John Ole Askedal Universität Oslo CDU 801.56:801.25 AUXILIARVERBEN IN LUCIEN TESNIÈRES ÉLÉMENTS DE SYNTAXE STRUCTURALE 1. Einleitung Der grammatische Terminus "Hilfs-" oder "Auxiliarverb" ist an sich reichlich problematisch, und zwar nicht zuletzt deswegen, weil bei seinem Gebrauch zumeist auf explizite Identifikations- oder Definitionskritierien verzichtet wird. Jedoch werden gewisse Verben oder Gebrauchsweisen einzelner Verben bevorzugt als Auxiliarverben bezeichnet, die bestimmte semantische oder syntaktische Kategorien - Tempus, Modus, Modalität, Kausativität, Aktionalität, Genus verbi (Passiv) - zum Ausdruck bringen. Diese allgemeinen Kategorien gelten gemeinhin als prototypische Funktionskategorien von Auxiliarverben. In diesem Beitrag soll der Begriff Auxiliarverb - "auxiliaire" - in den Eléments de syntaxe strucurale von Lucien Tesnière besprochen werden. Es werden dabei die in den Eléments als "auxiliaire" bezeichneten (Verb-)Lexeme vor allem im Hinblick auf ihre Beschreibung im Rahmen der Dependenzsyntax Tesnières untersucht. Da das Deutsche bei Tesnière einer der wichtigsten Lieferanten von Beispielen für Auxiliarverben ist, wird vor dem Hintergrund der Ausführungen zu Tesnière abschließend ein Vorschlag zur Bestimmung deutscher Hilfs-/Auxiliarverben zur Diskussion gestellt. 2. Zum Gebrauch des Terminus "auxiliaire" in Luden Tesnières Eléments de syntaxe structurale Als Konstruktionen mit "auxiliaire(s)" werden bei Tesnière die folgenden bezeichnet (vgl. auch die Übersicht in Tesnière 1939, S. 163-167): (1) 1. 'haben'-Perfekt: Französisch: S. 46 (St. 46), 47,60 (St. 38), 61 (St. 39), 161 (St. 159), 173 (St. 171, 172), 186 (St. 181), 397, 398,509 (Albert a écrit une lettre, Je l'ai lue, cette lettre), 510,579,640 (St. 355), 652 (St. 366); Deutsch: S. 509 (Albrecht hat einen Brief geschrieben)-, Spanisch: S. 113 (Quién no ha visto a Sevilla?) (St. 106). 15 2. 'sein'-Perfekt: Französisch: S. 399, 508f. (Albert est parti, Albert est venue), 579; Deutsch: S. 508 (Albrecht ist abgefahren); Italienisch: S. 508 (sono andato). 3. Periphrastische Vergangenheitsform mit 'sein' in slawischen Sprachen: Slowenisch: S. 508 (kupoval bom); Serbisch: S. 508 (Ivan je pisao pismo, Marija je pisala pismo). 4. Periphrastisches Futur: Französisch (aller): S. 398, 507 (Albert va bientôt partir); Deutsch (werden): S. 131, 398f., 507 (Albrecht wird bald abfahren). 5. Periphrastische 'kommen'-Konstruktion zur Angabe rezenter Vergangenheit: Französisch (venir de): S. 303 (Antoine vient de partir), (398). 6. Periphrastische Passivkonstruktionen: Französisch (être): S. 110 (le livre est donné par Alfred à Charles) (St. 95, 96), 127 (St. 128), 244, 399, 640 (St. 355), 653 (St. 366); Deutsch (werden): S. 114 (Bernhard wird von Alfred geschlagen) (St. 110), 244, 399; Dänisch (blive): S. 244 (jeg bliver elsket); Latein: S. 508 (deleta est Carthago); Griechisch: S. 508 (Xe>aj|aévoa ètr|v, XeXu|iévri èiryv). 7. Modalverbkonstruktionen: Französisch (pouvoir, vouloir, devoir): S. 107 (Alfred peut donner le livre à Charles) (St. 94), 127 (St. 128); Deutsch (können, müssen, wollen): S. 78 (ohne Infinitiv, mit Direktionaler-gänzung, ich muß fort, wo will das hinaus?). 8. Modal-passivische Konstruktion mit 'sein': Deutsch: S. 306 (mit der Liebe ist nicht zu spaßen). 9. Kursive Aktionalitätsperiphrase: Englisch (be + ing- Form): S. 112 (Alfred is speaking) (St. 97, 103). 10. Perphrastische Negation: Finnisch: S. 210f. (en anna 'je ne donne pas'). 11. Periphrastische 'tun'-Konstruktion (Frage, Negation, Hervorhebung; im Englischen, Bretonischen, Kornischen und Walisischen): Englisch (do): S. 211, 507 (I do not understand); Bretonisch (ober): S. 211. 12. Periphrastische Kausativkonstruktion: Französisch (faire): S. 266 (Bernard fait tomber Alfred); Deutsch (lassen): S. 266 (der General ließ eine Brücke schlagen). 13. Periphrastische "Antikausativ" konstruktion: 16 Französisch {empêcher): S. 298f. {Empêcher quelqu'un de boire). Wie aus dieser Übersicht ersichtlich ist, handelt es sich dabei insgesamt um in der traditionellen Grammatik europäischer Sprachen herkömmliche Hilfsverben für Tempus, Modalität, Genus verbi, Aktionalität und Kausativität sowie ein paar weitere Konstruktionen aus einigen wenigen anderen Sprachen. Diejenigen Auxiliarverben, die auch in Strukturstemmata erscheinen, werden auf unterschiedliche Weise notiert. Es finden sich folgende Notationen: 1. Als einelementiger Verbknoten an der Spitze des Dependenzstemmas, mit dependentem Infinitum: (2) ^jjeut^ Alfred donner le livre à Charles Stemma 94 2. Als eins von zwei Verbelementen im Verbknoten an der Spitze des Dependenzstemmas, ohne Nukleuskreis ("cercle de nucléus"): (3) est frappé Bernard par Alfred Stemma 95 (Vgl. weiter Stemma 96, 97, 103, 110, 159.) 3. Als eins von drei Verbelementen im Verbknoten an der Spitze des Dependenzstemmas, ohne Nukleuskreis: (4) doit être imité un traître Stemma 128 4. Als eins von zwei Verbelementen im Verbknoten an der Spitze des Dependenzstemmas, ohne Nukleuskreis, aber mit einem zusätzlichen nichtverbalen Element (Negation, Personalpronomen): 17 (5) no ha visto quién a Sevilla Stemma 106 (Vgl. weiter Stemma 38, 39, (171), (181).) 5. Als eins von zwei Verbelementen im Verbknoten an der Spitze des Dependenz-stemmas, mit Nukleuskreis: (6) (-^ ( est arave ) (Alfred) Stemma 27 (Vgl. weiter Stemma 38, 39, (171), (181).) 6. Als eins von zwei Verbelementen im Verbknoten an der Spitze des Dependenz-stemmas, mit Nukleuskreis und mit einem zusätzlichen nichtverbalen Element (Personalpronomen, Negation): (7) ,-. (il a mangé J 1/ \2 le loup l'agneau Stemmata 172 7. Als eins von zwei Elementen im Verbknoten an der Spitze des Dependenzstemmas, mit Translationszeichen: (8) © E où 1 meurt éventail (Vgl. weiter Stemma 366.) 18 Stemma 355 Diese Notationen reflektieren die Aspekte, unter denen Auxiliarverben bzw. die davon abhängigen Infinita bei Tesnière in den Eléments betrachtet werden. Die strukturale Syntax von Tesnière setzt sich insgesamt aus den Komponenten in (9) zusammen: (9) I. lexikalisch-kategoriell: vier grundlegende Form- und Funktionsklassen (Verb, Nomen, Adjektiv, Adverb; jeweils symbolisch gekennzeichnet als I, O, A, E und im folgenden von mir als "Basislexemklassen" bezeichnet) (S. 53 ff., 63 ff., 80 ff.); II. lexikalisch-syntaktisch: Valenz und damit zusammenhängend Diathesenoppositionen (S. 238 ff.); III. relationssyntaktisch: phrasenkonstituierende Dependenz- und Koordinationsbeziehungen (S. 11 ff., 323 ff.); IV. koreferentiell: anaphorische Beziehungen innerhalb von Dependenzstrukturen (S. 85 ff.); V. kategoriell-syntagmatisch: Translation (Überführung) einer Form-/Funktions-kategorie in eine andere vermittelst sog. "Translative". Für die Beschreibung der Auxiliarkonstruktionen in den Eléments sind die Komponenten I. und V. in (9) von vorrangiger Bedeutung. In der Terminologie von Tesnière ist eine Auxiliarkonstruktion ein dissoziierter Nukleus (syntaktische Phrase), der aus zwei Knoten - "l'auxiliaire" und "l'auxilié" - mit jeweils spezifischen Eigenschaften besteht. Die zusammengesetzten Zeitformen (Auxiliarkonstruktionen) sind nach Tesnière "le cas le plus frappant du nucléus dissocié" - eines sog. "dissoziierten Nukleus" - (S. 46f.), dessen einer Bestandteil (Knoten) eine strukturelle und dessen anderer Bestandteil (Knoten) eine semantische Funktion haben: Strukturell konstitutiv ist in einer zusammengesetzten Zeitform (Auxiliarkonstruktion) das "auxiliaire", semantisch konstitutiv ist das "auxilié", d.h. das lexikalische Vollverb (ebda.). Die beiden Bestandteile des dissoziierten Nukleus gelten in syntaktischem Sinne als jeweils "mot constitutif' und "mot subsidiaire" (S. 56). Damit hängt auch Tesnières Charakterisierung der Auxiliarverben als in semantischer Hinsicht "mots vides" zusammen (S. 398). Insbesondere ist der Nukleus auch Träger der Translation (Kategorienüberführung) (S. 45). Das Auxiliarverb gehört zu den "Translativen", die eine Form-/ Funktionskategorie in eine andere überführen (S. 82(ff.)). Jedoch nehmen die Auxiliarverben unter den Translativen eine Sonderstellung ein, vgl. (S. 377-381,409f.): 19 (10) A. Basislexemklassen B. Translative a. morphologische Eigenschaften wie eine Basislexemklasse b. andere morphologische Eigenschaften als die Basislexemklassen Adpositionen (Prä-, Post-, Zirkumposi-tionen) Subjunktionen Derivationsaffixe Flexionsmorpheme 0 O, A, E, I Aux (=1) Reduktion (Ellipse) (*0,A,E,I) Die invariablen Translative der Klasse Bb. induzieren eine Form-/Funktions-kategorie, der sie selbst nicht angehören, während die Auxiliarverben der Transla-tivklasse Ba. eine ihnen morphologisch entsprechende Form-/Funktionskategorie induzi- eren. Die Auxiliarverben sind damit zusammenhängend ein Spezialfall der Translation, weil sie nach Tesnière zu denjenigen Translativen gehören, die innerhalb einer (Haupt-) Kategorie ein Wort von einer Subkategorie in eine andere überführen (S. 397). Somit gilt insgesamt: "Les temps composés sont donc des nucléus dissociés comportant un morphème, l'auxiliaire, mot constitutif, mais vide, qui en assure la fonction structurale, et un sémantème, l'auxilié, qui en assure la fonction sémantique...". (S. 398) Die Analyse der Auxiliarverben als Translative hängt mit Tesnières grundsätzlicher Annahme eines spezifischen Zusammenhangs zwischen gewissen grammatischen Morphemen und einer bestimmten Wortartenzugehörigkeit zusammen. Es wird angenommen, daß gewissen grammatischen Morphemen, so auch Infinitiv- und Partizipmorphemen (vgl. dazu auch das zusammenfassende Schema auf S. 409), eine feste Translationsfunktion zukommt. So wird vor allem in Anlehnung an traditionelle Grammatikeransichten mit Bezug auf Infinitive und Partizipien zum einen hervorgehoben, sie seien primär nominale Formen (S. 245, 303), vgl.: "... cet infinitif, qui est déjà substantif du fait de la translation,..." (S. 245). Andererseits wird aber auch zugestanden, daß die fraglichen infiniten Formen eher durch ihre syntaktische Zwitternatur gekennzeichnet seien. So heißt es z.B. über den Infinitiv: "... l'infinitif n'est pas une notion unitaire ... L'infinitif se présente ainsi comme une espèce intermédiaire entre la catégorie du verbe et celle du substantif..." (S. 418). Genauer: Die "nach oben gerichteten" Konnexionen (syntaktische Abhängigkeitsbeziehungen) des Infinitivs, d.h. seine Aktantenfunktion, seien die von Substantiven (S. 425f.), während die "nach unten gerichteten" Konnexionen, d.h. die Valenz und darüber hinaus 20 gehende Verbindungsfähigkeit, die von Verben seien (S. 423-425). Nichtsdestoweniger hebt Tesnière abschließend hervor: "On ne répétera jamais suffisamment que l'infinitif n'est pas un verbe" (S. 419; Hervorhebungen durch Fettdruck bei Tesnière). Ähnlich heißt es dann über die Partizipien zum einen: "... le participe présente donc à la fois des caractères verbaux et des caractères adjectivaux" (S. 451); und zum anderen aber auch: "Le participe n'est pas un verbe" (S. 452). Der praktischen (Translations-) Analyse von Syntagmen mit infiniten Formen wird jedoch nicht deren funktionale Zwitternatur, sondern vielmehr einheitlich die morphemkorrelierte Form-/Funktionsklassenzugehörigkeit zugrunde gelegt. Dabei spielen sowohl sog. "einfache" als auch sog. "doppelte" Translationen eine Rolle. Vgl.: 1. Einfache Translation I > O Dies wäre - zunächst bezogen auf das Französische - anzunehmen bei Verben mit reinem Infinitiv (ohne präpositionale Partikel), denen kein Auxiliarstatus zugesprochen wird, etwa espérer, souhaiter u.ä.: (11) Il espère trouver une solution. Dieser Fall wird als solcher von Tesnière kaum explizit behandelt. (Die etwa der Formel I > O entsprechende Translation I > A ist bei Tesnière nur durch attributive und appositionelle Verwendungen - einschließlich der als freies Prädikativ - veranschaulicht; S. 451-459.) 2. Doppelte Translation I > O > E Diese Art Translation liegt vor bei Verben, die den Infinitiv mit einer Präposition anschließen, vgl. z.B. (S. 499f.): (12) Je vous conseille d'attendre. (13) Bernard cherche à comprendre. Dabei operiert die letzte Translation > E auf dem Translationsprodukt I > O. Nebenbei sei erwähnt, daß auch venir de im Beispiel (14) auf diese Weise analysiert wird, obwohl Tesnière venir in dieser Konstruktion an anderer Stelle als Auxiliarverb einstuft: (14) Albert vient de partir. (In den etwa der Formel nach entsprechenden Translationen I > A > O bzw. I > A > E geht es um jeweils Substantivierungen und im weiten Sinne adverbiale Gebrauchsweisen wie doppelten Ablativ, freies Prädikativ u.dgl.; S. 503-507.) 3A. Doppelte "reversive" Translation I > O > I Daraus ergeben sich Auxiliarkonstruktionen mit Infinitiv, in denen dem translativen Auxiliarverb die Aufgabe zukommt, den Infinitiv als primäres Translationsprodukt in die verbale Funktion "zurückzuführen", vgl. die schon angeführten Beispiele in (1, Pkt. 4, 7, 11, 12). 21 3B. Doppelte "reversive" Translation I > A > I Dies sind die Auxiliarkonstruktionen mit Partizip, in denen das translative Auxiliarverb die Aufgabe hat, das Partizip als primäres Translationsprödukt in die verbale Funktion "zurückzuführen", vgl. die schon angeführten Beispiele in (1, Pkt. 1, 2, 3, 6). Aus diesen Beispielen geht auch hervor, daß das Partizip in den betreffenden Auxiliarkonstruktionen nach einzelsprachlichen Regeln mit einem Bezugswort im Satz entweder konguiert oder aber auch nicht konguiert. Jedoch nimmt Tesnière eine allgemeine Tendenz zur Aufgabe der Kongruenz an: "Dans la mesure où la seconde translation, celle d'adjectif en verbe (A > I), se réalise, le participe tend à perdre la faculté de réagir aux notions de genre et de nombre qu'il est susceptible d'avoir aquises de son caractère adjectival transitoire et à revenir à la invariabilité qu'il présentait antérieurement à sa première translation (I > A)." (S. 508) In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß Tesnière auch Konstruktionen mit prädikativem Adjektiv auf die gleiche Art und Weise als Verbalnuklei analysiert (S. 46, St. 27 und 28, et passim). In der dependenzsyntaktischen Theorie Tesnières in den Eléments sind Auxiliarkonstruktionen somit gegnüber anderen Konstruktionen durch folgende Eigenschaften gekennzeichnet: 1° Auxiliarkonstruktionen beruhen auf "doppelter, reversiver" Translation; 2° der auxiliare Translativ hat (in den herangezogenen Sprachen) gleiche morphologische Eigenschaften wie nichttranslative finite Verben; 3° da Translative per definitionem nicht in einer (nukleusinternen) Dependenzbezie-hung stehen, sondern einen Nukleus mit bilden, der erst in (eine) Dependenz-beziehung(en) eintritt, entziehen sich die Auxiliarverben einer direkt abhängigkeitsstiftenden Funktion (auch wenn sich durch das vereinzelte Stemma 94 eine andere Möglichkeit andeutet). Die Translativknoten stellen somit einen nichtdependentiellen Teilbereich innerhalb der Dependenzsyntax Tesnières dar. Mit moderner syntaktischer Terminologie könnte man möglicherweise die Auxiliaranalyse Tesnières als eine Art "Auxiliar-Projektion" charakterisieren (zur phrasenstrukturellen Projektionsbegriff vgl. z.B. Haegeman 1991, S. 95f.): Innerhalb der syntaktischen Domäne eines Verbalnukleus projiziert das Auxiliarverb als Kopf der Konstruktion seine syntaktischen Verbmerkmale auf die Gesamtdomäne. Da in einem Satz mehr als ein Auxiliarverb vorhanden sein kann, wäre dazu eine Rekursivitäts-hierarchie sich überlagernder Projektionsdomänen anzusetzen. 22 3. Zum Vergleich von Tesnières Eléments de syntaxe structurale und Gunnar Bechs Studien über das deutsche verbum infinitum An den stemmatischen Dependenzdarstellungen von Auxiliarkonstruktionen bei Tesnière fällt insgesamt folgendes auf: Tl. Auxiliarkonstruktionen kommen zustande als Translation durch (Auxiliar-) Verben mit grundsätzlich verbalen Eigenschaften; T2. infinite Formen - Infinitiv und Partizip - in derartigen Konstruktionen gehören nicht an sich in den Bereich unzweifelhafter Verbformen; T3. die Auxiliarkonstruktionen enthalten wegen theorieinterner Festlegung durch Tesnière keine Abhängigkeitskonnexion; und T4. die Serialisierungsproblematik spielt so gut wie keine Rolle: In den Strukturstemmata wird - was vor allem in den deutschen Beispielen deutlich ist - die jeweilige oberflächenstrukturelle - in den angeführten Beispielen durchgehend rechtsläufige - Verbabfolge übernommen (während die Abfolge der Aktanten und Zirkumstanten eher ihrer hierarchischen Rangordnung bei Tesnière entspricht). Jedoch wird man annehmen dürfen, daß diese Abfolge irgendwie als Abbild der "ordre structurale" aufzufassen ist (vgl. dazu auch Tesnière 1939, S. 157). Zur linearen Distribution deutscher Infinitive und Partizipien behauptet Tesnière in der Tat ganz allgemein: "En effet, ces deux espèces de mots occupent dans la phrase allemande une place spéciale, et qui n'est pas celle du verbe:..." (S. 131). In diesem Zusammenhang dürfte der Hinweis angebracht sein, daß etwa gleichzeitig mit Tesnière der dänische Germanist Gunnar Bech eine Studie über die infiniten Verbformen des Deutschen verfaßte (Bech 1955), die sich in allen vier Punkten von den Ansichten Tesnières grundsätzlich unterscheidet: B1. Vom Terminus "Auxiliar(verb)" wird bei Bech nicht Gebrauch gemacht. - B2. Infinite Verbformen in Verbkonstruktionen werden nicht als nominale Formen angesehen oder vom Gebrauch außerhalb der Verbkonstruktionen abgeleitet. Vielmehr wird ein System grundsätzlich verbaler Formen aufgestellt, die sich als jeweils Supina und Partizipien auf "nichtadjektivische" und "adjektivische" Funktionen verteilen (Bech 1955, S. 12), vgl. (15): (15) 1. Stufe 2. Stufe Supinum Partizipium lieben liebend(-er) zu lieben zu lieben(d-er) geliebt geliebt(-er) 1. Status 2. Status 3. Status Beispiele: (16) 1. Status 2. Status Supinum: Er wird sie lieben. Partizipium: der die Gattin liebende Gatte Supinum: Er scheint sie zu lieben. Partizipium: seine sehr zu liebende Gattin 23 3. Status Supinum: Er hat sie sehr geliebt. Partizipium: seine sehr geliebte Gattin B3. Ausgehend von dem Begriff Verbkette wird für Verben eine Rektions- und Dependenzanalyse entwickelt. Vgl. z.B. (17), wo die Dependenz/Subordinationsbe-ziehungen unter den Verben aus der Indizierung der Verbformen hervorgeht (das maximal übergeordnete Verb hat den niedrigsten Index): (17) Ich habe1 nach drei Jahren gebeten2, in der Einzelhaft bleiben4 zu dürfen3. B4. Bei Bech stehen anders als bei Tesnière die satztopologischen Aspekte (die Serialisierungsproblematik) im Vordergrund. Einfache Verbalsätze, zu denen auch Infinitivkonstruktionen gerechnet werden, werden als Kohärenzfelder aufgefaßt, die sich in ein Verbalfeld (verbales Schlußfeld) und ein vorangehendes Restfeld untergliedern. Vgl. z.B. (18) (KF = Kohärenzfeld, RF = Restfeld, SF = Schlußfeld): (18) [kfi[rfIc1i habe' nach drei Jahren] [sf gebeten2]], [kf2[rfin der Einzelhaft] [sf bleiben4 zu dürfen3]]. Somit wird bei Bech diejenige Distribution, die von Tesnière für eine nicht eigentlich verbale gehalten wird, d.h. die Verbendstellung, als die verbale Grundposition angesehen. Dabei orientiert sich Tesnière offensichtlich ausschließlich an der Stellung des finiten Verbs in Aussagehauptsätzen, während Bechs Auffassung mit neueren Charakterisierungen des Deutschen als basaler SOV-Sprache im Einklang steht. Im Bereich der Infinitkonstruktionen, insbesondere der verbdependenten Infinitive, wird zwischen kohärenten und inkohärenten Konstruktionen unterschieden, vgl.: (19) 1. Kohärente Konstruktion: [kf[rf weil er das Buch nicht] [sf zu lesen3 versuchen2 wollte1]], 2. Inkohärente Konstruktion: [kfi[rf weil er nicht] [sf versuchen wollte1]], [kf2[rf das Buch] [sf zu lesen3]]. Wenn im Bereich der Auxiliarkonstruktionen bzw. verbdependenten Infinita zwischen Tesnière und Bech überhaupt eine Ähnlichkeit besteht, dann wird es die sein, daß der Verbnukleus bei Tesnière in den Eléments und das verbale Schlußfeld in kohärenter Konstruktion bei Bech einander weitgehend extensional entsprechen. In begrifflicher Hinsicht bestehen aber grundlegende Unterschiede. 4. Zur Auxiliarproblematik im Deutschen Mit einer Beschreibung von Verbalnuklei im Sinne von Tesniere oder einer topologischen und Rektionsanalyse im Sinne von Bech (1955) ist die etwaige empirisch-deskriptive Notwendigkeit einer besonderen Klasse von Auxiliarverben im 24 Deutschen oder in anderen Sprachen indessen nicht nachgewiesen. Es ist somit verständlich, daß bei Bech von Auxiliarverben nicht die Rede ist und daß in den Eléments von Tesnière schon als Auxiliarkonstruktionen bestimmte Fügungen durch die Translationsanalyse beschrieben und nicht als solche ermittelt werden. Es wird kein darüber hinaus gehender Versuch einer verbindlichen intensionalen oder definitorischen Festlegung unternommen, und im "Petit lexique" am Ende der Eléments fehlen sogar die Termini "auxiliaire" und "auxilié". Da der Terminus Auxiliarverb (bzw. ähnliche Termini) in vielen grammatischen Beschreibungen vorkommt, ist seine etwaige Berechtigung an empirischen Daten zu überprüfen. Bei den herkömmlichen Auxiliarverben handelt es sich um Verben, deren semantisch-syntaktischer Stellenwert im Rahmen eines einzelsprachlichen Gesamtsystems zu bestimmen ist, und man wird deshalb annehmen dürfen, daß Auxiliarverben als semantisch-syntaktische Kategorie eigentlich nur einzelsprachlich bestimmbar sind. Im folgenden soll für das Deutsche ein diesbezüglicher Vorschlag in Hauptzügen skizziert werden. Eine Definition von Auxiliarverb könnte von Tesnières Nukleusbegriff ausgehen und als Auxiliarverb diejenigen Verben ansehen, die obligatorisch einen Verbnukleus mit konstituieren, was im Sinne der Beschreibung von Gunnar Bech obligatorisch kohärenter Konstruktion gleichkommen würde. Wie ich an anderer Stelle ausführlicher dargelegt habe (z.B. Askedal 1982), gibt die Kombination der morphologischen Statusklassifizierung einerseits und der topologischen Kohärenz-Inkohärenz-Opposition andererseits zur Klassenbildung der nichtsubjektischen verbdependenten Infinita in (20) Anlaß: (20) VI: Verben mit 0-Infinitiv in obligatorisch kohärenter Konstruktion: 1. werden (im Futur und mit epistemisch-modaler Bedeutung); 2. die Modalverben dürfen, können, mögen, müssen, sollen, wollen-, 3. Verben mit Akkusativ und Infinitiv: lassen, sehen, hören, fühlen, spüren, haben, finden, machen, nennen; sein (in elliptischen Konstruktionen wie etwa: Vater ist heute fischen). V2: Ein Verb mit 0- oder ZM-Infinitiv in obligatorisch kohärenter Konstruktion: brauchen. V3: Verben mit z«-Infinitiv in obligatorisch kohärenter Konstruktion: 1. haben (mit modaler Bedeutung); 2. sein, bleiben, gehen (in modal-passivischen Fügungen; 3. bekommen, geben, es gibt (am häufigsten in quasiattributiver Stellung bei einem (Indefinit-)Pronomen: es gab nichts zu essen); 4. scheinen, drohen, versprechen, wissen (mit modaler Bedeutung); 5. pflegen (als iteratives Aktionalitätsverb). V4: Verben mit 0-Infinitiv (oder ZM-Infinitiv) in kohärenter und ZM-Infinitiv in inkohärenter Konstruktion: 1. helfen, lehren, lernen, heißen; 2. gehen, kommen, senden, schicken. V5: Verben mit zw-Infinitiv sowohl in kohärenter als auch in inkohärenter Konstruktion (etwa 350-500 Verben): versuchen, versprechen, sich leisten, sich angewöhnen, vermögen, bitten, überreden,... 25 V6: Verbkonstruktionen mit abhängigem Partizip II (Partizip Perfekt) in obligatorisch kohärenter Konstruktion: 1. haben, sein (als Perfekthilfsverben): 2. werden, sein, bleiben, gehören, bekommen, haben (in Passivkonstruktionen); 3. kommen. In dieser Taxonomie enthalten die Klassen V1-V3 und V6 obligatorisch kohärente Konstruktionen. In der Tat sind alle herkömmlichen Auxiliarkonstruktionen des Deutschen obligatorisch kohärent. In den Klassen V1-V3 und V6 finden sich aber nicht nur herkömmliche Auxiliarkonstruktionen, sondern auch Fügungen, die in traditionellen Hilfsverbübersichten keinen Platz haben. In Anlehnung an Neugeborn (1976) könnte des weiteren als Kriterium semantisch-selektionale und morphosyntaktische Valenzneutralität angesetzt werden. Sowohl obligatorisch kohärente als auch valenzneutrale Verbkonstruktionen sind u.E. die in der Übersicht in (21) durch Fettdruck hervorgehobenen: (21) hypotaktische Verbketten [Verb1 + Verbum infinitum2] V1 mit zusätzlicher nichtsubjektischer Ergänzung V1 ohne zusätzliche nichtsubjektische Ergänzung inkohärent V5: anbieten, ...; V4: lehren, heißen, helfen kohärent VI: lassen, sehen, hören, fühlen, nennen, machen, haben; V2: scheinen inkohärent V5: versuchen, ...; V4: lernen kohärent VI: werden, dürfen, können, mögen, müssen, sollen, wollen; V2: brauchen; V3: sein, bleiben, gehen, haben, bekommen, geben, es gibt, wissen, drohen, versprechen; V6: haben, sein, werden, sein, bleiben, gehören, bekommen, haben, kommen Die durch Fettdruch hervorgehobenen Verben konstituieren temporale, modale oder aktionale Fügungen. Konstruktionen mit den hier zunächst nicht mit genannten Passivhilfsverben (in (21) kursiviert) sind im Verhältnis zu entsprechenden Aktivsätzen mit morphosyntaktischen Veränderungen im Argumentbereich verbunden. Zieht man aber den generalisierten und grammatikalisierten Charakter der betreffenden Veränderungen in Betracht, erscheint aber auch hier die traditionelle Einstufung als 26 Auxiliarverb natürlich. Bei den Verben in (21), die zusätzlich zum Infinitiv auch noch eine nichtsubjektische Ergänzung regieren und denen somit eine eigene morphosyntaktische Valenz zukommt, sind lassen und scheinen (in (21) kursiviert) besondere Fälle. Diese beiden Verben gehören wohl semantisch mit den übrigen Auxiliarverben zusammen - scheinen, weil es epistemisch-modale Bedeutung hat, und lassen, weil es, wie Tesnière hervorhebt, im Deutschen allgemeines Kausativverb ist. Mit den übrigen Auxiliarverben besteht eine Ähnlichkeit, insofern als mit dem Subjekt beider Verben keine spezifischen Selektionsforderungen verbunden sind und darüber hinaus auch im morphosyntaktischen Bereich Annäherung an die Valenzneutralität der prototypischen Auxiliarverben zu beobachten ist. Bei scheinen ist das Dativobjekt fakultativ und wird zumeist nicht gesetzt, und es sind auch subjektlose Konstruktionen möglich: (22) Es schien (uns) ein Irrtum des Computers gewesen zu sein. (23) Darauf scheint nicht mehr geachtet zu werden. Bei lassen können weder beim Subjekt noch beim Akkusativobjekt spezifische semantische Selektionsforderungen angesetzt werden, und im reflexiven Gebrauch -mit passivischer Funktion - sind auch subjektlose Konstruktionen möglich: (24) Damit läßt sich gut arbeiten. Mit dieser Bestimmung deutscher Auxiliarverben aufgrund topologischer Restriktionen und mehr oder weniger weitgehender Neutralisierung spezifischer Valenzforderungen sind wir - mit ein paar Zusätzen aus der Gruppe der sog. "Modalitätsverben" - im Grunde genommen bei Verben, die von Tesnière in den Eléments, wohl auf eher intuitiver Grundlage bzw. in Anlehnung an die grammatische Tradition, als Auxiliarverben angesprochen werden. 5. Schlußwort Während die Aktantenlehre in Tesnières Eléments in der Germanistik sehr früh rezipiert und auf fruchtbare Weise weiterentwickelt wurde (vgl. z.B. Helbig/Schenkel 1969, Heringer 1967, von Polenz 1969), haben seine Ausführungen über Auxiliarverben und Auxiliarkonstruktionen keinen entsprechenden Widerhall gefunden. M.E. liegen die Gründe dafür vor allem in der Einbettung seiner Auxiliarbeschreibung in seine Wortarten- und Translationstheorie, die wohl dem Verständnis der typologischen Relevanz der betreffenden Strukturen im Deutschen weniger förderlich ist. Jedoch lehrt der Vergleich mit den topologischen Studien Bechs, daß der Begriff Verbalnukleus bei Tesnière trotz einiger begrifflicher Unschärfe ein fruchtbarer Begriff ist; aber sein deskriptives Potential wurde von Tesnière selbst nicht voll ausgenutzt. 27 Literaturhinweise Askedal, John Ole, 1982: Über den Zusammenhang zwischen Satztopologie und Statusrektion im Deutschen. In: Studia Neophilologica 54, 287-308. Bech, Gunnar, 1955: Studien über das deutsche verbum infinitum, Bd. 1. Kopenhagen. Haegeman, Liliane, 1991: Introduction to Government and Binding Theory. Oxford. Heibig, Gerhard/Schenkel, Wolfgang, 1969: Wörterbuch zur Valenz und Distribution deutscher Verben. Leipzig. Heringer, Hans-Jürgen, 1967: Wertigkeiten und nullwertige Verben im Deutschen. In: Zeitschrift für deutsche Sprache 23, 13-34. Neugeborn, Wolfgang, 1976: Zur Analyse von Sätzen mit finiter Verbform + Infinitiv. In: Untersuchungen zur Verbvalenz. Eine Dokumentation über die Arbeit an einem deutschen Valenzlexikon, 66-74. Tübingen, von Polenz, Peter, 1969: Der Pertinenzdativ und seine Satzbaupläne. In: Festschrift für Hugo Moser zum 60. Geburtstag am 19. Juni 1969, hg. von Ulrich Engel, Paul Grebe und Heinz Rupp, 146-171. Düsseldorf. Tesnière, Lucien, 1939: Théorie structurale des temps composés. In: Mélanges Bally, 155-183. Genève. Tesnière, Lucien, 1966: Eléments de syntaxe structurale, 2. Ed. Paris. Povzetek POMOŽNI GLAGOLI V TESNIÈRJEVIH ÉLÉMENTS DE SYNTAXE STRUCTURALE Teorija o aktantih, kot jo najdemo pri Tesnièrju, je bila v germanistiki zelo kmalu sprejeta in tudi plodno razvijana (prim. Heringer 1967, Helbig/Schenkel 1969, von Polenz 1969). Nobene odmevnosti pa ni imel Tesnièrjev koncept pomožnih glagolov in glagolskih perifraz. Najbrž je bil glavni razlog v tem, da je bila predstavitev funkcionalnosti pomožnega glagola v Tesnièrjevi teoriji stavčnih členov za tipologijo nemškega glagola manj koristna. Vendar pa uči primerjava s študijami Gunnarja Becha, daje pojem glagolskega jedra pri Tesnièrju kljub nekaterim pojmovnih nedognanostim zelo ploden; vidno pa je, da Tesnière sam ni docela izkoristil možnosti, ki jih opis nudi. 28