Sonderabdruck aus der Monatsschrift «Die Erdbebenwarte», Nr. 3 und 4, Laibach 1902. Japanische Erdbebenstudien. Von Aug. Sieberg. Wohl kein Land der Erde ist in solchem Mafie der Tummelplatz verderbenbringender Naturkrafte wie Jap a n. Taifune, Vulkanausbriiche, See- und Erdbeben wechseln in bunter Reihe miteinander ab und lassen, bald hier, bald dort ausbrechend, die Gemiiter kaum zur Ruhe kommen. Schwachere Erdstofie sind dort an der Tagesordnung und werden kaum beachtet; so gibt z. B. v. Siebold an, durch gewohnliche Erdstofie habe er sich — derart war er daran gewohnt — nicht dazu bewegen lassen, die Feder aus der Hand zu legen. Aber in verhaltnismafiig kurzen Inter- vallen brechen Katastrophen herein, von deren Umfang und Verheerungen man sich erst dann einen Begriff zu machen vermag, wenn man erfahrt, dafi beispielsweise allein bei dem Erdbeben vom 28. Oktober 1891, welches die beiden bliihenden Provinzen Mino und Owari in Schutt und Asche legte, nicht weniger als 25.ooo Menschen getotet oder verwundet und 120.000 bis 130.000 Gebaude vernichtet wurden, ungerechnet die vielen zerstorten Verkehrswege (45 km Eisenbahnen und 520 km Deiche etc.), rveshalb man sagen kann, da !3 innerhalb eines einzigen Tages die Friichte einer zehnjahrigen Kulturarbeit der Vernichtung anheim fielen. Aus diesen Griinden ist es wohl einleuchtend, dafi gerade das Studium der Erdbeben, vor allem ihrer Natur, Ursachen und Verbreitung fiir Japan eine Lebensfrage bedeutet; denn dieses allein ist imstande, Mittel auf- finden zu lassen, um den durch die Erderschiitterungen verursachten Schaden nach Moglichkeit begegnen und vorbeugen zu konnen. Tatsachlich ist in Japan wahrend der letzten Dezennien auf diesem Gebiete ganz aufierordent- liches geleistet worden. Zwei Deutsche, Knipping und Naumann, machten den Anfang; der lange Jahre in Japan ansassig gewesene Englander Milne, ferner hervorragende japanische Gelehrte, wie Koto, Omori. S e ki y a und manche andere mehr, schritten auf dem betretenen Pfade weiter und schlugen teilweise neue Bahnen ein, so dafi das japanische Inselreich der Brennpunkt tiefgehender seismologischer Forschungen wurde. Eine Organisation und Zentralisierung liefi nicht lange auf sich warten, Im Jahre 1892 ist hauptsachlich auf Anregung des Professors an der 2 Universitat Tokio Herrn Kikuchi durch einen kaiserlichen ErlalS eiae Kom- rnission zur Erforschung der Erdbeben «S hi n sai - Yo b 6-C hosa- Kwai> ins Leben gerufen worden. Da ihre Untersuchungen nicht allein der Wissenschaft als solcher, sondern nach der Lage der Dinge natur- gemafl auch besonders den Forderungen des praktischen Lebens zugute kommen sollen, so ist ihr Arbeitsfeld ein sehr ausgedehntes. Es umfaCt namlich vor allem die nachstehend aufgefiihrten Zweige, ohne aber damit erschopft zu sein: 1. ) Sammlungen von Aufzeichnungen iiber Naturereignisse, wie Erd- und Seebeben, Ausbriiche von Vulkanen und Schlammsprudeln; 2. ) Bearbeitung einer Geschichte der seismischen Erscheinungen in Japan; 3. ) geologische Untersuchungen; 4. ) Studium liber die Natur der seismischen Bewegungen; 5. ) Bestimmungen ihrer Fortpflanzungsgeschwindigkeit; 6. ) Bestimmung der Neigungen und der Pulsationen der Erdoberflache; 7. ) vergleichende Studien iiber die seismischen Bewegungen ar. der Erd¬ oberflache und im Innern der Erde; 8. ) magnetische Messungen und Schaffung von magnetischen Stationen; 9. ) Beobachtung von Erdbodentemperaturen in groflen Tiefen; 10. ) Messungen der Widerstandsfahigkeit verschiedener Stoffe; 11. ) Entwurf von Gebauden, welche imstande sind, den Erderschiitterungen zu widerstehen; Aufstellung von Hausermodellen in haufig von Erd¬ beben heimgesuchten Gegenden; 12. ) Sammeln von Erfahrungen iiber die Widerstandsfahigkeit verschieden- artigster Gebaudekonstruktionen mittelst kiinstlich hervorgerufener Beben; 13. ) Studien an zur Zeit bestehenden Bauwerken hinsichtlich der seismi¬ schen Wirkungen; 14. ) vergleichende Studien an verschiedenartigen Terrainstiicken hinsichtlich der Haufigkeit der Erderschiitterungen; 15. ) Sammeln von Erfahrungen, bezweckend eine eventuelle Gegenwirkung gegen Erdstofle; 16. ) Veroffentlichung von Denkschriften und Berichten iiber die Arbeiten der Kommission. Um einen so umfangreichen und mannigfaltigen Arbeitsstoff bewaltigen zu konnen, wurden die Mitglieder des mit weitgehenden Vollmachten und Mitteln ausgestatteten Komitees, zu dessen Prasident Herr Kikuchi er- nannt worden ist, aus Vertretern der verschiedensten Wissenszweige ge- wahlt; so sind darin vertreten Seismologen, Physiker, Geologen, Meteoro- logen, Ingenieure, Architekten etc. Angegliedert ist die Kommission an die naturwissenschaftliche Fakultat der Universitat zu Tokio. Sie unterhalt eine Anzahl seismologischer Stationen (allein drei in verschiedenen Teilen der Plauptstadt), welche durch elektrische Leitungen untereinander und mit dem seismologischen Laboratorium der Universitat in Verbindung stehen; 3 auch hat sie fortvvahrenden Verkehr mit dem meteorologischen Zentral- Observatorium, den einzelnen (78) meteorologischen Stationen, welche groBtenteils auch mit seismischen Instrumenten (dem gewohnlichen Gray- Milneschen Seismograph) versehen sind, ferner den Telegraphenamtern, Eisenbahndirektionen u. a. m. Einzelne Stationen besitzen Omorische Horizontalpendel-Apparate, so Anfang 1901 das seismologische Observa- torium zu Hitotsubashi (Tokio), die Universitat zu Kioto, das meteorolo- gische Observatorium zu Miyako und die Sternwarte zu Mizusawa; vorge- sehen war ferner bis zu Ende des Jahres noch eine grofiere Anzahl weiterer Stationen, vor allem meteorologische, mit derartigen Instrumenten auszuriisten. Als Frtichte ihrer Tatigkeit wahrend der zehn Jahre ihres Bestehens hat die Kommission bereits eine grofie Zahl von Spezialuntersuchungen auf den vorerwahnten Gebieten gezeitigt, deren Resultate in einer ebenso grofien Menge von Abhandlungen und Monographien niedergelegt sind. Da diese aber in japanischer Sprache abgefafit sind, so gibt das Komitee, um auch den anders redenden Forschern die Kenntnisnahme der Ergebnisse zu ermoglichen und eine Kritik und Diskussion herbeizufiihren, eine Serie von Schriften unter dem Titel »Publications of the Earthquake Investigation Comitteein Foreign Languages* heraus, welche in zwangloser Folge die wichtigsten Arbeiten in englischer oder franzosi- scher Ubersetzung bringen. Von diesen zum Teil recht umfangreichen und durch zahlreiche Ab- bildungen und graphische Darstellungen erlauterten Veroffentlichungen (in gr. 8 °) liegen mir zur' Zeit Band I, III bis VI vor. Auf die reiche Fiille des darin aufgespeicherten wertvollen und interessanten Materials naher einzugehen, verbietet der Mangel an dem dazu benotigten Raume. Jedoch sei wenigstens der Inhalt der einzelnen Bande unter kurzer Skizzierung der Kernpunkte einiger Abhandlungen mitgeteilt, wobei natiirlich die rein theoretischen Untersuchungen zuriicktreten miissen. Das I. Bandchen gibt einen «Vorlaufigen Bericht iiber die Schwankun- gen der geographischen Breite von Tokio*, erstattet von Herrn Kimura, nebst einigen kurzen einleitenden Bemerkungen iiber das Ziel der Kommission seitens des Vorsitzenden Herrn Kikuchi. Im III. Bande 1 wird sowohl der Zweck als auch die gesamte Organisation der Kommission eingehend erortert unter Hinzufiigung eines namentlichen Verzeichnisses ihrer Mitglieder. Herr Fanabe bringt eine ins Einzelne gehende Studie (50 Seiten) iiber den «Widerstand von Ziegel- mauerwerken gegen Zug». Einen «Apparat zum theoretischen Studium der Erdbeben* (2 Seiten, 2 Tafeln) beschreibt Herr Mano. Dieses Instrument gestattet gleichzeitig eine horizontale Bewegung von 0-127m un d eine 1 Leider besitze ich den II. Band nicht, infolgedessen ich liber seinen Inhalt keine An- gaben machen kann, 4 vertikale von 0-076111 bei der Bauer von 1 Sekunde fiir die Oszillation ; hiemit werden Modelle von Bauwerken aus den verschiedenartigsten Bau- materialien auf ihre Widerstandsfahigkeit gegen Erdbeben untersucht. Die «Beschadigungen an Fabriksschornsteinen durch das Erdbeben vom Juni 1894» (2 Seiten) besprechen die Herren Tanabe und Mano. Der Geologe Herr Koto gibt einen Uberblick iiber das -Ziel der vulkanologischen Unter- nehmungen in Japan* (13 Seiten), wobei der Verfasser endgtiltig zu der Anschauung gelangt, daD die Ketten von Vulkanen, die Gebirgsformationen und die nichtvulkanischen Erdbeben sehr intime und fundamentale Be- ziehungen zu den sogenannten tektonischen Linien zu besitzen scheinen. AnschlieDend hieran fiihrt er die Titel der von ilirn seit dem Jahre 1895 der Kommission vorgelegten Untersuchungen (in japanischer Sprache) iiber Vulkane, Erd- und Seebeben. sowie iiber die geologischen Ergebnisse bei Brunnentiefbohrungen auf. Der IV. Band gibt eine «gedrangte Darlegung der Konstruktions- prinzipien fiir erdbebenfeste Holzbauten* (5 Seiten, 7 Tafeln mit Details der verschiedenen Balkenverbande), sowie aus der Feder des Herrn Omori die Resultate von »Erdbebenmessungen an einem Backsteingebaude. (S Seiten, 6 Tafeln mit Diagrammen, 1 photographische Ansicht). welche die bereits bekannte Tatsache wissenschaftlich begriinden, daD fast aus- schlieDlich die oberen Stockwerke von Ziegelbauwerken der Zerstorung aus- gesetzt sind, wahrend das Erdgeschofi selbst bei zerstorenden Erderschiitte- rungen hochstens geringfiigige Beschadigungen erleidet. Derselbe macht weiterhin nahere Angaben iiber die beiden Erdbeben «zu Mino-Owari vom 28. Oktober 1901» (n Seiten, 1 Tafel, 1 Ubersichtskarte), «zu Tokio am 20. Juni 1894» (8 Seiten, 1 lafel, 1 Ubersichtskarte), sowie iiber die «Nachbeben des Hokkaido-Erdbebens vom 22. Marž 1894» (6 Seiten, 2 Tafeln). Uber das erstere ist schon eingangs dieser Zeilen verschiedenes mitgeteilt worden, worauf ich mich hier beschranken muD. Beziiglich des zweiten sei nur soviel bemerkt, daD es das starkste war, welches die Haupt- stadt seit dem verheerenden Ansei-Beben (1885) heimgesucht hat. Der Leil seines Erschiitterungsgebietes, in welchem es ohne Instrumente noch deutlich gefiihlt wurde, umfaDte nicht weniger als uo.oookm 2 ; 26 Personen erlitten den lod, 171 Verwundungen, zahlreiche Gebaude wurden beschadigt, Kamine und Laternenpfahle umgestiirzt. Ein iDiagramm dieses Bebens» besprachen die Herren f Sekiya und Omori (4 Seiten, 1 Tafel). Herr Nagaoka untersucht die «Elastizitats-Konstanten von Gesteinsarten und die Fortpflanzungsgeschvvindigkeit seismischer Wellen» (20 Seiten). Den Band schlieDt Herr Omori mit einer sehr eingehenden und umfassenden Diskussion von «Seismischen Versuchen iiber den Bruch und das Umfallen von Saulen* (72 Seiten, 32 Tafeln). Die Experimente wurden mittelst des von Herrn Mano konstruierten und in Band III beschriebenen Apparates zur Erzeugung kiinstlicher Beben im Jahre 1898/99 an der Universitat zu — s Tokio angestellt. Nur soviel sei hervorgehoben, daC der Verfasser unter Bezugnahme auf das M i n o-O w ar i-Beben zur Aufstellung einer fiir Japan giiltigen siebenklassigen absoluten Skala fiir zerstorende Beben gelangt, welche die Beziehungen zwischen der groBten Beschleunigung der Erderschiitterungen und dem verursachten Schaden umfaOt. Nachstehend ist diese Skala mit der Rossi-Forelschen und derjenigen des meteoro- logischen Zentrai-Observatoriums zu Tokio verglichen: Der ganze V. und VI. Band ist der Besprechung der Ergebnisse von Erdbebenbeobachtungen in Tokio mittelst des Horizontalpendel- Apparates wahrend der Zeit vom Juli 1898 bis Dezember 1899 durch Herrn O mori gewidmet. Es sind dies 246 an der Zahl (ungerechnet die schwachen ortlichen Erschiitterungen), welche der Verfasser nach ihrem Ursprungsorte in folgende neun Gruppen scheidet: Gruppe I: Fernbeben; hieher sind sowohl alle diejenigen starken Beben zu rechnen, welche in gro( 3 er Entfernung von Japan ihren Ursprung nehmen, als auch diejenigen, welche in der Nahe der japanischen Kiiste entstehen, aber so schwach sind, daC sie durch den gewohnlichen Gray-Milneschen Seismographen nicht aufgezeichnet werden, mit dem die meteorologischen Stationen in verschiedenen Teilen des Reiches ausgerustet sind; Gruppe II: Erdbeben, welche bei der Ostkiiste von Hokkaido (Insel Yeso) entstehen; » III: Erdbeben, welche bei der Nordostkuste von Honshiu (Main- insel) entstehen; » IV: Erdbeben, welche bei den Kiisten der Provinzen Hitachi und Iwaki entstehen; » V: Erdbeben, welche bei der Siidkuste von Honshiu entstehen; 6 Gruppe VI: Erdbeben, welche in Kiushiu oder an seiner Ostkiiste entstehen; » VII: > »in Mitteljapan entstehen; » VIII: Lokale Erdbeben, und zwar a) solche, welche mehrerenorts, b) solche, welche in Tokio und an vereinzelten Orten, und c) solche, welche ausschlieBlich in Tokio beobachtet werden ; » IX: Erdbeben verschiedenen Ursprungsortes. Der V. Band (82 Seiten, 20 Tafeln und Karten) enthalt eine Beschrei- bung der verschiedenen verbesserten Formen des bekannten von Herrn Omori konstruierten Horizontalpendel-Apparates. 1 Hieran schlie( 3 t sich eine Liste der beobachteten Erdbeben und eine Reihe von Abhandlungen theoretischen Inhaltes, welche zum Gegenstande haben: Periode der Wellen bei Fernbeben, Natur von Erdbebenwellen mit langer Periode, Schwingungen der Pulsationen, Vorphase und Geschwindigkeit der Fortbewegung von Erderschiitterungen, Ableitung der Fortpflanzungsgeschwindigkeit seismischer Wellen aus italienischen und deutschen Beobachtungen sowie aus den letzten grofien japanischen Beben, Im VI. Bande (181 Seiten) endlich, der gewissermafien den zweiten Teil des vorigen bildet und ihn erganzt, finden wir eine ins Detail gehende Analyse der Diagramme der einzelnen vorervvahnten Erdbeben, nach der Gruppeneinteilung zusammengefafit. Der reiche und vielseitige Inhalt der besprochenen Bande laBt er- kennen, welche Summen von Erfahrungen die Vertreter der Wissenschaft des fernen Inselreiches auf dem Gebiete der Erdbebenkunde bereits ge- sammelt und sowohl fiir die reine Wissenschaft, als auch fur das praktische Leben nutzbringend verwertet haben. Man wird daher in Fachkreisen mit Interesse den vveiteren Veroffentlichungen der japanischen Kommission zur Erforschung der Erdbeben entgegensehen. 1 Mitteilungen hieriiber siehe «Die Erdbebenwarte», Jahrgang I., Nr. I, S. II; dort finden sich auch weitere Angaben iiber den Inhalt von Band V. und VI., weshalb ich mich, um VViederholungen zu vermeiden, an dieser Stelle auf die wenigen Daten beschranke. Kleinmayr & Bamberg, Laibach.