Janez Strehovec Die Form als Filter und Referenz Über flexible Formen und Funktionsveränderungen der neumedialen Kunst Die zentrale Hypothese dieses Textes ist, dass die Frage der Form (insbesondere in der Rolle der stilisierten Äusserlichkeit von Kunstwerken) ihre herausragende Stellung innerhalb der Kunsttheorie und Ästhetik der heutigen Kunst, insbesondere der neumedialen Kunst, verliert und dass andere Konzepte und Kategorien in den Vordergrund treten, die mit der heutigen Lage der Kunst und ihren neuen Funktionen und Interaktionen zusammenhängen. Wir treffen auf neue Paradigmen der Kunst wie Erforschungen der Nicht-nur-Kunst und der Kunst als Aktivismus, doch übernehmen die neuen Konzepte und theoretischen Verfahren, die der heutigen Kunstsituation entsprechen, in einigen Segmenten die Rolle der einstigen Form; der Titel dieses Textes „Form als Filter und Referenz" verweist daher auf neue Bereiche der Suche von Künstlern nach einer Definition der Spezifik der heutigen Kunst und einer Definition ihrer Unterschiede gegenüber den Technowissenschaften, der neuen Ökonomie und den neuen Formen des Politischen. Die Angst davor, dass alles Kunst wäre, das heisst, dass die Kunst sich völlig in andere Bereiche integrieren würde, begleitet die Anstrengung der modernen Künstler entweder in Richtung einer Derealisierung und Stilisierung oder einer ungewöhnlichen Positionierung von Sachen in bestimmten Beziehungsfeldern oder einer phantasievollen Partizipierung an der Institution der Kunst, ihrer Wertarchive und Sammlungen. In einer Zeit der Unbeständigkeit, die zweifellos auch kulturelle Inhalte betrifft (wir befinden uns in einem Paradigma neuer Netz-Applikationen und partizipatorischer Formen, die durch den Terminus technicus Web 2.0 verbunden werden, welcher Erscheinungen wie Wikipedia, Blogs und Multimedia- 233 234 Seiten wie z. B. My Space und YouTube einschliesst, die für die Mitwirkung von Millionen von Internet-Usern bestimmt sind), sind auch Kulturformen instant geworden; in der Regel sind sie hybrid, sie entstehen in Zwischenräumen, sie nehmen keine Rücksicht auf die Autonomie und Spezifik von Disziplinen. Zu ihnen zählen zweifellos auch neumediale Inhalte; eine besondere Stellung unter ihnen nehmen auch Inhalte-Produkte-Werke-Prozesse-Dienstleistungen ein, die von neumedialen Künstlern beigetragen werden, welche auf dem Gebiet von digitalen Installationen, der virtuellen Architektur, der Technoliteraturen, der Internet- und Software-Kunst, der Netzkunst und der mobilen Kommunikationen tätig sind. Wenn man über die Theorie der neumedialen Kunst nachdenkt, stellt man fest, dass dieser Bereich mittels der Verwendung von neuen theoretischen Verfahren und Konzepten dargestellt werden kann. In den Vordergrund treten Fragen des Codes (Software, die vom Künstler-Programmierer verwendet wird), Interaktivität, immersive Wirkungen, Konnektivität, soziale Implikationen der Kunst (Aktivismus, Hacktivismus) und deren neue Funktionen (z. B. auf dem Gebiet der Forschung). Paradigmen von Kunst der Postmoderne und der Postavantgarde im Sinne von „anything goes", „freie Verfügbarkeit", „blosses Machen ohne inhaltliche Zielsetzung" (Meier 1983: 104) sind voll verwirklicht worden durch die neumediale, ausgesprochen an Software gebundene Kunst, durch eine Kunst, die vor allem mit dem Computer als einer Vorrichtung, in der verschiedene Medien amalgamiert und hybridisiert werden, hergestellt wird. Sobald ein bestimmter Inhalt in digitaler Form zugänglich ist, kann er in neumediale Remixe eintreten; die Remixability wird zu deren hauptsächlicher Qualität in der heutigen Kultur (Manovich 2005). Die neumediale Kulturdominante basiert also auf Verfahren des Remixing, Sampling und Hinzufügens, der Hybridisierung und Filtrierung. Wir treffen auf eine Kultur, in der die Tätigkeit eines VJ paradigmatisch wird, welcher in realer Zeit neue Generationen von ausgesprochen hybriden Bildern generiert; auch befinden wir uns in einer Konstellation, die durch Interaktionen der Kunst und anderer Bereiche definiert ist, was darauf hinweist, dass in dieser Situation die im Modernismus geltende strikte Trennung zwischen den Disziplinen und Bereichen der geistigen und materiellen Welt allmählich aufgegeben wird. Die Kunst erlebte in der Zeit der neuen Medien viele Veränderungen; sie gab die Natur eines abgeschlossenen und stabilen Artefakts auf und verlor ihre ästhetischen Eigenschaften; das Ästhetische sowie Verschönerungsprozesse sind heute in der Mode, im Sport und Jet-Set, in der Werbung, Popmusik und Politik viel häufiger und üblicher als in der zeitgenössischen Kunst. Das Ästhetische im Sinne einer intensiven sinnlichen Stimulierung trifft man in Freizeitparks (Disneylands, Gardalands usw.) und deren Adrenalinerzeugungsanlagen (wie z. B. Achterbahn und verschiedene Simulatoren) viel häufiger als in der Kunst an. Auch haben traditionelle künstlerische Funktionen der Repräsentation und ästhetischen Erziehung an Bedeutung verloren. Die Kunst hat sich in neuen Bereichen angesiedelt und hat alte, traditionelle aufgegeben. Auf Gebieten der Netzkunst, digitalen Kunst, Software-Kunst, des künstlerischen Aktivismus, der Kunst der Installationen und bei der Performance-Kunst treffen wir auf „Kunst-als-ob-Bestandteil-von-Prozessen", auf Ereignisse des Netz-Aktivismus, auf künstlerische Dienstleistungen, künstlerische Ableitungen von Computerspielen, künstlerisch umgestaltete Programme und auf Projekte der VJ-Praxis. Für diese Art von Umorientierungen auf künstlerischem Gebiet ist zweifellos charakteristisch, dass traditionelle künstlerische Funktionen aufgegeben werden; heutige künstlerische Projekte sind mit der „Kunst-wie-wir-sie-kennen" nur über künstlerische Dachinstitutionen, mit deren Verfahren der Sinngebung und Interpretierung (Kunstkritik, -geschichte und -theorie) und mit künstlerischen reproduktiven und distributiven Netzen verbunden. Ist diese Wende, die mit dem kühnen Suchen nach neuen schöpferischen Wegen jenseits traditioneller Gattungen und Formen verbunden ist und häufig auch eine radikale Infragestellung des gesamten Gebietes der Kunst ein-schliesst, etwas Falsches? Ist diese Wende nur Sache eines Exklusivismus, einer Extravaganz und eines Mangels an Innovationsfähigkeit innerhalb der traditionellen Kunstformen? Passen sich heutige Künstler - völlig unsicher bezüglich ihrer Aufgaben und schwach bei der Gestaltung komplexerer Werke in traditionellen, anerkannten Gattungen - lediglich den neumedialen Trends an? Unsere Antwort auf diese zwei Fragen ist negativ. Im Gegenteil, wir sind überzeugt, dass heute die einzige authentische Kunst diejenige ist, die aus der extrem fraglichen Natur der Kunst von heute hervorgeht, die von dem ausgeht, „dass nichts, was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich ist" (Adorno 1974: 9), von ihrer grossen Rätselhaftigkeit, und die auf einer grossen schöpferischen Unsicherheit basiert sowie die Wahrheit des „Endes der Kunst" (im Sinne von Hegels Ästhetik) erlebt. In der Gegenwart fordern daher authentische zeitgenössische Künstler mit jedem ihrer Projekte die Institution der Kunst heraus, erforschen, gestalten neue Entwürfe des Kommunizierens und der Wahrnehmung und gehen häufig über die Beschränkungen ihres eigenen Gebiets hinaus. Einer der Pioniere auf dem Gebiet der Kunstperformance, Allan Kapprow, hat bei der Suche nach theoretischen Konzepten für neue Bereiche der zeitgenössischen Kunst die einfallsreichen Termini Post-Kunst, künstlerische Kunst 235 236 und Lebenskunst geprägt (Kapprow, 1993), um auf die grossen Verschiebungen hinzuweisen, welche den heutigen „erweiterten Kunstbegriff" (Joseph Beuys) begleiten. Die neuen Funktionen der neumedialen Kunst (als postästhetisch und postgegenständlich) sind keineswegs ideale Typen und etwas Endgültiges, doch kann man unter Berücksichtigung des Geschehens in der heutigen Kunst gerade die Forschungsfunktion als eine ihrer Schlüsselfunktionen hervorheben, die einer Reihe ihrer Tendenzen und Formen gemeinsam ist und die wesentlich ist für die Bildung von Interfaces zwischen Kunst und den neuen Formen des Politischen, der Technowissenschaft, der neuen Ökonomie, den Lebensstilen, den (neuen) Medien und den Informationstechnologien. Neben der Forschungsfunktion, die auf Bereiche und Nischen ausgerichtet ist, die von den offiziellen Wissenschaften beiseite gelassen werden, treffen wir bei der neumedialen Kunst auch auf andere Funktionen, die mit der heterogenen Natur der heutigen Kunst verbunden sind, deren Raum tatsächlich ein Raum-Ereignis ist, innerhalb dessen Interaktionen zwischen dem Wissenschaftlichen, dem Technischen, dem Politischen und dem Konzeptuellen verlaufen. Das Wissenschaftliche, Technische und Politische sind im gesellschaftlichen Raum der Kunst derealisiert, übernehmen Spektakelfunktionen (z. B. die neuen Technologien) oder sind mit dem Fiktiven integriert (z. B. die Technowissenschaft, die zur Bildung von Modellen und neuer künstlicher Realitäten übergeht), während das Künstlerische und Konzeptuelle bis zu einem gewissen Grad realisiert sind, realistische Prädikate bekommen und am Prozess der Entzauberung des rein Fiktiven mitwirken. Obwohl das gesellschaftliche System der Kunst als explizit autopoetisch und sich auf sich selbst verlassend auftritt (die heutige Kunst erscheint wie eine Maschine, die sich selbst nährt und sich mit jeder Bewegung und jeder neuen Gattung neu definiert), sind so augenfällige Veränderungen in ihm auch angesichts der Veränderungen (Wechsel von Paradigmen) auf anderen Gebieten möglich. Auch die Realität selbst hat sich verändert, es hat eine Reihe von Paradigmenwechseln in ihr gegeben, so dass derzeit zu bemerken ist, dass eine Reihe von traditionellen theoretischen Verfahren, die zu deren Erforschung und Definierung bestimmt sind, an Brauchbarkeit verloren haben oder gar ganz unbrauchbar geworden sind. Alle wesentlichen Bestandteile der heutigen Realität sind in die Konstellation einbezogen, die von der Biopolitik, den Technowissenschaften, der Globalisierung, dem Multikulturismus, den Imperien, den Multituden, den neuen Formen gesellschaftlicher Segregationen und neuen Lebensstilen definiert wird. Das „Solospiel von Paradigmenwechseln" in der heutigen Kunst wäre nicht möglich, wenn nicht auch in anderen Segmenten der Realität so augenfällige Veränderungen stattfinden würden. Auf dem Gebiet der Wissenschaften, Technologien und Politiken erleben wir Prozesse, die zu deren kunstähnlicher Natur im Sinne einer Destabilisierung und Relativierung traditioneller Formen führen; es lassen sich also Parallelen zwischen der Destabilisierung des Artefakts in der heutigen Kunst und einer Destabilisierung des Nationalstaates in der globalisierten (Trans-)Po-litik, des materiellen Reichtums in der (neuen) Ökonomie und des Projekts der Entdeckung von Naturgesetzen (und der Natur selbst) in den Technowissenschaften ziehen. Die heutige Wissenschaft hat das Projekt der Entdeckung von Naturgesetzmässigkeiten im Sinne einer wissenschaftlichen Dekodierung des offenen Buches der Natur aufgegeben, was bedeutet, dass die Vorstellung von der Objektivität der Naturwelt im Sinne einer stabilen, gegebenen, auf innerer Ordnung basierenden Realität und der Natur, die mithilfe von empirischen Beobachtungen exakt beobachtet, gemessen und interpretiert werden kann, aufgegeben wird. An dieser Stelle sei nur der Gedanke von Paul Feyerabend in seinem Essay Die Natur als ein Kunstwerk erwähnt, in welchem er schreibt: „Die Natur ist ein Kunstwerk, das geschaffen worden ist im Verlauf von Generationen von Künstlern, die man heute Wissenschaftler nennt." (Feyerabend 1993: 278) Wir haben es hier mit einer Ansicht zu tun, die ein bestimmtes, in der zeitgenössischen Wissenschaft aufrechterhaltenes Konzept der objektiven Natur relativiert und historisiert, denn „das, was wir herausfinden, wenn wir die Natur untersuchen (...), ist nicht die Natur selbst, sondern die Weise, in der die Natur auf unsere Bemühungen reagiert." (Feyerabend 1993: 286) Die heutige gesellschaftliche Realität ist auch durch die neue, vernetzte Ökonomie bestimmt, die auf der Globalisierung des E-Business, der Vernetzung, der flexiblen Produktion, auf flexiblen Dienstleistungen und Informationstechnologien basiert. Statt materiellen Reichtums treten Netze und die Zugänglichkeit ihrer Dienstleistungen und Produkte in den Vordergrund; die Individuen bemühen sich im „Zeitalter des Zugangs" mehr um einen zeitweiligen Kauf und eine Mietung von Erlebnissen als um den Besitz von Dingen (Rifkin 2000). Gegenwärtig produzieren in entwickelten Staaten bereits rund vier Fünftel der Beschäftigten keine Sachen mehr, sondern sind in Berufen tätig, die eine Transponierung von Sachen, eine Prozessierung von Informationen und Tätigkeiten bei anderen intellektuellen Dienstleistungen verlangen (z. B. Verwaltung, Beratung und Ausbildung). Wegen der neuen Ökonomie, die auf nicht tastbarem Kapital, globalen Transaktionen, Börsengeschäften und EBusiness basiert (vernetztes Modell des Geschäftsverkehrs, das für E-Unterneh- 237 men wie Cisco Systems, Yahoo, Google, Amazon usw. charakteristisch ist), hat sich das Hauptgewicht vom materiellen Reichtum (der bei Börsenbewertungen schneller als in der materiellen Produktion wächst) hin zu den intellektuellen Dienstleistungen verschoben, unter die auch die Kunst eingereiht wird. Dass die Bedeutung der materiellen Produktion in der neuen Ökonomie aufgegeben und sie in ihr sogar entwertet wird und dass eine Verschiebung zur intellektuellen Arbeit und zu intellektuellen Dienstleistungen hin stattfindet, fällt mit der bereits erwähnten Tendenz in der zeitgenössischen Kunst zusammen, die durch eine Verschiebung vom abgeschlossenen (materiellen) Artefakt hin zur künstlerischen Dienstleistung geprägt ist. Eine Reihe von Parallelen kann heute zwischen beiden Bereichen gezogen werden; das künstlerische (Sub-)System funktioniert häufig ebenfalls wie eine Börse, in der Bullen- und Bärentrends anzutreffen sind, so dass mit etablierten Vorstellungen innerhalb dieser Systeme nichts mehr adäquat erklärt werden kann. Beide Bereiche sind durch den Übergang vom Artefakt zur Dienstleistung geprägt, die möglichst intellektuell 238 und den Präferenzen des Inanspruchnehmers angepasst ist. Beispielsweise sei erwähnt, dass das Börsenwesen, das E-Business, Logos und multinationale Unternehmen auch zu Themen verschiedener künstlerischer Projekte werden (z. B. M. Goldbergs „Catching a Falling Knife" aus dem Jahre 2002, ebenso haben die slowenischen Autoren Grassi und Stromajer das künstlerische Projekt „Börse der Probleme" gestaltet). Für die zeitgenössische Realität, die zweifellos vom „Ground Zero" des 11. Septembers 2001 geprägt ist, ist von wesentlicher Bedeutung, dass in ihr die auch merklich veränderte Politik artikuliert wird. Der Prozess der Globalisierung, der auf neuen Informationstechnologien, Multikulturismus, Postkolonialismus und neuen Formen von Kolonialismus basiert, hat die grundlegenden politischen Konzepte erschüttert und den Einfluss, den der Nationalstaat mit seiner parlamentarischen Demokratie hatte, ins Wanken gebracht. In einer Welt von verschiedenen Temporalitäten und des Krieges gegen den Terrorismus sind wir Zeitgenossen eines Nebeneinanders von liberalen Formen der Demokratie und extremsten Formen von Nationalismus, Imperialismus, Tribalismus und Fundamentalismus, die sogar zu Beginn des 21. Jahrhunderts erneut ethnische Säuberungen und rituelle Morde von politischen Gegnern aktualisieren. Wenn man erneut eine Parallele zur Kunst zieht, ist als augenfälligste Wende die Destabilisierung der Rolle des Nationalstaates in der heutigen Politik zu erwähnen, denn zahlreiche Entscheidungen internationaler Organisationen, multinationaler Konzerne und des neuen Empire haben viel weitreichendere Konsequenzen für das Leben der heuti- gen Bewohner unseres Planeten (und für die Bildung ihrer Bedürfnisse) als Resolutionen und Entscheidungen ihrer nationalen Parlamente und anderer demokratischer Einrichtungen. Im Werk Grammatik der Multitude erwähnt der Theoretiker Paolo Virno die Möglichkeit einer 'postpolitischen Politik' und verschiebt dadurch ihren Bereich weg vom Staat, von den Wissensformen und von der Identität auf Lebensstil, Kunst und Sprachaktivität hinzu, die die politische Dimension erhielten (Murray 2005). Angesichts dieser Veränderungen keimen neue politische Subjekte, die sogar die Rolle der traditionell konzipierten Zivilgesellschaft übernehmen können, deren Rolle in der globalisierten Welt ebenfalls schwächer wird. Einer davon ist zweifellos der Aktivismus, den auch manche Künstlergruppen praktizieren (z. B. Radical Software Group), insbesondere in Verbindung mit technischen Experten auf dem Gebiet der Medien, unter denen die Hacker die führende Stellung einnehmen. Der Begriff „Hacktivismus", der die Aktivitäten von Hackern und politischen Aktivisten aus Künstlerkreisen miteinander verbindet, basiert auf elektronischem zivilem Ungehorsam und dem Glauben, dass die traditionellen gesellschaftlichen Institutionen in ihren kybernetischen Formen verletzlicher sind als bei ihren physischen Repräsentationen. Die Hacktivisten arbeiten nach folgendem Prinzip: Hacker besorgen die Waffen, Aktivisten bezeichnen die anzugreifenden Ziele. Als Beispiel seien hier die Angriffe auf Server verschiedener multinationaler Unternehmen und politischer Agenturen des Imperiums erwähnt, z. B. die bereits legendäre Aktion SWARM im Jahre 1998 zur Unterstützung der zapatistischen Bewegung mithilfe der Floodnet-Software, die vom Electronic Disturbance Theatre ausgearbeitet wurde. In der Gegenwart treffen wir auf Interaktionen von „wissenschaftlicher Kunst" und künstlerischen Technowissenschaften, auf Technologie als Kunst und neue Formen der Politik (Aktivismus, Hacktivismus). Bei der Erörterung des Browsers Webstalker prägte der Theoretiker Mathew Fuller den Ausdruck Nicht-nur-Kunst (Fuller 1998), der sich zur Benennung der heutigen neumedialen Kunst (als Nischen-Kunst) eignet und auch auf anderen Gebieten paraphra-siert werden kann. Die Technowissenschaft, die auch zu dem Anderen-als-Wis-senschaft ausgerichtet ist, kann als Nicht-nur-Wissenschaft bezeichnet werden, ähnlich können auch die Ausdrücke Nicht-nur-Technologie und Nicht-nurPolitik eingeführt werden. Die grundlegenden Interaktionen auf dem Gebiet, auf dem sich die Kunst als Forschung, die Technologie als Kunst und Kultur sowie die „künstlerische Politik" und die „künstlerische Technowissenschaft" verwirklichen, können durch folgendes Schema illustriert werden: 239 Nicht-nur-Kunst - Nicht-nur-Wissenschaft 240 Wenn wir „künstlerische Wissenschaft" im Sinne von wissenschaftlichen Untersuchungen erwähnen, welche die traditionellen Konzepte eines spezifischen Lesens des „offenen Buches des Lebens" aufgeben und sich auf dem Gebiet der Gestaltung und Präsentation positionieren (Eingriffe in das Abc des Lebens, Versuche der Modifizierung dieses Abc' und die Schöpfung neuer Wesen und Organe), kommt es in ihr zu einer interessanten Verschiebung auch in Richtung einer Selbstdefinierung ihres Bereichs und dessen Rechtfertigung mithilfe der - sagen wir einfach: - künstlerischen Autonomie. Auch die derzeit aktuelle Genetik wünscht sich nämlich bei ihre Forschung auf dem Gebiet des Klonens und der Mutterzellen eine „dichterische Lizenz", also künstlerische Freiheit, das heisst einen Zustand, der nicht belastet ist von Auflagen verschiedener Auftraggeber und Vertreter der breiten Öffentlichkeit (auch von Politikern, Moralverteidigern, religiösen Würdenträgern) bezüglich dessen, was zu untersuchen erlaubt ist und was nicht. Die Entdeckungen, die mit dem Projekt des menschlichen Genoms verbunden sind, haben nämlich zu zahlreichen Veränderungen auf dem Gebiet der wichtigsten kulturellen Strömungen geführt. Die Wissenschaft spielt seitdem nicht mehr die Rolle eines Entdeckers, sondern eines Gestalters; plötzlich hat sie sich auf einem Pol positioniert, der zuvor nur für die Kunst reserviert war: Die (prometheische) Gestaltung künstlicher Realitäten, der kreative Eingriff in das Leben selbst, der Eintritt in Welten, die früher jahrhundertelang die Phantasie vor allem der Science-Fiction-Akteure erregten. Die Technowissenschaft als Kultur ist offensichtlich ein Bereich, der zahlreiche Implikationen auf dem Gebiet der Medien, der Unterhaltungsindustrie, der Politik und der Moral hat, die zweifellos auch die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung betreffen, ähnlich wie einst in totalitären Staaten politische und ideologische Interessen die künstlerische Autonomie gefährdeten. Auf jeden Fall sind wir deshalb heute Zeitgenossen eines Verleihs oder gar einer Übernahme von Strategien verschiedener Bereiche, ihrer Annäherungen und Amalgamierungen. Wir leben in einem Paradigma des Remixing, der Hybridisierung und der Nischen, in dem die Kunst als Nicht-nur-Kunst auch auf wissenschaftlichem Gebiet eingreifen kann, und zwar auf eine ganz besondere Weise, die auf die Erforschung eines eigenartigen „Mehr" ausgerichtet ist, das in den üblichen, „offiziellen" Wissenschaften übersehen oder manipuliert und verkehrt wird. Als Beispiel sei das Kunstprojekt Free Range Grain erwähnt, ein gemeinsames Werk des theoretischen und künstlerischen Kollektivs Critical Art Ensemble mit den Mitwirkenden Beatriz de Costa und Shyh-shiun Shyu, das für die öffentliche und kritische Wissenschaft bestimmt ist, welche nicht mit Aufträgen multinationaler Unternehmen und anderer einflussreicher Auftraggeber belastet ist, wie es die sog. „offizielle Wissenschaft" häufig ist. Eine solche öffentliche Wissenschaft (das Projekt basierte auf einem Workshop - einem kleinen Labor für die Analyse von genetisch veränderter Nahrung; Besucher dieser Ausstellung konnten verdächtige Proben zu diesem Workshop bringen) kann auch von Künstlern ausgeführt werden, die sich darum bemühen, „dass wissenschaftliche Ansätze, die normalerweise abstrakt und schwer greifbar erscheinen, in ihrer Bedeutung unmittelbar und konkret werden." (Vgl. Critical Art Ensemble 2003: 131). Hier zeigt sich also eine Möglichkeit für die künstlerische Forschung in einer Form, die anders als bei den offiziellen Wissenschaften gegliedert ist und ausgeführt wird. Es ist also sinnvoll und notwendig, die heutige, insbesondere neumediale Kunst durch die breitere Matrix der globalen gesellschaftlichen Veränderungen zu beobachten und zu analysieren; ebenso sind die Veränderungen, die wir auf ihrem engeren Gebiet beobachten, auch für die (allgemeine) Kunsttheorie und -philosophie relevant, d.h., für die beiden Bereiche, auf die dieser Beitrag in erster Linie abzielt. Wenn man über die heutige neumediale Kunst spricht, trifft man nämlich auf eine Reihe von Paradigmen, die man wie folgt beschreiben kann: — Kunst als Prozess und Ereignis, — künstlerische Dienstleistung, — postartefakte instante Kunst, — Software-Kunst, — Kunst als Forschung, — Kunst als Aktivismus und Hacktivismus1, — der Künstler als derjenige, der für den Kontext sorgt, — der Kustos als Künstler und — der Betrachter/Leser/Zuhörer als User. Mehr als „was ist Kunst", sind derzeit Fragen wesentlich, die mit ihren neuen gesellschaftlichen Rollen, Funktionen und Interaktionen zusammen- 1 Als Hacktivismus wird die Fusion von Hacken und Aktivismus bezeichnet. 241 242 hängen. Statt der rituellen, ästhetischen, erzieherischen und repräsentativen Funktion sind wir heute Zeugen ihrer neuen Funktionen. Walter Benjamin wies im Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit auf die therapeutische und politische Funktion der Kunst hin; Erstere führt ein Film aus, der auch als Hilfsmittel dient, damit sich ein Individuum in der Rolle eines Fussgängers daran gewöhnt, die Schocks zu parieren, denen er im Grossstadtverkehr ausgesetzt ist, während er die politische Funktion der Kunst als Alternative zu der vom Faschismus ausgeführten Ästhetisierung der Politik definierte. In diesem Essay sah Benjamin weit blickend nicht nur die Möglichkeit einer postästhetischen Kunst, sondern auch einer Kunst, die in gewissem Sinn „postkünstlerisch" ist, was bedeutet, dass in ihr nicht mehr die künstlerische Funktion im Vordergrund steht; hierbei beschrieb er das Kunstwerk als ein „Gebilde mit ganz neuen Funktionen, dessen uns bewusste, die „künstlerische", man später gewissermassen als eine rudimentäre erkennen wird." (Benjamin 1974: 444) Doch trotz einer Reihe von kulturellen Veränderungen und Paradigmenwechseln verschmilzt die neumediale Kunst nicht völlig mit der Realität, verschwindet nicht in ihr, sondern bewahrt noch immer eine Reihe von Besonderheiten, mit denen sie sich von der gegebenen Realität unterscheidet; auch eine solche Kunst ist nur angesichts der speziellen Ökonomie ihrer Interaktionen, ihres Austauschs mit der Umwelt, den Wissenschaften, Lebensstilen, geistigen Paradigmen, der Religion sowie den neuen Medien und Technologien möglich. Noch immer sind Instanzen notwendig, die in einem bestimmten Kontext das Künstlerische vom Nichtkünstlerischen trennen, was bedeutet, dass sie als Ausscheidungs- und Selektionsinstitutionen funktionieren. Es gibt keine stabilen Formen mehr, wir treffen sogar auf zeitweilige Formen, die je nach den ganz besonderen Anforderungen des Kontextes funktionieren; doch damit eine bestimmte Form künstlerisch ist, müssen noch immer besondere Bedingungen erfüllt sein. In die heutige Kunst tritt eine Reihe von alltäglichen Dingen, oder die Künstler nehmen in ihren Projekten indirekt Bezug auf sie, doch handelt es sich dabei um Sachen (und Ereignisse, Situationen), denen stets ein Element hinzugefügt ist, das ihnen eine künstlerische Partizipation und Kommunikation ermöglicht. Ähnlich wie Warenartikel mit einem Strichcode gekennzeichnet sind, das für ein spezielles Lesegerät bestimmt ist (RFI2), ist jedes Kunstobjekt, jeder künstlerische Prozess, jede Aktion und jedes Ereignis auf 2 RFI: Abkürzung für Radio Frequency Identification als neue Form der digitalen Identifizierung von Objekten mithilfe eines speziellen Chips und einer Antenne. seine Weise kodiert, es ist ein - metaphorisch ausgedrückt: - Strichcode darauf geklebt, der die Einbeziehung dieser Entität in den Kunstverkehr ermöglicht. Heutigen Künstlern fällt es offensichtlich nicht schwer, „ja" zur gegebenen Realität zu sagen; sie sind nicht mehr von der Idee besessen, dass sie unentwegt künstlerische Negativität betonen müssen, was eine Stärke der (vor allem europäischen) modernen Kunst war, thematisiert bei T. W. Adorno; seit Duchamps Ready-mades und Warhols Pop-Art greifen sie phantasievoll nach dem Alltäglichen, doch lassen sie es nicht unpräpariert und unfiltriert in die Kunst eindringen. Stets ist es ein Zusatz, ein Mehr, eine Rückkopplung, eine Referenz, eine ganz eigene Art, die hier interveniert - und was der Instanz nahe steht, welche bei der traditionellen Kunst die Form hatte und noch immer hat. Die Form als äussere Seite des Kunstwerks ist in der heutigen, insbesondere neumedialen Kunst bereits überholt; es ist nämlich schwer, von der äusseren Seite verschiedener neumedialer Produkte zu sprechen (z. B. bei Software-Abteilungen, konzeptualistischen Ereignissen, VJ-Performances, künstlerischen Computerspielen usw.), denn bei ihnen ist nicht ersichtlich, was das Innere und was das Äussere wäre, was bedeutet, dass die Polarisierung Äusseres-Inneres, Form-Inhalt nicht mehr funktioniert. Bei solchen Projekten kann uns die Form aber dennoch etwas bedeuten, was wir als Organisationsprinzip bezeichnen können, als Art, wie einzelne Bestandteile des Werkes zu organisieren, in Beziehungen zu bringen sind. Was heute zählt sind Beziehungen und nicht mehr Bestandteile. Die Summe von Bestandteilen ist zu wenig, wichtig ist ein InBeziehung-Setzen, das auch bei der neumedialen Kunst als Nicht-nur-Kunst in der Regel im Sinne einer Bezugnahme auf eine Sammlung von Eigenschaften (Qualitäten, Besonderheiten, Zeichen) geschieht, die in einer bestimmten Zeit als künstlerisch erkannt werden. Es existiert also eine Sammlung von Regeln, Eigenschaften, Qualitäten, Künstler-Schutzmarken, künstlerischen Logos, aus der die heutigen (auch neumedialen) Künstler schöpfen oder auf die sie Bezug nehmen, um damit ihrem Produkt, das als nicht-nur-künstlerisch gestaltet sein kann, den Eintritt in den Bereich der Kunst zu eröffnen. In einer solchen Sammlung befinden sich z. B. Malevich, Beuys, Warhol oder aber der Film Solaris, auf den einige Netz- und neumediale Künstler (z. B Marko Peljhan) Bezug nehmen. Obwohl die Form als jenes Äussere, das für die künstlerische Eigenschaft eines traditionellen Werkes wesentlich war, in so mancher Hinsicht überholt ist, ist die künstlerische Eigenschaft der Entitäten, die in der Gegenwart von Kunstinstitutionen erfasst werden, noch immer ein Problem und eine Aufgabe, 243 244 sowohl für die Künstler als auch für die Theorie. Wenn alles Kunst wäre, dann wäre dies das Ende der Kunst; deshalb sind auch in der heutigen Kunst Filtrie-rungs-, Aussonderungs-, Abgrenzungs-, Bezeichnungs-, Bezugnahme- und Einordnungsprozesse im Gange. Unentwegt sind wir um die Suche nach Unterschieden zwischen dem, was als Kunst funktioniert, und dem Nicht-Künstlerischen bemüht; immer gibt es Versuche einer Einordnung des Alltäglichen in eine Art Labor, welches eine ganz besondere Erfahrung des Alltäglichen in Konstellationen des Künstlerischen ermöglicht. Hier sei als Beispiel die digitale Literatur erwähnt, also die heutige Praxis der Gestaltung von Post-Druck-Texten, die mit der Hypertext-Fiktion begann (der erste Erfolg dieser Art war das Werk Afternoon, A Story von Michael Joyce aus dem Jahre 1990). Das heutige World Wide Web (Web 2.0) ist visuellen und multimedialen Inhalten zwar ausgesprochen zugeneigt (z. B. das Portal YouTu-be), doch auch das Verbale passt sich den Netz-Applikationen an und überlebt in ihnen; ebenso trifft man auf verschiedene Formen von digitaler Literatur und textbasierten Web-Installationen. Ein charakteristisches Beispiel für die heutige Suche auf dem Gebiet der digitalen Literaturen ist das Projekt Screen, ein Werk von N. Wardrip-Fruina und Mitarbeitern, welches die Erfahrung von Wortmaterial in einer dreidimensionalen Umgebung für Virtuelle Realität (Cave) ermöglicht. Screen ist ein Projekt-Labor, das für den ganzheitlichen Dialog des Users mit einem Text bestimmt ist, der auf drei Seiten eines würfelartigen interaktiven Raums ausgebreitet ist, welcher als Smart Environment gestaltet ist und dem Leser in der Rolle eines Users ermöglicht, in den Text einzugreifen, Wörter aus ihm herauszunehmen und sie wieder in den Text einzufügen, Textstrukturen zu verändern und in sie einzutauchen. Der Leser-User ist mit einer Brille für die dreidimensionale Betrachtung (engl. goggles) und mit einem Datenhandschuh (engl. data glove) ausgestattet, der ihm als Steuervorrichtung dient; interessant und vielsagend ist hierbei, dass er mit ihm nicht nur seinen Weg durch die Textlandschaft steuert, sondern die Wörter als 3-D-Virtualobjekte auch berührt. Die neuen Medien ermöglichen eine immersive, d.h., eintauchende Erfahrung; zugleich zählen sie zur heutigen taktilen Kultur, in der neben dem Sehen und Hören auch der Tastsinn eine immer bedeutendere Rolle spielt, der von zahlreichen Geräten der heutigen Massenkultur (von denen das Individuum in seinem „Cockpit" umgeben ist) stimuliert und als theoretischer Wahrnehmungssinn profiliert und gemeistert wird. Hier haben wir insbesondere mobile Bildschirmgeräte im Sinn (von Handys bis zu Palmtops, MP3-Playern und iPods), die eine geschickte Steue- rung von Interfaces erfordern und die taktile und motorische Geschicklichkeit des Users ansprechen. In der heutigen Kultur der neuen Medien trifft man nicht nur auf betonte Visualität, vielmehr wird in ihr auch die Berührung affirmiert. Nach dem Verbot des Berührens (in traditionellen Museums- und Galerieräumen werden die ausgestellten Gegenstände mit Hinweisen wie „bitte nicht berühren" begleitet) treffen wir heute auf „gebotene Berührungen", was eine Affirmierung der Berührung sogar im Sinne eines theoretischen Wahrnehmungssinnes voraussetzt. Die Immersivität setzt eine ganzheitliche Einbeziehung des Körpers als Medium für eine authentische Aneignung der Welt - bzw. präziser: für ein In-der-Welt-sein - voraus. Auch das digital kodierte Wort wird in die jetzige taktile Kultur und in immersive Arrangements aufgenommen, was bedeutet, dass es für das Wort nicht ausreicht, wenn es nur vorgelesen wird, also im Dialog mit dem Geist, mit dem rationalen Leseprozes steht; auch reicht es nicht aus, wenn nur die visuelle Konfiguration des Wortes wahrgenommen wird (das Wort als Bild, z. B. in der konkreten und visuellen Poesie); vielmehr muss es auch im Kontakt mit dem Körper stehen, es muss in den Raum des Körpers eintreten, ihn besiedeln, den Körper selbst berühren. Wir treffen auf die Konstellation, dass „der Körper unser allgemeines Medium für den Besitz der Welt" (Merleau-Ponty, 1998: 146) ist und als solcher auch eine authentische Begegnung des Wortes in immersiven Umgebungen ermöglicht. Damit es zu einer solchen Interaktion kommt, müssen ganz besondere Bedingungen erfüllt sein, die auf jeden Fall beide Beteiligten einschliessen. Ein solches Zusammentreffen ist möglich, sobald das Wort seinen fest bestimmten Platz im Satz des gedrucken Textes verlässt und als digitaler Wort-Bild-Körper in die Rolle eines willigen Bezeichners übergeht, der in einer dreidimensionalen digitalen Umgebung für Interaktionen mit dem Körper des Users zur Verfügung steht. Ebenso wird auch von diesem verlangt, dass er Interfaces benutzt (oder aber selbst zum Interface wird), die in realer Zeit seine Interaktion mit dem WortBild-Körper ermöglichen. Was ist der Kern des Zusammentreffens des Individuums mit den Textlandschaften beim Screen? Auf jeden Fall treffen wir auf literarische und virtuelle Textlandschaften (engl. „textscapes"); der Leser ist aufgefordert, in den Text einzugreifen, ihn zu berühren und durch Berührungen zu verändern, denn ein virtueller Text hat eine dynamische Topologie, die sich in Abhängigkeit von der Nähe des Lesers verändert. Es handelt sich nicht nur um Lesen, sondern um eine ganzheitliche und eintauchende Erfahrung der Textlandschaft, was bedeutet, dass sich diese nicht in ihren semantischen Dimensionen erschöpft, 245 Of £ S1« ty i Tha i r aPa, restOdth« arm. have Pull of ca HÄ3»; ho g , hea Sues . .lis t¥ tens Hi xougtes fcisftr Sa» JfdeJt I Screen: dreidimenstionale Textumgebung, die vom Leser-User gesteuert wird sondern dass auch die Beziehung des Users zu den graphischen Zeichen des Textes, zu seiner Oberfläche, zu all jenem, was beim blossen Lesen gedruckter 246 Dokumente übersehen wird, in den Vordergrund tritt. Im Ambiente Cave ist es tatsächlich möglich, mit einem verbalen Medium zu experimentieren und es auf eine Art zu erforschen, die der Kultur des Drucks fremd ist und auf einer besonderen Einstellung und einem „kybernetischen Standpunkt" (Strehovec 2003) zur Textlandschaft basiert. Das Lesen des Screen ist eine Erforschung, und auf diese Herausforderung antwortet der Dichter digitaler Poesie John Cayley, der im VR-Ambiente Cave sein Projekt Torus geschaffen hat, dass er in ihm mit Möglichkeiten von Texttransformationen experimentieren würde. Cave ist eine ausgesprochen technisch gestaltete Kunstumgebung, doch lässt die in ihr aufgeführte digitale Poesie die Absicht der Gestaltung eines „Mehr" auch im Sinne von besonderen - sagen wir: lyrischen - Atmosphären, die sich auf die Kunstinstanz (-institution) beziehen, nicht zu. Weder beim Screen noch beim Torus handelt es sich um eine technizistische Manipulierung mit Texten, sondern um deren Erforschung hinsichtlich der künstlerischen und transkünstlerischen Eigenschaften; der Text verwirklicht sich als Ereignis, wichtig ist, dass er die Sinne des Lesers-Users, seinen ganzen Körper anspricht. Ebenso ermöglicht die VR-Umgebung Cave ein Dispositiv eigener Art, welches den Text derealisiert, ihn aus seinem alltäglichen Gefüge aussondert. In der VR-Umgebung Cave sind wir an einem anderen Ort als sonst, auf eine ganz eigene Art sind wir aus den üblichen Zusammenhängen mit der gegebenen Realität ausgetreten. In eine ungewöhnliche, extreme Lage ist auch der Text selbst übertragen; in ihr öffnet er sich für die Interaktionen mit dem Körper; die Worte treten in den Raum des Körpers, bleiben in der Hand liegen und die Hand kann sie (mittels Datenhandschuh) in die Textgefüge zurücksenden. Der Leser als User der VR-Textumgebung ist stets ein Leser mit dem Körper, ein verkörpertes Ich; sein Körper kommt über Interfaces mit der symbolischen Welt und mit einer Landschaft abstrakter Ideen in Kontakt. Als Vorgängerin auf dem Gebiet der Suche nach Zusammenhängen zwischen Physischem/Korporealem und Digitalem/Virtuellem sei Camille Ut-terback erwähnt, die Autorin der interaktiven Installation Text Rain (1999), in der die Beteiligten/Leser ihren Körper benutzen, um fallende Buchstaben zu stoppen, aufzuheben und mit ihnen zu spielen. Auf einem grossen Projektionsbildschirm „regnen" Buchstaben auf die Köpfe und Hände der User und reagieren auf ihre Aktionen, indem sie steigen und von ihren Köpfen, Schultern und Händen abprallen; wenn sie nicht auf einen Widerstand des Körpers stossen (in Wirklichkeit auf seine Simulation auf dem Bildschirm), setzen sie ihren freien Fall fort. Wenn es dem User-Leser gelingt, eine grössere Zahl von Buchstaben auf der Hand zu halten, kann er dabei bemerken, dass es sich um ein ganzes Wort oder einen Vers handelt, denn die fallenden Buchstaben sind nicht willkürlich gewählt, sondern sind aus Gedichten über Sprache und Körper entnommen. Die hier erwähnten Beispiele von experimenteller Erfahrung der digitalen Literatur können wir auch mit der Suche der Künstler in anderen Gattungen der digitalen Kunst ergänzen. Auch Ableitungen von Computerspielen, die künstlerische Bedeutsamkeit und damit Funktionalität in künstlerischem Sinn prätendieren (sie verfolgen auch die Absicht, in künstlerische Wertarchive aufgenommen zu werden), müssen sich eine entsprechende künstlerische Referenz verschaffen, die ihnen als Alibi auf dem Weg in die Kunstarchive dient. Sie sind als-ob-künstlerische Projekte, sie können - so wie alle Computerspiele - gut im Medium-der-reinen-Unterhaltung funktionieren; die Bezugnahme auf einen Namen oder eine Form aus einer künstlerisch arbiträren Sammlung verschafft ihnen (als Beispielen von Nicht-nur-Kunst) ein künstlerisches „Mehr", welches sie auf dem Gebiet der Kunst verwerten. Hier seien die künstlerischen Computerspiele The Trigger Happy (1999) der Autoren Jon Thompson und Alison Craighead sowie Natalie Bookchins Projekt The Intruder (1999/2000) erwähnt. Beides sind vor allem Spiele-Ableitungen populärer Computerspiele (das erste basiert auf den Space Invaders, das zweite auf Pong), doch ist die zweifellos unterhaltsame Vernichtung von Gegnern in ihnen nicht in einen semantisch leeren oder lediglich mit einem militanten Szenarium ausgestatteten Raum gestellt, vielmehr sind dies Spiele, die in der Umgebung der Literatur gespielt werden, konkret: in zwei Texten von Foucault und Borges; in The Trigger Happy 247 werden Worte-Ziele vernichtet, die keineswegs beliebige, aus einem zufälligen Text entnommene Worte sind, im Gegenteil: sie zählen zu jenen Passagen von Michel Foucaults Text über den Autor (Was ist ein Autor, 1977), in welchem der Tod des Autors thematisiert wird. Der Spieler vernichtet also Worte über den Tod des Autors und nimmt damit (dies ist nur eine der möglichen Interpretationen dieses Spiels) Bezug auf einen neuen Autor, einen Autor nach dem Tod von Barthes' Autor-Gott, der als Autor eines neuen, ausgesprochen hybriden Textes geschaffen wird, in welchem die beiden Gattungen Computerspiel und (philosophischer, literarischer) Essay amalgamiert werden, damit aus dieser gewagten Verbindung ein neuer hybrider Nachkomme hervorgeht, und zwar eine neumediale narrative Struktur. Ebenso bedeutungsvoll ist auch Natalie Bookchins Dialog mit Borges' Kurzgeschichte La intrusa über zwei Brüder, die in dasselbe Mädchen verliebt sind. Auch bei diesem Projekt handelt es sich um eine Hybridisierung der traditionellen künstlerischen Form (konkret: der Literatur) mit dem Medium Com-248 puterspiel, bei welchem die Autorin phantasievoll die Erzählung La intrusa dekonstruiert, fragmentiert und uminterpretiert, aber auch dem Leser-Zuhörer-Spieler eine Reihe von interessanten Eingriffen erlaubt (z. B. in die Szene/ Sektion), indem er Wörter in einem Topf auffängt, und diese Aktivität (dies ist keineswegs ein rohes Abschiessen!) nimmt Einfluss auf die Geschwindigkeit des Lesens des spannenden Abschnittes aus Borges' Text. Wenn man von einem gemeinsamen Nenner beider Projekte sprechen kann, dann liegt dieser zweifellos in ihrer Bezugnahme auf einen philosophischen und literarischen Text als normative Instanz, die hier in der Rolle der Ermöglichung eines Dialogs (und eines In-Beziehung-Setzens) zwischen einem traditionellen und einem neuen Medium auftritt. Die beiden Abschnitte aus Foucaults und Borges' Texten sind Instanzen, die beiden Projekten eine Partizipierung auf dem Gebiet der Kunst ermöglichen (und damit das Kunstsein flexibler Projekte auf dem Gebiet der Nicht-nur-Kunst); ohne sie (wenn sie sich lediglich auf einen populärwissenschaftlichen Text über eine Weltallreise oder ein Kochbuch beziehen würden) würden beide Projekte vor den Türen der Institution der Kunst stehen bleiben. Die Rolle des Künstlers als Gestalter und Programmierer von künstlerischen Sektionen kommerzieller Computerspiele wird hier in dem Sinn gesehen, dass er deren Szenarium umgestaltet bzw. in ihnen eine Instanz installiert, die wie eine Art Strichcode den Eintritt seines Erzeugnisses in den Kunstverkehr ermöglichen soll. Die Rolle der Form hat sich in der neumedialen Kunst also geändert, doch ist sie keineswegs völlig verschwunden (sie ist eine Referenz, auf die sich die Künstler berufen), sie ist ein Organisationsprinzip (wie man konstitutive Teile eines Kunstprojektes in Beziehungen bringt), sie ist ein Filter, der dafür sorgt, dass nicht alle Elemente der Realität zu gerade jenem Zeitpunkt und in jener Situation in die Kunst eintreten können. Es ist eine ganz besondere Spannung zum Nichtkünstlerischen notwendig; immer ist eine - sagen wir in der Terminologie der phänomenologischen Ästhetik: - Derealisation, eine Wegnahme von Elementen des profan Realen, eine Reinigung, Filtrierung, Vermischung und Einrahmung notwendig. Wir sagten Einrahmung, und in der traditionellen bildenden Kunst hatte der Bilderrahmen tatsächlich eine bedeutende Rolle als Abgrenzung zwischen Künstlerischem und Nichtkünstlerischem; die Instanz oder Institution des Rahmens ermöglichte eine Umlenkung der Betrachtung und rief eine ganz besondere Konzentration hervor, die mit der Ausrichtung auf das, was im Rahmen ist, verbunden ist. Hier stellt sich folgende Frage: Kann man in der neumedialen Kunst eine ähnliche Instanz finden? Wir leben umgeben von Bildschirmen, nicht nur Fernseh- und Computerbildschirmen, sondern ganz besonders auch von Bildschirmen mobiler Geräte, von Computern, DVD-Playern und Palmtops bis hin zu Handys, iPods und MP3-Playern. Diese Bildschirme werden immer alltäglicher und sogar profaner; denken wir nur an Handy-Bildschirme, die wir immer mehr als völlig intransparent, als Sache unter Sachen hinnehmen, weshalb man den Bildschirmen, obschon sie wesentlich für das Funktionieren der neumedialen Kunst sind, keine ähnlich entscheidende Rolle zuschreiben kann, wie sie der Bilderrahmen in der traditionellen Malerei hatte. Der Bildschirm ist in der heutigen Kunst eher das Zeichen einer Realisation, als dass er ein Gerät bzw. ein Werkzeug für eine subtile Derealisation wäre. Das, was jetzt zu den Wirkungen des Kunstseins beiträgt und auch derealisiert und verfremdet, sind häufig gerade Konzepte, Referenzen und das Schaffen ganz besonderer Atmosphären; in Bezug auf den State of the Art von Hardware-Eigenschaften können hierbei auch manche hoch entwickelte Geräte eine bedeutende Rolle spielen, so z. B. das einstige Spionage-Gerät des FBI Carnivore oder aber die VR-Umgebung Cave, wenn sie in den Kontext der künstlerischen Forschung übertragen werden. Auch die Rolle des Künstlers hat sich geändert; sie formiert sich dadurch, dass sie Beziehungen herstellt, den Kontext arrangiert, auswählt, ermöglicht und ihn überwacht, die Rolle eines Kustos übernimmt; er ist der Richter zwischen Künstlerischem und Nichtkünstlerischem, häufig entscheidet er mehr und grenzt ab, als dass er neu kreieren würde. Wenn wir den Künstler als denjenigen erwähnen, der den Kontext ermöglicht, sei an dieser Stelle Peljhans Projekt Makrolab erwähnt, das bereits 1997 auf der 10. Documenta in Kassel 249 250 aufgestellt wurde, als Labor, welches den Künstlern-Forschern, die sich in ihm niederlassen, Forschungstätigkeit und kreative Arbeit ermöglicht. Wenden wir uns am Ende dieses Beitrages erneut dem Schema zu, das wir zur Veranschaulichung der Interaktionen zwischen Nicht-nur-Kunst und ihren ebenso hybriden Beteiligten eingeführt haben, sowie der Definition der Kunst als Forschung, Prozess, Dienstleistung, und dem Konzept des „Als-ob-Kunst-werks". Bei ihnen eröffnet sich auf jeden Fall eine Reihe von grundlegenden Fragen, die jenseits der Kunsttheorie in das Gebiet der Philosophie und sogar der philosophischen Ontologie reichen. Hier sei unsere Aufmerksamkeit nur auf folgende Fragen gerichtet: Was für einen ontologischen Status haben künstlerische Artikulationen und Entitäten, die Nischen besiedeln und die sich in ungewöhnlichen Verbindungen hybridisieren und remixen? Was geschieht mit der Kunsttätigkeit, welche die künstlerische Autonomie aufgibt und auf das Gebiet der Dienstleistungen, insbesondere der Forschung übergeht? Wer hat in einem solchen Fall die Macht und Legitimität, über das Künstlerische und Nichtkünstlerische zu urteilen und künstlerische Kontexte zu kontrollieren? Was für eine Natur haben Kunstobjekte als nicht-nur-künstlerische Objekte, d. h. Entitäten, die polyfunktional sind, verschiedene Rollen übernehmen und so konstruiert sind, dass sie auch einen virtuellen Zusatz enthalten, der ihnen eine laufende Integration in neumediale künstlerische Kontexte ermöglicht? Was für einen ontologischen Status haben Werke, die realisiert, zugleich aber durch eine für sie wesentliche Komponente erweitert sind, die - nach den traditionellen Konzepten der Realität - selbst derealisiert ist, was bedeutet, dass sich in solchen Projekten, wenn man zur Terminologie der phänomeno-logischen Ästhetik greift, das Reale und Irreale hybridisieren. Und ist hier die künstlerische Suche nicht auch in einem ganz besonderen und weit reichenden Sinn paradigmatisch, denn solche polyfunktionalen und hybriden Entitäten der neumedialen Kunstprojekte bringen uns auf folgende Fragen: Was ist die Sache in der Gegenwart? Was für eine ontologische Stellung nimmt sie ein? Wie tritt sie in Beziehungen ein und wie definiert sie sich in ontologisch verschieden konzipierten Umgebungen? Literatur Adorno, T. W. -.Ästhetische Theorie, Frankfurt/M: Suhrkamp, 1974. Benjamin, W.: „Umetniško delo v času svoje tehniške reprodukcije", in: J. Vrečko, Misel o sodobni umetnosti. Ljubljana, 1980. (Deutsche Übersetzung in: Benjamin, W.: Gesammelte Schriften, Bd. I.2, Frankfurt/M. Suhrkamp, 1974.) Bookchin, N.: The Intruder. http://www.calarts.edu/bookchin/intruder/. Seite zugänglich am: 22. September 2006. Critical Art Ensemble „GM food. It's everywhere you want to be", in: M. Heinzelmann and M. Weinhard (Ed.) Auf eigene Gefahr. 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