünstiger Andacht auf dem Boden, indem sie ihn mit den Knieen nnd den Vorderarmen bedecken und etwas in die Luft strecken, das sich gewöhnlich bescheidener verhält. Nachdem Lemberg vom wilden Schwedenkarl 1708 verbrannt worden, wurde es in der Eile, als es im Osten noch teiueu Vauslil gab, wieder ausgebauet. Breite ländlich Vorstädte umschließen einen ,^ern von Öäusern mitteleuropäischer Bauart lind verbrauchten Polen Gänschen, nuterbrochen von großen nenen Regiermigsgebäudm, die allein demrou Anputz zeigen. Da die Stadt zwischen Anhöhen im Tbale liegt, so eröffnen sich von den letzteren überraschende Aussichten, Was ^enlberg aber Vcdentendes oder Originelles besitzt, ist für eine so alte mächtige Stadt gar dürftig. Das Schönste ist das wo-Mnde Laubgrüu auf den srnberen Wällen, Wäre nur etwas ^»-'it gewesen, so wäre ich vorher in Przmysl ausgestiegen: diese Stadt stellte sich alls ihrer Auhöhe am San-?slmse mit der alten Przmysliden Burg nnd den drei eng hintereinander gereihten Zwiebelkuppeln stattlich uud malerisch dar. II. Crl'te russische Eindrücke. l wagen hinein. Das ging so schnell, daß der Unglückliche über die rasche Keschicklichkeit ganz verblüfft sich muschante, ,vat inan aber seine Papiere sicher wieder in der Tasche, so tan» man überall in Rußland frei nmherreisen, kein Mensch fragt nach Person nnd Ermächtignng. Will man das Land ver> lassen, ivird in der letzten großen Stadt vom l^aflhof ans das Visa der Polizei Behörde nnd des deutschen Konsuls besorgt. Dann tonunt nahe vor der Oren^e eint^ensdarin in den Wagen, den Paß dcr Reisenden zu holen, nno eine Stunde daran? bringt er ihn wieder, Es wäre wohl überdaupt an der Zeit, daß nicht bloß die ssroßen Tollristen, sondern anch die mittlerer Art ^ die kleinen bleiben ja doch Aangehasen - Rußland regelmäßig in das Gebiet ihrer Fahrten anfnähmen, (5s ist wahr, das ungeheure Reich bietet verhältnißmäßig geringe Anregung. Es gleicht ciner endlosen leeren Tafel, nnd diese ganze breite Riesentafel. Nt wirklich noch eine nngehenre dnnkle Leere, in welcher nnr wenige helle Punkte hervorlenchten. Nach jeder Weltgegend hin ist beinahe nichts zn finden, als waldige oder nackte Ebenen, und ans den einförmigen Ebenen dünn zerstreut armselige Dorfschaften »nd einige bessere nene Nnsiedelnngen, lind in den Dorfhütten gibt es nichts, als bedanken nnd ('>ewohnnng an <^ar nnd Religion, kiohl nndZchnaps, und in den Nensiedelmigen l>t nnr von Fabrik nnd Handel nnd (Geldgewinn die Rede-Allein jene hellen Punkte in der weiten dunkeln Leere bedeuten ^wch schon etwas, einige darunter sogar sehr viel, und zu allen diesen Städten fährt man jelzt bequem nnd sicher ans Eisenbahnen. ?. Reisen durch Nuftland. Sechs Wochen genügeil hentzntag, um — selbstverständlich 14 nach vorbereitenden Ttudien ^ Nußland in den Hauptsachen kennen zn lernen. Man beginnt mit Petersburg nnd seinen Vlüthcgestadcn am Meere, fährt dann nach Moskan, von da nach Nischnii Nowgorod, wo im Inki der große Volter Markt« verkehr. Denn man darf ja nicht, wie ich im Spätherbst, sondern mnß gleich zn Ansang des Sommers die Neisc alltreten. Das ist die angenehmste Zeit für Nnßlano, luo die Steppe blüht nnd das Birkenlanb dllftct. Voll Nischnii Nowgorod geht die Fahrt auf dem Dampfschiffe die br?it strömende, Wolga hinnnter über Kasan, die Stadt der Tscheremissen lind Tschuwaschen und Tataren, die von malerischem Hügelland nmgeben ist, nnd über Simbirsk, Karcnmins Geburtöstadt, nach Saratow, wo die deutschen Wolga «Kolonien beginnen. Darauf wendet fich die Neiseliliie wieder westlich, nm Charkow ulld Kiew alifzll« slichcn, und dann über Lembcrg oder Warschali lvieder nach Deutschland hin anzulaufen. Petersburg Moskau New und Kasan sind die uicr Hauplstätten. Wer Zeit hat, wird sich auch die .Herrlichkeiten der Krim lind Odessa nicht entgehen lassen, dann aber wohl der Anziehungskraft Konstantiuopcls' nicht widcrstehn tonnen. Der Wasserweg von Nisclmii Nowgorod nimmt auf der Landkarte nur ein kleines Stück ein, kamn das mittlere Drittel der Wolga: gleichwohl braucht das Dampfschiff dafür drei volle Tage. Alich ans der Eifenbahn verbringt man viele Nächte und Tage blosi damit, daß C'ntferuungen zurückgelegt werdeil, gegen deren Ansdchnnng die längsten Strecken in Deutschland sich winzig anonehmen. Von Moskau nach Warschali oauert die Fahrt alis der Eisenbahn unuuterl'rochen zwei Nächte nnd zwei ganze Tage dazu. Die Geißel Nusllnnos sind die Entfernungen, sagt mau. Ja wol,l, wcil auf den langen Strecken noch so wellig da ist. Doch welcher Russe möchte das Wellige, was da ist, näher beisammen haben! (5r bevölkerl dafür die weiten Leeren mit Zukunft. Andere Enropäer werden anfangs vcr^ 15 drießlich, wenn sie, um voll einer Ttadt zur andern zu kommeu, ledeöinnl Nacht und ^ag dllrchfaliren iniissen. (^s sckläft sich lllier gut in dcu bequemen russischen Äahnn'agen, und die Nartesä'le und an allen ,^auvtstationeu mif da> Reichlichste ^uit allerlei guten 3pcisen lind (^rträukeu ausgestattet. Vei ^"l ansicrordcntlichon Weglänsscn, dio inau for: mid sort',uvncl ^Nt, suninnrcn »ich freilich die BalnMldcr; allein n'enll in>nl so uiele Taqe nild Nä6)to dulchfälivt, so vcru'brt man ancl, nichts in den Maslyöfeli. Diese sind allerdinaö tlielircr, al'> dei u»s, aber in den ssrößcvcn Ttädtcn auch s>llt, in den kleineren bereits erträglich, in 3t. Peterobmn und M^kan nnlstcrliast ciu 3rrichtet, ini <^an'^en lamn lnehr zu verqleichen nlit dcu Tiebc' bohlen, mit denen umu so oft i,n Orient imd den südlichen ^onanlandern uorlieb nelnnen nins;. Ter alten Ioliristenreacl "ber, i,n besten l^attdof Volulunn nnd ^riidstück '^n nelnnen und Mittag und Menddrod da wo mm« sich «lernde befindet, ^nßt sich in den russischen Ttadteu mit Vehaaeu trell bleibeil, ^ln Nllßlaud siildet der Neisende bei eiuia,eu c^uteu ()U! Vlchluttsscn, die besouoerö auch zu Landsiiicn führcu ulüsseu, ^!nnner nud Frauen aellua, die sich in der Weltliteratur wie ln den europäischen >>nn>.'Mdtcn mit Verständniß umgesehen, -utt der linterhaltnna, mit ihnen nimnit man mit ^eranüaen ^e llislige», aa»; mn'crniutlietcn ^priiuac der russischen Phantasie n>,ahr, die nichte weniger liebt, a!5 bei weiste^arboit Neraden Weg und Ausdauer. Dem ^iussen Ne!,n jedoch zur ^klte ciu gewisser nüchterner grober Verstaud, ein derber Tin» >ür das Wirkliche der Dinge, lind eine angeborue Zweifelsucht, «bcr welche tein Ideal Älacbt gewinnt. Ideale in Rns;lmid? biiebt es dort Ioeale ^ 3o liat sich erschrocken schon Mancher llcfragt, alo er aus der ersten lebhaft bewegten Ocsellschaft vo»l ^usseu kam. Herrliche Luftschlosser giebt es dort in Menge, 'n>n'r trank ich >uni crstcunial 3hcc in !^'ns;land. Köstlich ern'ärniond erfrischt er ^na/leich, uud schuleckt mir etwas Citrone so Mt, daß die schönsten l5nssel inl ,^i>nniel ihn trinken könnten, 3abei sah ich mir die Mne vortreffliche ^'inrichtnnsi an, (''in großer Saal hat eine angenehme Warme, ohne dasi mau den Ofen sieht. Anstoßende Zimmer stehn für .Herren und Tameu be r^it nou Vasclieu nnd Autleideu, nevseben mit allem uölhisseu beräth, ^ni Snale dampfen n»f der einen Ttelle mächtige Vrnten, Geflügel und fische. Au einer anderen liegen ansa,» breitet leckere kalte Tpeisen in größter Älauuichfaltigkeit. Wieder in einer anderen Ecke ist der Ttnnd für dic verschiedensten Schnäpse. Dnrch die Nlitte- des TaalS aber lanfen die Tische, besetzt mit Gedecken und mit Wein nn5 allen. Ländern, nnd zu icdeni Tische gehört ein flinker sauberer Kellner, 5>> denen mau mit Vorliebe schöu gewachsene Leute nimmt. In West C'uropa ist das Gewöhnliche, daß der Reiseude Abende im Gasthof sein Beefsteak uud Aett findet: in Nnsiland ist alle'? darauf eingc^ richtet, Tage lanss anf Eisenbahnen zlt wohueu, i>. Echnlcrinka. Da ich hörte, ich müsse noch ein paar Ttunden warten, bis andere Züge auf diesen Kreuznugspunkt einliefen, so eilte > erhebeli, Uud, o Öiuunel, welch' tiefe klebrige Masse füllte die ganze Ortschaft aus! Es war rein nicht zum Durchkommen, und ich wandte mich zuletzt seitwärts nach einem Auger, ivo Martt gehalten nulvde. Einige hundert Mädchen und Granen standen hier in ',woi laugen Reihen, Jede hatte etwas fleisch oder Griincs, ein paar Eier, ein Stück Kuchen, oder auch nur,!^ürbisterne feil — der ganze itram keine hundert Thaler werth, l^s zeigte sich manches frische iunge Frätzchen, das ganz niedlich wäre, wenn es nnr die Naseulöcher nicht so weit aufrisse, ^ch aing nun wohl eine Stunde We^s in das Land hinein, das sich in leichten langgezogenen Bodenwellen hinstreckte. Die Felder waren überall ziemlich angebant, der Wald schmählich verwirtschaftet. Zuletzt traf ich alls ein elendes Wägelcheu nüt Liunendach, in welchem eine Zigeuner»Fauülie hauste. Als ich znrückkam, war der Martt dnrch die Äauernwagen, die Holz .^orn l^änse nnd 2chn>eine brachten, bedeutender geworden. Da aber alles im schnnchigen Tchnfftclz steckte, so ließen sich Mann nnd Weib nicht so ohne Weiteres unterscheiden- Veide zeigten ganz dieselben harien Züge und standen da dick und steif luic Mehlsäcke, liudlich merkte ich, daß die Fellmütze oder das Tuch ans dein stopfe den Unterschied anzeige. Noch frühzeitig tam ich zu dem. glänzenden Wart- nnd Speisesaal znrück nnd sah mm bei Ankunft der Züge die Menge hinein- nnd hinauZströmen. lis gab da anßerordentlich uiel Nniformirte, selbst die Schiller der unteren Klassen au den Gymnasien, die Eleuen jeder Anstalt, alles trägt Uniform. Diese scheint eimual das Zeichen, daß der Inhaber sich ül>er das Volt erhebe, über die Tschern d. h. die Schmutzigen. Die Männer treten kraftvoll, rauh und nnbetümmert auf, uiele wetterfeste Gestalten darunter, fast alle schweigsam: ein rechtes 19 Eroberervolt. Nnter den vornehmen Damen sieht inan mehr, als bei nils, hiibsche Ziige, attmnthige (Gestalt und feines Benehmen, nuter den .Herren viel niehr artige Lebemänner, All' »nählig si^l mir auf den ineisten Gesichtern der Beamten nnd Offiziere wie der Toldaten ein steheuder, etwas trüber Zng anf, ein Allsdrnck nicht des Lebensmnthes oder von Oewecktheit oder anch nur des inännlichcn Selbstuertranens, Die Vleisten sehen vielmchr ans, als ständen sie ewig nnter harten: Kotn« nialldo nnd als würde ihnen die Ansführnng nicht leicht. Es sind, ich kaun eö nicht anders bezeichnen, Iwteroffiziersgesichter. l<». Landftiichen. Eine Ttnnde später, als >uir ^chinerinla verlassen hatten, war die Gessend verändert. Man ist wie vom ^ande mitten ttnfs ^.ücer versetzt, Es zeigt sich tein Hngel, kein Thal >uehr, nicht die leiseste Erhöhnug des Bodens bis in die weiteste Ferne, diese Ferne noch wie Licht nnd ^eere. Das Meer hat dem Lande seine Ebenheit, seine Lichtwciten aufgeprägt, dann ist es fortgezogen, nnd das ^and trägt immerdar don Eharakter der leeren Fläche. Doch, siehe da, em paar einstöckige Hütien, dazwischen Erdhöhlen, rinMmcher einige niedrige schwankende Vänme — der Zng san^t vorüber, schon ist es dahinten, nnr ein Flecken ans der graugrünen endlosen Tafel. Nnn kommt endlich ein Ttückchen Wald, lanter junge Eichen, schlanke weis;-flläu^'nde Birken danoischen — doch bald ist anch dies wieder "erschwnnden, kanm noch wie, ein leichtes Gekränsel auf dem ^oden zu beinerken, die weite glattleere Steppe nnd Einfamkeit herrscht wieder. Unterwegs sollte ich auch ein Nnssenpärchen ans alter Zeit kenuen lernen, wie sie Turgeniew, der nnter den lebenden Dichtem Newis; in der vordersten ^'eihe steht, so köstlich zu schildern weiß. Es waren herzensgute Lente, ein alter Hcrr nnd sein dickes Mütterchen. Tie schivatzten in einein fort init einander 2«! 20 und machten sich die zärtlichsten Angen- Als ich auf ihr« Aragon antivortete, woher ich sei nud wohiil inein Weg geh«,', da war des Verwunderns kein Ende. Sie gaben nur die Hand nnd liebkosten nüch, als ob ick) ihr lieber Vetter wäre, nnd bei dein Abschiede machten sie Knixe nnd Verbeugungen ohne (5'nde. Erst am späten Abend kamen wir in ,Vew au, nnd ein Istwoschtschik brachte mich ans dem windschnellen, leider allerseits offenen Wägelchen nach dem Gasthof in der Hauptstraße, eine höchst unangenehme Fahrt, die nur vorkam wie eine Stunde weit. Man darf im Spätherbst in Rnßland keine Reise machen: die Luft ist ran!) nnd schwer, nnd so dicht, als könnte man sie in Stücke schneiden. III. tiicw, >1. Russischer Gottesdienst. Als id, in ^iew audovn Morgons sriih vor das Hans kam, überraschten mich die außerordentliche Breite dcr Ttraße Und die Menge dor griiuglänzendeu Dächer. Ja, warum niclit 8VÜN? Orün wie Wald und Wieso, odl,'r a»ch dlau nn^? das Hnninrlsblau, daö hat doch cincn b'nuid : inir fiir lluscr Zickel-^oth oder TchicsMchn'M-z N'l't os loincn, als dcn Znfall drr Fmbo d^'s 3)!>tterals. Anf dcn Thcatrr^'ttclu ivav ch^'^'II' anqckiindigt, Wi>,' ^'ltsani schant nus in den freiud>,'n Lcttorn der ^iainc nnsovos Jaust an! <5s >var fvcilich nur d^ ('icnlnod'schc, doch w>>,' sehr auch Goethe's ewiges Gedicht bei Darstellung auf dein Theater abgeschwächt wird, ergriffen ist auch dor Bewohner des fernen Ostens, wenn er nach Hanse geht, von der nefen menschlichen Wahrheit, ,V'der Mensch fnhlt ja den Tenfrl im Busen, uud keiner is! leichter seinen ^rissen ansqesetzt, als der gelehrte forscher, oer nach einem ^eben voll Ardoit Wissensdurst nnd ^'utde!)ruug zuletzt eilisieht, wic wiinig doch der geistige Erwerb Gilles langen Lebens, nud nne kläglich arm es war an Lust und Wouue. Daun, n,'onn die ersten talten Abendschatten hnleinfallen lind ihm kein Ianülieuglück geworden, mag den edlen Darder wohl eine wilde Sehnsucht nach sonniger Lust cr^ 22 fassen, bis er plötzlich seine lauge Thorheit verflucht und zu einer größeren sich anfrasft. Mein erster Gang war natürlich zum Petschersk binallf, deul russischen Mekka, welches in der guten Jahreszeit tagtäglich drei- bis viertausend Pilger aus ganz Rnßland herbeizieht. Statt kirchlicher Gebäude stellten sich aber Maliern mit Zinnen dar, neue Festungswerke nnd Kasernen- Man geht durch ein Thorgewölbe nnd dann eine lange Budenreihe entlang mit Bildercheu und ^ichtcheu nild ganz ähnlichem heiligen ^ram, nuo er vor do>n Tom zu Maria Einsiedet» oder ^oreto feil geboten wird. Am (5nde der ,<,tanfbnden fübrt der Wog um eine (5cke, und über die Walllinic schaitt plöj'.licli eine ganze Menge von gold^ nnd grün nnd blaustrahlenden 5iup^ peln, ein prachtvoller A.ibiick. 3vischen dein Gesänge der Männer hören lieben. Was mich aber tiefer uocb ergrin, als das feierliche des (Gottesdienstes, das war die rührende ?lndacl)? alles Äotkes. 3iese Lento beteten so ans Hcr^ensgrnnde, sie bekren-Ugren sich und kiißteu den Boden so inbrünstig — man sah, l'nion n'ar die ^'eligion ein beiliger 3cha!; voll Weiln', Irost und l5rhebilnss. Alles ivas inan hier sah, war volksthinnlich, u>'d ich beneidete das Land, in welchem Volk und Kirche nud ^-taatswesen inniq eiu<' nnd in einander ver>vachsen. Eö liesst darin eine nationale Ttärke, deren Ergiebigkeit lloch lanfte nnerschöpstich, so wenig inan sich anch iu den höheren Ttänden ans Kirche nnd (Geistlichkeit macht. ,V.l der vornehmen Gesellschaft sieht inau höchst selten Geistliche, »nid Ne halten es mit Tici'en etwa wie wir mit Küster und Kantor. Dies aber gilt nickt von den Banertt > nicht von dein niederen Volk in den Ttädten, gilt anch noch nicht von den MitteMassen. Während bei den Tnrten sich Religion um noch stückweise oder sehr abgeschwächt findet, steht die gro^e Masse de>> rnüischen Kolkes fest ans kirchlichen! Boden, nud denkt gar nie daran nnd hat keine Nlinnug davon, dasi es anders sein könne, 12. Katakomben. 3er Klöster- nnd Kircheuriug ans dem Petschersc nihrt den "Mnen Lan'ra, ein (5hre!lnnme, der nnr de,i brei ältesten Mönchoansiedelnngen i,l Nnssland Ultonunt. Petschersk aber kcmnnt von Peschtschera, die ftöhte^ denu bis iu die Tiefe des Berges sind lange Höhleugängo gcfiilnt mit Krollen nnd Ka-pellen. 1lin die Mitte des 11. Jahrhunderts begannen hier die heiligen Nntouins nnd Vilnrion sich lNrotteu '^l bancn, nud fanden viele Nachfolger. 3a diese Männer im Iunem des "orges begraben mnrdeu nnd der Ort für besonders heilig Nmt, so wnrden nach und uach immer mehr Heilige nnd Mär» 24 tyrer alls den rltssischen Gegenden Hieher gebracht l>nd ;n ihrer Bestattung die Höhlcngänge waiter geführt, ^ulel'.t erhob sich die i)Nhl dieser Heiligengräber über hllndert. Um diese ,^n bcsnchen. bat ich ein paar Geistliche, die aus der Kirche taiiien, »>u eineil Begleiter- Tie gaben mir erst einen (5horknabell nnt, dann tam eiilev der Würdigsten nach und machte ans die artuM Weise meinen Führer, Jedermann verneigte sich tief vor ihm, nnd kiisite ihm ehrfurchtsvoll die rechte Hand, oie er dann nun Tennen anfhol', ^il den lanlien schmalen biänqen, die nnr nnt brennender 5ier;e in der ,^and durchschritten, war es ganz anders, als in den römischen ^atatomdeu. Tie glatten Wände glänzteil uon unzähligen Lichtern, zwischen denen in Gold- nnd Eilbcrzeichen Inschriften schimmerten, (5s wimmelte von Pilgern, nnd ans mehreren Kapellen erscholl lieblicher (besang. Die ,v^ilissen lagen, in offenen Tärgen, die Ulan läugs den Gängen im Felö' gestein ansgehanen hatte. Tie lvaren in 3ammet nnd Teide lind Ttickereien eingehüllt, nnd bei den »leisten lag ans der Vrnft die verdeckte Hand mit einein kireuz uon Goldborte. Wenn in der Osternachi oben in der Kirche das feierliche „Christ ist erstanden" erschallt, dann sollen sich alle die Heiligen in ihren Gräbern erheben nnd lallt denselben Gesang anstimmen. Mein ehrwürdiger Führer nannte bei jedem Grabe den Namen und gab jedem Heiligen drei ,^üsse, nud sah mich öfter darüber an, daß ich ihm da^ nicht nachmachte. Auch zeigte er mir mehrere Tchädel, die in dein Felsen eingelassen waren und Oel schwitzten. Tieseo beilige Oel, Myro genannt, wird weit und breit als der köstlichste ChrMm versendet znin Talböl bei den Sakramenten. Znlej^t kameil wir an eilten Mönch, der zwischen seinen Lichtern rineö von den berühmten „myrofließenden Häuptern" auf einer Tchüsscl uor sich stehen hatte. Der ganze nackte Tchädel glänzte nnd triefte von Oel. Ich sollte gleich den Pilgern meine Finger daran legen, hielt mich aber nicht 25 würdig dazu, weil ich nicht damn glanbte: darüber nlachten beide Mouche ernste Gesichter. Gleichwohl aber ivollte niei,i ,"vi!drer inich zn der andereil Abtheilnilg der langgewundeneu Höhlengänge begleiten. Mich aber ergriff, so geril ich auch noch de:u ehrwürdigen ^)lestor, dein Vater der russischen Geschichtschreibung, die Hand geküßt hätte, ungeduldige, Tehnsncht, aus der Moder^ nud ^erzenlnft heraus zukounueu- Herzlich dantcnd verabschiedete ich mich, so gut es M'heu wollte, denu mein verehrter Begleiter verstand uur Russisch, uud entwischte ins Freie, wo die Brnst im frohen Tageslicht wieder nufathmete. l:t. Dcr Dnjepr. x^ch gerielh hiilter de>u Kloster anr eine freie Anhöhe uud hatte tief unter mir uuabsehlich die herrlichste FUis;- nud SteM'nlaiidschafl, Der breitströmeude Dujepr uulfasü uut gläu^ zendeu bewässern uiedrige Inseln, drübeli dehueu sich endlos "nntle Waldbreiten nud graue (5bene. Die Wege ziehen über die laugen Vrücteu des Stromes uild unt Hellern Lillieu hinein Ut die weiten däninlernden Ilächen, Znr Rechten hob die "awra ihre dlanell goldsteruigen llnd golostrahleuden kuppeln kmpor ans ftattlicheu yaiueu, welche der Herbst bereits gelb und bräunlich färbte. Tas Kloster ist das größte und geschinücktcstc ^ligthniu der Russen, es soll an edlen Metallen »no steinen uud Perlen weit mehr als eine Milliou au Werth umfassen, Auf nud ab verfolgten meine Blicke deu Lauf des breit-welligen Dnjepr, (5s ist eiu gewaltiger prächtiger Strom, nud die Poesie bekränzt seiile Ufer, Die schöuen kleinrnssischeu Volkslieder werden wohl uusterblicl, seiu, lind zwischen ihre»: ^ileu wird inuncrdar der Dusepr lvoqeu nud gläuzeu. Mein Ttandpnnkt lvar alif ziemlicher Höhe zwischen zwei "nickeu, '^ur Linken lies; sich eine Hängebrücke erkennen, und ^'eil ich glaubte, ihr künstlicherer ^an sei jünger, nls die andere 26 oben am Flusse, die blos; auf Pfeilen rill)te, so schien der Tchluß am Orte: diese letztere sei die alte Stadtbrücke, ivelche schon vor dreißig Iahreu der Engländer Teviniol erbaute. Da sich auf dessen Brücke die Stadt wunderberrlich ausuehmen soll, so suchte ich meinen Weg dorthin, indem ich noch einmal die Vostcrhöfc nnd Festnngswälle zu durchschreiten hatte nnd dnnn eine lange breite Schlncht hinabtam, Als ich endlich unten stand, war es aber die ncne C'isenbahubrncke. Nun wogte mächtig der breite Strom daher, nnd hart daran 50g sic'b die weitgedehnte Länge der mächtigen Uferhöhn, die hier mit Gebüsch nnd Bäumen behängt, dort nackt nnd sandig gleich wie riesige Tünen sich darstellten, Ich entschloß mich, dl?n kürzesten Wog ;n uiandern, arischen dem Flusse nnd feinem Hochnfer, eine gute halbe Stunde Wegs, kam aber schön an. Tückisch empfingen mich gräßliche Nothtiefen, eine hinler der anderen, nnd ^ede folgende schlimmer als die überwundene. Nie viel hätte ich nm das schlechteste Gefährt gegeben, aber in dieser Ocde wollte nichts sich geigen, als ,holvird si?iii Heldeusinn so weich ulld sliisfia, so vol! ir.nioalnUer blinde nnd Tiefe», wie btt breite qleitendc Noth in den Gassen seiner Ortschaften, ^n Nmiz Aiitteleuropa haben die Ministerien in einem ^ahrhundort uicht so viel Nnssliick init ihren Männerli ano nichlpolitischen ^'rnndcn gehabt, wie da>> Pester seit dreizehn Iahveu. Unter so trüben ^etrachtnnqen erreichte ich endlich die Hänliebrncke, sab niich aber vergebens nach dc>n Nnwne der ^tndtansicht uni. ^ch ging die ganze Äriieke ^» d'ude — Ne ist ein stattlicher Ball — aber es wollte, so oft ich mich Nlckwärts wendete, kein Ttadtbild werden, sondern nnr ein ^cmMbild, dicseö allerdings etwas feenhaft. Ueber dev mäch ^gen Uf^vwalls.V'öhe schancn an inehrcren Ttellen die goldenen und griine» Zwiebel ^nvveln, hier ciineln, dort gebänfc — ein ^ubliek cin'ii^ in seiller Art, Nach bische gab es in Kiew noch viel zn sehen. Es ist wle ächt rnssische Ttadt, wie sie vor dreißig Jahren fast alle waren, el,e vandel »ild Oewcrbe die Ttrasien ans- nnd .>ubanten, ^ rin weitgedehxtes Nebeneinander von Palästen, Kirchen nnd Hntten, Ncgiernngsbanten, Bürgerwohnnngcn nnd bäuerlichen Gehöften, alles das zwischen Hainen, Wiesen nnd weit onenen Plätzen, hinter denen sis) niedrige Hänserlinicn hinziehen. Tas viele Lanbgrnn nnd die allseitige Offenheit nnch das Wohnen ui solchen Ttädten gesund nud angenehm machen, voranogeseftt. 28 daft mau immer fahren kaun, um die Entfernungen zu überwinden. Kiew's Umkreis besitzt neben der Kloster- nnd Festnngsstadt iloch ein paar Ttädte, eine ^indenstadt mit Mineralquellen, eine alterthüniliche 2tadt init merkwürdigen Kirche)!, eine Hafeu-und Handelsstadt Podol unten a>n Dnjepr, und eine modisch europäische Ttaot, den Kreschtschatit, in nielcher uorzngsweise die Menge der Deutschen wohnt, und diesem Ttadtthcil gehört auch das stattlichste Nathhans, die prächtigste Kirche und der schönste Park au. Gleichwie bis ',,, Anfang dieses Jahrhunderts Kiew die hohe Schnle der gelehrten Theologen blieb, die uou hierher in die russische, Welt ansgingen, ist es jetzt der Titz einer beliebten Universität, Im Eingänge vom Bahnhof l,er steht das 6r',lnld des Orafen Vobrin^ki, der die ersten Fabriken für Rübenzucker an-legte, und ans der Höhe über dem Ttrome ragt empor auf hohem Unterbau das gewaltige Ttandbild Wladimirs, des He! deufürsten und Volksbckehrers — ein tüchtiges Werk cineo Deutschen, Knodt, leider ans einer Zanodüire, deren Abweichen man fürchten mns!- Im <^an;en ist ,^ieiu eine der schönsten nnd angehendsten Städte ans der Welt, nnd insbesondere heimelt es dort den Geschichtsforscher au, Ans ältester ^eit ragt das Andenken herüber an das hochanfgenchtete Tilberhnupt de5 Götzen Pernn, das einen goldenen Tchnnrrbart hatte, Penins Hügel aber wird überstrahlt von den Tagen nnd Dichtungen über Wladimir, .die „helle Touue," ebeu jenen biroßfürsten, auf dessen Aefehl sich plötzlich das ganze Volk n>m Christenthum betehrte, der auch die prächtigste Tafelrllnde von zechenden ^traftnienschen nm^ sich hatte. Toweit nian den Tnjepr Ulit dein Rhein vergleichen, und soweit man.^iew ein rllssisches Roin ueuueu darf, iufofcrn möge mall Wladimir dcn Grosien, für welcheu die dautbaro Kirche nllch deil Namen des Apostelglcichm ersann, der genau 29 zwei Jahrhunderte nach 5larl dem Großen starb, immerhin nut Diesem vergleichen. Er war, wenn auch kein großer, doch ein kunstvoller und einsichtiger Fürst, und da mit seinem Uebertritt zum Christenthum eine ne»e ,;eit für Rlißlnnd begonnen, that mau Necht daran, ihm in ^liew, dessen Nnhin damals rasch emporbliihete, aus oer herrlichen Höhe über denl breitglänzenden Strome sein Denkmal aufzurichten. 15. Europa und Asien. Wie dieser Strom seine Wogen dahinwärt in unabsehlichc Weiten! Noch im fernsten Horizont glänzt seine breite helle Linie. Wie viel bunte nud wilde Geschichten spielten sich an seinen Ufern nb, wieviel Heloeumuth nnd wie viel Tollheiten, von dem Tage an, wo hier die Gö!;eubilder in seine Fluthen gestürzt wurden, bw zu oem Tage, wo jüngst auf derselben Stelle, wo jetzt des „avostelgleichen" Fürsten Niescnbild empor ragt, die Nihilisten ein blutig Opfer forderten. Etwas Seltsames, schwer Verständliches liegt doch iu der Geschichte des russischen Volkes! Durch Germanen hatte es im nemueu Jahrhundert seine erste festere politische Gestaltung, und -,n Fude des folgenden Jahrhunderts von den Ayzantinern seine kirchliche empfangen. Völker müssen ja stets, wenn sie ans dnutlem Barbarenthnme, heruor uud ins Licht der Weltgeschichte treten, Bildung annehmen von höher stehenden Nationen. Damals war VyMtz, des Morgenlandes Hauptstadt, der leuchtende Herd aller höheren Nildung, dessen Strahlen über viele mehr oder weniger nm° nachtete Völker hinüber fielen. Von dem edlen Tchwesterpaar., byzantinischer Prinzessinnen ging die kluge Theophmm nach Goslar, des deutschen Königs.hos Ul verfeinern, mW die andere, die schöne Olga, mußte, sich traurigen Herzens entschließen, in 5iiew an der Seite des wilden nnd mächtigen Wladimir zn thronen, ^n Cherson geschah die Vermählung, am selben Tage 30 nahm der Fürst die Taufe, und nach seiuer Rückkehr erging sein Befehl, die Götzenbilder uon den Altären zu stürzen nnd das Kren; anfmrichten. An Gehorsain gewöhnt gehorchte das Volk sofort: gleichsam über Nacht wurde Rußland christlich. Abcr nicht dritthalbhundert Jahre sollte es Zeit haben, sich in die nene Geisteswclt hineinzuleben, da kamen nnabsehlich schon die mou golisckien Reiterschwärme herangebrailst, mähten > i^4 iu der Schlacht an der Kalka die Vertheidiger Rusilands nieder, und das ganze Volk mnßte nnn wieder dritthatbhimdert Jahre ein asiatisches Joch tragen, tragen so lange, bis die Macht seiner Beherrscher, der, „goldenen Horde", dnrch den neuen Welt^ stürmer Timur gebrochen !uurde. Nnn wendete Rußland aufs neue der enropäischeu Cultur iNlfstrebeild sein Angesicht zu, nnd ^,van, der Kroße holte sich zn ihrer Förderung wieder eine Byzantinerin, die Nichte des lchlen Baisers, (5r und der andere Iwau, der Tchreckliche, und die ersten drei Romanows arbeiteten wohl daran, Bildung ins Land zn schaffen, allein es ging damit langsam, sehr langsam uoran, in den nnteren Volksschichten kanm merklich, bis Poter der Große, auftrat und eben so geuial als gewallthätig dein Fortschritte mit Kenlenschlägen Nanm schaffte. Daranf ging es imnier wechselweise: bald war eine refor-mirende nnd liberale Regiernng oben, bald eine altrussische und selbstsüchtige. Die eine Richtnng entlehnte Gedanken nnd Antriebe der europaischen Bildung, die andere gab dem despo-tischen Staatswesen Asiens denVorzng, indem sie dabei, merkwürdig genng, sich auf eine Beaintcnhierarchie stützte, die gam nach Die größte Despotie, aber auch die glänzendste Machtcntfaltnng zeigte sich nnter Nikolaus I,, die größten Wohlthaten nnd Reformen ließ Land und Volk angeoeihen sein edler Nachfolger. Mitten nnter weitgreifenden Maßregeln, welche seit sieb-zehn Jahren, insbesondere dnrch Aufhebnng der Leibeigenschaft, 81 den russischen Volkskörper in eine Arbeit tiefer Nmwandlnng versetzen, bemächtigt sich plöl;lich weiter gebildeter Kreise eine Richtung, die C'nropa und seinen Reformen grundsätzlich feind ist. Man will Land nild Volt davon uiriictreißen nnd lediglich a>,s sich selbst stellen, nnd schente nichl znrück vor zwei wilden Strömungen, die ans doiil dnntlcn ^chooße des Voltes auf steifen. Dabei wird auch offenbar, welch' ein .Zwiespalt das ganze Volk entzweit. (5s bwllcht knnin gesagt zu iverdeu, das; hier von den Alt rnssen, Tlauophilon uud Panslauisten die Rede, nnd es ist uon nicht gcrillgc,n Interesse, den seltsamen Nindnngen ihres Ge-dnnkonganges zu folgen. Kl. Altrussischc Idccn. Der Widerwille g^grn den Absolnti<'üinv, nach dessen Gc^ fallen sich die ganze Voltsmasse nne bildsainer, Thcm nic>deln sollte, war der eine, - der Widerwille gegen das rast- und ruhelose europäische Reformiren nnd (5rMrimentiren der andere AnsgaugsMnkt. Das eine Oefnhl wnrzelte in den gebildeten Ttänden, ollrch das andere zog die schwere rohe Masse zn sich herab. Das große gewaltige Rnsscnuolk, hieß es, hat ein Recht zn sein, wie nnd iva5 es ist. Ls gilt fnr sich nnd dnrch sich, u>ld gilt nicht nach dem, Maßstabe, wie es sich der europäischen ^ultnr anbequemt. Tnrch diese 5tnllnr wird es gehetzt nnd Ersetzt nnd Uusittlichkcit, Verderben, Ohmnacht ist die Folge, "lso nieder mit dieser ktnltur, fort mit ihrer Herrschaft. Wir Mben nnsere liralte, ächt nationale ktultnr, wir haben nnsere ureigene nationale ^nknnft. Aber woher wißt Ihr das, odor vielmehr: womit beweist Ihr das? — Antwort: Wir Russen sind ja ein großes ge^ wattiges Volk, an Land nnd Lenten so groß als das gauze West-Enropa, also müssen wir doch nnsere eigene nationale 82 Kultur habeu. Erst herrschten die Romanen iiber Europa, daun knin die Zeit der Gernlanen, iejN ist es an den Slaven, Nl herrschen uud die Civilisation anznführen. >^ene Völker siild ja verbraucht uud abgelebt, >uir Slaven aber haben noch keine welthistorischen Thaten gethan, also sind wir voll frischer, nr-surnnglicher 5lraft. Seht z. V. nur die Religionen an! Der Russe ist nieder katholisch, wie eo der Romanen Erbtheil, noch protestantisch, wie es der Germanen Natnr ist: der Rnsse ist orthodor, er besijft also die Einheit beider Religionen und damit anch ihre Ankunft, So Hort doch auf, lautet die Gegenrede, init diesen Schlüssen ins Vlnne: sagt lins lieber, warnm ist deiln die ganze rnssische Entwicklung bioher iin eilropäischen Schlepptau geblieben^ ^ Das ist eben, erwidern höchst ärgerlich die Altrussen, das Unglück nnd das große Unrecht. Rußlands Volt hat sich niemals aus ureigenem Schoosie entwickeln können: erst störten es die Waräger, dann belasteten es die Mongolen, endlich tyrannisirten es Peter der Große nnd seine Nachfolger. Aber so zeigt uns wenigstens Krnndlagcu nnd Ansätze der eigenthümlichen Nationalknltnr! — O der Thorheit, schallt die Antwort zurück, daß man nicht sehen will mit offenen Augeu! Seht hier die soziale Grundlage, das ist der Gemeindebesitz des Acker- Wald- nud Weidelandes, und seht hier die sittliche Grnndlagc, das ist der patriarchalische Instinkt des Gehorsams, der Wichten Frömmigkeit, der Ruhe und Mäßigung in Arbeit und Genießen. Es leuchtete nun den Eiferern nicht ein, daß die Germanen und wahrscheinlich auch andere kvulturuölker den Ge« memdelandbesi!', mit den Kinderschuhen abgestreift haben, nnd daß in den Aeußerungen des berühmten patriarchalischen Instinktes sich verdächtige Hinuoigumi zu asiatischer Gewöhnung offenbarte. Genug, es war daunt die Verbindung mit den Feinden der gegenwärtigen Ewilisation gegeben, mit Sozialisten, 33 die oen Gemeindelandbesit; u>olsen, dabei aber alles ^echt der Nationalitäten als Nassennnfng verneinen, — und mit Nihi' listen, die von einem Dämon verueillendcr Kritik besessen sind. Jene meinen Wuudcrs, welche Weisheitstiefe barin liege, das; das rllssische Wort für Gemciude — Mir — die Welt bedeute. Diese sind mit ihrer Kritik rasch dabei angelangt, alles bestellende für schleä)t, nnirinstichiss und zerstörnngüwrrth ^n halten, nud siild damit iu ciue sseistisse Krankheit uerfalleil, wie sie iu Indien einlieiiuisch nnter den Qualen der Tounena,!n!t, das aber mehr au asiatische Geschichten, als au europäische Denkweise erinnert:' Tollte denn wirklich im russischen Volke uoch ein asiatischer Vodensa«, zurückgeblieben sein, welchen die K'nltnr noch uicht hat aufsaugeu tounen? ^st es denn möglich, das; nicht jeder ruhig Denkende die gauze Hohlheit dieses Treibens durchschauet, daß mau nicht erkennt, wie alle die slavischeil Ttämme, deren jeder bereits seiue Geschichte uuo Bestimmung gefunden, zn einem Gesammtkörper sich ebensowenig ^usammeu ?.4 schweißen lassen, al^ etz den Deutscheu je einfallen könnte, die Länder der Dänen Tchweden Norweger Hollander und ^iu^-länder erobern zu wollen, uui sie zum ^ieich^gan^en zu uer lnndenV Tollte denn wirtlich nicht in ollen kreisen von nur eüügernlaßell Verständigen in ^»ußlaud die Einsicht herrschen, daß ein Volk noch nicht ans den Höhen seiner >,eit sich befindet, wenn umn VerMlsseuheu uud Zukunft aufbläht zu phantastischen Lnftqelulde», daß uielinehr Finnland noch unendlich uiel dl^rch sseduldisse Arbeit nnt K'opf >lu,d,v>aud nach zuholeil hat^ IV. In dcr llkrmno. I?. Lccrc Flächen. Neil ich in der Abfahrtszeit des Nacht',uges mich geirrt ljatte, tain ich i» Vow drei Stuuden ,;>t sriih ,unu Vahuhof. b^> lvnr duntel, und ich kol^ntl: inich koiin'^ Vt)fannton i» dios^r Ttadt cutsinnen, bli^> dahev rulnss in: Nartos>uil, jedoch nicht alkin. D^'nn es daucvtl) nicht lnn^c, so kaxicii Vcrvon nnd Dnnu'n, ci)!,^'ln nnd qmppcnnx'ise, nnd wavtctcit auch, i»doni lie «no Ttundc nach dn' andcvcn nnihcniinsson oder saß^n und Zigaretten rauchten. Tie hatte.!, also recht viele ^>eit übrig, -^anin und >',eit hat, wie es scheiut, teiileil Werth in Nußland, "can i!t eben nicht geiuohnt danach 2hätuikeit iino Aufsichten "dzuuiessen. >lnf deiu Bahnhof dieser altderiihiuteli Universität^ und ^llcier!tadt gab es keine ^eitunnen, dafür >var er in nui so att^giebisser nüt feinen Schnäpsen nnd Speisen bestellt. Aber auch aus Anist, und Reisetasche der Neiseudeu tam all die Stunden her keine Zeitung, tein Blich zuin 3'orschein, Die Mückselissen, daß sie so uollanf sich selbst ssemuilen! Wahr scheinüch dachten sie so viel, daß sie gar nichts mehr hinzn lesen tonnten. Es wußte wohl die Menge von News historischeu Aanleu und (5'nnuerungeu daran Schuld sein, daß mir anderen Mor- 3* -m gens das Land gar so leer nnd nackt vorkam. Niedrige Tteppe und niedrige Waldnng, zwifchendnrch Welder, dann cin einzelnes Gehöft odor cin Häufchen kleiner Ttrohluitten, nnd nnedernni die einsamen einförmMN Flä6)cn dor Tteppe. In dieser Armseligkeit haben die Menschen hier seit ^ahrtansenden gelebt, der Boden hat nichto von ihnen empfaugen als Ackerfurche nnd Wegspur, als leichte vergängliche Hiitteu nnd in weiten ^wi säienränmrn einige Plä!;e, die mit Wällen und Mauern be festigt ivaren, an5 denen spätere Städte entstanden sind. lind doch hat die Ntmine eine tansendjährisse verbriefte Geschichte! Tie Wämser sind fiekonnnen lind das slavische Volk hat sie willia, als verrschcr rnipfancien, ^- dann wnrde das Chriftenthuni anbefohlen, lind das Volk ualnn eo nnllis, von seinem Fürsten an, — dann kamen die ränbevischcn Horden del Pet^ schenegen nnd Polon'ien, nnd oas ^lolk flüchtete nach jenen be^ festigten Pläp.en, den Broden, - dann liatsich dies6)U'är;liche Mo' goleu Flnth übev das ^!and sscwälzt, die alles wegrisi, die Leuw flüchteten in Wälder nnd sümpfe, nnd als der tödliche Tchvccken sich legte, kamen sie ivieder hervor u,!d bauten ihre ärmlichen Hütteu nneder ailf, — danu stürmten die polnischen Neiterge schwader über die Tkeppe, nnd die Bewohner erkailntcn sie willig als >>err«> an, ^ endlich ',ogen die Kroßrussen heran, vertrieben die Polen nnd unterdrückten die 5tleinrnsscn. Diese Kä'mpfe gegen den (Pechen nnd Moskowiter, besonders das siebzehnte ^ahrhnndert, da>> nnn die romantische Kosatenzeit. Ihre verwegenen weiter flogen iibcr die Steppe, ihre kleinen ^ahr^enge legten sich zll plündern hier und dork an die, wüsten dc^ Tchwar,^cn Meeres, aber e5 war nnd blieb cin KNein und Naubkvieg, freilich immer genug, daß 3age nnd Tichtiing noch lient^utagc davon ^ehreu. Als oou dcu Großrnssen endlich jeder Widerstand niedergeschlagen war, da begnügie das Volk sich wiederum, seinen 5tohl ;n baneu und seine dürftigen Strohdächer auö'inflickcu. Regte siä) deun gar kein schöpferischer Gedanke 37 w diesem Volke? Strebte es denn niemals aus eigenem Antriebe danach, sein Land zu schmücken nnd seine Zustände zu veredeln? Nein, es baute seineu Kohl und flickte seine Strohdächer. Wahrlich, cs köunte Einen der schnöde Gedanke an> wandeln: ob es denn viel verschlagen hätte, wenn die tausend Jahre hindurch hier, statt dieser Menschen, so viele Millionen Hamster oder Murmelthiere gehaust hätten? ^ Ties? Landstriche nber abhörten zn den gesegneten Gefilden ^tleinrußlands, — weiter drüben, in den ungeheuren Ebenen der Großrussen sollte das Land noch viel leerer, das Volk noch viel ärmlicher sein. Es fröstelte mich, wenn ich dnrnu dachte nnd wie weit es noch bis zum Ural. 18. Wladimirsngrn. Während dor ^,ug iu diesen leeren Landschafteil weiter «ilte, unterhielt ich mich mit den alten Sagen, in wMen sich im Gedächtnisse des Volts der Uebergaug zum Ehris!enthum feststellte. Sie goben uns ergötzliche Belege dafür, welcher Gc schmack vormals in diesem Lande herrschte. Wladimir, so wird erzählt, unterhielt zu seinem Vergnügen dn'i qroße Franenhöfe: der Hof in Wyschegwo umfaßte dreihundert Kebsweiber, der in Vjelegroo eben so viel. uud der kleinere Hof in Berestow noch zweihundert. Alo er Nognedn, eines Nachbarfürsten zu Poltest schom Tochter begehrte, ließ Diese ihm sagen: „Niemals werde ich einer Sklavin Sohn ent-schuhen." Es war nämlich seine Mutter auch nur ^eb>weib M'wesen. nnd die Sitte erforderte, das; vor dein Brautbette die iunge Gcmahliu dem Ehelierru die Schuhe auszog, zum Zeicheu oemüthigeu l^ehorscnns. Auch ivar es verkommen, daß der Vater seiner Tochter, wenu er sie verlobte, mit eiuer neuen peitsche ein paar Streiche gab: darauf steckte der Schwiegersohn die neue Peitsche daukbar in den Gürtel. Der Großfürst aber ritt ergrimmt mit seinen Kriegern zum Lande Nognedas, lind 38 nachdem er in dor Tclilacht gesiegt hatte, ließ er sie und ihre (5ltern nnd Brüder herbeiholen, eutehrte die ^ilugfrau in ihrer Blutsverwandten Gegenwart, und nachdem sie daZ augeseheu^ wurden sie niedergehauen in der Vrantlnmmer. Nogueda nnißte nun Wladimir folgen nnd er nannte sie spöttisch die „Kummervolle", Gorestnaia. Tie aber vergaß nicht der Blutrache Pfliclft, nnd als der Gemahl sie einmal in ihrem Hause besuchte, .^og sie einell Dolch nnter denl Kopfkissen hervor. Von der Bewegung erivachte der neben ihr schlafende Fürst, und da sie kühn die Mord Absicht gestand, hieß er sie aufstehen und ihre fürstliche Tracht anlegen, denn gekleidet als seine Gemahlin solle sie, dcn Tod erleiden von seiner eigenen Hand. Als er nun in ihre Kammer trat, swud sie da ini Prachtkleioe, hatte nber ihr Töhnchen vor sich hingestellt, und, erweicht durch seines Kindes Flehen, schickte er sie Beide fort. Dem obersten Gott der Nüssen, dcm großen Perun, ließ Wladimir Bildsäulen an den Flüssen errichten, in Kien» die berühmte mit dem silbernen Haupt nnd goldenen Tchnurrwitsch. Gleichwohl machte er iuogeheim Religiouöstudien uud fragte Juden und Deutsche, kriechen und Bnlgaren aus. Die israelitische Religiou verwarf er, weil ihr Volk armselig in Vcr-bannuug lebe. Am Mohenuedcmer Glauben mißsiel ihm die Aeschncidung, nud ohne Wein, fagte er, könne man nicht leben. Die christliche Religion schien ihm noch die beste ,;u sein — aber welche? Es gab eine griechische nud eine lateinische. Da ließ er seine Bojaren holeu und kündigte ihnen an: die gcn^e Welt verehre nur einen Gott, sie müßteu ihreu (M'.en den Abschied geben nnd Christen wcrdeu, uur wisse er nicht, ob er sich nach By-Mii oder nach Nom wenden solle. Die Bojaren erwiderten: „Herr, dn hast Necht, wir wollen Christen ».'erden. Cchicke Gesandte aus, die sich näher erknudigen, was besser isl> Griechisch oder Lateinisch," Die Gesandten zogen ab, und als sie zmüctlameu, lautete der Bericht: in Rom habe der Gottes»- 39 dienst viel Schönes, nur fehle das Crhabcnc; in der Sophien-Kirche dagegen hättcu, sie himmlischen Gesang gehört, den dnf-tigstcn Weihranch gerochen nild die allerprächtigsten Altargc-wänder gesehen, und die Andacht sei still nnd feierlich gewesen. Da sagten spürst und Braven: „Das ist die wahre Religion," und Wladimir, dem es ans eine Frau, mehr oder weniger nicht ankam, ließ nach 5tonstautinopel melden: wenn nian ihm eine. Baisertochter schicke, wolle er Christ iverden, nnd der Patriarch von ^yiauz ivürde geistliches Oberhaupt von ganz Nichlaud. Die ktaisertochter tam an init vielen Mönchen nnd Popen, und Taufe nnd Vermahlung geschah aus einen Schlag. Nun ließ der ttrosifüm in seiner Hauptstadt ^iew verkünden: „Wer sich morgen früh nicht am Tnjcpr einfindet, sich taufen zu lassen, der ist meiu Feind." Da sagten die Leute zu einander: „Wenn das Christenthum nicht etwaö (iiuj^ wäre, wie hätten e^ denn nnsor Mrst uud seiue Bojaren angenommen:'" Andern Äiorgen5 ivaren beide Ufer bedeckt von warteuder Volksmenge, nnd al? der (Großfürst erschieu uud die Haud nach dem Fluß nuostrccklc, stiegell die ^eute eilig iltv Wasser, die Einen bis an die Brust nud die Auderen bis an den Hals, und tauchten unter, während die Priester sangen. Und so waren sie alle in der Schnelligkeit Christen gewordeu. Nun aber ging es dein stolzen Pernn au deu ^lrageu. Mau warf ihm einen Strick um, ließ ihn vou emem Pferde vou seiner Höhe herunter schleifen bio auf die Brücte und stürzle ihii, kopfiibcr in den Strom. Da kam er wieder empor und stöhnte und weinte. Er hatte aber noch Anhäuger, die ihm zuriefeu: „Schwimm heraus, Ichwimm heraus!" Peruu folgte dem Rathe, er schwamm mülp selig zum Ufer hin und wollte an's ^aud. Toä) die neueu Christen fielm über ihn her, banden ihm dicke, Steine an den Hals nnd warfen ihn wieder ins Wasser. Nun nnchte Pernn wohl weiter schwimmen; denn an beiden Ufern gingen Bewaffnete, uuo wenn er ans dem Wafser heraus wollte, stießen fie ihu 40 mit den Speeren zurück, und immerfort mußte er mit dem Strom abwärts schwimmen, bis er an die großen Wasserfälle kam. Da brach er im hinunterstürzen den Hals nnd wurde todt aus Land geworfen. Sein Vetter aber, der Pernn zu Nowgorod, war klüger und schwamm, als man ihn in den Wolchow gestürzt hatte, ssleich stromaufwärts, uud als er an die Stadtbrücke kam, warf er einen Knüttel hinauf nud rief: „Da habt Ihr etwas zum Andenken." lind noch lauge nachher ließ sich am Jahrestage dicfelbe Stimme hören, dann liefen die Nowgoroder auf die Arücke nnd priigelteu einander zli seinem Anbellten. 1». Deutsche Ansiedler und russische Offiziere. Soweit die russischen llhrouikeu nnd Sagen mit ihren etwas klobigen Geschichten. Wir wenden uns wieder der Gegeilwart z». Tcit ein paar hundert Jahren sind einzelne deutsche nnd andere Fremdlinge anch in diese (legenden am Dniepr und weiter bis zur Wolga gekommen, haben das Ge-werbe etwas in Schwung gebracht, selbst der Ackerbau nahm, wo sie ihn betrieben, höhere formen an. Dadurch hat das Land auf mehreren Stelion ein anderes Ansehen gewonnen. Denn durch ordnenden deutschen Verstand läßt sich bei der körperlichen 5lraft der gemeinen Nüssen, bei ihrem natürlichen Geschick nnd Nachahmuug^talent im Kleinen, bei ihrer Genüg-samkeit nnd Lnst zn gehorchen r>iel erreichen, wenn die Wucht cäsarischen Vefehl<' dahinter steht, Würde ans diesem Wege konsequent nud mit bescheidener Vor nnd Umsicht nur noch ein paar Jahrzehnte weiter gebant, so möchten die Erfolge eben fo grosi als sicher sein. Ob dies aber in der jetzigen Brandnna wilden Begehrens nud unklarer Wünsche zu hoffeu, das ist freilich eiue andere mage. Wie viele Dentsche auch iu dicseu eutlegeueu Strichen Sildrnsilands in Thätigkeit sind, ließ sich mehr nnd mehr be- 41 inerken, als wir um Mittag von der hauptlinie, die nach Nnrsk und 3)loskan fiihrt, ab und auf die Zweigbahn nach Charkow kanten. Die Wagen belebten sich nach und nach in demselben Grad, als die Gegend mehrere und größere )teu^ bauten zeigte. Wie bei uns, stiegen Mele ein, nin schon nach einer oder anderen Station wieder abzugehen. An den Halt-ftlätzen waren zahlreiche Bauernwagen, klagen Getreide und .Zuckerrüben in ^iassen aufgehäuft nnd kleine Berge von Lässern niit Neis und Mehl, Zucker und Spiritus. Vlehrere ^euts6)e Namen wnrden genannt, welche die neuen Fabriten der Umgegend ins Leben gerufen, nnd die Unterhaltung ward uicht uur lebendiger, sondern vielfach auch in deutscher Sprache geführt. Ein paar junge Kaufleute kamen aus einem andern in u»sern Wagen und dabei sagte der Eine: „Nehmen wir unseren Offizier mit, damit wir doch Spaß haben." Richtig, der Lieutenant, der diefen iungen Lcntcn dazu diente, den Weg Hu kürzen, kam und fah so bedeutend oder nnbcdeutend aus wie andere russische Offiziere niederen Grades. Ihren Degen schnallten sie gewöhnlich ab und warfen ihn ohne weiteres zu bkm übrigen Gepäck: als eine Ehrenwaffc schienen sie ihn nicht gerade zu betrachten. Später erfuhr ich, daß in Nnßland die Dfsiziersnuiform noch keineswegs znm Eintritt iu bessere Ge» sellschaft berechtigt, vielmehr hänfig bis zum Oberstlieutenant ^)cr das Gegentheil. Teit Einführung aber der allgemeinen Wehrpflicht hat sich, so hies, es allgemein, der Soldatenstand, so tnrz die .^eit ist, ansehnlich gehoben. Auffallend ist, was von den vielen Selbstmorden unter rns' s'schen Offizieren erzählt wird, namentlich unter folchen, die Jahre 'ang in einem öden tranrigen Nest der asiatischen Provinzen verweilen müssen. Tie Leidenschaft, weite entlegene Gebiet zn besetzen, scheint außer manchem stillen Opfer auch Verluste an feinerer militärischer Vildung nnd Befriedigung zu fordern. 42 20. Russische Sprache. Daß wieder mn mich ber deutsch gesprochen ivnrde, >uar mir willkomnien. ^ch hatte nlir in Leiuberg eine russische Sprachlehre gelauft und mich in jeder freien Stunde fleißig dazu gehalten. Allein ich mußte sc!)on aiu dritten Tan völlig dnrcnt verzioeiteln, das; sich ohne, ein paar Wochen ernster Studien Russisch lernen lasse. Diese Sprache ist reich und uoll Kraft und Wohllaut, aber fort und fort fiins widerstreitende Konsonanten aus der ^unge zil verschuielzen, dao lernt sich nur in der Aussend. ,V>) gab uiich zufrieden mit den ^ahl-nwrtern lind ein paar Phrasen, nud hatte, da ich oinmnl lesen konnte, meinen 3paß an uieleu Wörtern mit kuriosem 5ltang nnd der zarte ^nut der Liebe lautet wir ^cho, nämlich Lnboiu, während das Värenthier den ivcichen Namen medwjcde führt. Wo die Westländer a,nt oder l>on sassen, krächzt der Russe sciu charasch^/ für groß hat er da5 lustige weliki, eiu Donnerer wird ein grämlicher hnstender Kauz von birämeschtschik, der Stock ist ein trostje lind der Tod ein smertje; ein Frisellr aber nnrd auf Russisch geuannt Perrnkiuacher und ein Dorfschultheiß Äurmistr. Lcritt mau un» die Sprache naher kennen, iuöbesoudere dadurch, daß uiau sich (Gedichte ano dein Rnssischen in's Deutsche und au5 deut Französischen in's Nussisck>e übersetzen läßt, so erkennt man auf der Stelle, wieviel Kraft und Fülle, Flüssigkeit, feine Äiegsamkeit uud Wohllaut dieser Sprache innewohnt. Sie scheint mir aber weniger eine Mäuurrsprnche, als von hübschen Francn gemacht, die heute rosig lächeln nnd tosen, morgen leidenschaftlich entflammt sind, nud sich dann gleich wieder in allerlei kleine bücken uud Listen stecken und nichts lieber thun, al5 mit Deukeu und Empfinden sich im Fließenden und llubcslimmteu ;u ergehen. Oegen Abend hörte e<> endlich aus mit dem uuaufhörlicheit 43 feineu dunkeln Neguen. Der Himmel lichtete sicl> gold und silberstrahlend bis in uuenoliche Weiten. Wahllose Geivässev glühten auf dcr einsamen steppe, vom ^enerklis; der unter-gchcllden 3ott>i^,' fnuloltl,' es iin Wcilde >vie von «irlbcu Lichtern. Dic stan^c ^tatnv hiUlto sich »in in tiefen Fricdcn. Dann hing die Mondsichel ii: eiucv qriiuen inildoovtlärton Lllft, u'eiter obcn blijUcn die Sterne s» licht >md lockend, der gann' Hinnnel n'ar die reine Lieblichkeit. Nnnmer, hätte ich sse^llnibt. dnß unsere alte gnte Wohllnmina, die Erde, auf der mntten Steppe so liebenswürdig sein tönue. I>n Mondschein llig da auf der <5bene ein Don nach dein anderen, aber nur hie und da licsi sich darin ein Licht blicken. Beneidenswert!)! Die Leute in diesen Dörfern brauchen so wenig eine kter;e al? Miiel in ihren Nestern, Ganz anders war e>>, als wir in ^Imrlow ei>lfn!)ren: N'ohin »>an sah, fnnlVlte es in der lebensvollen Stadt von Lichtern, nnd iäi ivnrdc ans Cein ^ahndof von inbclndrn Verwandten begrüßt. V. Charkow. 21. Entstehung «nd Anwachsen. Gleichwie dein altrllssischen Moskau das moderne 2t. Pe-tersbnrg, ist der kleinrilsfischcn Ttadtnnltter ^iew Charkow -yegenübertreten. Klcinrnßland kann stolz sein auf dies«.' beiden prächtigen Tlädte. Es sind noch nicht dritthalb hundert Jahre her, als Peter des Großen Vater in dem Glänzlande, d. i. der Ukraine, Slobodcn errichtete, Blockhnnscr uon Graben nnd Pfahlwand ninzogcn, nm Kosaken znr Gränzbewachnng hinzu-legen. In jener Zeit erbantc der 5fosak Charkow hier, wo zwei Steppenflüsse zllsaulinentreffen, nin geeinigt zilm Dcmeh zu ziehen, seine Tloboda. Tie beiden Misse hatten damals, wie es scheint, noch nicht einmal einen Namen, ietzt heißt der cino von jenem Kosaken der Charkow, der andere Lopanj. Die Ansiedelung lag angenehm, gleichwie die meisten tleinrnssischen Ortschaften an den Abhängen über dem. Thalgrnnd liegen, welchen die Steppenflüsfe im weichen Boden eingrnben. Auf diesem Puukt aber mußten die handelszüge znfammentreffcn, die umn Asow'schen oder Schwarten Aieere nach Norden wollten. Ties gab, als der Handel sich belebte, der Ttadt ihre Entstehung nnd rasch ivachsendc Vedentllng. Tchon zn Anfang nnsers Iahr^ Hunderts wurde in Charkow eine Nniuersität gegründet. Vor zwanzig Jahren hatte aber die Stadt erst 30,000 Ein» 45 wohner, jetzt schon über U>0M»>» und geht rasch einer größeren Zukunft entgegen. In dcinselben Maß, als die Einwohnerzahl anschwillt, hälitct sich der innere Stadtkern und wird immer stattlicher. Noch vor zehn Jahren wurden, wenn es zwei Tasse regnete, den Schulkindern Ferien angesagt; denn sie wären unfehlbar im Straßenkoth stecken geblieben. Iel;t erheben sich ununterbrochen Gebäude wie in nnseren Mittelstädten längs den geklafterten Straßen und verdrängten rings im weiten Umkreis Ne Hütten und Gehöfte. Auf dem höchsten Punkte erheben sich ein schöner Dom nut einem Thurm, desseu Höhe die Freude aller kleinrussischen Gemüther, nebenan die ansehnlichen Gerichte und Unwersitätsgebände, Nicht weit davon ist der Gostinoi dwor, der in den russischen Städten denen auffällt, die nicht im Orient gewesen. Diese Vazare, in welchen alles Mögliche verkauft wird, bezeichnen, wie so manches andere, deu Ucbergaug zum Orieut. 22. Amerikanische Achnlichkeit. Vo.i den griineu Anhöhen rings mn die Stadt namentlich "onl Wallenberg aus läsit sich leicht ermessen, wie mächtig sich ^hartow schon nach einigen Jahrzehnten mitnehmen nürd. Ein uhnlich,,'^ rasches Wachsthnm unirde uiir glnilbhaft nlich ans "uien anderen Ttädten Nnßlands berichtet. Das Zarenreich hat solcher größeren Städte Verhältniß' mäßig noch fehr ivenige. Diese aber verbreiten, gleichwie sie ^lbst mit icdem ^ahre luehr auschwelleil, über das gauze Land Nciteigcrten Verkehr uud rufen in ihrer Umgegend auf zehn, anf zwanzig Stuuden Entfernung zahlreiche ^teuwcrkc und Fabriken hervor, Vor dein beschränkten Gesichtskreise des Kaisers -'likolans, der vom Cäsar nur den starren Willen nnd nichts weniger als das Genie besaß, erschienen die Eisenbahnen als rothe revolutionäre Linien; deßhalb duldete er sie nicht, es sei denn zu Kriegszwecken. Tcildem mit dessen Tode sein System. 46 so jäh und vollständig gefallen, wie eine große eiserne Wand niederfällt, welcher die einzige Stütze genommen wird, scitdein haben die Eisenbahnen all' den weiten Gefilden Nußlands Nlnt nnd Leben zngeführl. d'1ne ^'ntuncklnng ist hervorgerufen, deren Fortschritte zeitweise tönuen zerstört, nichl aber luehr ge hcmnlt werden. In Gesellschaft fwhücber Nichten lind Neffen fuhr ich vom Morgen bis Abend in der Stadt umher, ein jedes ivollte mir etwas zeigen, Gleichwie in den rasch emporwachsenden Ansiedelungen in Nordamerika sind anch hier die Bewohner in ihre junge Stadt verliebt nnd nehmen an dein Meinsten nnd Größten, das nen entsteht, lebhaften Antheil. Jede ssamilie weiß, das; sie zum Aufblühen der Gemeinde etwas beitrng. nnd meine jnngen Verlvandten schwärmten voll Charkows nud des ganzen Landes Znkunft wie begeisterte Nllsseli. Hätte ich in glücklicher Jugendzeit nicht das ganze Gebiet der Vereinigten Staaten durchstreift, so ware mir, wan ich in lvharkow sah lind hörte, nen gewesen- So aber glaubte ich wieder in Bnffato oder Cineinnati oder Chicago zn sein, ,^ier nn'e dort ist Nen land, dao in den großen Weltverkehr eben erst hineingezogen ist. Geld strömt ein nnd wird wieder ausgegeben nüt vollen Händen. Alles ist Wagniß, weil der Äoden jede^ Geschäfts noch schwankend und nntlar. Wer aber Verstand nnd Glück hat, schöpft den Rahm von der Milch nnd kann im Umsehen reich werden> 23. Strnslelllcbcn. Während man aber in nordamcnknmschen Städten nichts erblickt, als lanter einförmige Hänser, lanter einförmige Leute, deren Gefichtern allen das Renneu nm den eilenden Dollar aufgeprägt ist, nnd höchstens einmal ein Hanfe» beraufchter schreiender ^rländer eine Abwechselung macht, spielt sich in den russischen Städten fort und fort ein buntes Strasienlebcn ab. 47 Da sind die Bessergetleideten stets umgeben von schwärzlichen Nartrnsseil in dnnkelm kaftan, die ernsten Soldaten gehen einher in ihren nnschönen gclbgranen llniformen, innern i»i Schafpelz warten gelagert anf ihren Wagen, die mit iveißgranen Ochsen bespannt sind. Die Händler mit dem Kessel beißen Thees in derHand nnd mil dem HolMttell voll Becher um den Leib, die Gnckkasten Vläuner, die Menge anderer ,^lei!lhänd!er mit allerlei 5inr.z nnd ^snvaaren, laden leise singend oder mit artigen Worten ^n ihreil 3cl)ä>;en ein, Tchlnn blickende Popen im Talar nnd schmale Nonnen von gemeinem Gesicht nndAu^ sehen schreiten dnrch das Gewühl, in welchem hier nnd da ein TscherkesseN' oder ^alinückengesicht auftancht. Hier sitzt am Brückengeländer ein Häuflein Minder nud lästt ul tranriqein, jedoch nicht unmelodischeni Gesang Valalaita nud Hnckebrett klingen. Dort nmringt das Volk ein Kasper! Theater nnd ist anßer sich vor Freude über die derben Possen, die schon start an tnrlischen Geschmack erinnern. Nnn komlnt eine ^chaar Nettler oder Pilger daher »ud saßt Posto vor einer Kirche in ^vei langen Neihen, Älänner nnd Weiber, malerisch nnd schmutzig, ansgeschürzt und ,nir Vettelsahrt anogerüstet mit Wrb-chen nnd .^listchen, die am Leibe befestigt sind, Nicktet man uon diesem Volte den Mick Mr Teite, so stehen da anf nnd ab Häuser in allen möglichen nnd nnmöglichen Stilen nnd formen, ui jeder Farbe schreien die großen Inschriften, nnd au jeder ^rasieuecke glimmt das Oellämpcheu unter dem Mnttergottes Ailde. Doch siehe da, ''llles bleibt stehen nnd betren^igt sich. Da-> wundcrthätige Ainttergotteö - Vild ans dem Moster Mht daher, "lclleicht rief man es an das Lager cine^ Tchwerkranten, viel-u'uht will jemand sein nenes Han^ ,iicht betreten, ehe das viel gelobte heilige Bild die Weihe hineingetragen. Oder es kommt em pnmkcnder Leicheu,^ng init Geistlichkeit in Prachtgewändern vorn und vielen leeren Kutschen hinterdrein. Alle Leute wenden 48 sich dem Sarge zu, schlagen das Kreuz, beuchn sich und sagen: „Dir werde das Himmelreich zuthcil!" oder „(Ewiges Andenken!" Ist der Zug vorüber, geht und schiebt sich Alles nucder weiter; aber niemand drängt nnd stößt, niemand wird deni anderen lästig, man bleibt immer höflich und beqnem gegen jedermann, insbesondere der Geringere gegen den Vornehmen. 24. Mnc silberne Hochzeit. Ich erwähnte, das; die Ursache meiner russischen Reise die silberne Hochzeit meines Bruders gewesen, nnd will nun in Kürze schildern, wie sich dabei russische Titte mit deutscher mischte. Schon vierzig Ttnnden von Charkow horte ich im Aahnwagcn davon reden, wie das Fest gefeiert worden. Dies war noch zn früh. zeigte aber, wie geschwätzig Gerücht uud Go rede unter nnseren Landslenten weit umherfliegt. Die schönste Feier war am Vorabend im engsten Kreise der Familie, wo die Kinder das Vrantpaar mit Tilberkrnnz und Silberstranß schmückten. Tags daraus nm ^hn Uhr erschien der protestantische Prediger im Ornat im Hanse und ertheilte nach Predigt und Gebet dem Hochzeitspaar den neuen Segen. Nnr die nächsten Verwandten nahmen Theil an dieser einfach würdigen Handlung. Tann begann das Zuströmen der Glück-wünschenden, nnd ich war freudig erstaunt, nnter oenCharkower Tcntschen so uiel bedeutende Gesichter über der weißen Binde nud so uiel feine nnd stattliche Frauen in Schleppklcidcrn zn sehen. Das Kommen und Gehen der Frennde nnd Bekannten dauerte bis zum späten Nachmittag: unterdessen belnden sich die Tische mit Hochzeitsgcschenkcn verschiedener Art, unter denen am häufigsten wiederkehrte» Knchen in Gestalt eines Thnrmes oder Tempels, gekrönt von einem silbernen Salzfäßchen. Dies bedeutete Brod und Salz, das auch in Natur in verschiedenen Formen erschien. Als Ausdruck des Wunsches, daß es eiuem 49 wohl ergehen möge, wird Vrod und Salz bei Eintritt in eine neue Wohnnng oder, einen nenen Zeitabschnitt dargebracht. Um acht Uhr begann der Ball in denselben Räumen des Wohnhauses. Sieben Musitanten spielten ans zu Tänzen, die, ziemlich die in Mittelemopa gewöhnlichen waren, jedoch viel stürmischer ansgeführt wurden. Zwischendurch kam auch die reizende polnische Mazurka und der russische 'Springtanz, der Kasatschok. Uni Mitternacht erschien der „^orbissen," bestehend ans Lachs Gänsleberpastete kaltein Fisch nnd allerlei salzigen nnd geräucherten Leckerheiten, begleitet von einer Legion von feinen Schnäpsen, über deren außerordentliche Mannichfaltigkeit man sich noch weniger wundern konnte, als über die reißende Schnelligkeit, mit welcher sie abflössen, jedoch ohne daß die heitere Wohlanständigkeit die geringste Störung erlitt. Höchstens sagte Jemand lnstig: „Ich hab' eine Fliege." In Nnß-lands schwerer Lnft lernt sich so etwas. Um vier Uhr Morgens selfte man sich zum Tonpcr von etwa hnndrrt Gedecken, das ein Gastgeber ins Hans lieferte. Zufällig war in der Stadt am Tage vorher ein großes Diner gewesen, das Gedeck zn zwanzig Rubel, znr Feier der tirch-lichen Wasserweihe, mit welcher die nene Wasserleitung eröffnet wurde, Der Gastgeber war, nin zu beiden Festen Wolga-Stirlct Haselhühner nnd dergleichen cinznkanfen, nach Moskau gereist — eine Kleinigkeit von siebenhundert Werst, so weit nne von München nach Paris, Als der Champagner strömte, tingelten nnch zahllose Toaste, fast immer in deutscher Sprache, "loß »in Arzt, ein Notar nnd ein paar Damen sprachen in der Gesellschaft nicht deutsch, Jedoch fiel häufig das Tischgespräck l^er und dort ganz von selbst ins Russische, Mail merkte bc-nits, daß gnt deutsch zn reden Einigen schwer siel nnd das ^ttssische ihnen leichter vom Mnnde floß. Einer sagte: „Dn lleber Himmel, ich bin schon ganz ucrrnßt." Im Ganzen war v. Uü her. Rußland, 4 50 es eine Gesellschaft, wie bei uns in Kanfmannskreisen, nur uiel lauter, schwelgerischer, rauschiger. Der erste Toast galt natürlich dcm Vrantpaar, und deiner hätte ihn ausbringen dürfen, als der Pfarrer, Als die Hoch° zeiter sich bedankten, da rief anf einmal Alles „Bitter, bitter!" Und nun mnßten sie, daunt das Bittere süß werde, sich küssen zu allgemeinem Inbel. Dies wiederholte sich eiu paarmal. Wenn ein Redner ganz besonders gefiel, hieß es „Aus, aus!", nud kräftige Arme hoben ihn in die Höhe nud schwenkten ihn auf und nieder nnter Lachen nud Zuklatschen. Anch dein Vrantpaar nnd zivei bindern ward diese Ehre angethan, die Frauen wurden dabei auf Tessoln gehoben, Zulel'.t brachte eiu alter General in rilssischer Tprache ein Hoch aus auf Kaiser Alerander II. Tieser Toast wurde mit größter Begeisterung aufgenommen, Alle standen auf, und die Mnsik spielte die Nationalhymne. Eben so kräftig, als wahrhaft henlich, lauteten die Zurufe auf Baiser Wilhelm, Auch auf „das nilernährende Rnßland nnd seine reiche Zukunft" und auf „das stetsgeliebte deutsche Land" wurde getrunken. Eudlich als längst der Tag ins Fenster schien, stand man vom Tafeln anf und fing an sich zu zerstreuen. Tas junge Volt aber tanUe bis gegen neun Uhr, nnd die letzten Käste verloren sich erst nm Mittag. Während dies in den hellen 3älen des Vorderhauses vor sich ging, lagen im Hinterhaus auf Treppen nnd Gängen an fünfzig Fabrikarbeiter umher, alle redlich besoffen. Einige waren auch bei Negen im Hof auf der Erde liegen geblieben. Ein paar hatten Streit angefangen; da war, wie iu solchen Fällen gewohnlich, nach der Polizei geschickt, in deren Gewahr-fam sie ihren Rausch ausschliefen. Nachmittags kamen sie wieder und gesellten sich zn den Uebrigen, als wäre ihnen nichts geschehen- Und damit das Nachtstück vollständig sei, wurde nm zwei Uhr Morgens in den Taal gemeldet, daß eine Kasse erbrochen und ausgeleert sei, zum Glück nur eine Nebenkasse. VI. Neue Einrichtungen. 25. Lehranstalten. Wie man wohl voraussetzt, war die Universität das Erste, was ich von Anstalten und Einrichtungen in Charkow wünschte kennen zu lernen. Die Stadt ist ungewöhnlich reich an Mldungsanstalten, die Universität aber hat dnrch ganz Rus;-laud eilten wohlklingenden Namen, nnd besonders berühmt ist d'e medizinische Fakultät, deren Lrhrstühle früher auch reichlich wit deutscheu Professoren besetzt waren. Außerdem gibt es in Charkow technologische Anstalten, zwei Gymnasien, wohlcinge-richtete Mädcheu-Institnte und andere Erziehungshäuser für die Jugend der Ukraiue. Wer unter den Deutsche» es eben kann, Wat seine Ander, um ihre Erziehung zn vollenden, ins Ausland oder nach dcu Ostsee-Proviuzeu: bei den Rnssen kommt du's nnr in den höchsten Ständen vor und auch da nicht häufig. Die Eharkower Deutscheu hatten jüugst schou einen Oratorien-Verein gegründet uud alle Hoffnung, dasi er auf-wichen werde. Als wir den anatomischen Hörsaal besuchten, lag ein Fall "or, der ciueu gräulichen Eindruck machte. An einem noch uicht andcrthalbiährigcn Mädchen war eine Schandthat verübt, , s Vnd bald darauf im Krankenhaus gestorben, uud wilrde ttbt die Leiche sezirt, uiu die Ursache des Todes festzustellen. 4» 52 Vor dem Hörsaal erzählte die Mutter, eine arme Magd, horchen den Studenten, wie sie in der Küche ihrer Diensthcrrin deren Bruder, einen tleinrussischcn Lithographen, bei dein schon halb todten blinde betroffen. Dem Scheusal war harte Arbeit in Sibirien sicher, das heißt ein elender Tod. Tie Professoren hatten ganz das Wesen feingebildcter deutscher Kollegen, und wäre bei mw nur die Uniform — dunkelblauer Lcibrock mit gelben Knöpfen —- aufgefallen, in welcher die russischen Professoren amtiren müsseu. Als ich mich aber in dem Kreise der zuschauenden Studenten umsah, schrack ich doch etwas zurück. Vs waren gar zn viel struppige Köpfe uud rohe (Gesichter darunter: ails solcheu Gros; und ^leinrusseu, Iudeu, Kalmücken und Tataren wissenschaftliche Aerzte zu bilden, ist verzweifelte Arbeit. Unmöglich kann viel dabei herauskommen. Es fehlt gar zu sehr au guter Vorbildung. Vs war aber für diese Studenten eine reichliche Sammlung von anatomischen Präparaten ausgestellt. Schädel gab es da von deu meisteu Völkerschaften im russischen weiten Gebiete: auch der Fachmann konnte noch Neues fiudeu. Die Universitätsbibliothek schieu mit den nothwendigsten Werken, besonders mit russischen, zur Genüge versehen. Tie Benützung aber ließ offenbar zn wüuschen übrig. Die Bibliothek blieb nns bis Mittag verschlossen, nnd so lange ich darin war, kau: kein Studeut ciu Buch holen. Das Museum hatte Abgüsse von berühmten antiken Statuen, uud neben Kopien uud russischen Gemälden einige gnte Niederländer nnd Teutsche. Weit über die Anfänge hinaus ist der botanische Garten. Neu aber waren mir alte steinerne Hermen von tatarischen Götzen oder Helden, von denen einige unverkennbar in nltägyptischer Manier hergestellt worden. Sie standen unter den Bäumen im Uniucrsitätshof, wären aber wohl einer besseren Aufbewahre ung werth, da sie bald eine Seltenheit sein werden. Die Universität, die sich seit der Negierung des Kaisers 53 Alerandcr II. wie von schwerem beengenden Drucke befreit fühlt, hat im besten Stadttheil alle ihre (Nebände sammt der zuge' hörenden Kirche dicht beisanünen, Mitten inue wohnt, in einen: Palast, den noch Katharina II. erbanen lies;, der Kurator. Tiefer steht für sieben Gouvernements an der Spitze des ganzen Nnterrichtslvesens, schlägt die Professoren, sowie die Direktoren der Gymnasien und Lyceen vor, und regelt nnd beailfsichtigt alle höhereil Uuterrichtsaustalten seines weitell Bezirks. Noch in nenn anderen Städten besteht ein solches Kuratorium für die öffentliche Erziehung, nämlich in Warschau Wilna Dorpat St, Petersblirg Montan ^tieu, Odessa ^asan und Tislis. Dein Kurator steht ein Unioersitätsrath zur Seite, i» welchem auch Verwaltn,,gobeamte nnd Militärs Sil; und Stimme haben. Eolche Zusammensejmnli tann für Nusllaud nicht Wliiwer nehmen i ^enn russische Äeantte Nnd wie die alten Nömer in allen Sätteln gerecht, im Umsehen verwandelt sick der Militär in «inen VerwaltunaMeamton nnd Dieser in Jenen. Ursache kann uur soin entweder sehr lwhe nnd sehr allgemeine Vildnng, wie ^u' im übrigen C'nropa selten, oder aucl, ei,ie höchst oberflächliche bei dem Einen wie bei dein Anderen. Mit den Uniuersitätsgebäuden verbünden ist auch die yeb "nnnenschnle. Hübsche Mädchen gingen hill, anch feine Damen, eine mit ihren: Knäbchen an der Hand. (5l,e der Unterricht be-^"'in, sah ich anf einen Aliiienblick binein, Bei den Glas-schränken, welche Nachbildungen des menschlichen Körpers in Wachs enthielten, beschäftigten sich nnr ein paar, die anderen alle waren in leiser Unterhaltnng begriffen, Wer es nicht 'u»hte, möchte geglaubt haben, er wäre i» einer Theatrrschule. Voli diesen Schülerinnen waren mehrere mit Studenten verheirnthet. Oefter kommen Lente, die nicht mehr inna, init chren Frauen an, um auf der Universität rasch so uiel Nennt-Me zllsaninienzurnffen, daß sie zu besserer Rang- nnd Lebensstnfe übergehen können. Viele sind von Hülfsmitteln ganz ent 54 blüht und nehmen zn allerlei Erwerb ihre Zuflucht. In Nuß-land ums; man stels ün Auge behalten, daß europäische Kultur sich erst aus dumpfen Zustäuden, ans rohen, theiüveise höchst armseligen Bestandtheilen allmählich heranbildet. Auch die Art der Bildung, die gewonnen wird, ist ciue andere, als in Mittel-enropa. Denken wir zum, Vergleich nnr au nnscre Merowiuger- und Karolinger^Zcit. Mit den Deutschen ging die Umbildung gar nicht eilig vorn'ärts, dafür nahmen sie die fremden Vildnngs-stone innerlich auf, verschmolzen sie mit ihrem Wesen und fchnfen eine uenc und eigenthümliche Kultnr. Ter Rnsse weiß mit Wcschwindicikeit sich ntän,^eudc Seiten unserer ssnten Gesellschaft nnzueiciiteu, er wirft sie über wie eiu nene^ 5tleid und weiß sich gleich gefällig darin .Ul benehmen wie eine Dame auf dem Vall, Vei den Meisten bleibt diese Art höherer ^rziehuua anch eben nur ein schimmerndes Kleid. -<>. Gerichtöwesüu. 9taä) den Bildungsanstalteu sah ich mir die gerichtlichen Einrichtunssen an nnd fand sie eben so würdig als zweckmäßig. Die Säle für die (Gerichtsverhandlungen, insbesondere auch für die Geschwomengerichte, könnten bei nns vielen Ctädten znm Mnster dienen. In den Sitzungen herrscht durchweg Ruhe nnd Anstand. Das gemeine Volk ist scheu und ehrfürchtig, und der Aornehmc trachtet danach, seine Aildung an den Tag zn legen. Noch immer gibt es indessen nicht Wenige, welche die neue Iustiz-Trssanisation für eine Ncbcrciluug erklären. Der Kaiser, sagen sie, habe Einrichtungen für Erwachsene einein Volke gegeben, das noch unmündig sei. In der That, Freisprechungen wie die der Wera Eassulitsch, so peinlich für unser Nechtsgefühl, sind öfter vorgekommen. Allein einmal ins öffentliche Leben eingeführt, seit länger als einein Jahrzehnt bestehend, lassen sich diese Einrichtungen dem Volke nicht mehr nehmen. Im 55 Gaumen nud kroßen, so wnrde mir auder:ucitig versichert, seien die guten Folgen »lnuerkenubar. (5s habe srnher ein Turich-ivort gegeben: „Tchlag deinen Feind todt, aber schlag ihm keine, Wunden;" denn der Lebende habe sich schwer, die Rache der ltebrigrn leicht abkaufen lassen. Jetzt gelte das nicht mehr. Auch sei gegen die Willkür und Bestechlichkeit der Beamten doch einigennahen eill Damm aufgeführt. Das Institut der Friedensrichter, die ohne lange Förmlichkeiten iu kichtereu Tachen verhandeln, wnrde allgemein belobt. Gauz besonders freute man sich über die Raschheit der Insti; nuo erMlle srendig folgcndeu Fall, der ebeu vorsiekonlNteu. A,n Dounerstag sei gegen einen vornehmen Herrn eine Wechsel-klage eingebracht, am Montag Gerichtssitzung gewesen, a>n Dienstag der Grnndbesil; mit Beschlag belegt und gleich darauf znm öffentlicheu Vertanf ausgestellt ivordeu. Friiher habe sich ein solcher Protest von einer ,Vnstnn^ iu die andere gebogen und sei kein (5nde gewescil, 27. Andcrc ^icfornicu. Es ist wahr, iu Nußland »ms; alles Oute, ehe es kräftig aufblüht, sich dnrchringen nnd dnrcharbeiten durch ein dorniges frstgewnrzeltes Dickicht. Der so hänfige Ätangel an innerem Ehr- und Rcchtsgcsühl, der Leichtsinn der höhereu, die Armuth und Trunksucht der niederen Klassen, die Beiden gemeinsame ^ciguug, auf bestem Weg ohne Ursache abzuspringen, um sich dem Lotterbelt ',n ergebeu oder einem,<>irngefpinnst nachznjagen ^ das ist wahrlich genug, um die Wirknug der besten Gesetze uud Anstalten zu lahmen. Die Furcht läßt sich niemals abreisen, sie möchten wieder halb und halb in den allgemeinen Nttlichen Snmpf versiukeu. Gewiß werden sie nicht alles leisten^ was jio sollten, vielleicht kauiu ein Fünftel davon, ja nur ein Siebentel. Aber hoffentlich wird doch dieses Fünftel oder auch uur on'scZ Ticbcntel geleistet, und man kommt langsam weiter. 56 Was der jetzige Kaiser geschaffen und heruorgerufeu, 18l>I die Aufhebung der Leibeigenschaft, 1804 die Reform des Gerichts-Wesens und Eiuführuug der neuen lokalen Telbstucrwaltuug, sodann die Erleichterung der Presse, die allgemeine Militärpflicht, das Eisenbahnnetz und was sonst so vielfach für Förderung des Haudcls, des Ackerbaues und der Kultur überhaupt geschehen ist — alles das besteht noch leine zwanzig Jahre. Mau lasse es erst ein oder zwei Menschenalter wirken, müssen dann nicht aller Welt große Fortschritte vor Nngen stehn ^ Es machte nur und meinem älteren Neffen, dem National-ökonomcn aus Oesterreich, der nuch nach llharkow gekommen, großes Vergnügen, solche russische Fragen und Angelegenheiten mit kundigen Leuten zu erörtern. Unter den jüngeren Beamten, insbesondere den Deutsch Bussen, gibt es Männer, die, begeistert für Rußlands Größe uud Zukunft, unerschrocken ihr Amt führen, mit lebendigem Nechtsgefühl und ohne Ansehen der Person, obgleich die Zeitläufte gefährlich. Zweimal war Einem von ihnen in diesem Jahr ins Fenster geschossen, das zweitemal die Kugel hart am Haupte oe? einzigen geliebten Kindes vorbeigefahren. Ter Gonverueur Fürst Kmpotkin war besser ge< troffen. Ter Mörder hatte sich aufgestellt au eiuer Ecke, wo der Wageu des Statthalters, als dieser Nachts uou eiuem Institntsbal! zurückkam, ans einer einsamen Straße umboa. auf einen breiten Platz, der zu seiller Wohnnng führte. Als der jetzige Generalgouuernenr. der berühmte General Loris Melikow, ein geborner Armenier, ankam, hielt er es für gerathen, in der ersten Zeit nnr auszufahren uou Kosakeu begleitet, Alleiu die aufgeregten Wellen legten sich sehr bald. Mau merkte deu wohlthätigen Druck, welchen der Geucralgouverueur auf die AeamleN'Welt ausübte, und jetzt wurde nur noch wenig von den Tchreckuissen dieses Nihilisten Jahrs gesprochen. Mehrere Verbrecher waren bereits abgeurtheilt und „verschickt", d. >>. nach jenseits des Urals, die Gefängnisse aber waren im vorigen Oktober noch gefüllt. 57 27. Nihilistisches. Es ist übrigens nur eine kleine Anzahl, meist noch jugeud-lichen Alters, welche sich in diese Verschwörung eingelassen. Vor allein waren es Gymnasiasten und Studenten, welche die Prüfungen nicht machen konnten nnd eine ehrenvolle Laufbahn vor sich abgeschnitten sahen, — dann arme Popen-Söhne, bei denen Hochmuth nüt dc>u Gefühl der Geringschätzung ihres Standes zusammentraf, ^ endlich Adelige, die völlig abgehaust waren. Weibliche Verbündete erhielten sie ans dem kreise von dürftigen Beamten Töchtern, für welche sich in den kaiserlichen Instituten leicht ein Plätzchen gefunden, wo sie Erziehung über Stand uud Vermögen erhielten, später aber keine anständige Versorgung, — insbesondere dnrch Studentinnen, auf welche trotz Mühe» nnd Anstrengung der Schein des Lächerlichen gefallen,— durch Zöglinge der Hebammen Schule, — und, was nicht minder bezeichnend, durch erbitterte Jüdinnen, die anf reiche Heirath hatten verachten müssen. Natürlich hat es nicht an Zungen alten Verschwörern gefehlt, die verzweifelte Lage oder nmerer Ingrimm zn ihnen trieb. Wie aber, das mag wohl mit Recht gefragt werden, war es möglich, daß innge Lente auf den fürchterlichen Nnsiuu ge-riethen, Staat und Gemeinde, Religion und Kirche, Eigenthum und Ehe einfach zu verneinen und bloß dahin zn trachten, alles und jedes zn zerstörend Versetzen wir lins in die Stimmung, wie sie in Dentsch-land vielfach zu Ende dos vorigen Jahrhunderts herrschte, wo auf höheren Schulen die Näuber Moor ^deeu spukten, In Deutschland trieb die Gährnug in den jnngen Brauseköpfen empor zn wilder Romantik, welche die Welt, die aus den 3'Ugen gegangen sei, wieder ins rechte Geleise einrichten wollte. In Nnßland fand sich hinter den trockenen Schädeln nichts von Begeisterung, nichts von schwärmerischen Idealen, ach 58 nichts als die Zuflucht zu wohlfeilen gemeinen Gedanken, Es wollte sich bloß wilder Haß, bloß die 5lraft der Verneinung einstellen, nnd uüt fast orientalischer Schwäche der Tenktrast nnd ieuer so tief im russischen Wesen stockenden Eitelkeit und Neigung zur Pbautastik, die heiße Wünsche gleich in Wirtlich-keit verwandelt sicl> vorspiegelt, giugen die jungen ^.'eute an ihr Zersto'rungsnierk und träumten sich Helden und ^tärtyrer der Volks-- und Weltcrlösung, „Faul vor der Reife" ^ ist bekanntlich schon von vielen Frücht> chen des modernen Rußlands gesagt. ^,n einem sonst trefflichen Mädchen^Pensionat haben die Backfische kann: gelernt, einen erträsstichen Aufsatz ,n machen, als sie anch schon von Ttll-deuten und Ofmiereu sich Liebesbriefe schreiben lassen, die sie übermüthia, einander zeigen, denn jede will das dickste Päckchen haben. 3o wollten jenc Halbwisscr das Nischen, >vas ihllen von sozialistischen und atheistischen Ideeu aua,efloliel,, qlcich in That umsetzen, 3ln!ehn»na, sandelt diese Nihilisten an der viel verbreiteten Anfrea,una, und Unzufriedenheit, lind den Ansporn zum Handeln a,aben wahrscheinlich fremde Sendboten aus Baknnin's noch immer nicht ansgestorbencr Schule. Ich nahm mir vor, dieser unheimlichen Erscheinnna, wo »»öaUch etwas mehr auf den (^nind zn kommen. Nnrichtifi aber ist e^, daß nnter die ssroße ^lien^e der Studenten, noch unrichtiger, daß unter das Randvoll nihilistische Grundsätze eingedrungen seien. Die schwer bewegliche Äauern-Masse ist in ihrem Innern noch nnbernhrt geblieben, höchstens von dem <>Nfte an den Rändern eben etwas angefressen, Die, Studenten in Charkow wehren sich gegen den Anschein, als gäbe es Nihilisten unter ihnen, und darüber ist es zn einer ergötzlichen Uniform-Geschichte gekommen. Die Negiernng verbot den Studenten das Tschinkleid, damit bei Auflaufen nicht oie Uniformen auffällig würden. Die Studenten aber verlangen ihre Uniform, damit dnrch deren Abwesenheit bci Krawallen 59 die Nichtbethcilignng des ilntersten Grades im Tschin ersichtlich werde. Taß aber gerade in Kiew, der alten Klosterstadt, nnd in Charkow, der nenen Handelsstadt, ans den nihilistischen Ab gründen eine gefährliche Flamme nnfstieg, hatte haufttsääilick) wohl darin seinen Grund, dasi diese beiden Städte ihrer vielen Lehranstalten sonne ihrer Freitische wegen uou ärmeren Äildungs-beflissenen aufgesucht werden. Kanin mehr, als das Landvolk, sind Arbeiter Taglöhner nud kleine Handwerker in den Städten vom Nihilismns äuge faßt. Das gemeine Volk, das wie ein breiter dunkler Nahmen die Bessergekleideten nmgibt, hat eben kein Verständnis? für andere ^dern, als Zar nnd Religion- In seiner ehrfürchtigen, fast möchte ich sagen hündischen, Höflichkeit hört der Mann aus dem Volke wohlmal ruhig an, was Jemand von höherem Stande ihm auseinander setzt, nickt g»tmüthig „Ja, Herr, ^i hast Recht", nnd kommt er an sein Geschäft, fo geht ihm, was er gehört, kraus nnd wild durch den Kopf. Es wird ihm gar so fchwer, sich klar zn werden, nnd darüber hat er anderen 2ags die gau^e Sache vergessen. 20. Aenderung in der Stellung des Adels. Als bessere Stände aber sind in den größeren russischen Etndten anßer den Eingewandcrten drei Gruppen zu unterscheiden: die Zirkel des Adels nnd der höheren Beamten, — d"' Professorcnkrcis, an welchen sich, Popen ansgenommen, anschließt, was mit Unterricht und Literatur zn thun hat, — und die feste Masse der rnssischen Kauflente. Tic russische Sprache kannte keine Vons nnd keine Tons, keine Grafen nnd keine Lords, (^in großer Grundbesitzer hieß Vojar, nnd wenn er ein sehr großer war, führte er den Titel Knjäs d. h. Gebieter oder Fürst. Da deren Vesitz sich unter zahlreiche Erben zersplittert hat und an jedem Splitter der Fürstentitel hing, so gibt es der Fürsten aller Orten in Rnß- 00 land und darunter recht arme Lente. Der Grafentitcl wlirde erst in neuerer Zeit uon der Krone geschaffen. Des Kleinadels aber ist so viel, wie Sandkörner ans den Timen. Wer ein Stückchen Land mit ein paar Leibeigenen darauf ererbte, ssehörte znm Adel, o. h. es waren Adelige dem russischen Baner und Kaufmaun gegenüber, nicht aber in Vergleich zu bringen mit dem gebildeten Bürgerstand im übrigen Enropa. Katharina II, suchte dem Landadel große Bedeutung in der Provmzinloerwnltung zu geben, die jüngste Oesetzgebnng hat anch das ihm genommen. Die Aufhebung der Leibeigenschaft, durch welche etwa die Hälfte sämmtlichen Grundbesitzes frei in die Hände der Vanern überging, bat nnter dem Adel gewüthet, wie im dichten Walde ein Sturm, der die Bäume entwurzelt. Der Schwindel mit Banken nnd Aktien kam hinzu. Zur Zeit läßt sich noch gar nicht absehen, wie viele Familien sich oben hallen nnd wie viele ,zn Grunde gehen. Die in den Städten Hänser erwerben, haben ihre Zukunft wohl gesichert, die meisten Uebrigen sitzen auf dein Lande, winden sich in den Händen der Wucherer und wissen sich nicht zu helfen. Zum Adel gehören auch die oberen Klassen des Tschin oder der vierzehnglicderigen Rangordnung, nicht eigentlich ihrer amtlichen Veschäftignng wegen, sondern weil ihr Amt eine lwhe Stellung im Tschin verleiht. Denn der Tschin gibt nicht das Amt, sondern nmgekchrt das Amt gibt den Tschin. Die Stimmführer der literarischen Altrussen rühmen ihr Volk nnd seine Znkunft, weil es durch Nassen nnd Adelsuoruttheile nicht gespalten sei. (5'Z ist wahr, der Gebnrtsadel vermochte, trotz seines Besitzes all Land nnd „Seelen" nnd trotz vielfacher Gelegenheit, sich niemals feste politische Stnndesrechte zu erwerben. Allein die chinesische Rangordnung Peters des Großeil, überhaupt die Macht lind (Niederung der Bureaukratie, ist doch dem Volke wie dem Staatswesen in Leib nnd Blnt übergegangen, und zwar eben deßhalb, weil es ill der allgemeinen 61 Gleichförmigkeit dor Unterwerfung keine besonderen Standes-bildnngcn gab, an welclie sich Widerstand gegen den Despotismus anlehnen konnte, Noch immer fühlt in Nnßland ein Vornchmcrs der im Ttaate keine amtlich anerkannte Stellnng hat, sich wie an die Lnft gesetzt, ja ivie cili Fisch anßer den: Wasser. Männer, die gleichwie mit Vermögen, so auch mit ihrer öffentlichen Geltuug und Wirksamkeit auf sich selbst rnhcn, sollen ansierordcntlich selten sein. VII. Unter Klciitrussclt. :w. Ausflug aufs Land. Nachdem ich in Charkow zur Keuügc mich umgesehen, wollte ich auch etwas uon der Umgegend kennen lernen, Wir fuhren in zwei kutschen zu den kleinrussischen Dörfer», etwa vier Stuuden von der Stadt entfernt, iu der ^liichtung uach dem Flusse Ndij hin. (3s dauerte ziemlich lauge, bis wir aus deu Vorstädten herauskamen, welche die russischen Städte im breiten Umkreis umgeben und sich iu zerstreutcu Gartenwohnuugeu, Schlacht-und Vorrathshäuseru noch bis weit iu Feld uud Steppe hiuein fortsetzen. Endlich wmde die Aussicht frei nach jeder Gegend hin, freilich blos; Ctzegeud, Fläche mit wema. oder uichts darauf. Doch luftig und lustig ist es auf der freieu Steppe immer, der Blick fliegt in helle Weiten, nud die Brust athmet Frische. Nach einiger Zeit zeigte sich zur Nechteu eiu Kloster, Goroschew mit Namcn, in welchem es einmal lustige Nounen soll gegeben haben. Ein Charkower Erzbischof hatte eine gute Frenudin dort als Acbtissiu eingesetzt und kam öfter zum Besuch, wo denn eiu kleines hübsches Gelage Statt hatte. Als er eines Abends spät zurückkehrte, wurde fein Wngen auf der Steppe vou Uubekanuteu angchnlteu, der geistliche Herr sauber« lich herausgeuommcu, schrecklich durchgedroscheu und sodann wieder ans seinen Nageusil; gebracht, mit der Mahnung: das f>3 nächstemal werd» man, statt Ruthen, Kantschus mitbrina.cn. Er soll das Kloster nur bei hellem Tag wieder geseheli haben. Als wir uns dem Dorfe Besludowta näherten, sah ich eine» Jäger mit der Flinte durch die Felder streichen, aber ohne Hund nnd Jagdtasche nnd mit sauertöpfischeni Gesicht. Wie es den Anschein hatte, war ihm die Jagd kein Vergnügen, sondern Geschäft. In der vorigen Woche hatte es nnten am Udii andere ssoknallt, und wäre ich nur um einen Tag früher gekomnleu, so hätte ich wahrscheinlich eine mir noch nene Jagd freude gehabt. Man hatte hier nnd dort Pferde zerrissen ge-funden nnd die ganze Jagdgesellschaft von lihartow u> einer Streife eingeladen. Sieben Wölfe waren erlegt, sieben andere, dem Schweifte nach zn urtheilen, start angeschossen. Außerdem hatte man nur zwei Füchse und zwanzig Hasen bekommen, wenig genug. Die Wölfe erinnerten mich an Greuville-Murray, den englischen Novellisten, der in seiner Schrift über die heutigen Russen erzählt,") in Rußland lägen die Städte fünf Stunden vom Bahnhof entfernt, und es komme wohl vor, daß hungrige Wölfe den Reisenden verfolgten, wenn er vom Bahnhof nach einer Stadt fahre. Unter anderem steht iu dem Büchlein zu lesen: was iu Rußland nicht ausdrücklich erlanbt worden, sei verboten; Betten seien so gut wie nndckcmnt; eine erträgliche Cigarre koste eine Mark; Kaiser Nikolans habe zwei Millionen Menschen nach Sibirien verschickt, das machte also, da er gegen ">.i Jahre regierte, auf jeden Tag über 180 Meuschen. Die Nüssen hatten ihren Spaß über solche Albernheiten, nnd das Andere, was der Verfasser eben so wahr als scharf geschrieben, machte nin so weniger Gindrnck. Es war aber diese Schrift so recht ein Ausfluß rohen englischen Hochmnths nuo jener pharisäischen Methode, blindlings zn verleumden, wenn es Altmgland nicheu kann. '■'■) E. C, G r e u v i 11 o - M u r r a y The Russians of to-day. Leipzig 1878, Tiiuchnitz S. '279. 64 31. Häusliches Lcbcn. Aus Veslndowka kamen uns Ackerpferde entgegen, auf welchen Mädchen faßen ohne Sattel und ohne Decke. Es soll öfter vorkommen, daß diefe kleinrussischen Mädchen zu Pferd oder im leichten Wägelchen janchzend über die Steppe fliegen. Reiten und Jahren scheint auch den Städterinnen hierzulande, gleichwie in Amerika, das größte Vergnügen zu machen. Unsere zweite Kutsche wurde bloß durch meine, sechzehnjährige Nichte gelenkt, die ihr Gespann, das sie uom väterlichen Hofe her längere Zeit kannte, fröhlich daherbrausen ließ. Die Hütten — denn Häuser kann man nicht sagen ^ in einem klcinrnssischcn Dorfe bestehen alls Flechtwcrk nnd Lehm mit einein niedrigen Dache darüber von Schilf nnd Stroh. Drinnen ist alles gan; klein und eng bei riuauder, aber ziemlich sauber. Hiutcr jeder der Wohuungshütten, die an der Straße gereiht stehen, finden sich gewöhnlich noch ein paar kleinere mit windschiefen uud lückeuhaftcn Dächern für Vieh und Vorrath, daneben ein halber kleiner Wcrkschoppen, die Oeffuuug eines Erdkellers, und eine Tenne mit Getreideschober. Das Gauze ist umgeben von einem Zaun aus rohem Flecht--werk mit angeworfenem Dünger und eingeschlagenem Reisig. Selten aber fehlt hinter dem häßlichen Zaun ein Mrtchen mit ein paar Blumen darin, Silbergraue Weiden und Birken und ein paar Obstbänme, meist Kirschen und Zwetschgen, stehen umher. Das Torf, oder vielmehr die große Ortschaft — denn die kleinrussischen Dörfer ziehen sich stundenlnug hin — hat gewöhnlich einen Hintergrund uon grünem Wald oder Vnscl> werk. Kirche und Windmühle siud weithin sichtbar. Selten, daß bei all ihrer Armuth die Dorfschaft uicht tranlich aussähe, uud gewiß ist stets die annntthigste Stelle der gauzen Umgegend dafür aufgesucht, uämlich an den Uferhühen eines FlußthaleZ oder einer Tenkuua, in der Steppe. Auch die Noth, vor den s>5, scharfen Winden ein wenig Schuft zn suchen, trieb in die Vertiefungen. In den kleinen Hütten findet sich eine Anhänglichkeit nnter den Familiengliedern, eino Herzlichkeit nnter Eltern Kindern nud Oeschiuistern, die an dentsche Art nnd Sitte erinnert. Das Leben ist höchst einfach, für die Meisten anch hart, aber nachbarliche Freundlichkeit hilft es ertragen. Feste »nd andern Anlaß zn Fröhlichkeit lieben die Lente sehr, sie singen nnd tanzen gern, und jedes Ereigniß im Hanse wird etwas geschmückt. Kommt aber ein Gast, so ist das für sie eine Ehre nnd Frende, und der Aermste beeilt sich, ihm Speis nnd Trank vorzusehen, so gut cr's selber hat. Da wird gleich das Tischlein nnter dem Heiligenbild zurechtgerückt nnd wenigstens mit Schwarzbrod und Wassermelone, vielleicht anch etwas Honig, beseht. Lebendig wird es im Torfe am Abend, wenn die Lente frühzeitig aus Feld und Wald heimkehren. Tann schlendern sie über die Straße nnd halten hier nnd dort ein Schwatzchen, Ziemlich vor jeden: Hause sieht man ein paar der Inwohner stehn nnd plaudern. Anch läßt sich dann wohl ein Licdchen hören, nnd herzliches Lachen der Kleinen. Wo immer der Kleinrnsse in der Fremde verweilt, nnd so gut es ihm dort gehen mag, im Herzen behalt er ein stilles Heimweh. Nns Andern erscheint dies Leben kleinlich nnd ärmlich: daß es aber von einer gewissen Innigkeit dnrchwarmt ist, daß die Poesie ihre kleinen stüchkigen Blüthen hinein streuet, das fühlt Jeder herans. 32. Kleinrussen in den Karpathen. Vor ein paar Jahren traf ich ans Kleinrussen in einer ganz andern Gegend, nicht in flacher Steppe, sondern in den dunkeln Thälern des tarpathischen Waldgebirgs. Wir machten eine mehrtägige Jagd- nnd Bergfahrt von MmMez aus, mid waren beständig von einem Troß Kleinrussen begleitet, denen man dort v, Lüher, Rußland, ü 66 den Vnchernamen Nnthencn giebt. Ich will hier aus meinen dortigen Erfahrungen Einiges hersetzend; denn jene Kleinrnsscu stecken da in den Karpathen wie weltverloren, haben aber die Ttammeseigenthümlichkeit, weil weder von Polen noch Grosirnssen bearbeitet, am reinsten bewahrt. Unsere zahlreichen Führer und Begleiter aus jenem Volke halten etwas bärenhaft Plnmpes in ihrem Wesen, und doch für 0N5, was sie verstanden, erschienen sie nngemein flink. Niemals legten sie den groben ledernen Tchnapsack, die Torba, niemals trotz der Hitze den langwolligen Umhang, die Tchnba, ab> Eie redeten n'enig untereinander, ihre Gefichtoznge behielten den stnmpfen und versclilosseneu Ausdrlick. Dagegen standen sie, obwohl mir gemeine Hirten, wie die besten Hoflakairn stets ans der Lauer, um mit unterwürfiger (Heschicklichkeit herbeizn-springen, wo Einem von nns etwas am Tattel fehlte, oder das Psero einer Tame Leitung nöthig hatte. Wiederholt betrachtete ich verstohlen den sonderbaren Ausdruck ihrer Blicke, welchen sie nut den Wroßrnssen theilen. Man Hut diese Augen mit gefrorenem Wasser verglichen, nud Fall-mermier meinte: der Name Tarmat tonnne von Tanromat, was im Griechischen ^.'ente nüt Eidechsenangen bezeichnen sollte. In der That behält das Ange der .^leinrnsscn fortwährend etwas Viattes, Untlares, Unbewegliches, selbst wenn man sie fragt oder heftiger anredet. Man weiß nicht, was sich darin spiegelt, bis plötzlich ein heller stechender Blitz hervorschießt, der sich gleich wieder verhüllt, Vci den Oroßrnssen ist diese stechende fliegende Helligkeit des Blickes viel schärfer. An Chinesen ans dein niedern Volke habe ich Aehnliche^ bemerkt und möchte wohl wissen, ob dieses rnssische Auge noch ein kleiner Nest mogolischer Verwandtschaft ist. !) F, u, llllhcr Die W>iivM'?ü und lindn'!' Uüssani, Ul'ip,',iss 1^7«, f>7 In den untern Walduiigeil am Oiebira, stießen ivir öfter nuf tleinrnssische Törfer, die sich ssleichsam im tiefen Wald uerberlieu. Dir Arwohner erschieueil iiiir nach ihrer (<>ruiid-nri>i!lnci wie eiii Hirtenvolk ,u> fein, das »nr in der Wildniß sich wohlfühlt. Das Schweifen in Oedc nnd Freiheit steckt den Renten noch iin Vlnte. Sie schenen keineswegs zu feiten harte Arbeit, füv s,rivöhnlich ader lieben sie es, liemächlich da^ hin zn leben bei nan; einfacheui kleinen ,vanüren. >?och oben inl Gebivss die schönen Alpenweidcn sind die Tmnmelpliihe der Intend, die Eehlisncht dev Greise. Da^ Leben in dev einsanicn Erd' nnd Tteinhiitte ans cinsainer Vevsslchne, dort ^üeh n'eiden, i»l Eonnner Wesie inachen, iin Winter Zehner iveliichaufeln, damit daö ^>ieb noch spärliche Mimmss filide, n'ochenlanli tief im Gebircie — das ziehen sie allein Andern uor. Später kam ich öfter in die Wohnungen dieser Klcinrnnen ini karpatlüschon Waldgebirge lnnein. leitet schivar^er !1üch an den Wänden, ein fürchterlicher Lehmofen, roher 2isch uut Holzbank, ssanz elende ^,'alierstätten, nbler (Hernch nnd Ranch ohne Ende — das ist Wohn» nnd Schlafstube für Großvater und Grosnnnttrr, Mann nnd <>ran, Onkel nnd Tante, nnd ein Nudel linder dazu. Man bekommt in der dnnteln dnnstM'N ^nge linsiefähr eine Vorstcllunsi dauon, wie die Waldtl)iere im warmen Höhlenschnnch sich behalilich niederlcqen; doch verliebend rechnet inan ans, wo denn all da» ^olk ^ bei Vesnch treten ncn.'öl,nlieli ein paar ans der yansthnr ^ in dem Hnttchrn Platz hat, ohne einander auf dein ^choosze zn sitzen. 3as Pans dieser Nnthcncn ist das rnssisch polilifche Blockhaus, jedoch mit höherem Strohdach, ohne Schornstein, und fast stets yrau und halb verfallen, Tcr Ranch füllt erst die Stnbe, dann zieht er durch eine Oeffnung über dem Ofen auf den Boden, von da sucht er den Answea. durch die Lücken im Strohdach. Ins Gebiet des Luzus erhebt sich ein 5lamin, der von Weidenruthen Mochten ist. Augentrantheiten sind ebenso unvermeidlich bei 5" 68 diesem ständigen Ranch nnd Ruß, als hinfällige Leiber bei dem ewigen Fasten, welches die Kirche drei Monate, die Noth ein halbes, nnd der Branntwein so ziemlich das ganze Jahr auferlegt. Eine furchtbare geheime Pest kommt hinzn, die gerade wie der Branntwein körperlich und sittlich zugleich entnervt und alle Telbstachtung tödtet, — das sind die Allsschweifungen, zu denen die Einsamkeit der Aergweiden Auben und Mädchen, noch halbe linder, hinreißt. Widrige Folgen dauon sollen iveit um sich greifen. Schulen gibt es nur auf den größeren Dörfern. Nie Religion aber, nächst der Natur die einzige Weih-und Wärmequelle dieser Armen, ist die griechisch erstarrte, uud sie wird gespendet durch Priester, deren vornehmstes Geschäft Feldpachten und Kornwucher scheint. Soviel ich davon gesehen nnd gehört, schien mir die griechische Kirche in Ungarn, trot; etwas Ansprengung mit russischem Goldwasser, in einer vom Aufblühen abgewendeten Richtnng sich zu befinden. In dem berühmten großen Vasilianer-itloster zum heil. Nikolaus, dem Nationnlheiligthnm der Rnthenen, das ihr Herzog Theodor ilnriatowitsch in der Mitte des 14. Jahrhunderts erbaute, traf ich nnr noch uier Patres nnd vier Novizen. Die Volks- nnd Kirchensitte dieser Ruthenen ist wesentlich kleinrnssisch, jedoch kann selbst im äußersten Rnßland die Nebel-schichte des Aberglanbcns, die anf dein Volke liegt, nmnöglich dicker sein. Im karpathischen Waldgebirge scheint sich aller Unsinn anzusammeln, welchen unter Türken- und Russen- und Walachenschädeln die dumpfe Angst vor unheimlicher Naturgewalt ausgebrütet hat. VIII. Gegcltslch ;wl!chcn Gni!;- Ulld MilMlsscu. !t.'t. Nationale Unterschiede. Ich erwähnte früher, wie hiibsch die kleinnmischen iDrt^ schaften in und an den Thalmedernngen lieben nnd über Abhänge zerstreut sind. Man kaun sich keinen härtere» unterschied denken, als wenn man in die Dörfer der Großrussen tritt. Für Diese entschied über die Wahl des Platzes lediglich Vortheil oder Willkür, Wo ein Fluß Wasser gab, oder fruchtbarer ^lckergrund sich dehnte, oder wo es dein früheren ^eibherrn gerade begnem war, da bauten sie ihre nackten Hütteil hin, so viel oder so wenig ^ninilien sich eben 'insaunnettfanden. Von Mrtchen Nlit Vlninen, von schattigem Banmarün oder sonst eineni ärmlichen Tchmncke des Daseins war nicht die Rede: die Lente wollten in den Hütten bloß ein Unterkommen finden. So geht der Gegensa!', zwischen biroß- und .Veinrnssen mich in anderen Dingeil ziemlich tief. In der volkreichen Handels^ nnd Gewerbestadt Charkow, wo beide sich nnter einander wischen, wird man mit ihren Charakterzüaeu bald bekannt. Die Ttnmmesssräme, bezeichnet durch die Ttädte Vielopolje Ajclgorod Vobvoiv, läuft '^uischen Kürst nud Charkow mitten bltrch^ jedoch liegt die großrussische s<'rän^ der letztem Stadt «in die Hälfte näher nnd macht bereits am Oskolflufi, östlich von Charkow, einen südlichen Absenker in's tleinrussische Kebiet. 70 Der Veinrusse ist reicher an Gaben des Geistes und fter-zeus, hat aber trägeres Blnt, ist sparsamer, hailshälterischer, allch ehrlicher, als der Grosirllsse, jedoch anch iiiilthloser, deshalb kleinlicher und versteckter. Er neigt znr Eanftmiith, nnd leicht überfällt ihn etwas Wehleidiges oder Trübsinniges. Der Großrusse dagegen ist mannhafter nnd unternehmender, tritt offener nnd härter auf, ist geneigt zum Jähzorn wie zum grölten Leichtsinn, nnd mißlingt ihm etwas, kümmert es ihn gar wenig. Stehend anf den Gesichtern uon Beiden ist ein gewisser trüber oder finsterer Schein, Geist und Seele spielen nicht anf dein Antlitz, diese Menschen denken nnr an Gebot nnd Arbeit, und man könnte fast glauben, es drücke die Meisten etwas wie heimliche Noth oder stille Angst, — ein redendes Zeugniß von Dumpfheit des Denkens, von innerer Beschränktheit. Bei den .Meinrussen erscheint dieser bedenkliche Gesichtszug weicher und milder nnd öfter verschönt durch ein flüchtiges sanftes lächeln. Der Grosi-russe lacht herzhaft nnd singt, das; es schallt, fällt aber bald wieder in seinen stummen Ernst zurück. Während der 5tleinrusse nnr Feld- und Gartcnban liebt, ist der Großrnsse uon Handelsgeist erfüllt, hat einen gerade« ans gehenden Verstand nnd gibt einen geschickten Fabrikarbeiter Handwerker Koch nnd Bedienten ab. Jener hängt an dein Boden, den er mit dein Schweiße seines Angesichts gedüngt hat - Dieser bebant den Acker nnr alls Noth oder Acrechnnng und wandert desto lieber in die Weite, nm Verdienst zu snchen. Sobald der Grosmisse erwachseil, sucht ihm der Vater oder Familienälteste eine Frau alls und sieht dabei hauptsächlich darauf, ob sie kräftige Arbeitsknochen hat. Die Frauen müssen tagwerken nnd gehorchen, die Kinder sind voll Ehrfurcht gegeu die Eltern, uon Zärtlichkeit ist unter den erwachseneil Familiengliedern wenig zn spüren. Ganz anders die Kleinrnssen. Nei ihnen sind Heirathcn aus Neigung das Gewöhnliche: mag das 71 Mädchen einen Bewerber nicht, so reicht sie ihm gelegentlich einen Kürbis;. Mann nnd Neib, und linder und Eltern sind gegen einander uoll Liebe und sorglicher Rücksicht. Hat der Großrnsse seine Söhne beweibt, sobald sie achtzehn Jahre alt, so schickt er sie, wenn die warme Jahreszeit kommt, in die Städte oder Fabriken, dort zu arbeiten, damit sie ihm einen Theil des Lohns zur Haushaltskasse liefern: der Alte selbst lebt derweilen mit ihren Irauen unter seinem kleinen Dach wie nüt seinen Mägden. Der Kleinrnsse dagegen sucht, sobald er irgend die Mittel dazu erschwingen kann, selbständig zu worden nnd sein eigenes kleines Hauswesen zu gründen. Im vorerwähnten Dorfe Veslndowka trat ich unbedacht uüt dein Hnte ans dem Kopf in das Tchentzimmer des Wirths. Da merkte ich, das; Dieser aufsah und wurde bedeutet, daß man in ein Haus wie in die Mrchc nur mit dem Hute in der Hand kommen dürfe. Das hätte ein Großrusse uicht leicht einein yerrn gegenüber gewagt. Die Lente aber waren frennolich nnd ließen mich all ihre ikämmerchen und wenigen kleinen Sieben-sacheu beschallen. Die Haustochter war das erste hübsche Mädchen, das unter dein gemeinen Volke mir vorgekommeu. Sie war gerade dabei, das heiße Arod aus dem Ofen zu ziehen, auf unser Bitten erschien sie alsbald in ihrem Tomnagsttaate. Den Oberkörper bedeckte ein weißes Homo mit weit offenen Aenneln und allerlei rother und bialler Nanduerzierung. Vom Mirtel ab fällt ein buutcr klattunrock, nud darüber wird eine lange schwarze Sammctjacke gezogen, die ebenfalls mit Roth besetzt ist. Des Mädchens Stolz aber besteht in einer Menge von Oranaten Perlen nnd allerlei lNold und Silbermünzen, die sie reihweise an Hals und Brust hängen hat. Die groß' russische Mädchentracht ist ähnlich, nur sind die Hemdärmel nicht so laug offen, nnd für die kiürze der Jacke tritt eine weiße Schürze mit breitgesticktem Rande ein. Der Hnuptuntcrschied besteht darin, daß die Kleimussin Blumen ans dem Kopfe trägt, die Großrnnin aber ein Käppchen. Sind Beide Frauen geworden, so stecken sich Beide in unförmliche Tchafuelze und Matrosellstiefcl. .!4. Gesscnseitisse Mneiguun. Der ^leinrussc nennt seinen nördlichen Nachbar Moskal, Moskowiter, nnd erhält von ihm, dafür den Ehrentitel Chochol, Zopfkerl, weil die Malorossi, d. h. Kleinrnssen, sich früher das .haar rings nm den Hochschädel wegschoren nnd den Nest in Büscheln herabhängen ließen. Beide mögen sich einmal nicht, in der Tchnapsbnde rücken sie von einander weg, nnd müssen sie als Fabrikarbeiter in derselben Kammer schlafen, so inachen sie zwischen ihren Lagerstätten möglichst weiten Nanm. Man hat dies Verhältnis; wohl mit dem Gegensatz von Nord nnd Süddeutfchen verglichen. Allein die innere Abneiguug gegen einander geht bei Groß' nnd Kleinrnssen uiel tiefer, führt leicht zn Streit nnd ^Widerwillen, nnd ist nicht entfernt in der inneren Ansglcichnng begriffen, wie, sie dnrch die hochdeutsche Sprache im Zeitalter der Reformation, dnrch die Literatnr im vorigen, nnd dnrch Verkehr und Politik im jetzigen ^ahrhnndert sich zwischen dein Tüden nnd Norden Tentschlands uoll'iieht. lhan'i nnnöthiger Weise ist der Gegensatz von den l^roß-rnsscn in neuerer Zeit fort und fort geschärst. In ihrem nationalen Hochmuth, der auch keine kleinen (Götter neben sich dulden will, war ihnen die unschuldige Eigenart der Meiurnssen ein Dorn im Auge. Mit Oewalt sollteil sie sich zu Grosirnssen nmwan-dcln, Ihre Tprache wurde, wo und wie c? nnr anging, in Schnle und Staat, in Kirche nnd Literatnr unterdrückt, mit Vorliebe wnrden aller Orten grosnnssische Beamte eingesetzt, und der Ankanf von (tzütern durch biroßrussen unterstützt. Die, Ncgierilns! trachtete danach, den grnndbesitzenden Adel polnischer Hcrknuft zu rninireu, und banete ,. V. den s<'ntsbcsitzern eine russische Kirche hin, deren dosten sie zur Hälfte tragen mußten. 73 Der Aerger über dies beleidigende lmd uachtheilige Ge-bahren der Großrussen auf kleinrnssischem Grund und Boden frißt Uni so tiefer, als die alten Besitzer dieses Landes sich seiner Geschichte und ihrer Vorzüge wohl bewußt sind. Sie fühlen sich als ächte Slaven, nnd sehen in den Großrussen nnr Lente von halb finnischer und tatarischer Herkunft. Der Großrusse nennt zwar den Kleiurussen seinen leiblichen Bruder. Dieser aber fühlt sich dein Polen gerade so nahe und verständigt sich in seiner Sprache fast eben so leicht «lit ihm, als nüt dem MoZkowiter. Eine ähnliche, nur nicht entfernt so bittere Stimmung herrschte in den zwanziger nud dreißiger Jahren am Rhein, als aus der einförmigen norddeutschen Ebene, d«u alten Tlavenlande, die Preußen kamen, um als Herreu auf,',n< treten in den Rhciulauden, die durch Natur uud Geschichte und Tage sc> wundervoll geschmückt sind. 35. (beschichte Klcinrußlands. Mit Recht verweisen auch die Kleiurussen auf ihre Geschichte, die ganz anderes Leben bekundet, als das Hindämmern der Großvussen von einem Jahrhundert in's andere auf ihren allezeit nackten Flächen. Als Nnrik >l<>2 seine Vlockhänser in Nowgorod banete, waren andere Waräger, Aslold uud 3i)r, nach dem Dniepr gezogen, hatten dir Chasaven, em türkisches Volt, das vom Schwarten Meere plündernd heraufkam, zurückgeschlageu und in "icw einen andern Hevrschersii; errichtet. Dieser wurde so Nlän^end, dasi schon zwanzig Jahre später Rnriks Nachfolger, der beide Waräger-Neiche vereinigte, nach Kiew zog. Von dieser Stadt ans wurde nun erst ein Nussenreich wohlgeordnet, das im Innern durch gule Gesetze uud Justiz, durch Städte-Nründnng uud Förderung des Handels aufbliihete, nach außen hin durch glückliche Kämpfe gegeu Ehnsarcu und deren Staunn-verwalkte, die Bulgaren und Petscheuägen, sonne gegen rein 74 slavische Ztämme sich behauptete und ausdehnte. Von Kiew aus wurden die Züge bis vor die Mauern Konstautinopels unternommen, die den russischen Namen berühmt und ssefürchtet machten. Die Bekanntschaft mit den byzantinischen Griechen bahnte dem Christenthum den Wen,, das von Kiew aus sich den Russen mittheilte. Als nun deren Reich sich in Theilfürstenthümer zersetzte, blieb der Großfürst zu Kiew das anerkannte Vanpt der Fürsten. Das Unglück der Kleinrussen war aber ihre kriegerische Nachbarschaft. Die Macht ihrer Oberhäupter mußte stets sich auf deu Krieg richten, sie blieben Nationalherzoge, und wurden keine eigentlichen Landesherren. Ihre Hegemonie verflüchtigte sich deshalb und blieb zuletzt nur noch wie ein Schatten stehen: gleichwohl haftete am Thron zu Kiew noch ein königliches Ansehen, wie au seinen Klöstern der vornehmste C>ilauz der Heiligkeit. Da mit Mogoleuhülfe der Großfürst zu Moskau sich nach und nach über die nudern großrussisch«! Fürsten erhob, mochten die Kleiurussen an solchem Loose nicht theilnehmen. Den Lithaueru wurde die Eroberuug Meiurußlauds uicht schwer. Als das Laud aber sechs uud sechszig Jahre spater zugleich mit Lithaueu an die Polen kam, nämlich im Jahre 1386, und Diese sich der größeren Güter bemeisterten nnd als stolze Herren auftraten, begann bereits das Kosakenwesen im großen Maßstabe. Kriegerische Männer, die Freiheit über Alles liebten, waren in die weite Steppe gezogen, hatten freie Staudlagcr nnd Gemein» den gegründet, uud machteu nnn fort nnd fort große Naubzüge, wo immer sich Gelegenheit zeigte. Iwan Wassiljewitsch, der Große genannt, vermochte erst zu Ende des Mittelalters eiucu Theil von Kleinrußland wieder zu gewinnen, nnd noch auderthalbhundcrt Jahre dauerte es bis nach der Thronbesteignng der Romanows das Land der Kleinrusseu dem großeu Reiche wieder eingefügt wurde; Kiew 75 aber verblieb den Polen bis gegen Ende des vorigen Jahr-Hunderte. Hatten sich nun die ^leiurnssen weit über dreihundert Jahre lang von den l^voßvusseu fremd nud fcru gehalten, so waren auch sie es wieder, welche sseneu die gewaltsamen Reformen, die von den Kaisern zu Petersburg dein ganzen Reiche aufgedrängt wurden, unter Pngatschews Führung mit den Waffen in der Hand Protest einlegten. Diesen alten nationalen nnd historischen Gegensatz haben die Kleinrnssen noch nicht vergessen. 2ic weisen daranf hin, das; bei ihnen die Leibeigenschaft niemals so allgemein und drückend wurde, als bei den Großrussen, in deren Mitte sich fast nirgends Freisassen erhielten, wie die zahlreichen Odnoworzen bei den .Veinrussen. Auch erfüllt sie mit Stolz die größere Wohlhabenheit nnd Gesittung ihres Landes, sein lebhaftes Handelsbetriebe, die Menge seiner Nntcrrichtsanstalten, und s»-'ine größere geistige Lebhaftigkeit überhaupt. Die Großrnssen leuguen nicht die Vorzüge der Kleiurnssen, erwidern ihnen aber: Wir sind einmal die stärkste» an Zahl und die stärksten an Willenstraft, und es ist in nnserm Reiche uicht anders, als wie in Deutschlaud Italien lind Frankreich, dein Norden gehört die Herrschaft, lt<». Kustomal'liw. ktleinrnßlands gröstter nnd trenester Tohn ist Koswinarow, d"' die Palme trägt unter den rnsfischen Geschichtschreibern, ^ln Frische nud Lebhaftigkeit, wie an Schönheit des Stils kommt thm keiner gleich. Tiefsinnig taucht sein Geist in den stillen dunklen Tee der alten Zeiten, wie im hellen Lichte der Gegenwart sieht er ihre Helden vor sich. nnd mit der Gewalt, die uur dem Dichter gegeben, zwingt er sie, leibhaft anch dem ^'ser vor Augen ;n treten, ^ ein Fenerkouf, hin nud wieder 76 ein Schwärmer, slots aber voll rührender Liebe für seine Heimath. Geboren 1317 ln Ostrogos; schrieb er, als seiue Landolente schon einander fragten, wer denn nnter sein ein Dichternamen Icremie Holka stecke, ein Buch über die westrnssische Kirchen-Nlüon iin sechszehnten Jahrhundert und sah sofort das Vnch verboten. (5r luarf sich nun auf unschuldigere Sachen, schrieb eine slavische Mythologie und über die Bedeutung der russischen Volkspoesie. Allein die Regierung -^ an ihrem Himmel stand ja damals mit seinen scharfen erkältenden Strahlen das Kaiser Mlolnu5' Gestirn — witterte in den Schriften des jungen Gelehrten gefährliche Ideen. Er wollte alle slavischen Völker verbinden, aber im Wege freien Bündnisses, nnd zu dein Zwecke, daß wahre Volksfreiheit herrsche überall. Vin ganzes Jahr lang in Petersburg eingekerkert mußte Kostomarow froh sein, als er wieder freie Luft athmete, wenn auch verbannt nach Saratow, wo sich an der Volga die deutschen Ansiedelungen hiuziehu. Kaiser Alexander II. hatte kaum den Thron bestiegen, als Kostomarow amnestirt nnd bald darauf zum Professor der Geschichte an der Universität in Petersburg ernannt wurde. Jetzt schrieb er seiue vortrefflichen historischen Werke, „Bogdan Chmielnicli" ist eine Geschichte Kleinrußlands iiu siebzehnten Jahrhundert, als die Kosaken heldemnüthig mit Polen kämpfteu. Im scharfen Abstich gegen die lieblichere kleinrnssische Veimath stellte Kostomarow „Bilder ans dein hänslichen Leben nnd der Tittengeschichte des großrnssischen Volks im sechs- nnd siebzehnten Jahrhundert" ans, und vervollständigte sie durch eine Geschichte des moskowitischen Handels zur selben Zeit. Dann kam der „Aufruhr des Stenka Nasin", des berühmten Kosaken Dichters und Nänbers, um den noch immer die Volkslieder klagen. Das kleine Auch war köstlich geschrieben, der kernige Stil etwas altcrthümlich: wer es zu lesen anfing, legte es nicht 77 wieder aus den.Händen, bis er die letzte Seite umgewendet. Noch immer hatte der Poet sich in Schilderung kleiurussischer Heldenzeiten nicht genng gethan. VZ folgte noch sein hiswn scher Roman „der Sohn", ein farbenfrisches Gemälde jener Kosakenzeit. .Kostomarow hielt wahrlich nicht zurück mit seinem Vasse gegen die seelenlose, rein mechanische Poli;^ llnd Militär-Regierung. Seine Erbitterung war so groß, daß er Staats-losigkeil für das größte Glück erklärte. Der moskowitischen Despotie stellte er „die nordrussischen Volksstaaten Nowgorod Pskow llnd Wiätka" gegenüber, Wiätka eine freie Kolonie Nowgorods. Das Vnch ist Geschichte, aber es geht der hallende Schrei hindnrch: Moskall ist der rohe Hammer der Despotie, Lebenslust nnd Freiheit blühele nnr in jenen Freistaaten nnd ln Kleinrußland. Dem Polenthum widmete er seine Schrift übor „die letzten Jahre des polnischen Staats". Die Ideen Kostomarows, insbesondere nbcr den Staatenbnnd nller Slauen nnd ihre Völterfreiheit, draugen tief ein nnter 5ue studirende Illgend. Kein Mann war im Grunde der Nc-Merung gefährlicher, allein es war ihm schwer beiuitommen. Als aber 180^! nu selbni Jahr, als seine „Vorlesungen über russische Geschichte" erschienen, die Studentenunruhen in Peters-bürg ansbrachen, tonnte der berühmte Klcinrnsse sein Katheder uicht mehr behaupten. Er nahn: seine Entlassung. Die ^^,'der aber blieb ihm treu, wie die Liebe nud Bewunderung seiner yeimathsgenossen. Er erholte sich in nencn poetischen Schöpfungen, einer Tragödie „Cremntius Eordus", einen: zweiten Roman „Kndejar" nnd einer Menge kleinerer Gedichte, und sammelte die meisten seiner „historischen Monographien und Forschungen" in zwölf Aänden.") Eine Zeitschrift die er begründete, „OsnowaV welche die melodische Sprache der l) Istori tschexkijn nionogniliji cizslcilovainjii, ]'cU>i-sl»urs 1SGS—1872. Kleinrussen zu Recht und ^hren briugeu sollte, konnte sich nicht halten gegen die Ungunst der Regierung. 37. Bedeutung der Klcinrussen. Dem Anscheine nach müßte die härtere Natur des Groß rnssen der viel weicheren des Kleinrussen endlich ,^err werden. Aber gerade die Weichheit befähigt Leideren zur Auodauer- er weicht aus nnd schmiegt sich nnd behält sein inneres und eigenthümliches ^eben frisch nnd unzerstört, Vs sind bald ^ehn Hahre, da schrieb ich ') über diese ^rage: „Es nnisi eiu tiefgehendem historischem Unrecht geivesen sein, welches in den ungarischen, Walisischen, rlissischen R'nthenen einen nicht auszurottenden Instinkt des Gegensatzes, der Abneigung, beinahe des Hasses gegen die Großrnssen erzeugte. Ter Kleinrusse sieht im Großrussen seinen Bedränger, dieser betrachtet jenen als schwächlichen und abtrünnigen Sohn von der großen Mutter Rußland. Diev Verhältniß hat bereits in der Geschichte Ereignisse hervorgebracht nnd könnte e>> für die Zukunft wieder thun. Tollte es wirklich einmal so kommen, daß der russische Koloß auseinander bräche, so kounteu die uicrzehn Millionen Nnthcncn in Rußland noch zum Mitreoeu gelangen, nnd davon würden auch die drei Millionen Rnthenen, welche in Uugarn Galizicn und der Autowiua sitzen, nicht gan; unberührt bleiben. (5s fällt aber in's Ange, wie durch den langen breiten ^andgürtel, welchen das kleinrusfische Volk bcwohut, der von der polnischen Gränze sich hinzieht bis zum Ton uud uoch das Gebiet des Kuban vor den Kankasusbergen in sich begreift, die Großrussen vom Donangebiet und vom Tchwarzen Meere abgeschnitten werden," :t«. Natur der Volkslieder. Nirgends spiegelt cine Nation ihr tiefstes Gemüth, ihren l) Die MnglMvn >,nd >i»d^ro Ungarn 115—11<>, 79 Oheimen Ttolz, ihr Tchnen und Hoffen trener nild lebhafter-ab, als im Volksliede, das so heißt, ivril es ans der Seele oes Volkes empor blüht, ssanz einerlei, wie die hießen, denen es gierst eingesieben war, nnd all die Andern, die es u'eiter snn^en nnd modelten. Tie 5Ueinrnssen sind, ivie alle lichten Slaven, reich an Volkslieöern, l'esondere> an historischen, die ',n den hellsten Perlen der epischen Poesie zu rechnen. Anch die Krosirnssen lnU'en Volkslieder, wenn anch viel wcniqer. Diese seichen tnrzen hnrtl'lätterifien Fcldblninen, während die kleinrnssischen dnftisse Wald nnd Viesenblnmen sind, die bei aller kecken Garlic doch selten eineo sanften Glanzes entbehren, ja öfter un lieblichsten 3ch»iel; an> dein dnnkeln Oriin empor schimincrn. Das feinste l'iehör tiir das ächte Volkslied hatte ivohl ^nloj (der Name war iusammcna,csctzt ans den Ansnngolnich-Unben uoil 3hrrese Leonore Aoel^nnde von Jakobs), jene edlc und ssrnndgescheiote ^ran, die ^nerst in ^'nropa lnis mit den hoiuerischen Tichtnna,en der 3erl'en bekannt machte, anch die linnchcheit des Macphcrson'schen Ossians nnfdeckte. Tic Frenndill iil'ersejue mir einst McinndManna, der schönsten rnssischen Volkslieder ans Tresniewsti's „Vorteil der 3aporo,n'r" nnd ^'icharow's „Russischen Volksliedern".') Tic UrberselMiss ist ^^'nan dem Versinas; der Originale nachgebildet, diese aber l^'unen weder oen Reim, noch ein bestimmtes Metrnm, nno unterscheiden nch von Prosa bloß dnrch einen ssewissen '"echsclnden Nhytinns. Ta Talvj's llebertragnnqen soviel ich U'^'ü nie veröffentlicht worden, m^qen sie liier nin so mehr ^uen Pinlz finden, als diese Lieder nicht nnr tief in des Volkes ^'nken nnd Leiden hinein fchanen lassen, sondern auch dazu tncnou, den l^essensal; zwischen Groß^ und Meinrnsscn deutlicher "upfinden zn lassen, ') J. SiX'snie wski Sniiornjskajn, Startn«, Charkow lS.'W—18HS. J- sa<.-)iai-O\v l'iosui russkaho naroda, Petersburg 1830—1K39. 80 3!). Vier alte Lieder der Eaftorogcr Kosaken. Nie Kosaken der Ukraine von ihren früher» Hauptsitz hinter den Wasser, fällen des Nnjepr Iapuwschiie genannt, standen sell 156!» unter polnischer Votmäßissteit, Die vielfache Vcrlehunss ihrer Priuilegien unter der pulnischen Herrschaft bestimmte sie, sich mit ihrem Hctmau Bogdan (ihmieluicki au der Spitze iin Jahre U^>4 Rußland zu unterwerfen, Grnl'Iicd ln,f l!cn Äessnul Tschuray, iwr lie alteu und junsseu, Du kennst ihren Arauchl Die alten und jungen Dir ähnlich gebore»:, Die haben, zu rächen dich, Alle geschworen. Die alteu und imMN, Wie wacker sie sind! Ihre Noße, die schwarzen, Wie rasch und geschwind! Wie rasch und geschwind, Wie Adler sich schwingen, In die Städte des Ljechen Wie Wetter eindringen! Stahlspieße tragen sie Mit langen Spitzen, Wo an spitzigen Nadeln Lange Ha ten sitzen. Und Stahlsäbel tragen sie, Geschärft beide Seiten, Bringen Verderben den Ljcchen Auf ewige Zeiten! Nach dem Sturm non Mohtlow, 1l,.^. O — die Stadt Mohilow Dicker Ranch einschloß, Als das Saporoger Heer Aus Kauouen schoß! In der Stadt Mohilow Ward es leer und leerer, Als dicht die Kosaken Schossen aus Gewehren. In der Stadt Mohilow Schlang und Adler hausen, Fressen Ljechenleibcr, Ljechenhim sie schmausen. In der Stadt Mohilow Pfost' und Balken brachen. Einbrach das Verderben Aufs Geschlecht der Ljecheu. 81 Nimmer solch Verderben Nimmer solche Schande Gab's wie jene Schande, Dem ^osak zum Troste, Die uon Haus zu Hanse Als sein alt Liebchen llngliick Ging im ganzen Lande. Nun deu Liecheu kos'te, Koset nnn den Ljecheu Vom frühen Morge,: an, Eicht aus >vie Herr Nalioait, Der geehrte Hetiuan, Gmdlird auf Mmst puschliar, >u,ch !<»<»!.'. Dic ll'hte Ttropln' ln'^i^lft sich a»f L>n»il'l»ickiB Nachfulssl'l, Hrtinan Wt>° hovsN. d>'r die Kojaton uncdl'r nntt'i dn> p^Nnicho VoNnäüniN'il i>iv!>ä,',ul>vinsseii, suchte. Fließt ein Flüsichen, ein kleines, Wo seid Ihr Kosaken Ist Worskla qeheisien, Äon adlichem CtcnnmeV Das Flüßchen, das kleine, Im Grab die Ordeine, Kennen Kinder nnd Greise. Die Cäbcl im Schlamme. Am Flüßchen da wissen sie Wo bist Dn, Puschkar, Lieder zu sinacn, Wo bist Tll, o Freund! Und wissen am Flüsichcn lim deu tapfern Kosaken Gedanken zn spinnen. Heiß die lltraina weint. Gedanken, Gedanken, Im Grab die Gebeine, Weckt Tmuerqeberden. Aeim Herrgott der l^eist — Gedanken, Gedanken, O :oeiue, Nkraina, Könnt Thaten auch werden. Unglücklich verwaist! Dein helles Loos machte Wyhouski zn Schande, Mit dem Herzen von Stein, Mit des Tenfels Perstande. v, Lüher, Nußland, 6 82 Vcr erloschene llnhm der Kosaken. Wo ist, Ihr Herrn Kosaken, Wo ist, Ihr Herrn Kosaken, Die Rittcrkraft der Gliedert Wo ist Euer Ritterthunr? O holt die Kraft, >^hr Herren, Hin ist es, hin ans ewig Aus tiefem Grabe wieder! All' unser Hcldenthum! Wo ist, Ihr Herrn Kosaken, O trocknet und verstäubet Euer ritterliches Heer? Der Eiche grüne Blätter, Christen plündernd schweift es Nicht giebt es nnserm Ruhme Wölfen gleich umher. Nicht Hoffnung, nicht ein Netter! Wo ist, Ihr Herrn Kosaken, O was für Hoffnung wär' es Wo ist Ener Rittenuuth? Auf Güte eines Herrn? O weh des Mißgeschickes, Kosakcnritterehre, Verlöscht ist seine Glut! Weh, ewig bist Du fern! 4tt. Vier alte Lieder der Donifchcn Kosaken. ÄIü Il!M!i>! »!!?> stinc Otflüultn l'Nül Don cnlftl'hll, 1559. Ties Vultolieb ist in unendlich liielcn Vürinttonci, Uorhliiidc» inid l>cri,s,t ohne Iweifrl. wenn nicht sclDst vom hulieil Ultcrthxinr, al,f cincm ältern, viel» leicht gleichzeitigen Liede, „Wie doch Väterchen, herrlich stiller Don, Unser Nährer Tu, Don Iwanowitsch! Wie doch weicht von Dir all Dein wackrer Nuhiu, All Dein wackrer Ruhm, guter Rnsseustrom! Wie Du einstens dock) klar und helle warst, Wie so hell Du warst nnd so rein Dein Bett! Aber jeht, Ernährer, bist Dn ganz getrübt, Ganz getrübct Don, oben so wie unten." Und es spricht der Ton, der berühmte Fluß: „Wie doch sollt ich nicht jetzt getrübet sein? Sind zersprengt ja doch meine hellen Falken, Meine hellen Fnlkcu, Donische Kosaken. Ohne sie verwachsen meine steilen Ufer, Ohne üe auswaschen Höcker meinm Gelbsand." 83 IüL Zttül!!! U,isin's )ril. Steilia(3tephanchcu)war Führer im blutigeu Aufstand der ^l'ialeu iNliö—1d ward bcn Vvoßrusseu bcsoudcrs verderblich durch basVcrl'reuuou des rrsten KrirgZIchiffes, das Zar Alcxci für das Tchwarzc Äteer hatre erbaurn lnsseu. Hierauf be> ziehen sich die letzte» Vevse, His die Glfiihrtcn lnnch schlrchlcü Wrücr ltt'diäi,«)! dc>, Mulh llNil'll». Ach, ihv ?l>,'b^, ihr Mdclchcu, Ncbclchcn liiein, ilir nudurchdringlichm, Wie scid ihr wio Kumnn'r n»d Tmsic ssehässiss! Was drücket ihr Ncbot die nmckeren Aurscheu, Macht trübe, uiackt nlutblo^ die Mchueu? Gehe auf, gehe auf, schöue Toune! Ncbcr deu Vera, a,eh auf, deu hohen, Ueber deu Lichwnld, iiber deu grüucu, Ueber die (^egeud, wo Ttephau weilt! Stephau Tiniothiewitsch, der wackere Held, Dcu wir ueuucu Stephau Nasiu. Gehe allf, ssehe auf, schoues Töuucheu, Erwänne uus arme ^eute! Nicht Diebe siud nur, siud )1iäuber uicht, Siud Eteuka Rasius Gefährten, Wir schwiugeu das Ruder ^- das Schiff ist a.euommeu, Wir schwiu^eu die Keule ^- die Karawau' ist zerbrochen. Wir schwiua.eu deli, Arul — die IuuMau ist uuser. Hoch ci» ElülulUcllittlislicd. Nüaruui doch, Ihr Vrüder, sitzt Ihr iu Oednuken, Sitzet iu Gedaukeu, Vllrschcu, trüb gestimmt? Warum laszt die. trotzneu Köpfe Ihr so Haugen? WaB die klarcu Augen senket Ihr zur Erde? 84 Ist es, Brüder, doch nicht unser erster Zug! Speis und Trank wir finden auf der Wolga fertig, Und die bunte Veidnug wird uns angefchafft, Noch steht uns entgegen nufer grimmer Feind, Unser grimmer Feind, der tückische Woiwode. Häufig Truppen schickt er wider nns aus ^asnn, Truppen, scharfe Schiiten, schickt er auf uns aus. Und sie sangen, greifen uusere wackern Burschen, Nennen Diebe uns, schelten Räuber uns. Aber wir, Ihr Brüder, sind nicht Dieb' und Räuber; Wackre Leute sind wir, Wolga Burschen all'. An der Wolga sind wir nicht das erste Jahr, 'S ist genug geplündert, s' is genug geraubt! Stcnlln 1'llism'ö Tod. In der Früh war's, in der Morgeustuude, Vor dem Anfgang war's der schönen Sonne, Vor dem Niedergang des blassen Mondes, Als ein Falk nicht rauschte in den Lüften, Als der Iessanl nnter Bäumen ging. Und er ging und ging immer auf nnd ab. Dann die wackern Burschen that er alle wecken: „Anf erwacht, steht auf, Ihr wackern Nurschell! Auf erwacht, Ihr Domschcn Kosaken! Nimmer steht es wohl bei uns am Don, Und getrübt hat sich unser stiller Don Von der Quelle an bis zum Schwarzen Meer, Bis zum Schwarzen Meer, bis zum Asoumeer, Und zerrissen ist der Kosakenkreis. Unsern Hetmann haben wir nicht mehr, Haben keinen Helden Stephan mehr, Nicht mehr unsern Führer Stenka Rasin! EingefaiMn haben sie den Wackern «5 Banden fest ihm seine weißen Hände, Führten hin ihn uor die steinerne Moskan, ,habcn ans dem schöllen Marttplah, de»l berühmten, Ihm den ^ofts, den trollen, abqehanen". 41. Drei kleinrusfische Lirdcr. Eiü 3schinnll!!c,!l!lii, Nie TschüNlntl'n, einst ein lvienerijchev 2!a»nn, >nu> zu cineiu grrniMN Hansen hlnabg!'!0ü>!n^!i, huln',! auf ihv^ü llci>i^,l Ochjl'uwa^cn im Winter Salz und Fische lioni 2chwa>v/>, Äl^cre u»d uo>>l Ton. Weh — ans den BeMn liesst der Schnee, In dcil Thälern stehn die Wasser, Auf der Heerstrasi Blmnen dlühen, ÄllUlU'n sind's llicht, silld Tschnnlaken, Aus der ,^m!i sie Fische bringen. Ihren Tohn die Hliittter suchet Findet nicht ihn ilnd sie ruft ihn: „Ktonim o Töhnchen, koimn ,u< Hanse, ^onnn, Dein Köpfchen ivill ich waschend" — „Wasch e5, 'Niiitterlein, Dir selber, Oder wasch es meiner Schwester: Meines soll der Nes,en ivaschen, Meines soll der Dornstrauch lammen, Trocknen soll's die helle Tonue, Und der Tturm es vollends trockuen." ll.i!hsrl-eicd. Es lief, es lief ein hübsches 5Nud, Das Ni^rlein huscht ihm uach fieschiviud. „^ilun hor nlich, schönes Fräulein mein, Ich geb Dir auf drei Näthselein, Erräthst Du sic, so gehst Du Heini, Verfehlst Du sie, so bist Du mein. 86 Nun sag', was ohne Wurzel wächst? Nun sacs, was ohne Zügel läuft? Und was ohn' alle Blüthe blühte" — „Der Stein ist's der ohne Wurzel wächst, Das Wasser, das ohne Zügel länft, Das Farrcnkrant blüht ohn' alle Vlüth." Das Fränlein die Räthsel nicht errieth Das Nirlein nüt sich fort sie zieht. Wit kämll t« ilüüerZ stin? Im Krautgärtlein der yopfcn Bedecket das Beet. Unter den Leuten das Mädchen In Tmner und Thränen geht. Was schlingst Du nicht grüner Hopfen Dich hinanf am Nerg in die Höh? Was klagst Tu, junges Mädchen, Was rufst Du Ach und Weh? Wie schlänge sich hoch der ,Hoftfcn Macht Ihr an der Ttang' ihn nicht fest? Sollt weinen nicht das Mädchen, Wenn sie der !>tosak uerläßt? 42. Zwei historische Lieder der Oroßrnssen. Eilt alll'5 WiriMlud. Auf Bergen, Bergen, Die schlimmen Tataren WM auf den hohen, Die Vente theilen. Alls Ebnen, Ebnen, Die Schwiegermutter Wohl auf den breiten, Ward Beute des Eidams. Da brennet ein Fener, Er bekam sie nnd führt sie Das nimmer löscht. Zum jnngen Weibe. 37 „Ach! hier, hier hast Du Du junges Weibchen, L>ier die Gefangne Aus Nußlaud die Russin! Nun heiße drei Dinge, Drei Dinge sie thun! Zum ersten laß sie Das Mldleiu wiegen. Zum zweiten las, sie Fein Fädchen spinnen. Zum dritten las! sie Die Hühner weiden!" „Nun Evchen, Polevchen, Mein Kindelein! Znm Väterchen hast Tu Das schlimme Tatarchen, Vom Mütterlein bist Du Mein Eukelkiud. Hab ja Deiue Mutter, Die Tochter geboren, Im siebenten Jahre Als Veutc entführet. Am Händchen, an« rechten, Das Fingcrchen fehlet, Das kleinste der fünfe. Nun Evcheu, Polrvchen Mein ,<,iindelein!" Und als sie nun hörte Das Tatnrweibcheu, Da stürzte sie weinend, Da warf sie sich schluchzend In die weißcu Arme Des Mütterleins. „Ach, Du Erzeugerin! Ach, meiue Mutter! Wähle Dir, wähle Der Rosse bestes. Wir wollen fliehen Nach dem heiligen Rußland, Nach dem heilige»! Rußlaud Nach nnscrer Hcimath." Des Üojlnei« t)N!richwn>). Es wird diese Ballade auf der Strjcl,;e,l Ataman Tschc^ll'witow bezogen, der im Jahre 1U8U zu Mosünl gerädert ward, Da» ästhetische Gefühl des Volkes hat die Todesstrafe in Enthauptung verwandelt, A,ls dem 5treml, dem Nreml, der festen Burg, Vom Schlosse, vom Schlosse des hohen Zar, Vom Schlosse hm bi§ zum schönen Markt Da dehnt sich ans ein breiter Weg. Und auf oem Weglein, dem breiten Weg Einen'wackern Iüugling führeu sie hm Zum Nichtplatz, einen großen Voiar, Der Stl'jelzeu Ataman, den großen Vojar, 58 Fur dm Verrath am hohen Zar. Es geht der singling uud tritt nicht fehl. Was sieht er so keck und schaut sich um? Und unterwirft sich dem Zaren noch nicht? Vor ihm der schreckliche Henker geht, Trägt in den Häudeu das scharfe Veil. Hinter ihm Vater und Mutter geht, Vater und Mutter und MM Fran. Uud sie weiuen wie strömet der Fluß, Und sie schluchzen wie, der Meßbach ranscht, Nufen im Schluchten so ihm 'iu: „Du unser .^lind geliebter Tohu! Unterwirf Dich dem Zaren doch! Deine Schnld bekenne Tu doch! Möglich, daß Dich begnadigt der Zar, Deu trotzigen Kopf auf den Schultern Dir läßt!" Stein ist geworden des Iünattnas Herz. Starr widersetzt er dein Zaren sich. Achtet Vaters nnd Mutters nicht, Nicht erbarmt ihn die junge Frau, Seine Kindlein die jammern ihn nicht! Zum schönen Markte führten sie ihn, Schlüssen den trolugen Kops ihm ab, Von den mächtigen Schultern ab. 4:l. Scchs großrussische Liebcslicder. Der Lnbetranll. Hab Dank, Du blauer Krug, hab Dank, Hast verscheucht den tückischen shvmn, der meiu Herz macht krank! Ist mir nicht der trotzige Kopf, sieh, schon ganz ergraut? Nicht die Zeit, nicht ^ahre, Unglück that's allein. Ward in Thränen geboren, ward getauft in Thränen, 89 Weint als Waise lang verlassen und uon Menschen verfolgt. Und das rosige Mäd6)en, als sic den singling liebte, War's mir nicht znm Trosle, war's zu nenen Thränen, Ganz erloschen sind von Thränen mir die hellen Augen, Ganz die weiße Brnst vertrocknet vom schweren Athen:! Hab Dank, Tn blaner Krng, hab Tank, Hast versckiencht den tückischen Grain, der mein Herz inacht krank! (kr uinf! »icht, ums ih>» fthl!. Ach, dn meinHerz, meinHerz, Frisches jugendliches! Wa'> betrübt dich, was bedrückt dich? Und du sassost mir doch gar nichts Nichts von Freude, nichts von Leide, Nichts von Unfall oder Unglück. Hat sich angehängt der Kummer An mich, an den gnten Jüngling, Weiß nicht, wie ihm abznhelfen! Kann mich nicht uon ihm befrein, Nicht wegessen ihn, nicht trinken, lieber null ins sfeld ich gehen, Meine» ^mniner dort anssäen Ueber's ganze reine Feld: Keime, keime ans, mein Knmmer, Wächst Dn ans als Bitterkrant, Wie das Bitterkranl so bitter, Grad' so sns; ist auch »lein ^nmmcr. i'iclicr l. In Nebel gehüllt ist die schölle Sonne, ill Nebel. Warum doch ist nicht die schöne Sonne zu sehen? Herzleio hat das schöne Mädchen, sie tranert. Keiner weiß um ihr Herzleid, keiner von Allen, Väterchen nicht, noch Mütterchen, noch die Verwandten, Noch das weiße Tänbcheu, das Schwesterchen, weiß es. Tranert das schöne Mädchen, trauert in Herzleid. Kannst ihn nicht, den bittern Mnnmer, vermeiden, Kannst ihn nicht, den lieben Frcuud je vergessen, Nicht bei Tageszeit, nicht bei Nachtzeit, Nicht beim Morgenroth, nicht beim Abendroth! Und in ihrem ^ummer spricht das Mädchen: »Dauu werd' ich den lieben Freund vergessen, Wenn die raschen Fuße unter mir eilist brechen, Wenn die weiften Hände an mir niederhängen, Wenn Ihr meine Augen mir mit Sand verschüttet. Wenn die weiße Brust Ihr mit Brettern decket!" Vie tieilnthslufttlie. Geh nicht, Innggesell, Abends spät vorbei, Abends spät vorbei, längs der Straße hin, Längs der Ttrasie hin, längs der breiten Ttrass. Wink nicht, Innggesell, mit der rechten Hand, Laß ihn funkln nicht, Deinen goldnen Ring! Wenn vielleicht, mein Fn'und, Du mich lieb gewannst, Du nnch lieb gewannst, ich Tir wohl gefiel, Schick zu freien nur einen Ircicrsmann, Guten Freiersmmm, väterlichen Ohm. An Verstand nnd Tinn bist Dn Jüngling reich, Und an HelrathsMt bin ich Mädchen reich, Hab fünfhundert Rubel, banren l^nids allein, Und an fnnfzia, Hofe, funs;is, ^ancvohofc. 44. Drei Lieder uo» großrussischer Ehe. In dir Frrmdr. Eorgenuolles, Du Hiäterchen, Tiefbetilttnnrvto^ ^iiitterchen! Sage uiir doch niein Väterchen, Mt den: leiblichen Älütterchen. Wie ^hr geschlafen die ganze Nacht? Ach, mich Vekmmnevte, Ach, nnch Tiesbetümmertste Floh dev Tchlaf in der finsleru Nacht. Hatle gar einen bösen Tvanm: ^tiirniische Winde erhoben sich, Von allen vier Teilen erhoben sie sich, Nnd sie trugen niein Brttchen fort, Fort in das fremde ferne Land, Zu fremden Vater und Mutter, Zur unbekannten Verwandtschaft! ^cidc». Mir iu 5tovf nicht kmn'5, nur nicht iu den Einu, Nimmer fiel mirs ein, nimmer dacht' ich dran, 93 Daß ein Mädchen iuug eineu Mau» muß nehmen? Mein Herr Nut«', ach, er bewilligt es, Und mein Mütterlein, sehr erwünscht war's ihr, Nm des Hauses Näh' ^i^ h^> ^lachbavfchaft. „Wenn zn Markt ich geh'," denkt no, „sprech ich uor; Wenn vom Markt ich tomm', frag' ich wieder an, Frage selber dauu ivohl mciu Tochterlcin: Nun, mit fremden Lenten, sag', wie lebt sich's denn?" „O Frau Mutter mein! hast gnt fragen nun, Wenn Du unter Fremde selber mich uerstiesiest! Klug muß man sich nehmen nnter fremden Lenten I Tief und unterwürfig muß den Kopf man halten, Nnverdrofmen Herzens und dcmüthia stets l Gestern Abend schlug mich der Schwiegervater, Und die Echwiegermntter geht umher nnd prahlt: „'s ist ein schönes Amt, Fremder Kinder lehren, Und erziehen Unerzogne, Ungezogne, Lehren Ungelehrte, nähren Nngenährte." Vic Nciwn'imMlt. Am Walde, a»u Walde, nm Wäldchen' Floa ein Tällbchcn ein bläuliches, Flog dahin und girrte dabei. „Fliege Täubchen, Du bläuliches, Fliege nach meiuem Vaterhaus, Briugc dem Vater, Täubcheu, die Knnde, Das; mich gestern mein Ehemann schlug. Schlug mich der Thor, warf er nur vor: „Gieb auf, Frau, den Willen, Dein Vatererb!" — „Und schlägst Du mich, bis es biegt uud bricht, Von meinem Willen da laß ich nicht!" Am Walde, am Walde, am Wäldchen 94 Flog cm Tnnbcheu, ein bläuliches, Flog dahin uuo girrte dabei. Fliege Täubchcu, Du bläuliches, Fliege nach meiueni Mlltterhaus, Vriuge dein Mütterchen, Iäubcheu, die Kunde, Daß mich gestern mein Ehemann schlug-Schlug mich der Thor, wirft er mir uor: „Gieb anf, Frau, die Faulheit, Tein Muttcrerb!" „Und schlägst Du miä), bis es biegt und bricht, Von meiner Faulheit da las; ich nicht!" IX. ^m Mij. 45. Kirchen «nd Hütten. Da ich hörte, daß der Thalgrnnd des Udij ungewöhnlich, hübsch sich darstelle, und ich mich sehnte, doch etwas Landschaft wieder zu sehen, nicht immer die platte Ebene, so ging die Fahrt dorthin, etwa sieben Etnnden von Charkow entfernt. In den Dörfern, dnrch welche wir fnhren, erhob sich über die niedrigen Hütten ein einzigem prächtiges Gebäude, und stnnd da wie eine prunkende Königin zwischen kleinem grancn Vettelvolk: es war die Kirche. In Wasistschewo, einer besonders ausgedehnten nnd wohlhabenden Ortschaft, gab es zwei große Eteinbanteu. Das eine Hans war das Gefängniß, welches die Züge der Gefangenen nnd Verbannten anfnimmt, die regelmäßig hiev durchkommen; das andere war die Kirche, ans grünem Plaj;e von Bäumen umgeben-^ ein wohlthuender Anblick. In demselben Dorfe wurde aber an einem zweiten ssroßcn Prnnktempel gebant. Die beträchtlichen Enmmcn, die .Wr Grüudung nnd Ansstattnng dieser Kirchen erforderlich, sind entweder von der Geistlichkeit durch allerlei Künste znsam-Mengebmcht, oder rwn K'anfleuten, die in Städten reich ge< worden, der Heimath geschenkt. Einerlei aber, woher die Mittel M diesen so prachtvollen nnd iiu Inneren so glänzenden Ge^ bänden kommen, die ^andbevölteruug hat unn doch etwas, woran 96 fie außer der großen Natur ihr Auge weiden uud die Seele erheben kauu. Die Kirche ist dein russischen Aauer und ^lein^ bürger eine Heinistätte, die täglich offen steht, wo er Elend und Arbcitsnoth uergißt, — ein blinkender Schatz, von welchem in seine trübe Lebensarnuith doch ein leiser goldener Schein fällt. Ich erzählte früher, wie mich in der .Vostcrtirche zu ktiew die innige Andacht der Gläubigen ergriff. Seitdem war nur die religiöse Art und Weise der Nüssen bekannter geworden, und immer mußte ich mich wieder wundern, mit wie geringen geistlichen Gaben sich das arme Voll begnügt, nnd wie wenig die Geringschätzung des Priestcrthums seiner migeheuchelteu Religiosität Abbruch thut. 4«. Landschaft. Als wir hiuter dem letzten großen Dorf in die Nähe des Flusses Ndij, kamen, gab es ausgedehnte junge Fichtenwaldung. und als ich näher hinsah, war sie überall durch Menschenhand hingesetzt. Man srcnt sich über dergleichen, zeigt sich darin doch Fürsorge für das Landesbeste. Unter diesen, Fichten ging es allmählich hinab in eiu schönes breitebcnes Thal, durchgläuzt vom Fluß in sanften Windungen, auf der eineu Seite leise Auhöheu, auf der auderru hoch ansteigendes User mit Wald und Gebüsch. Auf und ab öffnete sich das Thal zu weiten; Ausblick. Diese Landschaft hatte etwas Form und Umriß, ach wie wohlthuend uach langer Einförmigkeit der Steppe! Es ift ja eine beängstigende Aorstellnng, daß das ganze uuermeßliche Gebiet zwischeu Weichsel und Ural, fast die eine Hälfte Europas, so flach und eben und nichtssagend ist. In den Pyrcuäeu und Alpen, in Italien und Griechenland hat sich die Natur iu edleu und erhabenen Landschaften erschöpft, uud liegt hier im Osteu faul und lässig wie ein gemeines Weib am Boden hingestreckt. Dnrch Sumpfland, das sich mit geriuger Mühe in schoue 9? Wiese verwandeln ließe, kaincn wir zum Flusse. Gegenüber stand an und vor den Abhängen cine hübsche kleine Ortschaft, Wodinoia, d. h. Wasserdörfchen, ini Somnier viel besucht von Charkowern, die sich wochenlang hier der Waldluft nnd des Flußbades erfreuen. Ueber den Udii, der ziemlich tief, führte cine Fähre, nn beiden Ufern hielten mehrere Wngen^ Die leinen wollten herüber, die Andern hinüber, aber sie mußten alle mit einander nicht wenig warten, denn das erbärmliche Fahrzeug konnte nnr jedesmal zwei Wagen aufnehmen. Tic Fährleute aber waren schlanke hochgewachsene Männer mit langem blonden Haar, und man sagte mir, daß sie lauter großrussische freie Leute seien, ja sogar Abkömmlinge von Bojaren Kindern, denen Großfürst Nle^ei Michailowitfch, der Vorfahr Peter des Großen, hier zwcitanfeno Dessjätiueu Laud geschenkt. Ihnen gehörten die kleinen Baueruhäuser, die man drüben erblickte. Solcher freien Bauern, welche Leibeigenschaft nicht niedergedrückt hatte, gab es in Kleiurußlaud eine Menge: man nannte sie Emhnber oder Neinhösscr, Odnodworzi, weil sie nichts besaßen, als ein Banerngütchen. Mchtsdrstoweniger sind viele sehr stolz ans ihre adelige Herkunft. In dieser belebten Gegend hätte man wohl erwarten dürfen, statt der Fähre eine Brücke zu finden, oder wenigstens keine so armselige und gebrechliche Anstalt zum Uebersetze» über das Gewässer, Man hätte ja das Fährgeld auf eine Zeit lang in Brückengeld verwandeln können, um Äau nuo Unterhalt der Brücke zu bestrcitcn. Drüben empfing uns im Hause, wo nieine Verwandten znr Sommerfrische gewohnt hatten, die freudigste Gastfrennd» schaft, welche in Schnelligkeit die Tafel mit lantcr ächt russischen Speisen und Getränken bedeckte. Nach Tische ging ich mit dem Hansherrn, einem gebildeten Manue, eine kleine halbe Stunde im Thal aufwärts, wo Reste v. Uöhcr, Nußland. 7 98 einer alten Burg sich befmden sollten. Wir kamen dllrch einen Hofgarten, dessen 3^esi!;er das Aeusierste aufgeboleu hatte, gute^ Obst zu erzielen: dcr Erfolg schien nicht belohnend. Drüben anf der anderen Teitc des Flusses zog sich die Ortschaft immer weiter anf der Höhe über der tiefen Thalebene, die Häuser sämmtlich wie graue häßliche Strohhaufen, welche die Land' schaft wahrlich nicht verschönerten. Das Flußthal war gain so, wie ich sie nnzäliligemal im amerikanischen Prairie Lande ssesehen. Dort heißen die Anhöhen, die man nuten am Strome stehend zu beiden Teilen hat, Bluns. 5lommt man aber oben anf der Ebene herbei, so ist von diesen Anhöhen nichts ^u merken, denn sie sind nichts anderes als die Müder einer tiefbreiten Furche, welche dev Fluß allmählich in dein weichen Erdreich eingerissen und eingewühlt hat. Auf einem solchen Muss, welches in die Thalebene hinaus-trat, zeigte sich uoch etwas wie Wall und Oraben an der Landseite, Ohne Zweifel war hier ^ die Ttelle hieß l^oro ditsche d. h. Burgwcseu — eheuials ein befestigtes Ttandtager: es hatte sich aber kein Andenken erhalten, weder au die ^eit noch an die Ursache der Errichtung. Jenseit des Thales zeigten sich auf der Ebene drei kleine runde Hügel, die in gleicher Längenrichtnug standen. Es sollten Anrjäne sein. Auch von diesen Kurjänen, die sich bis weit in Tibirien hineinziehen, weis; man nichts Bestimmtes: niau vcrumthet nur, daß es Grabhügel von Fürsten der alteu Seythen oder anderer unbekannten Nomaden gewesen. Es hat nnn einmal die große russische Ebene von Ge^ schichte nur wenige dämmernde Linien. Auf ihrer Fläche will menschliches Werk oder das Andenken daran so wenig haften, wie auf dcr weiten Meeresfläche, Das ewige Einerlei verschlingt alles wieder. Wozu auch hier geschichtlicher Werte Tauer? Der Meusch kommt sich ia in dieser uugeheuren Leere so klein nnd numächtig vor, wie ein armes weltverloreues Kind. 99 47. Dnukle Räthsel. Alif dcm Rückwege kanien wir an einer,Hntte uorbei, die cinenl Großrnssen gchörle. Die Thür war verschlossen, ein kleines Mädchen nüt dem Brüderchen ans dem Arm in der Stube mit Hühnern und einem Schaf eingesperrt. Nach einer Weile kam die Mntter nnd öffnete nns. Die Hütte bestand ans zwei kleinen Ränmen, der eine war Vorrathskammer voll Kartoffeln Salzgnrten nnd ein paar Kisten, der andere Naum die Wohnstube, welche der große gemanerte Ofen znr Hälfte-nnnahm, Bei der ganzen Anlage der Wohnung war man von der Vorstellung einer Höhle für Dachs oder Bär eigentlich uicht viel weiter hinausgekommen, als daß die Wände ins Wereck gestellt wurden. Und in solchen hohleuarligen Wohunngen leben die Älen-scheu — welch' ein trauriges Bild — in dem ganzen (Gebiete von der Weichsel an bis znm Ural hin, nnd hinter diesem V^gzng, wo es noch größere nnd nacktere Ebenen gibt, haben sie es noch schlechter. Nnr einige wenige helle Pnnkte gibt es w diesem grauen trübseligen Einerlei, Städte Adelsschlösser und Fabrik - Anlagen. Wie lange wird es noch danern, bis diese trostlosen Flächen wenigstens Mei oder dreimal so stark von Ortschaften besetzt sind, in denen doch einigermaßen N^bildete Lente wohnen, die doch einigermaßen an Lnst und Freude theilnehmen, die ja für Alle auf der Erde blühn? Wird hier überhaupt sich ein dichtes enropäisches Volksleben entwickeln? Oder liegen ill Landes nnd Volksnalnr wirklich unbesiegliche Hindernisse? Ei,t fröhlicherer Anblick bot sich dar, als wir wieder in 5n'e lleinrussischen Dörfer kamen. Es war ein fchöner Oktober-Abend, und die ganze Ortschaft schien sich der angenehmen Wärme und Laubfrische erfreueil zu wollen. Vor jedem Ein-Naug in einen Hofzann saßen und standen Lente im Gespräch. 7^' 100 In dem Wirthshaus, in welches wir einkehrten, tranken Bauern still nnd stnmm ihren Branntwein. Sobald ihnen aber der Alkohol zn Kopfe steigt, fallen sie dein ersten Aesten nm den Hals und wissen der Bruderliebe nnd Küsserei kein Ende. Im Hinterznumcr sns; die neue Schulmeisterin, ein Mädchen von ächt russischer Bildung, aber wohlbewußtem Benehmeu. In den meisten größeren Orts6)aften in der Nähe Charkows giebt es jetzt Dorffchnlen, entweder von der Regierung gegründet .oder von der Gemeinde selbst oder von der Geistlichkeit. Jene sollen die besten, diese die dürftigsten sein. In der ganzen Welt scheint ja heutzutage die Geistlichkeit im Spenden kärglich, wenn es nicht ihren nächsten Zwecken gilt: die rnssische Geistlichkeit aber ist auch mit tiefen; Haß und Widerwillen erfüllt gegen alle Bildnng, die uon un^, den verrufenen „Heiden des Westens," kommt. Es ist schon oft die Nedc gewesen, die Klöster sämmtlich aufzuheben und mit ihren reichen Einkünften theils Schulen zu gründen, theils die armen Dorfpfarrer anfznbessern, damit Diese doch nicht gar so hungrig nach Geld und Nahrung gaunern. Allein man fürchtet, wenn es mit der Aufhebung der Klöster Ernst werde, könnten die Millionen, die in ihren Kirchen an Gold nnd Silber, Perlen und Edclgestein stecken, über Nacht verschwinden, in gefährlichen Kriegsbeilen aber werde es fehlen an leidenschaftlichen Vorfechtern für das heilige Rußland. Wahrend der Rückfahrt am stillen Abend dachte ich viel nach üb'cr das rnssische Volk, seine Charakterzüge, seine wahrscheinliche Eutwicklnng. Volk und Land ^ so ungeheuer in ihrer Ausdehnung — schauen den Fremdling an wie ein dunkles nngchcures Räthsel. Das Land hat offenbar noch Ranm nnd Nahrung für ein paar hundert Millionen Menfchen mehr, ^- wird dieses Volk ruhig nnd stätig fortwachsen bis zn solchen Massen? Wer nnd was könnte es hindern in diesen entlegenen, keinen Eroberer anlockenden Gegenden? Und was 101 dcmn? Werden sich seine Massen nach Enropa oder nach Asien hinmähen? Oder werden hier freie Völkerstaaten entstehen? Können sie nberhanpt entstehen in einem Lande, wo alle sich so durchaus aleichartia sind nnd für den Einzelnen das Leben so wenig Werth hat? — X. HolllswonmMmlg. 48. Schaffenslust. Wahrnehmungen, die ich in nnd Mischen den, Dörfern gemacht hatte, gaben Anlasi, dasi ich init einer nencn (^inricht^ ung ^- sie besteht erst fechszehn Jahre — bekannt wnrde, >vie sie zum Wohle des Landes nnd zur Heranbildluig des ganzen Volks für bürgerliche Freiheit nicht trefflicher sein könnte. Tiefe viel-berühmte Eemstwo, d. i. selbständige ii'reis- Orts^ nnd Pro-vinzialverwaltnug, init ivelcher Rnßland zn^lcich mit der Vanernfreiheit beschenkt wnrde, ist em redendes Beispiel, wie eö in diesein Lande mit AnMhrung uon Gesetzen nnd Aii' stalten bestellt ist, die ans das Klügste nnd Liberalste ausgedacht, deren Wirksamkeit bis in das Kleinste ans dem Papier anö-gezirkelt worden. Ganz Rußland wird nämlich ucm vielen der cifrigsteu Patrioten wie von der Regiernng bcstandin, als leere Fläche betrachtet, wie eine abgeschorene Tafel, ans welche man, ganz ungehemmt nnd nngestört von älteren historischen Bildungen, das Nene nur so hinzusetzen brancht. Man fühlt sich ewig wie auf der glatten Steppe, jeden Morgen steigt in heller Weite die Morgenröthe anf, ihre Ttrahleu fallen ungehemmt und lockend über die weite Fläche, unwillkürlich znckt m den Armen dio Lust, in die Leere etwas hincinzubauen. Diese 103 3chafflM^M, ergreift hier die Negierung, dort die gebildeten Krcifc alle zehn oder ziunuzig Jahre. Dann wird alles, was bisher galt nud bestand, heftig verneint: der neue Gedanke, kmnn ansgefprochen, fliegt luie der Blitz umher und blende! nnd belebt alle Köpfe. Dann wird das bisherige System wieder umge-stürzt, die inngeu Pflänzlingen, die noch keine Bäume geworden, sondern nnv erst Gestrüppe sind, werden weggerissen: man muß erst wieder leere Fläche machen, nin ionuer wieder von Grund ans aufzubauen, Jedermann eilt freudig nnd geschäftig herbei, die Werkleute greifen rüstig an, alle Welt lebt der fröhlichen Zuversicht, nnn werde bald über Land nnd Volk die Kultnr-blüthe herrlich aufgehen, lind dann, und dann ^ !a, dann Zeigt sich der tiefe Widerspruch zwischen dem Bemuten-Regimeut, ^as alles zu thun gewohnt ist und wenig schafft, nno der ^olksfreihcit, die alles schaffen möchte, aber weder Mittel, noch ^rast, noch Verstand nnd llebnng hat, — dann steigen un-Nchtbar, man weiß nicht woher, aber sie kommen sicher, lähmeude und erstickeudc Dnustc auf, das Gauze fäugt an zn kranken uud zu ermatten, und Volk und Regierung muffen znlel,t froh !^l», luenn man nur ein klein wenig iveitcr gekommen, vielleicht "uch uur wiederum um ein paar traurige praktische Erfahr-uugm reicher geivordeit. 4<». Eiurichtnnn dcr Tculctwo. Vcrwcileu wir riueu Augeubliä bei der Seinstwo. Ihr schöner Grnndgedauke luar: dnrch freie Thätigkeit der Staat^-l'ürger allgemeine Vcssernng der öffentlichen Zustände herdei-Nifiihreu. Was die Gemeinde allein nicht leisten konnte, das lollte der 5lreis leisten; was diesem zn schwer, das übernahm dle Provinz, zll welcher mehrere Kreise zusammengelegt wurden. Parlamente von Kntsbesitzern Städtern nnd Ballern, den Besten drs Landes, die alle aus freier Wahl hcruorgiugeu, die voll n'chmlicheu Wetteifers diätculos dem Vaterlaud ihre Zeit und 104 Kraft widmeten, die ihren dauernden Verwältungsausschuß einsetzten, um ansznfüheen und zu überwachen, was sie beschlossen hatten — diese Semstwo sollte der Regiernng nlnegend, rathend, helfend und ergänzend znr Seite stehen. Der freien Selbstuer waltnng wurden zugewiesen die Einrichtung von Brücken Wegen Mtd Posten, die Verbesserung der öffentlichen Sicherheit und Polizei, die Gesnndheitspflege mit Irren- und Krankenhäusern, die Sorge für Feldban, für Handel, für Volksernährnug, ferner die Unterstützung der Glitsbesitzer und Industriellen durch Hülfskassen und Kreditbanken, die Vorkehrung wider Feuers nnd Wassersgefahr, die Anbahnung einer gerechten Steuermnlage, ganz besonders auch die Gründung von Torf- und Stadt-Schnlen nnd Lehrerseminaren. Das alles und noch viel mehr bildete die herrliche Aufgabe der Semstwo. Wie prächtig nahm sich das auf den, Papier aus! Arbeitslustig, belebt von den schönsten Hoffnungen, traten die ueugo wählten Adeligeu Bürger uud Vauevn zusammen, Jeder bereit, sein bestes Wissen nnd Können auf dem Altar des Vaterlandes zn opfern für das allgemeine Wohl, Jeder begierig, die junge Saat ansznstreuen mit vollen Händen. Als sie aber in voller Thätigkeit wnren, fühlten sie nach nnd nach einen gewissen Hemmschuh eingreifen, eiueu höchst unleidlichen, aber ganz nn allsweichlichen Hemmschuh. 50. Der Hemmschuh, Er hängt in Rußland hinter allen Einrichtungen, welche nne Freiheit nnd Volksrcgierung ausschauen. Da sind z. B. die Verbrechen bestellten Richtern nnd gewählten Geschwornen zugewiesen: es kann gleichwohl daneben einfach im Verwaltungs' wege Jemand gefaßt und, ohne Nichter nnd Geschworene zu bemühen, verschickt werden bis in die lieblichen Bänder jenseits des Ural. So besitzt Rußland anch eine mächtige Presse: jede Stnnde kann sie aber das Gebot treffen, bis Hieher nud nicht 105 weiter: dann müssen alle Zeitungen eine brennende ssrage plötzlich fallen lassen, weil die Ne^ieruug befürchtet, die Gluth könne durch Anblasen zur Flamme werden. Es ist nud bleibt einmal das Minister- uud Beamteu-Regiiuent das eiserne Ge ^üge alles russischen Staatswesens, und da es regiert uud ssefuhrt wird durch hohe Herren, die hente Generale und morgen Präsidenten einer höchsten Schul- oder Äank oder Medizinalkom-Wission sind, uud da diese Herren eben auch nüt der russischen Eigenthümlichkeit behaftet sind, daß sie eitel und empfindlich bleiben, und zn Zeiten entweder von einer unwiderstehlichen Arbeitsscheu, oder von einein ebenso unwiderstehlichen (Gelüste Nach irgend etwas Anderem ersaßt werden, als was ihr täglicher Beruf ;,,id Uylieitsplau vorschreibt, so tonnten die Konflikte nüt der Semstwo nicht ausbleiben. Diese trat in der einen Gegend ssarzu keck, in der anderen gar zu riihrig auf, man surfte sie um keinen Preis zu eiuer großeu politischeu Macht werden lasieu. Also nnnden hier und da Druct und Däiupfer aufgesetzt, qenuq !i,n dem besten Mailne oas Spiel zil uerleidcn. Nnn forderten die neuen Gnrichtungen und Austalten auch ^eld, sogar uiel Oeld, O^ld aber ist überall knapp in Nuß la»d, außer bei glücklichen 5tauflenten Prälaten nnd großen Grundbesitzern, Sieben Zehntel des Staatseiukommens - sage siebeu Zehntel werden alleiu durch die ^iosteu von Heer uud flotte, Hof- uud znnainvcrwaltuug ll»d durä) die ^infen der Staatsschulden uorweg aeno,nmeu: wie viel bleibt denn da für alles Uebnge? Die große Älasse dov Unterthanen aber, nämlich "aueru uud Kleinbürger, ist bereits schwer belastet, und den weistm Grundbesitzern läftt sich zur .^eit keine Steuer mehr aufbürdeu, will mau sie uicht vollends rniniren, ^s kani aber noch eine ganz besondere Natur des Volks uud des Landes hin',u, welche gerade der Semstwo gefährlich wurde. In Rußland versteht Jeder Alles, und deiner hat etwas 10tt Gründliches gelernt. Bei dein besten Willen fällt man daher leicht in Vcrwicklnnn.cn nnd Irrgärten hinein, ans deneil tcin Entrinnen »lehr. Dabei findet fich unter Hunderten nicht Einer, dem folgerichtiges Denken nnd Arbeiten a»f die Länge nicht unerträglich, das Einhalten eines festen Plans schon nach ein paar Monaten nicht gauz nnleidlich würde. Ja der ersten Hitze nnd Anfregnng wird so gnt wie in gar keiner Zeit Außerordentliches geleistet, unfehlbar jedoch folgt das Ermatten uud die Sehnsucht uach Genuß Zerstrennng und Nichtsthun. Im Lande aber sind die Entfernungen so nngcheucr, die Bevölkerung so dünn gesäet lind dabei durchgängig noch so trag, geistesarm, bedürfnißlos. Jeder rasche Fortschritt erfordert daher gewaltige Anstalten, während der Erfolg in der Negel winzig bleibt. Wie köuueu die GeselMber iu der Provinz über Wegbesscrung uud VrnckonnnkMN berathen, wnin sie erst ans weiten Entfernungen herbeifahren müssen nnd die Hälfte unterwegs in Koth nnd Sümpfen stecken bleibte Wie will nmn die Aauern da,',u bringen, Schulen und Lebrersenunare zn errichte!^ ivährend bei ihrem höchst einfachen Tagwerk nntcr Tausenden nicht Einer das Lesen nnd Schreiben zn lernen wünscht oder nöthig hat? Die Gesammtwirkung dieser Ursachen ist also mit Händen zu greifen. Was im Plaue gut und trefflich, gerät!, in der Ausführung höchst kleinlich. Die edelste Anstrengnug sinkt znsammeu, wo großer Erfolg so furchtbar schwer, so ungewiß. Auch die Semstwo fing an lahm zu werden, die RatlMer-sammluugcn wurden immer weniger befncht, znlchl wollte lein gescheidter Mensch mehr damit seine Zeil verlieren. Unfruchtbar! — Ist es denn wirtlich Wahrheit, was so Viele sagen: man könne in diesen: großen Reiche bei jedem Staatsunlernehmen zur Hebung von Land und Volk mit inathematischer Gewißheit vorher berechnen, wann dies fürchten liche Wort — Unfruchtbar! ^ wiederum in großen Lettern 107 erscheine? Giebt es denn wirklich hier nur taube Blüthen ohne Fruchtkern? Der Neueste Schilderer russischer Zustände, 3nrgenjew, sagte: „Im russischen Leben ist alles Ranch und DuusN Ileberall sieht nlan neue Gestalten iu der Bildung begriffen, eine Erscheinung jagt die andere, im Wesentlichen aber bleibt alles wie es gewesen. Alles treibt und stürmt irgend wohin, uud nirgend wird etwas erreicht, — der Wind schlägt um, und die Nasse wirft sich ans die entgegengesetzte Seite, nm dasselbe ruhe- und zwecklose Spiel zu beginnen, — Rauch nud Dunst, nichts weiter." Das sind verzweifluniMolle Worte. Allein ganz so schlimm steht es denn doch nicht. In mehreren Gegenden hat die Scmstwo schon vortrefflich gewirkt, ^ine schöne Anzahl Schulen hat sie doch hervorgerufen, einige brücken nnd Wegstrecken sind doch fertig gewordeu, insbesondere auch die Medizinalpolizei hat sich gehoben, ^ästt sich denn nicht so fortfahren? 3>lan mnß zunächst in der llnigegeud der Moßen Städte ,verrellsitzr und Fabriken Schuleu, ^iraulellhäuser, Hülfskasseu uud vergleiche» errichten, uud die Straßen verbessern, ^e zu den Eisellbahnen führen. Wenn man numer nur so ulel begiunt, als sich leicht überschauen nnd ohne zu große Anstrengung durchführen läsit, wird sich dauu nicht langsam wi kleiner Fortschritt an den anderen ansehen? Und werden die uielen kleinen Fortschritte nicht mit der Zeit ein großes Gedeihen abgeben? Vö gehört freilich Entsagung nnd Charakterstärke dazu, sich mit dem änßerst langsamen Fortschritt zu jungen. Und doch was bleibt übrig? Soll man denn gleich einen großen Kochheerd banen, um ein paar Kartoffeln zu sieden, welche dein rnfsischen Bauer ebenso gut schmecken, wenn sie in der Asche gebraten sind? XI. Nach dcm Norden. 51. Abreise von (5li«rkow. Ich mußte endlich das nur lieb gewordene Charkow ucr lassen. Diese Stadt hatte mir das neue Rußland r>on seiner glänzenden Seile gezeigt; denn nnr in ^lordamerita finden sich Beispiele so rascher nnd reicher Entwicklnug, und da ich in Charkow nnr mit Teutschen, die sich in behaglichen Verhält uissen befanden, oder mit Rnssen verkehrte, die beseelt waren von Liebe für ihres Landes Gedeihen nnd Zukunft, so horte ich fast nnr Gutes darüber. In meinen verwandtschaftlichen Kreisen hatte sogar etwas Schwärmerei für Rußland Platz gegriffen. Tas konnte mich gar nicht verdrießen: wer einein Lande angehören will, muß an seines Voltes Leiden und Freuden, Hoffnungen und Täuschungen theilnehmen. Was mich aber stulmi machte nnd nachgerade doch empörte, das war das lästerliche Geschrei über Deutschland, uon welchem im vorigen Spätherbst beinahe der ganze Chor der russischen ^eitnugen nncderhallte, nnd die beleidigende Neberhebung, als werde die fürchterliche Macht Rußlands uns nur so zwischen den Fingern zerquetschen. In, sie gaben sogar mehr oder minder dentlich zn verstehen, wie barbarisch die Kosaken, zahllos wie Heuschrecken-Schwärme, bei nns hausen würden. Diesen Herren Einiges zn antworten nnd ihnen die Wahrheit zn sagen, fühlt man sich 109 gauz von selbst veranlaßt; denn 'zwischen uns nnd den Nüssen fronnnt, wie es jetzt einmal steht, nur die volle Wahrheit^ bannt die Dinge sich nicht noch schlimmer verwickeln, als sie durch die Hetzerei jener ungezogenen Gesellschaft schon gerathen sind. Bei der Abreise von Charkow war ans dem Bahnhöfe, wie es in Rußland Titte, ein ganzer Kreis von Freunden nnd Bekannten versammelt, das letzte Lebewohl zu sagen. In diesem tnrzen Loben werde ich kaum jemals (5inen oder Anderen wieder sehen, aber noch öfter dankbar an sie denken. Nie werde ich die schone schlanke Russin mit den träumerischen Angen vergessen, die kein Wort Dentsch sprach, aber ein reizendes Französisch, und so hinreißend mir kleinrnssische Volkslieder sang, ione klagenden bieder, in deren traurigeil Melodien ein kindliches Volk sein leiduolles Gemüth austönt. Unter ehrenhafte deutsche Familien hatte ich hineingeschaut nnd ihr Hauswesen voll so gediegenen Lebens grfnnden, wie irgendwo im ^aterlandc selbst. Auf den Tischen lagen Schiller lind Uhland, „Daheim" nnd „Gartenlaube", und an den Wänden bot sich nuch eine Lösnng des Räthsels dar, wo die Tausende von Genre- nnd Landschaftsbildern zuletzt bleiben, die alljährlich in Müucheu Düsseldorf Berlin Dresden Karlsruhe nnd Weimar ^schaffen werden. Die Charkower dentsche protestantische Kirchengemeinde wurde schon I7<^ gegründet und erhielt sich in ihrem ^ernc nin deutsch. Von ihren Angehörigen aber sprang im Laufe "kr Zeit eine Menge ab, zog nach anderen Gegenden des weiten Reiches und verrußte, d. h. verlor sich in Geschäft nnd '^irath nnter die Russen und nahm mehr oder weniger deren Sprache Sitten und Denknnasart an. In den letzten dreißig wahren ging das Verrussen rascher vor sich. Es war ja unmöglich, daß dentsche Kinder in Bürger- und Töchterschulen und anf Gymnasien nnd Universitäten, als der erwachte 110 russische Nationalist sich so gewaltig regte, seiner Cinnnrknng sich entziehen tonnten. 52. Dentschrussc». Dieses Einwandern, Ansiedeln, Arbeiten, Altfsteigen und allmähliche Verrussen, uou Deutschen dailcrt mm bereits länger als ein Jahrtausend. Was nußer dev Kirche jel;t in Rußland an Kultllr nnd staatlicher Ordnung uorhaudeu, ist zu sehr be trächtlichem Theile das Wert deutscher nnd deutfchgeschulter Kräfte. Zu Aufang des no6) laufenden Jahrzehnts erschien iu den russischen Zeitungen eitle Verechnuug, uach welcher von je hundert Oenerateu iu Nußlaud achtzig Delltsche, zehn von polnischer oder armenischer oder tntarischer, nnd nur zehn von russischer Abkunft. Seitdem wurdeu die Deutscheu gruudsnj; lich, wo nud wie man tonnte, uou Russeu beiseite gedräugt. Die Folgen zeigten sich im letzten Kriege. Als es vor Plewua gar nicht mehr geheu wollte, musite doch ein Dentscher rettend eingreifen. In alleu größeren Städten Nnßlands findet sich eine größere oder kleinere Anzahl von Deutschen, meist Haudwerker Kaufleute Fabrikanten, aber auch Aerzte Techuiker uud Lehrer aller Art. Ist ihre Mruge bedeutender, so treten sie zu einer Kirchen« nud Echul-Gemeinde zusammen, Nimmt man aber eine ethnographische Karte zur Hand, ans welcher farbig die Ge geuden angedeutet sind, wo dentsche Niederlassungen sich be finden, so muß man über ihre Menge und Au^breituug sich doch wundern. Sie begegnen uns bereits nicht weit uou der polnischen Gränze an beiden Seiten des Ttyr bei Lnzt und am rechten Ufer des Sjnzl in der Nachbarschaft von Schitomir. Um das Schwarze Meer zieht sich ein ganzer Kranz, beginnend westlich uon Odessa, wo Leipzig nnd Töpliz liegen, — westlich vou Nikolajew, wo Worms uud Landau, — am untern Dnjepr zu beiden Seiten, wo Neuenburg Halberstadt Marieufeld, -- N1 endlich hreit an dor Wolga bei Saratow, wo wieder cm Marienfeld neben Jernsalem ^'osenthal Friedenthal Philipps-feld. Scldst im Vorlnnde des Kaukasus findeli sich ein paar deutsche Ortschaften, dagegen, auffallend genug, i,n ganzen breitgedehnten Lande der Orosirussen nur die einzige bei Cholin am Loiuat, ehe er sich ill den Ilmensee ergießt, lleberhaupt ist gar nicht zn sagen, ivieviel nnseres Volkes der weite slavische Osten schon mag verschluckt haben. In Galizien kennt man ganze ehemals deutsche Dürfer, die rein verpolt sind. Woher anders könnte auch der polnische Adel, der sich noch immer vom gemeinen Volk anffällig unterscheidet, gekommen sein, als von germanischen Eroberern? Ohne Ver-slleich aber bedeutender, als die deutsche <5inwauderu»g, die in geordneten Zügen nach den Ostländern erfolgte, war diejenige, welche jahraus jahrein sich aus zahllosen Linzelnen znsammen-sehte, namentlich vom dreizehnten bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts, ehe sich die nie al'lassende Ausströmung unserer ^luswanderer über den O.zean wandte. Es ist das einmal unser Schicksal. Die Deutschen sind bestimmt, mit ihres Wesens Blnt nnd Seele, Geist nnd Knochen 5m' Völker ringsnm zn nähren. 5iein anderes Volk anf der Erde liefert Jahr für Jahr soviel Völtcrdünger ab. Jede Nation hat ihre Eigenart, üher welche sie einmal nicht Herr wird: warum geben die Germanen so viel Auswanderer her, die Romanen so wenig, die Russen, wenigstens ins Ausland, 3nr keinen? Würden unsere Gränzen einmal ein paar Jahr-Hunderte verschlossen, so würde znletzt eine nenc Menschenflnth s« durchbrechen, wie einst zur Zeit der Völkcrwandenmg. Seit nun Deutschland sich wieder zu seiner alten Machtstellung emporhebt, beeifert man sich in allen Ostländcrn, rasch einznschmelzen, was dort von deutschem kostbaren Menschen-Kapital ansässig geworden. Liegt nicht anch darin ein Fingerzeig, uns eudlich ernstlicher nnt der Zuknnft dcntscher Ansiedelungen zn beschäf- ____N2 tigcn? Sollen wir es noch immer dem Znfall überlasseu, ober sie hier- oder dorthin treibt? ^ 53. Großrussische Landschaft. Die Wagen auf der Bahn von Charkow nach Moskau waren nicht so begnom und saubor, anch viel besetzter, als ich sie bisher alls russischen Bnhueu kennen gelernt. Als es hell wnrde. begab ich mich daher zum letzten Wagen des Zuges, weil ich sah, daß sich ein Herr i,i llniform Hinteuaus ins Freie gestellt hatte. Ich nahm den Platz ueben ihm, um etwas mehr von Land nud Leuten zu haben, und bemerkte min, wie jeder Aahnarbeiter unterthänig mit Vcrbeugnug und Miitzabuchmen grüßte, obgleich ineiu Gesellschafter uur riu gewöhnlicher Vahu-bcamter war. Die Gegend hatte Wnldnug, an allen Bahnhöfen waren, ungeheure Masseu .^ol^ nliffietlaftert, die Wnldvcnvüstuna, also ruildnin im bcslen Gange, Bald wird sich auf Rußlands Ebenen, wie in Norwegens Bergen, wenig gutes Schiffsbanholz mehr fiuden lassen, nud die Eisenbahnen werden genöthigt sein, statt der waldvemhrcnden Schwellen, sich nach anderem Material umzusehen. Hui nnd wieder kamen wir an einer Ortschaft vorbei. Hatte mich schon die Aernilichkeit der kleinrnssifchen Dörfer verwnndert, so war ich entsetzt über diese großrussischen, die nur aus einer Art grauer strohbedeckter Kasten bestaudru, mehrere Reihen ueben einander hingesetzt, — öfter kanm zu uuterscheideu uou Strohhaufen, -^ nackt anf nackter Erde, ohne Baum oder Strauch oder Gartcu. Selten erhob sich ein besseres Haus ein wenig über die anderen der Ortschaft, freilich noch nicht entfernt mit einem deutschen Banernhof zu vergleichen, Ganze Wolken von schwarzeu Krähen verfinsterten die Luft. Hänfig saßen sie anf den Dachfirsten, wie bei uns die Taubeu. Der russische Bauer liebt dieses schwarze Gevögel:, 113 hat er doch etwas Lebendiges an ihnen, das wenig kostet. Jedes Menschenkind will doch etwas Lebensfreude haben, der großrussische Bauer ist darin gewiß auf der ganzen Erde der Bescheidenste und Genügsamste. Als ich bei längerem Anhalten auf einem kleineren Bahn Hof einmal ausstieg nnd zlim erstenmal eine Tchaar großrussischeu Landuolks, Männer Weiber nnd Kinder, beisammen sah, fiel mir das Trübe und Bleiche auf, das über diesen Menschen lag. Aengstigcn könnten Einen diese nnboweglichen Gesichter, die matten glanzlosen Angen, die Blicke wie ins Leere gerichtet. Unwillkürlich kam nur der Gedanke: so müßte ein Volk aus' sehen, das seine bessere Seele sncht und nimmer sie finden kann. Erst als wir uns Moskau näherten, wurden die Wohnhäuser ansehnlicher. Aber sollten denn jetzt, wo die Leibeigen schaft aufgehoben nnd die Naturschätze des Landes durch Eiseip bahnen erschlossen sind, nicht allmählich die meisten Baueru zn bessereu Heimstätten gelangen? Nach und nach müssen sie doch immer mehr sich emporarbeiten ans Druck nnd Finsternis,, welche das kaum befreite Gemüth noch befangen halten. Ach, wenn man nur könnte, von Herzen gern möchte man zugreifen, dem gutmüthigen Volk aufzuhelfen. Tie einzige Abwechselung boten den Tag über kleine Flnß-landschaftcn. Wenn die Bahn einen großen oder kleinen Strom überschritt, sah man das dunkle Gewässer sich vor kleineu Er^ hohungen dahinschlängeln. Insbesondere bei Serpuchow öffnete 5>ch ein anmnthig belebtes Thal an der Oka, anf der einen Seite Ansiedelungen, auf der andern Hügel nnd Wäldchen. v, Lllher, Nußlllüd XII. Moskau. 7,4. Glückliche Ankunft. In Moskau hätte ich es nicht besser troffen können. A,n Morgen nach meiner Ankunft wurde dor Himmel strahlend in heiterer Bläue, und die Stadt feiorte, es war am 2«,, Oktober, ihr großes Iahresfest „znm Gedächtniß an den Einfall dor Gallier und der zwanzig nüt ihnen verlnindeton Völkerschaften." Alle Welt strömte in Feiertleidcrn zum Kreml. Als ich n»n auf den großen „rothon Platz" uor dein ,^reml kain, stand ich qoradozn vorblnfst vor der Basilms-Kircho, doln beriihinton Bauwerk Iivan des Schrecklichen: etwas so toll Phantastijches war mir anf l5rden noch nicht vorgekommen. Feierlich aber wurdo nur zn Mnthe, als ich durch das hochssothüruitc Erlöser-Thor, unter welchem Iedermann das Haupt entblößen muß, anf den Platz zwischen den Kirchen deK Kreml kam, die ruhig sich schaarondou Voll<'inasscn erblickte, nud hoch darnbev iu den Lüften die ssoldsliuuuernden Kuppeln nnd seltsamen Thürme, nnd dann niedersah auf dav .^äusermeov am Flusse, über welchem wiederum zahllose kuppeln nnd Krönte blitzton und funkelten. Tiose Äiostaner Hochburg ist wio eine erhabene Alropolis do-? griocljischen Altorlhunis, bio des ^oll>> Hoiligthiiiner und Cchntzbnrgen nmfnstt. Alle Welt kann Ruß' land nm eincn solchen Besitz bonoiden. Anf freier Höhe ist 115 hier ein Gedränge von ragenden Kirchen und Kathedralen, alten ^aren Bnrssen und modernen Praclstpalnsten nud Arsenalen uüt langen Reihen uou uugethümen Kallouen, alles niuzogen von malerischer viclthürmiger <>innennlaner. fröhlich ivanderte ich umher unter der andächtigen Melisse, und freute mich der Artigkeit, mit der sich We. und einer ssewissen natürlichen Gracie, mit der sich Viele benahmen. Nicht wenig gefielen mir die wohlausssebildeten Männcrgestaltcn, von denen Ulan viele klassisch schön nennen tonnte, wenn nur die Gesichtsfarbe l,cller »nd die Blicke beredter wären. Unter den versammelten Frauen aber geigte sich höchst selten ein gefälliges Antlitz, Fast alle waren tnrz nnd dick, nüt harten stnmmcn Gesichtszügcn. 1I»d nichts kaun häßlicher sein, als die Arr uttd Weise, uüt luelcher sie die Ena,e des ^ranenrocks ssleich unterhalb der Schultern verleben. 55. Fest der Befreiung von den Galliern. ^ch ließ meinen Begleiter eine dieser Fraueu nach der Vedeutuua, des Festes frageu. Da ssab sie iu fliegender Ncdc -"ks6)rid, sah nnch aber dabei mit so dm'chdrinssendem strafenden blicke an, das; ich wohl merkte, sie hielt mich für einen Verbuchten aus den zwauzig verbündeten Völtcrschaflen oder gar fur einen Gallier selbst. Das rnsfische Volk glaubt uicht auders, denn die beschichte wird ihm so vorgestellt, als es hätten die Rnssen siegreich Napoleon aus ihreiu ^anoe heransgeschlagen, obgleich sie bekanntlich wunevfort von ihin besiegt wurden, und als hätten sie, Enropas '^tter, bei de,n Zngc nnch Frankreich die Prenßen nnd Oester- ^lcher hinter sich gehabt als ihre dnntbar unterwürfigen Go lolgslente. In keinem rnssischen Schnlbnchc steht die geringe lnzahl zn lesen, mit welcher sie hinter Napoleon her an der nttsch^i Grättzc alllangten, selber änßerst mitgenommen von em gräßlich harten Winter; noch weniger wird uermerkt, wie 8* 116 klein die russischen Heerhanfeu sich neben den deutschen nnd österreichischen ausnahmeu, als man über den Rhein zog. Das große Wort freilich führten dcnuals in Paris nnd Wien nnr dic Nüssen, und ihre Diplomaten werden es schallend nild dröhnend fiihren nller Orten, wo, und jeder Zeit, wenn man es sich gefallen läsit. Ich snchte mir einen erhöhten Platz, wo ich das kirchliche Schnnspiel überblicken konnte. Ans der einen Seite bildeten Soldaten Spalier, und auf der anderen war ein Seil gespannt, in den freien Nanm dazwischen wnrden nnr die Brüderschaften gelassen, die init ihren goldprangenden Bildern nnd Bannern anlangten. Tarauf erschien in Prachtgewändcrn von Gold nnd Pnrpnr die gesannnle Kloster- llnd Pfarrgeistlichkeit, eine kleine Schaar nach der anderen. Eine jede mnstte, statt dasi man den Ehrwürdigen freien Durchlaß gegeben hätte, unter dem Seile her, das nur ein wenig gelüftet wnrde. Alle die weitläufigen verren mußten unterkriechen, nnd wenn sie wieder einpor tauchten, schüttelten sie sich wie Enten. Es wnrden der Mönche nnd Popen hundert, zweihnudert nnd noch viel mehr, uud sie standeu uud gingen in Gruppen und hatten ihr angelegentliches Gespräch. Vielleicht unterhielten sie sich darüber, wie sie ihre alten Lehrmeister, die pfiffigen Byzantiner, übertroffen lind deren Kirche die Bulgaren glücklich al^ gelistet. Wie aber, wenn ihnen jetzt die Griechen den Possen spielten uud uuter englischem Tchntz ein Konzil veranstalteten, in welchem erklärt würde: die russische Kirche sei des legitim«: .Hauptes beraubt nnd nnfrei. Der Patriarch von Moskau hatte uämlich ehemals unter den sechs Patriarchen des Orients nach Konslantinopel nnd Alcrandria den dritten Platz, und erst nach ihm folgten die Kollegen von Antiochia und Jerusalem. Peter der Große aber setzte an Stelle des rnssischcn Patriarchen einen obersten Kirchenrath, Synod, dessen Beschlüsse der kaiserliche Bevollmächtigte zwar keineswegs so beherrscht wie es 117 häufig bei nils geglaubt wird, wohl aber stark beeiuflusit und iedeu Augellblick heml»en oder ganz ilnterdriicken kann. Endlich erscholl vom „großen Johann," so heißt der höchste Thurm, ein gewaltiger Glockenschlag, und sofort sehten sich alle Hände in eifrige Bewegung mW machten das große Krcilz cin-über das anderemal. Alsbald stimmten die anderen Glocken ein, nnd mm gab es ein so furchtbares Schallen nnd Dröhnen, als würde fort und fort mit hundert Kanonen gefeuert, Unter diesem brausenden Gelallte entfaltete sich langsam mit all' den stoldblitzenden Bildern mid Bannern, strahlenden Gewändern und zahllosen fackeln und Lichtern ein nuabsehlicher Zug. Die Brüderschaften und Kirchendiener mit ihren Kleinodien und vor allen die geistlichen Herren fchritten feierlich daher Mit so edlem würdevollen Auslande, mit so stattlichen Bärten, daß man gar nichts Schöneres sehen konnte. Wiederholt hatte ich zur Osterzeit in Rom deu stolzen Zug der Kardinäle bewundert: die Italiener saheil nwhl klüger ans, und anch sie trugen in der Negel funkelnagelneue Gewänder, aber mit der prachtvollen Würde, mit dem schweren uud gleichwohl an-unithigcn Pomp der Russen könnten sie es doch nicht auf-uehinen. Znletzt lain der Metropolit mit seiuem goldenen ^tab und seguetc immerfort rechts und liuks, und au seiuer Seite schritt in, schlichten Militärmantel der kaiserliche Generalstatthalter Fürst Dolgorukow. 56. Auf dem Kreml. Während nun die Profession vom Kreml uiedcrwallte und "nf dem rothen Platz ein feierlicher Gottesdienst gehalten wurde, 1"h ich in den Gebändeu der Aurgstadt mich näher um. Da lernte ich erst recht schätzeu, welch ein hochthenres einziges Be-NKthum der Kreml für das rnfsische Volk sein musi. Uralt Nnd diese Gebäude zwar nicht, ^ in Rußlaud ist uichts alt, "ls byzantinische Muttergottesbilder und das Volk und die. 118 leere Ebene, — allein seit fünf Iahrhuudevteu wav, was auf dem Kreml steht, doch Zeuge dessen, was in Rnßlaud geschah, und noch länger haftet an dieser Höhe des Landes Geschichte. Da steht anf der einen Seite der Maria Himmelfahrtsdom mit den: Thronsitze der Zareil und Metropoliten und den Gräbern der Letzteren. Hier bei den Gräbern der Kirchenfürsten werden die Zaren gekrönt, und es ist da auch ein anderes altes Thron-Schnitzwert von Holz aufbewahrt, welches die anziehendsten kulturgcschichllichcu Bilder von Schlachten nnd Burgen Schiffen Aufzügeu und Huldigungen aufweist, Da das wundcrthätige Muttergottesbild von Wladimir, das natürlich der Apostel Lukas gemalt haben nnisi, die Profession mit machte, so wurde au seiner Stelle eiue getreue Kopie geküßt, die uoil keiner geringeren Hand herrührte, als der geschickten eiues Metropoliteu, Der Kröuungstirche der Zaren gegenüber erhebt sich deren eigene Grabtirche, der Erzengel Dom, in welchem unter jedem ernst blickenden Vildniß eines Gebieters sein Grabmal, ^hren Fraucu göuute man solche Ehre des Kreml nicht, sie wurden dranßen in Klöstern bestattet. So sehr nun alle Wände dieser Kircheu bebeckt siud mit Kostbarteiteu, noch feierlicher schimmert es imHnlbduutel deo Maria Vertiindigungs-doms, dessen Dach und ucuu kuppeln vergoldet und dessen Bodenplatten uon Achat sind. Hinter diesen Kirchen erhebt sich der alte Zaren-Palast, dessen Stockwerke nnd Gallerien wie meritamsche Teinpelstilfen über einander gesetzt sind. Daran stoßen Gebände mit Sälen und Säulengängen, theils im mittelalterlichen Bnrg-Stil, theils im modernen Palast-Stil. In geschlossenen Höfchen dazwischen stecken wieder uiedliche tloine, ganz alte ^uppcltirchen, wie ich sie noch aus Kreta und Eypem gefunden. Die Zwiebeltuupeln aber erheben sich aller Orten in die Lüfte, gleichsam als lachten sie über so uiel Wuuderliches, sie selbst so wunderlich. Betrachtet mau aber uäher die Zeichnungen und Iignrcu 119 auf den Heiligenbildern wie an den Wänden und Geräthschaften, so sollte man sich noch im Zeitalter der Karolinger nnd Ottonen glauben. Damals kamen diese byzantinischen Mnster nach Deutschland, nnd so wie nnscre Museeu sie an den Deckeln der alten Gebet- nnd Euaugclieubüchcr, an den Reliquien-knstchen nnd 5tir6)cligeräthen alls jener Zeit noch besten, geraoe so sind sie heutzutage noch in Rußland iiu Gebnnlch, 57. Andere Bauwerke. Auch die Grundform des Kircheubaustils ist noch die by° zantinische, jedoch vielfach unterbrochen hier durch gothische Linien, dort durch eine gewisse uergröberte Renaissance, ^welche dem einfach Praktischen huldigen will lind doch orientalisch Phantastisches, das ohne allen Grnnd plötzlich einspringt, nicht abweisen kann, Zur unteren Hälfte ist die rnssische Kirche wi weites bürgerliches Wohngebäude, darüber strebt sie empor im Gemisch von gothischen nnd romanischen Zierralhon, über welchen sich die orientalischen Kuppeln und ausgebauchten Thürine erheben. Ueber das Ganze aber ist etwas von der natürlichen Grazie alisgegossen, die bei den gemeinen Russcu nicht selten lst, und welche ich auä, wohl au Iudiauern bemertt habe. Most'au hat uierzigmal uierzig Kirchen — sagt Nlld glaubt bcr gemeine Iltann iir Rußland. So heilig ist ihm Moskaus -^nhni. Ob aber, ivelln man sie zählte, sechszehnhundcrt heraus källlen:" Vielleicht, ivenn man alle Kapellen hinzn rechnete, wie !u' ehemals die rllssifcheu Großeu sich in ihreli Wohnungen banen ließen. Die gröstten Kirchen ahmen aber das Kapellen-^nfte darm nach, daß sie alle bei geringer Breite nnd Tiefe tn die Höhe streben. Das glänzende Innere ist überall dasselbe, «nd man sieht viele schöne alte Gemälde. Schade, daß die Bildsäulen verbannt sind. Das großartigste Aauwert steht nicht auf dem Kreml. W ift die ncnc (5rlöser-Kirche, ein Prachtbau, iu welchem sich 120 das heutige Moskau ein würdiges Denkmal setzt, in so schönen und gefälligen Verhältnisse»,, daß die ungeheure Große nicht bewältigt, nnd doch nicht so verschwindet, wie in der Peters« tirche zu Rom. Die dosten sollen ganz nngehener seilt. Der freie Platz, anf welchem sich der Tom in Gestalt der Petersburger schönen Isaakskirchc weithin sichtbar erhebt, mußte gegen die tiefe Moskwa erst dnrch einen Nsergang abgemauert werden. Die Thürpfosten sind aus graugeflammtem sibirischen Manu or, der besouders kostbar, und die Wände glänzen außen uon weißenl Marmor, innen uon herrlichen Stuckfarbeu nnd Arabesken nnd Bildern. Die Gemälde sollten nnr von russischen Malerhänden herrühren, jedoch braucht mau die Herkunft der Künstler nicht so genall zn untersuchen. Das gesammte Innere des Domes macht einen edlen nnd harmonischen Eindruck. Ein unglücklicher Einfall aber war es, drnnßen nm die Wände eine Folgereihe uon Gemälden laufen zu lassen, die aus Vild^ Haner-Arbeit bestehen. Diese marmornen Gemälde müßten die erhabene Nnhe des Gebäudes nothwendig selbst dann beein^ trächtigen, wenn ihre Künstler oder Steinmetzen weniger stur mische Erregnng hätten in Stein fesseln wollen. In den Moskauer Straßen geigen sich verhältnißmäßig erst wenige schöne oder bedeutende Gebäude. Das Ganze trägt eher einen kleinbürgerlichen Charakter. Wer aber Völkcrschnu liebt, kaun hier seine rechte Frende haben. Es wogt dnrch die Straßeil uom Morgen bis Abend ein mächtiges vielfältiges Volksleben, jedoch ersichtlich grau nnd einfarbig. Der Grundton ist höflicher Ernst nnd Schweigsamkeit. Die meisten Wohnhäuser machen nicht den Eindruck, als ob es im Innern besonders reinlich und gesund wäre. In Moskau sterben jährlich mehr, als geboren werden, ohne die beständige Zuwanderung von außen müßte die große Stadt aussterben, — kein fröhlicher Gedanke. 121 An den Hanptplähcn inachen sich ict;t häufiger neue ,hoch^ gebände breit, die den bürgerlichen russischen Baustil darstellen sollen. Es ist etwas Angedonnertes darin, nnd die Grundidee scheint ein hoch» nnd weiträumiges Blockhans zu sein, aus welchem an allen Ecken nnd Wandöffnnngen die Balken herans« fahren, nm abgehallen oder umgebogen zu werden. Ain ersten Tag meines Moskauer Aufenthaltes aß ich zn Mittag bei eincin dentsäien ktanfmann, dessen Ideal in einer Gallerie deutscher Meister bestaild, er hatte dazn schon einen vielversprechenden Anfang gemacht, ein schönes Beispiel, all-seitiger Nachahmnna, werth. Es erinnerte mich an deutsche Handelsherren in Amenta, die in der Wüste amerikanischen Geschäftslärms sich erqnickten in ihren Bibliotheken nnd kleinen Kunstsammlungen. Ich fand sogar bei Einein die ganze Erschund Gruber'sche Encyclopädie in ihren paar hundert Nänden. Ten Abend beschloß die Oper. Nas Hans ist prächtig, bie Musik war sehr gnt, O^sang ,md Spiel nnd Ansstattung "ber, unter jeder billigen Erwartnng. Als ich mich zur Ruhe legte, hatte ich ein Gefühl, als wenn ich niemals am ersten Tage nach der Ankunft in einer fremden Stadt so viel gesehen nnd innerlich erlebt hätte, als m den sechs Städten Nom Atheu kvonstantinopel Granada New-York nnd Moskau. XIII. Mosllnuer Gcwrrll. 58. Stilles Strnslenncwi'lhl. Am andern: Morgen ivar mein erster Gang wieder zum Kreml. Leider hatte sich die Luft verdunkelt und mit den schweren bleigranen eisigen Dunstkörnchen angefüllt, inmitten welcher mau gar nicht athmen möchte. Vom „-Verzensmütter-chen Moskau, deui weißsteinernen, vielknppeligen," ivar von der Vurghöhe auo io«iig mehr zn sehen. Der.^reinl aber übt auf Jeden, der nnr ein wenig geschichtlichen Tinn hat, eine Anziehungskraft aus, die anch bei triwem Lichte nicht losläsit. Tafiiv gab es nnten in der Ttadt die reichste Unterhaltung. Wer über Moskan schreibt, hätte vielerlei vor Angen ^n stellen, die Menge neuer Großfabriken, die Universität von ungeheurer mänerlicher Ausdehnung, die riesigen Nohlthätigkeitsanstalten, und die zahllosen Kirchen und Thürme, die an allen Ecken ihre Kuppeln in die Lnft strecken, Allein ich bill kaum irgendwo länger eingetreten, die eigenthümliche Bewegung auf den Straßen gab mir geung zu schanen und zn denken. Eine solche Volksmenge so schweigend und höflich, Häuser und Fenster so wouig belebt vom farbigen i)veiz der Frauenwelt, alle die Leute fo ernst und sorglich ihren Geschäften nachgehend nnd immer uor sich hinfchanend — das war nur noch nicht vorgekommen. Wer diese russische Art nicht kennt, konnte meinen, 123 tiefe Landestrauer verscheuch» die Frauen ins Innere der Fa» milie und mache die Mäuncr so still und gutmüthig. In London rechnet man Tag fiir Tag zehn Unglückliche, die auf den Straßen überfahren werden, unter ihnen gewöhnlich einen, der auf der Stelle todt bleibt: in ganz Moskau werden es kaum im halben Jahre so viel sein, troftdem die kleinen windschuellen Gefährte beständig nach alleu Richtungen fliegen. Nuter den vielen schönen und kräftigen Männergestalten fallen besonders die Greise auf. die mit langwalleudcin Bart uud Haupthaar nud allerlei angehängten Lmnuen prächtiq ausgestattet sind. Malerischer findet man sie kanm in Tpauicu, während Italien gewiß die hübscheste Sammlung alter ver.eu aufweint. In deu russischeu Städten erscheinen Frauen der besseren Stände ausier dem Hanse nur iu der klitsche. Haben sie leine eigene, so sparen sie Geld und Anfänge znsaunuen, bis sich fiir ciuen Tag ein Wagen miethen läßt. In den tlcinrussischen Ortschaften hörte ich wohl einmal em Lachen, es ist ja der Natmlaut junger Mädchen: bei den Großrusseu scheinen diese, sobald sie sechzehn Jahre alt iverden, sich gleich in ernstliche Gedanken zu stecken. Ueberhaupt wird in keinem europäischen Lande so wenig herrlich gelacht, als in Rußland, wo in der voruehinen Welt doch alles so gern wilzelt und lächelt, 5!>. Handel und Fabriken. Moskau ist aber nicht mehr, wie man früher sagte, eine Ansammluug uon eiu paar hundert Schlössern mit Gärten Dörfern nnd Hainen, gleichwie ,Mew es zum Theile noch ist. In den Nertehrsstrnßcn stößt bereits eiu Haus an das audcre. und zwar keineswegs einladend. Mit hauptstädtischem Glänze Nt es noch nicht weit her. Eigentliche 5lunst fängt kaum "u, sich ganz leise z>l regen. In dieser Veziehung lalln das große Moskau sich taun, mit eiuer deutscheu oder franzo- 124 fischen Mittelstadt vergleichen. Der wenige Adel, der noch da ist, hat Kliustsinu, aber kein Vermögen uichr. Die russischen Kaufleute haben uiel Geld, jedoch nnr Kuuslsiuu eines Kutschers, der seine Rosse stattlich ausschmückt. Tie behängen ihve Liebsten nüt Daniast und Zobel, denken aber an kein Porträt in Tel. Tie besten Bildhauer, mich wenn sie Natioualrussen, halten französische Terrakotten feil, nm ihre Familien zu ernähren. Deutlich aber läßt sich bereits erkennen, welch eine äuge-nehme Stadt Moskau werden wird mit seinen schattigen Ruudgängen, vielen offenen Plätzen, nnd manchem altcrthüm-lichen Aanwerk. Wie bei uus in den Großstädten wird beständig gebaut, nur ist das nene Moskau keine Adelsstadt mehr, sondern Handels- nnd Fnbrikstadt. Die meisten Adeligen mußten ihre Paläste verkaufen. Der Fabriten sind hente schon weit über tausend, Hat ein Russe etwas gelernt, kommt er hiehcr und wendet es sogleich an in gewagter Anlage. Die Gründer und Leiter aber der großen Unternehmungen sind meistens Deutsche, Franzosen, Engländer, Armenier, Griechen: nur in Bankgeschäften sucht der Nüsse seinen Meister. Die Arbeiter sind Russen, und nicht genug kann man ihr anstelliges Talent rühmen. In der alt-einheimischen Industrie arbeiten sie gewöhnlich auch nüt Sorg« fält. Eigenthümlichen Reiz wissen sie den Silbersachen zu geben, die vergoldet uud mit schwarzer Schraffirung verziert werden. Als Handelsstadt aber sucht Mostan auf dem Erdenrund seines Gleichen. Mitten im Herzen eines nngeheuren Reichs gelegen hat die Stadt einen Binnenhandel, dessen Linien uon Ehina nnd Kamtschatka hierher ziehu nnd von hier nach den Hauptstädten Mitteleuropas auslaufen. Der russischen Kauf-leute, denen doppelte Buchführung Geheimniß ist, die aber gleichwohl jährlich ihre zehn- bis zwanzigtausend Rubel Gewinn machen, giebt es viele in Moskan. 125 So lebhaft nun bereits die Fabrikthätigteit, so umfang» reich das Handelswcseu, — dennoch find »3 erst die Anfänge von dem, was in den nächsten Mcnfchenaltern nothwendig konnncn nlllß. Das rasche Anschwellen von Moskaus Handel und Industrie läßt sich nur mit dem vergleichen, was in New-york St. Louis Chicago und San Franzisko vor sich geht. Erfreulich ist auch die Menge der Buchhandlungen, die im Verhältnis! zn deu übrigen Städten sehr allsehnlich. Die Druckereien sind, um dem steigendcu Bedürfniß nach Zeitungen und Flugschriften zu geuiigm, in zunehmender Thätigkeit begriffe»,. Das Gleiche ist der Fall im Fache der Romane, der Lehr- nnd Schulbücher uud der Predigten. In geistlichen Schriften machen die Popen geru ein Geldgeschäft auf eigene Rechnung : Mostan versorgt den größteil Theil Rußlands damit. Nie gering überhaupt das literarische Schaffen im übrigen Lande, betnudet sich darin, daß Charkow, eine Stadt von mehr als hunderttausend Einwohnern, zwar vier Buchhaud lungen besitzt, aber ebensowenig einen eigentlichen Verleger, als das noch größere Odessa, lind das; jene vier Buchhand» lungeu bedacht seiu müssen auf Leihbibliotheken und andereil Nebeugewiuu. 60. Zcituugs-Prcsse. Außerordentlich ist dagegen die Zahl lind Macht der Zeit-Ulld Flugschriften. Als nach dem Krim Kriege plötzlich die Fesseln Rußlauds zersprangen, das Land sich weithin der europäischen Cinströmnng öffnete, lind alle patriotischen Geister athemlos für Hebung der Vildung und Freiheit des Volkes arbeiteten, seitdem ist die Presse eine Tyrannin geworden, deren Geißelhiebm zu widerstehen schon viele Klarheit des Kopfes «no etwas tapferen Mnth erfordert. Der Unterschied gegen früher ist schlagend. Früher kam alle Entscheidung, selbst jede Anregung, nur ans des Kaisers Nmgebnng in St. Petersburg, 126 und dort ging es ähnlich zn wie noch jetzt in Konstailtinopel. Die höchste l^esellsä)aft löste sich in versäiirdene kreise odor, sagen wir besser, in mehrere Brüder- und Schlvesterschaften anf. deren Mitglieder durch Interessen und Allsichten nnd EtiiunulNfi eng verbunden waren. Jede Krnppe rang sich sür nach Macht nnd Einfluß bald vereinzelt, bald anf verivalldte (Gruppen gestützt. Tie alle bewegten sich aber in unheimlichem Halbdunkel nm das kaiserliche Cabinet, gleichwie irrende Gestirne im ungeheuren Aetherraum, jede Grllppe uon den aliderrn durch nnbekannte Schluchten nnd Tiefen getrennt, keine jemals sicher, daß nicht irgend eine plötzliche Einwirkung, ein ungeahntes Ereignis; austrat und ihr die Rcchnnug verdarb, beständig war Alles genöthigt, vorsichtig um sich her ,^u tasten, und bci allem Scharfsinn und feinem l^ehör fanden sich doch bald die Einen bald die Anderen betrogen lind ausgelacht. Diese bunten orientalischen Nebel, welche den Sitz der höchsten Macht umgaben, sind zerrissen: die Entscheidung und Anregung geht nicht mehr allein von dort aus, sondern auch und zwar jetzt vorzugsweise alls den mittleren Kreisen, nnd ihr Herold, der zngleich als Gebieter über diese kreise aufgestanden, ist die Presse. Die liberalen und demokratischen Ideen einer-, die nationalen audcrcrscits haben wie reißende Kewässer nm sich gegriffen, nnd dic Presse ist eine Macht geworden, deren rasch zündende Kraft man bei nns eben fo feltsam fände, als die lächerliche Furcht vor halbgebildeten ^eitungsschrcibern; denn, so wird wenigstens von aller Wclt versichert, das Heftigste und Acrgstc wird von erbitterten jungen Lenten geschrieben, die hris;!öpfig und unbedacht die Burg des Despotismus nnd Be-amteuthums mit Aerten cinhanen oder, mit Pulver in die Lllft sprengen möchten. Keiner dieser jugendlichen 3horen lind Schwärmer ist sich recht darüber klar geworden, was denn folgen foll, wenn diefe Vnrg stürmt? Daß eine Presse, über deren Ursprnug lind Werth man 127 sich keine Täuschung möcht, dennoch so großen Einfluß hat,, erklärt sich ans verschiedenen Ursachen. Die öffentlichen Uebclstände liegen so grob, fo nackt nnd bloß aller Welt vor Angcn, daß schou deßhalb jeder Angriff gerechtfertigt scheint. Mit dein Haß ist inan gleich bei der Hand, aber nicht mit der Erkenntniß, daß es bei Rußlands Voltscharaktcr und Geschichte zur Zeit noch nicht viel besfer sein, jeder Fortschritt unr schwer uud langsam gerathen kann. Leidenschaftliche Erregung beirrt beständig das ruhige Urtheil, Nach del» hochfliegendcn Hoffnungen waren die Täuschungen, die der lchte Krieg brachte, unsäglich herbe. Das Hei", Nuß lnud^ ist uoll Bitterkeit uud sein Gehirn durchsuchen nniste Träume. DciM toinmt nun, daß die Presse das fehlende Parlament Mel'.eu muß, Tie entspricht der weibischen Klatschsucht, die ruhelos den Russen überfällt, sobald er ans der Dumpfheit der niederen zu einer besseren Oesellfchaft aufsteigt. Tic höheren. Kreise aber sind bei ihrer eigenen Hohlheit und Zerfahrenheit, bei der inneren Unselbständigkeit des Urtheils wie des Ein« slusses und Vermögens, der öffentlichen Stimme gegenüber beinahe widerstandslos, wenn diese Stimme n»v voll Geist und Energie ist uud etwas Gift und Galle im Hintergrund hat. Endlich — und das ist eiu Hauptgrund mit — die Russell habeu wirtlich ein vomigliches Talent für die Tageopresfe, ein stilistische nnd ein finanzielles. ^l,re PnbliMen sind uicht gerade ideenreich, aber Gedanke nnd Ausdruck fliegen rafch uud anschlössen in die Feder, die Wünsche schmücken sich mit ver> lührerischer Phantasie, des Gegners schwache Seite ist sofort "späht nud schouuugslos bloß gelegt. So matt jetzt das Talent in Sachen ernster Weratnr llnd ächter Kunst anftritt, !o iippi^ wuchert eo anf denl Gebiete der Zeituugsvresse. Eobald dicfc aber uur anfing, die Flügel z>l regen, wurde sie gleich Gegenstand lnnfmämmclier Berechnung. In jeder 128 größeren Stadt gründeten oder kauften Unternehmer Zeitungen, und wußten sie vom Standpunkte des Geschäftsmannes ',u fördern und zu betreiben, um sich em Vermögen zu machen. Dies ist auch Mehreren gelungen. Die durch die Presse vermittelte Strömung der öffentlichen Meinung hat bereits dreimal eine unwiderstehliche, jedes Hemm-niß überstürzende Macht bewiesen. Nach dein Mmkriege donnerte sie gegen der Neamteu Ruchlosigkeit, wirklich gingen die Tschinowniki in sich, und eine Zeit lang fchienen Untreue und Bestechlichkeit verschwnndcn zu sein. In den letzten Tagen aber war es hauptsächlich wieder die Presse, welche erst den Krieg gegen die Türken entzündete, und dann den Kaiser in eine feiudselige Stellung gegen Deutschland hiueinhetzte, beides offenbar gegen feine nnd seiner trenesten Nathgcber Ansicht. Zur Zeit noch unberechenbar in ihren plötzlichen Wendungen nud Zielen kaun diese in Nußland neue Macht uns noch manches seltsame, vielleicht auch höchst nnliebsame Schauspiel anfführen. Der Deutsche findet sich, außer bei seiucn Landslenten, iu Nußland nirgends heimischer, als bei Jenen, die sich dem schweren und entsagungsreichen Beruf der Volkserziehimg widmen oder auf dem wissenschaftlichen Gebiete thätig sind. Hier weht ihn etwas wie deutsche Luft an, mit so großer Vorliebe auch von den Russen dem, französischen Wesen gehuldigt wird, das auf alle Slaven einmal eine unwiderstehliche Kraft der An^ Ziehung nnd Liebenswürdigkeit ausübt. Die Romane sind französisch, die Lehrbücher dcntsch, nnd die umlaufenden Gedanken tragen gar häufig, trotz etwas absichtlich französischen oder englischen Aufputzes nnd trotz mancher russischen Verzerrung, uns verwandte Gesichtszüge. XIV. Moskaus historische Sedeutnul). of" rcsidirte, Haupt nnd Regieruug dcr Nüssen Ul feiner ^Itähe un'ssen luolltc, mn bequemer deren Votmäßigkeit uud regelmäßige Trilmt-Zahlnug überwachen zu könuen. Seit ieucr Zeit verknüpften sich ,uit Moskau die Haupt-ereigmsfe in der Geschichte Rußlands. Von hier ails wurden v- Lllhei, Rußland. 9 130 die Pläne und Anstrengungen geinacht, nm das modische Joch abzuwerfen. Endlich, nachoem es dritthalb hundert Jahre ge-dauert, gelang dies, jedoch nur, weil der Tataren Staat, schwer erschüttert bei Timnrs fürchterlichem Anprall, dnrch innere Zerwürfnisse in Tchwächc verfiel, Zur selben Zeit, als Rilßland frei wllrde, hatten nnch ilasan nnd Astrachan sich selbst erlöst. ll2. Mogolenherrschaft. Das drückende Gefühl der inogolischen Oberherrschaft hat ohne Zweifel Geist nnd Aufstreben darnieder gehalten; gan'i unrichtig aber ist es, alles schreckliche Unheil, mit welchem das russische Volt bis in die neueste Zeit beladen war, vom Joche oer Tataren herzuleiten. Der (5han der goldenen Horde heischte unr Zinspflicht, uicht einmal Hecrfolgei im llebrigen kiimmcrten sich die Mo golen nicht uiel um das russische Volk, sie ließen ihm seiue Sprache nnd Titten, seine Fürsten und Verfassung, wie sein Recht seine Religion nnd .Arche. Die Mogolischeu Herrscher besaßen so wenig Weitsicht, daß sie sogar die Großfürsten nnd Patriarchen vou Moskau unterstützten, als diese mit Erfolg daraus aufgingen, die Gebiete der übrigen russischeu Fürsten sich zu nnterwerfen. Die Mogolen haben aber weder der Ailduug iu Rußlauo das Lebenslicht ausgeblasen, noch haben sie alte ständische Rechte ausgerottet, noch haben sie das Volt an nnbedingte« Gehorsam gegen den Zareu gewöhnt. hätte die Knltnr, welche den Rnssen reichlich aus Vyzauz und Deutschland zugeflossen, bei ihuen Wurzel geschlagen, wäre ständischer Freiheitsgeist — noch nnßer den von Deutschen stark beeiuflnßteu Städten Nowgorod nud Pleskow — im Lande verbreitet gewesen, so hätten nach den Gesetzen des Völkerlebens entweder die rohen Mogolcn sich den Rnssen einschmelzcn nnd nuterordnen müssen, oder Diese hätten über die Eroberer all» l5l wählich eine so große sittliche und bürgerliche Neberlegenheit «laugt, das; sie längst früher das Joch abgeworfen. 4. Rußlands Wcltstellunl,. Wäre dieses Reick, als nun auf seinem weiten Gebiet eine Nation, ein Glaube, ciu Zar herrschten, uon einem Volke bewohnt gewesen, da^ nur ein wenig mehr von geistiger Empfänglichkeit, ein wenig mehr von bürgerlicher Triebkraft besaß ^ welch ein Weltreich ausgedehntester Wirkung mnßte hier entstehen! Mitten zwischen den beiden Wclttheilen der Cultur, ossen nach allen Teilen, eine ungeheure Fläche leicht zu bebanenden Fruchtbodens, durchzogen von mächtigen Strömen, Großhandel treibend nnch allen vier Wcltgegcnoen — solch ein Reich mußte bald zahltose Geiverb nnd Bildungsstätten besitzen, Zeughäuser voll der kunstreichsten und gewaltigsten Waffen, Fürstenhöfe mit nnübevtrenlicheu Meistern der Staats- 133 knnst. Die Geschichte kennt kein Beispiel, daß einem Reiche seine Lage eine so gebietende Weltstellung bereitete, als etwa das Reich, das Alexander der Große gründete. Oder deuten wir nur au den letzten kleinen Rest dieses Reiches, an Byzanz: um seine Lage war die Ursache, daß es mit schwachen und gelähmten Kräften so lange sich behauptete. Peters des Großen Genie ahnte diese Weltbedeutung NnßlaudZ. Er strebte nach pontischen wie nach baltischen Häfen, er drängte sein Volk nach Europa, wie nach Asien vor, er peitschte seinen Adel gleichsam in die Kultur hinein, nnd Mb Rußland eine nene Hauptstadt an der Ostsee. Die drei ächten Söhne seines Geistes. Müunich Ostenuanu nnd Biron, drei gescheidte und thatkräftige Deutsche, setzten in den dicken weichm Wulst des russischen Volkskörprrs das stählerne "Nochcngelenk ein, durch welches Ttaal lind Kriegsmacht znm Marschiren befähigt wurden. Die folgenden Regenten gingen rastlos auf Peters Eroberuugswegen weiter nnd fügten hier und dort Länderstrecken ;um russischen Reiche. Elisabeth und Katharina riefen dagegen Zahllose Franzosen herbei, den deutschen Lehrmeistern zur Korrektur uud Ergänzung. Der humane Alernnder I. förderte anregend jederlei Fortschritt. Molaus, welchen die Russen sich vielleicht nicht mit Unrecht als eine deutsche Feldwelielnanir ^ barsch, ehrlich, nud be-lchräntt -^ vorstellen, behandelte sie sammt und sonders wie gemeine Soldaten, suchte sie vom Verkehr mit der westlichen Wrlt möglichst abznschneideu. hob aber mächtig ihr National-M'nhl dnrch sein gebieterisches Auftreten. Gleichwohl wehten 5"e liberalen Ideen beständig über die Gränze, uud gerade unter dem Drucke des militärischen Regiments sog sich Rußland in der Stille uoll davon. Der regierende Kaiser konnte, sowohl aus innerem Wohlwollen als dnrch äußeres Drängen Nouöthigt, nicht mehr anders, als dein Einströmen europäischer Knlwr Thür nnd Thor anfznreißen. 134 65. Stellung in der Kultur. Was ist nun der Erfolg? Das Reich ist groß nnd gewaltig geworden, allein es hat unr ein verhältnißmäßig sehr kleiner Br>lchtheil des Volkes Bildung angenommen, nnd es läßt sich keineswegs behaupten, das; diese Art Bilduug überall von Herzeusucredcluug, von Bedürfniß nach Wahrheit nnd Erkenntniß, von sittlicher Stärkung begleitet worden. Die rnssischen Mädchen;. B, sollen ans den Instituten nur als umueibliche Emanzipirte oder als oberflächliche Mode-Damen hervorgchu. Jener geringe Bru6)theil aber hat sich l)och über das Volk erhoben, eine weite uuausgefüllte Klufr gähnt zwischen ihm und der großen Masse. Die unsichtbaren Mauern, welche diese breite Volksmasse von lebendiger Wechselwirkung mit gebildeteren Ständen abschucideu, wollen duvä)auZ nicht fallen, sie scheineil von diamantener Härte zn sein. Auf keines aber der europäischen Völker übt ihr weit-gedehntestes, das doch auch seine mehr als tausendjährige Geschichte hat, den geringsten geistigen Einfluß. Es ist gerade, als wenn die Osthälfte von Enropa von einem trägen dunkeln Meere bedeckt wäre, in welchem alle Zuflüsse verschwinden und aus welchem keiu Strom, kein Bach wieder hervor kommt. Auch deu besten russischen Schriftstellern scheint für Slaven wie Romanen nnd Germanen etwas Trockues und Unfnuht bares anzuhängen. Wo hätten Turgenjew Gogol und Puschkin, oder Kostomnrow Karnmsin und Solowiew jemals einen Schriftsteller nnter den Deutschen oder Franzosen oder Czechen angeregt? Ja wo wäre in der gesammten russischen Litrratnr nur ein einziger origineller Gedanke aufgetreten, der bei andern Völkern gezündet hätte, sei es iu Neligion, 5lnnst, Wissenschaft, Staat, Technik oder Gewerbe? Wie reich nnd ergiebig erscheint dagegen das junge Volk der Nordamenkauer! Wahrlich, Rußland hat noch viel zu thun, um alte Dankesschulden abzutragen. 135 Doch ich ine mich, wenigstens cine Idee stieg aus dein russischen Volke vor dein erstaunten Europa wie cine Fener-sänle mnpor. Wehe, es ivar Feuer aus der .hülle, der nihilistische Gedanke, der nirgendswo in so nackter blitzender Schärfe aufgetreten, als im heiligen Rußland. Es sind gegen fünfzig Jahre her, da schrieb Tschaadaeff die bitteren Worte: „Wir gehören keiner der großen Völker-fanülim des Ostens oder Westens an, wir haben weder die Traditionen des Einen noch des Anderen. Wir e.ristireu so zu sagen außer der Zeit, nud die Bildung des Menschengeschlechts hat nus nicht berührt.. .. Was bei anderen Völkern ins Leben gedruugcn, ist für uns bis jetzt nur Oedankensache und Theorie, . . . Einsiedler in der Welt, gaben wir ihr nichts, nahinen nichts von ihr, fügteu nicht eine Idee zu dem Ideen-schätze der Menschheit, wirkten in keiner Weise zur Förderung der menschlichen Kenntnisse und verunstalteten alles, was uns durch ihre Fortschritte mitgetheilt wurde." Dieses Bekenntniß rief allgemeine Entrüstung hervor, und die Regierung ließ den Verwegenen, der Solches zu äußern gewagt, für wahnsinnig erklären. Allein steckt nicht mehr als ein Körnchen trauriger Wahrheit dann? XV. Partei der Mrnsselt. «6. Ihre Ideale. Es war dir Erkenntniß der inneren Unfruchtbarkeit des bisherigen Strebens, die Einsicht, daß Vilonng nnd Nissenschaft in Rußland iin Wesentlichen nur ein AMatsch ans der Fremde seien und deßhalb todt nnd trocken Weben, daß aber in dem Abstände, der sich zwischen den höheren .Aasseu nnd dem Volke täglich erweitere, eine schwere Gefahr liege — diese Ueberzeugung war es, in welcher vor etwa vierzig Jahren in Moskau sich ein kleiner Kreis von Patrioten zusammenfand, die alsbald eine Schnle, nnd dann eine mächtige Partei gründeten. Sie erklärten: die „Petersburger Periode" nnd was sie gebracht sei uoin Uebel, das russische Volk könne sich uur aus seinem ureigenen althistorischen Leben nnd Wesen fortbilden. Ties aber sei erstens das griechische Christenthum, welches seine evangelische Unschuld bewahrt habe, und zweitens der slavische Volksgcist, der Geist der Bruderliebe, der Genossenschaft, der Landgemeinde mit gemeinsamem Felde. Mutter dieser Partei war der Rittmeister Lhomjatow; ein tief' und frohsinnigcr Mensch von hohen Anlagen, dabei ein lauteres evangelisches Gemüth, ^ ein weuig Vaterschaft, wenn auch halb unbewußte, dnrfte man Harthausen zuschreiben, als Geburtshelfer traten anf Konstantin und Iwan Aksatow ans 137 ächtem allrussischen Adel; ihr bester Publizist wurde Georg Samarin, ein geistvoller Mann, stolz aus Eitelkeit; Geldspenden vermochte der Millionär Koschelew, em gebildeter Branntwein-Händler; als kühner Staatsmaun der Schule spielte sich auf Fürst Tscherkasski; das große .Heer bildeten die zlirejewski, D. Walujew, Elagin, Novitoiv, Tschischow ilnd inehrerc Andere, fast sämmtlich Männer von der Feder. Noch Andere, wie Pogodin, die Arüder Miljutin und der geist und redegewaltige Professor Knttow, Redaktellr der „Moskauer Zeitung", schlössen sich der Partei mehr oder weniger nahe an. Als wahrhaft wissenschaftliche Kräfte war die Partei schwach bestellt. Außer dein früh verstorbenen Gromowski ist zu nennen Belajew, Verfasser einer Menge kleiuer Forschungen, nuter deueu die bedeutendsten „Der Bancrustand in Rußland" nnd die beiden Bände „Darstellungen ans der russischen Geschichte" uor dein scchszchnten Jahrhundert, alles trocken nnd bloß thatsächlich. Für eine wissenschaftliche Bearbeitung der rnssischen Sprache aber hat K. Aksakow Treffliches geleistet. Diefe Männer belebte die reinste Vaterlandsliebe; ihre lleber-Zengung war tief und ehrlich, sie wollten und erstrebteu das Gute. Sie waren es, die als jeder Rettung Aufaug unablässig die Abschaffung der Vauerustlauerei forderten, sie deuteten hiu auf Volksgerichte, eine freie Preffe, eiufachc Verwaltnug und »in Reichsparlamcnt. Sie behaupteten, all diese großen Volksgüter seien in kleim und Wurzel enthalten in den Anschauungen Sitten nnd Einrichtungen bcS Volks vor Peter ^ ^n., — so in den alten Landesversannnlllugcn, deren sich neilich nur weiüge nachweisen ließen, iu dem Ttoglaw uud dem Eudebnick, de,n Kircheurecht und dem Landesrecht, wie sie beide gcnau um die Mitte des 16. Jahrhunderts nnter der >"egirrung des schrecklichen Iwan neu redigirt wurden, ^ in der Natilr der väterlichen Zarcngcwalt nnd des kindlichen Vollsgehorsams, einer herrlichen Einheit, die jedes Zwischenglied 138 ausschloß, sowohl das niederträchtige Feudalsystem als die verderbliche ständige Gliederung, — in der alten Landgemeinde, dem Wir, und dem genossenschaftlichen Grundzug des russischen Volts, welche die Selbstsucht des Privatbesitzes, alles Uebels Quell nicht aufkommen ließen. Die heiluolle und durchaus nationale Entwickelung hätten Peter d. Gr. und seine Nachfolger mit Gewalt zerstückt und unterdrückt, und damit den politischen Tod und die sittliche Ohnmacht in das Volk gebracht, während eine Klasse von Gebildeten geschaffen worden, die vom heiligen Mutterboden des Volkes losgerissen und innerlich leer und leicht geworden sei. Für all das uationale Gute, das diese Gebildeten von sich geworfen, hätten sie nur den wilden Trieb znr Eroberung nach anßen hin eingetauscht: nach innen aber müsse sich jetzt dieser Eroberungsgrist richten. Verneinen müsse man die ganze Entwicklung der letzten zwei Jahrhunderte, denn sie sei wurzellos im Volke und könne nimmermehr Gedeihliches hervorbringen. Abstreifen müsse man das fremde Zeng, das doch unr Putz und Angenverblendnng, und sich versenken mit seinem Geist und Willen in die Vergangenheit. Dann würden die darin ruhenden starken Wurzeln ächt nationaler Vildnng, nationalen Ttaats nnd Gesellschafts-wcfens, die jetzt nnr überdeckt seien, wieder lebendige Sprossen treiben, und das russische Volk werde sich geistig nud politisch verjüngen znr Pracht und Herrlichkeit vor Gott und den Menschen. Diese Ansichten, in welchen sich doch eine höchst kindliche Anschauuug historischer Entwicklung mit klarster Erkeuntuiß der Uebel der Gegenwart vermischte, snchten nun die Parteigenossen in kleineu Schriften und geschichtlichen Untersuchuugeu zu eut-wickeln, die sie in ihren Zeitschriften, Sborniki (Sammlungen) Ryzzkaja Veseda (Russische Versammlung) nnd andern veröffentlichten. Vertrauensvoll wendeten fie, sich auch an Deutschland und gründeten die „Rmsischcn Fragmente", in welchen die besten ihrer Abhandlnngen übersetzt sind. 1?.',1 Klein fing die Partei an: weil sie aber eigene nationale Ideen und Grundsätze hatten, die tief in den Instinkten des russischen Volkes lebten, und weil sie selbst überzengt wie vom Tonnenlicht von der Wahrheit und Kräftigkeit ihrer Prinzipien sie energisch verfochten, so konnte es nicht fehlen, daß die Partei Anfsehen erregte, sich nach nnd nach verbreitete und plötzlich im Besitze einer Macht über das Volksgewissen erblickte, wie sie selbst nimmer erwartet hatte. Die Partei hatte nnr altsgesprochen, was in taufenden der besten Köpfe im Lande längst dunkel gepocht und gearbeitet hatte, der Gedanke nämlich, das; Nnßland au der anfgedrungenen europäischen Kultur sich entnerve, und daß eine andere nationale Grundlage da sein müsse für des Volkes Blühen und Nestehen. Die Mitglieder der Partei waren ehrenhafte Männer, ehrenhaft verfolgten sie ihren Weg nnd ihr Wahlspruch „nichts für uns, alles für das Volk" war eine Wahrheit. Darin lag ^N' größter Zanber, darin besonders ihr Nebergewicht über die untre»,eu und bestechlichen Beamten. Als einer der Vornehmsten der neuen altrnssischcn Partei uns in München die Grundideen entwickelte, geschah es mit so edlem Fener, so strömender Begeisternng, daß Alle an leinem Munde hingen nud ich lange darüber nachdachte, ob denn wirtlich diese eigenthümlich rnssische Knltnr Blüthe anflehen könne? In Rnßlaud selbst lauschten auch in der vornehmen Welt die Meisten mit einem gewissen Antheil, viele wtt Entzücken anf das nationale Vvmigelinm: es war ganz etwas Neues. Als ein paar Herren fogar ansingen, nach alt-"Mischer M^ den unteren Hemdtheil außen zn tragen, schrieben die Moskauer Damen das romantische Ereignis; "lends in alle Welt. «7. Panslavismus. Allein es dnnerte nicht lange, so fiel die nnbarmherzige 140 russische Svottsncht über die Nrnationalen her, sie erfuhren den stummen harten Widerstand der Vanerumasse wie des Kirchen-thums, nnd blntig zerfleischte sie die Kritik, an deren Spitze Belmskt, Herzen nnd Ognrew sich hören ließen. Diese er^ knnnten dankbar das Verdienst an, welches die Partei sich um Aufhebnua, der Leibeigenschaft nnd Förderung der russischen Sprache erwarb, aber sie hielten var allen Tinten große Re formen für nöthig, Reformen in der Verwaltung, im Schul-nnd Gerichtswesen nnd in den Finanzen. Daher riefen sie Jenen zn: „Wie? Ihr wollt das bischen Kultnr das wir im Hanse haben, ans dem Fenster werfen? Wo schafft ihr denn nene herein? Zeigt nns doch die reingebliebene russische Civilisation, zeigt nns nnr die jungen Keime und Sprossen daran, ja nnr den Fruchtboden dafür. Wenn Ihr aber nichts Eigenes anfweisen tonnt als den schwächlichen Mir, der augenscheinlich sich selber anfgibt, nnd ein halbtodtes kiircheuthnm, das Rnß-land verrottet ans verrotteten: byzantinischen Etaatswesen überkommen hat, dann müßt Ihr auch bekennen, daß es nnr eine einzige Civilisation nnf (5rden gibt, dieselbe die von Indern Chaldäern nnd AegWtern zu kriechen und Römern nnd von Diesen zn den neueren Völkern gekommen ist, dieselbe, die jetzt auch das rnssische Volk dnrchdringen, nmbildcn nnd veredeln mnß. Geht nns doch mit enren falschen Idealen, enrem Hoffnnngsdnnst, das Alles hindert ja nnr, daß die Wahrheit Jedermann ins wesicht scheint, nnd hält uns auf in den nothwendigen Reformen," Die neuen Altrusseu, gelähmt in ihrem Thun nnd selbst nimmer wissend, was nnd wo sie angreifen sollten, nm ihre Ideen im Inneren Rußlands zn verwirtlichen, warfen sich nnn mit ganzer Macht ans ihr auswärtiges Capitel: sie suchten ihr Glaubensbekenntnis; erst an den Kränzen znr (tzeltnng zn bringen. Slnvophilen waren sie immer gewesen, jetzt wnrdcn sie Panslavisten. Unter dem Namen aber barg sich ein heißes 141 Begehren, Slavisch und Griechisch-orthodor und Russisch als Einllnddnsselbe zu betrachten, mit anderen Worten, die Drei zur Einheit zu inachen. Dabei ging nnn mehr oder woniger bewußt der größte Theil des Volkes mit ihnen, und ihre Thätigkeit ließ sich bald genug in Polen und den Ostsee-Provinzen, wie bei den Nnthcnen Vulgären und Serben spüren. <>8. Slaucnlunstrcsz. Im Jahre 1867 bevies die Altrusscnparfci unter dem Aushängeschild einer ethnographischen Ausstellung aller slaui scheu Stämme nach Moskau eiueu pauslavistischeu Kongreß. Ein Hanfe Geräth, allerlei Zeug, Pferd- uud Wagcngeschirr, wie es die verschiedenen Slavcnvölker brauchen, war bald zu-smnmeugcbracht, uud luit dem reizenden beschick, das russische Dauien in derlei Dingen besitzen, geordnet nud geschmückt, ^ie Sendboten erschienen nnd wurden feierlich begrüßt, an der nissischen (Nränze nnd in Moskau, „dem Herzen Rußlands." Rur die Kosetinder Aksakows, die galizischen Rnthenen oder lAeinrussen, fehlten, die schwer beleidigten Polen ebenfalls, -^er ansgesprochcne Zweck war, allen Slaven die Beweise ihrer unUoualen Zusammengehörigkeit vor Augen zu stellen, nnd die geheime Absicht, sie zu überzeugen, daß nur mit nnd unter Rußland ihnen die wahre Knltur und Macht erblühe. Wahr-Icheinlich wollte man auch ein allgemeines Vorgehen der Slaven ln der orientalischen ^rage vorbereiten. Allein »> zeigte sich, daß in den Wcstslaven das vcr^ wünschte Lateinerlhum, nämlich das katholische Wesen, gnr zn ^ !"si, und das Unglück wollte, daß ans dem großen Bankett, welches die Stadt Moskan im Haine Sakolniti gab, auf Nie-lM's 'vohlbedachte Rede, die um Erbarmen «ltd etwas Großmuth fm> das schwer gebeugte polnische Brndervolk flehte, Iürst Tscherkasski vortrat uild mit schallender Stimme erklärte: 142 „Rußland habe dm Polen alles gegeben, was sie fordern könnten, russische Gesetze und russische Verwaltung, es sei den Polen nichts mehr schuldig: erst wenn Polen, wie der verloruc Sohn im Evangelium, demüthig uud reuezerknirscht ins russische Vatcrhans zurückkehre, wenn es gar nichts mehr für sich allein wolle in diesem großen Vaterhaus und auf jede Sonder-cristenz verzichte, erst dann wolle man ihm das beste Kalb schlachten." Einmüthia, erhob die russische Presse diese „staatsmännische" Rede bis in den Himmel, die panslavistischen Sendboten abe< waren sehr kleinlaut geworden, sehr ernüchtert. Selbst die drei großen Männer aus der sächsischen Lausitz, die ihre ehrlichen deutschen Namen Schmäler, Pech, Deutschmann den Moskauern zu Gefallen in Smoljar, Pet nnd Dutschmun verkleistert und iu Begeisterung für Rußland alles überboten hatten — felbst diese Vdlen ließen die Köpfe häugru. Man hatte es den lieben Elaueubrüdern doch gar zn grob heransgesagt, daß die Genossenschaft u:it ihreiil großen Leitvolke völlige Unterordnung nnter dessen Gebot uud am letzten Ende Aufgehen in Rußland bedeute. Sie brachten ein unangenehmes Gefühl des Alpdrucks nach Hause uud hatten ungefähr eine Vorstellung, als wäre der ieln'ge russische Volks- und Staatskörper so etwas wie eiu dickes Nugethüm, da5, wo es sich hiuwerfe, alles wegfrefse und einschlinge, was von historischem Bestand an Sitte, Recht nnd Religion der Völker vorhanden , bis alles in seinem ungeheuren bauche zu dem gleichförmigeu zäheu uud trägen Urörei verwaudelt worden, aus welchem es felbst bestehe. XVI. Zerstörende Wirkung der Mrusscn-Partei. <»!>. Zcrfleischnug der Polen. Tie Partei ließ es nicht dci der Theorie bewcuden. Die Sasse geht, Peter der Große habe gesagt: zmu Ober Prokurator des obersten Kirchenraths passe am besten eilt kühller Militär. Ein solcher war der Gardegeneral Protassow dcr unter Mtolaus zwanzig Jahre lang bei dem „heiligst diri-girenden Synod" das Antt des kaiserlichen Oberprokurators versah. Auf seinen Antrieb wurde in den Jahren 1839 bis 1643 die Union der griechischen Kirche mit der katholischen in Weißrußlnuo und Lithauen zerrissen, dort gegeu vier Millionen Uuirter dem griechischen Kultus einverleibt, uud bei hundert tausend protestautischer Esthen und Lweu dieselbe Bekehrung ssmuacht. Pvotassows Muster sollte jetzt iibertrofseu werden. Der stille Haß der Großrusseu gegen Poleu und Teutsche, die Veide in der Civilisation die Russen hinter sich ließen, forderte seine Opfer, nnd die Priester, welche froh begräuzt die Opfer zum Altar führten, waren ebcu die Moskauer Nationalen. Als die Polen durch ihren letzteu Aufstand zu Anfang der sechziger Jahre schweren Grund zur Verfolgung gaben, da ließen Ieue das Geschrei vernehmen: Polen seien Slaven, und Slaven sollten nicht katholisch sein. Schaarenweise eilten sie herbei als Sendboten des russischen Evangeliums uud überboten emauder 144 nn Eifer, die katholische Kirche in Polen zn zerstören, den Adel zu verderben, ihm seine Outer zll nehmen, zu zerstückeln, zu verkaufen, die Bauern durch Aufhebung der Leibeigenschaft und jedes andere erdenkbare Mittel zn den Nüssen hcrüberzuzieheu. Miljutm luurde iu Warschau Ttaatssekretär, Tschcrkasski Direktor der Negicrungseommission, ivelche die Poleu alls einen anderen Fuß setzen sollte, Koschelew Finanzdirettor. Katkow brüllte so gewaltig, als wolle er alleiu die Hälfte von Polens Adel und ^ieistlichteit verschlingen. Eine Laonug Heiligenbilder nach der anderen langte an, von zahlreichen Popen begleitet, um sie unter die neuen russischen Kirchen zn vertheilen. Am Peters burger Hofe hatten die Eiferer begeisterte Vorfechterinnen an zwei Gräfinnen, der Staatsdame Protassow und der Hofdame Vludow. Der letzteren Freundin, die frühere Hofdame Tutfchew, war mit Iwau Aksakow vermählt, und durch sie ging der Verkehr hin uud her. Wahrlich, mau machte iu Polen rasche Arbeit, russische Arbeit von jener Art, die Tsuwarow seinen Toldaten vor Praga an: 22. October 1794 nüt deu Worten anbefahl: „Keine Zeit mit Schießen verlieren, mit dem Bajouuet arbeiten nach altrussischer Weise: die Kugel ist eine Närrin, das Najouuet ein braver Bursche." Als die Gräfin Bludow für ihren zurückkehrenden Helden Murawiew deu Triumuhzng iu Szene setzte und deu Petersburger Generalgonvcrncur, eiucn auderen Fürsten Ssnwarow, an offener Hoftafel znr Ncistcncr anfforderte, bekam sie von dem ritterlichen Herrn zn hören: „Ein goldenes Veil, birnfin ! Wollen Sie das Murawiew verehren, steht Ihnen meine Börse offen." Im Jahr ^l>5! wurde Polcu in neun russische Konucrne mcnts zcrstückt. Ist es aber nun rnssisch geworden V O nein, Pole bleibt Pole, germauisiren läßt er sich allenfalls, aber nicht russisch inachen. Er hält sich für einen besfcren Mann, als der Rnsse ist, und weiset daranfhin, daß, wo Polen auf kleiu' 145 oder weißrussischem Boden geherrscht habe, Adel und Städter polnisch wurden, eben weil die Polen die Gebildeteren waren. 70. Niedertreten der baltischen Deutschen. Die Moskauer Herren sollten ihr Ungeschick, wie ihr haßerfülltes Unvermögen, andere Völker in ihrem Recht und Wesen zn achten, anch in dein deutschen Gebiete des Reichs bewähren. Die ihnen feindselige und zugleich überlegne Partei Derer, welche der enropäischcn Civilisation anhingen, hatten sie ver> ächtlich „die Westlichen, Tabadniki" getanft, weil diese nicht bei der Osthälfte Europas schwuren. Noch gewöhnlicher war bei den Altrnsscn der Name, „die deutsche Partei"; denn hauptsächlich auf deutschem Fuß hatten Peter d. Gr. und seine Nachfolger das Staatswcsen eingerichtet, und vorzüglich Deutsche waren es, die bei Hofe nnd in der Presse die Nothwendigkeit vertraten, auf den bisherigen Neformwegen zu beharren. Wie oft hatten die Moskauer schon die baltischen Provinzen uer wünscht, aus denen all die klugen und thätigen Teutschen hervor kamcu! Endlich bot sich Gelegenheit, dem hasse Luft zu machen. Juri (Georg) Enmariu dürfte mit Necht seiner Ttimme Gewicht beilegen. Mit nicht mehr zu verhüllender Marheit hatte er früher die schwere Last geschildert, mit welcher die Leibeigenschaft die nationale Wohlfahrt belud. Ich: richtete er alle Tchärfe seines Geistes nnd alle verführerische Süßigkeit seines Wortes gegen den Bürger nnd Edelmann in den balti< Lijhci, RMand, 10 14s) darin wurden die historischen Rechte und Einrichtungen der deutschen Städte nnd Edelleute als die reine Schlechtigkeit an sich, nnd als Freuet und Verrath au Nußland geschildert. Mit deui kalten haß eines französischen 5lonveutsnütgliedes verlangte Samnrin, daß in den alten Wohuvlntzen der Deutscheu, was nichtrnssischer Herkunft, unter die russische Gleichförmigkeit ge zwuugeu oder, wo das nicht möglich, ausgerottet werde. Sei dieser Pfahl im Fleische vernichtet, dann werde eine National' Versammlung dem ganzen Reiche Glück "no Freiheit bringen, — wo nicht, der gewaltige russische Volksgeist sich unaufhaltsam Bahn brechen. Diese Schrift war ein Meisterstück in frecher Sophistik, in jener Schlauheit, die sich mit rechtloser Gewalt that verbindet, eine geschickt verhüllte revolutionäre Vraud schrift, deren Ingrimm dic Regierung zittern machte, klassisch waren aber auch die Entgegnungen von zwei hochverdienten Männern. Der Eine veröffentlichte „Juri Samarius Anklage gegen die, Ostseeurovinzen Nußlands, übersetzt uud eommentirt von Julius Eckarot"/) in welcher die Thatsachen nnd Samarins Verlogenheit ins Licht gestellt wurden. Der Andere, Professor Schirren zu Dorpat, schrieb eine „Liulänoische Antwort^) voll so blanker Wahrheit, so schneidiger Schärfe und vernichtendem Spott, daß der eitele Samnrin die Wunde, welche er empfing, nicht wieder überwinden konnte. Doch was half cs? Samarin hatte den rnssischen „Instiutt der Rasse" aufgestört, seine Hetzerei entfesselte die Geister des Hasses, der Verneinung und Zerstörung gegen die Laude, aus welchen Rnßland so viel Gutes zugeflosseu. Die Regierung wagte dem Andrang nicht mehr zu widerstehen. Professor Schirren wurde abgesetzt, ebenso Fr. v. Iung-Stilling, der in seiner Schrift „Statistisches Material znr Belcnchtung livländi-scher Vaucrnverhältnissc" der nnbeqnemeu Thatsachen znviel ') LeipM I860, Vrockhaus, u) Lcipzig 1«!>!1, Tuiickcr und Hmnblot, 147 gebracht hatte. An die Stolle von Beamten in den Ostsee Provinzen, bei denen deutsches Rechts- und Billigkeitsgefiihl voranszufcl;en, kmuen erklärte Feinde der Deutschen. Das Russische wnrde als Amtssprache eingeführt nnd den Schillern anfgeuöthigt. Die alten uerfassnnasmäsiigen Rechte nnd Anstalten wurden niedergetreten uud dauüt die Besserung inittel-alterlicher Uebelstände, in welcher man im letzten Menschenalter bereits vielfach fortgeschritten luar, unmöglich gemacht. Frei konnte sich wieder einmal die eigenthümlich russische Lnst ain Zerstören ergehen. Selbst die Universität Dorpat, diese hohe cinsame Lenchte über weiten Dämmerungen, suchte man zu verdllnkeln. Unablässig arbeitete dabei die Propaganda für die russische Mrche, keine List und keine Versprechung wuroe gespart, um protestantische Bauern zu ihr hinüber zn führen. Ganz Rllßland sah diesen Vorgängen »ut so aufmerl> !llmem Vergnügen zil, als würde in den Ostseeprouinzen irgend etwas Großes zum Heil des Reiches erwirkt. Erst der Sieges-donuer der dentschen Kanonen vor Paris führte den Geistern eine andere Beschäftigung zn. In demselben Monat März, als die Nationalversammlnng in der französischen Hauptstadt die deutscheu Friedeusbedingnngen annahm, wies der Baiser in Petersburg die Beschwerden der baltischen Ritterschaft zwar zurück, jedoch mußten die Heißsporne des deutsch-feindlichen Getriebes die Ostseeprovinzcn nach nnd nach verlassen. Der Anstifter Samarin fühlte seine Kräfte verzehrt nnd starb zn Tchöneberg bei Berlin in einem oentfchcu Irrenhanfe. ?1. Stärtuul, des Nihilismus. Vollständig enthüllt steht nnn die Seele der rnssischen Älatioualpartei uor uus. Diese religiösen Männer waren die unduldsamsten Verfolger gegenüber Katholiken wie Protestanten, -^iese konservativen Natnren verwandelten sich dein historischen "echt und Bestand anderer Völker gegenüber in blindwüthende 10 " 148 Revolutionäre. Sie, deren Lebensinhalt doch ein so edler und reicher war, langten Deutschen nnd Polen gegenüber zuletzt bei dem bloßen Verneinen und Zerstören an. Armselige Thoren, die sich selbst mit der Einbildung täuschten, wenn das Bestehende nur erst ausgerottet sei, werde das erwünschte Neue schon von selbst kommen. Gefährlicher war, daß sie in diesem haß gegen das Ve stehende mit den Nihilisten zusammentrafen. Sie waren redliche Männer und au ihrer Ehre haftete kein Makel. Sie wollten das Gilte und Tüchtige uud hatteu deu rechteu Weg beschritten, als sie erklärten: des Volkes eigenthümlich Wesen dürfe man nicht als gemein und roh behandeln, mau könne und müsse daraus etwas Kerniges nnd Lebensfrifches entwickeln. Es war ein vorzügliches Verdienst, daß sie die Volkssprache wieder in die vornehme Gesellschaft einführten, daß sie für die Mündig-keitserklärnng des Volkes kämpften, daß sie die Verrnchtheit des Veamtenthnms an der Wurzel angriffen. Dennoch war das Unheil, das sie anrichteten, viel größer, als all dieses Verdienst. Denn sie füllten die Köpfe mit einem glänzenden leeren Dunste an, und wollten bauen, wo kein Gruud uud Boden zu finden. Sie fachten die dunkeln panslavistischen Wünsche zu Hellern Feuer an, nnd zogen damit die Kräfte des Reichs nach außen hin nnd uou der Arbeit im Innern ab, bei welcher sie so nothwendig waren. Sie zettelten dadurch Verwicklungen an, die noch längst nicht wieder gelöst sind. Sie verbreiteten endlich im ganzen Lande Widerwillen und Verachtung gegen seine Regierung, und ^- was ihr größter Fehler war — sie lehnen: diese Regicruug mit ihrer gesammten Einrichtung, mit all ihren Zielen sei Unrecht und Thorheit, uuheilbar und ver-dammenswerth. Wenn zahllose Jünglinge uud Mädchen für immer ihr Lebensglück verloreu, wenn schändliche Thaten erfolgten, die eine Schmach waren für ihr geliebtes Rußland -^ 149 die literarischen Altrussen haben keinen geringen Theil der Schuld auf ihrem Gewissen. Das ist das Traurige bei so vielen Russen. Leicht be< geistern sie sich für Schönes und Edles; wenn aber die Idee sie ganz ergreift, wird ihr Gehirn so heiß, daß sie darin zu Asche verbrennt und nichts übrig bleibt, als Haß und Ver< neinung. Liegt vielleicht in der russischen Luft, die so schwer bei Nebelounft und so hell und trocken bei blauem Himmel, irgend eiuc scharfe Säure? XVII. Hoffnungen der rusll schell Kirche. 72. Gegensatz zu Katholiken und Protestanten. Die literarischen Altrussen hören noch immer nicht auf, «ns armen Westländern arge Grobheiten zu sagen. Im ersten Bande des russischen Archivs vom Jahr 1879 stand von Cchcwyrew der Ansspruch.- der Westen, d. h. alles Volk nnd Land westlich von Nnßland, ist „eine künftige Leiche, die schon zn riechen beginnt" ^- eine schöne Logik, wir leben zwar noch, riechen aber schon zum voraus. Diese Verwesung soll besonders in nnserer Religion stecken, dagegen in der rnssischen Kirche eine wunderbare Heil- nnd Keimkraft. Gerade weil das russische Volk so kindlich gläubig, so von Herzen demüthig nnd sanft-müthig sei, weil es sich so gar nicht mit kirchlichen und wissenschaftlichen Dingen den Kopf zerbreche, deßhalb — so verkündigten die Altrnssen — werde ans der russischen Kirche der Menschheit eine selige Zukunft erblühen. Ttabörittmeister (5homjatow, das Nllerwcltsgcnie, das sein Prophet Inri Samarin anch als großes Kirchenlicht enthüllte, hatte die Entdeckung gemacht, das; Katholizismus, oder wie er ihn nannte Latinismus, und Protestantismus nicht zwei Gegensätze seien, sondern beide nur Irrlehren, beide nur selbstsüchtige Sekten, die sich von dem Mittelpunkte der Kirche losgerissen. Eamarin rnft aus: „Jetzt, Chomäloff sei es gedankt, ist alles 151 anders geworden. Früher sahen wir uns gegenüber zwei scharf ausgeprägte Formen des abendländischen Christenthnms und zwischen ihnen die Orthodoxie (die griechisch-russische Kirche), als stünde sie am Scheidewege i jetzt sehen wir die Kirche, mit anderen Worten, den lebendigen Organismus der Wahrheit im Gewahrsam der Liebe, — und außerhalb der Kirche das logische Wissen, von seinem sittlichen Grund abgetrennt, d. h. den Nationalismus in zwei Momenten seiner Entwicklung, nämlich: die Vernnnft, wie sie nach dem Zchemln'ldc der Wahrheit hascht, nnd die Freiheit dnrch die Autorität tuechtet — das ist der Latinismus; uud die Verminst, wie sie eine selbstgeschaffene Wahrheit sncht und der snbieetiven Aufrichtigkeit die Einheit zmn Opfer bringt ^- das ist der Protestantismus."') 73. Starrheit. Also die russische Kirche ist der lebendige Organismus der Wahrheit im Gewahrsam der Liebe? Ebenso wie einen tiefen Brustton der Redlichkeit liebeu die russischen Natioualen solche mystische Worte: Meister darin ist Iwan Aksakow. Ihr Moskau ist ihnen das dritte Nom. Das italienische Rom wurde von den Germanen zertrümmert, Konstantins Nom musite sich vor oeu Türken neigen, aber das dritte Rom, das russische, erhebt glorreich sein Haupt, begläuzt r>on den Strahlen einer aufgehenden Sonne, die ein nencs Zeitalter des Christruthums beleuchten wird, das von Nusilmid aufgeht und das Beste ails Europa uud dem Orient in sich einschmilzt. Wie steht es mm in der Wirklichkeit? Seit jener Zeit, als dem ^olke die Annahme des Christenthums geboten wurde, sind ^66 Jahre verflossen: in dieser gauzeu Zeit dauerte die russische Kirche wnudellos, unverändert, uubeweglich. Meichwie die Heiligenbilder noch hente ganz so byzantinisch gemalt werden, ') Juri Tamnrin über Chumäloff. Berlin I«70, Vehr, T, '!2—«, 152 wie damals, als sie von Konstantinopel ankamen, gleichwie auch nicht ein Schimiuer achten Kunsttriebs regsam wurde, uui den Kirchenbaustil oder die Ausschmiickltng des Gottesdienstes schöner und nationaler auszubilden, ebensowenig hat sich die russische Kirchengcmeinschaft die geringste Entwicklung gestattet, sei es in Dogma oder Liturgie oder Geistlichkeit und Möstern. Es ist kein Todesschlaf, in welchem sie befangen liegt, sie erfreut sich vielmehr, wie es scheint, einer derben körperlichen Gesuudheit, nur das geistige Leben scheint in ihr versteinert. Die Jahrhunderte rauschten an ihr vorüber, als wären es eben so viele Jahre, uud wie eiu starrer Felsen steht sie breitgewaltig im Volke, unbekümmert um die Wellen ungläubiger Ideeu, die ihreu Fuji umkränseln, nie beängstigt nnd nie belebt durch des Wissens Noth und Woune, — eiu Dasein, soll mau es räthsel-haft finden oder auch leicht erklärlich, nur von etwas niedriger Art? Denn „der Mensch lebt nicht vom Brod allein, sondern anch von jedem Worte, das aus dem Mnude Gottes kommt," Dieses göttliche Wort gibt sich zu vernehmen in der Geschichte der Menschen nnd in der Erkenntniß von Natur nnd Weltall. Leben aber ist Bewegung, und wo in einer Geistcsanstalt Bewegung ist, da stellt sich auch Wissenschaft ein und Fortbildung. Ist es mm denkbar, die russische Kirche werde, bloß deßhalb, weil sie fast ein Jahrtausend lang nnthätig uud »ube-weglich war, plötzlich eine weltvcrjüugeude Macht entwickeln? Eine Kirche, welche von ihren eigenen zahlloseil Abtrünnigen -^ abtrünnig bloß um ein bischen Verbesseruuss der gottesdienstlichen Bücher ^ als ein Reich des Antichrists angesehen wird, nnd welche gegen diese „Altglanbigen" die waffenlose Schwäche selbst ist? Nicht blaß die Raskolniks, auch die Mohamcdaucr an der Wolga machen mehr Bekehrungen, als die orthodore Kirche. Die Kultur bei uns uuglncklichen Westländern soll zum 153 Verfaulen und Verderben verurteilt sein, weil sie so viel römischgriechische, also heidnische Bestandtheile habe. Allein ist denn die Kirche der Russen davon frei? Sie bekamen doch das Christenthum nur so, wie die Kirchenväter es gestaltet hatten, deren großes geschichtliches Verdienst ja eben darin bestand, daß sie, was in der antiken Kultur edel und dem Christenthum ver-wandt war, mit ihm zu verbinden und zn verschmelzen suchten. Weun nuu die Mönche und Popen in Nußlaud einfach bei diesen: Empfangenen bcharrteu, weun lein leiser Strahl fortschreitender Aufklärung im 1l^. oder 16. Jahrhundert sie berührte, ist das uuu ciu Grund, sich zu brüsten mit ihrem urreinen Christenthum und prophezeiend in einer Überschwang-lichen Fülle schöpferischer Kräfte zu fchwelgen, die künftig aus dem stillen stummen Schoße der russischen Kirche heruorströmen soll? O diese Anwartschaften auf die Zukunft — fie find so bequem nnd dorneulos. 74. Anfänge zur Aufklärung. Erst vou der lebendigen Kraft uuferes aufgeregteu viel» arbeitenden Jahrhunderts ist iu die russische Kirche etwas eiugeftossen. Die Wissenschaft fängt wenigstens auf historischem und dogmatischem Gebiete zn schaffen au, und newiß wird Niemand anfrichtigcr, als der Dentsche, das wissenschaftliche Verdienst vou Werten anerkennen, wie die Geschichte der rnssi' schen Kirche und das dogmatische Handbuch vou Makary, Erzbischof von Charkow, die Geschichte des Florentiner Konzils von Popow, kritisch sorgfältige Werke, während die bekannte russische Kirchengeschichte vom Tschernigowcr Erzbischof Philaret einen unanaMehmen mouchischen Geist athmet. Allein solche Werke schimmern ja nur wie ein paar ciusame Kirchenlichter m einem ungeheureu dunkeln Raume. Freudig wurde iu Deutschland auch die Theilnahme bc< grüßt, die sich in russischen Laienkreisen an kirchlichen Dingen 154 zu regen begann. Im Jahre ll^ ward in Moskau ein „Verein der Frcnnde geistlicher Aufklärung" ssegründet, zehn Jahre später erst ein zweiter Verein in Et. Petersburg, nud zwar nur von vierzig Mitgliedern, von welchen der siebente Theil Geistliche, mit dem Großfürsten Konstantin au der Spitze. Im Programm des letzteren Vereins heißt es: „Eine der hauptsächlichsten öffentlichen Kalamitäten uuserer Zeit liegt in der Gleichgültigkeit des weltlichen Publikums für die Fragen uud Bedürfnisse des kirchlichen Lebens. Auch bei uus zieht die weltliche Gesellschaft allzu geringen Nutzen von dem aufklärenden Nnflusse der Kirche i die Geistlichkeit hat das Gefüge und die Gewohnheiten eines abgeschlossenen Standes auge-nommeni nnd die rnssische Kirche selbst ist Augriffen auf ihre angebliche Leblosigkeit ansgesetzt, die dem Wesen der Orthodoxie doch so wenig eigen ist." Der Verein wollte deshalb die An» Näherung fördern zwischen Klerus uud Gesellschaft, „gesunde" Anschauungen von der kirchlichen Lehre verbreiten, nnd Theilnahme erwecken am Leben der rechtgläubigen Kirche uud an verwandten Bestrebungen im Auolande,') Thätigkeit in letzterer Beziehung scheint Lieblingssache des Vereins geworden zn sein, man nahm lebhaften Antheil an der altkatholischcn Bewegung, und unterhielt sich mit warmen Wünschen kirchlicher Wiedervereinigung mit dem europäischen Westlande. Dabei kam auch einmal folgendes offenherzige Geständniß zum Vortrag: „Zur Wiedervereinigung der Kirchen ist unbedingt erforderlich, daß die religiöse Selbstlosigkeit nnd Unzufriedenheit mit den Prinzipien des Papstthums uud des Protestantismus im Westen sich im Vergleich zn jetzt bedeutend vertiefe. Der Orient aber muß znvor politisch und intellektuell wiedergeboren werden, muß sich von äußeren ihn niederhaltenden Mißständen !) Protokoll der Sitzungen der St. Petersburger Section dcZ Vereins der Frennbe geistlicher Ausllärnng vom ^>. März nnd 2, April 1872. St, Petersburg 1«72, Rüttgcr nnd Schneider, Seite 13—15. 155 befreien und das Niveau seiner Bildung erhöhen, muß eine reiche theologische Literatur ins Leben rufen nnd den Occident nöthigen, sie zu lesen und zu resvektircn. Tic politische nnd geistige Wiedergeburt muß den Orient dem Occident und der geistliche Nothstand ben Occident dem Orient nähern." So der Professor der St. Petersburger geistlichen Akademie, Katanski.') 75. Vollsmorlll und Geistlichkeit. Da nnn die westliche Vertiefung nnd die östliche Wiedergeburt noch eine sehr geraume Zeit erfordern, halten wir nns an die Gegenwart und fragen znuächst: „Was hat die russische Kirche für die Erleuchtung des Volkes gethan?" Zwei land-läufige Anekdoten mögen antworten. Der heilige Nikolaus ist bei deu Aaucrn der größte Wunderthäter, und da einer gelegentlich gefragt wurde- ob er anch wisse, was die heilige Dreifaltigkeit sei, so antwortete er hurtig: "Nie sollt' ich nicht wissen? Das ist Gott nnd die Mntter^ yottcs uud der heilige Nikolaus der Wnnderthäter." In der That, im ganzen Umkreise der Christenheit steht das religiöse Nissen nur noch bei den Aoessiniern niedriger, als bei den Vanern in Nußland. Woher soll es anch kommen, wenn in der Kirche das Ceremoniclle alles nnd die Lehre fast nichts bedeutet? Iu dem dicksten der Auszüge, welche der Oberprokurator des Synod, Graf Tolstoy, über die kirchlichen Zustände veröffentlichte, nimmt die Predigt nur zwei Seiten eiu, obgleich ks ganz richtig heißt: in der Predigt und Kirchenschnle liege der Anfang zu einer religiös moralischen Bildung des Volkes.'^) ') Auszüge aus dem Prulololl b« drMru Sitzung, St, Pctersliura I«^, Ticmzichcl. Leite 11-15. ^-) Auszug nus dem allerunterthäuinsteu Bericht des «rasen D, TMul> an Se. Maj, deu Kaiser iu Angell-geuheitcu der llNyodoxen russischen Nirchc. «'ctzbaden 1872, Lteiu, Seite 69-7(1, 156 Eine Frau, welche durch die Ungerechtigkeit eines Bauern Hart gequält wurde, brach zuletzt in die Worte aus: „Fürchtest du Gott denn gar nicht?" Der Bauer antwortete: „Wie sollte ich fürchten? Ist er doch nicht von der Polizei." Das ist Volksmoral, und daß sie keine bessere ist, daran trägt die Kirche nicht die kleinste Schuld. Ohne Frage, mit ihrem prunk-vollen Gottesdienst im geheimnisvollen Halbdnnkel, bei dem Schimmer der Lichter und Heiligenbilder und dem lieblichen Gesang, und vor allem mit ihren Sakramenten ist es hanpt-sächlich die Kirche, von welcher das schwer gedrückte Volk Trost und Erhebung empfängt. Doch das Genannte ist auch alles, was sie leistet, um die sittlichen Grundsätze zu heben und den Geist auf höhere Dinge zu richten, als das gemeine Tagwerk. Fleisch und Milch und Eier iu den langen Fasten zu genießen, davon wird der Vauer durch fürchterliche Drohungen abgehalten: Branntwein mag er trinken, so viel nnd so lang er kann. Welchen sittlichen Eindruck soll auch das Volk von der Geistlichkeit empfangen, wenn sie selbst ihm tagtäglich Aerger-niß giebt? Zwischen der schwarzen oder .Aostergeistlichkcit und der weißen oder Weltgeistlichkeit herrscht öffentliche Gehässigkeit. Die reichen Mönche nnd Bischöfe, welche allein das Kirchenregiment führen, legen gegen die Popen ihre Geringschätzung an den Tag; diese aber find höchst erbittert, weil sie die Plackerei des Kirchendienstes nnd der Seelsorge allein tragen uud dazu das schwere Joch der Armuth. Das Volk aber spricht schlecht von den Einen wie den Anderen. Graf Tolstoy nennt als besonders hervorstechende Laster, welche das geistliche Gewand in Mißachtung bringen, Nnmäßig-keit und grobes Benehmen uuter einander nnd gegen die Ge-mcindeglieder;^) ein drittes und ärgeres Nebel ist der Handels-speist, welcher die russische Kirche mit orientalischem Gifte durch- >) Noricht UM >»?^ 3eite 25, 157 dringt. Jedes Gouvernement hat, wie seinen Gouverneur, auch seinen Bischof, jeder Bischof sein 5ionnstonnm, dessen Mitglieder seine Räthe sein sollen, gewöhnlich aber nicht viel mehr als seine Tchreibcr sind, die sich bei ihren: schmalen Gehalte Geld zu machen suchen, wie nnd wo sie können. Will ein Popen-Jüngling eine Pfarre haben, so muß er sich mit ihnen abfinden, oder ohne Erbarmen muß er seines Vorfahren Tochter heiratheu nnd wenn die ganze Gemeinde vor der Nacht-eule davon liefe. Dafür hält er, wenn er Pfarrer geworden, selbst eine Listc von den hcirathsfähigen Mädchen nnd Burschen in der Ge^ mcinde, nnd schlägt sich Geld zusammen von den Einen, daß er durch seine Unterhandlungen mit den Eltern sie zusammenbringe, von den Anderen, das; er sie nicht in ein verhaßtes Ehejoch dränge. Durch den Verkauf von Heiligenbildchcn, geweihten Sachen nnd Traktätchen sucht der Pope eifrig Geld ans den Taschen der Glanbigen zn locken, bei jedem Glücks >all und jeder Abwendung einer Gefahr erwartet er ein Weih-und Dankgeschenk, nnd es soll nnr zn häusig vorkommen, daß er dem Bauer, der ihn anfleht, er möge eilen und dem sterbenden ^inde die letzte Oelung briugon, nicht eher folgt, als bis der Arme ihm feine beste Gans oder das einzige Tchwcinchen im Hanse verspricht. XVIII. Uussischcs ^rchniwescn. <6. Das neue Hauptnrchiv in Moskau. Als ich in: September !^7^> gerade damit beschäftigt war, wie für das große klreisarchw von Mittelfranken »in nellcs Gc-bände herzustellen und einzurichten, hatte ich die (ihre, den k. russischen Senator .Herrn Nikolaus Wassiljewitsch Kalatschow, Direktor des Iustizarchius in Moskau, uild seinen Begleiter, Professor und Archiuar Herrn August Plar, nil bayerischen NeichBarchiv zu einpfangen. Die russische Regierung hatte auch dem Archivwcscu erhöhte Aufmerksamkeit zngewandt, und es war (ine Acmnnission für desfcn Organisation ernannt, ^^ ein Vewcis, wie auf ailen Gebieten des Staatoweseus in Nnsilnnd nicht bloß Fortschritt, sondern auch ein nenes Leben sich rührt. Eine Familie, ein Volk, die sich selbst achten, halten ja ihre Geschichte und ihr Archiv in Chrcn. Nicht ohne tiefer liegende Gründe haben in Deutschland, was wir Archivare am ersten inerten, in der jüngsten Zeit genealogische Nachforschnngeu so außerordentlich zugenommen. Zum Präsidenten der Archiu kommission war Herr Kalatschow ernannt, der sich durch seine rechtshistorischen Untersnchnngen^) großes Verdienst erworben, ') z. B. Predwaritcliiyja .swcilc'iiija dljii o))j;i,siiciiija nisskoi prawdy, Moskau ISlfi. 159 und er war mit seinem Begleiter ans einer Neise zn den be> deutenderen Archiven Mitteleuropas, nnt deren Eiurichlungeli kennen zn lernen nnd zn vergleichen. Lebhaft erörterten nur daher die Frage, wie ein Archiv ssebände beschaffen sein müsse, nnd ich legte meine Ansichten dar. wie es möglichst nnr ans Stein Visen nnd Glas bestehen solle, wie es ringsum frei stehen, wie es Geschäftszimmer nnd Dienstwohnungen nebenan haben müsse, wie es gegen Vinbrnch zn sichern, und was für den Fall von Feuers nnd anderer Gefahr vorzusehen. Nicht minder wurde als nothwendig erkannt, daß bis in alle C'cken des Gebändes Helligkeit und beständig frische Lnft hineinbringen müsse, nnd daß die Urkundenschreine nnd Aktengestelle möglichst entsprechend der besondern Art nud Weise der Archwalien einzurichten, jedoch so, daß der ganze Archiuinhalt rasch beweglich gehalten werde, ^ie russischen Kollegen nahmen mit großem Interesse uon allen Einrichtungen des bayerischen Neichsarchivs Kenntniß, nnd ich unißte ihnen nnter Vorlage von Geschäftsbüchern nnd Hand-akten, Repertonen, Kodizesbeschreibungen nnd Negesten, nebst andern dienstlichen Arbeiten, den gcsammten Betrieb des bayerischen Archwwesens, sowie Art nnd Umfang seiner Leislnngen für den Staat, für Necht nnd Wissenschaft erläntern. Hr. Kalatschow ivünschte niui über das Einzelne des Geschäfts-Verkehrs, insbesondere anch der Zentralstelle mit den acht Pro-vinzialarchiven, über deren Visitationen nnd Jahresberichte, s-omie über die Eintheilung nnd Vehaudlnng der verschiedenen Archiualien eine belehrende Auseinnnderschnng. Ailsfiihrlich wnrde sie daher ausgearbeitet nnd an den Kultusminister Grafen v. Tolstoy abgesandt. Da für Archnwerwaltnngcn in Ungarn Mankreich Vaselstadt Böhmen Siebenbürgen nnd einer Reihe dentscher Staaten eine ähnliche Darlegung verlangt wnrde, so gab dies Veranlassung, sie in größerem Rahmen in meiner 160 „Archwalischen Zeitschrift" zu veröffentlichen,') um sich weiter-hm darauf beziehen zu können. Im Jahre 1874 war bereits in Moskau die bauliche Her-richtnng des dein Archive eingeräumten stattlichen Gebäudes vollendet, zwei Jahre später wnrde in Nürnberg zu einem vollständigen Neubau der Grnndstein gelegt. Als ich nun im vorigen Herbst nach der alten russischen Hauptstadt kam, war mein erster Gedanke das neue Reichsarchiu: es war längst in all seinen Theilen fertig und in Ordnung, während iu Mrn° berg erst in diesem Sommer der Auszug ans den alteu Archiv-kammeru beeudigt wurde, eine Aufstellung aber der Massen von Urkunden Amtsbüchern nud Alten, die im Einzelnen ebenso dein praktischen Zweck als einem wissenschaftlichen System entsprechen muß, wohl beoachi sein will. In Nußland geht man in solchen Dingen rasch entschlossen vorwärts, lind von außen steht alles anch gut aus: wir iu Teutschland sind zaghafter uud vorsichtiger, vielleicht auch gründlicher, daher langsamer. Ter nächste Tag, der 27. Oktober, gehörte größtentheils dem Neichsarchiv, in welchem mein Empfang so liebenswürdig, wie es bei gebildeten Nüssen Fremden gegenüber Regel ist. Der Direktor des Neichsarchius, Herr Baron von Bühler, kaiserlicher Geheimcrath uud Kammerherr, hatte die Güte, unter Begleituug von zwei Beamten mich durch das gauze Gebäude zu führeu uud überall von den technischen Auorduungcn .Kennt niß nehmen zn lassen, soweit das bei Kürze der nur zug» mcssencn Zeit überhaupt möglich war. 77. Die Archivstadt. Ehe sich nun Inhalt uud Einrichtung dieses Archivs dem geneigten Leser, der vielleicht au Geschichte uud ihreu Duellen i) Archiu llli Iche Zc > t schri ft hcraiiiMnebcn lion I>r, Franz u, Löhcr, k, bayer, Geheimer Nnth. Ncichsarchiudircttur, UnivcrsttätÄ> Professor u. s, W. Stuttgart 187>ahl, Prikaseu cienaunt, hatten unter den beiden Zaren In'm: im seclMehnten Jahrhundert ihre Gebände auf dem ^'reml. Fast ein jedes Amt besaß sein eia,enc5 Hans, diese standen dicht neben einander in langer Neihe an der Änßseite nnd schaueten, wie mail anf den alten Ansichten der Vnrgstadt des Kreml noch sieht, über die malerischen ginnen und Thürme der nahen Nnuimaner. Da gab es eine Rech-nullssskamuler, eilie Bittschriftentaüiiner, Gerichts- nnd Polizei», Strelitzen' lind Reiter lreitarstoi)' !itaulmcrn, ciile .^ainutcr für die .zarischen Iagdvögel, nnd eine andere für die Eeel^ messen der zarischen ^,-amilie. d'iues der vornehmsten dieser "Mtshänser war dasjenige, in welchem die auswärtigen Ange-legenheiten ueihandelt wnrdnl nild die Gesandten verkehrten, ^s hieß nnter Iwan III, Possolskaja isba d. i. Gesandten« kaminer, llllter seinem Nachfolger Possolskoj prikaz oder Ge-sandtenamt, und wurde anf eineui jener Bilder, das t«U',2 in 2lmsterdain erschien richtig übersetzt mit I'«iissen, angingen, hatte der Zar seine Beamten in diesem Hanse/) „wo die Neichs-Sachen nnd aller Gesandten und Posten, auch der deutschen Kaufleute Tacheu traetiret wnrden". Dort erschienen ]) A <1 a m O 1 o u r i i Ausführliche Beschreibung der kmulbaren Heisc nach M\lScov und Persien, Schleswig 1663. S. 2G(i. l>- ^iiher, NMmid, 1^ 102 daher die Botschafter und Unterhändler fremder Staateu, der Polen Tataren Lithauer Oeslerreicher Schweden Tchwertritter und anderer Völker, die etwas auszurichten hatten, und wurden von hier vor den Zar geführt, weshalb das Haus auch seinem Palast nm nächsten lag. Kamen die eigenen Gesandten alls des Zaren Audienz znrück, so empfingen sie hier die Ausfertigung ihrer Vollmacht nnd Instruktion. Die Ausländer, die in Rußland angesiedelt, sandten hierher ihre Vertreter, um Prwi legien, insbesondere nm Schnl', für ihre Neligion^übung z» erhalten. Hatte Jemand eine .Vage gegen einen der oielcn fremden Handelsleute nnd Fabrikanten, die jeder um das Aufblühen des Reiche besorgte Zar in das Land zog, so war in dieser Gesandtenkanzlei die Gerichtsstude, in welcher auch die Streitigkeiten der Ausländer mit Russen zum Anstrag kamen. Nicht weniger als 70 Dolmetscher waren im Gesandten-amt angestellt, nnd für die fremden Schriftstücke hatte es ein anderes kleines Heer von 5(1 Ileberschern. Auch von den Nachbarvölkern, die sich des Zaren Gewalt hatten unterwerfen müssen, den ktleinrnssen und Kosaken, den tatarischen nud finnischen Völkerschaften, kamen die Gesandten in diese Kanzlei, ihre Verhältnisse znm Zar zn ordnen, den Tribut zn bringeu nnd seine Bc fehle zu empfangen. Alles was mit der Fremde etwas zn thnn hatte, also auch Pässe für das Ausland, selbst der allgemeine Posteulauf wurdeu in diesem Hanse besorgt. Ohne Zweifel standen mit der Gesanotschaftsknmmcr in Vev dmdnng die ausländische, welcher die Zahlnng und Disziplin d.'r zahlreichen Allsländer oblag, die im Dienste des Zaren standen, ferner die Zahlkammer für die Postleute, nnd die Kanzleien für die Verwaltung der nowgorod'schen, kleinrussischen, kasan'scheu, sibirischen nnd anderer Landestheile, die später dem Reiche zugefügt waren. Soweit inau nun über Verhaudlnngeu nnd Verträge, die 1 sn in der (tzesandtfchaftskcnumer vor sich gingen, Tchristen a»f sehte und Register führte, wurden sic in den untern (Gewölben des Gebäudes niedergelegt in Kisten nnd Gestellen und Schränken. Für die Besiegelung uon Erlassen auf Bittschriften, von Be stallungsbriefen der Beamten, von Lehnobriefen über erbliche Dienftgüter bestand eine eigene Tiegoltammer, pl'tjchatnoi prikaz, die an Tiegeltaren eine erkleckliche Einnahme lieferte. So erwnchs nach und nach ein reiches Archin, das Alles nm faßte, ivas an Tchriftstücken sich sammelte über Kriegs nnd Friedenvverhandlnngen, über die Eroberung nnd Regierung der Reicholheile rings mn den großrussischen Kern, über die Einführung uon deutschen Ansiedlern, Duldung ihrer und anderer ^r^uden Religionoübnna,, kurz über die gesannnte Reich^eschichte, die Vorgänsse iin Innern anZgcschloisen. Ohne Zweifel legte hier anch ^wan der Wütherich, al^ er nach dem Nowgoroder Blntbade .nirückkehrte, die Freiheitsbriefe Nechto bücher nnd andere Urkunden nieder, die er ans der so tapfern und dnrch ihn fo unseligen Ttadt entführte Inl Jahr ^Il',14 sina, >nan bereits an, den Inhalt dieses Archiuö zu inuentarisiren, ein bezeichnendes Jahr. Tenn ein Jahr vorher war nüt Vliäiael Nmnanow das nelle Regenten haus auf den Thron erhoben, und wahrscheinlich war eo de>> jungen Zars grnndgescheidtcr Vater ^ der Moskauer 1>.!letropolit, der daranf hielt, daß nach der langen ^>rit dos nationalen WinsalZ nud Unglücke a!l die Rechte festgestellt wnrden, luelcho beni Beherrscher der Russen gegen die Bestandtheile des Reichs und die Nachbarvölker zustanden. Teit jener ^eit herrschte wohl auch Ordnnng in deu Archivräunien, die wir vordem un>> keineswegs als einladend vorstellen dürfen. Mit Peter dein kroßen siedelte die Neichsverwalwng nach -Petersburg über, nnd nnn saniiuelten sich hier die schriftlichen Niederschlage. Dies geschab u>n so regelmäßiger, als der Zar, dessm Geboten zitternd gehorcht wnroe, zwölf Kollegialbehördcn 11" UN für die Ttaatsgcschäfte errichtete und einer jeden die Arbeit genan uorzeichnete. Obwohl dic Behörde für die auswärtigen Angelegenheiten nnn zehnmal niehr zll thnn bekam, als früher, blieb doch ihr Archiv in Moskau, nnd wichtigere Staatsver^ träge und politische Korrespondenzen wnrden regelmäßig von Petersburg dorthin geschickt. Moskau bestand immer noch alo die althistorische Hauptstadt des Reichs, in welcher geheim zu haltende Schriftstücke, ebenso wie der .^ronschatz, viel größere Sicherheit fauden, als in dem ncnen Hoflager bei der St. Peters Nurg, das bis an die Newamnnoung vorgerückt war. Die Nachschübe dauerten fort bio 1^0.1 , dem Jahre der Thronbe> steigung Alexander I. Von da an verblieben alle Schriftstücke in Petersbnrg, und in das Archiv zil Moolan gelangte nichts mehr, als, wie es scheint zufällig, das Archiv der russischen Gesandtschaft zu Neapel, und bei Anobrnch des kirimtrieges das viel größere nnd wichtigere Archiv der Ocsandtfchaft in Konstantinopel, da5 nachträglich bis zmn Paviser Friedeil voir 1856 vervollständigt wurde. In der That paßte gerade dieses Archiv über die türkischen Angelegenheiten so recht in die alte Hauptstadt Nußlands hinein. Tenn es sind darin dargelegt die durch eine lange Zeit fortgesetzten Bemühungen, die Christen der Türkei ans ihrer schmachvollen Lage zu befreien, eine An Gelegenheit, die jedem ächten Russen Religions-, ja Herzens-fache geworden, von dein Tage an, an welchem auf die frncht-uud schönheitsrcichen Gefilde im Südosten Europas die unheil^ vollen Strahlen des Halbmonds gefallen, unter dessen trübein erkältenden Licht jede Art schöner biesittnng sofort fröstelt und dahin welkt. 78. Altc «ud neue Archiuc. Tas alte Reichsarchiu in Moskau hatte, feit die Ne gierungsstadt an der Newa aufblühete, noch allerlei Schicksale zu bestehen. Im Jahr l7^0 -^ jetzt zum erstenmal Archiv gc 165 nannt - wurde es vom Kreml in das Rostowkloster an der Wariuarkastraße verbracht und litt nicht wenig nnter den lieber-schwcmmnngen, niit welchen die 3)losk>va die anliegenden Stadt' theile verheerte. Nachdem es dort fünfzig Jahre verblieben, er^ hielt es seinen Platz in einem entfernten Stadttheil in dem freigelegcnen Palast, der ehemals dein berühmten Ukrajintzcuv, dem Staatssekretär Peter des Großen, gehört hatte nnd von Katharina II. für den Feldinarfchall Fürst Galitzin angekauft war. Bei dem Anrücken Napoleons im Jahre l8l^ wurde das Bedeutendste in 105 Kisten nach Wladimir geflüchtet, der Hauptstadt des nächsten östlichen Gouvernemcuts. Von dort kehrte e^ in seinen Moskauer Laaerort zurück, der sich keines weas trefflich zur Aufbewaln'uug so lnufanareicher Schätze, cianctc. Im Jahr l^.')') unlrdeu an tausend Stück davon o.nsa,c-schieden nnd als „Tammlunn der alten Staatssiea,el und Ur-knnden" vorläufig im 5ireml niedergelegt. Es sind dies die "ltesten llrkunoen über Aerfassnna, nnd Geschichte des Reichs, m^besondere alle Schriftstücke, welche die regierenden Hänscr uor Peter dem Großen betreffen, nnd die Siegelstempel nnd Petschaften der Zaren. Darunter befindet sich auch die Nlo scheme, das Landesrecht von 1ü4',», dcfsen Satzungen auf fortlaufenden Pam'erbogen geschrieben stehen, die gleichnnc nnscrc wittelalterigen Röteln an einander geklebt sind nud aufgerollt werden. Ihre Länge beträgt ^,)^ Äleter und die breite der Nolle '/. Meter. In Petersbnrg dagegen bildeten sich im Ministerium des Aeusicrn zwei nene Archive, nämlich noch ein „Hauvtarchiv." welches die neueren diplomatischen Schriftstücke anfncchm, »ud cin anderes, das seit dem Jahre 1534 den Namen „Reichs< wchiu" bekam nnd die Akten nnd Urkunden enthalt, die seit Peter dem Großen sich über die wichtigsten Ereignisse des Reiches bildeten, nehst den Familienuerträgen Testamenten nnd anderen l6tt Papieren dor kaiserlichen Familie. Ta der Minister des Auswärtigen als Großsiegelbewahrer den Titel Reichskanzler führt, so ist er als der Großarchivar des Reichs anzusehen. Als nnn seit Verlegnng des Regierungssitzes nach Petersburg, überhaupt nach der modernen Einrichtung der Staatsbehörden die, alten Prikasen oder Hof und Ttaalokammeru in Mookau nach und nacl> ihre (Geltung einbüßten oder förmlich aufgehoben wurden, legte man ihre alten Tchriften mehr uud :nehr zusammeu, bis das Wichtigste sich zuletzt iui „Instizarchiu" in Moslall ansammelte, Außer diesen Archiven kommen noch in Betracht die Archive und Bibliotheken des Baisers, der andern Ministerien, des Teuats, der Bisthümer, Kloster, Ttädte nud einiger Museen. An eine Benufsichtiguug all dieser verschiedenartigen und weit zerstreuten Tammlungen von oben herab oder gar an eine einheitliche Leitung und Einrichtung derselben ist, wie sich von selbst versteht, noch gar nicht zu deuten, Rede war davon, allein die übergroßen Schwierigkeiten liegen auf der Hand. Iu welchem Ttaate wäre man denn so wein Auch in Holland Belgien und Frankreich nur erst iheilweise. 79. Einrichtung des Hanptarchivs in Nnßland. Wir sehen uns nun in dein historischen Archive zn Moskau um. Tiefem wurde aus VenuiUluug des Reich>>lau'i!ers Fürsten Gortschatow, der von den Uebelsländen des alten Gebäudes selbst Einsicht genommen, vom Kaiser nn Jahre !l>!,t> der Palast zugewiesen, in welchen: die Verwaltung der Staatsberg-werke ihren Til; hatte. Eine passendere Wahl hätte man schwerlich treffen können. Das Gebäude ließ sich im Innern leicht znm Archive umbauen, was ziemlich rasch vollendet wurde. Zwar liegt es mitten im Lärm lind Getöse der großen weiten Ttadt, während 167 ich für das neue Nürnberger Archiv eine anmuthige Kegend vor dem Thor llnd die Stille und frische grüner Bänme und Gartenumgcbnng anssnchte. Wohl aber steht das Gebäude. riugsnm frei nnd von der Straße luenigstens 31 Meter entfernt, ningeben von eineni leereil weiten Hof nnd Garten, der dllrch Ringmauern abgeschlossen ist. Der fzaii^ Vc^irt des Archivs mnfliht beinahe fechs bayerische Tagwerk Landes, ist anf drei Seiten von Ttraßcu ninczeben, nud stößt anf der vierten Teite, :r>o der l^iartcn ist, an eine Priuntbesitznnq. Bloß hier nach der Ttrnße Wodzwissenka zn steht in der Nähe ein Wohnhanö, jedoch auch noch ^." Meter vom Archiv entfernt. ,^n Nürnbera, sind die Dienstwohnnngen des Vorstandes Sekretärs nnd Dieners in einem Hanse vereinigt, in welchem sich anch die Geschäftszimmer befinden. Dieses Hans liegt hinter dem Archiv, wird aber mit ihm verbunden dnrch einen gedeckten Onnq, der gegen Schnee Wind nnd Regen Schutz gewährt, ^nr einen Seite hat der Vorstand, znr andern der Sekretär einen hübschen Garten. In Mosknn besihen ebenfalls der Direktor, der erste Archivar nnd der Diener ihre Wohnhäuser im Archivhofe, jedoch im Abstand von4<» nnd .^Metern vom Hauptgebände, in welchem Nienmnd wo!?non darf. Die lieränmigcn nnd behaglichen Geschäftsziuimer dagegen vertheilen siä, nnt der Bibliothek in diesem selbst dnrch das Erd-Neschoß, !,»icht darf in den Archivsäleu nicht augesteckt, im Ge-bände nnch nirgends gerancht werden, nnd nntersncht man die verabschiedeten Ilnteroffi'iiere, welche die Diener machen. ob sie nmh Zündhölzchen bei sich führen. Jedoch fehlt nicht ein wohl abgeschlossenes Ranchzimmer: der Tabak ist ja in Rußland ein w allgemeines Bedürfniß, daß man geglaubt hat, die Veamten wüßten auch während der Amtsstnnden sic!, daran eraniäen tonnen. Nach drei Uhr Nachmittags darf sich kleiner mehr im Gebänoe aufhalten, all seine Pforten sowie die Thüren in der Ringmaner werden verschlossen. 168 Das Hauptgebäude besteht aber fast durchgängig aus Stein Eisen uud Glas, selbst die Treppen sind von Eisen nnd die Thüren wenigstens znr Obcrhälfte in eiserne Gitter verwandelt, was vortheilhaft für den Dnrchzug der Luft. Das Erdgeschoß ist gewölbt, das Gan^e anch in den oberen Sälen fest gebaut. Auf dem Speicher stehen gefüllte Wasserfässer, auf dem Dache ein Alitzableitcr. In einein Hofe befindet sich eine Wasser-pumpe, im audern zwei Arunncn. Die Erivärmnng geschieht mittelst Luftheizung im gewölbten Untergeschoß, in welches die Heizer niemals vor Tagesanbruch eingelassen werden. Durch das gauze Gebäude geht eine Telegraphenleitung: man kann daher nnt Leichtigkeit von den Geschäftszimmern unch oben, und vou oben nach jcueu hiu Nachricht gcbcu, eine vortreffliche Einrichtnng. Anch lanfen, gleich wie in Nürnberg, aus der Wohnung des Direktors Telegraphcndrähte nach denHaltplätzcn der Fenerwehr. Eiserne Fensterladen oder Gitter zeigen sich dagegen nirgends, wenigstens auf der Seite uach der Wozd» wigenkastrasse hin sollten sie nicht fehlen. Eine Grnnduerschiedenheit nbor von dem mittelfräntischcn Archiu, das nicht nur Pnmpl'rmineu, soudern auch deu Vortheil einer Leitung mit beständig fließendem Wasser besitzt, be° steht darin, daß in Nürnberg alles darauf eingerichtet ist, um für den Nothfall das ganze Archiv rasch flüchten zu köunen. Deßhalb erhielten die wichtigeren Bestände ihren Plal? im Erd geschoß, aus welchem man für den Nothfall mehrere breite Thüren ins Freie öffnen kann. Die Kleinodien des Archivs, die kostbarsten Nrkuudeu iodizes uud Gruudriffe befiudeu sich beisammen in einem großen sestgewolbten Saale, der durch Eiseuthüren sich abschliesieu läßt, die Akteu uud Amtsbücher lagern in offenen Gestellen, die Nrkuudeu aber iu tragbaren Tchrciueu mit kleiuen ?slügclthüreu. ^nsammengeschobeu bilden diese Schreine eine bequeme Tafel zum Arbeiten, sind aber leicht wieder auseinander zn nehmen und mit ihrem wohluer-- Iss'1 schlossencn Inhalt fortzutragen. In Moskau sind dagegen, wie schon absagt, die Geschäfszimmer nicht bloß in das Archiv-gcbändc verlöt, sondern sie nehmen auch — neben dem Gesandtschaftsarchiv aus Konstantinovel nnd der protzen Biblio< thek ^- das untere Stockwerk ein, während die Archiualicn in das obere hinanf inußtcu. Jedoch besitzt das Archin eine Anzahl ähnlicher tragbarer Schreine, wie das Nürnberger. Diese bilden jedesmal zn drei übereinandcrgestellt eine Art Schrank mit Flügelthüren. Sie waren einst am Bosporus für das Ge-saudtschaftsarchiu verfertigt, welches in ihnen hergebracht wnrde. In Peterobnrg hat ülan sie allch für die Kanzlei und das Archiv des Miuisteriums des Aenßeru nachgeahmt, auch einigemal sie mit Archiualien gefüllt nach Mostangeschickt. Unglück« seliger Weise aber bat man dies System von tragbaren Schreinen für deu großen übrigen Theil des Hanptnrchivs zn Moskau nicht eingeführt, sondern statt dessen hohe Schränke aufgerichtet, m dereu Breite sich tiefe Echieblädeu befinden- Diese Schränke siud an einander befestigt nnd lanfen nnabsehlich an den Wänden hin gleichwie ein einziges ungeheures Geschränke. Nm die zahllosen, theilweise dicht gefülltcu Schieblädeu zn entleeren, würde mail unendliche Zeit oder ein Regiment Soldaten branchen. Wohl wird nicht zum zweitenmal ein feindliches Heer thöricht bis ins Hovz von Rußland vordringen, oder, sollte es doch geschehen, würde sich ^eit genng finden, das Archiv zu flüchten. Ich wünsche das Beste, kann aber die Schändlichkeit nicht wieder vergessen, mit welcher die nihilistischen Brandstifter die Schrift- nnd Bücherschätze der althistorischen Abtei preisgaben, die iu der ^estuug auf dein Petfcherskberge zn Kiew thront, zu t>nken den breitströmenden Tnjepr, ringsum die auseinander liegenden Theile nnd Kirchen dieser nächst Mostan sehenswerthesten Stadt in Nußlaud, Beinahe an Größe, noch mehr an praktischer Mannig» faltigkeit der inileren Einrichtung, sowie an Zier nnd Schön- ^0 heit darf sich unser Archiuban in Mittelfrankcn kühn dein Mos-kancr an die Eeite stellen. Wenn die Nürnberger, wie ich ge-hört habe, ihn für ihr schönstes neueres (Gebäude halten, so haben sie vielleicht Recht daui, obgleich gar Blanches, hätte die Archiubehörde allein zn sagen gehabt, wohl noch anders gerathen wäre. lleberhaupt aber bietet sich da ein artiger Vergleich, was zur selben Zeit Äaycrn init tauin fünf nnd Rußland init mehr als achtzig Millionen Einivohncrn für ein Archiv verivcndeten, jenes sür eines seiner Prouinzialarchive, dieses fiir das größte historische Archiv des Reiches. Das russische ist ein stattlicher Ball von sehr gefälligen Verhältnisse»! nn Nenaissaneestyl, der sich mit seiner hübsch durchbrochenen Ringmauer, dein Vorstiegenhänschen, nnd den tleinen 2hürmchen einladend darstellt. Die innere Einrichtung ist un l^>a!l;en zweckinäßig, überall fühlt man sich darin lichi nnd srei. An Ansdehnnng wird das (Gebäude nur voiu Neichsarchiu in 31liinchen übertroffcn. jedoch habe ich im Aenßeren weder das einfach Edle nnd Imponirende des Archiu- nnd Mbliothekgc-bändes auf der Ludwigsstraße, noch die Anmuth der Linien wie an: Nürnberger Archiuban entdeckt, im Innern anch so wenig einen prachtvollen Wappensnal gefunden wie im Münchener Neichsarchiv, als deu zierlichen Tchiuuck der Eingangshalle, des Trepuenhanses, des Empfangssaals, »nd des Eimclien^ saals des Nürnberger Archivgebäudes. Vor beiden aber hat das Moskauer den Vorzug schöner geräumiger und wohnlicher Geschäftszimmer, während über diesen im bayerischen Reichsarchiv bei all ihrer Menge und ssulen Eintheilung doch ein rechter Unstern gewaltet hat. lind gar erst die warme Luft, welche das russische Reichoarchiv durchwallt! Nei uns ist schon der dosten wegen gar nicht daran zu deuten, die Archiusale zu heizen. Es braucht nicht einmal ein so langer harter Winter zn kommen, wie der vorige: auch in gewöhnlichen Wintern herrscht in nnsern meisten Archiv 171 säleu eine 5lälte, als konnten, weun die Recherche lanciere ^cit dauert, Einem die iillocheu im Leib erfrieren. Luftheizung ist zwar anderen Erwarnnittg^artcu ssewiß nicht vorzugehen, jedoch sind die Moskauer Archivsäle so trefflich durchwärmt, daß es auch nu russischen Winter eiue Freude ist, dann halbe Tasse lang Nachforschungen anzustellen, Telbstverständlich haben nicht bloß die Beamten den Vortheil davon: auch nir Erhaltnug der Tchriftstiicke und Tiegel läßt sich nichte deukeu , n>as zuträglicher wäre, als eine beständig gleichbleibende milde Temperatur. ">. Inhalt. Toch wir habeu uns lauge genug bei dein (Gebäude auf-gehalteu, betrachten wir uuu seiueu Zuhält. TaZ >>auvtarchio iu ^l'ovtau hat die Beslinimuua,, die Urkunden Anttsbücher nud Akten, welche die äußere Entwicklung de5 rnssisclieil i)n'ichs berühreu und bk, zum ^ahr ^CI enlstnl^eu sind, ^u oer-'-'ilNgeu nud im Interesse der beschichte zu uerwahrcu und u< vevivalteu. Ev ist also wesentlich ein historisches Archiv, hegt deshalb insbesondere die Tchriftstücke, welche schon da waren, l'he Tt. Petersburg erbauet wlirde, die also dem alten Rußland angehören, Jedoch ist es als solches keineswegs vollständig. Würden aus den zahlreichen andern Archiven bloß die historisch wcrthvollsteu 3chnftmassen, insbesoudere auch über die innere staatliche und kullurgeschichrliche Entwicklung ^nßlauds, hier mammeugeführt, so möchte schwerlich ein doppelt so großes Gebäude, wie da>> in Nede stehende in Moskan, N«lilgen. sie aufzunehmen. Gegenwärtig umfaßt das Gebäude in 14 Tälen und Korridoren — das bayerische Neichsarchiv befitzt >;7, das neue Kreis< "rchiu zn Nürnberg !i!l Zlahiosäle — ,^^2 numerirte Tchlänte, darin a» 17.000 Cartons voll Urkunden nnd Tchriftcu und außerdem an 1000 handschrisirnbände und 9000 Rollen. An Nepertorie» sind ^,70 Äände vorhauden, was also darnnf 172 schließen läßt, daß alle Gruppen uild Serien verzeichnet sind. Bei deni baycrischeil Kreisarchiu zu Bamberg, welches darin schon sehr weit vorgeschritten, sind gegenwärtig ^4»> Repertories bände im Gebrauch nebst 30 Cartons uoll fliegender Blätter. Die ersten 6 Säle nimmt die eigentlich diplomatische Abtheilung ein, die nächsten 7 nmfassen allgemeine russische Angelegenheiten, uud 1 Saal gehört dein Königreich Polen und Oroßfürstenthum Lithailen. Das lithauische Archiu war früher nach Warschan gebracht und wanderte 1794 mit dem polnischen nach Moskau, als Suwarow die polnische Hauptstadt eroberte. Einen wahren Schal; besitzt das Moskauer Archiu auch in seiner großen Bibliothek, die Ä>,<>('on Akten und Schriftstücken, die der Aufbeivahrunss werlh, aus den Neqistratnren der Stellen und Behörden findet noch uicht statt, ebensoweniss aus Städten und Klöstern. Früder oder später wird es auch in Rußland ',ur Aüfhebnnq uon vielen nberflüsfisseu Klöstern koinmen: möge dann iiberall ein scl»arfes Auge in idre Wichcrtaumioru ciu-driuiicu! Ev köuntt' sich noch manche wcrtlivollo Nrtinld^ fiudon, Ti>^ ,^ostcu des >>anptarchi>> 'iU Äl'ookau belaufen sich für Beamte Kanzlei Hcizunii ,^al>sreparatur sannnt drin Aufwand zur lirhaltnuss der gwßcn Bibliothek auf 54,000 ^raucö, das sind also a^eu 4^>.000 Mark. Das Reichöarchm iu Vilinchen, an welchem ',ur Zeit 7 Beamte. <'» Accessiste)! (im Vorbereitiluqs-dieust für das höhere ^lrchivfach^ und 4 Funktionäre in der 5iau;lei beschäftigt sind, braucht aüe^ iu allem gerechnet jährlich jetzt 4<.',25i<» Alluk. Seine Avbeiteu freilich brfchränkcn sich uicht, wie bei dem Moskauer, auf den wissenschaftlichen dienst, sondern bestehen außer der Leitung von acht unter sseorduetcu ProviuMlm'chwen hanptsääilich iu Forschlincien und Anlachten im ^utereüe von Staats' und Rechtsgeschäften. ^ohl aber möchte man dem historifcheu Hauptarchiv zu Montan inehr Mittel wünschen, M war im Hinblick nuf ähnliche Anstalten in den beide» russischen .^aupt^ Unoteu der Meinuug, die Mittel flössen reichlich, uud mau tranche nnr u> unnken, um neue Benmtenstcllen ^ut dotnt 'ili bekommen, bin aber eines Andern belehrt worden, ^luch in Rußland wird die Laufbahn in andern Aemtern, lowie bei Banken und (5ii>,ibahnen de» „undankbaren und trockenen Archivarbeiten" vorcn^cMN, und die dem Archive zugeordnete Commission '>»r Hewnsssabe der Ilrlünde» nnd Berträqe hat die Kosten ihrer Editionen mit den Ü'0,000 Ru-bclu bestrittcu, die ihr Nnmian,^on's Großherzigkeit ;nm Ge-'cheuk inachtc. Seitdent hat diese Kommission kein anderes 174 Vintounuen, als luas der Verkauf ihrer Druckschriften abwirfl. Dies war vor sieben Iahreu laum der Nebe werth und beträgt jetzt, Tank der Betriebsamkeit der Beamten, zwischen I^oo nno Ä)i,l, Rubel jährlich. Turch Neuban aber und Ausstattung ihres .vauptarchivs für Geschichte hat die russische Regierung dein ^ande unberechenbar genülzt nud insbesondere der Vaterlandsliebe einen mächtigen Antrieb (Mebcn. Äiöge dies leuchtende Beispiel im fernen Mostan ein Ansporn für Regierungen sein, die noch inuner säumen, die schriftlichen Zeugen und Quellen der Landevgeschichtc aus alten feuchten halbdnnkeln Oewölbeu heraus Zn ziehen.'- Ich meine aber damit nicht die bayerifchen Archive, denn diese sind — Dnnk der königlichen,hnld und der einsichtsvollen Fürsorge des uorgesel;ten Staatsministerimus — nunmehr fast gänzlich aus trüben Zuständen erlost, XIX. TlMgkeit auf histonschru Gol'ictcn. 5'2. Arnluth an nlton Urtunden. Fragt mm Ieinand in Rußland nach dm ältesten Archi-ualien, so setzt er gleich voraus, daß die Archive weder so alte noch so viele Schriftstücke alls dem Mittelalter besitzen, wie, die Länder germanischer oder gar romanischer Zunge. Der archi-valische Stoff ist ja nur eine Ablagernilg lwn k»t!i>rgeschicht' lichen fortschritten; je länger ein Land darin ,^nrüc!gebliel'en, uui so weniger Nrtunden und iodizes. Das weit verbreitete Russeuvolk aber ist der Spätling nuter deu Kulturvölkern, es Weypte deßhalb noch keine Menge von alihistorischeu Schrift-rollen und Pergamenten in die neuere ^eit hinüber. Weich-^^)l, so l^^- ,i,io dürftig, wie seine archwalischen Schreine au ^ukmälevn der friiherell Iahrhuuderte wirtlich siud, inöchte inau si,,' schwerlich sich anderswo uorstellen. Man erwartet ein paar schriftliche Zeugen des Walten? der christlich gewordenen Waräger in iUew. sodann der Streitigkeiten nnd Verträge der Theilfnrsteu zn finden, — so ant wie nichts ist überliefert. Im Jahr 1240 ucrbrmnttcu die Mogolen .Mcw nnd 1380 Moskau; zahllose Klöster, die Ennnuelpunkte uon literarisch Gebildeten, sanken in Asche; nnd die ianuneruolle Mogolcn-Herrschaft danerte dritthalb Jahrhunderte bis in das letzte drittel des fiwf'^hnten Jahrhunderts hinein. Allein ans jener 176 Zeit der Trübsal sollte wenigstens etwas gerettet sein, wie z. N. in Teutschland geschah, das doch auch nnter den Vcr-heerungsziigen der Noriuannen nnd Magyaren iui nennten nnd zehnten Jahrhundert schrecklich sselitten, und später im dreißigjährigen Kriege ein so gründliches Ausbrennen erduldet hat, wie kein anderes europäisches Land. Die Mogolenheere durchzogen anch nicht das ganze Rußland, nnd daß die Tcnd^ boten des Khans der Goldenen Horde ihre besondere Lust daran gehabt hätten, den Russen überall ihre Archive zu zer° stören, davon ist kaum etwas bekannt geworden, (5s ivaren eben keine gefüllten Archive da. Andernfalls wären die be deutcndsten Urkunden wahrscheinlich ebenso der ^erstürnng cnt^ gangen, als die Handschristen aus dem Enoo des 13. Jahr Hunderts über das alte rnssische Gewohnheitsrecht, die Rnßkaja Prawda, als das Pnterikon des Tusdaler Bischofs Simons, der zwei Jahre nach der Unglnckssch lacht an der Kalcha starb, oder die Chronik Nestors nnd die lange Reihe anderer Chroniken, nnd die Werke der kirchlichen Schriftsteller Theodosins Vilarion, Cyrill von Turow, des Metropoliten Cyprian nnd Anderer, das herrliche Gedicht von Igor's Ticgeszug gegen die Polom;er, die Sagen von Wladimir nnd seinem Hcldcntrcis und andere alte Volksdichtungen. Wärmn solche Schriftdenkmäler gerettet wurden, dagegen, wenn sie vorhanden, so außerordentlich wenig Urknndcn, bleibt ein Räthsel, sell's! wenn man annehmen wollte, die Großfürsten hätten die Urtnnden blos; auf ihren Tchlössern lind Höfen gehabt, nud gerade diese seien uon den Mogolcn querst zerstört. Auch nach der Mogolcnzeit, von der Regierung Iwan Wnssiljewitsch des Großen an, wo Urkunden nnd Vücher zahl' reicher werdeil, schaffte man verhältnißmäßig sehr wenig in den russischen Kanzleien. Tie Rnssen gaben sich nicht gern mit Schreiben ab. Wie es scheint, hinderten sie in früheren Zeiten Gründe daran, die meist denen ähnlich, welchen es znzuschrciben, 177 daß die weiter ösllich wohnenden Völkerschaften archivloö blieben, ^esctzgebllngsausschnsse hatten wenig oder nichte zn thnn, nnd Reichs-- oder Provinzialstäude durften sich selten mit schritt lichen Propositioncn denl throne nahell, die Verwaltnng aber inachte ihre Geschäfte ab von tinker ,<>and. Kit. Quellenwerke. So konnte mnn denn in der prächtigen „Sammlnng von Etaats-Urtnnden nnd Verträgen" kein einziges Dokument bringen, das nur bis zn»l Anfang des dreizehnten Iahrhnilderts hinauf reichte, während Deutschland so zahlreiche Urknnden von 5larl dein Kroßen an, nnd ^rnnkreich schon aui' der ersten Mero-winger Zeit besitzt, das Archiv n< Niga aber von 11',»,"> an die Verträge von nordrossischen Ttädteu nnd Großfürsten uiit „den, gemeinen Kanfnianu" ans Gothland, mit den liefländischen Etädteu und Bischöfen sonne dem Ordensmcister euthält.') Fiir ^U' ganze Zeit uor dein dreizehnten Jahrhundert ist die russische bieschichtZfoMlma, fast nnr auf Chroniken von ^lönchen, auf -^efte des alten Volksrechts, nnd auf alte epische Dichtungen nngewiesen. Nrknnden, die als ragende Meilensteine nnd Richt punkte im öans der ^rzählnng steheil sollten von Jahrzehnt zn Iahrzehut, fehlen. Allch hatte man, als der erste Annd jcncs russischen Nionlinienteniverks im Jahre 18^i rasch an's Licht lollte, keinen andern geordneten nnd folgerichtigen Nrknndeu-Schatz, als welchen eiusl ^tou'gorod, die Ttadt der deutschen Hanse, hatte Hergebell nnissen. Die Nowgorodev Urkunden von I2li5 bis 147! machten also den Ansang, nnd darauf folgten Verträge nnd kirchliche Angelegenheiten, Urkunden nber Schentnngcn der Großfürsten nnd Zaren bis znr Wahlnrkunde des jnngen Romanow !<>>:'>. ^iir den zweiten Band, der sechs Inhre später erschien, hatte man sich alle Mühe gegeben, er- J) Niipicrsky nussisch-lieflüniliscl".- l'i-kiuidi'ii, l'clcrsliui'g löüö. v, LüHcr, Richwid, 12 178 gänzenoe Urkunden herbei zu schaffen, allein die älteste war nicht älter als 1229, und für die folgenden zweilnmdert Jahre ließen fich überhaupt nnr !7 Ttaats-Urkllndcn entdecken, ^ lnau denke, in jener Zeit der zweiten Hälfte des Mittelalters, iuo bei uns jedes ^and und Kloster, jede Stadt und Zunft, jeder Nittcrkantou und jcde Stiftinig fort und fort eiu Pergament zunl andern lebten. Auch die gmne Zeit von 14^2 bis K,>2, also fast wieder zweihundert Jahre, ist iu dem Monumenten-werke nur durch 180 Urkunden vertreten, während, auffallend genug, die folgcuden drei Jahre des Interregnums allein beinahe 1<><» ausweisen. Die zwei folgenden Vände bringen es an Ur^ künden uud Erlassen, welche die inucre Geschichte Nußlands von K',I^ bis li'.W betreffen, nilr auf etwas über vierhundert Stück. Dieses Urkundemuerk gab eine Commission bei dem Reichs-archiu iu Moskau hernlls. Auregnng uud Autrieb kam aber vom Grafen Nmnjanzow, der bis zum Krica. mit Napoleou oberster Minister war und sodann sein Vermögen wie seiuc Thätigkeit der Unterstützung der Wissenschafteu widmete. Noch früher, als der uugcduloigc Neichsfreiherr uom uud zum Etein, der 1812 iu Petersburg erfolgreich zum Kriege schürte, an sein großes Vorhaben, die Älonumentn. siermlmiuo, denken durfle, hatte Numjanzow deu Trilnnph, daß 181! Kaiser Alexander 1. jene historische Kommissiou grnudcte uud daß bereits 1813 der erste Vand des russischen Urkuudeuwcrkcs die Presse verließ. Erst füuf Jahre später tonnte Ttcin seinen herrlichen Plau deutschen Geschichtsforschern mittheileu, und erst 1820 erschieu der erste Band der deutschen Mouumeute. Auch Rnmjau-zow hatte freudig feinen Theil dazu beigetragen. Dieser begeisterte Mauu aber rnhtc nicht, bis durch die Auregnugen uud reichcu Geldnüttel, die er der historischen Kommission bei dem Rcichsarchiu machte, noch andere vierzehn Quellenschriften gedruckt waren. 179 Um bei dein betrübenden Mangel au alten Urkunden nnd solchen Handschriften, die für die Geschichte des Landed nnd seines Rechts ergiebig, den verborgenen anf die Spur zll toiumeu, wnrde von der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften eine förmliche Spedition ausgerüstet, mit deui Aliftrage, das ganze westliche nnd mittlere Rnßlaud zu bereisen nnd die Archiv- nnd Vücherkammern der Kloster, Kathedralen und RegierungZämter zu durchstöbern. Ten Plan dazn hatte der ucrdicnte Archäolog Etrojeiv schon sechs Jahre früher entworfen, nnd die Ausführung betrieben. Im Jahre 1>^',> begab er sich an der Spitze der Expedition, mit den nöthigen Mitteln ausgerüstet, anf die (5mdcckunMährt. Man faßte vorzugsweise die nord- und südwestlichen LandcZtheilc ins Auge, in de»le»t Berührung mit europäischen Völkern Statt geflniden: daß im eigentlichen Grosi-rnßland, die Iliugebnng Moskaus ausgenommen, wenig zu holen sei, wußte man vornherein. Strojew und sein Gehülfe Aercdnikow thaten ihr Meiftes ilnd ihr Aestes, das Gesammelte aber entsprach nicht den bescheidenstell vosfnnngcn. Nach der Nücktehr wnrdc planmäßig die Durchforschung der großen Staatsarchive vorgenommen, anch hier blieb das (5'rgcbniß weit unter den lebhaften Wünschen. Viel, jedoch wenig Altes Ueß Üch finden. Nun wurde eine archäographische Kommission gebildet, welche vom Jahr I,-v>l'. eine lauge Reihe von Bänden herausgab. Schriftstücke, die älter als 1294, gab es nicht zu veröffentlichen, überhanpt an wichtigeren Urkunden für die ganze Zeit bis znm l5uoe des fünfzehnten Iahrhnndert nur 14 Urkunden, und diefe nur Verträge mit Riga, Nowgorod und Poloez. Um so bedeutender waren die zahlreichen Chroniken und Rechtsdenkmale, letztere unter Kalatschows Redaktion. Seitdem entstand eine solche Menge verdienstlicher Unter-uehnumgen für historische Publikationen, das; leicht zn erkennen, wie rüstig die rnssischen Archive benutzt werden. 12' 180 84. Archivschulc. Finer Anstalt aber müssen wir noch gedenken, weil ihre Gründung als ein leuchtendes Beispiel dasteht, das ist das Archäologische Institut in Petersburg. Es ist dies im Wesentlichen eine Archivschulc, ähnlich wie die Urkundeuschule in Paris nnd das Institut für österreichische Geschichtsforschung in Wien. Seine Idee wie seine Verwirklichung gehört dein Senator Kalatschow an, der ohne Frage weit aus der bedeutendste ans dem (Gebiete der russischen Staats' und Rcchtsgeschichte. Er schlug der Regienmg uor, er wolle das Institut gründen nnd die ersten vier Jahre lang von freiwilligen Beiträgen unterhalten. Die kühne Berufung an die Liebe des Vaterlands nnd der Wissenschaft gelang. Eilf „Ehrenmitglieder" des Instituts erklärten sich bereit, jährlich 500 Rubel zu zahlen. Einige leisteten sofort Beiträge von A000 bis 12000 Rubel. Tas Institut ist im Januar 1«77 eröffnet. Als „Hörer" werden nnr diejenigen anfgcnommen, die eine Uuivcrsitüts-Fakultät oder gleichstehende Hochschule beendigt haben. Mit Erlaubniß des Direktors können auch Andere als freie Zuhörer theilnehinen, diese müssen jedoch, während die Hörer von allem Honorar befreit sind, für jedes Kolleg U) Rubel oder sür alle zusammen 20 Rubel jährlich zahlen. Der Kursus dauert zwei Jahre uud nmfaslt ausier der Archiukunde, Paläographie, Chronologie, Genealogie, alte Geographie, Sfragistit, Heraldik, Numismatik, sodann die Alterthümer der ktultnr überhaupt nnd des Rechts und der Kirche insbesondere. Diese letztere Wissenschaft ist am vollständigsten vertreten, nämlich durch ktalatschow den Gründer und Direktor des Instilnts, nnd den Universitätsprofessor Iwan Ehinowitsch Andrcjewski, dessen Vorträge namentlich die russischen Polizei- nud Gemeinde-Einrichtnngen in den beiden vorigen Jahrhunderten erklären. Das Fach der Kirchenaltcr- l<, Jahrhunderts zeigen. Der Inhalt besteht alls interessanten Forschungen auf dem Gebiete der russischen Rechts-Kirchcu-Münz und Cultur' geschichte überhaupt, sowie ber Archiutnnde insbesondere, nut Abbildungen von Archiv- und Bibliothekeinrichtnugen, von Schädeln und Gerathen, die iu den ^miauen gefunden wurden, Facsimiles von Stücken der Nloscheuic und dergleichen. Der zweite uud dritte Band brachte anch »lein obengcdachtcs Alemoire über die bayerischeu Archive. Die Anzahl der Zuhörer erreichte bereits die Zahl von dreißig. Gemäß einer Aenderung, welche in den Tatzungen M Allfang vorigeil Jahres vorgenommen wnrde, sind von Denen, die mit Erfolg das Institut abfolvirtcn, unter den Hörern drei Zu ivil'llicheu Mitgliederu, unter deu freien Hörern drei zu Mitarbeitern ernannt. Dicjeiligcn, welche durch sclbstständige Arbeiten ihve wissenschaftliche Fähigkeit bewiesen, erhielten ein Stipendium von drei bis sechshundert Nubel, Möge nnn diese vortreffliche Archiuschulc, die in fo hoch^ herziger Neise zu Ttande getonnilen, fortblühen und dein Archivwesen wie der Geschichtsforschung ill Nußland noch reiche Früchte briugeu. ^5. Urkunden zum Scheine. 3tur eine gründliche Tchulung iu der <5rton,lwis; und ') Sbornik ArcheoloKitsclicskaho Institulu, Petersburg 1878—1880. 182 Anwendung archivalischer Schriften kann dazu befähigen, Lücken in der russischen Geschichte anzufüllen und Irrthümer zu zerstören. Es wurde oben die Armnth au alten llrkunden beklagt, sür die neuere Zeit heftete sich den russischen Archiven ein anderes Unglück an, über welches hier wörtlich Vodcnstedt^) reden möge. „Nun hat es aber mit der Quellenkritik in Rußland eine eigene Bewandtnis;. Die dortigen Archive enthalten ein (bc« sonders für das 17. nnd 13. Iahrhnndert) sehr reiches Material, dessen Acchthcit uon denjenigen wissenschaftlichen Forschern, welche bloß aus Archiven schöpfen, gar nicht angezweifelt werden kann, nnd das demnach als (wundläge zu gcschicht lichen Tarstellungen benutzt wurde, welche ganz den Anforder-nngen der strengen historischen Methode entsprachen, aber dessenungeachtet — nachweisbar falsch sind. <5in paar Worte werden genügen, diesen scheinbaren Widerspruch zn lösen. Tie epochemachenden Herrscher aus dem Hause Romanow, Peter I. und Katharina II., suchten bei ihrem Bestreben, Rußland nach Vnropa vorzuschieben, den weitreichenden und energischen Anknüpfungen der auswärtigen Politik einen festen Halt n,i Innern dadnrch zn geben, das; sie das ganze Reich mit europäischen Formen übcrtleideten und znr Förderung ihrer Plane eine Menge intelligenter Allsländer für den russischen Dienst gewannen. Allein so wenig Peter es durchsetzen konnte, daß seine Russen sich den Bart abschnitten, wie haarstränlieud nuch die Strafen waren, die er auf Nichtbcfolguug seiucr Vefehle setzte, so wenig gelang es ihm nnd seinen Nachfolgern, deutfches Recht und Oesetz in Rußland heimisch zn machen, obgleich dies das unablässige Ziel ihrer Bestrebnnqen war. Die Archive >) Russische ssraqinente, Beiträge zur ,Nennäh nud energisch in der Durch-führuug ihrer Entwürfe — zulegt beschloß, sechshllndert neue Städte z» grünoeu, d, h. einer entsprechenden Anzahl uon Flecken nnd Dörfern Stadtrechte llnd besondere Privilegien zil verleihen, linter der Bedingung, daß Alles nach den von ihr selbst abgearbeiteten sogenannten „^rganisationen" gestaltet u)ürde. In jeder der neueu Städte sollten das „Nathbaus" und die andern den Russen fremdartigen Amtsgebände auf Kosten der .^ronc errichtet werden i anßerdeiu wurden verlockende ^esoldnttgeu für den „Pürgernieister" und seine Amtsgenossen nnsg»worsen^ knr;, nichts unterblieb, deu Leuten die Sache annehmbar zn ulachen, und wieviel auch von deu ungeheuern, sür deu ^weck bestimulteu Snulmen in dcn vänden der Peters b»rger Würdenträger hängen blieb: in eiuer großen Anzahl dor auf kaiserlichen Befehl in Städte umgewandelten Flecken und Dörfer kam wirklich ein Nathhans ^n Stande. Allein in neuester Zeil hat sich herausgestellt, daß kcins dieser Nathhänser lemals zn dem gewünschten Zwecke beilul^t ivnrde, während di^ Kaiserin des seligeu Glaubens starb, sechshuudert Äiusterftädte geschaffen zil habeu. Dies uilr ein Beifpiel statt vieler, wie U'cnig die schriftlichen Zeiger in deu russischen Archiven auf wlrklich dahinter befindliche zuverlässige Uhrwerke schließen lassen." — rollte aber wirklich Einer, der unr ein wenig in der nrneren 184 Geschichte Rußlands bewandert ist, sich durch die iu den Archiven niedergelegten sechshlllwert Protokolle über die „Ttädte-Erösf-nungcu" ebenso täuschen lassen, wie die Kaiserin, selbst dlirck) die hübsch angcstricheueu Vretterivände, die ihr Licbliug und Befehlshaber ihr in der 5trim vor Augen stellte? Iu Rltsiland weiß ja Jedermann, wie hänfig sich, was in Schriften steht, uou dein unterscheidet, was ans dein Boden steht. 5s ein Aiuster gelten von riesissem ^leis; lino ^amiucln, von ^oist inld Tcharfsinn >>n Forschen, von Geschmack uud Talent in Tarstellnng. Verliessen aber wollen wir auch nicht, daß ',wei Deutsche e^ waren, welche der russischen Geschichtsforschnnss Ulerst das Lickü aufsteckten. Zchlö^er <177i.') begründete die historische Kritik, nnd ^vcrs (18^7) wnrdc der Vater der russischen Staatö- und Rcchtsgeschichte. Auf ihren Wegen Mngen die Besten in Rußlaud weiter, nnter Diesen anä) die vu'len andern Teutschen, die Bedeutendes für russische Ge-Ichichte leisteten, augesaugen uon Rilodeui Tellius, ,schi!.iald verivandelt. 85. Armuth drr Landschaft. Wie uieuig ist es doch, >vas auf so vielen weiten Strecken w ^nsnand die Menschen dem Voden aufgedriickt. Teu Wald habeu si» verwüstet, über den Anger leichte Eaatfurchcn gc-"l'geu, armselige Baucrnhütteu uud eiuige leicht gebauete Hm'euhäuser hingesetzt. Was u>eiter? Äuf der gangen Breite 'wlschen Petersburg nnd Odessa steht ailßer dein Meiul kein Moßcs Vaudeutmal, ziehu keiue Nuuststraßcn, sieht mau keiue stattlichen Brücken. Im Norden einige Verbinduugotanälo ^'"Aicu deu Flüssen, ini Süden Liuien von räthselhafteu Erd^ 158 Hügel,i, die den Weg uubekannter Völkerschaften bezeichnen, — dürfeil solche Denkmäler deu Vergleich aufnehmen mit denen, welche Merikaner und Peruauer nnd selbst die Tataren in der Krim hinterließen? Daß übrigens die Russen des Mittelalters keine Prachtbauten aufrichteten, ist der ^luust wegen nicht '>u bedauern, tannl der Kunstgeschichte n'egeu. Tie hätten vonugsweife ein cthuogrnphisches Interesse. Das Wenige, was nur bisher an altnationalem Kunstwerk in Nnßland anfgestoßen, besonders in Kirchen nnd Büchern, wies offenbar anf fernen lnMntnnschcn llrsprnng zllrück, war gewöhnlich aber beinahe cbeuso viel mehr verschlechtert, nlo die Byzantiuer selbst die edle siricchische Knust verschlechtert haben. (5s ^>rwocktc nur noch eine dnnkle Idee von Schönheit, etwa wie bei einer alten Tame sich in den verwitterten und verknöcherten Zügen noch Tpuren der ent schwnndencn Jugend finden. Wir kamen bald darauf über einen schönen breiten Flus>, den Wolchow, dessen Gewässer freilich auch keine rechte Etrmn-unc; hatte. Väche nnd Fliisse '>iehn in Nusiland gewöhnlich iln'e stille dunkle Wnsserfäden dahin, eitl wenig schmäler oder ein wenig breiter -^ das ist der gan'ie Unterschied. Ich erinnere mich, wie eine junge Russin, die geraden Wegs nach München gekommen, in jubelndes Entzücken ausbrach, als wir an die bcrglnstige Isar kamen. So rasch strömendes, hell blinkendes, plätscherndes Wasser hatte sie niemals gesehen, sie tonnte sich von dem Anblicke nicht losreißen. k!>. Petersburgs Verhältniß 5« Moöla». Der Wolchow trng schon in früher ^eit die Lastschiffc von Nowgorod, der einzigen großrussischen Ltadt, die eine Jahr-tansend alte uud dazu höchst anziehende Weschi6)te hat. Die Nüssen neunen Nowgorod den Vater nnd Kiew die Mutter ihrer 3tädtc. Da aber die linder längst der Elterinmht ent 189 wachsen sind, so erfand das Volk für die beiden mächtigsten Städte der späteren <^eit ein glückliches Schlagwort: Moskau heißt das Herz Rußlands nnd Petersburg das Haupt, oder auch: Petersburg ist die Krippe und Moskan das Futter — l'Nür 1<.»ri>,i1il, iVIol^i-n-a Icoriu. Diese Sprichwörter, friiher >" treffend, passen ini letzten Vierteljahrhnndert nicht inchr l'innz. Petersbnrg regiert nnd Moskan herrscht — würde jetzt nichtiger sein. In einer Zeit, wo der kräftigste Antrieb in VülkergestaltnnssM das nationale Bewußtsein ist, tonnte es auch in Rußland nicht anders sein. Ein nnseliges Verhängnis; wäre es aber, wenn die nationale Begeisterung, die besonders w Montan einheimisch, statt zu raschen Fortschritten erst auf ^nge und verwickelte Abwege führen sollte. Je näher wir Petersburg kamen, desto zahlreicher wurden M'sche Holzhäuser mitten in dem elenden Waldgestrüpp, das ^t und breit die Ebenen bedeckte, desto häufigcr anch die ihnzüge, die zwischen den beiden Hauptstädten verkehren, ^us Kursbuch giebt beinahe für jede zweite Stunde einen an, ^ bemerkte aber noch Tonderzügc. Brächten diese Züge be-sandig die Befehle und Befehlshaber uon 3)loskau nach Peters-'"^, i<». Vernlcich mit andern Städten. Petersburg besteht aber aus langweiligen schnurgeraden Straßen, uud wenn diese Stadt sich der größten Ansammlnnss von Palästen und Wohnungstaserncn rühmen taun, so gehört zu der räumlichen Ausdehnung doch noch etwas hinzu, um schön oder auch nnr eigenthümlich zn sein. Breit, uackt uud absichtlich -- das ist Grnudcharakter. Tic Kaufläden au den Hauptstraßen können sich mit der glänzenden Prachtfülle der europäischen Großstädte auch uicht einmal vergleichen. An den Palästen crbMt mau hier uud dort Maurer auf deu Gerüsten 191 hängen: weil alles rasch fertig gcumcht ivird nnd das Klima für' des Menschen Handwerk feindselig bleibt, giebt es nnanfho'rlich Neparaturen. Die welngsten Straßen haben einen Hintergrund, In den rMschen Städten blickt >uan, wie iu dcnnordameritanischeu, in'Z Leere oder in'Z Nlane. Wer aber von Deutschland kommt, wird an dcu russischen 5luppelkircheu und an der nußerordcut lichen ^ahl edler Rosse uud glänzender Geschirre ,n> be>vnndern haben. Herrlich aber, cine wogende wellige Prnclit ist der breite Newa-Strom. Unser Welttheil hat nickte wa? sich daunt vcr-ssleichcn ließe, als wenn man in seiuem Astende von Peters^ blira uüt dem Finger auf der Landkarte iu gerader Linie nasi dem Süden fährt. Da ist auch solch ein Stadtgcwässer, aber uoch mächtiger nud vor allein landschaftlich viel schöner. Während in der schiunuerndeu strömenden Fluth des Bosporus slch grünende Anhöhen spiegeln nnd Felogestein nnd Nlalerische Kioske, zeigt die Newa an ihren Usern btosi einförmige Paläste und niedriges Orün platter Gärten und Haine, Auch hat ihr Gewässer, so rein ev ist, ^ denn alle erdigen Bestandtheile swd im Onegasee zu Bodeu gesunken, -^ doch nicht entfernt "as grünblau oder grnugraue Spiegelnde uusorer Flüsse, wenn Ue aus den Alpenseclt tommen. Auch die Donau bei Pest sonne ^lbe ^Ivhein Tchelde nnd Themse nahe bei ihrer Meenuüudnng aebeu schönere nnd lebhaftere Stadt uud Flnsibilder, als die Newa. Diese aber behält den Vor.u>ss der breit, rasch nnd gewaltig dahinströmenden Flnthen. Ain ersten möchte ich diesen Anblick dem Hudson bei New-York vergleichen. Merkwürdig "ber war mir folgendes. während dort und bei anderen amerikanischen Flüssen uud "Nien, welche Großstädte bcuetzen, das Gewässer, auch wo man ^ nicht sieht, noch in Thnn lind Denken der Menschen hinein-^gt, ist der Petersburger Strom mit seiueu weuigen Teeschisfeu gleich vergessen, sobald man sich iu die einförmigeu Straften 192 verliert, die ihn umgeben. Nur das Neiv>uoasser folql überall hm, denn es ist das einzige, das sich trinken läßt, ^ ciu häßlicher Gedallke, daß alle Brunnen in einer so weithin bevölkerten Stadt kein anderes Wasser liefern, als cine Art schwärzlichen Moorwassers, das teiil Mensch trinken kann. Man hört gemeiniglich: Petersbnrg habe nnt seinen Palast-reihen nlld Granitgängell aui Flusse, was die Mrze der Ent stchungszeit betrifft, nicht seinesgleichen auf der Welt. Das ist entschieden unrichtig. Mehrere amerikanische Städte sind in i.nel kürzerer Zeit zu Pracht nnd Größe aufgeblüht. Freilich, so viel Geld und Anstrengungen es sich auch Yankees nnd spanische Kreolen kosten lassen, die Grazien wenden ihnen spöttisch den Nucken, während man ill Petersburg eine ganze Reihe von würdigen Standbildern in Erz lind TrinmphboaM und Kirchen sieht, die nichts weniger, als amerikanische Nngethüme. Verfehlt find, anßer dem hoch in der Luft galoppircndcn Kaiser Nikolaus ans schmalem Untersatz, wohl nur die beiden Thnrmsäulcn, die von mächtigen Schiffsschnäbeln nmnngt ror einem großen griechischen Teulpel steheil, dessen Inneres die Börse ist. Unwillkürlich denkt man darüber nach, in welcher Vergangenheit oder ^,ukunft wohl die großen russischen See-schlachten liegen, zn deren Feier diese Sänlemmgethnme hier, emporragen? Sie sind doch zu großartig, nm bloß die kleinen Seeschiffe zn begrüßen, die sich ans den Newa-Wellen schaukeln. Der Spätherbst, glaube ich, ist wohl die am wenigsten passende Zeit für Pctcrsbnrg.' man muß das nordifche Paris oder Berlin — mit beiden ist etwas Aehnlichkeit vorhanden — entweder im Winter sehen, wo alles glänzt von Eis und Schnee, oder in der grünen Umkränzung des ersten Frühlings. Zn Ende des Spätherbstes aber steckt ganz Petersburg in einem blcigmuen, bleischweren Dunstkreis. Londoner Nebel ist dick, ____193____ qualmig und düster, um Mittag sind uoch Ker>eu uud Lampen nöthig: die St. Petersburger Luft war frei von Nebel, man tonnte ziemlich weit scheu, aber das Licht war kalt und schattenhaft, etwas eigenthümlich Bleiches darin. 91. Kuustgcnnsse. Wiederholt trat ich in die Isaatskirche ein und erfreute mich an ihren edlen nnd erhabenen Hallen, insbesondere au dem großen Münchener Glasgemälde des Christus-Riesen, der ernst und sclwn gewaltig daherschant. Auch in anderen kirch-lichen Ocmäloen zeigt sich, nngleich öfter als in Moskau, einfacher Linicnfluß, Adel, uud eine ssewisse religiöse Wärme. Wie mir gesagt wurde, hat das Beispiel deutscher Maler, insbesondere anch unseres Lndwiss Thiersch, wohlthätig eingewirkt, uni die byzantinische Starrheit zu lösen, ohne das Weihevolle 5U verflüchtigen. Schade, das; das Innere der Isaakstirche durch viel zu massenhafte schwere Pfeiler unterbrochen und düster wird, nud daß außen anf der breiten Plattform des Daches zu Seiten der majestätischen Knppel vier ttlocken» thürmchen aufgesetzt sino, die gar zn sehr au Bernini's Eselsohren auf dein römischen Pautheou eriuueru. Uedrigcns hätte ^er Pabst, als er seiue Peterskirche bauete, die gauze Christeu-'heit uoch viel mehr besteueru kouuen, soviel Pracht an Malachit und Lnpislaouli, wie uiau sie in der Isaakstirche sieht, hätte er doch nicht zu Staude gebracht. Die ciublo'ckigcu Grauit-läulen aber, welche diese Kirche schmückeu, finden ihr Gcgenbild nur iin alten Nom. Der Fürst, der diese Säulen setzen und die uoch viel Mualtigere Ale^audersäule aufrichten nud ocu stolzeu Neva-Urom dnrch die prächtige Steindrucke eiujocheu ließ, hatte doch wohl etwas uou römischer Imperatoreugröße. Wer möchte ihm auch hohen Muth uud cheruen Willen, wie eine prachtvolle Gestalt absprechen! Aber ist die Welt, oder ist nur das eigene 194 Volk mn einen einzigen Gedanken durch Baiser Nikolaus bereichert^ Nichts der Art :veiß inan von ihm. Doch ja, den Gedanken gab er Rußland, daß es alle Welt besiege, und an der Falschheit dieses Gedankens mußte der Stolze selber sterben. Tie ungeheure Länge nud Höhe des Winterpalastes ist mit einer brannrothen Wasserfarbe angestrichen: man fragt sich verwundert, ob hier der Geschmack irgend eines Gerbers maßgebend gewesen? Ich machte, daß ich an dieser langweiligen Schloßmajestät vorbeikam nnd im Mnsenm der Eremitage anfathmete. Dieser Einsiedlcrnamr des Palastes rührt von Katharina her: die schöne lebenslnstige Fürstin wollte die Welt glauben machen, ihrer Seele sei wohl in stiller Einsamkeit ohne Grenadiere, nnd Kammerkätzchen, ja ohne einen holden Freund. Die Säle dieses schönsten nnd reichsten aller Museen sind hell, höchst behaglich eingerichtet, und waren wohl durchwärmt. Sie sind angefüllt mit den schönsten Vasen und Ilrnen und antike« Gemmen, und vom allerkostbarsten Gefäß nnd Geräth jeder Form nnd Art ist eine solche Menge, daß man ein paar Königreiche damit ausstatten könnte und bliebe noch genug übrig. An den Wänden aber glänzen die edelsten Perlen der Malerkunst in nnabsehbarer Neihe. Mnrillos und Nnysdaels von so entzückender Schönheit sieht man nnch in Madrid und Antwerpen nicht. Nicht ohne Wehmull) erkannte ich meine Lieblinge wieder, vor denen ich so oft mit erregtem Herzen gestanden, als ich in München stndirte. Iei;t waren sie in den kalten Norden verschlagen, wo sie, so wenige Frennde fanden, daß zu all den prnchluollen Sälen vier uolle Stnnden lang, anßer zwei oder drei K'opisteu und zwei Dutzend prächtig gekleideten Dienern, anch nicht ein einziger Besuch kam. Es waren aber jene Perlen vorzugsweise Leuchtenberg'scher Herkunft. In französischen Raubkriegen zusammengebracht, war die Gallerie erst nach München und von hier, als der junge Erbe sich mit einer rnssischeu Großfürstin vermählte, 195 nach Petersburg getmnmen. Ter arme Prinz! An dcr uiald> frischen Isar hatte er so lustige Tage gehabt, an der grauen Neira sollten ihn: keine Rosen blühen. Als er einst wieder nach München kain, eraof; sich sein Her; wohl eimnal in bitteren Magen, wie nian in Petersburg ewig in Iwang nnd Äianern lebe nltd alles Langeweile, dünste. An einein Un^ MckZtagc war er zll >)anse bei seiner (Nroßfürslin voin Cchunegevuater Nikolans betroffen nnd nicht in Uniform gewesen. Ter nnselige Mann hatte geglanbt, irgondivo dürfe cr ^ie Unifm,n doch ausziehen. Schwere Ungnade war die 7volge fo vermessenen Wahns. 1^ XXI. Uilckmsc. !>2. Ncne Lnudschnft. Mit etwas traurigem Herben uerließ ich Petersburg. Wessen Klirze der Zeit hatte ich nicht gewagt, dort von meinen alten Bekannten anch nur einen zn besnchen, nnd es gab in Rnßland noch so viel Merkwürdiges zn sehen. Hätte ich dock wenigstens die Wolga erblickt, oder noch lieber — in dm un crmesilichcn Wald- nnd yaidestrichen jenseits des Urals, welche Wonne, dort mit Kirgisen IaMahrten zn niachcn, wie einst in schwärinender Intend mit den Indianern a>n oberen Missi-sippi! Doch halt, halt, ich bin nnn ein gesetzter Mann geworden nnd in Amt nnd Pflichten. Jenseits der Wolga laßt sich ja nicht mehr so gennn mit dem Hendschel nnd Kalender in der Hand znm voraus hereclmon, wann fnr jeden ^rt Tag und Stnnde der Anknnft, Rast nnd Abreise erfolgen soll, denn jenseit der Wolga geht die Eisenbahn nicht mehr weit. Nach zehn oder zwanzig Jahren erreicht sie wohl den ^aitat Tee, nnd nach noch hundert Jahren sind all' die nomadischen Völkerschaften jener Gegenden so abgerieben nnd zerrieben, dasl man sich schon in die sibirischen Tmidern vertiefen mnß, mn sich einmal am wilden Gegenbild nnserer Knltnr zn erlnstigen. Ich war am Abend ans Petersburg weggefahren, nnd wnrde angenehm überrascht, als anderen Morgens die Sonne 19? hell emporstieg und die Landschaft das Kahle und Traurige verloren hatte, das seit dem Eintritt in Rußland — nach kurzen Stellen glücklicheren Lebens — immer wieder erschien und nicht weichen wollte. Man sah noch uiele ärmliche Hütten, jedoch auch stattliche Gehöfte uud ragende Kirchthürme. Weite Flächen waren gleichmäßig beballt, das Zeichen großer Land« guter. An der Bahn zeigten sich hübsche WärterhäuZclM uud allerlei Anlagen, Das Schönste aber war die Menge von Seen: sie schimmerten, wohin man sah, reizend eingefaßt von Wald und Gebüsch. Tann überschritten wir die Düna, einen prächtigen Strom, der sein tiefes ruhiges Gewässer Riga zuführt, dem alteil Hort «nd Mittelpunkte deutschen Lebens, das von hier au5 streitbar und wohlbewußt eiue Tegeusfülle über diese Ostseelande ver breitete. Nei Wilna blieb ebeu >>eit, eine Anhöhe zu erklimmen uud einen Vliel z» erHaschen über die weitgedelmle graue Einförmigkeit der Poleustadt. Israel war immrlich geschäftig auf allen Änhnpnukten, zeigte aber nicht mehr die scharfen >6üge nnd das wohlhäbige Selbstgefühl der polnischen Juden in Galizien. Nei Kowno erfreute die malerische ^limlandschaft des Memel. Tiefen Gräuzsinß möchten die Nusseu uns gern ab grabeu, nus zllin größtcu Aerger nud Schadeu, wie sie meinen, f'ch zuni Vortheil, Konulll die Sache wirtlich in Zug, werden 1u' dafür Geld geuug aufn'enden müssen. Ob es aber feine Einsen trägt, das muß man doch erst erleben. ^m Mitternacht war ich bereits in Königsberg, wo des anderen ^ormittag^ der schiffsbelcbtc Pregel zwischen alterthümlichen Giebelspeichern, Kants höchst lebenswahres Erzbild von Nanch, und vor allem das Ordensarchip auf dem Schlosi "ne wahre Augenweide boten, An wohlgeordnetem Reichthum und verhälwiftmäßiger Vollftäudigteit ist dieses Archiv in '19« Königsberg einzig ill seiner Art: mas aber sein Gehäuse betrifft, ist das Tentschordensarchw in Wien dagegen ein köstlicher Tchnlnckkasten. Abends erging ich mich im schön behaglichen (Ming, nnb wie reich erfüllt ivar erst der folgende Tag! Am Vormittag an der weithin glänzenden Nogat das Marienburger Tcbloß, das alle stolze Pracht nnd Nomantik des dentschen Rittcrthnins vereinigt, am Nachmittag des dentschen VürgerthnmZ Knust' Herrlichkeit Macht nnd anmuthige Häuslichkeit in Tan^ig. Alle diese Ttädle haben bereits eine große Geschichte hinter sich, nnd stämmig nnd leben^frisch blühen sie in die Jahrhunderte hinein. In Königsberg aber erhebt sich eine voch-bnrg der dentschen Wissenschaft, nnd Tmnigs ^estllngswerke uinschlirsieu jetzt eine große kaiserliche ^lottenwerft. Noch ant Abend bestieg ich dort bei Fackellicht das eiserne Ungethnm des neuen schwimmenden Tocls. 93. (Gespräch im Vahuwagcn. Ehe n>ln dieser Ansflng nach Nnßland schließt, möchte ich noch eines politischen Kesprächs gedenken, des einigen, welches sich dort im Bahnwagen darbot. Als der <^uss in der Gegend des Pcipns^Tees in einem größeren Bahnhöfe anhielt nnd ich ans dem Wagen herans fragte, wo wir seien, tam jemand gefällig heran nud sagte: „Das ist Plestau." Ties hörte ein vornehmer Herr, der gerade einstieg und, während ich anf der Karte suchte, sich ',n mir setzend äußerte: „Pleskau steht da nicht, — Pskow, Pskow!" Anf meine ^rage: ob denn die Etadt einmal dentsch gewesen, da sie anch einen dcntschen Namen führe, antwortete er hitzig: „Pskow haben die Teutschen niemals gehabt nud werden es auch niemals bekommen!" — „Wie ist das?" fragte ich erstannt. — „O wir wissen gut genug, Ihr Bismarck will unsere Baltischen Provinzen nehmen. Aber nie wird das geschehen, ganz Nußland wird wie ein 199 Maim marschircn!" -^ Auf memo Versicherung: das; inan Deutschland auf und ab wandern kmme, ehe sich ein einziger Alensch sinde, der uon eiuent Angriff auf Rußland tränine, entwickelte sich ein politisches Gespräch, das bis Dünaburg andauerte. Nir Deutscheu, hieß es, seien die Undankbarkeit selbst; nur den Russen verdankten nur ^lsaß nnd Lothringen; sie allein hätten Oesterreich uor zehn Jahren zurückgehalten, gegelt, unö zn Felde zu ziehen. Ttatt iliuen nun im letzten Kriege welligsten^ uloralisch die Ttauge ,m haltell, hätten wir Oesterreich allen Vorschub geleistet. Rußlaud sei nnf das Tchmäh-lichstc überlistet und der gerechten Früchte seiner Tiege beraubt worden. Aber die Naehe n>erde schon koüuneu, es brauä>e nllr zu flöten, und die Franzosen spielten NNZ einen ^lriegönuirsch auf, wie nur ihn uoch uiäit gehört hätte», ganz Rußlaud werde wie eilt Maun gegeu ulls aufstehen, Italieu aber der Dritte im Vunde sein. „Und die Polen?" fragte ich. ^ ^Dereil sind wir gerade lcht ganz sicher, dafür hat ^hr ^ulturkauipf gesorgt. Auch die deutschen Katholiken thun Utcht mehr mit gegen Frankreich, und die Hunderttansende von Eozialisteu in Deutschland werden lieber Revolution machen." Das war nur deuu doch -,n arg, >vie dieser Fremde ans verrath in nnserer Glitte rechnete, lind ich konnte nicht umhin, 'lim scharf zu bemerken: die deutschen Katholiken feien oor "llm Diugen pslichttrelt gegen Gesetz und Obrigkeit, und liebten u)r Aaierland so warnt wie die Uebrigen; die Handvoll hirn-verbrnnnter Socialisten aber seien noch lange keine russischen Nihiliiteu, und loollten sie, wie er meine, den Mund aufthnn, wurden sie bald verstummen vor der allgemeinen Entrüstung. Mem Gegner aber rief: „Warten -ie nur, warten Tie nur! -^ ^esniten kommen fchon wieder auf »no stecken überall uulber, und bald wird in Frnulreich Republikaner und (5o,n. 300 mnuard ein Ting sein: dann wird schon kund werden, wie unterwühlt Ihr deutsches Reich ist." Es war vergebens, ihn zu überzeugen, wie lächerlich solche Meinungen seien. Ich war daher veranlaßt einzuwerfen: Ob man denn in St. Petersburg der Veinrnssen für immer sicher sei? Gerade bei den Donischen und Uralischen Kosaken habe der Raskol am weitesten nnd tiefsten Fuß gefaßt, und es sei für Oesterreich ein Leichtes, den Krieg dorthin zu spielen. Würden jene Länder einmal eine milde und gerechte deutsche Verwaltung kennen lernen, nnd wäre es anch nur anf cinc Zeit lang, so würde dies von nnverlöschlicher Wirknna, sein. Oesterreich habe ja anch im ganz verwilderten Bosnien in knrzer Zeit gute Vrfolgo ernelt. Sprachlos, geradezu entsetzt, hurte mein Nachbar zn. Tann fnhr er in die Höhe mit dem Ansruf: „Das ist schändlich, gottlos, an so etwas zu denken!" Mit linzoni lynche ging er fort, nnd ich konnte wohl merken, wie cr mühsam seinezornige Aufregung bekäuipfto. l>4. Ol> neue Völkerwanderung? Ich sah ihm mit dem Gedanken nach: ob es wohl jemals wahr werden könne, worauf er so häufig zurückkam, daß uämlich ganz Nußland wie ein Manu gegen nns marschiren werde. Wenn ein kricgsgewaltiger Zar seine Residenz und Re« giernng uach Moskau verlegte, wenn er die Petersburger Civilisation von sich würfe und ganz uach den Ioecn der Moskauer Nationalen lebte nnd herrschte, also die altrussischen Instinkte nnd Begehren aufrüttelte, diese allein zur Macht und Geltung brächte, gewiß, er würde eine ganz nugehenre Gewalt in die Hände bekommen, die er wie einen Ball hierher und dorthin schleudern köuntc. Allein, würde selbst ein solcher Zar wohl die achtzig bis neunzig Millionen in ^lus; und Schwung bringen? Schwerlich, schou au den großen Entfern- 201 ungen im Innern des Landes würden some Anstrengungen erlahmen, noch mehr an der Gewöhnung des Volkes. Dio Großrussen geben gewiß kriegsharte Soldaten ab, sie leisten das Beste in der Vertheidigung: gleichwohl wurden sie mit leichter Mühe bewältigt von Gothen, von Warägern, uou Mogolen, und zuletzt von den Petersburger Kaisern nach Willkür behandelt; niemals gingen sie, mit Ausnahme der Altgläubigen und der kleinrussischeu Landsleutc Pngatschews, aus ihrer stillen Torfgewöhnung heraus. Nussru sind eben keine Hunueu, weil edler ihre bitten und Tuchten. lind würde sich wirklich ciue Art ueuer Hnnneu-Verheenmq iemals heranwälzen, so leben wir nicht mehr in der ^eit der Völkerwanderung. Nicht das bloße llebergewicht der rohen Masse entscheidet mehr, sondern Vaterlandsliebe, Bildung, Kriegskunst, Jene Massenfluth würde die (5atalaunischen Felder wahrscheinlich schon au der Oder finden, wie einst die Mogolen bei Lieguitz, (5s starreu ja auch Deutschlands ostliche, Gebiete von sesten Ortschaften oder solcheu, die sich in Tchlesieu, der offensten Teile unserer b'ränzlime, leiclü befestigen lasscu. l>>». ,is« und Ornngru. Man mnf! selbst dnrcl» ^'uAnüd gereist, mau muß die trostlos leereu ^deuen, die vou einer Stadt zur anderen sich dehnen, selbst durchmessen haben, um deu ganzen Unterschied zwischen Ost lind Mittelenropa zn würdigen. C's ist ein Unterschied wie zwischen Obst- und Weingärten nnd nackter Haide mit einigen Kohlfeldern, zwischen behaglichen Wohnsitzen und elenden Yolz- nnd Lehmhütten, zwischen rührigen gebildeten ^'uten und armen gutherzigem Bauernuolk, das in seiner Dumpfheit unbeweglich dahin lebt. Mit einem Wort: so viel rin O.uadratfuß Bodcu iu einer lebensvollen Großstadt mehr kostet, als eiu Ackcrstüet bei eine,u stiüen entlegenen Torfe, so 202 hoch steht, im Großen und Ganzen betrachtet, mitteleuropäisches Land und Volt über russischem. Man ziehe einmal vom ganzen Gebiete Nußlauds ab, was unfruchtbarer Wald- oder Sumpf- oder Sandboden ist, der gar keinen oder nur den allerdürftigsten Anban znläßt, so wird der weite Naum gleich nm volle zivei Füllftel kleiner. Nun ziehe man anch diejenigen Striche ab, die wohl urbar zu machen wären, jedoch znr Zeit noch wüst liegen nud wohl noch lange Zeit anf Anbau warten müssen, so gehen wieder zwei Fünftel ab, und das ungeheure Gebiet schrumpft auf ein Fünftel znsammen, das wirtlich bewohnt nnd bebaut wird. Nechnel man darin alle Städte nnd Ortschaften zusammen, in denen wenigstens fünf fcstgemanerte Hänser sich befinden, nnd giebt das Zubehör von Acker- nnd Garteilfeld nnd mch-barem Wald und Anger hinzu, so stellt sich eine, Fläche herans, die sich kaum mit eine»: Viereck decken wird, welches entsteht, wenn man eine Linie zieht zwischen Amsterdam Rostock Nancy nnd Dresden. Um sich die rnssische Armnth vollends deutlich zn machen, so nehme man schließlich alles znsammen, was in diesem Viereck an Kirchen nnd Palästen, Schlössern nnd Landsitzen, Heil- nnd Bildungsanstalten aller Art, Fabriken nud Grosi-gewerbc sich befindet, nnd vergleiche damit die verbältnißmäsuge Leere in Rußland. Ich meiue damit teineswegs, daß sich die russischen Ebenen nicht in Zukunft mit lachenden Ansiedlungen bedecken werden: znr Zeit nnd noch anf lange hin ist es nicht der Fall. Wie aber, wenn man die Snmme nnd Mannigfaltigkeit des geistigen nnd politifchen Lebens in Vergleich bringt? Da würde jedes Stück von Ätittel-Enropa hochroth erscheinen nnd ganz Nusilano als eine weißgrane Fläche, besprenkelt mit mattrothen Punkten, die nach Westen häufiger nnd nach Osten immer seltener werden. 2s>3 Ueberhaupt hätten viele rilssische Herren, da sc>, wie ich ihn hier beschrieben, der HanptinhM ihres großen ^anv-Kiirbisses beschaffen, wohl allen Onmd, alls die so mcl kleineren enropiüschen Staaten init n'eniger Hochmuth herabzusehen. Denn sind diese anch dein großen Kürbiß gMuiiber nur klein wie Aepfel nud Oranssen, so ist ihr Inhalt doch ohne Vergleich schmackhafter zn genießen.