379 Thomas Nicklas ∗ Universität Reims DOI: 10.4312/linguistica.60.2.379-380 Fatková, Gabriela/Königsmarková, Andrea/Šlehoferová, Tereza (2018) TACHOVSKÁ KUCHAŘKA RECEPTŮ, PŘIBĚHŮ A VZPOMÍNEK. TACHAUER KOCHBUCH DER REZEPTE, GESCHICHTEN UND ERINNERUNGEN. Pilsen: Západočeská univerzita v Plzni. 319 S., ISBN 978-80-261-0805-4, zahlreiche Abbildungen. Das Tachauer Gebiet liegt im Westen Böhmens, nahe der Grenze zu Bayern. Seine Ge- schichte war im 20. Jahrhundert von schweren Brüchen und einem völligen Austausch der Bevölkerungen gekennzeichnet, so dass der Versuch einer Synthese dieser unter- schiedlichen Geschichten im Plural als ein schier aussichtloses Unterfangen erscheinen muss. Dennoch gelingt es hier, für den eingegrenzten Bereich der Kochkunst und Kuli- narik, in scheinbar müheloser Weise, die widersprüchliche und unzusammenhängende kulturelle Vergangenheit dieser westböhmischen Mikro-Region zu einer Art von höhe- ren Synthese zusammenzuführen. Seit dem späten 18. Jahrhundert war die keineswegs reiche Gegend, deren Einwohner vorwiegend von Land- und Holzwirtschaft lebten, mit ∗ thomas.nicklas@univ-reims.fr Linguistica_2020_2_FINAL.indd 379 Linguistica_2020_2_FINAL.indd 379 24. 03. 2021 14:21:06 24. 03. 2021 14:21:06 380 der Herrschaft der Familie Windisch-Graetz verbunden, die das Schloss in Tachau bis in die 1930er Jahre bewohnte. Mit dem Münchner Abkommen 1938, das die Annektierung des vorwiegend deutschsprachigen Gebietes durch das nationalsozialistische Deutsche Reich zur Folge hatte, begann die Zeit der demographischen und kulturellen Umbrüche im Kreis Tachau, der fortan zum deutschen „Sudentenland“ gehörte. Die tschechisch- sprachige Minderheit wurde vertrieben und es begann die Entrechtung und Verfolgung der Tachauer Juden. Nach Kriegsende 1945 erließ die provisorische tschechoslowakische Regierung eine Reihe von Dekreten zur Ausweisung der deutschsprachigen Bewohner aus dem wiederhergestellten Staatsgebiet. Damit kam es in Tachau wie in vielen anderen Grenzgebieten Böhmens zu einem historischen Bruch, der ein neues geschichtliches Ka- pitel einleitete. Neue Bewohner kamen in den Kreis Tachau, die vorwiegend aus der bis 1938 tschechoslowakischen Karpato-Ukraine oder aus dem Westen Rumäniens stamm- ten, wo sich noch zur Zeit der Habsburgermonarchie Slowaken angesiedelt hatten. Im Zug dieser Bevölkerungsumwälzungen kam Tachau zu einer „zusammenge- setzten Geschichte“, zu der auch die nach 1946 zumeist in Bayern lebenden früheren deutschsprachigen Bewohner gehörten. Ein einerseits banales, aber andererseits unver- zichtbares Verbindungselement dieser unterschiedlichen Kulturen war und ist das Es- sen. Die Herausgeberinnen hatten den vortrefflichen Einfall, die disparate Geschichte Tachaus auf das Elementare der Kochkunst zurückzuführen. Vier Köchinnen fungieren gleichsam als Leitfiguren des Bandes: die Deutschböhmin Hermine, die sich 1946 jen- seits der Grenze wiederfand, ohne jedoch ihre wichtige Rolle in der Küche jemals auf- zugeben, die aus Rumänien zugezogene Ruthenin Anna, die aus der slowakischen Min- derheit in Rumänien stammende Hana und die Tschechin Marie. Das Buch beruht im Wesentlichen auf den Kochrezepten der vier Damen, deren Präsentation dem Zyklus der vier Jahreszeiten folgt. Um diesen kulinarischen und narrativen Kern des Werkes gruppieren sich weitere Rezepte, aber auch Erzählungen und Beobachtungen früherer und späterer Bewohner der Region, so dass der historische und kulturelle Bruch, der mit den Bevölkerungsverschiebungen um 1946 eintrat, in einer alltagsgeschichtlichen Perspektivierung relativiert wird. Der Band ist reich mit Fotografien aus der Lebenswelt des 20. Jahrhunderts il- lustriert, die Abbildungen der Speisen und Gerichte sind sehr gelungen und erhöhen durch den optischen Reiz den Appetit und das Lesevergnügen. Die tschechisch-deut- sche Zweisprachigkeit im Buch trägt nicht nur der historischen Bikulturalität der Re- gion Rechnung, sie bereichert auch die Präsentation. Leser mit einigen Kenntnissen in der jeweils anderen Sprache können in gewinnbringender Weise zwischen beiden Idiomen wechseln und deutsch-tschechische Spaziergänge durch die Alltagskulturen unternehmen. Neben den Rezepten, die sich hervorragend zum Nachkochen eignen, erfahren die Leser viele Einzelheiten zum ländlichen Brauchtum sowie zur Geschichte der Grenzregion. In methodischer Hinsicht gelingt die Verknüpfung von Oral History und Archivmaterial sehr überzeugend. Die Arbeit an dem Werk wurde vom europäi- schen Programm zur grenzübergreifenden Zusammenarbeit zwischen Bayern und der Tschechischen Republik (ETZ 2014-2020) gefördert und kann im Hinblick auf seine formale Gestaltung und seine inhaltliche Qualität als vorbildlich für weitere Projekte alltagskultureller Verknüpfung in einem europäischen Rahmen angesehen werden. Linguistica_2020_2_FINAL.indd 380 Linguistica_2020_2_FINAL.indd 380 24. 03. 2021 14:21:06 24. 03. 2021 14:21:06