&0C0/, js&, vf Ein ApazierMNss um äie Me^t. Ein Spaziergang um die Welt von Alexander Freiherrn von Hübner. Deutsche Ausgabe u 4. zum 16. November. Die „Roncessionen". — Die chinesische 5lndt, — bn-kia-wei. Eine Harnische 5^mphonie, — Dos wniscnh'Uis der Schwestern, — Handels. veshiiüiiisfe. (3. Oktober.) Der Himmel grau, die Luft unangenehm kalt. Ein frischer Mnssun aus Nord-West. Sind wir in Ruhland? Gestern glaubten wir uns unter dem Aequator zu befinden. Und doch haben wir den 31. Breitengrad nicht verlassen. Um Mittag trennen uns noch zweihundert Meilen von der Mündung des Yang-tse-kiang, und schon erblaßt das Meer. Gegen Abend ist es kothfarbig geworden. (4. Oktober.) Um zehn Uhr läuft die New-York in dm „großen Fluß" ein. Mit Recht geben ihm die Chinesen diesen Namen; denn, nach dem Amazonenfluß und dem Mississifti, ist er der größte Strom der Welt. Sein 4 nördliches Ufer bleibt unsichtbar. Zu unsrer Linken entrollen sich die Ebenen von Kiang-su. Einige große Han-delssteamer unter englischer Flagge plätschern in den, jetzt Windgepeischten, blaßgelben Fluchen dieser riesigen Gosse. Pilotenboote und Djonken, letztere haben alle ihr ungeheures Segel aufgesetzt, laviren wie auf offener See. Um Ein Uhr biegt die New-Iork in den Hwang-pu ein, dampft den flachen, grünen, mit Dörfern besäten Ufern entlang an der französischen Kriegsstation Wusung vorbei. Man könnte sich in Yorkshire glauben. Nichts was den Geist oder die Phantasie anregte. Hundertmal hat man solche Gegenden gesehen. Aber je mehr wir uns der großen Metropole nähern, um so belebter finden wir den Fluß. Schon zeigen sich, hinter einem Mastenwalde, die imposanten Gebäude der englischen Stadt, die Häuser der amerikanischen Koncession, die flatternden Flaggen der Konsulate. Wir Passiren die Docks und Werften der amerikanischen Gesellschaft deren große, weiß angestrichene, zweistöckige Steamer den Dang-tse-kiang befahren. Weiter oben gewahren wir kommend und gehend oder vor Anker liegend, die Schisse der englischen Peninsular- and Oriental-Gesellschaft und der französischen Messagerien, eine Menge Kauffahrteidampfer die von London, Liverpool, Glasgow gekommen sind, die Flotille der hiesigen großen Häuser Iardine und Rüssel und, um jedes dieser großen Schiffe 5 wie Planeten um ihre Sonne gravitirend, einen Ring von chinesischen beim Ein- und Ausladen beschäftigten Sampanen. Auch Segelschiffe fehlen nicht, aber seit der Eröffnung des Suezkanals sind sie seltener geworden. Der Dampf beansprucht bereits die Alleinherrschaft über die Meere. Mein patriotisches Auge erfreut sich an dem Anblick der schönen österreichischen Korvette Fasana die, von Kapitän Funk befehligt, unlängst hier einlief. Im Hintergrunde des Hafens verirrt sich das Auge in einem verworrenen Knäuel von Masten, Naaen und fantastisch geformten Segeln. Es sind große und kleine Djonken die unter den Mauern der chinesischen Stadt liegen. Auf ihrem Hintertheile sieht man zwei Augen gemalt. Leider machen die Kapitäne von den ihrigen nicht immer hinlänglichen Gebrauch, oder sie wollen aus Patriotismus den europäischen Steamern zum Spotte hart am Bugspriet vorübersegeln, eine häufige Veranlassung von Unfällen deren Opfer sie meist selbst sind. Mir machen diese großen, mit bösen Absichten auf mich gerichteten Augen einen unheimlichen Eindruck. Sie sind das, freilich lügenhafte, Symbol der Wachsamkeit und geben dem Schiffe das Aussehen eines belebten Wesens, eines Ungeheuers das ausgezogen ist um uns zu verschlingen. Wir landen in der amerikanischen Niederlassung wo mich unser Generalkonsul in Shanghai, zugleich Minister- 6 Resident in China und Japan, Herr von Calice auf das Freundlichste begrüßt. Mit Dank nehme ich seine herzlich gebotene und glänzende Gastfreundschaft an. Iemehr ich mit dieser Stadt Bekanntschaft mache, um so mehr steigt meine Bewunderung. Zwar hat die Lage, in einer flachen sumpfigen Ebene, nichts Anziehendes. Die Gegend ist gewiß nicht malerisch, eigentlich entschieden häßlich. Auch die Wohnsitze der reichen Kaufleute, große, imposante, prächtige und anspruchsvolle Gebäude, lassen in architektonischer Beziehung zu wünschen übrig: und was das Klima anbelangt, so erfreut sich Shanghai, immer mehr und mehr mit Unrecht, des übelsten Rufes. Was ich bewundere ist die Kühnheit, die Ausdauer, die erfindungsreiche, elastische, unermüdliche Thätigkeit des anglo-sächsischen Genius der den Gedanken fassen konnte hier eine Stadt zu gründen, der sie wirklich gegründet hat, der den Kampf aufnahm mit der Natur, mit den Menschen, mit den Verhältnissen; der alle Schwierigkeiten überwand-versteckten Widerstand der chinesischen Negierung, Angriffe der Nebellen, Handels- und Finanzkrisen, Eifersüchteleien zwischen den Einwanderern verschiedener Nationalität, Zerwürfnisse im Schooße der brittischen Gemeinde. Gewiß, die Engländer können nicht alles Verdienst beanspruchen: 7 auch der französischen Regierung gebührt ihr Antheil. Aber acht Zehntel der im Handel und der Schifffahrt angelegten Kapitalien kommen aus England, und in der weißen Bevölkerung zählt man vier Engländer auf einen Nicht-Britten. Die große Verschiedenheit zwischen dem französischen Nationalcharakter und dem englischen, so augenfällig im fernsten Osten wie überall wo die Flaggen beider Länder neben einander wehen, drängt sich auch hier dem Beobachter auf. Die brittische Faktorei ist die Schöpfung von Privatleuten welchen ihre Negierung moralische Unterstützung und, vorübergehend und ausnahmsweise, den Schutz der Waffen gewährte. Die französischen Niederlassungen sind das Werk der Regierung. Mit oder ohne Mitwirkung der Landes-angchörigen kamen sie zu Stande. Die amtlichen Vertreter Frankreichs schreiten an der Spitze ihrer Kolonisten, die englischen Staatsbeamten bilden die Reserve und den Nachzug der brittischen. Erstere geben ihren Staatsangehörigen den Antrieb und die Richtung; letztere beschützen die Ihrigen und kühlen ihren zuweilen unbescheidenen Eifer. Die Regierungsorgane beider Länder liefern den Landsleuten fortwährend Stoff zur Kritik, und diese Kritik ist nicht immer eine wohlwollende. Die Engländer betlagen sich zu viel, die Franzosen zu wenig regiert zu Werden; die Engländer sagen: unser Konsul mischt sich in Alles; die Franzosen: unser Konsul kümmert sich um nichts. In Wirklichkeit sehen sich die brittischen Behörden weniger veranlaßt zu leiten als zu kontroliren, während die französischen Konsuln genöthigt sind zu regieren und manchmal auch zu herrschen. Man denke sich die Wirksamkeit dieser Funktionäre beseitigt, die französische Flagge eingezogen, das im Hafen stationirende Kriegsschiff abgesegelt, und in wenigen Jahren wird die Niederlassung verschwunden sein. Ganz Anderes würde sich in einem solchen Falle in einer englischen Faktorei ereignen. Nach dem Abzüge der offi-ciellen Vertreter und der Truppen der Königin würden die Residenten zusammentreten, zunächst für Aufrechterhaltung der Ordnung, sodann für Abwehr auswärtiger Angriffe sorgen. Vielleicht gäbe es böse Stunden, aber am Ende würden die achtbaren Elemente das Uebergewicht behaupten und wenn nicht angenehme doch erträgliche Zustände geschaffen werden. Die Franzosen, ich wiederhole es, würden mit den Civil- und Militärbehörden abziehen, und die wenigen Zurückbleibenden sich mit den Eingebornen verschmelzen. Dies hat sich oft ereignet und ist oft gesagt worden, und Wenn ich daran erinnere, so geschieht es, Weil diese Betrachtung das Verständniß der Zustände in Shanghai erleichtert, und nicht um den Franzosen etwas Unangenehmes zu sagen. Man kann eine große Nation sein ohne den Beruf für Kolonisirung zu besitzen. 9 Was versteht man überhaupt unter Kolonisiren? Wäre es die Urbarmachung des Aodens? In dieser Hinsicht gehören die Kolonien Ludwigs XIV. in Canada zu den blühendsten die es gibt. Wäre es die Ausbeutung des Bodens zum Nutzen der Einwanderer? Dann gebührt, ohne Zweifel, den Engländern die Palme. Versteht man aber unter Kolonisiren die Verbreitung der Civilisation unter der eingebornen Bevölkerung der besetzten Territorien, so halte ich die Portugiesen und Spanier aus dem sechszehnten und siebenzehntcn Jahrhunderte für die ersten Kolonisatoren der Welt. Die Geschichtsschreibung, die übrigens nicht aus unparteiischen Federn stammt, tadelt mit Necht, wenn die gegebenen Thatsachen wahr sind, die Grausamkeit der spanischen und portugiesischen Konquistadoren. Selbst jene von ihnen deren Menschlichkeit gerühmt wird ergriffen zuweilen Maßregeln die dem Geiste unseres Jahrhunderts widerstreben. Aber die überseeischen Besitzungen dieser Kronen, namentlich der spanischen, waren reich und blühend, die Hauptstädte der Pre-sidencias Mittelpunkte der Civilisation. Die Eingebornen erschienen dort, nahmen in sich auf, verbreiteten in ihren Urwäldern, zugleich mit dem vielleicht noch schwachen Lichte des Christenthums, die ihnen gleichfalls noch nicht vollkommen klaren Ideen und Gebräuche der gesitteten Welt. Es war ein wirtlicher und dauernder Fortschritt. 10 Zeugen deren Aussagen nicht verdächtig sein können, Männer wie Alexander von Humboldt, welche die amerikanischen Kolonien zu Anfang des Jahrhunderts besuchten, also nachdem Spanien schon lange von dem Range einer Großmacht herabgesunken war, sprechen mit Bewunderung von der trefflichen Organisation der Verwaltung, von der Regelmäßigkeit und Ordnung in allen Zweigen des öffentlichen Dienstes, von der Ruhe und Sicherheit die in den entlegensten Gegenden herrschte, von der praktischen Weisheit der unter den Philippen für die Kolonien erlassenen Gesetze. Der Hof von Madrid zog allerdings die Metallschätze seiner überseeischen Besitzungen an sich, aber das Mutterland gab dafür sein Blut. Die unablässige Auswanderung, welche Spanien am Ende erschöpfen mußte, ist in der That eine der Hauptursachen des so raschen Verfalles dieser edlen und ritterlichen Nation. Noch immer entsenden einige Provinzen ihre ganze Jugend „nach dem andern Ufer", w otin tmn^ das heißt nach den Westlichen Gestaden des atlantischen Oceans. Im nördlichen Theile der Halbinsel, besonders in Asturien, ficht man nur Frauen und Greise. Die Männer sind alle (wenn nicht nach Andalusien) nach der Havana gegangen, nach Peru, nach dem Rio de la Plata. In den entlegensten Schluchten des kantabrischen Hochgebirges, in den elendesten Dörfern fand ich Maueranschläge mit Ankün- 11 digung von Neisegelegenheit nach Cuba und Südamerika. Die Schiffe segeln von Santandcr, von Gijon, von Ri-badesilla, von andern kleinen Häfen ab und führen alle, wie diese Zettel hinzufügen, einen Arzt und einen Geistlichen an Vord. Eine löbliche und nur zu gerechtfertigte Vorsichtsmaßregel, denn die Sterblichkeit während der Ueberfahrt ist gewöhnlich entsetzlich. Jeder dieser Auswanderer, und ehedem war dies noch mehr als jetzt der Fall, ist, meist ohne es zu wissen, ein Verbreiter der Gesittung , ein Commis voyageur der Civilisation. Unleugbare Thatsachen beweisen es. Wo immer der spanische Scepter herrschte, findet man indianische Stämme welche das Christenthum und, bis zu einem gewissen Grade, unsere Sitten und Ideen annahmen. Die meisten Männer die wir in den südamerikanischen Republiken an der Spitze der Geschäfte sehen sind indianischer Abkunft. Unter meinen Kollegen im diplomatischen Korps gab es Rolhhäute vom reinsten Blut, und ich kenne Damen mit demselben Teint welche sich von Worth kleiden lassen und die Rouladen der Patti bewundern. Es fällt mir nicht ein die rothgcfärbten Präsidenten der Republik, Minister und Würdenträger als Muster der Staatsweisheit aufzustellen, und ich muthe Niemandem zu sich die musikalische Kritik jener Frauen anzueignen; aber merkwürdig bleibt darum die Thatsache nicht minder, daß Wilde einen ähnlichen 12 Grad von Bildung erreichen tonnten. Und dies ist das Wert der spanischen Kolonisation. Können die Engländer Achnliches aufweisen? Ich spreche hier nicht von Indien, welches ich nicht besucht habe. Ueberall anderwärts, besonders in Nordamerika, ist die Berührung der Anglo-Sachsen den Wilden und Halbwilden verderblich. Sie nehmen nur die Laster der Europäer an, sie hassen, sie fliehen uns (das Vernünftigste, was sie thun können), oder sie verkommen. Im besten Falle bleiben sie was sie waren: Wilde. Uebrigens, wozu Vergleiche anstellen? Geben wir einer jeden der tolonisirenden Nationen die Ehre die ihr gebührt. Was haben nun aber die „fremden Teufel" in Shanghai geschaffen, und wie gingen sie dabei zu Werte? Der Hwang-pu, obgleich in Wirklichkeit nur ein Creek, ist bei Shanghai eine halbe englische Meile breit und zeigt sich als majestätischer Strom. Er fließt von Süd nach Nord und biegt dann plötzlich gegen Ost. In dieser Kurve liegen am linken Ufer die ersten Häuser, welche der vom Jang-tse-kiang Kommende erblickt. Sie gehören zur amerikanischen „Koncession". Diese ist von dcr englischen durch den Suchow-Creek getrennt und letztere stößt an die französische, welche, die südlichste von den dreien, durch einen anderen Creek von der chinesischen Stadt geschieden wird. 13 In der amerikanischen Koncession befinden sich einige Konsulate, einige niedere Häuser, viele große und kleine Magazine, und, am ostlichen Ausgange, eine neu gebaute Straße mit schönen kleinen Häusern. Die englische Koncession ist der große Mittelpunkt der Handelsthätigkeit. Die Einkünfte der Stadt, die aus dem Ergebnisse der Taren, der Postgefälle u. s. f. bestehen, werden in diesem Jahre sechzigtausend Pfund Sterling betragen. Dies gibt einen Begriff von ihrer municipalen Bedeutung, Daher kommt es daß die vorzüglichsten amerikanischen Handelshäuser, über Vorurtheilc hinaus gehend wie dies dem Yankee selten schwer fällt, allmälig nach der brittischen Niederlassung gezogen sind. Eine Brücke über den Suchow-Creek führt in die englische Stadt. Da entwickelt sich, dem Quai entlang der „Bund" heißt, eine lange Reihe von monumentalen Bauten, wahren Palästen nach englischem Geschmack. Der exotische Zusatz ist die unentbehrliche Veranda die gegen die tropische Sommerhitze schützen soll und gegen die kalten Winde während der sibirischen Winter. Ich kenne wenige so imposante Stadtansichten. Alle diese Häuser scheinen fürstliche Wohnsitze zu sein. Sie sind dem Hwang-ftu zugewandt, auf dem die Reichthümer gebracht oder gewonnen wurden mit deren Hilfe jene Prachtbauten entstanden. Hier befindet sich das brittische Konsulat: eine Gruppe von Häusern, l4 darunter der Gerichtshof und die Wohnung des englischen Oberrichters, auf einem geräumigen durch eine Ringmauer eingefriedeten Terrain. Dann folgen die Wohnsitze der Merchant-Princes i unter ihnen fallen die der HH. Iardin und Co. und der HH. Dent besonders in die Augen. Am Quai, den Häusern gegenüber, wurde der öffentliche Garten angelegt. In diesem Augenblicke beugen sich die schönen Bäume unter dem wuchtigen Anprall der „schwarzen Vise" aus Nord-Ost; da fallen die letzten dürren Blätter! Das Blut gerinnt in den Adern der wenigen Spaziergänger. Dieser Quai ist wirklich prachtvoll. Nichts fehlt seiner Glorie als ein Steindamm. Aber Stein gibt es hier nicht. Shanghai liegt am Rande einer ungeheuren Alluvialebene der alles Baumaterial abgeht. An vielen Landungsplätzen, den Godowns, ersetzen dermalen noch Bretter und Ballen den künftigen Granit, und um in ein Boot oder aus diesem auf die Terra ferma zu gelangen bedarf es gymnastischer Künste. Vrittisch-Shanghai besitzt zwei oder drei Kirchen deren größte, wegen Mangel an Geld, noch leinen Thurm hat. Hinter dem pomphaften Vorhange den die Paläste bilden dehnt sich die englische Stadt von Westen bis an den De-fense-Creek aus. Dort weicht das Gefallen am Schönen und Neberflüssigen den Anforderungen des Nützlichen und Nothwendigen. Man sieht da nichts als Magazine, Nie- 15 derlagen und Kaufläden, letztere mit allen Erzeugnissen der englischen Industrie reichlich versehen. Man könnte sich in „Oxford-Street" oder am „Strand" wähnen. In dieser Beziehung erträgt weder Yokohama noch irgend eine europäische Stadt in Asien, Kalkutta und Bombay ausgenommen, den Vergleich mit Shanghai. In den entlegneren Gassen des brittischen Settlement hausen chinesische Kaufleute. In ihren Magazinen findet man gleichfalls englische Industrieftrodukte, vielleicht von etwas geringerer Gattung, aber zu auffallend niederen Preisen. Der Chinese ist dem europäischen Kaufmann durch die Wohlfeilheit überlegen: mit andern Worten, er begnügt sich mit geringerem Gewinn und verlangt nicht über Nacht reich zu werden, zwei Eigenschaften die, bei sonst gleichen Verhältnissen, ihm im Laufe der Zeit den Sieg über den weißen Konkurrenten sichern müssen. Die Häuser sind numerirt, obgleich die Chinesen den Ziffern Namen vorziehen. So entschieden ist diese Vorliebe daß selbst große englische Häuser ihre Firmen dem Landesgeschmacke angepaßt haben. So nannten sich Dent und Co. .Kostbar und Gefällig": Iardin und Co. „Ehrlich und Harmonisch". In den Straßen ein Gemisch von gelben und weißen Männern; nur wenige chinesische Weiber, noch weniger Europäerinnen. Auch in Shanghai, wie in allen Niederlassungen des fernsten Orients, äußert die Abwesen- 16 heit der Frau ihre traurigen Folgen. Indeß seit cin oder Zwei Jahren wird dieser kostbare Artikel in größeren Quantitäten eingeführt. Die Handlungskommis reisen mit Urlaub nach Europa und kommen mit Gattinnen zurück. Die Zahl der verheirateten Leute vermehrt sich. Schon gewahrt man das ersprießliche Wirken der ehrbaren Frau. Um diese Stunde ist der Bund sehr belebt. Zu Fuß, zu Pferd, zu Schiebkarren zieht man vorüber. Der Schiebkarren ist der irische Kar, nur vereinfacht, denn er hat nur Ein Rad: ein Chinese schiebt ihn. Zwei Personen gewährt er Platz; sie fitzen mit gegeneinander gekehrtem Rücken; die Füße stützen sie auf ein Vrettchen. Ich sehe schöne australische und Cappferde, für die sehr hohe Preise gezahlt werden, und kleine gute wohlfeile mongolische Ponies. Seit Kurzem bringen die großen Dampfer der Pacific-Company auch Pferde aus Kalifornien. Die Handelsherren halten schöne Equipagen; jeder Kommis hat sein Gig oder sein Reitpferd. Wir gehen immer dem Quai entlang und betreten nun die französische Koncession. Auch hier heißt der Quai Bund; aber das geschäftige Treiben hat an der Grenze der englischen Niederlassung aufgehört. Selbst die Häuser der Residenten halten den Vergleich mit denen der brit-tischen Stadt nicht aus. Um so mehr fällt die Pracht des französischen Konsulates, der großen Kathedrale und 17 des Gemeindehauses in die Augen. Wie ist hier doch Alles so ganz anders! Dort befindet man sich in einer Faktorei, hier in einer Kolonie. Dort thun die Kaufleute, die Residenten Alles, nicht immer nach einem sorgfältig ausgearbeiteten Plane, oft unter dem Drucke augenblicklicher Bedürfnisse oder vorübergehender Launen, aber sie thun was eben nöthig, und sie thun es selbst und allein. Hier denkt, überlegt, handelt, methodisch und in den bureau-kratischen Formen, die Regierung. Die Regierung hat Alles erdacht, angeordnet, ausgeführt. Die Residenten sind Gegenstand der Verwaltung. Widerstand, wenn sie dergleichen versuchen sollten, wird mit Leichtigkeit gebrochen. Es geschah einmal daß der Gemeinderath sich widerhaarig erwies. Sogleich löste ihn der Konsul auf- die Rädelsführer in der löblichen Municipalität ließ er einsperren: somit hatte die Sache ihr Ende. Versteht sich, daß wir auch die chinesische Stadt besuchen. Sie liegt, wie bereits gesagt, im Süden der europäischen Koncessionen, und ist von einer hohen Mauer eingeschlossen. Durch eines ihrer sieben Thore dringen wir in ein Labyrinth von Gassen und Gäßchen und besehen: den großen Tempel mit seinem Garten der reicher an künstlichen Felsen ist als an Blumen; die den japanischen weit nachstehenden Theehäuser; endlich mehrere theils elegante theils von den unteren Ständen besuchte Speise- Hübncl-, Sftaziel'gang III. ^ Häuser. Drei Dingo haben diese Restaurationen gemein: die verpestete Luft, den Höllenlärm den die Gäste machen, den unbeschreiblichen Schmutz der Aufwärter und Köche. Ich las so viele Beschreibungen von chinesischen Städten daß die erste welche ich besuche für mich nicht einmal den Reiz der Neuheit besitzt. Zur Ehre der Shanghaier und zur Steuer der Wahrheit soll aber doch gesagt sein daß die meisten Reisenden, wie mich dünkt, das Bild was sie von dieser Stadt entwerfen mit absichtlich übertriebenen Scheußlichkeiten ausschmücken. Uebrigens, was man in manchen Gäßchen und Winkeln zu sehen und zu riechen bekommt ist allerdings arg genug. Um diese unsymftatischen Orte zu verlassen sind wir gezwungen in einem Strome menschlicher Wesen zu steuern, Ellbogenstöße zu empfangen und zu ertheilen, überdies uns noch gewissen Unzukömmlichkeiten auszusetzen die in chinesischen Volkshaufen nie fehlen. Auf einem Platze staut sich die Menge. Die Veranlassung ist ein Taschenspieler. Es gelingt mir durch eine heroische Kraftanstrengung mich neben den zerlumpten Künstler zu stellen. Armer Bursche, er hat offenbar nicht zu Mittag gegessen und, nach den spärlich geernteten Sapeken Zu urtheilen, steht ihm kein reichliches Abendbrot bevor. Spitzbüberei, Unverschämtheit und Noth sprechen aus seiner feinen, geistreichen Phyfionomie. Und doch sind seine Leistungen unglaublich. Ich frage mich 19 ob dies nicht wirkliche Zauberei ist. Er verschluckte ein halbes Dutzend kleiner Tassen von sehr feinem Porzellan i dann nach einigen Minuten gab er sie wieder auf demselben Wege von sich. Ich stand dicht neben ihm, und sah es mit eigenen Augen. Anatomisten und Aerzte werden um Erklärung gebeten. Vor einigen Tagen producirte sein Kamerad dasselbe Kunststück. Er verschlang die Tassen, konnte sie aber nicht wieder aussveicn, und starb unter furchtbaren Schmerzen. Nun aber, Gott lob, sind wir im Freien. Die Stadt liegt hinter uns, unsere Lungen erweitern sich, wir athmen frei auf, und keine mevhitischen Dünste beleidigen unser Geruchsorgan. Weit und breit ist das Land flach, grün, baumlos, einförmig, häßlich. Am Horizont reiht sich eine mehrstöckige Pagode von: bleiernen Himmel ab. Unweit dieses Thurmes, etwa fünf Meilen von Shanghai, liegt in einem schön gehaltenen Garten das alte und berühmte Jesuiten-Kollegium Sü-kia-wei. Im siebenzehnten Jahrhunderte gegründet, während der großen Christenverfolgungen wie alle geistlichen Niederlassungen zerstört, am Schlüsse des letzten Krieges der Gesellschaft Jesu wiedergegeben, beim Anrücken der Taevmg neuerdings verlassen und wieder bezogen nach der Flucht der letzteren, erstand die große Anstalt verjüngt aus ihrer Asche, und blüht und gedeiht heute mehr als je zuvor. Alle Patres, mit Aus- 2* 20 nähme des Oberen der ein Italicner und dreier Chinesen, sind Franzosen. Alle tragen die Landestracht und dcn langen schwarzen Zopf. Die Zöglinge sind meist Söhne christlicher Eltern und alle, ohne Alisnahme, Gingeborene. Im Waisenhause befinden sich die von ihren sehr häusig heidnischen Eltern gebrachten Knaben. Merkwürdig, aber bis jetzt nicht erklärt ist die Thatsache daß seit vorigem Jahre, das heißt seit dem Blutbade von Tien-tsin das im ganzen Reiche ein so ungeheures Aufsehen erregte, die Zahl der den Priestern übergebenen Kinder bedeutend zunahm. Es wurde oft bemerkt daft die Engländer ihre Sitten und Neberlieferungen allenthalben bewahren und in die fernsten Himmelsstriche tragen. Dasselbe könnte man von den Jesuiten sagen, Ucberall gleichen sich ihre Kollegien. Ein oder zwei Säle; in der Mitte des Hauses ein Korridor: zu beiden Seiten die kleinen aber reinlichen Zellen der Patres, die Schul- und Schlafsäle der Zöglinge, die Küchen und Refektorien, Alles mit dem Gepräge der Ordnung und Zucht. Hier treiben die Zöglinge klassische Studien, im chinesischen Sinne, und erwerben sogenannte nützliche Kenntnisse. Die Waisen werden zu Handwerkern erzogen. Ein jeder dieser jungen Leute bringt, wenn er in seine Familie zurückkehrt, die Keime der Civilisation mit sich. Alle, Patres und Zöglinge, sehen gesund und heiter aus. Bevor wir scheiden, will uns der Superior eine mu- 21 sikalische Vorstellung zum Besten geben. Nnter der Lei' iung eines chinesischen Pater spielen die Zöglinge eine Haydnische Symphonie. Der hochwiirdige Direktor des Orchesters steckt eine riesige Brille auf die Nase und ergreift den Taktstab: die jungen Virtuosen heften ihre kleinen geschlitzten Augen auf die Noten und exekutiren, im Schweiße ihres Angesichts aber gar nicht übel, eine der herrlichsten Schöpfungen des großen Meisters. Haydn in China, von Chinesen vorgetragen! Wir alle konnten uns einer gewissen Rührung nicht erwehren. Die Mission zählt ungefähr achtzig Priester, deren Mehrzahl in den verschiedenen „Christenheiten" (um mich des üblichen Ausdruckes zu bedienen) der Provinzen Kiang-su und Ngan-Hwei zerstreut ist. Zweimal im Jahre versammeln sie sich hier um Exercitien zu machen und einige Tage der Erholung, dem Gedanken-Austausche und dem Genusse der mäßigen Bequemlichkeiten zu widmen die das Kolleg zu bieten vermag. Es sind glückliche Stunden im Dasein dieser opferwilligen Männer deren Leben eine Kette von Arbeit, Gefahr und Entbehrung ist. Wenige Schritte von Sü-kia-wei befinden sich eins Erziehungsanstalt und ein Orphelinat für Mädchen, beide von Klosterfrauen geleitet.*) Die Vorgesetzte, eine junge *) SJon bet Societe dts rditfiouses auxiJiatrices des ämes du juirgatoirt;. 3)ie ©rünbecitt ist gräultin ©ugeuie öon ©inet 2x! Frau von angenehmem Aeußern, mit einem sanften und geistreichen Gesicht, empfängt uns mit der ungezwungenen Anmuth einer vornehmen Dame. Sie spricht ein Französisch wie man es im Faubourg St. Germain hört, aus dem sie eben gekommen scheint, um sich in dieser Einöde zu begraben, um hier ihre schönsten Jahre, ihre Gesundheit, wahrscheinlich das Leben den schweren Pflichten ihres Berufes zu opfern. Sie zeigt uns die ganze Ansta lt, und als ausnahmsweise Gunst, auch das den Männern unzugängliche Pensionat. Wir treten in einen großen Hof umgeben von kleinen Zimmern m welchen die Mädchen, von fünf bis sechszehn Jahren, in Altersgruppen getheilt, einen ihren künftigen Verhältnissen entsprechenden Unterricht erhalten. Sie haben Alle ein gesundes Aussehen, sind sehr rein gehalten und einfach aber anständig gekleidet. Keine schien mir hübsch zu sein, aber vielleicht bin ich noch zu wenig an Menschen und Dinge in China gewöhnt um die weibliche Schönheit nach landesüblichen Begriffen zu beurtheilen. Die jungen Personen fühlten offenbar die größte Lust die in diesen Räumen seltenen Vögel, Europäer we keine Patres sind, zu betrachten, aber sie fügten sich der Negel welche in Gegenwart der Vorgesetz- oder, nach ihrem Klosternamen, Marie de la Providence, geb^ zu Lille 1825, gestorben in Paris 1871. 23 ten verdoppelten Eifer vorschreibt. So entwickeln sie denn die größte Lernbegier; die einen, ein Vuch in der Hand, wiederholen ihre Lektion mit lauter Stimme, andere sind mit Nadelarbcit beschäftigt; einige, bereits Misterinnen in dieser Kunst, sitzen am Stickrahmen. Wir werden nun in das Orphelinat geführt, den Zufluchtsort neugeborener Kinder die entweder von ihrer Familie den Klosterfrauen gebracht oder auf offener Straße aufgelesen wurden. Diese armen Geschöpfe, alle Mädchen, kleine Bündel von Haut und Knochen, kaum noch athmend, meist schon an schmutzigen Krankheiten leidend, mit Wunden und Aussatz bedeckt, werden getauft, gewaschen, verbunden, gepflegt, wenn sie mit dem Leben davonkommen, im Hause erzogen, später mit Christen verheirathet oder in christlichen Familien als Mägde untergebracht. Wir treten in einen der Säle. Er ist geräumig, hoch, sehr rein gehalten, und gut gelüftet. Längs den Wänden stehen Wiegen. Eine jede enthält zwei Kinder die einander gegenüber liegen. Ueber sie geneigt sind Klosterfrauen mit ihrer Pflege beschäftigt. Welch seltsamer, welch Wundervoller Umschwung in dem nur nach Stunden zählenden Dasein dieser kleinen Wesen! Am Nande des Grabes geboren, lagen sie noch gestern auf einem Misthaufen, ciner langsamen Agonie ausgesetzt oder den Schweinen als Futter preisgegeben. Heute haben sie Mütter gefun- 24 den, die von den Enden der Welt zu ihrer Rettung herbeigeeilt sind. Frankreich ist reich: es vermag seinen Ruhm, seine Ideen, seine Launen zu bezahlen, zuweilen seine Verirrungen und Fehler. Seit Ludwig XIV. wollte es in allen Theilen der Welt die Nationen erstaunen durch den Glanz seiner Größe. Die Verwirklichung dieser Absicht kostet dem Lande, im Verhältniß zu den geringen materiellen Interessen die es in den fernen Landen zu vertreten hat, sehr bedeutende Opfer. Aber diese Rücksicht wurde nie in Anschlag gebracht. Frankreich hat sich die Aufgabe gestellt seine Religionsgenossen unter allen Himmelsstrichen zu beschützen. Untersuchen wir nicht ob hier immer nur rein religiöse Triebfedern wirken. Das Ergebniß, wer wollte dies leugnen?, ist ein der Menschheit geleisteter Dienst. Im Reiche der Ideen besitzen die Franzosen mehr Exftensivkraft als irgend ein andres Volk. Viel Gutes und sehr viel Uebles wirkend, verbreiteten sie in der gesitteten Welt ihre Ideen, ihren Geschmack, ja selbst ihre Moden. Aber keine Nation ist weniger geneigt körperlich den Ort zu wechseln. Die französischen Auswandrer sind überall die wenigst zahlreichen und gehören, ehrenvolle Ausnahmen zugegeben, nicht immer zu den Auserwählten ihres Stammes. Frankreich bietet allen seinen Söhnen Naum 25 und Mittel um sich zu ernähren, um zum Wohlstand selbst zu Reichthum zu gelangen; es eröffnet ihnen die höchsten Stellungen in der Gesellschaft und im Staat. Wer Frankreich verläßt findet selten in der Ferne das Glück das er in der Heimath zu suchen verschmäht hat. Aber neben diesen Auswandrern die nicht immer große Erfolge erringen gibt es andere. Diese, im Dunkeln lebend und wirkend, umgeben sich und ihr fernes Vaterland mit dem strahlenden Glänze unvergänglichen Ruhms. Wo man in China, übcr einem Konsulatsgebäude, die französische Fahne wehen sieht, wird man immer in nächster Nähe eine Kirche gewahren, ein Kloster, eine Schule, ein Spital. Dort erschließen sich die Geister dem Lichte der Civilisation, die Herzen den Wahrheiten des Glaubens, dort werden Seelen und Leiber geheilt, die apostolischen Tugenden der Nächstenliebe und der Entsagung geübt. Alle Missionäre und alle Nonnen sind nicht Franzosen; auch Italien, Spanien und Belgien liefern ihren Antheil; aber die große Mehrzahl dieser christlichen Helden gehört Frankreich an, und Frankreich deckt sie mit seinem gewaltigen Schutz. Unweit der Mündung des Yang-tse-kiang, an den Ufern eines tiefen, für die größten Schiffe fahrbaren Flusses erbaut, war Shanghai, seit undenklicher Zeit, der natür- 56 liche Hafen von Suchow, dieser reichen und blühenden Stadt welche, an dem großen Kanal und im Mittelpunkte eines Netzes von schissbaren Wassern gelegen, für das Haupt-temftorium von Nord-China gilt. Kanäle und kleine natürliche Nasserzüge verbinden beide Städte. Eine Entfernung von nur neunzig Meilen trennt sie. Bereits um die Mitte des vorigen' Jahrhunderts hatten Agenten der ostindischen Kompagnie die Errichtung einer Faktorei in Shanghai empfohlen, ein Gedanke der sich erst neunzig Jahre später verwirklichen sollte. Nach Abschluß des ersten Krieges, in Gemäßheit des Nankinger Vertrages *), faßten die Engländer Fuß in dieser Stadt. Schon die Geburt des neuen Settlement war eine schwierige gewesen. Auch die erste Entwicklung des Kindes ging langsam von statten; man fragte sich sogar ob es überhaupt lebensfähig sei. Das Klima galt für ungesund und war es in der That, denn der Boden dieser unermeßlichen von angeschwemmtem Erdreich gebildeten Ebene welche die Provinz Kiang-su ist erhebt sich kaum über den Wasserspiegel des Stromes. Steine und Holz fehlten. Der Boden war sumpfig; einige Fuß unter der Oberfläche stieß man auf Nasser. Man mußte also auf Pfählen bauen und die Steine aus der Ferne kommen lassen. Nur mühselig fristete die neue "-) 1642. 27 Ansiedlung ihr Dasein während der ersten zehn Jahre. Da geschah es daß, unerwartet, der Seidenhandel mit Einem Male bedeutenden Aufschwung nahm. Auch kamen andere Fremde. Die französische Regierung und die nordamerikanische suchten und erlangten das Zugeständnis; (daher der Name „Koncession") Niederlassungen zu gründen. Die Chinesen verkauften mit Vergnügen zu Spottpreisen ihre außerhalb der Stadt liegenden Gärten und Felder. Auf dicsm Grundstücken stehen heute die Prachtbauten des europäischen Shanghai. Mit großen Opfern überwand man die Hindernisse welche aus der Beschaffenheit des Bodens entsprangen. Durch kostspielige Arbeiten gelang es die nachtheiligen Wirkungen des Klimas zu vermindern. Weißen galt es beinahe auf die Länge für tödtlich. Heute sind die Sumpffieber fast ganz verschwunden, bald wird Shanghai, wie Hr. Medhurst voraussagt, eine der gesundesten Städte in China sein. Schwierigkeiten andrer Art bot die innere Organi-sirung der Faktorei. Da mußten die Empfindlichkeit der kaiserlichen Behörden, die Vorurtheile des chinesischen Volkes, die nationalen Eifersüchteleien zwischen den englischen, französischen, amerikanischen Residenten geschont werden: man mußte sehr große Ansprüche erheben an ihre autonomischen Instinkte. Man weiß wie tief diese im Herzen des Anglo- 28 sachsen wurzeln, wie wenig sie sich im Franzosen entwickelt haben. Zuerst wollte man eine einzige kosmopolitische Niederlassung gründen. Der Plan scheiterte an dem, wie ich glaube gerechtfertigten Widerstreben der französischen Negierung. Nach langem Zaudern stimmten die Amerikaner für gänzliches Aufgehen ihrer Koncession in der englischen. Sir Rutherford, damals M. Alcock, brittischer General-Konsul in Shanghai, später Gesandter in Japan, und neuerlich in China, ist der Verfasser einer Gemeinde-Verfassung*) die, unlängst in etwas liberalem Geiste abgeändert, noch heute in den anglo-amerikanischen Fattorein zu Rechte besteht, aber für die französische Koncession einer tiefgreifenden Umgestaltung unterzogen ward. In China ist der Kaiser der Besitzer des Bodens Wer immer Grundstücke erwirbt ist in den Augen des chinesischen Gesetzes nur Nutznießer. Er wurde es kraft eines Miethvertrages auf ewige Zeiten gegen eine der Negierung Zu entrichtende, nominelle Abgabe. Unter diesen Bedingungen können auch die Unterthanen der Vertragsmächte (seither überhaupt alle Fremden), innerhalb der „Koncession" und außerhalb derselben im Umkreise einiger Meilen, Grund und Boden erwerben. Die Kaufverträge zwischen Chinesen *) S. Näheres in: 1'ke tient>- ?urt3 uk Cliin», an6 .lapan, von Meyers, Dennys und King. Hongkong 1867, und in den englischen Parlamentsftapieren. 29 und Fremden werden am Konsulat der europäischen Käufer niedergelegt. Der Konsul stellt eine Bestätigung ails welche, vom Tao-tai (Gouverneur, wörtlich Krcishaufttmann) lega-Usw, als ofsicieller Besitztitel gilt. In der anglo-amerikanischen Koncession ist die Thätigkeit der Konsuln, die richterliche ausgenommen, der Municipalität gegenüber eine rein negative. Der Konsul hat nur darüber zu wachen daß der Gemeinderath sich keiner Verletzung der Tientsiner Verträge schuldig mache. Die Summa Nerum liegt in den Händen des Gemeinderathes. Dieser besteht aus einem Präsidenten und sechs Räthen welche alljährlich von den angesessenen Bürgern und einigen andern Wahlberechtigten gewählt werden. Dieser seinen Wählern verantwortliche Rath erhebt, vertheilt, verwendet die Auflagen, sorgt für Bau und Unterhalt der Landungs- und Ladungsftlätze, wirbt und besoldet die Polizeitruppen deren Aufgabe, außer den Pflichten der Aedilität, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung ist. Siebzig Mann, sämmtlich ausgediente Londoner-Po-licemen, lösen sie zur allgemeinen Zufriedenheit. Auch die Officiere dieses Korps und sämmtliche Civilbeamte werden Vom Gememderath ernannt. Heute zählt die chinesische Bevölkerung der anglo-amerikanischen Koncession über sie-benzigtausend Köpfe, und dennoch herrscht dort die vollkommenste Sicherheit. 30 Die Iustizpflege wird für die brittische Unterthanen in erster Instanz vom Konsul, in zweiter und letzter durch den obersten Gerichtshof in Shanghai geübt. Die andern Residenten stehen unter der Gerichtsbarkeit ihrer Konsuln. Alle Verwaltungs- und andere Kosten fallen der Gemeinde zur Last. Die'englische, so wie die amerikanische Negierung leisten keinen Veitrag. Auch die schwierige und heikle Frage der Beziehungen zwischen den Residenten und den (chinesischen) Lokalbehörden so wie das Ginschreiten der letzteren in Civilftrozeßsachen zwischen Fremden und Chinesen, und in Kriminalfällen in welche Ausländer und Eingeborene verwickelt sind — auch alle diese heiklen Fragen wurden, nicht ohne Schwierigkeit, zur allgemeinen Befriedigung gelöst. Dies ist, kurz gesagt, die Verfassung des anglo-ame-rikamschen, jetzt kosmopolitisch gewordenen Settlement. Ganz anders ist die Municipalität der französischen Koncession eingerichtet.*) Laut des Statuts besteht der Mu-mcipalkörper aus dem Konsul und acht Municipalräthen, vier Franzosen und vier Fremden: die einen wie die andern gehen aus einer Wahlversammlung hervor: der Konsul entwirft und revidirt die Liste der Wähler. Der Konsul schreibt die Wahlen aus: er versammelt den Mumciftal- 5) Das Etatut wurde erst 1868 publicirt. 31 rath; rr führt den Vorsitz, er hat das Recht die Sitzungen zu vertagen, ist jedoch verpflichtet hierüber nachträglich an den Gesandten in Peking zu berichten; dieser referirt wenn es ihm nöthig scheint an das Ministerium des Aeußern in Paris. Der Municipalrath beräth und beschließt über das Budget der städtischen Auslagen, Erhebung und Verthcilung der Steuern, über öffentliche Bauten und jeden andern Gegenstand welchen der Konsul für gut findet seiner Berathung zu unterziehen. Die Beschlüsse des Municipalkörpers bedürfen um in Kraft zu treten der Bestätigung des Konsuls. Dieser hat das Recht, in Erwartung der Zustimmung des Gesandten in Peking, Beschlüssen des Rathes über öffentliche Bauten und Sanitätsmaßregeln seine Zustimmung zu verweigern. Der Rath ernennt zu allen Stadt-Aemtern, jedoch auch hiebei ist die Zustimmung des Konsuls erforderlich. Ihm steht das Recht zu städtische Beamte zu susftendiren und abzusetzen. Der Konsul ist allein berufen für die öffentliche Ruhe zu sorgen. Die Polizeitruppe wird vom Municipalrath bezahlt, aber vom Konsul befehligt. Gr ernennt, susftendirt, und entsetzt ihre Officiere und sämmtliche Polizeiagenten. Diese, von der englischen so grundsätzlich verschiedene, Organisation entspricht den gegebenen Zuständen, aber sie macht aus der französischen Koncession eine von dem 32 Konsul regierte Kolonie, während die englische Niederlassung, wo wie man sah der Konsul nur eine negative Kontrole übt, von ihren eigenen Kräften und durch sich selbst lebt. Die Früchte welche das englische System trug übertrafen die kühnsten Erwartungen. Man betrachte diese Stadt von Palästen: man zähle wenn man kann, die Masten die ihren Hafen in einen Wald verwandeln; man sehe diese Leviathane des Dampfes den Fluß herauf- und hinabziehen i man lese in dcn Zolltabellen das Facit dieses Verkehrs, und man wird sich übermannt fühlen von Bewunderung für die frische vulsirende Lebenskraft der jugendlichen Beherrscherin des Jang-tse-kiang, der Kömgin des Gelben Meeres; man wird erkennen wie fest gewebt das Band ist welches Europa, Amerika, Australien fortan mit dem Reiche der Mitte verknüpft. Und wer hat diese Wunder gewirkt? Cine Hand voll kühner thatcn-lustiger Männer! Die Regierung, dies ist wahr, brach mit ihren Kanonen die Bahn; dann aber erstiegen diese Männer die Bresche, setzten sich in ihr fest. Wer wird sie vertreiben? Diese großen Kaufherren, die Merchant-Princes der frühern Tage, der «m'iv ^8, waren merkwürdige Männer. Finanzielle Stürme haben ihre Reihen gelichtet: andere zogen sich von den Geschäften zurück und leben in 33 England. Nur vier Häuser dieses Ranges bestehen noch heute: Iardine, Nussel, Herd und Gib-Livingston. Während meines kurzen Aufenthaltes hatte ich Gelegenheit die Finanzgröften kennen zu lernen, und ich muß sagen daß ich in ihnen Männer fand die mit der vollendetsten Kenntnis; ihres Faches die angenehmsten Formen des Umganges vereinigen. Es ist übcr die Kaufleute im fernen Osten viel Nachteiliges geschrieben und gesagt Worden, aber unparteiische Beurtheiler welche sie genau kennen geben ihrer Ehrenhaftigkeit das günstigste Zeugniß. Ein schwacher Punkt bleibt immer der Opiumhandel der zwar heute erlaubt und daher nicht gesetzwidrig, aber in meinen Augen darum nicht minder unmoralisch ist, da er ein Gift verbreitet dessen furchtbar verderbliche Folgen von Niemandem geleugnet werden, selbst nicht von den bei diesem Handelszweige Vetheiligten. Sie stellen höchstens der Vergiftung durch Opium die Verheerungen entgegen die der Branntwein in Europa anrichtet; sie behaupten daß Opiumrauchen nur durch Uebermaß schädlich sei, und erinnern an die steigende Opiumlultur im westlichen China; alle Schuld sei also, sagen sie, den Engländern doch nicht zuzuschreiben. Diese Beweisführung scheint mir sehr schwach. Der wahre Grund des Uebels ist wohl bclannt, wird aber nicht gerne eingestanden: es liegt in der Thatsache daß, aus staatswirthschaftlichen und politischen Gründen, Hübn«?, Spaziergang III. 3 34 die indische Negierung den Mohnbau, und die Erzeugung von Opium nicht zu untersagen vermag. San Francisko und Melbourne sind wie Shanghai die Schöpfung von Individuen und nicht der Regierungen; aber die Hauptstädte von Kalifornien und Viktoria entstanden und wuchsen auf vaterländischen: Boden. Shanghai ist eine exotische Pflanze die in freier Luft, allen Winden ausgesetzt, ohne den Schutz des Treibhauses, ohne die Pflege des Gärtners, sich selbst überlassen emportreibt, von ihrem eigenen Safte lebt, mit eigner Kraft dem Vo-den die nöthige Nahrung entzieht. Sein kurzes Dasein, es zählt nicht dreißig Jahre, ist eine Neihe von Anstrengungen, Kämpfen und Prüfungen, von Thorheiten und Verirrungen, alsbald gut gemacht durch neue Kraftentwicklung und gelohnt durch neue Erfolge. Wie Herkules erstickte Shanghai die Schlange der Rebellion in der Wiege. Aufständisches Gesindel aus der Umgebung, die allgemeine Unordnung benutzend welche in Folge der Tae-Ping-Nebellion entstanden war, drang in die chinesische Stadt und behauptete sich dort während anderthalb Jahren. Der Anwesenheit einiger Kriegsschiffe und der einschüchternden Haltung der Residenten verdankten die Faktoreien von den Räubern unbesucht zu bleiben. Damals geschah es zum ersten Male daß wohlhabende chinesische Familien in den Koncessionen eine Zufluchtsstätte suchten. 35 Mmälig gewöhnten sie sich all das Zusammenleben mit den „fremden Teufeln". Dennoch kehrten sie nach dem Abzug der Aufständigen in ihre Heimath zurück. Aber bald erschienen neue Haufen von Nebellen. Man weiß was in China Rebellion sagen will: Brand, Massennlord, dann Seuchen und Hungersnoth. Die große Provinz Kiang.su erlitt dies Loos. Tausende und Tausende von Quadratmeilen wurden verwüstet. Als Suchow*) von den Tae-ping erobert und in einen Schutthaufell verwandelt worden, flüchteten Hunderttausende von Chinesen nach Shanghai. Einige englische Truppen, die in Eile bewaffneten Residenten, und die Marinesoldaten der anglo-fran-zösischm Geschwader stauten die hochgehenden Wogen der Rebellion. Dieser Kampf, reich an Wechselfällen, an Jammer und Freuden, an wechselnden Gemüthsbewegungen, umsaht ungefähr vier Jahre**) und bildet eine phantastische, in der That eine der merkwürdigsten Episoden, die die Weltgeschichte je in ihre Blätter schrieb. Die Insurgenten hatten ihr Lager am jenseitigen Ufer des Suchow-Creek aufgeschlagen, kaum eine englische Meile von dem Mittelpunkte der brittischen Stadt und, noch einmal, Insurgenten sind in China gleichbedeutend mit entmenschten *) Mai I860. ") Von I860 bis 1864. 3* 36 Scheusalen. Jede Nacht hatte man das entsetzliche Schauspiel brennender Nachbardörfer vor Augen: aber zugleich war dies für das europäische Shanghai eine Zeit der ausgelassensten Spekulation, des riesigsten Schwindels, der fabelhaftesten Gewinne, des wahnwitzigsten Schlaraffenlebens. Es wurde gesagt, daft die chinesischen Flüchtlinge nach Hunderttausenden zählten. Sie mußten bewohnt werden. Da erwachte die Vauspekulation. Ganze Stadtviertel deren Häuser für eingeborene Miethsleute berechnet waren, entstanden wie durch Zauberei. Die Kapitalisten lieferten die Fonds: wer kein Geld hatte baute mit geborgtem, aber Alle: Kommis, Kompradoren, Diener, Lastträger, stürzten sich m die Spekulation, und Alle gewannen. Shanghai schwamm im Gelde. Jenseits des Defense-Creek Millionen menschlicher Wesen im tiefsten Elende, der Tod in seiner scheußlichsten Gestalt; hier, zu Wasser, der Fluß mehr als je bedeckt mit Djonken, europäischen Kauffahrern und Kriegsschissen der Seemächte: zu Lande, am Vund und in den Häusern der Residenten, der Luxus des Emporkömmlings, doppelt widerlich im Angesichte namenloser Drangsale. Aber der Anblick so vieler Pracht neben so vielem Elende, die wilden Orgien der reichen Prasser in der Stadt neben den grauenhaften Vorgängen jenseits des Baches der die Grenze macht, erschöpfte die Geduld und 37 erregte den Zorn des immer neidischen und oft ironischen Schicksals. Das über China hereingebrochene Unglück war für die Engländer in Shanghai eine Quelle des Glückes geworden. Ein Sohn ihrer Nation wurde, indem er seinen Namen mit goldenen Buchstaben in die chinesischen Annalen schrieb, das Werkzeug ihrer Züchtigung. Auf der ganzen Linie waren die kaiserlichen Armeen den Rebellen unterlegen. Die englischen und einige französische Streitkräfte reichten kaum hin um die europäischen Koncessionen von Shanghai und die chinesische Stadt zu schützen. Später gelang es ihnen die Umgegend, etwa dreißig Meilen im Umkreise, zu reinigen. Weiter in das Innere vorzudringen, um die Provinz Kiang-su von der Geißel der Nebellion zu befreien, waren sie an Zahl zu schwach. Mittlerweile hatte ein amerikanischer Abenteurer aus den verrufensten Rowdies die sich in den chinesischen Häfen herumtrieben und aus einigen tausend Kuli die nach ihm genannte Ward-force gebildet, und mit dieser Bande wirklich einige Dienste geleistet. Nach seinem Tode ging der Befehl an einen gewissen Burgevin über. Der Mann vereinigte mit der Tollkühnheit und den sonstigen Eigenschaften auch alle Laster seines Berufes: er war das Urbild des Condottiere der gemeinsten Art. Im Nebrigen ein Ungeheuer. Aus dem chinesischen Dienst schimpflich entlassen, ging er zum Feinde, den Tae-Ping über, gerieth 36 bald in Streit mit ihren Anführern, die ihn, in einen Käfig eingesperrt, von Stadt zu Stadt schickten. Auf einer dieser Rundreisen siel dor Käfig in einen Fluß und-der Mann ertrank. Nm jene Zeit kam aus England für die brittischen Ofsiciere die Ermächtigung zeitweilig in chinesische Dienste zu treten. Major Charles Robert Gordon von den Noyal Ingineers, ein junger Mann, übernahm den Befehl über die Trümmer der ehemaligen Ward-force, orgamfirte sie von Neuem, brachte sie auf sechstausend Mann, verwandelte sie in eine treffliche Truppe, erweckte in ihr den militärischen Geist, führte sie von Sieg zu Sieg, vertrieb oder vernichtete die Nebellen, rettete und befriedigte binnen Jahresfrist die ungeheure Provinz. Die, mehr oder minder enge, Einschließung Shanghai's hatte an drei Jahre gedauert. Man hoffte daß bei Weitem die Mehrzahl der chinesischen Einwanderer sich in den Koncessionen bleibend niederlassen würden. Sie hatten ihre Familien mit sich gebracht und verdienten, Dank dem Verkehr mit den Ausländern, mit Leichtigkeit ihr Leben. Die reichen und wohlhabenden Leute unter ihnen, sagte man sich, finden Geschmack an den Wohlthaten der Civilisation: sie haben sich an europäische Lebensgenüsse gewöhnt. Auch !sie werden blelben. Es war eine Täuschung, eine M ihren Wirkungen furchtbare Täuschung! 39 Am Tage an dem man die Einnahme*) von Suchow erfuhr, eine der glänzendsten Waffenthaten Gordon's, begannen die Chinesen einzupacken. Die Vornehmeren und Reichen brachen, die ersten, nach ihren verwüsteten Wohnsitzen auf; die Masse ihrer Landsleute folgte ihnen. Binnen zwei Jahren fiel die chinesische Bevölkerung der Koncession von dritthalbhunderttausend Seelen auf fünfund-sechzigtausend.**) Alle diese für gelbe Miether erbauten *) November 1863. ^) Sie hat sich seither wieder etwas gehoben. Hier folgen einige aus officiellen Erhebungen geschöpfte Zahlen: Anglo-amerikanische Koncession 1862—1603 1865 1869 Chinesen 250,000 90,500 86,500 Fremde Z000 5130 7200 Französische Koncession Chinesen 80,000 55,500 32,000 Fremde (Franzosen) 300 300 300 die Zahl 7500 begreift, außer den Residenten, die bewegliche Bevölkerung, die Bemannung der Schiffe u. s. f. Seit 1869 hat sich letztere vermindert, nach Maßgabe des geringeren Tonnengehaltes der Schiffe, eine Folge des Ueberhandnehmens der Dampfschifffahrt. Gegenwärtig beträgt die fremde Bevölkerung der drei Koncessionen nicht über 6200 Seelen und zwar Engländer 3200 Amerikaner 1300 Deutsche 700 Franzosen 400 Angehörige aller andern Nationen 600 Chinesen (in der Koncession) 100,000 und in der chinesischen Stadt und Vorstädten 125,000 40 Häuser leerten sich. Die Bauplätze hatte man für wahnsinnige Preise erstanden: jetzt waren sie plötzlich werthlos geworden. Fast alle Bauten waren mit geborgtem Gelde ausgeführt, daher ein furchtbarer Krach und noch größere Bestürzung. Einen Augenblick hielt man die Niederlassung für rettungslos verloren. Aber wenn Nngewitter das Land verheeren, so reinigen sie die Luft. Shanghai ging aus dieser Prüfung verwundet hervor, augenblicklich verarmt, aber durch die eigenen Fehler gewitzigt, wie neu geboren, und zur Einsicht gelangt daß, aus Gründen die ich sogleich besprechen werde, die Zeit des fabelhaften Gewinnes, der rasch erworbenen fürstlichen Vermögen unwiederbringlich und für immer vorüber sei. Nm Shanghai zu begreifen muß man den Handel in allen geöffneten chinesischen Häfen in das Auge fassen und man kann sich von diesem kein richtiges Vild machen, ohne die kommercielle Bewegung von Shanghai zu kennen; denn diese Stadt ist die Königin, die Metropole des europäischen Handelsverkehres mit dem Reiche der Mitte. Es wurde bereits hervorgehoben daß Shanghai sein Glück und die Bedingungen seines Daseins seiner geographischen Lage verdankt. Nahe bei Suchow gelegen, dem Stapelorte mehrerer Provinzen; unweit vom Jang-tse-kiang, der Heerstraße nach den Seidendistrikten; unweit vom Meere, der Straße die überallhin, die hauptsächlich nach England 41 führt, ist Shanghai die größte Niederlage der in China verbrauchten englischen Artikel. Es versendet sie nach den Centralprovinzen des Reiches über Snchow; nach Peking und in die nördlichen Provinzen über Tien-tsin, und es konturrirt, unwillkürlich, mit dem europäischen Handel im Süden, das heißt mit Hongkong welches es bereits weit überflügelt hat, mit Kanton das nur mehr ein Schatten seiner ehemaligen Größe ist, mit Makao das, eingeschlummert unter seinem milden Himmel, nur mehr von seinen heroischen Erinnerungen zehrt, von seinem Kulihandel und Spielhöllen lebt. Visher übte Shanghai das Monopol des Verkehrs am Jang-tsokiang. Noch ist und immer wird es sein Hauptstaftelplatz bleiben. Aber seit der Eröffnung der Häfen von Hankow, Chinkiang und Kinkiang, macht sich eine kleine Verminderung in seiner Theeausfuhr bemerkbar. Dies rührt davon her daß die erste dieser drei jungen Faktoreien, das im Inneren, siebenhundert Meilen weit vom Ausflusse des Stromes gelegene Hankow, bereits begonnen hat, unmittelbar nach London, Odessa und, sogar, nach Melbourne auszuführen. Immer noch wird, als allgemeine Uebung, der in den Provinzen Kiangsi und Hupeh erzeugte Thee durch die den Jang tse-kiang befahrenden amerikanischen Steamer Hieher gebracht, hier Verkauft, und von hier aus nach Europa und Amerika reex- 42 portirt. Auch die Eröffnung der kleinen Trade-Ports an der Küste hat auf den Markt von Shanghai beeinträchtigend gewirkt, allerdings nur in einem sehr geringen Maß. Bedeutenden Nachtheil wird ihm diese Konkurrenz nicht zufügen. Die Shanghai inwohnende Kraft bleibt ungeschwächt. Werfen wir, um dies klar zu machen, einen Blick auf den Umschwung, den der europäische Handel während der letzten Jahre erlitten hat.*) Die Zeiten der großen Glücksfälle sind vorüber. Damals wurden kolossale Vermögen eben so rasch gemacht als verloren. Die Spekulation war eigentlich nur ein Spiel mit unbekannten Elementen. Geniale Köpfe „errie- *) Ich schöpfe hier ans den von mir in Shanghai, (5he»fu, Taku, Tien-tsin, Peking, Hongkong, Kanton und Makao gesammelten Auskünften. Ziffern gebe ich geflissentlich keine. Wer sich für diesen Gegenstand interessirt, wird sie in den englischen Parlamcntspapieren, und in dcn von Herrn Hart in Shanghai veröffentlichten report on traclo finden. Ich benutze diese Gelegenheit um den Herren die nur so freundlich entgegen kamen und mir die erbetenen Aufschlüsse so bereitwillig ertheilten meinen Dank abzustatten. Ich erwähne namentlich: die Konsuln in den von mir besuchten Häfen, Herrn Hart General-Inspektor, Herrn Hannon Kommissär (in Tien-tsin) der chinesischen Zollämter, endlich Herrn Charles Winchester ehemaliger Konsul in Shanghai. Ich brauche wohl kaum zu bemerken daß die von mir gebrachten Angaben für die am chinesischen Handel betheiligten Kaufleute nichts Neues enthalten können. Aber für den allgemeinen ^cser dürften sie von Interesse sein. 43 then" die Bedürfnisse des chinesischen Marktes, und verwirklichten zuweilen, blos vom Instinkt geleitet, ungeheure Gewinne. Andere, eben so kühn aber nicht eben so glücklich, gingen gleich bei ihrem ersten Auftreten zu Grunde, nnd verschwanden. Konkurrenz gab es fast keine. Durch ihre Kapitalkraft entfernten einige sehr wenige große Häuser die kleinen Mitbewerber. Thatsächlich besaßen sie das Monopol des chinesischen Handels. Untereinander bekämpften sie sich in aller Weise. Jedermann hat von den prachtvollen, raschsegelnden Dampfern der Häuser Iardine und Russell gehört. Sie gingen regelmäßig nach Singapore um dort die letzten Notirungcn aus London zu übernehmen und, Dank ihrer außerordentlichen Schnelligkeit, vor Eintreffen des Postschiffes nach Shanghai zu bringen-Einige Tage, einige Stunden Vorsprung genügten. Seither haben die P. und O. und die französischen Messageries ihren Dienst verbessert: ganz neuerlich ward die telegraphische Verbindung mit Europa hergestellt. Somit entfiel dies Spekulationsmittel i es verdient aber erwähnt zu werden weil es auf die seltsamen Uebungen jener Zeit ein helles Licht wirft. Heute kommen zwei neue Elemente in Betracht: die seither erworbene vollkommene Kenntniß der Bedürfnisse und des Geschmackes der Chinesen und die steigende Konkurrenz die nicht nur durch immer zuströmende Europäer, 44 sondern auch durch eingeborene Kaufleute geübt wird. Hieraus entsteht nun Folgendes: zunächst, der Instinkt hat seinen Wirkungskreis verloren. Man erräth nicht mehr, man weiß. Also keine Spekulationen in das Blaue, kein Ha-zardsftiel mehr, kein fabelhafter Gewinn! Niemand wird mehr in Einem Tage reich. Man ist solider, vorsichtiger, vernünftiger geworden. Heute wird der Handel in China getrieben, wie in London oder Liverpool. Man kann reich werden, aber nur allmälig und im Schweiße seines Angesichtes. Die Konkurrenz ist möglich geworden seit, in Folge der Vervielfältigung der Banken, fich Jedermann der die nöthige Sicherheit gibt baares Geld verschaffen kann. Mit andern Worten, die Banken haben das Monopol der Merchant-Princes vernichtet. Nnter den neuen Mitbewerbern zählen die Deutschen und Chinesen. Wie in Japan, wie in den nordamerikanischen Pacisikstaaten, wie überall wo sie sich zeigen, übertreffen die Deutschen die Anglosachsen durch ihre Fruga-lität, die Einfachheit ihrer Sitten und ihre Art sich mit geringem Gewinn zu begnügen. Alle diese Eigenschaften besitzt auch der Chinese, nur in weit höherem Grade. Noch vor Kurzem wurden die von englischen Häusern expedirten, auf englischen Schiffen gebrachten, an englische Großhändler consignirten englischen Waaren durch englische Kleinhändler in Shanghai und in den kleinen Häfen an einge- 45 borcne Kaufleute verkauft, welche letztere die Waare im Inneren verbreiteten. Bevor der Artikel an den Konsumenten gelangte hatte er durch drei Hände zu gehen. Heute kaufen die Chinesen in den Trade-Ports die Waaren deren sie bedürfen bei dem Imvorteur selbst und verkaufen sie sodann dem Konsumenten. Daher ein großer Ausfall in dem Gewinn der englischen Häuser in Shanghai und Hongkong, aber, unmittelbar, ein Vortheil für die brittische Industrie und die brittische Schissfahrt im Allgemeinen, aus dem Grunde weil die fremden Erzeugnisse nur mehr durch zwei Hände gehen, daher zu geringeren Preisen, und ebm deshalb in größerer Menge Absatz finden. Noch andere Umstände erklären das Sinken, nicht des Handels im Allgemeinen der im Gegentheile zunimmt, sondern des Ergebnisses der Handelsthätigkeit der in China angesiedelten Kaufleute. Hicher gehört die Eröffnung der kleinen Häfen und die Errichtung einer Faktorei in einem jeden derselben. Natürlich ziehen sie einen Theil des früher in Shanghai und Hongkong koncentrirten Handels an sich. Die Eröffnung des Yang-tse kiang für die fremde Schissfahrt vermindert, wie bereits gesagt, allerdings in sehr geringem Maße, die Bedeutsamkeit Shanghai's als Theeniederlage, weil die an den Ufern des blauen Stromes neugegründeten drei Faktoreien den Thee 46 direkt ausführen. Auch die schwarzen Theesorten die im Hunan und im Hupeh erzeugt werden und früher über Kanton nach Europa gingen, nehmen jetzt den kürzeren Weg über Hankow und den Dang-tse-kiang herab. Ein Blick auf die Karte genügt um die große Tragweite der Niederlassung der Barbaren an den Ostküsten und am unteren 3)ang-tse-kiang augenscheinlich zu machen. Die entlegensten Theile des ungeheuren Reiches fühlen bereits den Rückschlag. Fassen wir die Handelsgeschichte der Europäer in China in wenigen Worten zusammen! Sie zerfällt in zwei Epochen zwischen welchen der Schwindel mit seinen Folgen und der chinesische Exodus den Uebergang bilden. Die erste Epoche ist die des Zufalls, des Unvorhergesehenen, des Monopols, der thörichten Erwartungen, des übertriebensten Aufwandes. Die zweite Epoche ist die langsame, aber stetige noch nicht beendigte Umgestaltung: die Konkurrenz der kleinen Kaufleute, ermöglicht durch die Gründung der Banken: die Abschaffung des Monopols der großen Kaufherren: die steigende Mitbewerbung der Chinesen; das Sinken der Preise aller englischen, überhaupt der europäischen Erzeugnisse und eben darum ihr größerer Absatz; endlich, im Handelsverkehr, größere Solidität, geringere Erträgnisse für den Einzelnen, größere für die Gesammtheit, das heißt für die englische und europäische Industrie, 47 für die englische und europäische Schifffahrt. Von diesem Gesichtspunkte aus, und er ist für unparteiische Beobachter der einzige zuläßliche, verdient die neue Phase unbedingten Beifall. Aber die in China lebenden Kaufleute, selbst die Häupter der großen Häuser, überhaupt Alles was dem Handelsstande angehört, die Pionniere der ersten Tage sowohl als die gestern Angekommenen, beurtheilen die Leute anders. Jene sehen mit Leidwesen und mit Besorgniß wie weit ihr heutiger Gewinn unter den früheren hcrabsank-, diese welche gehofft wie ihre Vorgänger sich in Kurzem zu bereichern erkennen ihren Irrthum. Die Einen müssen den zu großen Hausstand einschränken, die zu großartigen Geschäftsübungen von ehedem den neuen engen Zeitläuften anpassen; die Andern statt des gehofften Luxus aüf kleinem Fuße leben, vielleicht sich manche Entbehrungen gefallen lassen. Daher die von allen Seiten, wenn gleich in verschiedener Tonart, laut werdenden Klagen i daher eine allgemeine, tiefe, im kritischen Augenblicke vielleicht verhängnisvolle Unzufriedenheit — verhängmftvoll weil, möglicher Weise, von entscheidendem Einflüsse auf die künftigen Beziehungen der Mächte zu dem chinesischen Reich. 48 II. Peking. vom ». zum 29, Vktobcr. Beschwerliche nnd langsame Arise nach Mmg. — Che-su. — Die Barre v^ü Takll. — Der ftei-hl', — Tong.chow, — Anluinst in Peking, — Allgemeine fth^fionouie. — D>e Gasse». — Der Tempel des Himmels. Aonsllciils »nd Buddha. — Die Grasie ^„nuilerie. - llausläden und Chi-uoiserie». - Die ,'ternwarle. — Die iiufterste Leistung des Bureau» krnlismus, - pe> laug, — Der portugiesische Airchhof, — Die Ming» grälier. — Aan-Now. — Das Mongolische Grenzgelürge. — Die chine« fische ssnuer. — Der kaiserliche öommerpalaft. — Das Nlimn. - Die kaiserlichen Zollämler dnrch Fremde ver>l»al!tt. Herr Harl, — Das diplomatische Vorps. — Die Audienzsrage, ^ Besuch beim ftrinze» ,wit L»»g, -- Abreise, (6. Oktober.) Die Neise nach Peking ist immor eine ernste Sache. Unter den besten Umständen braucht man von Shanghai zehn, am Nückwcge acht Tage. Die Steamer der großen Gesellschaften besuchen keinen Hafen nördlich vom Ausflusse des Jang-tse-kiang. Doch unterhalten die Iardme- und die Russellboote, dieselben welche einst die neuesten Londoner Kursnotirungen in Singapore abholten, einen häufigen wenn gleich unregelmäßigen Verkehr zwischen den Treaty-Ports, und folglich auch mit Tien-tfm. Das Haus Iardme besitzt acht, das amerikanische Haus Russell, welches letztere diel mit chinesischen Kapitalien ofterirt, achtzehn Dampfer! Einige dieser Schiffe 49 sind prachtvoll ausgerüstet und durchfurchen, wie in den schönen Tagen von ehedem, die chinesischen Meere mit äußerster Schnelligkeit; andere haben sick) mit den Zeiten nicht zu ihrem Vortheile verändert. Der Zufall behandelt uns diesmal, abgesehen von der Sicherheit die am Vord des Dragon nichts zu wünschen läßt, so schlecht als möglich. Dieses Iardineboot ist eine Nußschale, seetüchtig bei schlechtem und langsam bei jedem Netter. Kost, Dienst, Kabinen unter aller Kritik. Der Kapitän, der Seemann wie man ihn malt und in älteren Lustspielen darstellte: versteht aber sein Geschäft. Der Gcneralstab des „Drachen" : der Erste, der Zweite und der Maschinist, sind wie er Engländer; die ganze Mannschaft zu Seeleuten impro-Visirte Kuli, das heißt ihres Zeichens Lastträger. Am westlichen wie am Ostgestade des Stillen Meeres sind die europäischen Matrosen eine Mythe geworden. Es gibt deren keine. Die es waren, verspielten oder vertranken ihren Sold, desertirtcn von ihrem Schiffe, verkamen, verschwanden. Der Matrose bedarf der Zucht und Aufsicht. Wo diese, wie in diesen Häfen, fehlen geht er zu Grunde. Leuchtthürme giebt es dermalen auf unserem Kurs nur zwei oder drei. Glücklicher Weise wurde die Osttüstc des «himmlischen" Reiches durch französische und englische Offi-ciere hydrographisch aufgenommen. Auch das ist nicht angenehm daß man vom Cap Shantung das wir umschiffen Hiibncr, Spaziergang Hl. 4 50 müssen nach dem wilden Korea nur hundertzwanzig Seemeilen zählt. Die Gefahr dahin verschlagen zu werden gehört nicht zu den Lichtseiten dieser Fahrt. Oktober ist die beste Jahreszeit für den Aufenthalt in Peking und die ungünstigste für die Seereise dahin. In diesem Monate wird das Gelbe Meer von plötzlichen äußerst heftigen Windstößen aus dem Norden heimgesucht; sie währen gewöhnlich zwölf Stunden im Golfe Liatung, vierundzwanzig im Golf von Pe-chi-li und, weiter im Süden, drei bis vier Tage. Heute, kurz nach Mitternacht, haben wir Shanghai verlassen. Gegen Mittag befinden wir uns am Ausflusse des Yang-tse kiang. Da das Wetter sehr schlecht ist, geht der Kapitän bei dem Leuchtthurme vor Anker. Neben uns liegt, gleichfalls von Shanghai kommend, bereits seit drei Tagen ein prachtvolles Nussellboot. Vöse Aussichten! Der Sturmwind heult; ein eisiger Negen fällt in Strömen: schwarze Vorhänge verhüllen beide Ufer: unter uns kocht und siedet der Strom: schäumende Kämme krönen seine kothfarbigen Wogen. Unmöglich am Deck zu bleiben. Wir sitzen also in der Kajüte. Ich vertreibe mir die Zeit indem ich auf kolossale Schwarzkäfer Jagd mache. Der gelbe Stewart sieht mit verächtlichem Lächeln zu» „Vergebene Mühe", sagt er in seinem diteiwn Englisch, „Alles voll, man^ pie«^ destl^. Wir mehr als alle an- 51 dern Boote." Man sollte meinen er rühme sich des Ungeziefers. Der Dragon hat nur vier Passagiere an Bord, und diese sind wir selbst: ein junger Engländer, Herr M..., bereits auf der pacifischen Neberfahrt mein lieber Gefährte, ben ich in Shanghai wiederfand: sein Begleiter, ein junger Amerikaner, und Hr. Boyce Architekt und Ober-Inspektor der brittischen Negierungsgebäude in China und Japan. Letzteren rufen seine Geschäfte zuweilen nach Pe-kwg: er spricht einige Worte chinesisch, und fungirt als Neisemarschall. ('». Oktober.) Um neun Uhr Morgens sticht der Dragon in See. Der Sturm aus Nord hält an. Das Meer furchtbar. Obgleich Tien-tsin nördlich liegt, ist unser Kurs Nord-Nord-Ost, wegen der weit in die See hinauslaufenden Massen von Schlamm und Erdreich welche der Yang-tse kiang aus dein Innern, aus den Mittel- und Westprovinzen, selbst aus dem fernen Thibet in das Gelbe Meer wälzt. (12. Oktober.) Gestern und vorgestern noch sehr schlechtes Wetter. Heute vollständiger Dekorationswechsel, ^er Sturm hat sich erschöpft. Die Sonne erwärmt unsere 4'* 52 steifen Glieder: die Luft ist elastisch und belebend. Um acht Uhr Morgens haben wir Cap Shantung in Sicht. Seme phantastischen Umrisse erinnern an die Küsten der Provence; aber die See ist graugrün mit gelben Tönen: es fehlen die schönen Azurtinten des Mittelländischen Meeres. Den ganzen Vormittag über segeln wir neben Fel-sengallerien hin. An ihrem Fuße ein schmaler grüner Streifen mit zahllosen Dörfern und Städten. Kein Wunder, wenn es wahr ist daß die Provinz Shantung achtundzwanzig Millionen Einwohner zählt! Um eilf Uhr Nachts Ankunft vor Che-fu. (13. Oktober.) Che-fu ist gewissermaßen eine Kolonie von Shanghai. Spekulanten des großen Emporiums haben hier einige Häuser gebaut in denen etwa hundertzwanzig Europäer und Amerikaner wohnen. Diese Zahl begreift auch die Inspektoren und Kommissäre der französischen Kriegsstation und die kosmopolitischen Beamten des chinesischen Zollamtes. Die „Koncession" liegt am Fuße eines kleinen Vorgebirges dessen Scheitel das englische Konsulat und ein chinesischer Leuchtthurm krönen. Die unbeträchtliche Stadt der Eingeborenen heißt Ten-Tai. Jenseits der Bucht springen niedere Felsen weit in das Meer vor. 53 Im Hafen liegt eine große Anzahl von Djonken die in Bankok (Siam) für Rechnung chinesischer Kaufleute gebaut wurden. Die Nhede ist belebt: und die Faktorei ergibt sich den glänzendsten Hoffnungen. Für das russische Nfergebiet, für das noch zu eröffnende Korea werde sie der große Stapelplatz sein. Dermalen kann sich Che-fu nur seines guten Klimas rühmen. Jedenfalls ist es milder und weniger ungesund als das der anderen Treaty-Ports. Die Gesandten aus Peking und die hohe Finanz von Shanghai bringen hier die heiße Jahreszeit zu. Da belebt sich die Einöde-, man sieht einige Damen in eleganten Toiletten, einige fashionable Herren, sämmtlich in zwei oder drei zu diesem Ende erbauten Häusern untergebracht und von Signor Pignatelli sehr gut verköstigt. Dieser unternehmende Mann mit dem historischen Namen und einer sehr intelligenten französischen Ehehälfte hatte den Muth in der unwirthbarcn Wildniß das beste Hotel zu errichten dessen sich das europäische China rühmen kann. Auf dieser Welt ist Alles relativ. Mir schien Che-fu traurig, emförmig, häßlich: aber die europäischen Bewohner Pekings und die Geschäftsleute in Shanghai preisen es als ein irdisches Paradies. Nir frühstückten bei dem englischen Konsul Hrn. Meyers, einem der bedeutendsten Sinologen im brittischen Konsularstabe und Verfasser eines stossreichen Buchs über 54 China.*) Um Mittag geht der Dragon wieder in See, durchsteuert langsam den Golf Pe-chi li, erreicht Abends die Barre von Taku, und rennt sich dort gemüthlich im Sumpfe fest. (15. Oktober.) Die Fluth macht uns flott. Die Barre wird glücklich Passirt; wir find im Pei-Ho der jetzt einem Meere gleicht. Von den Mongolischen Bergen bis zum Golf Pe-chi li steht das ganze Land, ein Flächenraum von zehntausend Quadratmeilen, unter Wasser-, zwei Millionen Menschen sind zu Grunde gerichtet. Seit dem Anfange des Jahrhunderts^) wurde die Provinz Chi-Ii nicht so grausam heimgesucht. Der Dragon damftft an ganz oder theilweise überschwemmten Dörfern vorüber. Am Ufer sitzen Männer mit ungeheuren Netzen die sie mittelst einer einfachen schaukelartigen Vorrichtung in den Fluß versenken und, immer mit großen und kleinen Fischen angefüllt, herausziehen. Das Wenige was ich von der Gegend sehe, denn die Gegend ist Wasser: Maisfelder, Weiden, Schilf, unter einem wolkenlosen, blauen Himmel, bei trockner undurchsichtiger Luft, hat Aehnlichkeit mit der unteren Donau. Auch die Häuser, oder vielmehr Lehmhütten, tragen *) Er ist der Hauptverfasser des bereits angeführten Werkes: 'I'rykt^ I^ui't» ot' l^dwü ^nci ^upun, **) Seit der großen Uebcrschwemimmg von 1803. 35 keinen ausgesprochen chinesischen Anstrich. Armuth und Elend treten überall in demselben Gewände auf. Nur die Gesichtszüge der Menschen erinnern den Reisenden an die Entfernung die ihn von der Heimath trennt. Die Fahrt am Pei-Ho ist wegen des unablässig wechselnden Flußbettes immer, und jetzt mehr als gewöhnlich, eine schwierige. Vor einigen Tagen strandete ein Dampfboot auf dem Pflaster der Heerstraße nach Peking. Der Fluß macht häufige Biegungen, und wir legen wenig Weg zurück. Endlich, gegen Mittag, kommt eine Kirchthurmspitze in Sicht, dann ein gelbes Gebäude; das brittische Konsulat, endlich einige zwanzig deutsche, norwegische und dänische, vor Anker liegende Segelschiffe. Letztere sind dem Sonntag zu Ehren bewimpelt. So wären wir denn in Tien-tsin. Auch diese lange und langweilige Fahrt hätte ihr Ende erreicht. Acht Tage und sieben Nächte! und die Entfernung beträgt nur siebenhundertfnnfzig Seemeilen. (16.—19. Oktober.) Heute Morgen droht ein unvorhergesehenes Hinderniß meiner Reise nach dem chine-"esischen Norden plötzlich ein Ziel zu setzen. Der Tao-tai der Zollämter welcher jetzt den Verkehr mit den Fremden vermittelt verweigert mir den Paß. „Was hat", 56 läßt er Herrn Lay, dem englischen Konsul, sagen, „Was hat dieser Fremde in Peking zu thun? Nichts. Also keinen Paß." Hr. Lay beruft sich auf die Verträge. „Wenn Ihr ihm den Paß verweigert", fügt er hinzu, „wird er seinen Weg auch ohne Pas; finden." Die Replik erfolgte sofort. „Ich will nicht", sagte die schtvarzzöftfige Ercellenz, .„daß der Fremdling sich einer Verletzung der Gesetze schuldig mache. Ich erlaube es nicht. Hier ist der Paß." Eine köstliche Art einen Rückzug zu bemänteln! Der Paß ist ein kalligraphisches Meisterstück. Nach Beseitigung dieser Schwierigkeit besteigen wir unsere Boote. Ein jeder von uns hat deren eines zu semer Verfügung, und jedes Boot ist mit drei Ruderknechten bemannt und mit einem riesigen Segel versehen. In China ersetzen Flüsse und Kanäle die verwahrlosten, oft überschwemmten Straßen: Jedermann reist zu Wasser. Daher die, vergleichsweise, treffliche Einrichtung dieser Beförderungsmittel. Als ich mein „House-boat" besteige, finde ich dort einen Chinesen von respektablem Aeußern. Er ordnet mein Gepäck, macht mein Bett und ertheilt dem kleinen A kao verschiedene nützliche Rathschläge. (A-kao ist mein Page, ein allerliebster Knabe den mir ein Bekannter in Shanghai für die Reise abtrat.) Mich spricht er im reinsten Französisch an. Es ist Pater Delmasure aus Roubaix, Lazarist und Vorstand der seit dem vorjährigen 5? Nlutbade sehr geschmolzenen katholischen Gemeinde in Tientsin. Nnd nun unter Segel! Ohne die kalten Luftzüge, ohne die allzugrohe Nähe der Ruderer, ohne ihr Schnarchen Während der Nacht, ohne den Geruch den sie Tag und Nacht um sich verbreiten, ohne die häßliche Eintönigkeit der Gegend, eine nackte bis an den Horizont überschwemmte Ebene, ließe diese Schifffahrt wenig oder nichts zu wünschen übrig. Der Wind fehlt, und unsere Leute ziehen die Kähne, während sechszehn bis achtzehn Stunden im Tage, den Fluß hinauf. Wir haben volle Zeit uns am Ufer zu ergehen, landeinwärts zu laufen und dann, wenn die Essensstunde herannaht, nach unsern schwimmenden Häusern zurückzukehren. Mit immer neuer Befriedigung gewahre ich da meinen A-kao, wie er am Vordertheile stehend aus Leibeskräften din^t^t waä/ ruft (l>ro^fa»t i'k^ä^ kein Chinese ist im Stande das r auszusprcchen). Das Küchenboot rudert sodann an die vier Hausboote heran, und wir vereinigen uns bei Hrn. Boyce dessen Kahn als Sfteise-saal dient. Mit Hilfe der aus Shanghai und Tien-tsin mitgebrachten Vorräthe liefert unser chinesischer Koch ganz vorzügliche Kost. Oft schlendere ich allein durch Dorfer und Flecken, vorausgesetzt daß sie nicht ganz unter Wasser stehen. Sie bieten nicht das geringste Interesse. Aber überall eine 58 Fülle von Menschen, überall Gedränge in den Gassen. Die Kinder schelten mich „fremden Teufel": die Männer messen mich mit insolenten Blicken und brechen hinter mir in höhnisches Gelächter aus; die Weiber verstecken sich: Trödler gehen, ihre elende Waare ausrufend, von Haus zu Haus. Alles ist schmutzig, zerlumpt, ärmlich nur nicht die Natur welche sich darin gefällt unzählige Chinesen zu schaffen. In der oberen Flußgegcnd beginnen die Wasser zu fallen. Wir sehen gut bestellte Aecker mit Bohnen, Mais, Baumwoll- und Kastorölpflanze; und Tausende von Bauern die am Feld arbeiten. Seltsam ist das Gespann ihrer Pflüge: hier ein Pferd mit einem Esel, dort ein Büffel, ein Esel und eine Kuh. Einen sah ich mit drei Männern bespannt, einen andern von einem Esel und einem Weibe gezogen. Nicht Ein Baum in Sicht. Auf dem Flusse die lebendigste Thätigkeit. Unter den zahllosen Djonken denen wir begegnen mehrere von sehr großem Tonnengehalt. Heute, den 19. Oktober, um Mittag, Ankunft in Tung-chow. Von Tien-tsin Hieher rechnet man beträgt hundertsechsundzwanzig Meilen zu Wasser und achtzig zu Lande. Gewöhnlich dauert die Bergfahrt vier bis fünf Tage. Wir haben sie in weniger als dreimal vierundzwanzig Stunden, also sehr rasch, zurückgelegt. Tung-chow, der Hafen von Peking, liegt östlich von 59 der Hauptstadt i die Entfernung beträgt ungefähr dreizehn Meilen. Ein Kanal und eine mit Marmorplatten gepflasterte, jetzt aber ganz vernachlässigte und fast unfahrbare Straße verbinden die beiden Städte. Bekanntlich stießt der Pei-Ho nicht an Peking vorüber, sondern macht von Nord-Ost kommend bei Tung-chow eine Biegung nach Süd-Ost. Hier liegen eine Menge Schiffe vor Anker i am Gestade tummelt sich ein Knäuel menschlicher Wesen: alle gelbbraun, schmutzig, in Lumpen gehüllt, mit Aus- und Einladen der Djonken beschäftigt. Hinter diesen: Ameisenhaufen erheben sich, düster und abschreckend, die gezirmten Ringmauern der Stadt. In der Ferne überragt sie eine vielstöckige Pagode. Den Himmel ausgenommen der, wie man uns in Shanghai vorausgesagt, wolkenlos ist, undurchsichtig und von einer eigenthümlichen metallischen Bläue, trägt Alles, Wasser und Land, Haut und Kleidung der Menschen, Stadtmauern und Kamels, dieselbe kothbraune Farbe. Kaum haben unsere Boote angelegt als ein Kosak des russischen Gesandten in Begleitung eines Mafu (Reitknechts) an Bord erscheint und mir ein liebenswürdiges Billet seines Gebieters überreicht. General Vlangali, von meiner bevorstehenden Ankunft unterrichtet, hat die Güte mir Pferde zu schicken, wiederholt seine Einladung bei ihm abzusteigen, und gibt mir, als erfahrener Militär, einige 60 nützliche Winke über die Art der Behandlung des mongolischen Pony der mich nach Peking tragen soll. Der Kosak wird sofort Gegenstand meiner Bewunderung. Auf Alles was ich ihm in deutscher, französischer, englischer Sftrache sage, antwortet er mit einem Worte das ich nicht verstehe: nicht einmal die fremdartigen Töne kann ich fassen, aber der Mann spricht es mit großer Entschiedenheit aus und flößt mir Vertrauen ein. Später erfuhr ich, »Insno^u heißt! ich werde gehorchen. — Ich will sogleich abreisen — swickovn — Meine Gefährten brauchen Pferde — «lu^i^u. .— Wie aus diesem Gedränge gelangen, ohne erdrückt zu werden? — Immer «lu^w>l>. Und dies Wort ist kein leerer Schall. Der Sohn der Steppe erräth mich. Er ist kein Linguist, aber der Instinkt ersetzt ihm die mangelnde Sprachkenntniß. Er beginnt damit daß er mir durch die dichte Menge Vahn bricht. Unterweges begegnen wir einem Europäer zu Pferde. Es ist Herr Starzoff, der reichste russische Kaufherr in Tien-tsin und, ich glaube, in China. Er führt mich nach einem außerhalb der Stadt gelegenen Tempel wo die wenigen europäischen Reisenden absteigen, stellt mich seiner jungen Frau vor und verschasst, mit Hilfe des überaus nützlichen Kosaken, meinen Freunden die nöthigen Pferde. Während der Vorbereitungen zur Weiterreise machen wir einen Spaziergang auf den Wällen. Die kothigen 61 Fluthen des Pei-Ho die in der Nähe der Stadt eine Flotte von Djonkcn tragen vereinsamen weiter hinauf und verlieren sich endlich am Horizont. Eine sanfte Schwellung des Bodens und einige magere Weiden verschleiern Peking. Zu unseren Füßen ein Meer von schwarzen Dächern. Die Gassen gleichen schmalen Erdspalten. Die Menge die sich in ihnen drängt können wir nicht sehen, aber wir hören ihr wüstes Geschrei. Nur die Köpft der sich unablässig folgenden Kamele, hie und da ihre beiden Höcker, werden sichtbar. Am Fuße der Mauern und oben, unserem Wege entlang, haben sich die Auswürfe von Generationen angehäuft. Wir befinden uns in Dante's drittem Kreise: I^uto 1u tt^rr:r o!>o sinogtu I'lcovß. An einigen Orten ist die Mauer derart verfalleu daß kaum ein paar vorragende Steine dem Fuße den nöthigen Raum gewähren. Aber der Gedanke, wenn wir umkehrten, diese unbeschreiblichen Dünste nochmals athmen zu müssen, belebt unsern Muth, und wir überschreiten ohne Unfall die gefährliche Stelle. Endlich gestatten uns die Ueber-bleibsel einer Treppe in die Stadt hinab zu steigen. Wir finden die kleine Karavane bereits reisefertig. Frau Starzoff, eine tressliche Reiterin, hat ihre Amazone angelegt und stellt sich an der Spitze der Kolonne. Die Gassen sind enge und überfüllt! das Pflaster glatt. Unaufhörlich erschallt Herrn Starzoff's Warnungsruf vor 62 den vielen Kamelen die in langen Reihen an uns vorüberziehen. In der That, diese Thiere sehen uns mit scheelen Blicken an. „Fremde Teufel" sind nun eben nicht populär in China. Kamele und Maulthiere schnappen nach uns, Hunde bellen bei unserm Anblick, mongolische Ponies schlagen aus und bäumen sich wenn wir sie besteigen wollen. Obgleich wir traben so rasch als die engen Gassen gestatten, brauchen wir mehr als eine halbe Stunde um in das Freie zu gelangen. An der Palikao-Vrücke, einem schönen Marmorbau mit grotesken Skulpturen und geschichtlicher Berühmtheit seit dem letzten Kriege, sagt uns das liebenswürdige Ehepaar Lebewohl. Wir verlassen hier die halb unwegsame und mit Reitern, Fußgehern und Karren überfüllte Heerstraße, einen Pfad am südlichen Ufer des Kanals vorziehend; und da der Tag zur Neige geht und die Thore Von Peking bei Sonnenuntergang geschlossen werden, so reiten wir so schnell als die Pferde vermögen, bald auf Dämmen, bald auf schmalen Fußwegen oder auch querfeldein. Baumgruftpen, Dörfer, hie und da ein einsames Haus mit seinem Küchengarten bilden einen angenehmen Gegensatz zu den einförmigen Ufern des Pei-Ho, zu den Schrecknissen von Tung-chow. Wir galoftpiren aus einem Hohlwege kommend um die Ecke 'eines Demäuers. Da entfährt uns allen ein 63 Ausruf der Ueberraschung. Die Pferde werden kurz angehalten. Wir haben die bereits tief stehende Sonne im Gesicht. Unter ihr entrollt sich, einem ausgezackten Bande von blaßschwarzem Flore ähnlich, cine ungeheure, gezinnte Mauer. Auf drei Punkten ragen die Doppeldächer der Thore empor. Die Abstufung der Farbe läßt auf die Entfernung schließen und zugleich auf die großen Dimensionen der Wälle. Ueber ihnen schweben in der blauen Luft, wie ein Spiegelbild der Wüste, die Hügel des Sommerpalastes und in weiter Ferne, wolkenähnlich, die Mongolische Bergkette. Eine halbe Stunde später reiten wir durch das Thor Tung-ftien-men in der chinesischen Stadt ein, und bald darauf durch ein anderes Thor in der tartarischen. Dies ist der schöne Augenblick für den Kosaken. Bei unserem Herannahen stürzen uns bewaffnete Wächter entgegen; sie wollen uns den Weg versperren, aber der Anblick des russischen Reiters wirkt wie ein Talisman. Unbehelligt werden Wir eingelassen. Selbst nach den Pässen frägt man nicht. Der liebenswürdigste Empfang harrt meiner auf der russischen Gesandtschaft. Und so wäre ich denn in Peking. Gin spät verwirklichter Iugendtraum! 64 Mehrere Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung erbaut, in Folge der Auflösung des Königreichs Jeu*), dessen Mittelpunkt es war, zum Range einer Provinzial-stadt herabgesunken, durch Genghis-Kan erobert**), darauf verlassen und wieder neu erbaut, wurde Peking erst im Anfange des fünfzehnten Jahrhunderts***) zum zweiten Male die Hauptstadt des Reiches. Aus dieser Epoche stammen seine Wälle und ältesten Gebäude. Peking ist also eine moderne Stadt. Seine Mauern erinnern an unsere Ritterburgen. Nur ist hier Alles kolossal, während in Europa die Bauten des Mittelalters fast immer kleine Dimensionen haben. Pekings Stadtmauern sind zwischen fünfzig und sechszig Fuß hoch, zwanzig, vierzig, fünfzig Fuß breit, und ihr Umfang beträgt mehr als zwanzig englische Meilen! Ungeachtet dieser großen Ausdehnung geben nur sechszehn Thore Einlaß. Die Hauptstadt des Reiches besteht aus der „Tartaren-" und aus der „chinesischen Stadt". Der Grundriß zeigt zwei Parallelogramme deren eines, die Tartarenstadt, mit der Kurzseite senkrecht steht auf der Langseite des anderen, der chinesischen Stadt. Noch vor nicht sehr lan- *j 222 vor I. CH. **) 1215. ***) 1421. 65 ger Zeit entsprach diese Bezeichnung der thatsächlich damals bestehenden Scheidung zwischen Siegern und Besiegten, den Männern aus dem Norden und den Chinesen. Heut zu Tage haben sich viele der letzteren in der Tar-tarenstadt niedergelassen, und die Zeit mildert allmälig, ohne ihn gänzlich zu verwischen, den Antagonismus zwischen den beiden Stämmen. Im Mittelpunkte der tarta-nschen Stadt liegt der Palast des.^aisc^, auch die „kaiserliche oder verbotene" Stadt genannt; sie ist von hohen Mauern eingeschlossen und, wie der Name andeutet, gewöhnlichen Sterblichen unzugänglich. Die theils breiten, theils schmalen Gassen kreuzen sich in rechten Winkeln. Hohe schmucklose Mauern entziehen die Wohnsitze der Reichen den neidischen Blicken der Vorübergehenden. Die Häuser welche man sieht sind elende Lehmhütten ohne allen architektonischen Schmuck. In dcr chinesischen Stadt, wo Industrie und Handel vorzugsweise hausen, gibt es ganze Straßen welche nur Kaufläden enthalten. Letztere sind reichlich mit den Landeserzeugnissen, sehr spärlich mit europäischen Artikeln versehen. Apotheken, Thee- und Tabakmagazine glänzen durch die Pracht ihrer vergoldeten oder lackirten Auslagen und der kolossalen Schilder welche, mit rasigen Inschriften bedeckt, an einer vor der Thüre gepflanzten Stange senkrecht aufgehängt sind. Die die Tartarenstadt vom Norden nach Süden durch- Hübner, Sft.izieraang 1U. 5 66 ziehenden unabsehbaren Gassen sind hier verödet dort belebt, laufen bald zwischen elenden Lehmhütten hin, bald zwischen eleganten Kaufläden und nackten Mauern hinter denen sich Paläste verstecken. Abwechselnd schreitet man immer in gerader Linie, die in Peking vorherrscht, durch die Wohnsitze des Elendes und des Uebcrflusses, aber das erstere zeigt, der letztere verbirgt sich. Die großen Straßen, meist breite Dammwege, waren einst mit Marmorblöcken gepflastert, und Marmorplatten überdeckten die Gossen. Heute ist Alles in Verfall gerathen. Die Tempel sind schlecht gehalten, und die Amtssitze der Großmandarine unterscheiden sich wenig oder gar nicht von den Iamen in den Provinzen: ein Palissadenverhau, das große Thor mit einem roh gemalten Drachen geschmückt; daneben ein oder zwei Fahnenstangen, an der Schwelle ein Haufe von Sollicitanten. Die öffentlichen Gebäude, selbst das Gesammtministerium, das Tsungli-yamen, glänzen nicht durch Reinlichkeit. Der Staub, dieser böse, zudringliche Gast ist eingedrungen, hat sie mit seinen schmutzigen Farben übertüncht, mit scheußlichen Gerüchen gesättigt; denn bevor er sich in den hohen Regionen festsetzte, hatte er in niedrigen Wohnungen gehaust, in den Gassen gewirbelt die selbst an vielen Stellen nichts Anderes sind als ungeheure Lagerstätten des Unrathes. Ein Spaziergang in Peking gehört nicht zu den be- 6? quemen Dingen. Zu Fuß oder zu Pferd, hat man keine Zeit viel um sich zu sehen; und doch wenn nicht Alles schön, so ist doch Alles sonderbar, neu und interessant. Aber nicht das Angenehme, das Nothwendige nimmt unsere Aufmerksamkeit in Anspruch. Da hat man Löcher zu vermeiden, die der Negen in die Dämme gegraben hat, und die tiefen Nadspuren der Karren im lehmigen Boden; man muß auf schmalen schwankenden Brettern schwarze, übelriechende Bäche überschreiten, vor Allem den Kamelen aus dem Negc gehen! sie haben zwei Höcker und die Größe mäßiger Elephanten. In langen Reihen ziehen sie einher; ihre Führer sind Mongolen, stämmige Bursche mit viereckigem Kopf, eingedrücktem Naschen, einem einfältigen Lächeln auf den wulstigen Lippen, mit einem offenen und ehrlichen Gesicht. Auch die Fialer bilden ein Hinderniß der Bewegung. Ueberall versperren sie den Weg. Es imd ein oder zweispännige Karren, darüber ein Zelt in Form eines Tonnengewölbes. Ein vorgespanntes Stück Segeltuch schützt den Kutscher und die Pferde. Ihre große Anzahl erklärt sich durch ein Gesetz welches den Gebrauch d" Sänften Standespersonen von gewissem Range vor-bchält. Hicr kommt eine! Vier Kuli tragen sie; sie laufen lm Dublirschritt, hinter ihnen ein Dutzend Livreebediente, ^nd welche Livree! Fast so schmutzig und abgenutzt wie ^ Portechaise. Aber der Mandarin der sie einnimmt ist 5" 68 ein schmucker Herr mit glattrasirtem Kinn, wöhlgewaschc-nen Händen, frischer Wäsche und sorgfältiger Toilette. Auf seiner Nase reitet eine kolossale Brille; er selbst scheint in seiner Lektüre versunken. Es ist wie man mir sagt ein Staatsrath der sich in die Sitzung begibt und seinen Vortrag vorbereitet. Das Gedränge in der Straße hält uns einige Minuten neben seiner Sänfte auf. Er mißt uns mit verächtlichen Blicken und wendet sich dann wieder seinen Akten zu. Unmöglich hier vorzudringen! Wir nehmen also den Weg durch jene einsame Gasse welche längs den Mauern der „verbotenen Stadt" hinläuft. Dort erwarten uns aber neue Schwierigkeiten. Eine Vürgerhochzeit zieht vorüber: die Brautleute voran, hinterher die Familie, die Freunde, die Geladenen, alle in Fiakern. Aehnliches kann man in Paris, im Bois de Boulogne sehen. So irren wir stundenlang umher; aber diese Stunden Vergehen wie Minuten. Unsere mongolischen Ponies, einige Anfälle von Ungeduld abgerechnet, benehmen sich vortrefflich. Wir sind längs der verbotenen oder kaiserlichen Stadt hingeritten: sie liegt unbequem genug im Mittelpunkte des Parallelogramms und zwingt daher gewöhnliche Sterbliche welche sich nach dem nördlichen Theile der Tartarenstadt begeben zu bedeutenden Umwegen. Wir biegen in eine der großen Queradern ein, und hier wird 69 uns der imposante Anblick eines großen Leichenbegängnisses zu Theil. Ich meinte ein Minister, wenn nicht ein kaiserlicher Prinz werde zu Grabe getragen i aber man berichtigt meinen Irrthum: der zu den Geistern seiner Ahnen Abberufene ist ein niederer Beamter vierter Kategorie. Die Verehrung für Todte und der lebhafte Familien-Geist, diese Kardinaltugcnd des Chinesen, erklären den übertriebenen Aufwand bei Leichenbegängnissen. Viele Familien überschreiten hiebei ihre Kräfte, manche richten sich zu Grunde. Ueber dem Leichnam trug man einen ungeheuren Baldachin von Scharlachtuch mit barbarischer Goldstickerei überladen. Vor dem Sarg fuhr in einem weißverbrämten leeren Nagen die Seele des Verstorbenen. Die Familie folgte in Fiakern. Alles trug die Trauer, selbst die Kutscher hatten an ihre Hüte weiße Tuchlappen geheftet. Die Familie und die Freunde sahen ärmlich aus, aber der Todte machte sein Exit als großer Herr. Der Pracht des Sarges entsprachen die Anzahl und die reiche Ausstattung der Fahnen, Sonnenschirme und vergoldeten oder lackirten Lanzen welche Männer die paarweise zu beiden Seiten einhergingen dem Leichnam vorantrugen. Die Sonnenschirme wie ich sie in Ermanglung eines bezeichnenderen Wortes nenne sind eigentlich kurze an den Stangen herabhängende Schläuche von Seidenstoff, karmosin oder blau, mit goldgestickten Inschriften, phantastischen Or- 70 namenten, Drachm oder sonstigen Ungeheuern. In gemessener Entfernung schritten Bursche einher in dem Anzüge unseres mittelalterlichen Narren: das Wams, die enge anliegenden Hosen und die ganz entschiedene Narrenmütze sind scharlachroth. Sie schlugen auf dem Gong und regelten die Bewegungen des Zuges. Mehrere Musikbanden spielten ails, das heißt erfüllten die Luft mit miß-tönigem Getöse. Zu diesem großen Gepränge bildete die Gleichgültigkeit der Vorübergehenden einen auffallenden Gegensatz. Nicht Einer blieb stehen. Höchstens daß man einen verdrießlichen Blick auf den Zug warf; verdrießlich, weil Geschäftsleute nicht gerne in den Straßen aufgehalten werden. Auch ist man gegen dergleichen sich täglich wiederholende Schauspiele abgestumpft. Sie interefsiren nur 'M Leidtragenden, und vor Allem den Verblichenen. Trotz diesen und anderen Schwierigkeiten und Hindernissen schlendere ich gerne durch Peking: denn Alles geschieht hier in anderer Weise als bei uns. Wir befinden uns in einer Gasse die zur „verbotenen Stadt" führt. Das weit offenstehende Thor gestattet mir einen Blick in die geheiligten Orte zu werfen. Sie schienen mir dem profanen Peking zum Verwechseln ähnlich. Da hören wir Lärm hinter uns. Ein Volkshaufe hat sich um einen zerlumpten fast nackten Burschen und 71 UM ein Weib versammelt, welches wuthschnaubend ihn mit Schimpfworten überhäuft. Der Mann hat sie be-stohlen, noch hält er das Corpus Delicti in der Hand. Eine groteske, scheußliche Scene! Hoffmann oder Jacob Bibliophile, der Verfasser des Todtentanzes, könnten dergleichen beschreiben. Mit einem Male wird es stille. Ein Greis tritt auf: seine Erscheinung ist anmuchig und wür-^voll, sein Antlitz athmet Sanftmuth! mit wohlwollenden Blicken betrachtet er den Angeklagten, richtet einige Fragen an ihn, berührt seine Schulter und entfernt sich. Ehrfurchtsvoll weicht die Menge zurück. Ihm folgt, in der Entfernung von etwa zweihundert Schritten, der Missethäter mit geneigtem Haupte, mit über die Brust gekreuzten Armen. Der Greis war ein Polizeibeamter i der unglückliche Dieb, dem noch andere Sünden am Gewissen lasten mögen, ist verhaftet: er geht den Weg des Gefängnisses; er weiß was seiner harrt: das Bambusrohr, die Tortur, Hunger, Krankheit, Tod. Wir haben die Ringmauern erstiegen und stehen über dem großen Mittelthore Chien-men, welches von der chinesischen in die Tartarenstadt führt. Wir blicken nach Norden. Zu unseren Füßen die Lehmhütten, welche Leute aus Korea bewohnen; weiterhin ein scheinbarer Wald, 72 ein Meer von bestaubten Vaumwipfeln. Ueber dieser beweglichen graugrünen Masse, zu unserer Rechten, der Thurm der russischen Kirche: vor uns die gelben Dächer des kaiserlichen Palastes, eigentlich einer, ein Viereck bildenden Häusergruppe inmitten eines Gartens. Darüber ragt der „künstliche Berg" empor, der höchste Punkt von Peking. Das Hauptthor der kaiserlichen oder verbotenen Stadt ist höchst unansehnlich, und entspricht insofern den Ideen des Landes. Der Chinese versteckt seinen Besitz: der Reiche will arm scheinen. Jenseits der kaiserlichen Stadt, augenscheinlich in sehr grofter Entfernung, zeigen sich die abgestumpften oder vielmehr absichtlich unvollendeten Thürme der sogenannten „französischen" Kirche; ,in größerer Nähe zu unserer Linken, gleichfalls über Bcmmwiftfeln, die portugiesische Kathedrale. Unter uns, zu beiden Seiten des Thores dessen Oberbau unsere Narte bildet, entwickeln sich die imposanten Steinmassen der zurückgeneigten Mauern welche die beiden Städte trennen. Der äußere, mit breiten Zinnen gekrönte, Ningwall stützt sich auf starke Strebepfeiler. Die Zeichnung besteht nur aus zwei sich unablässig wiederholenden Elementen: aber die optische Wirkung, die Stufenleiter der Farbcntö'ne bringen Abwechselung in das Bild und gestatten einen Schluß auf die ungeheuren Dimensionen. Unter den Mauern und den Stadtgraben entlang ziehen Kamele in endlosen Neihen. 73 Gegen Süden ändert sich das Schauspiel. Alles hat da mehr Leben. Eine prachtvolle, breite Marmorbrücke führt nach der chinesischen Stadt, und in eine unabsehbare Arterie, jetzt angefüllt mit Fußgängern, Lastchicren und Karren. Es ist das industrielle Viertel. Am Horizont, gerade vor uns, steigt über einem Vorhange von Bäumen der dreifach bedachte „Tempel des Himmels" in die Luft; in Südwest der schlanke, vielstöckige Thurm einer Pagode. Jenseits dehnt sich die sandige Ebene aus. Die Nord-und Ostwinde brausen über sie hin, prallen an die Stadtmauer, begraben sie zuweilen bis auf halbe Höhe in die herangeblasenen Sandwogen. Angehäuft am Fuße der Ringmauer, drohen die beweglichen Dünen die Bastionen zu ersticken, aber der nächste Sturm zerstäubt und treibt sie wieder hinaus in das offene Land. Es gibt nichts Traurigeres als die Umgegend von Peking: eine unabsehbare Steppe. Am Horizont fließen Land und Luft in einander. In den oberen Regionen ist die Atmosphäre reiner. Daher gewahrt man zuweilen die Gipfel, nur selten den Fuß und die Abhänge des Mongolischen Gebirges. Peking ist das Lager von Barbaren auf der Beiwacht. In der Mitte steht das Zelt ihres Häuptlings; zugleich dient es denen die das Feld bebauen als Zufluchtsort. Der Nomade der den Bauern schützt! Wahr- 74 haftig, das ist Asien! Ich begreift jetzt die Verehrung welche die Völkerschaften dieses Kontinents, vom Ural bis nach Kashgar, von Kiachta zum Hindukush, für Shun-tian (Peking) bewahrt haben, in ihrer Phantasie die Stadt der Sadte, das irdische Paradies, der Mittelpunkt der Welt. Für mich ist es das Urbild der alten biblischen Großstädte, ein Babylon, ein Niniveh: ungeheuerlich, roh, heroisch. Auf die einsamen Wanderungen folgen Neitvartien in zahlreicher, jugendlicher Gesellschaft. Wir sind alle gut beritten. Diese mongolischen Ponies gehen ein wenig scharf in die Hand, sind feurig, lieben auch sich zu bäumen und durchzugehen wie man dies Kindern der Steppe nicht verargen kann, die stolz find auf das edle Mut das in ihren Adern fließt. Die Neiterschaar hat die chinesische Stadt in ihrer ganzen Breite durchzogen und erreicht nun einen großen unregelmäßigen Platz! gegenüber liegt der Tien-tan, der Tempel des Himmels den der Kaiser alljährlich besucht und der die übrige Zeit verlassen und verschlossen ist, verschlossen besonders den Fremden seit einige amerikanische Reisende sich beikommen ließen mit Frauen und Kindern auf dem Altar des „Iahresopfers" ein Piknik zu 75 organisiren. Nun gibt es aber glücklicher Weise Mittel sich mit dem Himmel abzufinden, besonders mit den Wächtern des Tempels der seinen Namen trägt. Doch erfordert dies ein Zusammenwirken von List, Gewalt und Geld. Das Thor, ein glücklicher Zufall, steht offen. Dem Rathe eines der Herren die uns führen Folge leistend thun wir dergleichen als wollten wir an dem Tempel vorüber reiten. Unser Freund aber sprengt an die Wächter heran die ihn unter großem Geschrei aufzuhalten suchen, durchbricht das Häuflein und dringt glücklich in den Vorhof. Wir folgen dem Beispiel mit gleich günstigem Erfolge. Herr L . . . gewahrt mit seinen Luxaugen eine andere offenstehende Pforte. Wir geben die Sporen und befinden uns einige Augenblicke später in der zweiten inneren Einfriedung. Hier umringt uns eine Schaar von Knechten die den Nächterdienst verrichten. Die Kerle sehen nicht sehr reputirlich aus und empfangen uns mit wildem Gejohle. Ihre Livreen sind abgenutzt und lassen auch im Punkte der Reinlichkeit zu wünschen übrig. Nun werden die Verhandlungen eröffnet: eine gute Gelegenheit für die Herren Dollmetschc ihre Sprachkenntnisse und diplomatische Begabung zu bewähren. Alsbild stimmen die Chinesen den Ton herab. Dann lassen sie, als ein Zeichen des Respektes, ihren Zopf auf die Schulter herabfallen (Leute aus dem Volke tragen ihn während der Arbeit um den 76 Kopf gewickelt). Noch ein kurzer Ideenaustausch, und die Zornigen Mienen machen freundlichem Grinsen und Ehr-furchtsbezeigungen Platz. Kurz, man versteht sich. Es handelt sich darum annäherungsweise die Anzahl Bambusstreiche zu berechnen welche die Wächter erhalten werden weil sie Fremde Teufel zuließen, und hienach das ihnen zu entrichtende Schmerzensgeld zu bemessen. Nachdem dies zur beiderseitigen Zufriedenheit geschehen, läßt man uns ein. Nur werden wir gebeten nichts zu zerstören und fortzutragen, denn sonst gäbe es nicht nur Bambus-streiche, sondern auch abgeschnittene Hälse, und „Ihr begreift", sagte man uns mit kläglicher Miene, „das ginge über den Sftaß." Der Tempel des Himmels, mit seinem Park und den von Mauern und Gräbern umschlossenen Höfen mißt zwei Meilen im Umfang. Der Hain, ein wirklicher Wald von Cedern und anderem Nadelholz, sieht ganz verwildert aus. Das vorzüglichste Gebäude ist das Heiligthum der Iahresopfer, erbaut um die Mitte des vorigen Jahrhunderts. Auf einer kreisrunden Terrasse erhebt sich, von drei concentrischen Marmorgeländern umgeben, der gleichfalls kreisrunde, eigentlich Polygone Tempel. Ein phantastisch geschnitztes mit blauem Glasemail geschmücktes Holzgitter vertritt die Wände. Die drei übereinander gestellten Dächer, in Gestalt ebenso vieler Sonnenschirme, sind mit blauen Ziegeln gedeckt. Ein seltsamer Bau: zugleich elegant und fratzenhaft, künstlich und roh, das Auge verletzend durch die bizarren Kreuzungen der Linien, und es wieder beruhigend durch den sanften Einklang der Farben. Wie schön verschmelzen da das Weiß der Marmorbalustradcn, das Schwarzbraun der durchbrochenen Holzwände, das Dunkelblau des Glasemails und der Ziegel! Aus einer gewissen Entfernung betrachtet, erzeugen die fliehenden Kurden der Balustraden in ihrem Zusammenstoße mit den sich ihnen scheinbar nähernden Kurven der drei Sonnenschirme, eine eigenthümliche, unbeschreibliche Wirkung. Man ist geneigt die Erfindungsgabe, die Phantasie des Architekten zu bewundern. Aber nicht ihm gebührt das Verdienst dieser seltsamen Effekte. Die großen Dimensionen des Gebäudes und die Gesetze der Optik haben sie hervorgebracht. Die chinesische Ginbildungskraft hat nichts dazu gethan. Das Innere ist den Sterblichen unzugänglich: nur der Kaiser, die Prinzen von Geblüt und sein Gefolge dürfen es betreten. Auch uns halten riesige Schlösser auf der Schwelle des Heiligthums fest. Glücklicher Weise haben die Wächter nicht der Mühe werth gefunden uns zu begleiten. Sicher der Stockstreiche die ihrer harren, und sicher auch unserer Tael, von denen sie bereits eine gewisse 78 Anzahl als Darangabe eingesteckt, gestatten sie uns im Tempel des Himmels nach Belieben zu schalten. Wir untersuchen also die Schlösser, und eines hat die Gefälligkeit sich zu öffnen. Indem ich dies niederschreibe fühle ich die Schamröthe auf meinen Wangen und ich zweifle nicht daß meine Gefährten dies Gefühl theilen. Nun ist die That aber geschehen, und wir treten in das Innere. Vier Holzsäulen, mit Schmtzwerk und Malerei reichlich ausgestattet, oben verbunden durch vier ähnlich gearbeitete Querbalken, tragen eine mit Pilastern geschmückte Gallerie auf welcher eine Kuppel ruht. Diese ist, so weit ich bei dem schwachen Lichte ausnehmen konnte, sehr gedrückt und wie die Säulen und Pilaster mit Lack und Schnitzwerk bedeckt. Es ist die einzige Kuppel die ich in China sah. Erst hier, mit Hilfe des Gegensatzes zwischen dem Dunkel im Innern und der äußeren Tageshelle, vermochten wir die Schönheit und Abwechselung des Gitterwerkes Zu bewundern Welches, wie oben gesagt, die Mauern des Tempels ersetzt und, von hier gesehen, einem Spinnengewebe gleicht. Kein Götzenbild, nichts was daran erinnerte daß dieser Ort dem Gebete gewidmet sei. Es ist ein prachtvoller Kiosk, würdig der Zusammenkunft zwischen dem Gebieter des Himmels und dem Gebieter der Welt. In geringer Entfernung von dem Tempel erhebt sich der offene Altar auf welchem die Iahresopfer dargebracht 79 Werden; eine kreisrunde Platform von weißem Marmor, dreißig Fust hoch und aus drei Terrassen zusammengesetzt welche im Diameter hundertzwanzig, neunzig und sechszig Fuß messen. Hier wie in allen andern Gebäuden dieses Tempels herrscht die Dreizahl. Die Absätze der Treppe bestehen aus drei, neun, zwölf Staffeln, immer cin Ergebniß der Multiplikation mit drei. Ebenso verhält es sich mit allen andern Elementen dieser Gebäude, als da sind die Steinplatten des Pflasters, die Geländer der Gallericn und so fort. Im Tempel der Erde, der außerhalb der nördlichen Stadtmauer liegt, bildet zwei die Grundzahl. Gottcsgelohrsamkeit und Geometrie wirken hier zusammen; aber den mystischen Sinn konnte mir Niemand erklären. In den Küchen sahen wir die großen Kessel in welchen das Fleisch der Opferthiere gekocht wird. Ein langer geräumiger Korridor verbindet fie mit der Tempelhalle. An einer andern Stelle des Haines befinden sich die Gebäude in welchen der Kaiser, die Prinzen von Geblüt und die Hofwürdenträger absteigen. Alle diese Baulichkeiten sind, die dicken Staubschichten abgerechnet, in gutem Zustande. Man erklärt die Vernachlässigung durch die Minderjährigkeit des Kaisers der die Heiligthümer außerhalb des Palastes noch nicht besucht hat. 80 Ich habe die berühmtesten Tempel besichtigt; überall fand ich dieselbe Verwahrlosung und nirgend Betende. Die Amtssitze der hohen Mandarine befinden sich in ähnlichem Zustande, weil die Nutznießer ihre Iamen auf eigene Kosten unterhalten müssen und dasselbe Amt nie länger als drei Jahre verwalten. Aber wie erklären sich die elende Bekleidung ihrer Schreiber und Dienerschaft, der jämmerliche Zustand der Heerstraßen, der Gassen von Peking, der Kanäle und Brücken die, im vorigen Jahrhundert aus Marmorblöcken erbaut, fast gänzlich verfallen sind? Wie das allgemeine Nild der Verkommenheit das uns auf jedem Schritte entgegentritt? Welch sonderbarer Gegensatz mit den moralischen Eigenschaften, mit der geistigen Begabung des chinesischen Volkes, dieser kräftigen, thätigen, aufgeweckten Nation welche Amerika, Australien, Oceamen übcrfluthet und überall, allerdings nur bis zu einer gewissen Grenze und auf dem materiellen Gebiete, den Wettkampf mit den entwickeltsten Völkern Europa's siegreich besteht! Diese Frage richtete ich an Männer welche durch ihre Stellung, durch ihre Erfahrung, die Frucht eines langjährigen Aufenthaltes in China, durch ihre Kenntniß der Sprache, der Menschen und der Dinge dieses Landes vorzugsweise befähigt schienen mich zu.belehren. Hr. Williams, amerikanischer Missionär und Verfasser eines höchst 81 schätzbaren Buches*), der scit vicrunddreißig Jahren in China lebt; der russische Gesandte, Hr. General Vlangali; Hr. Wade, während mehrerer Jahre Gesandtschafts-Doll-metsch, heute englischer Gesandter; sein erster Sekretär, Hr. Brown; Hr. Low, Minister der Vereinigten Staaten; der deutsche Geologe Baron Richthoven, der mehrere Theile China's besucht hat und den ich nach dem fernen Szechuen abreisen sah; Monscigneur de la Place, apostolischer Vikar in Peking; Hr. Favier von derselben Mission; der russische Gesandtschaftsdollmetsch Hr. Lcnzi; der deutsche Geschäftsträger Hr. Annecke und sein Dollmetsch, Hr. Bismark, alle diese Herren hatten die Güte, und ich kann ihnen hiefür nicht genug danken, meine vielen Fragen zu beantworten, meine Zweifel zu lösen, meine Irrthümer zu berichtigen. Unvergeßlich werden mir diese Unterredungen sein; sie füllten die frühen Morgenstunden und halfen die schon langen Herbstabende verkürzen, welche ich immer unter dem gastfreien Dache des Generals Vlangali oder in den Salons der anderen Gesandtschaften zubrachte. „Dieser Verfall, fragte ich, ist er blos scheinbar oder Wirklich? Erlöscht die Nation, oder nur die Dynastie?" „Hierüber", war die Antwort, „ließe sich Vieles sagen. China ist das Land der Widersprüche. Die konservative Hübner, Npaziergang III. 82 Richtung waltet hier vor. Die Ansichten, die Sitten, selbst die Tracht, letztere mit sehr geringen Abänderungen, blieben wie sie waren vor tausend, vor zweitausend Jahren. Und dennoch wird nirgend unsolider gebaut. Mit Ausnahme einer Pagode in ... (der Name ist mir entfallen) in der Provinz Kiangsi, deren Errichtung in das zehnte Jahrhundert zurückreicht, gibt es im ganzen Reich nicht Ein Gebäude das mehr als Zweihundert, höchstens zweihundertfünfzig Jahre zählte. „Der Chinese ist vor Allem patriarchalisch gesinnt, und dennoch, außer den acht oder neun fürstlichen Familien, gibt es keinen Erbadel. Im Gegentheile vermindert sich der vom Kaiser verliehene Adel mit jeder Generation um einen Grad. Der Sohn eines Marquis, das heißt eines Adeligen, der den unseren Marquis entsprechenden Nang besitzt, wird Graf; der Sohn des letzteren Baron und der Sohn des Barons trägt keinen Titel mehr. Die Fürsten von Geblüt machen die einzige Ausnahme und genießen große Ghrenvorrechts. Selbst die Minister stehen hinter ihnen im Range zurück. Doch üben erstere ans die Staatsge-fchäfte keinen Einfluß. „Ein jeder kann zu den höchsten Aemtern gelangen, dcr Sohn eines Kuli so gut wie der Sohn eines Fürsten, vorausgesetzt daß er die vorgeschriebenen Prüfungen bestanden hat, daß er Baccalaureus wurde in seinem Di- 83 strikt, Licentiat in der Hauptstadt seiner Provinz, endlich Doktor bei den großen Rigorosen in Peking. Jeder Doktor kann die obersten Staffeln der hierarchischen Stufenleiter erklimmen. Als Literat ist er Glied eines Körpers, besser gesagt einer Menge, welche eine wahre Macht im Staate bildet i aber um persönlich einen Antheil an der Negierungs« getvalt zu erlangen, muß er in den Staatsdienst treten, der sich ihm erschlicht nach Maßgabe des von ihm errungenen akademischen Grades. Man sollte also meinen, und w der That es ist so, daß China ein wesentlich bureau-kratischer Staat sei. Und dennoch gibt es kein Land unter den Sternen, welches weniger Beamte besäße. In diesem ungeheuren Reiche zählt man nicht über zwölftausend Mandarine. *) Dies Wort in dem gewöhnlichen Sinne genommen, nämlich als gleichbedeutend mit besoldetem Staats-diener. Denn, abermals ein Widerspruch, in keinem Lande der Welt hat sich das Prineip der Selbstverwaltung, des »Li^ovornmont, die Autonomie der Gemeinde, in höherem Grade entwickelt. „In welcher Beziehung steht der Souverain zu seinem Volke? Der Chinese ist der gehorsame Unterthan des Kaisers, '^) Bekanntlich ernannten dic portugiesischen Schifffahrer des sechszehnten Jahrhunderts die arosicn und kleinen Beamten China's "Mandarin." N^na^r heiftt auf portugiesisch befehlen. Den Chinesen selbst ist das Wort Mandarin vollkommen unbekannt. 6" 64 der Kaiser der Vertreter Gottes oder des Schicksals. Man ist ihm also blinden und unbeschränkten Gehorsam schuldig. Er ist Kaiser weil Gott es so wollte. Ist er ein schlechter Regent, so steht es übel mit China, aber dies ändert nicht die Pflicht eines jeden seinen Befehlen, auch den verderblichsten und ungerechtesten, zu gehorchen. Von allen Verbrechen ist die Rebellion das größte. Gelingt aber die Auflehnung gegen den Kaiser, so geschah dies weil Gott es so wollte. Wenn, in Folge eines siegreichen Aufstandes, ein Usurpator sich des Thrones bemächtigt, so tritt er sofort in den Genuß aller, ihrer Natur nach unbeschrankten, Rechte und Privilegien des von ihm gestürzten Hauptes der Dynastie. Der Erfolg verleiht die Rechtmäßigkeit, denn er ist ja nichts Anderes als eine Offenbarung des göttlichen Willens. Also die erste Pflicht des Staatsbürgers ist unverbrüchliche Treue für den Souverän, verbunden mit der Pflicht jedwede thatsächlich vollzogene Aenderung sofort und unbedingt anzuerkennen. Von allen Widersprüchen gewiß der größte. Dies vorausgeschickt, gehe ich auf Ihre Frage über. Das chinesische Volk, eben weil es von der kaiserlichen Macht eine so hohe Meinung hegt, erwartet, wenn nicht Alles, doch sehr viel vom Kaiser. Die Fürsorge für die öffentliche Ruhe, die Ausübung der Gesetze, die Erhaltung der Staatsgebäude, der Brücken, Straßen und Kanäle, der 85 Festungen und Häfen ist Sache des Kaisers und nicht des Volkes. Nun ist aber der Kaiser minderjährig; sein Vater war ein beschränkter, lockrer Herr der sich wenig mit den Geschäften befaßte; sein Großvater galt für einen Schwachkopf. Dazu kommt daß die kaiserliche Nürde in China keine Sinecura ist. Wenn der Kaiser nicht handelnd eingreift, wenn er seine PfliHten nicht erfüllt, so leidet die Nation. Peking ist hievon ein sprechendes Beispiel. Seine Straßen haben sich in Abzugsgräben verwandelt, seine Gossen sind der Marmorplatten beraubt welche sie einst bedeckten und deren Trümmer die Gassen jetzt unwegsam machen! die Tempel entweihen Staub und Unrath, ein Aergerniß für die Gläubigen wenn es Gläubige gäbe die sie besuchten: die öffentlichen Gebäude und, außerhalb der Stadt, die Kanäle, diese großen Adern des Landes, verfallen-, die Heerstraßen werden, je nach der Jahreszeit, zu vertrockneten Gießbächen, oder strömenden Flüssen oder zu undurchwad-baren Sumftflachen! Dies ist die Schuld der zwei letzten Negierungen. Unter dem Scepter eines energischen, eines thätigen und verständigen Regenten verschwänden, binnen Kurzem, die Spuren der schlechten Regierung seiner Vorgänger und, mit ihnen, jene Anzeichen des Verfalles über welche sich die Fremden so sehr und die Eingebornen so wenig wundern." Heute Nachmittag im Tempel des Konfucius, Win^ Miao und in der Großen Lamaserie, Mmg-ho-kung genannt. Beide befinden sich im Nord-Ost-Ende der Tartarenstadt. Von der Akademie und dem Tempel des großen Philosophen sind nur ein paar Schritte zum Heiligthume des großen Gottes. Aber, in geistiger Beziehung, trennt sie eine unermeßliche Entfernung. Man behauptet daß der Buddhismus von allen Religionen die verbreitetste ist. Möglich; ich möchte aber meinen daß es mehr Anhänger des Konfucius, mehr Nationalisten auf der Welt gibt als Buddhisten. Hier stehen sie sich gegenüber. Wir besuchen zuerst den Philosophen. Der Vorhof ist mit Cyftressen bepflanzt deren Zweige in der bekannten Weise gezwungen wurden sich horizontal auszubreiten. Die Inschriften auf den sonderbaren glockenförmigen Steinblöcken die man uns zeigt harren noch der Entzifferung! begreiflich, wenn es wahr ist daß sie Konfucius eigenhändig auf den Stein schrieb. Die T^npelhalle ist prachtvoll, aber diese Pracht hat etwas Schales. Keine Götzenbilder aber Viele Inschriften; die Namen des Philosophen und seiner Jünger: Alles mit altersgrauen Staubschichten bedeckt. Hier verrichtet der Kaiser sein Gebet einmal im Jahre. Die Akademie des Konfucius befindet sich unmittelbar neben dem Tempel und bildet, wenn ich nicht irre, einen Bestandtheil desselben. Hier, in einem kleinen Hof, sind 8? sämmtliche Werke des Weisen so wie andere klassische Werke, in schwarze Marmorftlatten gegraben, zum Gebrauche der Literaten ausgestellt. Alle diese Gebäude haben einen akademischen und zugleich höfischen Anstrich! im Ganzen entspricht dies äußerliche Gepräge dem inneren Wesen des Neligionsstifters, besser gesagt des pedantischen Professors, des eleganten gelehrten Höflings, des unermüdlichen Ministerkandidaten und Stellenjägers, genannt Konfucius, und dem hohen Range der Beschützer seiner Manen, der Kaiser, der gnädigen Gründer, Wiedersteller und Neuerbauer dieser Tempel welche eigentlich nicht Tempel genannt werden wllten weil sie mit der Religion wenig oder nichts gemein haben. Kien-Iung, dessen Negierung beinahe zwei Drittheile des vorigen Jahrhunderts umfaßt^), hat den hübschen Saal erbaut in welchem der Kaiser, alle zehn Jahre einmal reich geschnitzten und vergoldeten, auf dem Throne sitzend, sich einige Bruchstücke der Klassiker vorlesen läßt. Wir sind in der Grohen Lamaserie Jung-ho-kung angekommen. Die Bonzen, sämmtlich Mongolen, halten in einer Halle ihren Gottesdienst. Einer von ihnen, der für Aufrechthaltung der Ordnung zu sorgen hat, überhäuft uns mit Schimpfworten weil ich in einer Anwandlung von Zerstreutheit mit brennender Cigarre eingetreten war. *) Von 173« bis 1796. 88 Als Strafe verlangt der Bonze meine Ausweisung. Aber Herr Lenzi, mein liebenswürdiger Begleiter und Cicerone, beschwichtigt den Cerberus, und der einen Augenblick unterbrochene Gottesdienst nimmt seinen Fortgang. Priester, Novizen, Akolythen, alle mit gelben Leibröcken und gelben Mänteln bekleidet, alle mit vollkommen rasirtem Schädel, kauern auf niedern Bänken und singen im Chor. Was ihre Gesichter anbelangt, so sah ich niemals dümmere und geistreichere. Abgemagerte Gestalten, durch Fasten erschöpfte Naturen, einige mit Zügen welche die Ascese veredelt hatte, andere die wie verthiert vor sich hinstarrten. Daneben Jünglinge voll Gesundheit und Leben und kleine Knaben mit spitzbübischen Augen die wie brennende Kohlen funkelten. Im Chorgesang herrschen die näselnden Töne vor, aber zwei oder drei Baßstimmen würden in Wien und Paris an der großen Oper ihr Glück machen. Die Scene welche wir vor Augen hatten erinnerte mich lebhaft an die großen Ceremonien der katholischen Kirche. Unweit der Halle befindet sich das Heiligthum Buddha's, ein dunkler, enger aber sehr hoher Naum den die kolossale Statue des Gottes ausfüllt. Um sie im Einzelnen zu besehen, besonders um die breiten Schultern und die langen Arme der Gottheit in der Nähe zu bewundern, muß man auf einer Seitentreppe mehrere Stockwerke emporsteigen. Neben dem Tempel hat Kaiser Dung-mm für seine 69 dreizehn Söhne ein mehr klösterliches als fürstliches Wohnhaus erbaut. Die Zimmer sind klein. Ein Korridor läuft ihnen entlang: die Thüren vollkommen kreisrund; die Details der Ornamentirung phantastisch und zuweilen sehr elegant und anmuthig. Das Haus lehnt sich an die nördliche Stadtmauer. Durch ein Fenster blickend, weide lch mich, mit immer neuem Vergnügen, an dem Anblicke des düstern, großartigen Gemäldes. Aber das Hauptinteresse dieser nachmittägigen Wanderung bildet der merkwürdige Gegensatz zwischen den Tempeln der Vernunft und den Tempeln des Glaubens, zwischen der Sophisterei und der Ascesis, der Spekulation und der blinden Neberzeugung, zwischen Konfucius und Buddha. Eine Wesley'sche Kapelle, die außer ihren vier nackten Wänden nichts aufzuweisen hat als das Pult des Predigers, und Sankt Peter während der Pontifikalmesse bilden keinen größeren Kontrast. Konfucius war Moralist. Er lehrte Marimcn, er ertheilte Rathschläge deren Weisheit gerühmt wird: aber die Diskussion über eine künftige Welt lehnte er ab: er suchte die Quelle für Gut und Uebel in der Vernunft und dem Willen des Einzelnen. Man behauptet allgemein, die Chinesen kämen als Skeptiker auf die Welt. Ist dies auch erwiesen? Eme Thatsache die Niemand in Abrede stellt bewiese eher das 90 Gegentheil: alle Literaten sind Skeptiker: alle Leute aus dem Volke sind gläubig. Die Literaten wachsen auf mit den Schriften des Konfucius. Könnte man nicht hieraus schließen daß, im Gegensatze zu jener Behauptung, die philosophischen Lehrsätze im Laufe der Jahrhunderte die Geister umgebildet und in sie die Keime der Zweifelsucht gelegt haben, welche so bequem ist während des Lebens, so ohnmächtig und trostarm im Augenblicke wo wir es verlassen? Ich las in einem Buche dessen Verfasser ein protestantischer Missionär ist, der Titel entfiel mir, daß die Literaten, obgleich ausnahmslos mehr oder minder Atheisten, wenn der Tod herannaht, zum Vnddhaglauben zurückzukehren pflegen. Katholische Missionäre bestätigten mir die Angabe. Aber wenn die Literaten das Dasein Gottes leugnen, so glauben sie mit um so größerer Inbrunst die einfältigsten Wunder, die albernsten Mährchen: gerade wie unsere Freigeister an sprechende Tische glauben. So bildet gegenwärtig im nördlichen China die Auffindung einer kleinen Schlange welche ein Bauer nach Tien-tsin brachte, wo sie in einem Tempel ausgesetzt wird, das große Ereignis; des Tages. Diese Schlange ist eigentlich ein Drache, und dieser Drache ein Gott. Nicht nur die ganze Bevölkerung, auch der Generalgouverneur der Provinz, der Taotai, die Municipalbeamten der Stadt, alle diese Herren begaben 91 sich in großer Gala nach der Pagode zur Anbetung der kleinen Bestie. Ich stellte an Jemanden dessen Meinung in solchen Dingen von Gewicht ist die Frage i „Betrachten der Gouverneur und die anderen hohen Persönlichkeiten die Adoration der Schlange als geboten durch Rücksichten der Staatsweisheit, als ein dem Volksaberglauben schuldiges Zugeständniß, oder theilen sie letzteren?" — „Ohne allen Zweifel, war die Antwort, „glaubt der Vice-König, genau wie der letzte Kuli, an die Göttlichkeit der Schlange", und als Beweis erzählte er mir mehrere Vorgänge, die in neuester Zeit sich vor seinen Augen zutrugen. So war, ganz kürzlich, einer der Legationssekretäre erkrankt; man entdeckte daß sein Haus auf Sumpfboden stand, und der Gesandte beeilte sich dort die nöthigen Arbeiten ausführen zu lassen. Eines Tages sprach er hievon mit einem ihm Persönlich befreundeten Mandarin hohen Ranges, einem gelehrten, sehr verständigen und seinen Standcsgcnossen Weit überlegenen Manne. „Die Ursache der Erkrankung", erwiderte dieser, „ist nicht das ungesunde Haus. Die Ursache ist der Fon-shue, wörtlich übersetzt der Wind und das Wasser, das heißt Verherung, die bösen Geister. Warum haben Sie so nahe bei der Wohnung Ihres Sekretärs jene Esse bauen lassen? Aus ihr steigen die bösen Geister em-ftor. Ist das nicht sonnenklar? Warum also eine andere Erklärung suchen?" 92 „Wenn", fuhr mein Gewährsmann fort, „die portugiesische Kathedrale während der zwei letzten Christenverfolgungen nicht zerstört wurde, wenn sie noch heute besteht, so verdankt sie dies, ohne allen Zweifel, der Abneigung der Chinesen gegen Abtragung großer Gebäude. Sie glauben daft böse Geister dadurch aus ihren Wohnsitzen vertrieben werden und sodann die Nachbarschaft heimsuchen. Andererseits bezweifle ich nicht daß die Literaten in Tien-tsin die, von ihnen selbst getheilte, Furcht des Publikums vor hohen Thürmen, welche die bösen Geister anziehen, mit Erfolg ausbeuteten um das Volk gegen die Missionäre und Klosterfrauen aufzureizen. Der Glockenthurm der katholischen Kirche in jener Stadt ärgerte und beunruhigte die Einwohner. Man hätte ihn gänzlich zerstört, aber der solide Steinbau widerstand dem Brande, und die Ruhe wurde hergestellt bevor das Werk der Vernichtung vollendet war. Als hier in Peking die beiden Thürme der neuen französischen Kirche während des Baues eine gewisse Höhe erreicht hatten, faßte die Regierung Besorgnisse. Sie schritt ein mit dem Verlangen daß der Weiterbau der beiden Thürme unterbliebe: weil, sagte sie, man von der Spitze derselben in die Gärten und Höfe des kaiserlichen Palastes blicken könnte. Dies war ein Vorwand; der wahre Grund waren die Geister. Monseigneur de la Place, ein kluger Herr, fügte sich den Wünschen des Tsungli-Yamen." 93 Der Chinese ist abergläubisch aber nicht fanatisch. Man versichert mir, sowohl im Volke, wie unter den Lite-raten, ja selbst im buddhistischen Klerus, sei religiöser Fanatismus unbekannt. Anders verhalte es sich mit den Mongolen. Je mehr man sich Thibet nähere, um so größeren Glaubcnseiftr finde man. In China stehe einem jeden frei „auf seine Facon" selig zu werden, und wenn hievon, leider, zu Ungunstm der Christen eine Ausnahme gemacht werde, so geschehe dies aus politischen und nicht aus religiösen Gründen. Anhänger des Konfucius, Taoisten, Buddhisten leben friedlich nebeneinander: nie hört man von religiösen Zwistig-keitcn. AIs Monseigneur Moulv, der letzte apostolische Vikar in Peking, starb*), bestattete man ihn, aus Rücksicht für die katholischen Eingeborenen, um ihre angestammten Begriffe von Schicklichkcit zu schonen, mit dem landesüblichen Gepränge. Sein Leichnam wurde in einem reich geschmückten Sarge nach dem portugiesischen Kirchhofe getragen. Das Kreuz an der Spitze, folgte der katholische Klerus in Kirchengewändern; alle fremden ("esandten nahmen an dem Zuge Theil -, dieser bewegte sich langsam durch die endlosen Hauptgassen die nach dem Thore Ping tsu men führen. Bekanntlich sind die Gassen eigentlich hohe Dämme. *) December 1868. 94 Alle Wagen, denen man begegnete, darunter die an der grünen Farbe kenntliche Staatskarosse eines Prinzen von Geblüt, wichen nach den Tiefseiten aus und überließen den Christen gutwillig den Haufttweg. Das Volk sah mit Neugierde zu, verrieth aber keine feindselige Stimmung. Peking besitzt einige sehr wohl ausgestattete Kauf' laden: Porzellan, Elfenbein- und Holzschnitzwerk, Cloisonnes und Iadearbeiten. Hier, wie überall, sind ordinäre Waaren im Uebcrfluß vorhanden, und wirkliche Kunstwerke selten und übermäßig theuer. So wurden uns zwei hübsche Vasen von altem Porzellan für achtzig Pfund Sterling angeboten. Gewiß ein übertriebener Preis, besonders im Verhältniß zu dem in China sehr hohen Werth des Geldes. Allerdings fehlen weder einheimische noch fremde Liebhaber. Zwar dürfen die Europäer in der Hauptstadt keinen Handel treiben, auch kommen nur äußerst wenige Ausländer Hieher und, außer den Gliedern der Gesandtschaften und der religiösen Missionen, gibt es keine fremden Residenten. Aber chinesische Händler kaufen bei einheimischen Familien auf was sie finden und schicken diese Gegenstände nach Tien-tsin oder Shanghai. Von dort gelangen letztere nach Europa, meist nach St. Petersburg und Moskau wo die vornehme Welt an Cloisonnes besonderes Gefallen findet. Wirklich werthvolle Arbeiten 95 trifft man selten in den Butiken. Am besten kauft man nach Gelegenheit. Kleinhändler tragen mehr oder minder seltene Gegenstände auf die Gesandtschaften. Dort werben sie drei oder viermal die Woche ausgestellt. Diese imftrovifirten Vazare bringen einige Abwechselung in das einförmige und freudenlose Dasein der Diplomaten. Aber ^s genügt nicht daft hübsche Kuriositäten feil geboten wer-den i man muß sich bei dem Kauf verstehen, das heißt selbst den Preis bestimmen und bei dem ersten Angebote beharren, mit anderen Worten, man muß Kenner sein und zu warten wissen. Der Eigenthümer der Vasen oder der Cloisonne packt sie ein, zieht ab, kommt nach einer Woche, nach einem Monat wieder, erschöpft abermals fruchtlos seine Beredsamkeit, packt wieder zusammen, geht, wieder fort, aber, vielleicht nach einem Jahre, bringt er den Gegenstand zurück und läßt ihn um den ihm ursprünglich gebotenen Preis. Einer der feinsten Kenner ist General Vlangali. Mit ihm durch Peking wandern, in seiner Gesellschaft die Kuriositäten prüfen die fast täglich nach dem Frühstück in seinem Garten ausgestellt werden, ist ein Vergnügen, ein Studium und eine Versuchung. Soll ich aber die Wahrheit sagen, so muß ich gestehen, daß ich wenig sah was mich besonders anzog oder wirklichen Kunstwerth zu besitzen schien. In den Erzeug- ' Nissen der großen Epochen erregen die Schönheit des Ko- 96 lorits und die Vollendung der Ausführung mit Recht unsere Bewunderung. Mir scheint übrigens daß die Chinesen weniger Geschmack besitzen als die Japaner, daß ihre Farben greller und weniger harmonisch sind, ihre Zeichnung weniger erfinderisch und ohne allen tnimoui- der, meiner Ansicht nach, den japanischen Erzeugnissen ihren vorzüglichsten Reiz verleiht. Der Jade, ein äußerst harter und schwer zu schneidender Stein, wird von den Gingeborenen über Alles geschätzt. In gewissen Vutiken findet man davon eine große Auswahl. Hochgestellte Männer tragen stets einen großen Ring von weißem oder grünem Jade am Daumen. Europa ist mit chinesischen Schnitzereien aus Elfenbein überschwemmt. Hier, bei General Vlangali, sah ich nur Ein solches Erzeugniß, ein wahres Juwel, das auf Kunstwerth Anspruch machen kann. Alles Nebrige ist Fabrikarbeit. Im Ganzen ziehe ich das Holzschnitzwerk vor. Lackirte Waaren stehen meiner Ansicht nach weit un-er den Vieux-Laques der Japaner. Dafür gebe ich, gegen die allgemeine Ansicht, dem chinesischen Porzellan den Vorzug; natürlich von den großen Meisterstücken ersten Ranges sprechend. General Vlangali besitzt eine nicht zahlreiche aber auserlesene Sammlung von Vasen aus der Zeit der Mingdynastie und der Kaiser des vorigen Jahrhunderts. Die ältesten, aus der Mingepoche, dürften dem 97 Ende des sechszchnten oder den Anfängen dcs siebenzehnten Jahrhunderts angehören. Sie unterscheiden sich von anderen durch die Farbenpracht; die aus dem vorigen Jahrhundert stammenden durch die freie, kühne Zeichnung. In ihnen ist europäischer Einfluß unverkennbar. Woher kam er? Woher auch die sonderbare Analogie mit dein bereits besprochenen Barolismus der japanischen Skulpturen aus der Negicrungszeit Taiko-Sama's und seiner crsten Nachfolger? So weit es sich um China handelt, sagt man mir, liegt die Erklärung am Tage. Die Jesuiten, damals die Günstlinge des Pekinger Hofes und in stetem Verkehr mit Europa, von wo sie ihre Bücher, Karten, Zeichnungen und Anfangs ihre Instrumente bezogen, die Jesuiten waren es welche den Geschmack des italienischen Barotismus, allerdings nur in kleinem Maße, und, in größerem, den Rocoeostyl Ludwig's XV. nach China verpflanzten. Die heute in Peking gefertigten Vasen stehen an Reinheit der Linien und an Farbenschmelz den älteren Weit nach: aber man erzeugt noch sehr schöne, und ich finde in ihnen keine jener vielen Spuren des Verfalles Welche sich in den japanischen Produkten dieser Art, namentlich in den berühmten Vasen von Nagasaki, dem Beobachter aufdrängen. Dagegen bestehen die Cloisonnes den Vergleich mit denen des letzten Jahrhunderts in keiner Weise. Die Linien sind weniger rein, häusig inkorrekt, Hiibüer, SPazieraaua III. 7 96 und der Schmelz entbehrt die in den alten Cloisonnes so hoch geschätzten zarten Abstufungen. Wir besuchten die Werkstätte eines Ceramisten. Seine Werkzeuge schienen mir so urwüchsig wie seine Methode. In einem kleinen Höfchen liefen zwei Knaben um ein Feiler, mit ihren Fächern die nöthige Hitze unterhaltend. Daneben, in einer elenden Holzhütte, verrichteten zwei oder drei Gesellen, unter der Leitung des Meisters, die übrige Arbeit und brachten sehr hübsche Dinge zu Stande. Ich gestehe übrigens, Chinoiserien lassen mich kalt. Sie sind künstlich aber nicht künstlerisch. Die wahre, die klassische Schönheit fehlt. Mit, den steigenden Verkehrsmitteln zwischen Europa und dem fernsten Osten muß sich bei uns der Geschmack an Gegenständen verlieren deren Haufttreiz doch eigentlich nur in der Schwierigkeit bestand sie sich zu verschaffen. Herr Fritsche, ein junger russischer Gelehrter, hier mit einer wissenschaftlichen Sendung seiner Negierung anwesend, hat die Güte mich nach der Sternwarte der Jesuiten zu begleiten. Sie liegt auf der östlichen Ringmauer der Tartarenstadt zwischen den Thoren Tung-pien-men und Chi ho men. Wir reiten durch ein volkreiches, aber armseliges Viertel welches die Südostecke der Stadt einnimmt. 99 Ueberall eine Fülle menschlicher Wesen! Wie hoch mag sich die Bevölkerung von Peking belaufen? In unsern Schulbüchern wurde sie, wenigstens in meiner Kindheit, offenbar übertrieben, auf drei Millionen veranschlagt. Ich stellte die Frage an Herrn Williams dessen Ansicht das größte Gewicht hat und an zwei in derlei Dingen wohlbewanderte Diplomaten. Alle drei gestanden mir ihre Unwissenheit. Die amtlichen Regierungstabellen verdienen, sagten sie mir, nur sehr bedingten Glauben. Man ist also auf Voraussetzungen und Muthmaßungen angewiesen. Herr Williams berechnet die Voltszahl auf eine Million, die beiden andern Herren auf acht- und fünfhunderttausend Seelen. Die Bevölkerung des chinesischen Reiches mit Inbegriff der Schutzstaaten wurde von dem Prinz von Kung im Gespräche mit Baron Gros auf fünfhundertfünsund-zwanzig Millionen angegeben. Herr Wade meint sie habe vor der Tae-ping-Rebellion vierhundert betragen, sei seither bedeutend, jedoch nicht,' wie von einigen Schriftstellern behauptet wird, auf die Hälfte hcrabgesunken. Wir sind am Ziele unseres Spazierrittes angelangt: ein niederer viereckiger, an die Stadtmauer gelehnter Thurm. Im Hofe bewundern wir zwei Globuse auf prachtvoll gemeißelten Gestellen von Bronze. Ein anderer Globus welcher die Himmelskörper darstellt und mehrere Quadranten stehen, gleichfalls unter freiem Himmel, auf der 100 Platform des Thurmes. Alle diese Instrumente wurden nach den Zeichnungen und unter der Leitung der Patres von chinesischen Arbeitern ausgeführt', und sind vollkommen erhalten. Mein Begleiter, der Astronom ist, erklärt sie, in wissenschaftlicher Beziehung, für Meisterstücke: in künstlerischer sind sie es nicht minder. Wir stehen auf der Stadtmalier. Nie ein gezacktes Band rollt sie sich vor uns auf, bis Zinnen und Strebepfeiler in der Ferne in einander laufen. Zu unsern Füßen gewahren wir: hier, die Stadt, ein Labyrinth von Lehmhütten mit einem Meere von Vaumwiftfeln im Hintergrunds dort, das traurige öde Flachland, in der Ferne unsichere Linien und tiefere Lufttöne, das Mongolische Grenzgebirge verhüllend und verrathend: über uns das tiefblaue Gewölbe! Allenthalben Schweigen: nur zuweilen dringen sanfte Klänge wie aus himmlischen Sphären zu uns hernieder. Es sind Taubenschwärme die, weißen Wölkchen ähnlich, hoch oben vorüberziehend ihre Aeols-harfen erklingen lassen.*) In diesem Bilde ist Alles fremdartig, phantastisch, barbarisch, nur nicht die Instrumente, *) Peking ist reich an Tauben. Man befestigt, um sie gegen Raubvögel zu schützen, ein aus sehr leichtein Aambusholz gefertigtes Pfeifchen unter ihren Flügeln. Der Ton welchen die sinnreiche Vorrichtung von sich gibt wechselt mit der Schnellig' keit des Fluges. 101 bestimmt den Himmel zu messen, verlassen auf Erden, aber verschont von Menschen wie von Elementen, sprechende Zeugen einer schon weit entschwundenen Zeit in der es möglich schien Millionen menschlicher Wesen der Gesittung zu gewinnen, nicht durch Zwang, sondern aus Ueberzeugung, bei der doppelten Leuchte der Wissenschaft und des Glaubens.^ Wenn ich in Peking umherschlendere, so gedenke ich unwillkürlich meiner ehemaligen Vorgesetzten, der diplomatischen Kanzleichefs welche mich lehrten wie man eine Depesche zu copiren und zu falten, wie man mit Maß und Takt die verschiedenen Höflichkeitsformen zu vertheilen habe, wem die „vollkommene", die „vollkommenste" oder die „ausgezeichnete Hochachtung" gebühre. Diese würdigen Männer, tapfere Ritter vom Tintenfaß und Ministerpapier, schlummern seit lange den Schlaf der Gerechten. Wie gerne würde ich sie auferwecken um ihnen Peking zu zeigen. Wie würden sie sich erfreuen an den: Anblicke einer Stadt die ganz bevölkert scheint mit Ihresgleichen! In der That, der Chinese kommt als Bureaukrat zur Welt. Erklärlich dadurch daß man nur durch die Bureaux schreitend zu den höhern Aemtern gelangen kann, und daß, unerachtet der geringen Anzahl der Mandarine, es zahllose Chinesen gibt 102 Welche sich für den Staatsdienst qualificirt haben. Man betrachte nur die Bedienten. In geselliger Beziehung sind sie den unsrigen Weit überlegen: sie kleiden sich sorgfältig, kultiviren ihre Nägel, sehen mit Einem Worte wie Gentlemen aus. Was ist eigentlich das Wesen des Bureaukratismus? Ich glaube der Kultus der Routine. Die Routine, o Bureaukraten, ist Euer Kompaß, Euer Evangelium, Euer Wohnhaus und Euer Gefängniß. Sie leitet Euch, sie erleuchtet Euch, sie hält Euch aufrecht, sie verscheucht Eure Zweifel, sie schützt Euch gegen politischen Sturm und Hagel. Regierungen stürzen, Staaten vergehen, aber die Bureaux bleiben. Ist das Unwetter vorüber gezogen, so findet man dieselben Gesichter, dieselben Toiletten, dieselben Ideen, wo es deren gab und gibt, und dieselben Gewohnheiten. Die Wohnung ist enge: da ist kein Platz vorhanden für das Genie, aber der gesunde Menschenverstand, Tüchtigkeit, Geschäftskenntniß, Ehrlichkeit und Pflichttreue finden darin Unterkunft. Für unruhige Geister, für solche Welche Genies sind oder sich dafür halten, wird dies Haus zum Gefängniß. In der Hauptstadt des Reiches der Mitte ist die Luft mit büreaukratischen Dünsten geschwängert. Auch besprachen wir das Kapitel der chinesischen Beamten mehr als einmal. Sie gelten für habsüchtig, käuflich und grausam. 103 Die ganze Organisirung des Reiches, die Vereinigung der administrativen und Gerichtsgewalt in denselben Händen, die Unabhängigkeit der Statthalter in den Provinzen welche Königreiche sein könnten, der Mangel jedweder Kontrole, die ihnen obliegende Pflicht alljährlich beträchtliche Summen in den Staatsschatz abzuführen, die unzureichenden Gehalte und daher die nothgedrungene Vrandschatzung der Bevölkerung, die Gepflogenheit des Tsungli-Namen den Statthaltern bei ihrer Rückkehr nach Peking einen Theil der Beute zu Gunsten des Staatssäckels abzunehmen, all dies und noch viele andere Umstände und Verhältnisse erklären, allerdings ohne sie zu entschuldigen, die den Mandarinen als Klasse zur Last gelegten Akte der Ungerechtigkeit und der Willkür. Glücklicher Weift bilden der in China, besonders im Süden, kräftige Familiengeist und die angestammte Befähigung sich selbst zu verwalten, so wie die Scheu vor dem Mandarin und den Nichtern, ein kräftiges und heilsames Gegengewicht. Sie beschränken die öffentliche Gewalt in ihrer Dazwischenkunft und ersetzen in weitem Um-sange das büreaukratische durch das patriarchalische Element. So entstanden Tribunale in welchen, neben dem durch Alter und gesellige Stellung hervorragendsten Manne, die einflußreichsten Familienhäupter des Klans oder der Gemeinde zu Gerichte sitzend, in allen Civilprocessen sehr 104 oft auch in Crimmalfällen, die Entscheidung geben. Mehr geduldet von der kaiserlichen Regierung denn als zu Recht bestehend betrachtet dürfen sie nicht über Tod und Leben erkennen. Aber so groß ist die Abneigung gegen den Rekurs an den Mandarin, so entsetzlich scheint in diesem Leben und im Jenseits das Loos des zur Enthauptung oder gar zur Zerstückelung Verurtheilten, so traurig das Schicksal seiner gewöhnlich mit ihm zu Grunde gerichteten Familie, daß der Verbrecher sich dem Aussftruche des Patriarchen ohne Widerrede unterwirft. „Deine That", sagt ihm dieser, „nöthigt mich dich dem Taotai zu überliefern. Dein Kopf wird unter dem Beile fallen. Willst Du dies traurige Loos vermeiden, so tritt in jenes Zimmer. Du findest dort einen Strick (oder Gift)." Und so geschieht es. Die Träger der kaiserlichen Regierungsgewalt erfreuen sich, wie man sieht, keiner volksthümlichen Beliebtheit. Zu ihrer Entschuldigung wird angeführt, sie befänden sich mehr oder »under in den Händen ihrer Untergebenen die zwar gleichfalls nicht zahlreich aber schlecht besoldet sind und Geld machen wie und wo sie können. Dennoch wird von Niemandem behauptet daß alle Staatsdiener böse Menschen seien. Häufig erwerben sie sich die Achtung und Anhänglichkeit der Bevölkerungen und erhalten von diesen, bei Ablauf ihrer Amtszeit, irgend ein Andenken, gewöhnlich einen Sonnenschirm von scharlachrothem Seidenstoff 105 auf welchem die Namen der Geber in Gold gestickt sind. Der glückliche ErWerber eines so ehrenhaften Zeugnisses versäumt nie es vor seiner Sänfte einhertragen zu lassen wenn er sich öffentlich zeigt. Eines Tages begegnete ich einem dieser großen Herren. Er saß in seinem Tragstuhl, und eine Schaar zerlumpter Kerle, seine Diener, liefen vor und hinterher. Es war der Finanzminister, ein Mandju der, als Anführer einer der acht „Fahnen", den Rang eines Feldmarschalls bekleidet. Diese chinesische Excellenz ließ sich unlängst im Gespräche mit einem fremden Gesandten folgendermaßen aus: „Die Wege des Staatsmannes sind mit Dornen besäet. So ergeht es mir in diesem Augenblicke. Der Unterbefehlshaber meiner „Fahne" beansprucht seine Besoldung vom ersten des Monats angefangen. Eine unzulässige Forderung, da er erst zwei Wochen später sein Amt antrat. Nun bin ich aber der Anführer dieser Fahne und, als solcher, genöthigt meinem Untergebenen Vorschub zu leisten. Ich richtete also eine Note an den Finanzminister, das heißt, an mich selbst. In diesem Aktenstücke sagte ich Alles was möglich ist vorzubringen zu Gunsten einer lächerlichen, abgeschmackten und gesetzwidrigen Anmaßung. Hierauf versammelte ich, in meiner Eigenschaft als Finanzminister, die Räthe meines Departements welche, im Ein- 106 klänge mit der Ansicht ihres Ministers, die Prätension des Vice-Chefs der „Fahne" mit Entrüstung zurückwiesen. Der abschlägige Bescheid wurde von mir, Finanzmimster, den bestehenden Normalien gemäß und in der üblichen Form, gutgeheißen und hierauf mittelst einer in den schonendsten Ausdrücken nnd mit den mir schuldigen Rücksichten abgefaßten Note'mir, dem Befehlshaber der „Fahne", mitgetheilt. In dieser letzteren Eigenschaft nahm ich, aufrichtig gestanden, trotz der schonenden Form, die Abweisung meines Ansinnens nicht ohne lebhaftes Bedauern entgegen. Und da mein Vice-Kommandant auf seiner Forderung besteht und ich, als sein Vorgesetzter und natürlicher Beschützer, ihm meinen Beistand nicht versagen kann, so redigire ich in diesem Augenblicke das Koncept einer ziemlich energischen Replik die, ich befürchte es, dem Finanzmimster wenig Vergnügen machen wird. Es ist ein verwickelter Fall. Wie Wird das enden?" Es gibt hier (in der Tartarenstadt) vier katholische Kirchen und eben so viele Pfarren, welche sämmtlich von den Priestern der „Korporation der Mission", Lazaristen genannt, versehen werden. Diese Kirchen sind die Kathedrale Nan-Tang, „Südkirche", auch die portugiesische ge- 107 nannt. Ein imposantes mit Verzierungen überladenes Gebäude aus dem siebenzehnten Jahrhundert im baroken Iesuitenstyle mit einem ausgesprochenen Anftuge des pemn-sularen Geschmackes. Das alte Wappenschild Portugals, die Quinas, eine Gabe der Aller-Getreuesten Könige, welches man vor noch nicht Langem über dem Haufttportale sah, hat naftoleomschen Bienen weichen müssen welche seither, ihrerseits, verschwunden sind. Peitang, „Nordkirche", liegt im Centrum der Stadt, unweit des kaiserlichen Palastes. Der schöne gothische Bau entstand erst seit dem letzten Kriege. Die beiden Thürme sind und bleiben, aus den bereits erwähnten Gründen, unvollendet. In Pei-tang befindet sich auch die Residenz des apostolischen Vikars, das Erste Haus der Lazaristen m China und das Seminarium. An dieser Stelle stand einst ein Franciskanerkloster welches während der großen Verfolgungen verschwunden ist. Die beiden anderen katholischen Kirchen heißen, nach ihrer geographischen Lage, Tung-tang und Si-tang, die Ost- und Westtirche. Die Diöcese von Peking zählt siebenundzwanzigtausend Christen von denen achttausend die Stadt bewohnen. Unter den letzteren gibt es viele wohlhabende Handwerker und Pekings sämmtliche Uhrmacher. Die Uhrmacherkunst wurde 108 von den Jesuiten nach China gebracht. Sie erhielt sich, zugleich mit dem christlichen Glauben, in den Familien und vererbt sich mit ihm von Vater auf Sohn. An einem Sonntage Morgens, bei nebligem Wetter, ließ ich mich nach Pei-tang tragen. Die sehr geräumige Kirche War, während der Messt, mit Gläubigen, sämmtlich Einheimische, beinahe gefüllt. Die Männer nahmen eine Seite des Hauptschiffes ein, die Frauen die entgegengesetzte. Im Querschiffe knieten fünf oder sechs barmherzige Schwestern inmitten einer nicht unbeträchtlichen Anzahl von Mädchen, ihren Zöglingen. Einer der Missionäre spielte während des Gottesdienstes am Harmonium, dann nahm er vor dem Altar auf einem Schemel Platz und hielt in chinesischer Sprache eine kurze Predigt. Die gläubige Menge heftete ihre Blicke auf seine Lippen. Von meinem Platze aus konnte ich die dem Altar zugekehrten Köpfe mit Muße betrachten. Ich fand in ihnen die Züge aber nicht den Ausdruck der Gesichter die man in den Straßen sieht. Zutrauen, Verehrung, Heiterkeit ersetzten den Skepticismus, die Ironie, die mürrische Gleichgültigkeit welche gewöhnlich die Grundzüge chinesischer Physionomien bilden. Fast alle Reisenden, katholische wie protestantische, welche hier zu Lande christliche Gemeinden besuchten, bestätigen den Einfluß welchen das Christenthum auf das Antlitz und die Haltung derer ausübt die es annahmen. Ich erinnere mich, 109 diese Bemerkungen in mehreren englischen Neisewerken gelesen zu haben. Monseigneur de Laplace, Bischof von Adrianopel und apostolischer Vikar in Peking, eine der Großen des modernen Apostolatcs, hatte die Güte mir die Kirche, das Haus und das Seminar zu zeigen. Das von dem Laza-nsten Herrn David geschaffene Naturalienkabinet gilt für einzig in seiner Art. Die ausgestellten Gegenstände gehören der Provinz Che-li an. Die ornithologische Kollektion wird in der gelehrten Welt besonders geschätzt. Die Vüchersammlung, großentheils aus den Resten der alten Iesuitenbibliothek gebildet, enthält einige schöne Bände und Atlasse, meist holländische Prachtausgaben, Geschenke der Kaiser. In einigen Büchern liest man die mit den großen, kühnen Zügen des siebenzehnten Jahrhunderts geschriebenen, bereits verblaßten Worte: Datum ud Impo-i-atore Kaupln. Im Seminar forderte mich der Bischof auf einige Schreibpultc auf das Gerathcwohl zu öffnen. Ein jeder Zögling hebt dort seine Bücher und Schriften auf, daneben sein Nasirmesser und kleine Leckerbissen, Alles in größter Ordnung und symmetrisch aufgestellt. In einigen sahen wir sogar kleine Heiligenbilder und einen winzigen Hausaltar. In diesem Lande versteht man sich darauf Dinge 110 und Menschen in dem möglichst kleinsten Raume unterzubringen. Im Garten erwartet mich ein Koncert. Keine Hayd-nische Symphonie wie in Sü-kia-wei, sondern nationale Musik ausgeführt mit nationalen Instrumenten. Der Ton der letzteren war nicht unangenehm. Meine Bewunderung erregte eine Art tragbarer Orgel: aneinandergereihte Pfeifen welche der Musiker senkrecht an den Mund hält. Wenn er die Schlüssel handhabt stoßen die Finger, nothgednmgcn, an die glücklicher Weise nur wenig hervorragende Nase. Unvergeßlich bleibt mir ein gewisses Tremolo. Sehr anmuthig für das Ohr, aber unbeschreiblich als ofttische Wirkung: eine Neihe von Nasenstübern welche sich der Künstler selbst ertheilt und denen er umsonst zu entkommen sucht indem er im Takte mit dem Kopfe wackelt. Ich hielt mir die Seiten, und die gutmüthigen Virtuosen theilten meine Heiterkeit. Die Zöglinge gefielen mir sehr. Sie sind offenbar, physisch und moralisch, gut versorgt; haben treuherzige Gesichter, eine bescheidene Haltung und das Gepräge der Gesundheit. Ihr Aussehen gereicht dem Seminar von Pei-tang und seinen Vorständen zur Ehre. Der „portugiesische Kirchhof" liegt, westlich von Peking, zwei Meilen vor dem Stadtthore Ping-tsu-men. Wie die Kathedrale, wie die Bibliothek, verdankt er seine Er- Ill Haltung dem Schutze des russischen Hofes, vielleicht auch abergläubischen Befürchtungen der Chinesen! Pater Favier begleitet mich dahin. Ungefähr zweihundert Gräber umschließen die Reste der Väter der Gesellschaft Jesu welche, nn Laufe zweier Jahrhunderte, in diesem Theile des Reiches wirkten und hier gestorben sind. Der erste Anblick der düstern Nekropole ist überaus ergreifend. Die Ricci, die Schall, die Verbiest, diesc großen Gestalten deren Namen, mit denen so vielen anderer Väter, in den Jahrbüchern der Wissenschaften und des Apostolates glänzen, ruhen im ältesten Theile des Camvo Santo. Vier Elemente bilden ein jedes dieser Grabmonumente: der Sarkophag; ein aus einer ungeheuren Steinplatte bestehender Tisch: fünf große Vasen, Weihrauchgefäße; endlich die senkrecht aufgestellten Gedenktafeln welche, von Drachen gekrönt und auf Schildkröten ruhend, mit dem Namen des Verstorbenen, die Jahreszahl seiner Geburt und seines Todes geben. Der Eindruck dieser Heroengräber ist großartig und feierlich. Ein kolossales Kreuz, welches den Hohenftunkt des Leichenfeldes einnimmt, sagt dem Besucher daß in diesen Mausoleen Christen der Auferstehung harren.*) *) Pater Mathias Nicci, geboren in Maccrata 1552, lam 1583 nach China und starb zu Peking 1610. Er erwarb die Gunst des Kaiscrs und schrieb geschätzte Werke über Moral- 112 (23. Oktober.) Heute Morgen Abreise nach der großen Mauer. In Peking werden, wie bereits erwähnt, Philosophie und Geometrie. Pater Johann Adam Schall, geboren in Köln 1591, kam 1wm; obgleich auf Befehl Kien-lung's "*) restaurirt, heute ein Bild der äußersten Vernachlässigung. In der weiten Halle bewundern wir die hohen Baumstämme die, wie man sagt das Geschenk eines Königs von Siam, als Säulen*'") dienend das Dach tragen. Dann wird der in einem ab- *) Die Fürsten dieser Dynastie regierten von 1366 bis 1644. *") (5r regierte von 1736 bis 1796. ***) Die Säulen in der Mitte der Hatte sind sechBzig Fuß hoch. Ihr Umfang mißt beinahe zwölf Fuß. 117 gerundeten Bau stehende Sarkophag besichtigt. Vom Dache eine wundervolle Aussicht. Zu unseren Füßen dehnt sich die durch Gießbäche zerrissene Mene aus. Im Osten, in der kurzen Entfernung von kaum zwei Meilen, erheben sich, mit Büschen bedeckt, die ersten. Strebepfeiler der Mongolischen Hochebene. Einen weiten Halbkreis beschreibend sinken die Berge im Westen unter den Gesichtstreis. In den Felsschluchten herrscht Dämmerung: die Gipfel erglänzen im hellsten Lichte. In 'der Nähe sind die Farben braun mit rothen Tönen, weiterhin dunkelblau, in der Ferne fließen die lichten und zarten Tinten von Luft und Gebirge ineinander. Die nördliche Vegetation, sie zeigt sich übrigens spärlich genug, steht im Widerspruch mit dem reichen Kolorit des Südens. Dazu das prachtvollste Netter. Kein Luftzug. Tiefes Schweigen herrscht über der großen Ne-kropole. Ein dreistündiger Marsch bringt uns nach Nan-kow. Während wir einen Abhang mühselig hinabsteigen gewahren wir die kleine Stadt mit ihren verfallenen Ringmauern und einigen Vaumgruppen fast am Eingänge des Engpasses der nach der Mongolei führt. Wir suchen und finden Unterkunft, man kann sich vorstellen welche, in einer der zahlreichen Herbergen in denen die zwischen China und dem Norden reisenden Kameltreiber absteigen. 118 Hier erfahren wir daß die Straße durch die Ueber-schwemmung ganz zerstört wurde. Bleibt also als einziges Beförderungsmittel nach der ^chinesischen Mauer der kleine Tragsessel. Was übrigens die sogenannte Heerstraße anbelangt, so ist sie zu keiner Zeit fahrbar. Die Karren müssen immer, ihrer Räder entledigt, auf Kamele geladen und von diesen durch den Engpaß getragen werden. (25. Oktober.) Unsere Leute und Pferde machen Rasttag in Nan-kow; wir selbst brechen, trotz der Dunkelheit, um fünf Uhr Morgens auf und zwar in den erwähnten Tragstühlen. Ein elender Brettsitz ohne Lehne ruht auf zwei langen Bambusstäben. Die Enden dieser letzteren sind durch Stricke verbunden an welchen je ein kleiner Bambusstab, zwischen den größeren und zwar in der Längeuachse, befestigt ist. Diese kleinern Stäbe ruhen auf den Schultern der Träger, deren zwei vor und zwei hinter dem Stuhle gehen. Die Unserigen sind mit Laternen versehen und laufen so rasch sie können. Der Weg ist ein Gebirgsstrom dessen schlammige, schäumende Wasser über Felsblöcke dahinrauschen. Dieser Fluß, eigentlich ein gewaltiger Gieftbach, muß wegen der Beschaffenheit der Ufer unzählige Male durchwatet werden. Wo er 119 zu tief ist, springen die Träger von Stein zu Stein. Man versetze sich im Gedanken in die Lage des Getragenen. Um an den schwierigen Stellen das Gleichgewicht zu bewahren, strecken die Kuli nach Art der Seiltänzer ihre Arme horizontal aus. Zuweilen strauchelt der eine oder der andere, oder er gleitet aus; aber nur einmal, als ich mich eben über der Hauptströmung befand, fiel einer der Burschen. Die drei anderen bewahrten glücklicher Weise festen Fuß und zogen den durchnäßten Kameraden aus dem Wasser; ich kam mit dem Schrecken davon. Es sind brave Jungen. Ich habe sie früher nie gesehen, ich werde sie nie wieder sehen, aber mein Vertrauen in sie ist unbedingt. Weite Reisen machen uns eben zu Fatalisten; wer kein Fatalist, reise nicht um die Welt, verzichte auf die Ehre ein ttiodu tl-ottov, wie die Vankee es nennen, ein Welttraber zu werden. Die Luft ist lau und mit den herben berauschenden Düften geschwängert welche mich an die wilden Wohlgerüche der Pyrenäen und der Sierra Morena erinnern. Nir find auf der großen Heerstraße nach der Mongolei. Auf diesem Wege drang Djingis Khan in China ein. Seine Schaaren konnten nicht anders aussehen als die Kamel« treiber welchen wir begegnen. Kurzer Halt beim Fort Tsu-Yungquan. Auf einem ber Thore zeigt man uns eine unlesbare Inschrift. Das 120 Volk drängt sich um uns, darunter mehrere Galeerensklaven. In China macht die Verurtheilung nicht ehrlos: Sträflinge können sogar auf die Sympathie ihrer Mitbürger zählen. Diese armen Teufel tragen einen schweren eisernen Ning um den Hals und einen ähnlichen am Fuße. Beide Ringe verbindet eine Gisenstange welche der Sträfling wie ein Sftazierrohr in der Hand hält. Die Gefangenen scheinen übrigens an die traurige Toilette gewöhnt, schlendern mit freundlichen Gesichtern umher, schwätzen und lachen mit den Honoratioren. Am ganzen Wege und, je mehr wir vordringen in um so höherem Maße, begegnen wir unabsehbaren Zügen riesiger zweihöckeriger Kamele. Sie kommen von Kiachta. Andere gehen dahin. Mein liebenswürdiger Cicerone in Tung-chow, Herr Starzoss, schickt gegenwärtig fünfzehntausend Kamele mit sechszigtausend Kisten Thee beladen durch die Mongolische Wüste nach der sibirischen Grenzstadt. Der Paß verengt sich mehr und mehr: an einer Stelle die Vugui-tow heißt, kann er kaum vierzig Fuß breit sein. Hier hängt ein kleiner Tempel an einer fast senkrechten Felswand: gegenüber ist ein kleiner rother Pavillon in ähnlicher Weise an dem Bergabfalle befestigt. Eine eigenthümliche wildschöne Gegend. Der letzte Theil des Weges scheint mir der beschwerlichste. Aber unsere Kuli sind unermüdlich. In weniger 131 als fünf Stunden haben sie dreizehn Meilen zurückgelegt: um zehn Uhr setzen sie uns am Fuße der chinesischen Mauer ab, an der ultimo ^lmlo meines Spazierganges. Auf einer der Zinnen sitzend, mit einem Fuße in China, dem andern in der Mongolei, betrachte ich mir mit Muße das große fabelhafte Weltwunder, die chinesische Mauer. Im Nord-Osten steigt sie steil hinan und folgt dann dem Grate des Gebirges. Alle Höhenpunkte sind mit Thürmen gekrönt. Die Mauer klettert die steilsten Felsen im Zikzak hinan, verschwindet hinter anderen, kommt weiterhin wieder zum Vorschein. Die Abstufung des Lichtes, der Schatten und der Farben gibt einen Begriff von der Ausdehnung des Riesenbaues, so weit er von meinem Standpunkte aus sichtbar ist. Gegen Süd-Ost versenkt sich der Blick in das enge Thal durch welches wir gekommen sind. Von beiden Seiten stürzen die Felsen in die Tiefe. Ein Chaos von Zinken bon, je nach der Entfernung, dunkelbraunen, grauen, violetten, lichtblauen Blöcken. Im Süd-West beginnt der Berg in unserer unmittelbaren Nähe. Die Mauer schlangelt sich hinauf, biegt dann im rechten Winkel ein und erreicht so den (scheinbaren) Gipfel der die Umrisse eines zweihöckerigen Kameles zeigt. 122 Im Nord-West erweitert sich der Engpaß zu einer kleinen Ebene. Die jenseitigen Berge bilden die zweite und wie man mir sagt, höchste Staffel des mongolischen Hochplateaus. Die Luft ist dicht: kaum daß wir die Umrisse ausnehmen. Mehrere Karavanen ziehen durch die Ebene und nähern sich dem Engpässe. Ungeachtet der Entfernung hören Wir das Geschrei der Kameltreiber. In diesem Bilde ist Alles groß, düster, wild. Die Abwesenheit der Sonne vermehrt den Eindruck der Verlassenheit. Es ist eben ein Stück Central-Asien! Vor Einbruch der Nacht find wir in Nan low zurück. Noch am selben Abende machen wir eine Etafte in der Richtung von Peking.*) (26. Oktober.) Die Nacht wurde in Mnfan, in einer, verhältniftmäßig, guten Herberge zugebracht. Um fünf Uhr brechen wir auf. Den ganzen Morgen über verhüllt *j Bekanntlich gibt es zwei Mauern: die innere und die äußere, aber weder die chinesischen Gelehrten noch europäische Schriftsteller lösten bisher, in befriedigender Weise, die in Peking stets erörterte Streitfrage über das relative Alter dieser Alauern. Die Gesammtlänge derselben beträgt ungefähr fünfhundert Meilen. Die von mir besuchte Mauer ist auf der der Mongolei zugewandten Seite mit Zinnen versehen. Die Höhe wechselt von dreißig zu zweiunddreißig, den Abgründen entlang Von zehn zu zwölf Fuß. Die Granitblöcke lieferte das Gebirge. 123 dichter Nebel die Gegend. Seine Schleier heben sich aber Plötzlich um die Mitte des Tages. Die Sonne erwärmt unsere starren Glieder und übergießt das Land mit sanften Lichtern. Wir gewahren langgedehnte Ringmauern, stattliche Gebäude, Pavillone und Kioske, bewaldete Hügel die sich in einem großen Teiche spiegeln und, hinter ihnen, den lichten Vorhang der Mongolischen Verge. Damit dem reizenden Bilde die Lokalfarbe nicht fehle steigen in der Ferne die schlanken Thürme zweier Pagoden in den Herbst-Himmel empor. Wir befinden uns an einem der Eingänge des kaiserlichen Sommcrftalastes; bei Men-ming-Yucn „dem prachtvollen und kreisrunden Garten". Da dieser Theil unzugänglich ist so ziehen wir nach Wanshow-shan weiter. Unterwegs biegt die Karavane plötzlich und eilends in cin Sackgäftchen ein, die Straße einem Trupp von etwa dreihundert Reitern überlassend. Es sind kriegerisch aussehende Leute. Einige haben Feuergewehre, die Mehrzahl ist mit Köcher und Bogen bewaffnet. Sie gehören zu einer der Wandjurischen „Fahnen" und zeichnen sich durch ihre entschieden retrograde Gesinnung aus. Der Anblick von Europäern greift ihre Nerven an. Europäer thun daher wohl chnen aus dem Wege zu gehen. Nach einer kurzen und erfolgreichen Verhandlung Lmzi's mit den Thorwächtern, dringen wir in den Hof 124 ein und gelangen zwischen Trümmerhaufen von Statuen und umgestürzten Säulenschäften in den Park. Von einer künstlichen Anhöhe, wenn man künstlich nennen kann was aus zertrümmerten Kunstwerken besteht, betrachten wir die noch imposanten Ueberbleibsel des Palastes. Der Genius einer barbarischen Nation*) schuf dies Monument: die Armeen zweier civilisirten Nationen verwandelten es in einen Trümmerhaufen. Was noch erhalten ist trägt das Gepräge des französischen Nococogeschmackes. Man fühlt daß man sich „bei Hofe" befindet und denkt unwillkürlich an Versailles, Schönbrunn und Potsdam. Nicht als ob eine materielle Aehnlichkeit mit jenen fürstlichen Kunstschlössern bestände; aber die innere Verwandtschaft ist auffällig. Das Frühstück wird im Garten aufgetragen, und unser chinesischer Vatel hat sich heute selbst übertroffen. Wenn es wahr ist daß in Europa, selbst auf Frankreichs klassischem Boden, die edle Kochkunst in Verfall geräth, und gute Chefs mit jedem Jahre seltener werden, so sollte man sie aus diesem Lande beziehen. Der Chinese ist *) Der Erbauer ist Kaiser Kien-lung (1730 — 1790). Der Palast empfing I860 so zahlreiche Besuche, es wurden von ihnen so viele Erinnerungen nach Europa mitgenommen, und er selbst ward so oft geschildert daß ich mich enthalte die Anzahl der Beschreiber zu vermehren. 125 Von Hause aus ruhig und besonnen: er verliert selten den Kopf und besitzt im hohen Grade die wichtigste Eigenschaft des Kochs, einen feinen Gaumen. Nährend wir uns dem Genusse des durch kräftigen Appetit gewürzten Mahles hingeben, erscheint ein Nächter mit zornglühendem Antlitz und einer Fluth von Worten die ich nicht verstehe, die aber offenbar für die Fremdlinge wenig schmeichelhaft sind. Unser Tisch wurde unter einem Thore aufgeschlagen. Das verdrießt ihn weil dadurch die Geister in der Freiheit ihrer Bewegungen behindert werden. Denn Geister, so wie er selbst, lieben die „fremden Teufel" nur wenig. Während geraumer Zeit bemerkte unser kaltblütiger Lenzi den Mann nicht. Aber der Bursche schrie nur um so lauter. „Gehe", sagte ihm Lenzi mit gnädigem Lächeln, „gehe, suche das Weite, der Geruch Deiner Pfeife ist nicht angenehm. — Euer Fleisch verpestet die Luft. — Gerade deshalb, meine ich, solltest Du gehen. — Das ist wahr", sagte der Mann, und er ging. Dies ist, wie man mich versichert, die wahre Art die Chinesen zu behandeln. Man muß höflich mit ihnen sein, ruhig und vor Allem logisch. Wir durchschreiten rasch die Stadt und sehen nur finstere Gesichter. Dies begreift sich. Einst waren die Einwohner in Folge der periodischen Anwesenheit des Hofes Wohlhabende Leute. Seit der Zerstörung des Palastes durch die fremden Teufel sind sie Bettler geworden. 126 Unser kurzer Aufenthalt in der Hauptstadt geht zu Ende. Das Netter war fortwährend prachtvoll. Heute Nacht erweckte mich das Geheul des Windes. Die Luft hat sich wieder beruhigt, aber sie ist bedeutend abgekühlt. Bei Sonnenaufgang sank der Thermometer auf Null. Der Winter beginnt und wird bis Ende März anHallen. Während dieser langen Zeit ist, geringen Schnecfall gegen Ende November und im März abgerechnet, der Himmel fortwährend wolkenlos; die Sonne scheint, aber sie erwärmt nicht: bei Nordostwind sinkt der Thermometer bisweilen, aber höchstens für einige Tage, bis auf — 15)" 15. Dann hüllt sich Peking in dichte Staubwolken. Umsonst verklebt man Thüren und Fenster. Ueberall dringt der feine Sand ein. Während des ganzen Winters ist an Sftazier-gänge oder Nitte nicht zu denken. Der Frühling ist kurz und unangenehm: der Sommer, wegen der Hitze und des Kothes, beschwerlich. Von Juni bis September folgen sich Regengüsse mit kurzen Unterbrechungen: die Gassen der Stadt verwandeln sich dann in Gießbäche und werden beinahe unwegsam. Jetzt begreife ich erst, wie Prophet Jonas drei Jahre brauchte mn die Stadt Nimveh zu durchreisen. Während dieser Jahreszeit flüchtet das diplomatische Korps nach den Hügeln unweit des Sommerpalastes oder nach Che-fu. Oktober ist der schöne Monat. Er bildet den Herbst und um diese Zeit ist, wie ich selbst 127 erlebte, der Himmel von unbeschreiblicher Schönheit, die Luft lau und doch elastisch. Jedermann ist oder glaubt sich gesund Das Klima soll übrigens besser sein als sein Ruf; es gibt hier keine fterniciösen Fieber und wenig Epidemien, die Pocken ausgenommen welche, in China wie in Japan, alljährlich zahllose Opfer fordern. Als Aufenthalt ist Peking, vom Oktober abgesehen, einfach eine Hölle. Keine Zerstreuung, keine Unterhaltung kein geselliger Verkehr außer in dem engen Kreise des diplomatischen Korps. Die Lazanstm und die wenigen hier lebenden protestantischen Missionäre erscheinen selten oder nie in den Salons der Gesandtschaften. Andere europäische Residenten gibt es nicht. Fremden Kaufleuten ist bekanntlich die Uebung ihres Berufes untersagt. Dennoch hörte lch wenig Klagen. Die jungen Diplomaten verspüren allerdings in der ersten Zeit nach ihrcr Ankunft Anfälle bon Heimweh: aber bald gewöhnen sie sich an die klösterliche Abgeschiedenheit, an das patriarchalische Familienleben, an den intimen Verkehr unter sich und mit ihrcn Vorgesetzten. Frauen fehlen. Man besaß deren sieben: gegenwärtig ist die Zahl auf vier geschmolzen. Die Gattinnen und Töchter der Missionäre erscheinen nicht und zählen daher nicht als Elemente der Gesellschaft. Uebrigens herrscht die größte Eintracht in dieser vornehmen und in jeder Beziehung ehrbaren Kolonie. 128 Die Gesandtschaften Rußlands, Englands und Frank reichs nehmen weitläufige Grundstücke ein. Eine starke Mauer umfängt verschiedene Gebäude, das Haus des Gesandten, die Bungalows der Sekretaire, die Räumlichkeiten für die Dienerschaft, die Stallungen und Gärten. Die russische Gesandtschaft, zum Theil erneuert und vervollständigt unter der persönlichen Leitung des Generals Vlangali, zeichnet sich durch elegante Einfachheit aus. Die verschiedenen Häuser liegen in einem Garten. Die Kapelle ist der älteste Iesuitenbau in Peking; nebenan dehnt sich ein weiter Hof aus. Dort wohnte ich dem Aufbruche der Kosaken bei welche die „schweren" Postfelleisen durch die Wüste Gobi nach Kiachta zu bringen hatten. Die Reise währt in der Regel einen Monat. Die Kabinets-kouriere legen den Weg, dreizehnhundert englische Meilen, in vierzehn Tagen zurück. Die Mitglieder der Gesandtschaft ziehen diese Straße in der guten Jahreszeit (April und Mai) dem weiten Seewege vor (durch das Gelbe, das Indische und das Rothe Meer). Man reist in einem vonz wei Kamelen gezogenen chinesischen Karren der auch als Nachtlager dient und versieht sich mit Lebensmitteln für dreißig Tage, die gewöhnliche Dauer der Reise. In Kiachta findet man immer Wagen zu kaufen und dort, wie in ganz Sibirien, eine gut organisirte Fahrvost, erträgliche Wirthshäuser, mit einem Wort die Civilisation. 129 Auf diesem Wegc erreicht man ohne Anstrengung St. Petersburg m zwei Monaten. Einen interessanten Mann darf ich nicht mit Stillschweigen übergehen. Bekanntlich hat die chinesische Regierung die Leitung ihrer Zollämter in den offenen Häfen Ausländern anvertraut. Es war das einzige Mittel dem Betrug ein Ende zu machen der von den chinesischen Zollbeamten, im EinVerständniß mit europäischen und amerikanischen Kaufleuten, m großartigstem Maße verübt wurde. Der Vorgesetzte dieser Zollbehörden ist ein Engländer, Herr Hart. Er führt den Titel eines General-Inspektors der kaiserlichen Zollämter. Seine Untergebenen, Engländer, Franzosen, Amerikaner, werden auf seinen Vorschlag ernannt. Herr Hart, ein noch junger Mann, gilt für sehr begabt. Man rühmt seine Einsicht, Mäßigkeit und Energie. Er gehörte früher dem brittischen Konsularstabe an und ist nun in chinesische Dienste getreten. Sein Vorgänger, der erste General-Inspektor, war ein Herr Lang: aber Hart hat die gegenwärtige Ginrichtung der Zollämter geschaffen. Er selbst bezieht einen ungeheuren Gehalt und zahlt seinen Untergebenen einen Sold der weit höher ist als die gewöhnlichen diplomatischen und Konsulargehalte. Als Folge hievon hat er mehrere der vorzüglichsten Beamten, die letzteren Dienstzweigen angehörten, an sich gezogen. Das Hilb«er, Spazwgang III. 9 130 Bestehen dieser Anstalt ist eine der europäischen Ehrenhaftigkeit gezollte Huldigung: es ehrt aber auch die chinesische Negierung welche sich in diesem Falle (»veil sie einsieht daß es ihr Vortheil ist) über die den Europäern feindlichen Vorurtheile zu erheben wußte. Herr Hart und seine Beamten finden Gelegenheit das Land kennen zu lernen, sich nützliche Verbindungen zu schaffen und hiedurch, im gegebenen Falle, Europa und China vielleicht gute Dienste zu leisten. Sind die in Peking lebenden Europäer, unter gewissen Umständen, Gefahren ausgesetzt? Hierauf erwiderte man mir verneinend. Doch wird zugegeben daß sie in zwei Fällen in eine äußerst bedenkliche Lage gerathen könnten: wenn nämlich eine Rebellion gegen die Dynastie in oder bei Peking ausbräche, oder wenn ein Krieg mit europäischen Mächten bevorstände oder von der Regierung für unvermeidlich gehalten würde. Dann wäre es wahrscheinlich daß der jetzt zurückgehaltene Haß gegen die Fremden losbreche; dann wäre es möglich daß es den Behörden an den Mitteln, vielleicht auch am Willen fehlte die Fremden zu schützen. „Wenn man uns nicht niedermacht", sagte mir Jemand auf dessen Nrtheil ich besonderen 131 Werth lege, „wird man uns als Geißeln behalten. Ein zweites Abyssinien!" Ncbrigens wird gehofft daß sich die Dynastie noch einige Zeit halten werde. „Die moralische Grundlage dieser Gesellschaft", ho'rte ich sagen, ist eine fatalistische Unterwerfung unter den Willen des Souverains, so lange er thatsächlich, das heißt durch den Willen des Himmels, im Besitz des Thrones ist. Zu dieser Unterthanstreue, die mit der Rechtsfrage nichts gemein hat, trttt die angestammte Ehrfurcht vor den Eltern und Greisen. Veides erzeugt eine gewisse Stabilität oder vielmehr eine starre Unbeweglichkeit." Mit ähnlichen Beweisgründen sucht man sich und insbesondere die Damen zu beruhigen. Letztere sind seit dem vorjährigen Blutbade in Tien-tsin ängstlich geworden. Eines Abends bei Tische sagte mir meine liebenswürdige Nachbarin, die ich nicht verrathen werdc, mit Einem Male: «Glauben Sie, daß wir getödtet werden?" Dies Wort bezeichnet die Lage. Die Männer denken an keine Gefahr. Für sie besteht sie nicht. Es sind starke Seelen. An ihrem Muthe Zweifeln hieße sie verunglimpfen. In Japan wie in China ist Jedermann überzeugt, Diplomaten, Konsuln, Missionäre, Kaufleute, daß nichts Schlimmes zu besorgen sei. Man benkt an die Gefahr erst wenn man dem Tode gegenüber 9* 133 steht, wie unheilbare Kranke ihres Uebels nur gedenken während sie leiden. Haben die Regierungen recht gethan ihre Gesandtschaften in Peking anzusiedeln? Vor Allem tritt uns da die Audienzfrage entgegen.*) Wer dem Kaiser naht muß Kow-tow machen, das heißt mit dem Antlitz den Boden berühren. Hieran scheiterten die in früherer Zeit nach China gesandten Botschafter. Sie wollten sich die Demüthigung nicht gefallen lassen und gingen unverrichteter Dinge nach der Heimach zurück. Die jetzigen Gesandten haben den Kaiser bisher nicht gesehen. Vom europäischen Standpunkte aus ist dies ein auf die Länge unhaltbares Verhältniß. Der Chinese findet es in der Ordnung. Er selbst würde den härtesten Strafen verfallen, wenn er es wagte, bei den seltenen Gelegenheiten wo der Kaiser auf dem Wege nach irgend einem Tempel in den Straßen erscheint, den Blick zu dem geheiligten Wesen zu erheben oder sich auch nur am Fenster seiner Wohnung zu zeigen. Wenn die Gesandten hierüber mit dem Prinzen von Kung sprechen, erwidert er: „Die *) Sie wurde nach erfolgt« Grosijährigkeit des Kaisers gelöst. Er empfing die Gesandtschaften (1873). 133 Etiquette macht bei uns einen Theil der religiösen Riten aus. Wir besitzen nicht die Macht sie abzuändern. Der Kaiser'allein vermag dies zu thun. Wartet seine Großjährigkeit ab." Von den chinesischen Staatsmännern wird die Zulassung der Gesandten als eine furchtbare Demüthigung betrachtet, als ein nationales Unglück, weil sie dem Volke klar machen würde daß der „Sohn des Himmels" weder der einzige noch der mächtigste Herrscher der Welt ist. Aus diesem Grunde lassen die Gesandten Englands und Nußlands die Frage auf sich beruhen. Sie haben kein Interesse den Sturz der Dynastie zu beschleunigen. Am thätigsten zeigt sich die französische Diplomatie: sie Wird, falls sie die Audienzen durchsetzt, das Verdienst des Erfolges haben und, mit dem Verdienste, auch die Verantwortlichkeit des möglichen Rückschlags. Noch andere Gründe sprechen gegen die Residenz der Gesandten in Peking. Die europäischen Handelsinteressen in China sind sehr ausgedehnt. Mit England allein beziffert sich der Jahres' verkehr auf die fabelhafte Summe von zweiundvierzig Millionen Pfund Sterling! Der gesammte Handel findet statt, nicht in der den fremden Kaufleuten verschlossenen Hauptstadt, sondern in den „offenen Häfen" und besonders w Shanghai. Shanghai wäre also die natürliche Rcsi- 134 denz der Legationen. In Peking sind sie, während sechs Monaten des Jahres, vom Eise blokirt, von der übrigen Welt abgeschieden, auf die russischen Kuriere die über Sibirien gehen, auf die unsichern Sendboten des chinesischen Zollamtes in Chin-Kieng am Jang-tsekiang angewiesen. Letztere brauchen, wenn sie unter Weges nicht beraubt oder ermordet werden, fünfzehn Tage um Shanghai zu erreichen. Dagegen aber wird vorgebracht daß die Residenz in Peking den Gesandten den beständigen Verkehr mit den Centralbehörden ermögliche und sie den Einflüssen der europäischen Faktoreien entziehe. Beides seien bedeutende Vortheile. Der Verkehr mit den chinesischen Ministern beschränkt sich auf seltene Besuche im Tsungli yamen (denn weder Prinz Kung noch die anderen Minister haben je einen fremden Gesandten in ihrer Privatwohnung empfangen). Aber man sieht, man bespricht sich; man vermag hiedurch zuweilen Schwierigkeiten gleich bei ihrem Entstehen zu beseitigen. Sonst würden sie zu ernsten Verlegenheiten oder Gefahren heranwachsen. Insofern gewährt die Anwesenheit der Gesandten einen wesentlichen Nutzen. Hiezu tritt daß die Legationen in Peking dem nicht immer heilsamen Einflüsse der Luft entgehen welche in den Treaty-Ports weht. Die Residenten sind Kaufleute und, 135 als solche, vor Allem auf ihren Gewinn bedacht-, Niemand wird ihnen dies verargen. Aber es hat sich dort eine gefährliche Tendenz entwickelt: man verwechselt die Handelsinteressen des Einzelnen mit den politischen der Gesammtheit. Das geringste Hinderniß welchem ein Kaufmann bei ngend einer Spekulation begegnet deutet er als einen Vertragsbruch. Sofort wendet er sich an seinen Gesandten, macht ihn für Verlust oder entgangenen Gewinn verantwortlich. Handelsunternehmungen werden zum Range von Staatsgeschäften erhoben, und in den Augen dieser Herren haben die Gesandtschaften nur Eine Aufgabe: sie gegen die schlimmen Folgen ihrer oft mehr als gewagten Unternehmungen zu schützen. An Ort und Stelle und unter dem fortwährenden Drucke solcher Anforderungen lebend — und die welche sie stellen sind meist reiche, intelligente, thätige, in der Heimath angesehene und einflußreiche Männer, welche sich zu ihren Zwecken auch der Presse zu bedienen wissen — in dieser Atmosphäre lebend, würden, fragt man, die diplomatischen Vertreter und ihre Untergebenen die Unbefangenheit des Urtheils bewahren können, ohne welche es unmöglich ist die großen und bleibenden Interessen ihrer Nationen mit Nachdruck und Erfolg zu vertreten? 136 (26. Oktober.) Heute Morgens Besuch bei dem Prinzen von Kung, einem Bruder des Kaisers Hien-fung, und mithin Onkel des gegenwärtigen Kaisers Tung-chi. Kung ist Dekan des großen Rathes und derzeit der wichtigste Mann in China. Man kennt seinen Antheil an den Ereignissen, zu welchen die Thronbesteigung seines Neffen Anlaß gab. Der Hof hatte sich bei Annäherung der anglo-französischen Armeen nach Ie-Ho geflüchtet. Dort starb Hieng fung.*) Seine zehnjährige Regierung war reich an Heimsuchungen, Unglück und Leiden aller Art, als da waren: die Rebellion der Taeving, der anglo-französische Krieg, die ungeheure Verarmung des Reiches, die Schwächung der Regierungsgewalt, das Sinken der Dynastie. Da sein Sohn erst sieben Jahr alt war, setzte der Kaiser in seinen letzten Augenblicken eine aus acht Mitgliedern bestehende Regentschaft ein. Nnter den von ihm ernannten Gliedern derselben, sämmtlich entschiedenen Feinden der Fremden, waren die bedeutendsten Prinz von I, ein naher Verwandter des Kaisers: der Prinz von Ching und dessen jüngerer Bruder Shu-shuen. Wenige Tage darauf verständigte der Prinz von Kung, in Abwesenheit des Hofes, die fremden Gesandten von dem nunmehr erfolgten Ableben Seiner ") Am 22. August 1861. 137 Majestät. In seinem Rundschreiben liest man die Worte: „Die geheiligte Person ist, auf einem Drachen sitzend, gegen Himmel gefahren." Erst im Herbst*) kehrte der junge Kaiser nach seiner Hauptstadt zurück. Dieser wichtige Schritt war lange verzögert worden. Endlich, auf den dringen-ben Rath des Prinzen Kung, gaben die beiden Kaiserinnen lhre Znstimmung. Zwei Tage vor der Ankunft des Sou-verains zog ihm der Prinz mit einigen Truppen entgegen. Als die Negentschaftsrathe Miene machten ihm den Zutritt zu verweigern drohte er mit Gewalt. Dies wirkte. Er sah den Kaiser und, was wichtiger war, die beiden Kaiserinnen: die Wittwe Hienfung's und seine Konkubine. Letztere hatte, als Mutter des neuen Kaisers, von dem verstorbenen Monarchen den Titel einer Kaiserin zn erwirken gewußt. Kaum in Peking angelangt, versammelte Prinz Kung den Negentschaftsrath und verlas ein Dekret des neuen Herrschers. Es enthielt die Auflösung des Rathes, die Absetzung seiner Mitglieder die zugleich ihrer Aemter, Ehren und Würden entkleidet wurden; endlich die Ernennung der verwittweten Kaiserin zur Regentin. Ein Staatsstreich der, wahrscheinlich auf einer früheren Reise des Prinzen nach Je-ho vorbereitet, die Mitglieder des Re- Am 1. November 1861. 138 gentschaftsrathes völlig unvorbereitet traf und mit gerechtfertigtem Schrecken erfüllte. Nur die Prinzen, I und Ching, und Shu-shu-en versuchten Widerstand. Statt sich, Wie die Anderen, in ihr LooZ Zu ergeben, drangen sie unter Geschrei in den Palast. Dies besiegelte ihren Untergang. Der Fall wurde den Censoren und den neun hohen Höfen vorgelegt mit der Aufforderung ihre Gutachten abzugeben. Die Denkschriften welche diese Behörden über die Frage einreichten find zum Theile in englischen Blättern veröffentlicht worden. In dieser Krisis, wo sein Leben am Spiele stand, bewährte Prinz Kung die in ähnlichen Lagen nöthigen Eigenschaften: Geistesgegenwart. Kaltblütigkeit, Muth. Die Prinzen I und Ching wurden in Peking, Shu-shu-en in geringer Entfernung von der Stadt verhaftet. Letzterer reiste in Gesellschaft seiner Frauen (was in seinem Proceß als ein Verstoß gegen die tiefe Hoftrauer einen Anklagegrund bildete); überdies führte er einige Truppen mit sich. Ein jüngerer Bruder des Prinzen Kung, der den gefährlichen Auftrag der Festnehmung auszuführen hatte, überraschte sein Opfer bei Nacht und brachte den Gefangenen sofort nach Peking. Die drei Räthe wurden angeklagt die Urkunde durch welche der sterbende Monarch den Rcgentschaftsrath einsetzte geschmiedet zu haben. Ist diese Beschuldigung be- 139 gründet? Man versichert mich, die Thatsache sei nie erwiesen worden, aber mehr als wahrscheinlich. Mit solcher Eilfertigkeit wurde der Proceß geführt daß bereits am sechsten Tage nach dem Einzüge des Kaisers das Urtheil erfolgte. Die Prinzen I nnd Ching sollten den „stufenweisen" Tod erleiden, das heißt von unten nach oben in Stücke gehackt werden, wurden aber zum Selbstmord begnadigt, in der That im Gefängnisse erdrosselt. Shu shu-en, den die Kaiserin Mutter wegen einer ihr früher angethanen Schmach persönlich haßte, erduldete die Behandlung emes gemeinen Verbrechers. Er wurde am öffentlichen Nichtvlatze enthauptet. Dieser große Herr ging dem Tode wit Kaltblütigkeit entgegen, rächte sich noch auf dem letzten Gange durch einige scharfe Witze und starb muthig. Das Pekinger Publikum gleicht dem Publikum anderer Städte. Es liebt den Erfolg. Prinz Kung verdankt diesen Vorgängen seine ihm bis heute gebliebene Popularität und den Nuf des einzigen Mannes der im Stande sei China zu regieren. Man wußte ihm auch Dank die Kaiserinnen zur Rückkehr des Hofes nach Peking bestimmt zu haben. Dennoch war seine Aufgabe nicht immer eine leichte. Die Kaiserin Wittwe, welche stets kinderlos war, ist eine sanfte, gutmüthige, etwas indolente Dame. Dagegen gilt die Mutter des Kaisers für ehrgeizig, unruhig und räch- 140 süchtig. Sie begann damit einen Antheil an der Regierungsgewalt zu verlangen, was sie auch erreichte. Der Geschäftsgang ist folgender: Die Vorträge der Obersten Vorstände der verschiedenen Dikasterien und Räthe werden an den Ministcrrath, das Tsungli - yamen, gerichtet und sodann, vom Prinzen Kung begutachtet, an die Kaiserinnen geleitet, welche seine Vorschläge mit dem kaiserlichen Siegel versehen oder ihnen dieses verweigern. Die Beziehungen des Prinzen zur Kaiserin Mutter, einer Gönnerin seiner Feinde, waren nicht immer befriedigend. Es gab Augenblicke wo seine Stellung erschüttert schien. Einmal hielt man ihn für verloren. Ein in der Pekinger Hofzeitung veröffentlichtes Dekret entsetzte ihn aller seiner Würden. Die Kunde verbreitete sich mit Blitzesschnelle und erregte allenthalben die äußerste Bestürzung. Hohe Beamte brachen vor ihren Untergebenen in Thränen aus. Das Reich hielt man für verloren. Da bekamen die Kaiserinnen Angst: das Dekret wurde im Namen des Kaisers zurückgenommen, und Prinz Kung in seine Aemter wieder eingesetzt. Mit lebhafter Neugierde begab ich mich heute Morgens, von Herrn von Calice und Herrn Bismark begleitet, zu dieser merkwürdigen Persönlichkeit. Rasch wurden wir durch den östlichen Theil der Stadt getragen. Vor dem Tsungli - yamen, einem unansehnlichen Gebäude, fan- 141 ben wir ein Häuflein Neugieriger versammelt. Wir waren kaum aus unseren Sänften gestiegen als uns drei Minister begrüßten: Wen-siang, Mitglied des Nathes, einer der zwei assistirenden General-Staats-Sekretäre; Tsung-Hsün, der berühmte Dichter, betraut mit der auswärtigen Korrespondenz und, als solcher, Verfasser aller diplomatischen Staatsschriften, endlich ein drittes minder hervorragendes Glied des Ministerrathes. Diese Herren führten uns durch einen schmalen Korridor in einen kleinen Hof in dessen Mitte Prinz Kung stand. Er ergriff weine Hand und geleitete mich nach einem Pavillon der kaum geräumig genug war um die nicht zahlreiche Gesellschaft zu fassen. Ein runder Tisch trug eine große Menge von Schälchen welche stark gewürzte Fleischspeisen, getrocknetes Obst und Süßigkeiten der mannigfaltigsten Art enthielt. Wir nahmen Platz, wobei mir der Prinz' den Ehrenplatz zu seiner Linken anwies. Er und die Minister füllten unsere Teller mit Leckerbissen. An Aufforderungen zu essen und insbesondere zu trinken ließen 'ie es nicht fehlen. Der Wein schien mir geschmacklos U"d hitzig: nicht ohne trübe Ahnungen entsprach ich ihren häufigen Toasten. Glücklicherweise gestatteten sie mir "uch auf die Pantomime eines trinkenden Mannes zu beschränken. Dagegen ftokulirte Tsung, der Schöngeist, fest und herzhaft. Nach jedem Trunk zeigte er mir sein leeres 142 Glas. Dem Prinzen schien dies großen Spaß zu machen. Er lachte aus voller Kehle, sprach sehr laut und sagte Tsung sei ein Trunkenbold. Gegen Ende des Mahles hatte er die Güte mir seinen hohen Besuch für einen der nächsten Tage anzukündigen, und als ich mich entschuldigte diese Ehre nicht annehmen zu können, da meine Abreise auf den folgenden Morgen festgesetzt wäre, ent-gegnete er: „Dann müssen wir heute den Wein trinken den uns General Vlangali bei meinem Besuche vorgesetzt hätte." Hr. Vismark, der mich als Dollmetsch zu begleiten die Güte hatte, entledigte sich seiner schwierigen Aufgabe mit einer solchen Maestri« daß die, übrigens nichts sagende, Konversation keinen Augenblick in Stockung gerieth. Mich erinnerte sie lebhaft an die Personen des bekannten Ro« mans: „Die beiden Basen"*): Pe-kong, der Präsident des Bureau der Ceremonien, der mit den kaiserlichen Monitoren U und Yank schäkert und trinkt. Der Prinz war (man sagt es sei nicht immer der Fall) bei fröhlicher Laune, nahm fortwährend an dem Gespräche Theil und fand an den Späßen seiner Kollegen großen Gefallen. Ich sagte ihm daß sein Nuf bis nach Europa gedrungen *) Von Herrn von Nemusat aus dem Chinesischen übersetzt, vor Jahren auch in Deutschland viel gelesen, aber uun schon lange in Vergessenheit gerathen. 143 sei. „Wahrhaftig", antwortete er, „ich weis; nicht wie ich dies verdiene, und wem ich mein Amt verdanke. — Zunächst , antwortete ich, Ihrer hohen Geburt, und sodann Ihrem Muthe und Ihrer Weisheit. Durch Muth haben Sie Ihre heutige Stellung errungen, durch Ihre Weisheit werden Sie sich in ihr behaupten." Der Prinz lächelte, die Anspielung an die, oben erwähnten, kritischen Tage seines Lebens schien ihm zu schmeicheln. „Ich weiß nicht," s"gte er, „was ich antworten soll. Ich darf Ihnen nicht widersprechen, und andererseits kann ich ebensowenig mein "genes Lob singen. Trinken wir also!" Einen Augenblick schien das Gespräch eine ernstere Wendung nehmen zu wollen. Wm-siang gab mir Veranlassung eine der brennenden Tagesfragen zu berühren und machte Miene darauf einzugehen, als ihm ein kalter strenger Blick des Prinzen den Mund schloß. Nachdem wir über eine Stunde bei Tische gesessen hatten, glaubte ich aufbrechen zu sollen. Der Prinz versprach mir seine Photographie. Er habe seinen Vorrath erschöpft, aber werde sie schicken.*) „Sie haben", sagte lH, „an Wichtigeres zu denken, Sie werden vergessen." ^ ..Nein", antwortete er, „und Du", mit befehlerischem Tone sich an einen der Minister wendend, „Du wirst nicht vergessen." *) Er hat Wort gehalten. 144 Wir wurden mit denselben Ceremonien zu unseren Sänften geleitet. Beim Abschied drückte mir der Prinz sein Bedauern aus daß ich bereits abreiste. „Es thut mir leid", sagte er, „um so mehr, als wir uns nicht wiedersehen werden." Diese Artigkeitsfthrase wurde mit großer Einfachheit gesagt und mit einem Ausdrucke von Wahrheit welcher sie in mein Gedächtniß geprägt hat. Mh-sin, Prinz von Kung, ist ungefähr vierzig Jahre alt, hat, für einen Mandju, regelmäßige Züge, einen ich möchte sagen schmachtenden Ausdruck, und, in Folge von Kurzsichtigkeit, die Gewohnheit zu blinzeln. Ein anmuthiges, etwas sarkastisches Lächeln leitet seine Scherze ein. Bevor er spricht sieht er dem Anzuredenden scharf in die Augen, schlägt aber die seinigen nieder sobald er das Wort ergriffen hat. Seine schmächtige Gestalt erreicht kaum die Mittelhöhs. Seine Züge sind schlaff; seine Gesichtsfarbe fahl. Uebrigens die Sorglosigkeit, das Sich-gehenlassen, die Einfachheit der großen Herren. Man sieht der Mann ist enttäuscht über Manches, abgestumpft für Vieles. Er weiß zu sehr wie wenig die Gewalt glücklich macht, um ihren Besitz zu überschätzen, womit nicht gesagt sein soll daß er bereit sei ihr zu entsagen oder sie sich gutwillig nehmen zu lassen. Seine etwas weibischen Hände zeichnen sich durch ungeheuer lange Nägel aus. Eine landesübliche Sitte die ihre Bedeutung hat. Die Männer 145 lassen die, Nägel wachsen um darzuthun daß sie keine Handarbeit verrichten; den Frauen verstümmelt man die Füße um sie von den mongolischen Weibern zu unterscheiden, um zu beweisen daß die Chinesen teine Nomaden sind. Sonst könnten ja ihre Frauen den Gebrauch der Füße nicht entbehren! An der linken Hand trägt der Prinz einen großen Ning von grünein Jade. Sein Anzug ist äußerst einfach: ein dunkelblauer Lcibrock mit lichtblauen Aufschlägen und Kragen. Auf der Mütze den karmesinrothen Knopf mit gleichfarbigen Fransen. Der Prinz gilt nicht für einen geistig hochbegabten Mann, aber er besitzt, wie man mir sagt, die in seiner Stellung unschätzbare Eigenschaft die richtigen Männer zu finden und einen jeden an seinen Platz zu stellen. Die drei Minister waren genau wie ihr Chef gekleidet. Nur trugen sie an den Mützen einen prachtvollen Pfauenschweif. Wm-siang gehört der herrschenden Nasse an; hat ein gewinnendes Aeußere, aber ausgesprochene mandjurische Züge. TsungHsün ist Chinese und scheint, hierin verschieden von seinen Landsleuten, was er ist: ein gutmüthiger Lebemann. Unaufhörlich wiederholte er, seine Leidenschaften seien Wein und Poesie. Hübner, Spaziergang UI. 10 146 s29. Oktober.) Endlich schlägt die unangenehme Stunde des Scheidens. Heute Morgen sprachen fast alle Glieder der kleinen Kolonie bei mir vor. Wir kennen uns seit gestern, und es scheint mir als lasse ich hier langjährige Freunde zurück. Im Hofe der russischen Gesandtschaft geht es lebhaft zu. Der Abschied verlängert sich: die mongolischen Ponies sind des Harrens müde; kaum daß die Mafu sie zu halten vermögen. Der liebenswürdige und geistreiche Herr vom Hause, seine Sekretäre und Attaches, der Minister der Vereinigten Staaten verlassen uns erst im letzten Augenblicke. Da werden Händedrücke gewechselt, Alles ruft „auf Niederfehen", aber auf Wiedersehen in Europa und nicht in China! Endlich sitzen wir auf. Einige Herren, darunter der unvergeßliche Lenzi, begleiten uns vor die Stadt. Dort werden die Pferde in Galopp geworfen. Der Kosak, immer auf der Höhe seiner Mission, sorgt dafür daß keiner der Diener, der Boys, zurückbleibe. Bald kommt die Pagode von Tung-Chow in Sicht, dann die Zinnen der Stadtmauern, endlich die Masten der Djonkcn. Bei Einbruch der Nacht entfalten die unserigen ihr großes Segel, und, von Wind und Strömung begünstigt, entfernen wir uns rasch von der Hauptstadt des „himmlischen" Reiches. 147 III. Tientsin. vom 3l. Dklodcr die, 7. Novrmbcr. Die „Aoncesfwtt." — Die chiitcsische älndl, — Emc vergotterle Schlange. — Der Vluli dcr yeuornlior!!» v°n 5hian-si, — Das Blulßad. (31. Oktober.) Heute Morgen erweckt mich verworrenes Getöse. Unsere Boote gleiten rasch dahin zwischen einer doppelten Hecke von Djonken. Hinter ihnen ein Chaos von Häusern nnd Hütten. Wir sind wieder in Tien-tsin. Eine halbe Stunde später haben wir die „Niederlassung" erreicht. Dort harren unser ein freundlicher Empfang und eine unangenehme Nachricht. Der Westwind hat das Wasser von der Barre von Taku in das Meer hinaus getrieben. Keine Möglichkeit sie zu passiren. So wären wir denn gestrandet. Der Nordost-Monsoon kann uns. allein flott machen, aber wer rechnet auf die Gefälligkeit der Winde! Wenn der Frost vor dem Monsoonwechsel eintritt, wenn der Pei-Ho friert, so bleibt uns als Winterresidenz nur zwischen Peking und Tien-tsin die Wahl. Glücklicher Weise hat dieser unfreiwillige Aufenthalt seine Neize. Die Bewohner der „Koncession" bewähren ihre Gastlichkeit. Ein jeder will uns haben. Herr Boyce und meine jungen Gefährten werden im englischen Konsulat untergebracht; ich nehme wieder mit Vergnügen, wie bei 10" 14« meiner ersten Durchreise, die Gastfreundschaft des Herrn Henry Beveridge an. Er ist Agent der Iardine und Co., der gute Typus des jungen Englands, des Gentleman welcher arbeitet. Seine liebenswürdige Gemahlin, aus Hongkong gebürtig aber französischer Abkunft, vereinigt alle Abende einen kleinen Kreis um ein inunteres Kaminfeuer das sehr geschätzt wird, an ihrem Piano das sie meisterhaft handhabt. Die Gesellschaft besteht aus Franzosen. Die Kommandanten der beiden Kanonenboote, der französische Konsul und ein junger Beamter des chinesischen Zollamtes sind die Habitues. Zuweilen spricht Pater Delmasure vor. Man schwätzt, man lacht, man hält nicht Haus mit witzigen Einfällen, man hat deren zur Genüge; denn in diesem kleinen Salon sind wir in Frankreich. Draußen eine eisige Temperatur, ein Himmel von polirtem Stahl! Die Sterne funkeln: der Pei-Ho wälzt langsam seine Wasser an der Faktorei vorüber: der Wind heult dazu. Ein Wind, der geraden Weges aus Sibirien bläst. Die Vormittage reichen nicht aus für meine Geschäfte. Ich war dreimal in der chinesischen Stadt und habe mir einen interessanten Zeitvertreib ausgedacht. Seit dem „großen Blutbade" sind kaum sechszehn Monate verflossen. Noch stehen diese Schreckenstage hier in frischem Andenken. Die Residenten fragen sich ob sie wiederkehren werden. 149 Um hierüber ein Urtheil zu fällen müßte man die Quelle des Uebels erforscht haben. Ist dies geschehen? Die Berichte des englischen Gesandten in Peking und der englischen Konsuln in Tien-tsin und den andern „Häfen" enthalten viel schätzbares Material; da aber sämmtliche Franzosen welche sich an Ort und Stelle befanden, mit Ausnahme eines einzigen, unter den Streichen der Mörder fielen, konnten die englischen Angaben durch keine französischen ergänzt werden. Ich benutzte also die neun Tage unfreiwilligen Aufenthalts in Tien-tsin um mit Hilfe einiger hiesiger Residenten an Ort und Stelle Auskünfte zu sammeln und mit den vorhandenen zu vergleichen: mit dem Blue Book, mit den Erhebungen welche der Lazarist Abbe Favier unmittelbar nach der Katastrophe gepflogen hat und mit andern authentischen Notizen. Ich betrachte als einen Glücksfall daß ich drei Eingeborene befragen konnte welche an den blutigen Ereignissen des 21. Juni 187N persönlich betheiligt waren: nämlich einen Mandarin, einen Diener des französischen Konsuls und einen im Hause der Laza-risten angestellten Christen. Mit Hilfe dieser Auskünfte und Studien, sowie einer aufmerksamen Prüfung der Oert-lichkeit ist es, glaube ich, gelungen ein wahrheitsgetreues Bild von dem „Tien-tsiner Blutbade" zusammenzustellen. Doch kann ich mich der Entdeckung neuer Thatsachen nicht rühmen. Der Ursprung, die wahren Urheber der Schreckens- 150 that, ihre eigentlichen und letzten Zwecke bleiben nach wie vor in Dunkel gehüllt. Während ich mich in Tien-tsin mit dieser Arbeit beschäftigte, entstand in mir der Gedanke mein Reisetagebuch zu veröffentlichen. Von der englischen und französischen Koncession ist nicht viel zu erzählen. In der ersteren findet man, wie in allen englischen Faktoreien China's und Japans, den „Bund" das heißt einen Quai auf dem, von Tien-tsin sprechend, ein paar gut gebaute Häuser stehen. Ein jedes derselben, was für den Zustand der öffentlichen Sicherheit bezeichnend ist, umgibt eine hohe feste Mauer. Ein jedes besitzt seinen Nachtwächter. Mit einer Schnurre versehen, macht er im Hofe die Nundc, benachrichtigt durch den Lärm seines Instruments die Diebe von seiner Anwesenheit und stört die ehrlichen Bewohner in ihrem Schlafe. In den besten Häusern wohnen: der englische, der französische, der russische, der norddeutsche Konsul, Herr Hannen, Direktor des chinesischen Zollamtes, Herr Beveridge, mein Gastfreund, und Herr Starzoff, mein freundlicher Cicerone in Tung-chow. Im Ganzen ist die Zahl der Europäer gering. Aber sie besitzen einen Klub in dem sogar ein Ball gegeben wurde. Wegen der Ueberschwemmung kamen die Gäste in 151 Kähnen angefahren. Damm hatte man nur fünf und darunter nur drei Tänzerinnen vereinigen können. Dennoch unterhielt man sich köstlich. Die französische Koncession besitzt dermalen nicht cin einziges Haus. Die wenigen Residenten dieser Nation wohnten in der chinesischen Stadt. Dort befand sich auch die Mission: seit dem Blutbade ist die letztere aufgegeben worden: dagegen wird für die sehr geschmolzene katholische Gemeinde auf der französischen Koncession eine Kirche gebaut. Von den Koncessionen nach der chinesischen Stadt zählt man etwas mehr als zwei Meilen. Während meines ersten Besuches stand die Umgegend unter Wasser. Ich glaubte mich in die venetiamschen Lagunen versetzt: nur die Alpen fehlten. Ein Sampan brachte uns nach der chinesischen Stadt. Wir ruderten über Wiesen hinweg und strandeten von Zeit zu Zeit auf Gräbern die wie große Maulwurfshaufen aussehen. Zu unserer Linken Elgin Joss-house lassend, den Tempel in welchem der Traktat von 1858 unterzeichnet wurde, landen wir bei einer Gruppe von Lehmhütten. Chinesische Städte umfängt immer ein Gürtel von Unrath: auch uns überfallen entsetzliche Gerüche. Mit zugehaltener Nase laufen wir von dannen. Die eigentliche oder innere Stadt von Chinesisch Tien-tsin ist ein Viereck mit gezinnten Mauern und vier Eck- 152 thürmen. Aber Handel und Gewerbe haben ihren Sitz in den Vorstädten genommen. Stadt und Vorstädte liegen am südlichen Ufer des Pei-Ho und des großen Kanales der sich hier mit diesem Flusse vereinigt.*) Eine andere Vorstadt dehnt sich am nördlichen Ufer aus. Dort, hart am Pei ho, an einer Stelle wo er eine Biegung macht, erhebt sich die Kathedrale, gemeinhin die französische Kirche genannt. Dies schöne Gebäude war kaum vollendet, als es während des Blutbades zerstört wurde. Die Mauern, der Thurm und die Seitenthürmchen blieben stehen. Der Brand der hölzernen Treppe verhinderte die Mordbrenner das Dach zu ersteigen und das Werk der Zerstörung zu vollenden. Neben der Kathedrale standen das Misstonshaus der Lazaristen und das französische Konsulat. Beide sind eine Beute der Flammen geworden und gänzlich verschwunden. Der Platz den sie einnahmen wurde in einen Kirchhof verwandelt. Weiter oben, gleichfalls am Flusse, ungefähr fünf Minuten Weges von der Kathedrale, befindet sich der Iamen des Kommissärs der „drei Nord-Häfen". Hinter den eben genannten Gebäuden beginnt ein Labyrinth von Gassen und Gäßchen *) In Tien-tsin sasst man mir, dieses Nasser sei nicht der grohe Kanal, sondern ein Fluß Namens Yü-Ho. Ich überlasse den Geographen die Richtigstellung dieser Angabe. ,53 Welche von dem übelst berüchtigten Theile der Bevölkerung bewohnt werden. Eine einzige Schiffbrücke verbindet die beiden Ufer-sie wird zu gewissen Stunden geöffnet um den Djonkcn Durchlaß zu geben: der Strom hat hier eine starke Strömung und die Ueberfahrt in Kähnen ist schwierig, zuweilen gefährlich; daher nichts leichter als die Kommunikation zwischen beiden Ufern zu unterbrechen. Der Leser wird gebeten sich diesen Umstand gegenwärtig zu halten. Mit Ausnahme der Pekinger Tartarenftadt der das mongolische Element seinen Stemvel aufdrückt, haben alle chinesischen Städte dieselbe Physionomie: ein Stadtgraben, besser gesagt eine Kloake, eine gezinnte Ringmauer, die Stadtthore erhöht und mit zwei oder drei über einander gestellten Dächern versehen; die Gassen, Gäßchen und Sackgassen enge, schmutzig, staubbedeckt und mit Mist und Unrath aller Art gefüllt; die Häuser ohne architektonische Verzierung; viele gut und schlecht versehene Butiken; die Thee-, Tabak- und Arzneiläden an den reich vergoldeten Auslagen und Schildern erkenntlich; die Wohnungen der reichen Leute hinter hohen Mauern versteckt; zwei oder br« Yamen, mehr oder weniger verfallen aber doch imposant: am Eingänge ein oder zwei Fahnenstangen, im Hofe, neben den zwei Drachen aus Stein oder Terrakotta, eine Menge von Leuten die, in Lumpen gehüllt, als Bitt« 154 steller Reihe machen oder wenn sie das Gewissen drückt einer gehörigen Anzahl Bambusstreiche, wenn nicht Neblerem, entgegensehen. Hie und da ein Tempel. Wir werden uns bei ihm nicht aufhalten. Es lohnte kaum die Mühe noch die Ellbogenstöße der Vorübergehenden. Wer könnte auch stehen bleiben in dem Gedränge! Und was für Gestalten! Gingefallene Wangen, hohle Augen, fahle Gesichter. Eine Fluth menschlicher Wogen in einem Fclsenbette, überragt von der Sänfte eines Mandarins oder reichen Kaufmanns, von Waarenballen die auf Bambusstäben schwanken, von dem Zeltdache schwerfälliger knarrender Wagen, von Weibern und Kindern die auf Schubkarren im Moraste einherschiffen. Das zarte Geschlecht ist nicht schön und in den Gassen wenig zahlreich vertreten. Damen von Rang zeigen sich selten und Weiber aus dem Volke nur wenn die Pflichten des Haushalts sie dazu nöthigen. Wir nähern uns einem Thore der inneren Stadt: ein gewaltiges Gewölbe aus massivem Stein, darüber ein zweistöckiger pagodcnartiger Thurm. Der Durchgang ist schwierig. Schubkarren, Nagen und Sänftenträger waten im Kothe. Die Fußgänger schwanken auf einem drei bis vier Fuft hohen Brettersteg der so eng ist daß zwei Personen sich nur mit Mühe ausweichen. Ist es ein Spiel meiner Einbildungskraft, ist es Wirklichkeit? Diese chinesischen Straßenbilder wirken auf mich wie ein Alp. Callot 155 allein vermöchte die grotesken Teufeleien wiederzugeben. Je mehr wir uns dem Thorwege nähern, je dichter wird die Menge. Gerne wäre ich umgekehrt; aber es ist zu spät. Der dunkle schwarze Trichter verschlingt mich bereits. Mein Begleiter, das Urbild des anglosächsischen Titanen, bricht sich vor mir Bahn. Ich suche ihm zu folgen, aber die Menge trennt uns. Wehe dem Fremdling der hier strauchelt! Keine hilfreiche Hand wird ihm gereicht werden. Es wird einen fremden Teufel weniger geben im chinesischen Reiche. Er ist zufällig gefallen und zufällig wurde er zertreten. Der Zufall zahlt keine Entschädigung; er Wird nicht nach den Ufern des Amur verbannt; man schlägt Hm nicht den Kopf ab. Mittlerweile werde ich, absichtlich oder zufällig, von den Passanten (o die rohen Gesellen!) an den Nand des Steges gedrängt. Schon sehe ich mich un Kothe liegen, unter den massiven Rädern der Karren, unter den Hufen der mongolischen Ponies, unter den breiten Füßen der Lastträger und der Kamele. In diesem kritischen Augenblicke ergreife ich den Zopf eines hochbeinigen Herrn der vor mir geht. Gibt es eine eigenthümlichere, eine beklagenswerthere Lage? Ein anständiger Europäer am Zopfe eines Chinesen hängend; der Chinese wuthentbrannt aber durch das Gedränge verhindert von seinen Fäusten Gebrauch zu machen; sein Gesicht unter furchtbaren Grimassen nach dem weißen Mann gekehrt den 156 er wider Willen im Schlepptau führt; ich immer am Zopfe festhaltend und, da uns der sprachliche Ideenaustausch versagt ist, durch Mienenspiel und graziöses Lächeln bemüht den gerechten Zorn meines unfreiwilligen Retters zu beschwichtigen! Seit einigen Wochen herrscht in Tientsin große Aufregung. Ein Gott ist erschienen in Gestalt eines Drachen, welcher Drache die Gestalt einer Schlange annahm und von einem Bauern der Provinz Honan gefunden und Hieher gebracht worden ist. Er wird in einer elenden Pagode der Verehrung der Gläubigen ausgesetzt. Der ihm als Absteigequartier dienende Tempel liegt am nördlichen Ufer in dem oben erwähnten, mit Recht verrufenen Stadtviertel. Durch mehrere krumme Gäßchen schreitend gelangen wir an seine Schwelle. Um nicht dem kleinen Thiere diese Artigkeit bezeigen zu müssen nehmen wir bereits am Eingänge der Pagode die Hüte ab. Unser Freund, ein Mandarin, führt uns in das Heiligthum. Mit Früchten und Gebäck gefüllte Körbe und andere Gaben der Gläubigen sind ringsum angehäuft. Am Altar ruht, zusammengerollt und bewegungslos, auf einem mit gelbem Papier bedeckten Teller, eine etwa fünfzehn Zoll lange Schlange. So weit das künstliche Dämmerlicht es 157 gestattete, konnten wir das Thierchen mit Mufte betrachten. Mittlerweile folgten sich die Andächtigen, knieten am Fuße des Altars nieder, legten ihre Geschenke auf den Boden und entfernten sich ohne die drei Fremden eines Blickes zu würdigen. Dem Hciligthume gegenüber war eine Schaubühne errichtet auf welcher den ganzen Tag über gespielt wird. In der Mitte der Halle befinden sich die reservirten Plätze, ein runder Tisch und Lehnstühle für die Mandarine und andere von Nah und Fern gekommene Notabeln. Nach-dem sie ihren Kow tow gemacht, nehmen sie Platz. Von dem Gotte ist weiter keine Rede mehr. Die Ehrenwache bei dem Drachen hält ein militä-nscher Mandarin, derselbe welcher, wie man weiter unten sehen wird, bei den Tien-tsiner-Mordthaten eine mehr als verdächtige Nolle gespielt hat. Bei dem Processe schlüpfte er mit einfachem Amtsverluste durch, später wurde er sogar zum Kommandanten der Festung von Taku ernannt, schien sich jedoch dort zu langweilen, was ich ihm nicht Verübeln kann, kam oft ohne Urlaub nach Tien-tsin und wurde deshalb abermals abgesetzt. Jetzt ist er der kleinen Schlange als Kammerhcrr in außerordentlichem Dienste zugetheilt. Ich hatte die Ehre die Bekanntschaft dieses Ehrenmannes zu machen der die Manieren eines Gentle-wan mit der Physionomie eines Galgenstrickes vereint. 158 Wer die chinesische Stadt mit Genuß und Nutzen sehen will, stelle sich unter die Führung eines Eingeborenen von Stande. Auch heute begleitet uns der junge Mandarin. Er ist ein Typus seiner Gattung: Gesichtsfarbe bläßlich, Backenknochen vorspringend, Wangen voll, Hände fleischig, Nägel klauenartig, Zopf üppig, die Gestalt bereits beleibt und für das reifere Alter den obligaten Fettwanst verheißend. Der Anzug: zwei matratzenartig gesteppte Leibröcke von blauem Tafft, einer über dem anderen getragen, denn es ist bereits bitter kalt: am Hute der Knopf von der dem Nange entsprechenden Farbe; Alles, Mann und Kleidung, reinlich, sorgfältig gehalten und, in gewissem Sinn, elegant. Dabei die Manieren des Bureaukraten der, je nach dem Nange der Personen mit denen er spricht, unterwürfig oder befehlshaberisch ist, förmlich oder kurz angebunden und mit Niemandem vertraulich. Wir vermeiden das Gedränge der Hauptarterien und schlendern von Bude zu Bude. Ich sehe sehr schöne Pelze. Tien-tsin ist ein Hauptmarkt für diesen Artikel. Wir treten in ein Opiumhaus. Traurige und widerlige Scenen. Laä, daä, sagt unser Mandarin. Aus Laä und Hooä besteht sein englisches Wörterbuch. Glücklicherweise spricht mein anderer Begleiter, der französische Konsul, Hr. Dillon, mit seltener Geläufigkeit chinesisch. 159 , Dem Klub der Notabeln von Shansi gilt unser nach-ster Besuch. Die Provinz Shansi zählt viele reiche Leute und viele von ihnen kommen nach Tien-tsin. Mehrere haben sich hier niedergelassen. Alle Morgen versammeln sie sich in ihrem großartigen Klub. Weder die Pariser Cercles noch die ersten Klubs in London oder Wien können mit ihnen den Vergleich aushalten. Diese große Anstalt besteht aus mehreren Häusern und getrennten Kiosken, wo man sich zum Gespräche vereinigt oder Bekannte und Geschäftsfreunde empfängt. Es sind längliche, schmale, hohe Räume mit längs den Wänden symmetrisch aufgestellten Tischen und Stühlen. Die Wände bedeckt ein schön geschnitztes Holzgitter. Im Theater, dessen sehr schöne Hängelampen von Porzellan mir aufsielen, wird jeden Vormittag gespielt. Der Präsident des Klubs hat die Güte uns das Repertoire vorweisen zu lassen. Es sind zwei bis drei Fuß lange Stäbe von Elfenbein deren jeder den Titel eines Stückes enthält. Wir Wählen ein historisches Drama. Während die Schauspieler sich beeilen das Vaudeville welches sie eben aufführen zu Ende zu spielen und sich aus Hanswursten in Helden und Götter zu verwandeln, werden Wir von unserm Amphy-tnon mit Kuchen, Süßigkeiten und Früchten bewirthet, wobei der Thee natürlich in Strömen fließt. Nur mit Mühe entgehen wir einer Einladung zum Diner. Mitt- 160 lerweile füllt sich der Saal. Mehrere Herren treten ein, alle den höheren Ständen angehörig: meist Literaten nnd reiche Kaufleute deren einige gegen Bezahlung den Nang eines Mandarin erworben haben. Sie verneigen sich gegen einander sehr tief, schütteln die Köpfe, verrichten zum Schlüsse, mit vorgeneigtem Oberkörper, den Chin-chin, das heißt sie zeigen sich die Fäuste indem sie sie an einander drücken und ihnen eine rotirende Bewegung verleihen; das Tempo hiebei regelt sich nach dem Grade der Verehrung die man sich schuldig ist. Sodann treten sie zu den Tischen deren jeder von vier Stühlen umgeben ist. Hier beginnt eine neue Reihe von Artigkeitsbezeigungen. Niemand will sich zuerst niederlassen oder den Platz zur Linken, den Ehrenplatz, einnehmen. Nachdem diese Schwierigkeiten glücklich überwunden, und die Schauspieler sich gehörig geschminkt und kostümirt haben, beginnt das Stück. Dieselben Gesichtsverzerrungen, wie in anderen chinesischen Theatern, derselbe Lärm eines höllischen Orchesters, dieselben Kämpfe und feierlichen AufZüge, und dieselbe Geschick-lichkeit der jungen Leute die Stimme, den Gang und die Gebehrden von Frauen nachzuahmen.*) Mittlerweile geräth das Gespräch mit dem Präsidenten nicht in Stockung. Unter vielen andern Artigteits- *) Bekanntlich dürfen in China Frauen auf den Bühnen nicht erscheinen. 161 Phrasen sagte er uns! „Europa übertrifft China. Ihr habt den Telegraphen und Eisenbahnen, und Nachts sind die Gassen Eurer Städte hell wie bei Tage. Wir sind sehr zurück". Was mir bei den Literaten besonders auffällt, ist ihre vollendete Artigkeit, ihr ungezwungenes freies Benehmen — in der That, man vergißt daß sie halbe Barbaren sind — zugleich aber die Leerheit ihrer Gespräche und die Armuth an Gedanken. Zum Schlüsse zeigte uns der Präsident den reich vergoldeten Tempel des Klubs, dessen Götzen mir ganz besonders scheußlich schienen, und begleitete uns hierauf, ein Beweis von nicht gewöhnlichem Muthe, bis in die Gasse wo er, in Gegenwart einer neugierig ab« nicht feindselig aussehenden Volksmenge, den Chin-chin verrichtete und alle anderen Abschiedspflichten erfüllte welche ein chinesischer Gentleman sich und Seinesgleichen schuldig ist. Ich sagte ein Beweis von Muth, denn die Erbitterung gegen die Fremden besteht noch heute. Zwar sind w neuester Zeit keine Gewaltthaten vorgekommen: aber das Mißtrauen, und zwar ein wechselseitiges, wuchert fort. Europäer sowohl als Chinesen lauschen den unheimlichen, periodisch immer wieder auftauchenden Gerüchten von Krieg und von neuen Metzeleien. Noch vor zwei Monaten sagten die Eingebornen, sie würden nächstens alle Fremden „waschen", das heißt umbringen. Die euro- Hübner, Spaziergang III. H 162 päischen Kaufleute, fünf an der Zahl, haben zwar ihre Magazine in der chinesischen Stadt wieder geöffnet; aber sie wagen nicht mehr dort die Nacht zuzubringen; jeden Abend ziehen sie sich nach den Koncessionen zurück. Einen Monat vor den traurigen Erejgnissen, deren Geschichte*) ich hier zu schreiben gedenke, herrschte in der großen Stadt Tien-tsin tiefe Ruhe. Es gab zwar Menschen welche ihre Abneigung gegen die Fremden nicht verhehlten: zuweilen hörte man Schimvfreden und Drohungen, und man mußte in den amtlichen Regionen in Peking wie auf den Konsulaten wissen daß die Zustände im Allgemeinen nicht befriedigend waren. Zehn Jahre waren verstrichen seit der Erschließung des großen Reiches, und *) Ich schreibe die Geschichte des Blutbades Kon Tien-tsin nach den mündlichen Mittheilungen der Herren Gesandten in Peking, der hier und in Shanghai residircnden Konsuln; des Lazaristen Pater Javier, des englischen Arztes Doktor Frazer, des russischen Kaufmanns Herrn Starzoff, sodann der bereits erwähnten drei Chinesen welche ich mit Hilfe eines tüchtigen Sinologen befragen konnte, und die Augenzeugen der Mordscenen waren. Ich habe Herrn Coutries, den einzigen überlebenden Franzosen, nicht gesehen, doch wurden mir seine Aussagen mitgetheilt. Im Klub fand ich ein Exemplar des englischen Blue Book. Ueberdies konnte ich in einige Briefe der ermordeten Patres Chevrier und Ou Einsicht nehmen. Meine Citationen des Blue Vook beziehen sich ausschließlich auf die: ?aperg rela-tinA to tlis mHssaors of llulOpeaug at likutgiu, pl-L8Liitsä to dotk IWU368 0t rarlilliusut, l^kiull No. 1. (1870). 163 keine wahrhafte Annäherung hatte zwischen Einheimischen und Fremden stattgefunden. Jedoch, kleine und dem Anscheine nach unbedeutende Zwischenfälle abgerechnet, verbiethen die fünf' oder sieben- oder neunhunderttausend Bewohner der Stadt Tien-tsin — so weit laufen die Angaben hierüber auseinander — keine feindselige Stimmung gegen die wenigen Europäer, Missionäre oder Kaufleute welche gewagt hatten die Koneessionen zu verlassen und sich in dieser großen und volkreichen Stadt anzusiedeln. Unter den dort wohnenden Fremden must vor Allem der franzosische Konsul genannt Worden, Er war der einzige unter seinen Kollegen welcher die Verbannung in ber chinesischen Stadt, wo sich die unter seinem Schutze stehenden katholischen Institute befanden, dem bequemeren und sichreren Aufenthalte in der Faktorei vorzog. Obgleich von reizbarem Temperamente, genoß Herr Fontanier doch der allgemeinen Achtung. In der letzten Zeit aller-dmgs hatte sich in ihm die Geneigtheit zu Zornesaus-brüchen gesteigert, und seine Freunde begannen sich all-Malig von ihm zurückzuziehen. Außer Herrn Fontanier wohnte nur Ein Europäer im Konsulat, sein Kanzler Namens Simon. Der unmittelbare Nachbar des Konsuls war der Lazarist Pater Chevrier, Vorstand der katholischen Mission 11* 164 von Tientsin. Eine niedere Mauer schied die Höfe des Konsulats und des Missionsgebäudes, aber die Beziehungen zwischen dem Konsul und dem Missionär waren erkaltet. Herr Chevrier, ein Mann von sanftem und heiterem Naturell, hatte sich Herrn Fontaniers Mißfallen zugezogen weil er, ihm, aus Anlaß der gefahrvollen Lage, dringende wenngleich ehrerbietige Vorstellungen machte. Ein chinesischer Pater Namens Ou, ein guter Priester, eifrig in seinem Berufe, unterrichtet, gegen Jedermann zuvorkommend *); sodann der katholische Literat Wang-san und einige einheimische Diener bildeten mit den Kindern des Waisenhauses die Einwohnerschaft der Missionsanstalt Welche übrigens von den Mitgliedern der einheimischen christlichen Gemeinde, der „Christenheit" wie man in China sagt, gerne und häusig besucht wurde. Jenseits des Wassers, im belebtesten Theile einer der großen Vorstädte, nicht weit vom Flusse, standen eine kleine Kirche, das Haus, Spital und Orvhelinat der Schwestern des heiligen Vincenz de Paula. Zehn an der Zahl, darunter sechs Französinnen, zwei Belgierinnen, eine Toskanerin und eine Irländerin, beschäftigten sie sich mit Unterricht und Krankenpflege. Doktor Frazer, ein eng- *) Nach dem Zeugnisse seines Bischofs, Monseigneur de Laplace, und Aller die ihn kannten. 165 lischer Arzt, obgleich er in der Faktorei wohnte, obgleich er Protestant war, behandelte ihre Kranken aus Menschenliebe. Ueber die Achtung und Beliebtheit deren sich die Schwestern bei der Bevölkerung erfreuten herrscht nur Eine Stimme. Die Schwester Marie, insbesondere, wurde häufig in chinesische Häuser geladen. Erst in den letzten Tagen vor der Katastrophe sah sie sich genöthigt ihre Besuche in den Hütten der Armen einzustellen. Die übrigen Residenten waren französische, englische und russische Kaufleute, zwei Schweizer und eine Französin, im Ganzen zwölf oder dreizehn Personen. In der chinesischen Welt nahm Chung-hou die erste Stelle ein. Er war einer der Oberwächter des Erbprinzen, ausgezeichnet mit den Insigmen des ersten Grades und einer Pfauenfeder mit zwei Augen, General-Lieutenant der Division Han-chün von der rothen Fahne, und einer der Vice-Präfidenten im Kriegsministerium.*) Als Mandju und eine bei Hofe wohl gesehene Persönlichkeit, hatte er sich seit zehn Jahren auf dem Posten des Kommissärs der „Drei Nordhäfen"**) zu erhalten gewußt. Wie der Vice-König von Nanking in Mittelchina, wie der Vice-König von Kanton im Süden, war er mit der Leitung aller die Fremden betreffenden Angelegenheiten be- *) Blue Vool S. 63. **) Diese drei Häfen sind Che-fu, Tien-tsm und New-Chwang. 166 traut. Letztere rühmten sein Wohlwollen, seine Zuvorkommenheit, seine artigen und feinen Manieren. Die Agenten der Mächte welche mit ihm in Geschäftsbcrührung traten hatten von ihm die beste Meinung gefaßt. Den Provinzial- und städtischen Behörden gegenüber war seine amtliche Wirksamkeit nicht klar begrenzt, daher es Zuweilen an Reibungen nicht fehlte. Chung-hon hatte, in rein chinesischen Angelegenheiten, keine Gerichtsbarkeit. Sein Einfluß auf den Generalgouverneur der Provinz, auf den Taotai und die städtischen Magistrate von Tien-tsin konnte sich nur auf vertraulichem Wege geltend machen: durch das natürliche Ansehen welches ihm seine mandjurische Abkunft verlieh, durch seinen hohen Rang und die Gunst in der er am kaiserlichen Hofe stand. Ueberdies führte er den Oberbefehl über die um Tien-tsin versammelten Truppen, ungefähr viertausend Mann. Der Generalgouverneur von Chi-li residirt abwechselnd hier und in der Provinzial-Hauptstadt Pao fing-fu Welche hundert Meilen von Peking und ungefähr ebenso weit von hier entfernt ist. Tseng-kwo-fan, der neu ernannte Gouverneur, hatte sich durch die Eingriffe Chung-hou's in seinem Wirkungskreis verletzt gefühlt und in dieser Stimmung fast alle höheren Posten seiner Provinz mit neuen Männern besetzt. Zur Zeit der Metzeleien befand er sich in der Provinzialhaufttstadt. 167 Nach ihm warm die höchstgestellten Beamten in Tien-tsin: Chou, der Taotai oder oberster Verwaltungschef der Departements von Tien-tsin und Ho-kien-fu; Chang, der Chi-fu oder Bezirksvorstand von Tien-tsin; Lin, der Chih-Hüen oder Stadtmagistrat. Der Chih-hüen ist gewissermaßen der Bürgermeister und, obgleich aus der Klasse der niederen Mandarine entnommen, immer eine wichtige und einflußreiche Person. Er übt in allen Civil- nnd Kriminalfällen die Gerichtsbarkeit aus: nur Todesurtheile bedürfen der Bestätigung des Generalgouverneurs. Endlich der Chen-ta-shucn, der militärische Distrikts« kommandant. Mehrere Tage vor dem Blutbade kam General Chcn-kwo-shuai nach Tien-tsin. Aus der Provinz Hupeh gebürtig, in die Taefting-Rebellion verwickelt, später, als Belohnung für den Verrath den er an einigen Aufrührern, seinen Kameraden, geübt, zum Range eines Titu erhoben, das heißt Befehlshaber eines Korps unregelmäßiger Truppen, war Chen-kwo-shulli die Schmach und der Schrecken der kaiserlichen Regierung, und zugleich der Liebling des Pekinger Pöbels. In den Provinzen galt er für einen Eisenfresser, Störenfried, Bedränger und Aussauger des Volkes. Seine den Europäern feindseligen Gesinnungen waren allgemein bekannt. In Nanking und in Chinkiang 168 hatte er davon neuerliche Proben abgelegt. Nun erschien er in Tien-tsin, ohne amtlichen Auftrag, aus freiem Antriebe, an der Spitze einer Schaar von etwa sechshundert Missethätern. Bald sollte man erfahren warum er gekommen war. Außerhalb den ofsiciellen Kreisen zählt die Stadt noch eine beträchtliche Anzahl von Literaten. Man weih was diese Literaten sind, und welche Gesinnungen sie gegen die Fremden beseelen. Hier dürfen die achtundvierzig alten und mehrere neue Feuerlösch-Korvorationen nicht vergessen werden. Die Anführer der ersteren sind durchwegs Lite-raten. Zu diesen Leuten welche, militärisch abgerichtet und in Kompagnien getheilt, gewissermaßen die geordnete Heeresmacht der Unordnung sind, treten die Imin oder ehemaligen Freiwilligen aus der Zeit der Taeving-Rebellion welche Waffen tragen dürfen und gleichfalls von Licen-tiaten oder Doktoren befehligt werden. Dennoch war noch kein Anzeichen von Aufregung oder von Vorbereitungen zu irgend einem Anschlage gegen die Ausländer bemerk« bar. Das Volk ging, wie gewöhnlich, seinen Beschäftigungen nach. Tien-tsin befand sich in seinem normalen Zustande. Aber um die Mitte Mai*) begann sich die Lage zu ändern. Beunruhigende Gerüchte wurden in Umlauf ge< *) 1670. 169 setzt: Kinder waren verschwunden. Sie seien von Leuten gestohlen worden die im Solde der Missionäre standen. Die Klosterfrauen hätten sie getödtet, ihnen die Augen ausgerissen, damit Arzneien und Zaubermittel bereitet. Dergleichen Albernheiten hörte man nicht zum ersten Male. Es war also zu hoffen daß, wie so oft vorher, auch diesmal das müßige Geschwätz allmälig verstummen würde. Das Gegentheil fand statt. Diese und ähnliche Mährchen vermehrten sich. Auffallend War nicht die überall und immer schlechte Haltung des Pöbels, sondern das offenbar geänderte Benehmen der anständigen Leute. Unbestimmte Schrecken, eine abergläubische Furcht bemächtigten sich des Publikums. Die guten „Schwestern", sonst so beliebt, so geachtet, begegneten wenn sie ausgingen nur mehr kalten oder finsteren Mienen. Niemand trat mehr wie sonst zur Seite um ihnen Platz zu machen. Eines Abends sammelten sich einige Haufen vor ihrem Hause. An den folgenden Abenden abermals Volksauflauf. Die Anklagen gegen sie wurden immer lauter. Beschwerende Thatsachen wurden vorgebracht, behauptet, geglaubt. Noch keine Ausschreitung: noch keine Störung der Ordnung, aber drohende, mit jedem Tage steigende Bewegung der Gemüther. Diese ungeheure Bevölkerung von Tien-tsin bebte wie das Laub unter den ersten Windstößen die, dem Sturme vorauseilend, durch den Wald heulen. 170 Der Zufall schien sich mit den Urhebern dieser finstern Gerüchte zu verschwören. Im Waisenhause der Schwestern brach eine ansteckende Krankheit aus. Mehrere Kinder starben und wurden auf dem Armenkirchhofe, hinter dem französischen Konsulate, begraben. Während einiger Tage*) lief jeden Morgen eine Menge Volkes dahin: Särge wurden geöffnet, Gebeine umhergestreut, mit Christenleichen gröblicher Unfug getrieben. Pater Chevrier eilte herbei, faßte einen der Gräberschänder beim Kragen und führte ihn auf das Konsulat. Er selbst begab sich zu Herrn Fontanier und beschwor ihn die Dazwischenkunft der chinesischen Behörden in Anspruch zu nehmen. Man muß, sagte er, die Aufregung beschwichtigen: mit Leichtigkeit werden die Mandarine, wofern sie nur wollen, die Nuhe wiederherstellen; wenn den Literaten freies Spiel gelassen werde, so müsse man sich auf das Aergste gefaßt machen. Wir sind allein, wie verloren inmitten dieser ungeheuren Bevölkerung: die Koncessionen sind ferne und könnten uns auch, da sie selbst bedroht sind, kaum zu Hilfe kommen: nicht Ein Kanonenboot liege im Pei-Ho. So sftrach, aber vergebens, der Vorgesetzte der Mission zum Konsul der, dieser und ähnlicher Vorstellungen müde, ihm, statt aller Antwort, das Haus verbot.**) *) Zum ersten Male am 4. Juni. ^) Bereits am 9. Juni. 171 Indeß verschlimmerte sich die Lage augenscheinlich. Pater Chevrier schildert sie fünf Tage vor seinem Tode m einem Briefe der das Datum des 16. Juni trägt. „Immer verspätet", schreibt er einein Berufsgenossen in Peking. „Schon ist es halb zehn Uhr, und ich habe noch an diesen und jenen, aber vor Allen an Sie zu schreiben. Beten Sie wenigstens dast ich nicht nach Thorschluß in den Himmel komme. Vorgestern hat die Oberin, in Begleitung der Schwester Sullivan, sich entschlossen zu unserm Konsul zu gehen. Zwei Engländer die die Anstalt der Schwestern besuchten riethcn zu dem Schritt. Die Schwestern wurden nicht schlecht empfangen. Auf mich kam nicht die Rede. Aber über die gegen uns vorgebrachten immer mehr beglaubigten furchtbaren Verleumdungen den chinesischen Behörden auch nur ein Wort zu sagen, dazu, meint der Konsul, sei es noch nicht an der Zeit. Heute wird unter Anderem erzählt daß der erste und zweite (chinesische) Katechist in Verzweiflung seien, weil die Tochter des Erstren und des Zweiten Gattin getödtet worden seien. Heute, am Fronleichnamsfeste, kam nicht Eine Frau zur Kirche! Die heidnischen Freunde der Christen ziehen sich von ihnen zurück und sagen sie seien Bösewichte. Heute habe ich versucht sie (die Christen) zu überzeugen daß sie glückliche Menschen sind. ^6u,ti 68ti8 huum mal6md Ideengang des chinesischen Volkes. Die Magistrate von Tien-tsin haben nachmals die Falschheit der Aussagen des elenden NW zugestehen müssen. Dieser befindet sich noch in den Gefängnissen von TieN'tsin. Hüb„cr, Epaziergang III. iI 178 gegnete dort einem ungefähr zwanzigjährigen Jüngling der einen blauen Rock und blaue Beinkleider trug. Ich schüttete etwas Pulver in meine hohle Hand und rieb damit eine Wange. Alsogleich wurde er wie betäubt und folgte mir. Ich eilte nach der katholischen Kirche zurück und übergab den Mann dem Wang san, wofür ich von diesem fünf Dollar und ein anderes Päckchen mit Pulver erhielt. Ich ging nun nach dem Dorfe Taohua ssu, wo ich einen gewissen Liso Wasser schöpfen sah. Ich betäubte ihn mit dem Pulver, und er folgte mir wie der Andere. Ich wurde jedoch von Bauern festgenommen und vor die Obrigkeit geführt. In der katholischen Kirche wurden, außer mir, sieben Menschenräuber beschäftigt. Die Nächte schliefen wir im Hofe «der Mission). Wang-san war unser Anführer. Jeden Morgen brachte er aus dem inneren Zimmer mehrere Päckchen die das genannte Pulver enthielten, vertheilte sie untcr uns und gab außerdem einem jeden dreihundert Kupfermünzen Kostgeld. Wenn wir Niemanden gefangen hatten gaben wir ihm das Pulver zurück. (Hier nennt Wu seine angeblichen Mitschuldigen.) Wang-san ist ungefähr zwanzig Jahre alt. Er hat eine helle Gesichtsfarbe und leichte Spuren der Pocken. Als er mir das Pulver eingegeben und mich nach der Kirche geführt hatte, ließ er mich ein Gegengift nehmen, worauf ich sogleich zu mir kam. Dies Gegengift besteht, wie mir Wang' 179 fan sagte, aus einer Mischung von süßem Kraut, der Hülle einer Cigale und eines anderen Insektes welche am Feuer getrocknet und pulverisirt werden, Alles mit Sesamöl versetzt. Dieses Dekokt, warm getrunken, bringt den Betäubten alsogleich zur Besinnung. Als mich die Bauern gestern Hieher brachten frugen sie mich was zu thun sei. Ich antwortete, sie sollten Li-so dies Gegengift geben. Ich trug die fünf Dollar, welche ich als Belohnung für den Mann aus Mu-chuang-tzu erhalten hatte, in meinem Säckel versteckt, habe sie aber bei meiner Verhaftung verloren. Während meines Aufenthaltes in der Kirche (im Mssions-hause) gab mir Nang-san jeden Morgen ein rothes Pulver zu schnupfen. Sobald ich davon genommen, fühlte ich mich Voll Muth und aufgelegt alle Welt zu behexen. Abends nach meiner Rückkunft, gab er mir einige Tropfen ein die mich sofort in meinen natürlichen Zustand versetzten. Ich konnte aber nicht entfliehen, weil während der Nacht die Thore geschlossen waren." In Folge dieses Verhörs stellten der Chih-fu und der Chihhüen an Chunghou die Bitte die Auslieferung Wang-fan's zu verlangen. Chung verrieth abermals dieselbe Nn-schlüssigkeit. Er könne, er wolle keinen solchen Schritt bei dem französischen Konsul thun. Frei stehe ihnen nach eigenem Gutdünken und unter eigener Verantwortlichkeit zu handeln. So bemächtigten sie sich denn des unglücklichen 13* Wang-san. Der Chih-Hüen liest ihn auf die Folter werfen und sodann mit zerschmetterten Knöcheln nach der Mission zurücktragen. Am 19. erschien der Taotai am Konsulat. Er brachte ein Protokoll mit den Aussagen mehrerer Zeugen welche erklärten, auf Veranlassung der Missionäre, behext worden zu sein. Daher bäte er den Konsul die Priester in Untersuchung zu ziehen. Herrn Fontanier war es ein Leichtes die Albernheit dieser bösartigen und verleumderischen Anklagen nachzuweisen. Einige Stunden sväter kam der Chih-Hüen in Begleitung eines Polizeibcamten. Herr Fontanier ließ sich zuerst entschuldigen: da der Mandarin aber auf seinem Verlangen bestand ihn zu sprechen, so empfing er ihn nach einigem Zögern. Während Letzterer in den Salon geführt wurde, drang sein Gefolge in den Hof des Konsulats. Die Unterredung der beiden Funktionäre war eine äußerst lebhafte. Ihre sehr lauten Stimmen wurden bis in das Vorzimmer gehört. Der Mandarin bestand auf einer amtlichen Untersuchung welche im Domizil der Schwestern und der Missionäre stattzufinden hätte und vergaß sich soweit dem Konsul mit dcr Volksrache zu drohen. Dieser verlor die Geduld, brach die Unterredung zornig ab und erklärte, er würde diesen Gegenstand nur mit Chung verhandeln. In heftigster Aufregung und von dem Konsul 181 nicht zur Thüre begleitet, wie dies die Etiquette erfordert hätte, zog sich der Chihhüen zurück. Man hörte Fonta-mer ihm nachrufen: „Wenn Unordnungen stattfinden, so tragen Sie davon die Verantwortung." Der Sekretär des Chihhüen flüsterte dem Konsul zu, er möchte ihn, den Sekretär, nicht in die Sache verwickeln. Am selben Tage (den 19.) wurde Doktor Frazer, als er aus dem Hause der Schwestern trat, von einem Pöbel-Haufen überfallen. Der Schnelligkeit feines Pferdes verdankte er die Rettung. Im Spitale befand sich ein schwerkranker Kapitän der englischen Handelsmarine. Ungeachtet seines leidenden Zustandes, ließ ihn die Oberin nach den Koncessionen bringen, damit er nicht, wie sie bereits voraussah, das den Klosterfrauen bevorstehende Loos zu theilen hätte. Seit mehreren Tagen befand sich General Chcn-kwo-shuai in Tien-tsin. Seine Ankunft hatte das Signal zu größerer Aufregung gegeben. In den Gassen vermehrten sich die aufreizenden Maueranschläge welche um Rache schrien für die Opfer der Kindermörder und Menschenräuber. Der Komftrador eines europäischen Residenten hörte, als er an einem Volkshaufen vorüberging, wie man flüsterte: „Bringen wir die Fremden um", worauf Andere entgeg-neten: „Nur rasch, jetzt ist hiezu die beste Zeit, da kein fremdes Kriegsschiff im Flusse liegt." 152 Am 3<>. Juni fand ein bedeutender Volksauflauf am Quai statt. Einige Burschen erfrechten sich Steine gegen das Konsulat und das Missionshaus zu schleudern. Gegen Abend zerstreute sich die Menge. Chung war von Herrn Fontanier von seinem Auf' tritte mit dem Chih-Hüen verständigt worden. Er begab sich nun nach dem Konsulat, entschuldigte den Stadtmagistrat ziemlich lau, tadelte ihn sogar im Laufe des Gespräches und beklagte sich über das geringe Entgegenkommen welches er bei den Provinzial- und den städtischen Behörden finde. Umsonst habe er sich bemüht dic verleumderischen Gerüchte welche man gegen die Missionäre ausstreue zu widerlegen. Am Ende habe er nachgeben müssen. Werde er ja doch schon wieder der rechte Arm der Europäer genannt. Während die Vertreter China's und Frankreichs artige Redensarten wechselten, der eine um seine Verlegenheit zu bemänteln und sich wohl hütend den Ernst der Lage einzugestehen, der andere immer noch in unbegreiflicher Verblendung befangen, überließen sich die Missionäre und Klosterfrauen keinen täuschenden Hoffnungen. Sie wußten daß die Stunde des Martyrertodes für sie ehestens schlagen werde. Herr Coutries, einer der wenigen Residenten der chinesischen Stadt, hatte den Pater Chevrier unter Tages begegnet. „Kommen Sie morgen zur Messe", 183 sagte ihm dieser. „Es ist Zeit sich auf den Tod vorzubereiten." Um selben Abend trafen Herr Thomasfin, Dollmetsch der französischen Gesandtschaft in Peking, und seine junge Frau ein und stiegen im Konsulate ab. Sie kamen aus Europa, widerstanden den dringenden Ginladungen durch Welche man sie in der Koncession zurückhalten wollte, und zogen vor die Nacht in der chinesischen Stadt zuzubringen um sodann am folgenden Tage früh Morgens nach Peking aufzubrechen. Sie wußten daß sie im Konsulat gastfreundliche Aufnahme, sie ahnten nicht daß sie dort den Tod finden würden. In den Koncessionen herrschte Bestürzung. Die Residenten zitterten nicht nur für ihre in der chinesischen Stadt ansässigen Landsleute, sondern auch für ihr eigenes Leben. Eine Deputation von angesehenen Gliedern der Faktorei, darunter Doktor Frazer, begaben sich zum englischen Konsul und baten ihn die schleunige Sendung eines Kriegsschiffes von Che-fu zu veranlassen. Herr Lay, wahrscheinlich um die Befürchtungen der europäischen Gemeinde nicht zu steigern, stellte sich als ob er sie nicht theilte. In der That hatte er bereits am Morgen (20. Juni) an Chung geschrieben. In seinem Briefe bittet er ihn dem Volke Artigkeit gegen die Fremden anzuempfehlen. Der Angriff auf Doktor Frazer gab ihm zu einem zweiten Schreiben 164 an Chung Anlaßt): es wurde am nächsten Morgen, wenige Stunden vor der Katastrophe, an Letzteren abgefertigt und hat wahrscheinlich seine Bestimmung niemals erreicht. Am 20. Juni berichtete er an Herrn Wade: „Wir bedürfen eines Kriegsschiffes; wenn keines anwesend ist, nehmen ähnliche Unruhen immer größere Verhältnisse an.. . Daß die Chinesen gegen die Fremden sehr feindselig gestimmt sind, unterliegt keinem Zweifel. Das Feuer glimmte unter der Asche: jetzt ist es ausgebrochen." Er wundere sich über die Nnthätigkeit Fontaniers mit Beziehung auf die Schwestern. — In der That, man fragte sich warum er sie nicht nach der Koncession schicke. War es nicht mehr möglich sie bei hellem Tage aus dem Kloster zu schaffen, so könne man sie ja doch Nachts entfernen. Aber Herr Fontanier blieb unthätig, weil er eben an die Gefahr nicht glaubte. Am Tage des Blutbades selbst schrieb Her Lay an Herrn Wade**): «Eine unangenehme Pflicht nöthigt mich Ihnen zu berichten daß die hiesige Lage äußerst unbe» friedigend ist. Seit einiger Zeit drohen die Chinesen die Fremden umzubringen oder von Tien-tsin zu verjagen. In den letzten Tagen wuchs die Aufregung. Die Chinesen machen Miene die katholische Kirche und das französische ") Blue Boot. Herr Lay an Herrn Wade. S. 19. 32. "*) Vlue Vook. Herr Lay an Herrn Wade. S. 21. 185 Konsulat in Brand zu stecken und die Fremden zu todten.. . Ich glaube nicht daß wirkliche Todesgefahr vorhanden sei; aber ich fürchte für das Eigenthum; unsere Magazine sind mit Waaren gefüllt. Alle Tage laufen Berichte ein welche unsere Vertreibung oder Ermordung voraussagen. ..." Er schrieb also nach Che-fu um die Rückkehr des Kanonenbootes zu beschleunigen. Klarsehender als sein ganz verblendeter franzosischer Kollege, erkennt er die Gefahr, aber er ermißt nicht ihre ganze Tragweite. Der Gong rief in der chinesischen Stadt die Mörder bereits an das Werk, als er vorstehende Zeilen schrieb. Und nun sind wir bei dem Unglückstage, bei dem 21. Juni angelangt. Dem frommen Rathe Pater Chevrier's Folge leistend, war Coutries früh Morgens in die Kathedrale gegangen um die Sechs-Uhr-Messe zu hören. Die Kirche war überfüllt. Eine Menge Eingeborener, welche glaubten ihre letzte Stunde habe geschlagen, drängten sich um die Beichtstühle der beiden Priester. Um neun Uhr begannen Volkshaufen sich, in größeren Massen als am vorigen Tage, vor dem Missionshause und dem Konsulate zu sammeln. Mit Steinen und andern Gegenständen wurden die Fenster eingeworfen. Ein gewaltsamer Einbruch schien bevorstehend. Um zehn Uhr erschienen der Tao tai, der Chih-fu und der Chih hüen mit Wu lan-chcn und einem 186 zahlreichen Gefolge vor dem Missionshause. Sie wurden vom Pater Chevrier der selbst die Untersuchung verlangt hatte, empfangen, in allen Räumen umhergeführt, verhörten die Dienerschaft und gestanden nichts Verdächtiges gesehen zu haben. Mit den beiden Missionären und den Dienern konfrontirt, erkannte Wu weder die Personen die er angeklagt noch die Oertlichkeiten die er genannt hatte. Sichtlich verdrießlich und unter ironischem Gelächter des Pöbels, zogen die beiden Mandarine ab. Das Volk zu beschwichtigen und zu zerstreuen machten sie nicht den geringsten Versuch. Sie bestiegen ihre Sänften indem sie sagten sie würden über die Sache an Chung berichten. Letzterer hatte bereits Pater Chevrier zu sich beschieden, und dieser sich beeilt dem Rufe zu folgen. Der Ober-Kommissar versicherte ihn daß er den verleumderischen Gerüchten keinen Glauben schenke. Doch halte er für gerathen jeden Grund des Argwohns zu beseitigen; darum bäte er ihn in Zukunft den Namen, den Geburtsort und, vorkommenden Falls, das Ableben der Kinder welche die Väter oder die Schwestern in ihre Orphelinate aufgenommen hätten, der Behörde anzuzeigen. Pater Chevrier gab die gewünschte Zusage und eilte nach Hause. Mittlerweile hatte sich die Lage bedeutend verschlimmert. Es wurde wieder unter Gcbrülle mit Steinen nach der Kirche geworfen, und das Aeußerste schien zu befürchten. Männer 187 aus dem Korps der Feuerlöscher hatten sich unter das Volk gemischt. Ihre Anwesenheit war von übler Vorbedeutung. Als Pater Chevrier zurückkam fand er alle Fensterscheiben der Kirche und des Hauses zertrümmert. Demungeachtet setzte er sich zu Tische und gab sich den Anschein zu essen; er wollte die Christen beruhigen indem er ihnen das Beispiel des Muthes gab. Da der Tumult zunahm, zeigte er sich dem Pöbclhaufen und forderte ihn auf in das Haus zu treten um sich durch den Augenschein von der Falschheit der gegen die Missionäre erhobenen Anklagen zu überzeugen. Zugleich ließ er die Thore öffnen. Es war damals ein Uhr Nachmittags. Die Menge stürzte in den Hof, zog sich dann aber, wie von plötzlichem Schreck ergriffen, wieder auf die Gasse zurück: aber bald beruhigt, drang sie nochmals ein. Pater Chevrier dachte sein letzter Augenblick sei gekommen. Da er von dem Konsul keinen Beistand zu erwarten hatte, so wandte er sich noch einmal an Chung-hou. Er sandte ihm durch seinen Diener*) seine Visitenkarte — Visitenkarten spielen in China eine große Rolle —, ließ ihm die Gefahren der Lage auseinandersetzen und bat um gewaffneten Schutz. Nachdem dies in Eile geschehen war, floh er mit dem *) Denselben den ich während meines Aufenthaltes in Tien-tsin befragte. Siehe oben. 13« chinesischen Pater Ou in die Kirche wo sie sich mit vier einheimischen Christen verbarrikadirten. ! Er hörte hier die Beichte des Pater Ou, und dieser erwies ihm denselben Dienst. Da fielen die Kirchenthore unter den Schlägen des Mörderhaufens. Die beiden Priester entwichen in die Sakristei wo wir sie vorerst lassen wollen um zu sehen wie es dem Konsul erging. Es wurde gesagt das; das Konsulat und das Missionshaus, nur durch eine niedere Mauer von einander getrennt, am Quai lagen, wenn man dem zwischen dem Flusse und den Häusern hinziehenden offenen Naume diesen Namen geben kann. Wie in allen europäischen Wohnungen in China, lief längs der Fassade des Konsulats eine Veranda hin. Dort saßen, vom Lärm angezogen, Herr Fontanier und seine beiden Gäste, Herr und Frau Thomassin, den ersten Vorbereitungen zum Angriffe gegen sie ruhig zusehend. Der Konsul hatte seinen Literaten*) und den Kanzler Simon zu Chung gesandt. Auch er verlangte Soldaten. Während seine beiden Beamten sich nach dem Aamen des Oberkommissars durchzuschleichen suchten, schrieb er an Grafm Rochechouart, den franzosischen ") Bei jeden: Konsulat ist ein Literat für die Korrespondenz mit den Lokalbehörden angestellt. 189 Geschäftsträger in Peking, nachstehenden Brief den er durch Herrn Thomassin zu befördern gedachte.*): „Unsere kleine, gewöhnlich so ruhige Stadt Tien-tsin wird seit einigen Tagen durch Lärm und Volksaufläufe vor dem Schwesterhause und dem Konsulate in Unruhc versetzt." Hierauf erzählt er die Besuche des Taotai und Ch^ng-Hou's, sowie seinen Auftritt mit dem (5hih-hüen „ein kleiner Zwischenfall, der ohne Chung-Hou's Dazwischen-kunft eine üble Wendung nehmen konnte, nun aber beigelegt ist. Chung-Hon versprach mir auch in einigen Tagen zur Beruhigung der Gemüther eine kleine Proklamation zu erlassen." Man glaubt zu träumen, wenn man diese um zehn Uhr Morgens geschriebenen Worte liest. Der Lärm welcher die „kleine" Stadt in ihrer Ruhe stört: die kleine Stadt zählt mindestens sechs- bis siebenhunderttausend Einwohner! Der „kleine" Zwischenfall, das heißt seine Entzweiungen mit dem einflußreichsten Mandarine der Stadt der schon seinen Untergang vorbereitet! Die „kleine" Proklamation welche Chung-Hou verspricht zur Beruhigung der Gemüther „in einigen Tagen" zu erlassen. Ach, Herr Fontanier, ahnen Sie denn nicht daß Sie in wenigen Stunden ein entstellter Leichnam sein werden? *) Blue Vook. Hcrr Fontanier an Grafen Nochechouart. S. 20. 190 Chung sandte einige Polizeiagenten. „Was", rief Fontanier zornig aus, „ich verlangte Soldaten und cr schickt mir Polizeidiener!" Er stieg in die Gasse hinab und befahl ihnen sich zurückzuziehen. In der That vermochten sie nicht nur nicht die Menge zu zerstreuen, sondern sie wurden selbst mißhandelt und zur Flucht genöthigt. Einer entkam, sehr übel zugerichtet und mit genauer Noth, auf der Fähre nach dem jenseitigen Ufer. Der Konsulatsbote wollte den Pöbe! am Schreien verhindern: er wurde geprügelt und durch den Koch mit Mühe gerettet. In diesem Augenblick bemerkte Hcrr Eoutries, der unter dem Thore des Konsulates stand, daß jenseits des Pei-Ho ein reich gekleideter Chinese mit einem zahlreichen Gefolge erschien. Die Menge begrüßte ihn mit Freudengeschrei. Er sprach einige Zeit mit den Nächststehenden und zog sich zurück, nachdem er mit der Hand nach dem Konsulate und dem, damals leerstehenden, Iesuitengebäude gewiesen hatte. Alsbald begann das Geschrei vermischt mit dem dumpfen Dröhnen der Gong. Zugleich wurden gegen das bisher verschont gebliebene Haus der Gesellschaft Jesu Steine geschleudert. Herr Fontanier hatte vergebens auf die von Chung verlangte Militärhilfe gewartet: jetzt beschloß er sie selbst zu holen. Unerachtet der flehentlichen Vorstellungen seiner Diener, verließ er mit einem Revolver bewaffnet und be- 191 gleitet von dem Kanzler Simon, der einen Säbel umgegürtet hatte, das Konsulat durch eine Hinterthüre und suchte durch Nebengassen die wenig entfernte Wohnung des Oberkommissars zu erreichen. Herr Coutries der eine Flinte trug und ein chinesischer Diener*) des Konsuls, beide für sein Leben fürchtend, liefen ihm nach in der Hoffnung ihn unter Neges einzuholen. Es wurde erzählt daß Pater Chevrier einen Mann seines Vertrauens mit seiner Visitenkarte und einem mündlichen Auftrage zu Chung geschickt hatte. Auch dieser Vote suchte durch die kleinen Gassen nach dem Aamen zu schleichen. Aber mit Steinwürfen empfangen, wahrscheinlich eingeschüchtert und unvermögend durch die Volksmasse zu dringen, war er umgekehrt als er den Konsul mit dem Kanzler erblickte. Ersterer hielt mit der einen Hand einen Chinesen beim Zopfe, mit der andern schwang er seine Pistole. Der Chinese war ein Mandarin niederen Ranges, einer der von Chung zur Wiederherstellung der Nuhc entsendeten Polizei-Agenten. Herr Fontanier, in einem Anfalle äußerster Wuth, überhäufte den Mann mit Schmähungen. „Nie", rief er, „Du, ein Mandarin, Du der nichts über das Volk vermag, Du wagst einen Knopf an Derselbe den ich in Tien-tsin befragte. 192 deinem Hute zu tragen! Komm mit mir Zu Chung-Hou!" Diese Worte liefen von Mund zu Munde und steigerten die Erbitterung des Volkes. Von allen Seiten hörte man rufen: „Er tödtet einen Mandarin!" Vor dem Mmen angekommen, fand man das Thor geschlossen. Mit einem Fußtritt stieß es der Konsul ein und, immer von Simon begleitet und den Chinesen am Zopfe mitschleppend, drang er bis in den zweiten Hof. Sein Diener (der wie erwähnt mit Herrn Coutries dem Konsul gefolgt war und mit ihm in den Damen drang) — sein Diener wurde zu Vodcn geworfen und erhielt mehrere Lanzenstöße. Mit Noth gelang es einem der Sekretäre Chungs ihn zu retten. Cou-tries verdankte sein Leben der Dazwischenkunft eines befreundeten Unterbeamten der ihn in einem dunklen Raum verbarg: am nächsten Morgen ließ ihn Chung nach den Koncessionen führen. Coutries will seinen Beschützer, den kleinen Mandarin, haben sagen hören: „ Er ist nicht Franzose, er ist ein Engländer." Der Diener des Missionshauses, schwer verwundet und seiner Vorderzähne verlustig, entkam gleichfalls. Was hat sich bei der Zusammenkunft des Konsuls mit dem Ober-Kommissar zugetragen? Niemand weiß es. Man müßte denn die wenig glaubwürdige Darstellung Chung-Hou's als wahrheitsgetreu annehmen. Hier folgen wortgetreu die Auskünfte die er, noch am Tage des Blut- 193 bades, an das Tsungli-yamen berichtet hat.*) „Nachdem ich den Pater Chevrier entlassen hatte, beschäftigte ich mich, um den Argwohn des Volkes zu beschwichtigen und die Fremden zu beruhigen, mit der Abfassung eincr Proklamation die ich sofort anschlagen lassen wollte, als mir gegen zwei Uhr gemeldet wurde daß es zwischen einigen Leuten der Kathedrale (der Mission) und einem Haufen Neugieriger die sich vor der Kirche versammelt hatten zu Naufhändeln gekommen sei. Ich hatte eben einen Beamten dahiu abgesandt mit dem Befehle die Nuhe herzustellen, als ich erfuhr daß Herr Fontanier in das Uamen gekommen sei. Ich ging ihm entgegen. Der Konsul befand sich im Zustande der äußersten Aufregung und trug zwei Pistolen im Gürtel. Ein Fremder der ihn begleitete war mit einem Säbel bewaffnet. Beide stürzten auf mich los, und Herr Fontanier begann, als er neben mir stand, sich der unpassendsten Ausdrücke zu bedienen, zog dann eine Pistole aus dem Gürtel und feuerte sie in meiner Gegenwart ab. Glücklicher Weise wurde Niemand getroffen und Herr Fontanier festgenommen. Da es unter meiner Würde war mit ihm handgemein zu werden, zog ich mich zurück. Herr Fontanier ging hierauf in den Saal wo er fortwährend lärmend die Tassen und sonstige auf dem Tische "°) Blue Book. Chung-Hou an das Mmen der auswärtigen Angelegenheiten. Hübner, Epaziergcmg III, 1A 194 befindliche Gegenstände zertrümmerte. Ich begab mich neuerdings zu ihm und sagte ihm daß die (vor dem Namen versammelte) Menge eine drohende Haltung annehme; daß die ganze Feuerbrigade ausgerückt sei, offenbar in der Absicht den Pöbel zu unterstützen: daß ich Unruhen befürchtete und ihn daher ersuchte bei mir zu bleiben. Er aber, der Lebensgefahr in der er sich befand nicht achtend, stürzte aus dem Iamen. Ich schickte ihm einige Leute nach mit dem Auftrage ihn einzuholen und nach Hause zu begleiten." Dies ist die Darstellung der einen der beiden Personen; die andere ereilte der Tod wenige Minuten nach der Unterredung. Man hätte sich also an Chung's Version zu halten. Aber abgesehen von den Lügen welche dieser hochgestellte Mann nicht erröthete über den Tod des Konsuls vorzubringen, und die er später gezwungen wurde zurückzunehmen, ist die Erzählung welche man so eben las nur annehmbar unter der Voraussetzung daß sich Fontanier in einem gänzlich unzurechnungsfähigen Zustande befunden habe. Im Innern des Iamen, in Gegenwart des großen Mandarins, wenn nicht auf ihn, schießen war barer Wahnsinn. Ohne allen Zweifel wäre der Konsul von den Soldaten die im Hofe standen sofort in Stücke gerissen worden ohne daß Chung-Hou, selbst wenn er gewollt, ihn zu retten ykrmochte. Dagegen ließe sich allerdings anführen daß 195 Fontamer, wie man sogleich sehen wird, am Rückwege nach dem Konsulat einem Betrunkenen glich.*) Aber wenn außer sich beim Anblicke des bewaffneten Gesindels das ihn umtobt, wenn aufgebracht über Chung's Feigheit, über den kaum verhüllten Verrath der städtischen Behörden, der unglückliche Mann den Kopf verlor, so war er doch nicht taub für die Stimme seines muthigen und treuen Herzens. Sein Platz war am Konsulat. Er hatte die Missionäre zu schützen, seine Nachbarn; das Ehepaar Tho-massin, seine Gäste. Er wußte, er mußte jetzt wissen, daß er dem Tode entgegen ging, daß wenn er Chung's Anerbieten bei ihm zu bleiben annahm er sich wahrscheinlich rettete: aber er wies es ohne Zögern zurück, und von seinem Kanzler gefolgt stürzte er aus dem Iamen. Zwölf niedere Mandarine^) begleiteten ihn zu Fuß; der Chih-hüen, zuerst in seiner Sänfte die er bald verließ, hielt sich an seiner Seite. ^) Die Aussagen sämmtlicher Augenzeugen, meist chinesischer Christen welche Patcr Favier verhörte, stimmen hierin übcrem. Der Diener Fontanier's, von mir über den Pistolenschuß befragt, schwieg. Gleich nach den Ereignissen vernommen, hatte er ausgesagt den Pistolenschuß gehört zu haben. Später nahm « diese Angabc zurück, Herr Coutries und der, gleichfalls von mir befragte, Diener des P. Chevrier erklären keine Detonation gehört zu haben. ^) Einer dieser Beamten ist der Mandarin von dem ich mir die Vorgänge deren Zeuge er war erzählen Uetz. 13* i:>6 Fontanier lvar kaum aus dein Jalnen getreten, als er einen Lanzenstich erhielt. Es war seine erste Wunde. Heftig gestikulirend, taumelte er wie ein Betrunkener umher. Vielleicht in der Absicht ihn zu beruhigen und von Aeußerungen abzuhalten welche die Menge noch mehr reizen konnten, berührte ihn derChih-hüen mit der Hand, was Fontamer als eine Beleidigung auslegte: „Eleuder Chihhüen", rief er, „elender Mandarin! Du thust nichts um das Ge-sindel zurückzuweisen?" Der Mandarin schüttelte den Kopf und sagte: „Dies ist nicht meine Sache."*) Man war am Quai angekommen in welchen mehrere Gäftchen ausmünden die jetzt mit Pikenträgern angefüllt waren. Sie stürzten auf die beiden Europäer. Herr Fontanier gab Feuer ohne zu treffen; dann wandte er sich gegen den Chih-Hüen und drückte aus unmittelbarer Nähe seinen Revolver auf ihn ab. Dieser, ein kleiner dicker Mann, hatte gerade noch Zeit sich hinter seinen Diener zu verkriechen der den Schuß empfing und einige Tage später starb. Da rief die Menge: „Er tödtet uns. Er soll sterben, so wie Alle die uns hindern wollen ihu umzubringen." Als der Chih-Hüen und die ihn begleitenden Mandarine dies hörten ergriffen sie die Flucht. Dies fand statt vor der kleinen Pagode welche sich auf halbem Wege zwischen der *) Nach dc>! Aussagen der von Pater Favier verhörten Christen. 19? Schissbrücke und der Kirche befindet. Es war halb zwei Uhr. Die beiden Franzosen, zu Boden geworfen und von Lanzenstichen durchbohrt, raffen sich auf, dringen auf das Mordgesindel ein, brechen sich Bahn, erreichen das große Thor des Konsulates, sinken dort zusammen und geben den Geist auf. In demselben Augenblicke erscheinen die Patres Chevrier und Ou, welche in der Sakristei entdeckt worden waren, von einer Bande verfolgt am Fenster, springen über die Mauer in den Hof des Konsulats und suchen sich in einem kleinen von künstlichen Felsen und Muschelwerk gebildeten Kiosk zu verbergen. Aber die Morder des Konsuls und des Kanzlers gewahren und erschlagen sie. Diese Unglücklichen fielen nicht die ersten Opfer. Herr und Frau Thomassin waren, wie sich der Leser erinnern wird, im Konsulate geblieben. Von Schreck ergriffen suchen sie sich auf das Pei-Ho-Boot zu retten das ihrer in geringer Entfernung harrte um sie nach Peking zu bringen. Thomassin mit einer Pistole und einem chinesischen Säbel bewaffnet, seine Frau aus seinen Arm gestützt, treten auf die Strahe. Von einem Stemwurf getroffen begeht der junge Mann die Unvorsichtigkeit auf die Menge zu schießen. Augenblicklich wird er in Stücke gehauen und seine Frau durch einen Hieb mit einem Beile in den Nacken geto'dtet.^) *) Durch die Autopsie bestätigt. 198 Ihre Leichen wurden entkleidet in den Fluß geworfen und am zweiten Tage bei der Koncession aufgefischt. Nachdem dies erste Verbrechen vollbracht war, stürzte sich das Gesinde! auf das Konsulatsgebäude und begann es zu zerstören. Als der Chih-Hüen den Konsul tödtlich getroffen neben dem Kanzler am Boden liegen sah, ergriff ihn Bangen. Er lief zu Chung: „Ein entsetzliches Unglück", sagte er ihm, „hat stattgefunden. Der Konsul ist todt. Ich zähle auf Euch; rettet mich! — „Wie soll ich Euch retten", antwortete der Ober-Kommissar. „Es wird kein Leichtes sein, mich selbst zu retten. Ihr seid der Vorstand der städtischen Behörde. Eure Pflicht war das Volk zu beschwichtigen. Aber statt sie zu erfüllen, habt ihr die Ruhestörer begünstigt. Nun da der Konsul todt ist, sucht wenigstens die übrigen Europäer zu beschützen und die Plünderung zu verhindern.""') Hierauf zog er sein Amtsgewand aus, schritt aus dem Yamen und, sich vorsichtig in der Nähe des Thores haltend, betrachtete er schweigend das grauenhafte Schauspiel: die Kathedrale, das Missionshaus, das Konsulat standen in Flammen. *) Dies merkwürdige Zwiegespräch scheint mir zu jenen Dingen zu gehören die nicht erfunden werden. Der oben erwähnte Mandarin erzählte es mir. Er behauptet dabei gewesen zu sein. 199 Der Leser erinnert sich daß der am wenigsten achtbare Theil der Bevölkerung Tien-tsins am nördlichen Ufer wohnt; daß eine einzige Schiffbrücke dies Viertel mit der inneren Stadt und den großen Vorstädten am rechten Pei-Ho-Ufer verbindet, und daß die Kirche, das Kloster, das Spital und das Waisenhaus der Schwestern sich in einer dieser Vorstädte befanden. Er hat auch nicht vergessen daß die Brüderschaften der Feuerlöscher auf beiden Ufern mit dem Gesindel symftathisirten welches, von unsichtbaren Handen geleitet, vom General Chen-kwo-shuai offen, von dem Militär-Mandarin des Distriktes insgeheim begünstigt, mit Ungeduld das Zeichen zum Losbruch erwartete. Gegen Mittag wurde es ertheilt. Da rief, auf fünf verschiedenen Punkten, der Gong die Feuerlöscher und die ehemaligen Freiwilligen unter die Waffen. Es verstand sich von selbst, die geringste Voraussicht gebot es, daß der Verkehr zwischen beiden Ufern vom frühen Morgen an unterbrochen werden mußte. Es war dies ein sicheres Mittel die Vereinigung der Ruhestörer zu verhindern. Man brauchte nur die Schiffbrücke zu öffnen und die sie bildenden Boote zu entfernen. Erst nach Ermordung des Konsuls gab Chung diesen Befehl. Man war eben mit der Vollziehung des« selben beschäftigt, als General Chcn-kwo-shuai am Quai erschien und über die Brücke zu gehen verlangte. In Anbetracht seines hohen Ranges wurde ihm dies gestattet. 200 Er überschritt also die Brücke, und mit ihm eine Horde von Mördern. Am linken Ufer war das Nerk vollbracht, die Europäer waren getödtet, die Kirche und die Häuser verbrannt. Jetzt zu den Schwestern! Seit ungefähr einer Woche hielten sich die Klosterfrauen für verloren. Die Oberin betrachtete, wie bereits erwähnt, die Lage für so gefahrvoll daß sie einen schwerkranken Engländer aus dem Hospital entfernen und nach der Faktorei schaffen ließ. Doktor Frazer, der gute Sa-maritancr, der täglich, Zuweilen zweimal des Tages, die Kranken im Spital der Schwestern besuchte, war als er es das letzte Mal verließ beinahe getödtet worden und seither nicht wiedergekommen. Der Verkehr mit den beiden Priestern war unterbrochen. Die Schwestern wagten nicht mehr sich in den Gassen zu zeigen. Seit drei Tagen umstand eine tobende Volksmasse das Kloster vom Morgen zum Abend. Dennoch war die Flucht noch möglich. Während der Nacht hätten die Klosterfrauen ihr Haus verlassen und die Faktorei erreichen können. Aber was wäre aus ihren Waisen und Kranken geworden? Von aller menschlichen Hilfe abgeschnitten, umringt von einer feindseligen jeder Schreckensthat fähigen Volksmenge, beschlossen diese frommen und muthigen Frauen ihre Pflicht zu erfüllen bis zu Ende. 201 Ich gebe hier ihre Namen: die Oberin Schwester Maria Theresia Marguet aus Belgien, sechsundvierzig Jahr; die Schwestern Marie Seraphine Clavelin aus Frankreich, achtundvierzig Jahre; Marie Pauline Viollet aus Frankreich, neununddreißig Jahre: Marie Anna Pavillon aus Frankreich, siebenundvicrzig Jahre; Amalie Karoline Legras aus Frankreich, sechsunddreißig Jahre: Adelaide Marie-Angelica Lenu aus Frankreich, achtunddreißig Jahre: Marie Clorinda Andreoni aus Toskana, vierunddreißig Jahre; Alice O'Sullivan aus Irland, vier-unddreiftig Jahre; Marie Josephine Adam aus Belgien, vierutiddreiftig Jahre und Marie Anna Noemi Tillek aus Frankreich, vierundvierzig Jahre alt. Im Orphelinat befanden sich an hundert Kinder. Gegen halb drei Uhr erschienen unter Trommelschlag und Böllerschüssen, mit dem Rufe: Tod den Franzosen, Tod den Fremden, starke Voltshaufen vor dem Kloster. Es wurde in Brand gesteckt und das Thor sofort eingeschlagen. Da trat die Oberin den Elenden entgegen. Sie wurde mit Lanzenstichen durchbohrt und in Stücke gehauen. Die andern Nonnen suchten sich in dem Kellerraume der Kirche, im Garten, in der Apotheke zu verstecken, wurden aber binnen wenigen Minuten ergriffen und niederge- 202 metzelt. Die Wuth der Mörder läftt hoffen, dcch die Schwestern nicht lange zu leiden hatten.*) Die Leichen wurden zerrissen und in den Fluß geworfen. Einige geröstete Stücke Fleisch und ein Häufchen Verkohlter Knochen, die man im Hofe des Spitals fand, waren Alles was von den frommen und guten Schwestern übrig blieb.") Der Taotai schickte diese Neste an den englischen Konsul. Doktor Frazer lag die schmerzliche Pflicht ob die spärlichen Ueberbleibsel seiner Freundinnen zu sichten. Er vermochte damit kaum fünf Körper zusammenzusetzen. Man kann das Verschwinden der Leichen nicht wohl durch die Verkohlung erklären, denn in diesem Falle *) Dies ist die Meinung des Pater Favier. Meiner Feder widerstrebt die Einzelnheiten zu geben welche die amtlichen Berichte des Herrn Lay, Vlue Book S. 24 und 28, andeuten, Die sorgfältigen Nachforschungen, welche sowohl von dem Apostolischen Vikariat in Peking als von den Konsularbchördcn über den Tod der Nonnen veranstaltet wurden, haben zu keinem klaren Ergebnisse geführt; was sich übrigens dadurch erklärt daß die einheimischen Christen die Flucht ergriffen und die heidnischen Nachbarn der Schwestern, weil mehr oder minder in die Blutthat verwickelt, wenig geneigt waren die an sie gestellten Fragen zu beantworten, am wenigsten die Wahrheit zu sagen. "") 1?ii6 piouL unä AoocMgtLlg of Ner«^, ucimt sie George Thin U. v. Vicevräsident des NortkOIlwa dmuok der koM agiatio »oeißt^. Mehrere englische 3iesidenten, Protestanten, welche diese Klosterfrauen persönlich kannten und Zeuge ihres Wirkens waren, sprachen mir von ihnen mit Thränen in den Augen und erklärten sie für Heilige. 203 Würde man immerhin einige Knochen gefunden haben. Wahrscheinlich wnrden die abhandengekommenen Theile der Körper als Talisman unter das Volk vertheilt. So erzählte eines der Waisenkinder daß cin Mann es mit der abgeschnittenen Hand einer Klosterfrau in das Gesicht schlug indem er ihm sagte: „Dies ist Deine Mutter die Dich züchtigt." (Die Kinder pflegten die Nonnen Mutter zu nennen.) Gin im Blue Book^) citirtcr Zeuge sagte aus daß hundert Kinder des Orphelinats im Keller erstickt worden seien. Diese Angabe hat sich glücklicher Weise nicht bestätigt. Die Kinder hatten sich in ihrem Schrecken überall versteckt. Sie wurden entdeckt, eingezogen und einem Verhör unterworfen. Obgleich sie deshalb viel zu leiden hatten, weigerten sie sich standhaft zum Nachtheile der Schwestern auszusagen. Sechs Wochen später wurden sie von den chinesischen Behörden einem zu diesem Zwecke von Peking gekommenen Missionäre übergeben. Mehrere eingeborene Christen kamen in der Nähe des Klosters um das Leben. Die andern,"wie wilde Thiere gehetzt, zerstreuten sich in alle Richtungen, suchten sich bei Freunden zu verbergen oder Nachts aus der Stadt zu entkommen. Eine Christin wurde in den Fluß geworfen und dann wieder herausgezogen, nachdem sie versprochen hatte "1 S. 75. 204 gegen die Schwestern auszusagen, nämlich zu erklären daß sie von ihnen behert worden sei. Sie wurde nach dem Damen gebracht um dort ein Verhör zu bestehend) Gin merkwürdiges Faktum weil es wie so viel Anderes darthut daß die Mörder mit Methode vorgingen, und ihre Leiter, wer sie auch waren, sich für alle Fälle mir schriftlichen Beweisstücken versehen wollten. Herr von Chalmaison, ein in der chinesischen Stadt ansässiger Kaufmann, wurde ermordet als er aus seinem Hause trat. Eine unter demselben Dache lebende Französin lief in einem Gäßchen umher und wurde von einem Weibe aufgenommen und versteckt. Nachts begab sie sich als Chinesin verkleidet in ihre Wohnung, fand sie verlassen und wollte daher nach ihrem Zufluchtsorte zurückkehren. Sie konnte ihn nicht wieder finden, klopfte an eine unrechte Thüre, wurde an ihrer Aussprache als Fremde erkannt und sofort niedergemacht. Ein in demselben Stadtviertel lebender Engländer verdankte die Rettung seinem Komprador. Dieser versteckte ihn am Dache zwischen zwei Rauchfängen, verfchloß sodann Thüre und Fenster und bot, seine Pfeife rauchend, den vorüberziehenden Horden die Schlüssel des Hauses in- *) Blue Vook. Aussage eines Emgebornen. ,205 dem er ihnen sagte, sein Herr habe sich nach dcr Faktorei geflüchtet. Die beiden Schweizer Kaufleute Vorel entgingen dem Tode wie durch ein Wunder. Von Mittag bis zum Abend waren sie in ihrem Hause belagert. Immer wieder erschienen Pöbelhaufen, aber immer ließen sie sich durch die Nitten des Kompradors zum Abzüge bewegen. Während der Nacht sandte Chung die zwei Herren nach der brittischen Koncession. Ein Herr Bassow und ein erst seit einigen Tagen verheirathetes junges Ehepaar, Herr Protoftopoff^) und seine Frau, eine Schwester der Frau Starzoff, alle drei in der Faktorei angesiedelt, hatten sich Morgens nach der chinesischen Stadt begeben um bei Landsleutcn welche dort wohnten zu frühstücken. Ungeachtet der Zusammenrottungen des Volkes denen sie keine Bedeutung beilegten, gingen die Freunde gegen Mittag zu Tische als ein chinesischer Diener mit der Nachricht in das Zimmer stürzte: ,'Die Kirche werde in den Fluß geworfen." Nun schien es rathsam so rasch als möglich nach den Koncessionen zurückzukehren. Da die Brücke mit Menschen überfüllt war, wurde der Weg am linken Ufer des Pei-Ho eingeschlagen oder, wie man es hier nennt, auf der Salzscite, He-doune. Das ^) Vlue Vook S. 105—139 und nach dcn mündlichm Mittheilungen des Herrn Starzoff. I06 junge Paar und Herr Bassow bedienten sich der Tragstühle in denen sie am Morgen gekommen waren. Die drei andern Russen folgten ihnen zu Fuß, begegneten aber einem Trupp Bewaffneter und flüchteten in ein Schilderhaus. Sie wurden einem Verhör unterworfen und, nachdem sie ihre russische Nationalität dargethan hatten, nach ihrem Hong zurückgeführt. Mittlerweile ließen sich Herr und Frau Protopopoff und ihr Freund so rasch als möglich durch das nördliche Stadtviertel tragen, als sie mit dem Geschrei: Fremde, Fremde, tödtet, tödtet, von einer Mörderbande überfallen wurden. Sie riefen: sie seien eine Franzosen, sie seien Engländer, und erhielten zur Antwort: „Gleichviel, alle Fremde müssen sterben!" Man ließ ihnen nicht Zeit aus ihren Sänften zu springen. Diese wurden zertrümmert: die beiden Männer welche die junge Frau zu vertheidigen suchten wurden mit ihr niedergesäbelt, die Leichen nackt ausgezogen, vergraben und in der Nacht in den Fluß geworfen. Vier protestantische (englische und amerikanische) Kapellen zerstört oder stark beschädigt. Um halb sechs Uhr Nachmittags hörte man allenthalben den Tam-Tam zum Rückzug trommeln. Die verschiedenen Löschbrigaden hatten ihr Werk vollbracht; in Reih und Glied geordnet, marschirten sie nach ihren Stadtvierteln zurück. Die Menge verlief sich. Der Lärm ver- 207 stummte. Ueber den Schauplatz der Greuelthat sanken die Schleier der Nacht. -!< Während in der chinesischen Stadt das Blut in Strömen floh, herrschten Verwirrung und Entsetzen in der Faktorei. Aller Vertheidigungsmittel, sogar der schwachen Hilfe eines Kanonenbootes beraubt, von dem Schauplätze der Mordscenen durch kein natürliches Hinderniß getrennt, hielten sich die Residenten für verloren. Einem starken Regengusse der gegen Abend fiel verdanken sie wahrscheinlich ihre Rettung. Inzwischen wurde in größter Eile ge-wassnet. Aber was vermochten diese hundert Männer auszurichten gegen die Tausende die, bluttrunken und mit Piken und Aexten bewaffnet, jeden Augenblick anstürmen konnten? Die englischen und amerikanischen Missionäre flohen mit Frau und Kindern an Bord eines Handels-steamers der im Pei-Ho lag.*) Früh am nächsten Morgen erschien Chung-Hou in den Koncessionen und verlangte die Konsuln zu sprechen. Er trug militärischen Schutz an. Herr Lay wies den Antrag mit der richtigen Bemerkung zurück daß die Soldaten mehr zu fürchten seien als das Volk. Den Besuch und Tod Fontanier's, so wie die Er- *) Jpcrr £at> melbet bie§ an £erru SHabe, unb süßt fu'nju: although this is against my wish as an appearance of danger, yet I have no power to stay them, ailue 33ool ©, 23, 208 eignisse des vergangenen Tages, erzählte Chung in seiner Weise. Der Konsul, sagte er, habe zweimal auf ihn geschossen und sei an seiner Seite getödtet worden. Er, Chung, habe den Körper in seinem Namen beigesetzt und werde ihn mit den sterblichen Nesten der übrigen Opfer nach den Koncessionen bringen lassen. Im Laufe des Tages liefen fortwährend die beunruhigendsten Nachrichten aus Ticn-tsin ein. Die Furcht vor einem Angriff verbreitete sich neuerdings. „Unsere Lage", schreibt Herr Lay an den Gesandten der Königin in Peking, „ist entsetzlich. Alle männlichen Bewohner der Gemeinde haben die Wache bezogen! aber wir sind numerisch zu schwach." Vor den Fenstern der Residenten schwammen die Leichen ihrer Freunde vorüber. Die erste die man aus dem Wasser zog war die des französischen Konsuls. Die von Chung erzählte Geschichte war ein Mährchen. Seine Exeellenz hatte einfach gelogen. Der Taotai sandte die Neste der Schwestern. Da die gesammte männliche Bevölkerung die Zugänge der Faktorei bewachte, und kein Chinese, selbst nicht die Kuli, für Geld und gute Worte zu bestimmen waren die Leichen zu berühren, so muhten der englische Konsul und sein Kanzler selbst Hand anlegen. Sie sammelten die zerrissenen Gliedmaßen und legten sie in Särge. Herr Lay hatte überdies die Frauen zu beruhi- 309 gen, die tausend Anfragen der Männer zu beantworten, die nöthigen Vorsichtsmaßregeln zu treffen, dabei aber sorgfältig Alles zu vermeiden was die ohnehin mit jedem Augenblick steigende Angst der Residenten vermehren konnte. In der chinesischen Stadt hatte sich die Aufregung nur wenig gelegt. Leute von einigem Besitz fürchteten Plünderungen des Pöbels und die Rache der Europäer. Sie flohen daher aus der Stadt. Die Kaufleute verwandelten ihre Baarvorräthe in Waaren, weil Räuber und Diebe Geld vorzugsweise suchen und leichter als umfangreiche Gegellstände mit sich forttragen. Die Literaten riefen und ließen rufen: Tod den Fremden! Herr Lay besorgte daß der französische Geschäftsträger mit unzureichenden Kräften den Versuch wagen könnte die Mörder zu züchtigen. „Wenn", schreibt er an Herrn Wade, „dergleichen mit Hilfe eines oder zweier Kanonenboote unternommen wird, so wird nicht Einer von uns den Versuch überleben, nicht Einer die Geschichte der Niederlage und der neuen Metzeleien erzählen können." Die Frauen und Kinder der Residenten ließ Herr Lay auf die zufällig anwesenden Kauffahrteischiffe bringen. In der chinesischen Stadt wurden Fächer und Kupferstiche verkauft welche das Ende Fontanier's und seines Kanzlers darstellten. Die chinesischen Behörden ließen diese scheußlichen Bilder konsisciren. Sie sind daher selten ge- Hübner, Epaziergang Hl. 14 210 worden. Ich besitze deren zwei die denselben Gegenstand in derselben Weist geben. Man sieht Chung's Iamen, in der Mitte die ziemlich getreu gezeichnete Kathedrale, das Haus der Lazaristen und das Konsulat, sämmtlich in Flammen. Der Konsul und sein Begleiter liegen am Boden; vier Mörder versetzen ihnen Hiebe mit Schwertern und Lanzen. Ein Mann kniet am Boden um seine Schuh: riemen zu binden; dabei hält er den Säbel im Munde und wendet den Kopf der Mordscene zu die ihn zu unterhalten scheint. Eine Art Hanswurst. In geringer Entfernung betrachtet ein Ober-Beamter, nach der Auslegung des Tien-tsiner Publikums der Chih-Hüen, neben seinem Tragsessel stehend und von einigen Mandarinen umgeben, die Ermordung der zwei Franzosen. Auf beiden Ufern kommen Pikenträger gelaufen. Andere rudern in einem Boote herbei. Neugierige sehen zu indem sie ihre Fächer bewegen. In der Ferne gewahrt man zwei Reiter, wahr« scheinlich General Chm-kwo-shuai und den Militär-Mandarin des Distriktes vorstellend. Beide Männer verdien-ten, durch ihr Benehmen, die Ehre in diesem Bilde verewigt zu werden. Die Zeichnung ist roh, aber die Darstellung lebendig: sie athmet Blut und wirkt auf die Einbildungskraft durch den schneidenden Gegensatz zwischen dem wilden Hasse der herbcistürzenden Mörder und der olympischen Ruhe der offiziellen Zuschauer. 211 Mittlerweile kamen englische Kanonenboote aus Che-flc und Shanghai an. Chung erließ eine Proklamation welche die Ruhe herstellte und dadurch zugleich den Beweis lieferte daß das Unglück verhindert werden tonnte, wenn die Mandarinen gewollt hätten. Später im Jahre, als der Winter nahte, erneuerten sich die Besorgnisse. Wie wird es den Bewohnern des Settlement ergehen nach der Abfahrt der Kanonenboote, die man natürlich nicht der Gefahr aussetzen tonnte, im Eise eingefroren, eine leichte Beute der Chinesen zu werden, und welche daher vor Gintritt des Frostes nach Che-fu zurückkehren mußten. Die englische Negierung hielt für zweckmäßig daß die Residenten während des Winters Tien-tsin verließen und war bereit ihnen hiebei behilflich zu sein. Auch in Peking wurde die Frage besprochen, ob das diplomatische Korps nicht besser thäte sich aus der Hauptstadt zu entfernen. Herr Wade erklärte sich aber, in Uebereinstimmung mit seinen Kollegen, gegen ähnliche Maßregeln welche ihm „nicht gerechtfertigt schienen, in den Faktoreien nicht gebilligt würden und dem Ansehen Englands in diesem Theile der Welt nur Eintrag thun könnten." Aber in Tien-tsin war die Lage abermals kritisch geworden. „Ich bin kein furchtsamer Mensch", schrieb Herr Lay an Herrn Wade, „und ich werde auf meinem Posten ausharren bis man mich verjagt. Wenn sie uns 14* 212 angreifen so werden sie, hoffentlich, gut empfangen werden; aber ich kann meine Frau und mein Kind nicht solchen Nechselfällen aussetzen, und wenn ich sie von hier entferne, so wird dies das Signal zu einer allgemeinen Flucht sein. Was soll ich also thun?" — „Nichts", war die Antwort des Herrn Wade. „Seit drei Monaten sind Sie fortwährend nu <^ii vlvo. Ihre Nerven sind angegriffen. Aber in Tien-tsin gibt es mehr Angst als Gefahr." Welche Lage! Der Konsul, bereit sein Leben zu geben aber für Frau und Kind zitternd; der Minister, der im Interesse des öffentlichen Wohles es auf sich nimmt ihn zu beruhigen! Wahrhaftig, der diplomatische und Konsulardienst in China sind keine Sinekuren. Ehre der Oftferwilligkeit, dem Muthe, der Kaltblütigkeit dieser würdigen Vertreter eines großen Landes! Uebrigens gaben die Thatsachen dem Gesandten Necht. Die Nuhe wurde nicht wieder gestört. Chung und der General-Gouverneur der Provinz, Tseng, der Letztere mit der Einleitung der Untersuchung betraut, wußten den Pöbel in Zaum zu halten und die wenigen Europäer zu schützen welche, auf der Reise nach oder von Peking begriffen, die Stadt Tien-tsin nicht umgehen konnten. Dies ist das große Trauerspiel von Tien-tsm. Betrachten wir nunmehr die pe^cmll« cimm^ti»! 213 Die Missionäre und die Klosterfrauen wurden beschuldigt die blutigen Angriffe als deren Opfer sie fielen durch ihre Unvorsichtigkeit und durch ihren blinden Eifer veranlaßt zu haben. Am Tage des Blutbades selbst, am 21. Juni Morgens, schreibt Herr Lay an Herrn Wade: „Die barmherzigen Schwestern haben die Dummheit begangen Kinder zu kaufen." ^) Der Beweis daß diese Angabe irrig war wurde geliefert, und Herr Wade, der ihr Anfangs Glauben beigemessen, bewährte auch diesmal die ihm von Freund und Gegner nachgerühmte Ehrenhaftigkeit indem er seinen Irrthum sogleich berichtigte.**) Eine Deputation englischer mit China in Handelsverkehr stehender Kaufleute der City erschien bei Lord Granville und überreichte ihm eine Denkschrift in der es heißt: «Die Gemeinde welcher die Schwestern angehören besteht seit dreihundert Jahren, und wir glauben zu wissen daß in die- *) „The sisters of charity have been very stupid in buying children and so on." SBhie 33oo! ©. 19. SDiefe , citirten Depesche. Z24 der Fremdenhaß im Allgemeinen zum Ausbruche Anlaß gegeben hätte." Wenn es in China Männer gibt deren Meinung über die Ereignisse des 21. Juni Bedeutung hat, so sind es, ich wiederhole es, Herr Wade und Herr Lay, und dennoch laufen, wie man eben sah, ihre Ansichten so weit auseinander. Wenn drei Nüssen verschont wurden weil Se ihre Nationalität nachweisen konnten, so wurden drei andere Nüssen niedergemacht obgleich sie den Mördern zuriefen: „Wir sind leine Franzosen, wir sind Engländer." s Besser hätten sie vielleicht gethan zu sagen: wir sind Nüssen.) Die beiden Thatsachen sind im Blue Book nachgewiesen und wurden mir durch Herrn Starzoff, den Schwager der ermordeten Dame, bestätigt. Endlich wird die Ansicht daß das Blutbad nur die theilweisc Verwirklichung eines weitgreifenden Planes gewesen und daß die Vertilgung aller Ausländer beabsichtigt War Von der ungeheuren Mehrzahl, ich möchte beinahe sagen, von der Gesammtheit der europäischen und amerikanischen Bewohner der offenen Häfen getheilt. Ich habe bereits von der Ehrenhaftigkeit dieser Klasse im Allgemeinen gesprochen, und Niemand wird mehreren unter den fremden Kaufleuten eine genaue Kenntniß der Verhältnisse in gewissen Gegenden China's absprechen wollen. Ihre Auffassung fällt daher gleichfalls in das Gewicht. 225 Eine dritte Version darf nicht unerwähnt bleiben. Es ist die Auslegung welche diesen Vorfällen in den Kreisen des hohen chinesischen Handelsstandes gegeben wird. Dort hört man behaupten die Tien-tsiner Metzeleien seien das erste Ergebniß einer in Central-China angezettelten, weit verbreiteten Verschwörung der Patrioten. Der Zweck sei einen Krieg mit den europäischen Mächten hervorzurufen und hiedurch den Sturz des Ministeriums Kung wenn nicht der Dynastie herbeizuführen. So verschiedenartigen und doch so wohl bekräftigten Auffassungen gegenüber, gebührt es dem Touristen natürlich nicht eine Meinung abzugeben. Ich beschränke mich daher darauf zu wiederholen daß die eingehenden Erhebungen welche die geistlichen und Konsulatsbehörden pflegen ließen, daß die Aussagen vieler Gingeborenen und das einstimmige Zeugniß der fremden Residenten in Tien-tsin (chinesische Stadt und Faktorei) die gänzliche Grundlosigkeit des gegen die Priester und Schwestern erhobenen Vorwurfes der Unvorsichtigkeit und des blinden Eifers auf das Entschiedenste darthun. Diese pflichttreuen Priester, diese wohlthätigen und heiligen Frauen waren die Opfer, sie waren nicht die Urheber des Blutbades von Tien-tsin. Die Kunde von den Ereignissen des 21. Juni verbreitete sich mit Blitzesschnelle im Innern und längs den Küsten des Reiches. In Wu-ching, unweit Kiu-kiang, 226 Wurde die katholische Kirche vom Pöbel eingeäschert; der sie versehende Priester war glücklicher Weise abwesend. In Hankow*) entstand solche Aufregung daß die sehr kleine Faktorei sich in äußerster Gefahr glaubte. Der englische Konsul bot den barmherzigen Schwestern eine Zufluchtsstätte in seinem Hause an. Diese muthigen Frauen, sämmtlich Italienerinnen, blieben aber in ihrem Kloster und erfuhren keine Unbill. Selbst Kanton, unerachtet der fünfzehnhundert Meilen die es von den Nfern des Pei-Ho trennen, fühlte den Rückstoß der Katastrophe. Der französische Konsul glaubte nicht für die Sicherheit der dort befindlichen Schwestern bürgen zu können und sandte sie, trotz ihrer Widerrede, nach Hongkong. In Peking gaben die Ereignisse des 21. Juni zwischen den Vorständen der Gesandtschaften und Prinzen Kung zu langen Verhandlungen Anlaß. Der größte Antheil hievon siel natürlich dem französischen Geschäftsträger zu. Herr Wade hatte, von der allgemeinen Frage abgesehen, insbesondere zu reklamiren weil eine der ermordeten Klosterfrauen eine brittische Unterthanin war. Ein Theil der gewechselten Schriftstücke findet sich im „Blauen Buche". *) Am Jang-tse-kicmg, in: Innern des Reiches, siebenhundert Meilen von Shanghai. 22? Am 3. August fand am Kirchhofe von Tien-tsin das feierliche Begräbniß der Opfer statt. Die Vertreter Englands und Frankreichs, die Admiräle Kellett und Duprö welche die englischen und französischen Geschwader in den chinesischen Meeren befehligten, die Konsuln und die Kapitäne der im Pei ho liegenden Kanonenboote, sämmtliche europäische und amerikanische Residenten der Faktorei begleiteten die Leichen nach ihrer letzten Ruhestätte. Der apostolische Vikar von Peking hielt den Gottesdienst nach dessen Vollendung er, Herr Wade, Graf Rochcchouart und der französische Admiral Reden hielten. Die gewöhnliche Garnison von Tien-tstn war durch die Truppen des Prinzen Kung und des General-Gouverneurs der Provinz für die Gelegenheit verstärkt worden. Kein Zwischenfall störte die die orgreifende Feier. Unmittelbar nach den Ereignissen war Chung zum außerordentlichen Botschafter in Frankreich ernannt worden. Er sollte das Benehmen der chinesischen Negierung „erklären."*) Tseng-two-fan erhielt Befehl sich nach Tien-tsin zu begeben um an Ort und Stelle die Untersuchung und gegen die der Mitschuld angeklagten Individuen den Proceß einzuleiten. Er kam spät und that wenig oder nichts. Erst ein Besuch des französischen Geschäftsträgers *) Rundschreiben des Grafen Rochechouart an die französischen Konsuln in China. Vlue Nook S. 236. 15* 228 und die von Che-fu als bevorstehend gemeldete Ankunft des Admirals Dupre der den Peiho mit einigen Kanonenbooten heraufsegelte belebten den matten Amtseifer dieses hohen Würdenträgers. Nach viermonatlichen Verhandlungen und einer ebenso langen Procedur erfolgte endlich der Urtheilssvruch in Form eines kaiserlichen Dekretes.^) Es wurde erklärt daß der Chi-fu Chang-kuang-tsao un der Chih-Hüen Lin, bei Anlaß eines Zusammenstoßes zwischen dem Volke und den Christen, unterlassen hätten, vor dem Ereignisse, die nöthigen Vorsichtsmaßregeln zu treffen und, nach dem Ereignisse, die Verhaftung der Schuldigen zu veranlassen. „Daher", fährt das Dekret fort, „haben Wir (der Kaiser) sie von ihren Aemtern enthoben und dem Hsing-vu (dem Departement der Strafen) übergeben lassen damit sie daselbst die gehörige Strafe zu erleiden hätten. Nachdem sie von Tseng two-fan verhört worden, wurden sie abermals an das Hsing-pu abgeführt. Letzteres hat nunmehr vorgeschlagen daß, außer der Amtsentsetzung welche den Gesetzen gemäß die Staatsdiener trifft die unfähig sind die öffentliche Ruhe aufrecht zu erhalten, die beiden Funktionäre überdies nach den Grenzstationen gesandt und dort dem Heere als gemeine Soldaten eingereiht würden. Scit- ^) Dem diplomatischen Corps durch Prinz Knng mitgetheilt. Blue Book S. 194. 229 her aber haben sie ihre bereits sehr bedeutenden Fehler noch erschwert indem sie sich ohne vorher eingeholte Erlaubniß, aus eigenem Antriebe, der Eine nach Shun-te und der andere nach Mih-yun begaben. Dies war eine Verhöhnung (der Obrigkeit). Aus diesem Grunde sollen Chang und Lin eine „äußerste Strafe" erleiden, nach einem andern Orte, nach Hei-lung chiang (in der Provinz Tsi-tuhar am Amur) verbannt und, zur Büßung ihrer Vergehen und zur Warnung Anderer, zu den öffentlichen Arbeiten verwendet werden." Dies Dekret bedarf keiner Erklärung. Es verräth die geheimen Besorgnisse und Hintergedanken des Prinzen Kung der, zugleich chinesischer Patriot und aufgeklärter Geist, die blutigen Vorfälle bedauerte und einsah daß eine Genugthuung gegeben werden mußte, der aber dabei das nationale Selbstgefühl des Publikums zu schonen hatte. Nachdem nun einmal die Schuldigen bestraft werden mußten so sollte dies wenigstens in den üblichen Formen der heimischen Gesetzgebung stattfinden und nicht unter dem Anschein eines auswärtigen Druckes. Das diplomatische Korps war durch den ersten Aus-sftruch natürlich nicht befriedigt. Es mußte also mehr geschehen. Da nahm man, um die Verschärfung der Strafe zu begründen, zu einem erfundenen Vergehen Zuflucht. Diebeiden Beamten hätten sich ohne Urlaub entfernt; sie 230 haben es an dem nöthigen Respekte fehlen lassen: deshalb würden sie zur harten Arbeit verurtheilt. Herr von Rouche-chouart bestand auf ihre Hinrichtung, konnte aber mit dieser Forderung bei Prinz Kung nicht durchdringen. Zwanzig kleine Mörder erlitten den Tod, dreizehn andere wurden für zehn Jahre und drei Jahre in die Verbannung geschickt. General Chen kwo-shuai, pro toi'ma dem Hsing-pu überantwortet, erhielt alsbald seine Freiheit. Dank feiner mandjurischen Abkunft, kam er diesmal ohne alle Strafe davon.*) Der gleichfalls sehr schwer beinzichtigte Militär-Mandarin des Distrikts verrichtet dermalen, wie dem Leser bekannt, Kammerherrndienste bei der kleinen Schlange im Tempel von Tien-tsin. Zweihundertfünfzigtausend Tael wurden als Entschädigung bewilligt. Wegen der großen Nichtigkeit der Proklamationen und ihrer sehr bedeutsamen Wirkung auf die Massen, verlangten und erwirkten die Gesandten, nicht ohne viele Schwierigkeit, die Erlassung einer Proklamation mit der Zusage daß sie im ganzen Reiche angeschlagen werden sollte. Dies Dokument erzählt in Kürze die Vorgänge: die Leichtgläubigkeit des Volkes, seinen Argwohn, seinen Zorn, *) Seither wurde er wegen eines mit den Tien-tsiner Ereignissen nicht zusammenhängenden Verbrechens in, Kerker hin-gerichtet. 231 die Ermordung vieler Fremden, „Akte welche offenbar verbrecherisch und ungesetzlich waren." Dann folgt die Aufzählung der den Schuldigen gewordenen Strafen. Die beiden Ober-Beamten seien mit „ungewöhnlicher" Strenge behandelt worden. Die wichtigste Stelle erinnert „die Wohlhabenden, die Militärs und das Volk daß seit dem Abschlüsse der Verträge die fremden Kaufleute Handel treiben und die Missionäre predigen dürfen: daß die Predigten der Letzteren die Verbesserung der Menschen zum Gegenstande haben, und daß der Handelsverkehr zwischen Fremden und Einheimischen beiden Theilen Vortheil bringe... Es ist nicht erlaubt sich, unter diesem oder jenem Vor-wande, zusammenzurotten' und Gewaltthaten zu begehen. Wer hiegegen verstößt, handle gegen den Willen des Kaisers, gegen die Gesetze und werde mit äußerster Strenge bestraft werden. Die Beamten und das Volk von Tien-tsin werden dem Zuwiderhandelnden ein Spiegel der Wn sein.*) Ein jeder zittere, ein jeder gehorche, niemand widerstehe. Specielle Proklamation."*") *j Das heißt sie sehen in dem Schicksale der Verurtheilten das ihnen bevorstehende Loos. **) Beilage zum Berichte des Herrn Wade an Lord Gran-ville vom 24. Oktober 1870 Blue Book S. 822 und 223. Zur Vervollständigung meiner Darstellung füge ich hier nachstehende Anzeige des Pariser Journal otkillisi vom 25. November 1871 232 Wir sind am Kirchhofe. In der weiten Umfriedung Welche noch vor Kurzem die Konsulatsgebäude und das. Missionshaus umschloß stehen, in zwei Gruppen getheilt, vierzehn große steinerne Gräber deren oberer Theil, nach Landessitte, einem Tonnengewölbe gleicht. In diesen Gräbern ruhen, hier Herr Fontanier und die Opfer aus dem Laienstande, dort die Patres Chevrier und Ou, die zehn Schwestern (ihre wenigen Neste) und einige an der Seite der Priester gefallene christliche Diener der Mission. Die Gräber sollen mit Inschriften versehen werden. Hiefür haben die chinesischen Behörden zu sorgen; ebenso auch für Errichtung eines sühnenden Denkmals mit einer Proklamation welches den Europäern eine (sehr unwillkommene) Genugthuung zu geben bestimmt ist. Wir stehen auf einem Trümmerhaufen. Ganz nahe vor uns steigt der Thurm der Kathedrale in die Luft empor. Noch trägt er das Kreuz an seiner Spitze. Der Strom, von zahlreichen Djonken befahren, fließt majestätisch dahin und verliert sich am Horizont zwischen einem bei! „Der Präsident der Republik empfängt in Versailles den Botschafter Chung-Hou welcher das Vedauern und die Entschuldigungen der chinesischen Negierung aus Anlaß des Blutbades von Tien-tsin auszudrücken hat." Die an Frankreich bezahlte Entschädigung betrug 3,450,000 Franken. 233 Walde von Masten. Uns gegenüber zeigt sich die Stadt: düster, barbarisch, unheimlich: der gedämpfte Lärm ihrer Gassen dringt bis Hieher. Aber um uns herrscht die Nuhe des ewigen Schlafes, die Trauer des Todes verklärt durch die Glorie des Martyrthums. IV. Hongkong. vom 7. zum 27. November. Annehmlichkeiten des EM« Meeres. — Mswomie von ymlgkong, — 5ein hlmdekxttkchr. — öeine politische und militärische Nedeu.^^ und fährt in seinem Vortrage fort. Am Ende gibt er dem Bonzen die Freiheit. Dieser, mehr überrascht als erzürnt, wechselt eiligst mit dem Hochwürdigen die herkömmlichen Artigkeitsbezei-gungen und sucht sodann das Weite. „Ach", sagt der Archdeacon, „wir haben die Arme vergessen: auch dort sind Gelübde eingebrannt." Er ruft also den Bonzen zurück der gutwillig umkehrt, seinen Aermel schürzt und uns an seinem Arme eine Menge kleiner, weißer Punkte Zeigt, ebenso viele Gelübde die dem heiligen Manne die verschiedenartigsten und unglaublichsten Pflichten und Entbehrungen auferlegen. 256 Wir haben soeben den berühmten Tempel „der Fahne des Oceans" auf der Insel Honan besehen. Jetzt besuchen wir den Abt. Das Kloster nimmt einen großen Flächenraum ein und zählt mehrere Hundert Bonzen. Durch ein Wirrsal von Häuschen und Gäßchen findet der Archdeacon seinen Weg ohne die geringste Schwierigkeit. Der Abt, ein bejahrtes kleines Männchen mit schlaffen Zügen, erloschenen Augen und feinem Lächeln, empfängt uns in seinem Schlafzimmer. Alles ist rein und zierlich. Ein feines Mustitonetz beschützt das Vett; die Einrichtung ist elegant; auf den in Hongkong fabricirten Mahagonitischen stehen drei oder vier englische Uhren. Kcin übertriebener Aufwand, aber gerade was recht ist um die as-«tischen Nebungen, die eine Pflicht, mit dem mäßigen Genusse der guten Dinge dieser Welt, der geduldet ist, in den gehörigen Einklang zu bringen. Diese Räume haben einen entschieden geistlichen Anstrich. Leider sehen wir in einem andern Gemache die Zauberflöte, die verhängniß-volle Opiumpfeise. Ja, leider! der würdige Prälat hat diese Schwäche, und unerachtet wiederholter Versuche sich zu bessern, Versuche bei denen ihm der gute Archdeacon an die Hand geht, verfällt er immer wieder der üblen Gewohnheit. Nie alle Opiumraucher, weiß er daß er sein Leben verkürzt: es gibt Tage wo er vor sich selbst Abscheu empfindet, aber die Kette ist zu fest geschmiedet, 257 er kann sie nicht brechen, und mit Inbrunst kehrt er immer wieder zu seinem geliebten Pfeifchen zurück. Der heilige Mann stirbt ohne Zweifel im Zustande der Unbußfertigkeit. In einer Ecke des sehr weitläufigen Gartens befindet sich das Cremarium, in einer andern das Mausoleum, ein cylinderförnüges Gebäude von Granit, wo die Asche der verblichenen Bonzen in kleinen mit Aufschriften versehenen Krugen aufbewahrt wird. Der Chinese beschäftigt sich unaufhörlich mit dem Tode. Der Gedanke zu sterben erschreckt ihn nicht, aber für Leichen empfindet er tiefen Abscheu. Dies erklärt eine in diesem Kloster übliche höchst barbarische Sitte. Wenn ein kranker Mönch von den Aerzten aufgegeben ist, oder wenn er eine gewisse Altersklasse erreicht hat, so wird er nach einem abgesonderten Gebäude gebracht: nach der Wohnung der Sterbenden. Wer sie betrat weift daß er sie nur als Leiche verlassen wird. Der Grund dieser grausamen Einrichtung ist die Scheu nicht vor dem Tode, sondern vor den Leichen. Nicht nur die Berührung, auch der Anblick, ja die bloße Anwesenheit derselben besudelt. Nebenan befindet sich ein mit aufrecht stehenden Särgen gefülltes Magazin. Auf einem jeden steht der Name des Eigenthümers geschrieben. Die Särge gehöre,, Privatleuten und wurden (gewöhnlich) von zärtlichen Kindern den Eltern an ihrem einundsechzigsten Geburtstage zum Hübner, Epaziergang III, 1? 258 Geschenke gemacht. Diese Möbel erwarten an geheiligter Stelle den Augenblick wo sie in Aktivität zu treten haben. Auf der Insel Honan befindet sich auch der Wohnfitz Eng's. Eng ist das Haupt einer der vornehmsten und angesehensten Familien Kantons. Er, seine Söhne und Schwiegersöhne, ihre Gattinnen und Kinder, die Diener und Sklaven, im Ganzen über sechshundert Personen, bewohnen eine Gruppe von Häusern die eine hohe Ringmauer neidischen Blicken entzieht. Eng gibt jährlich an zwanzigtausend Pfund Sterling aus. Da der Archdeacon ein Hausfreund, werden wir ohne Schwierigkeit in die kleine Stadt eingelassen. Die Vorhalle ist eine Waffenkammer. In den Ecken lehnen Piken, Hellebarden, Bogen und Köcher. Eine nöthige Vorsicht in Anbetracht der vielen und frechen Diebe, und eine schlagende Widerlegung, so fürchte ich, des guten Zeugnisses welches mein Cicerone den Tugenden der Kan-tonesen so gern und reichlich spendet. Wir gehen durch eine Reihe von Gemächern, Empfangssälen, Kabinetten, Schulzimmern. Auf unserer Wanderung begegnen wir mehreren Knaben; einen jeden begleitet sein Hofmeister der bei unserem Anblicke mit dem einen Auge Herrn Gray anlächelt und mit dem anderen sein Mißbehagen über 259 meine Anwesenheit verräth. In der Hand trägt er das Wahrzeichen seines Standes, ein Instrument das in seinem Zöglinge unangenehme Erinnerungen und düstere Ahnungen hervorruft. Der Archdeacon überbietet sich selbst. Er kennt alle Wege dieses Labyrinths. Ueberall dringt er ein, nur nicht in die Gemächer der Frauen. Man sollte meinen er sei Herr Eng und nicht der Reverend Gray. Die Personen denen wir begegnen oder die wir in ihren Beschäftigungen überraschen nehmen wenig Notiz von uns; einige grüßen meinen Führer auf das Zuvorkommendste. Der Garten scheint mir viel schöner als die Gärten im nördlichen China; er enthält einen Teich von höchst bizarrer Zeichnung den im Sommer eine dichte Decke von Lotusb lumen verhüllt. Auf den beiden Ufern stehen sich zwei Pavillons gegenüber; der eine ist für die Herren, der andere für die Damen bestimmt. Dort wird geschwatzt, gespielt und geraucht. In dem Herrenpavillon finden wir Eng, von seinen Intendanten und Agenten umgeben. Bei unserem Eintritte erhebt er sich, legt die Pfeife ab, kommt uns entgegen und begrüßt den Archdeacon wie einen Freund, mich mit den in ähnlichen Fällen üblichen Förmlichkeiten. Sein Aeußeres hat nichts Imposantes, aber seine Manieren sind die der großen Welt. Er kennt seine Bedeutung und fühlt kein Bedürfniß sie Anderen begreiflich zu machen. 17* 260 Von allen Häusern dieser Residenz ist das prachtvollste und am reichsten verzierte die dem Andenken der verstorbenen Familienglieder gewidmete «Halle der Voreltern". Sie steht auf einer Seite völlig offen. Hier, vor den Tafeln der Ahnen, finden die grohen Akte der chinesischen Selbstverwaltung statt: Eröffnung und Lesung des Testamentes, Geschenke unter Abenden, friedliche Abmachungen in Streitsachen, Nntersuchung in Kriminalfällen, Urtheilsspruch und Vollziehung des Urtheils.*) Hier werden die (selten vorkommenden) Klagen des betrogenen Gatten vernommen. Wehe der Schuldigen! Sie ist des Todes. Hier empfängt der leichtfertige Ehemann dem eine Zerstreuung nachgewiesen wurde die entsprechende Anzahl Bambusstreiche. Heute Abends Ball in Shamien. Die kleine Kolonie ist vollständig erschienen. Die europäischen Kaufleute in Kanton machen keine großen Geschäfte mehr. Shanghai und die Eröffnung des Vang-tse-kiang haben Kanton ge-tödtet; aber die Herren leben so großartig wie ihre vom Glücke mehr begünstigten Vorgänger. Ihre Häuser zeugen von demselben Luxus. Nichts vom Emporkömmlinge, von Siehe Seite 239. 261 dem neuen Reichen! Im Gegentheil an der Ausstattung läßt sich erkennen daß die Merchant-Princes von ehemals aus der Klasse der Gentry, mittelbar aus den Reihen der englischen Aristokratie hervorgegangen waren. Die von ihnen gegründeten Faktoreien glänzen nach wie vor durch den Aufwand und die Bequemlichkeiten des InA?> lifo aus dem vorigen Jahrhunderte. Ich machte diese Bemerkung einem ältlichen Herrn der sich, wie ich, in den Tanzsaal gedrängt hatte. Dort drehten sich drei oder vier Paare im Kreise umher. Die jungen Damen in frischen und eleganten Balltoiletten, die jungen Herren mit weißer Kra-vatte und einer Blume im Knovfloche verrichteten mit dem Ernste der dem Britten ziemt die harte Arbeit des Walzens. Man bedenke daß Kanton genau unter dem Wendekreise liegt und der Thermometer auf ^- 30 It. stand. „Ohne Zweifel," entgegnete mir mein Nachbar mit einem leisen Seufzer, „steht dieser Luxus in keinem Verhältniß zu unseren Geschäften. Aber es wäre kaum möglich uns einzuschränken. Solche Versuche würden die alten Herren entmuthigen und die jungen Männer ihrer Hoffnungen in die Zukunft berauben. Also leben und leben lassen." 262 Heute einsamer Morgensftaziergang auf den gezinnten Stadtmauern, bei lauer Mailuft. Um Mittag wird die Winterhitze beschwerlich sein. Ich wende mich gegen Norden, das heißt gegen das eigentliche Kanton, die alte Stadt. Wie Peking zeigt sie nichts als Baumwipfel welche hie und da eine Pagode überragt. Der höchste Thurm ist das Minaret der Mohamedanischen Moschee. Im Hintergründe die „weißwolkigen" Verge. Ich kehre nach der Vorstadt zurück um die französische Kirche zu besehen. Ein edler gothischer Bau. Der Architekt, ein junger Franzose Namens Lhermite, starb zu früh für seinen Ruhm. Ich stelle ihn den berühmtesten Architekten seines Landes wenigstens gleich.*) Neben der Kirche steht das Missionshaus und, in geringer Entfernung, das seit den Tien-tsiner Ereignissen verlassene Kloster der Schwestern. Die fünf Priester (von den Missions etrangcres de Paris) empfangen mich freundlich. Eie leben in banger Sorge um ihre in Sze-chuen und in Mnan, den fernsten Provinzen, zerstreut lebenden Brüder.**) Was würde, fragen *) Herr Lhermite baute den Gouvernement-Palast m Saigon und das Stadthaus in Hongkong i in ihrer Art anerkannt als die schönsten Gebäude im äußersten Oriene. **) Einer derselben erlitt seither in der Provinz Sze-chuen, diesen Sommer (1873), den Martyrertod. Ein chinesischer Priester theilte sein Loos. 263 sie, ihr Loos sein wenn der junge Kaiser sich in die Arme der Europa feindlichen Partei würfe, wenn die Dynastie gestürzt würde? Von der chinesischen Mauer bis Kanton, von Peking bis tief in das Herz des Reiches zittert der Boden unter ihren Füßen. Auf einer Wanderung in den westlichen Vorstädten sprechen wir bei einem Herrn vor dessen Haus der „Cite" Eng nur wenig nachsteht. Die Gärten sind sogar größer und schöner angelegt. Sie enthalten ein Theater. Die Bühne öffnet sich auf einen Teich; der Kiosk am jenseitigen Ufer ist für die Zuschauer bestimmt. Die Damen des Hauses und ihre Freundinnen nehmen das zweite Stockwerk ein. Man sagt mir das; reiche Leute keine Kosten scheuen um ihren Frauen und Töchtern Unterhaltung zu verschaffen, versteht sich mti-n mm-o». Die sehr enge Gasse vor dem Eingänge in das oben erwähnte Haus ist mit Menschen überfüllt. Glücklicher Weife hat man uns Plätze unter dem Thorwege vorbehalten. Dort können wir in aller Bequemlichkeit den Kriegsgott erwarten. Er war genöthigt gewesen seinen etwas baufälligen Tempel zu verlassen. Nunmehr dieser auf Kosten gewisser Bankiers wieder hergestellt, kehrt Mars nach seinem Quartier zurück. Ganz Kanton ist auf den Beinen. Die 264 Gasse gleicht einer sturmgepeitschten Meeresenge. Aus den Seitengassen fließt die Menge unablässig zu; dies erzeugt Stoß und Gegenstoß, Ebbe und Fluch. Inmitten des Gedränges bieten Bursche Obst und Süßigkeiten aus, zierlich geordnet in Körben die sie hoch über den Köpfen auf der flachen Hand halten. Die Käufer legen zuerst die entsprechende Anzahl Sapeken in den Korb. Würde dies in Europa möglich sein? Würde der Mob unserer Hauptstädte sich so anständig und gewissenhaft betragen? Reverend Gray, ein entschiedener Kanwnofthile, stellt mir diese Fragen, mit dem Ausdrucke der äußersten Befriedigung. Nach langem Warten verkünden die dumpfen Töne des Gong und eine infernale Musik das Nahen des Gottes. Polizeibeamte, ein jeder mit einem tüchtigen Bambusrohr bewaffnet, eröffnen den Zug. Wie sich dieser hier durchwinden könne ist ein Räthsel, aber mit Hilfe des Bambus und mit allseitigem guten Willen ist in China Vieles möglich. Die Menge macht Platz, und ich sehe vor mir eine Reihe von phantastischen Feenbildern vorüberziehen auf deren Beschreibung ich jedoch verzichten muß. Nur andeuten werde ich sie. Die Procession währte zwei Stunden. Sie bestand aus gewissen Elementen die sich regelmäßig wiederholten: hohe Standarten; ein Kuli trägt die Fahne, ein anderer unterstützt die zurückgeneigte Spitze derselben mit einer 265 Gabel; trotz dem Gedränge und den Stößen die er erhält weiß er das Gleichgewicht zu bewahren. Hierauf reich geschnitzte lackirte und vergoldete Schränke von den bizarrsten Formen; Oftfergaben, verschiedenes Geräthe, prachtvolle Sonnenschirme: kleine Knaben und Mädchen aus guten Familien die, auf Ponies reitend, von daneben gehenden Männern im Sattel gehalten, verschiedene Gottheiten vorstellen. Junge Mädchen in historischen Gewändern oder Phantasieanzügen, auf Gestellen getragen, meist an eiserne Stangen geschraubt, wie man dies in unsern Hippodromen sehen kann. Diese Göttinnen suchen durch ihre bescheidene Haltung und die ernste etwas stupide Miene, welche anständige Frauen der höheren Stände annehmen, zu scheinen was sie nicht sind. Nun folgen, vom Volke mit lau-tem Zuruf begrüßt, die Nettesten des Stadtviertels: nach ihnen junge Leute aus den wohlhabenden Klassen, einfach aber sorgfältig gekleidet! Bewaffnete die Piken, Hellebarben, alte Säbel und Aexte tragen. Musikbanden erscheinen in kurzen Zwischenräumen und erfüllen, wie bereits gesagt, die Luft mit betäubenden Mißtönen. Der Held des Tages schließt den Zug. Dieser Gott scheint ein guter Teufel zu sein. Seine weit geöffneten Augen, sein offener Mund, seine ungeheuren plattgedrückten Ohren flößen Nie-wandem Schrecken ein. Mars hat nichts Martialisches. Obgleich von Kopf zu Füßen vergoldet, sieht er doch aus 266 wie ein armer Schlucker. Selbst die Kuli die ihn auf einer elenden Bahre tragen scheinen von der Heiligkeit ihrer Mission wenig durchdrungen; sie lachen, schwätzen und rauchen. So wahr ist es daß es nicht genügt im Olymp geboren zu sein; man muß auch diese Gunst des Himmels durch persönliche Eigenschaften rechtfertigen. Die Menge, vor Ankunft der Procession so bewegt, so ungeduldig, das Schauspiel gleichsam mit Heißhunger erwartend, entfernt sich nun ruhig und gewissermaßen gesättigt. Die reichen Leute in Kanton suchen mit dem Volke auf gutem Fuße zu leben. Heute veranstalten sie einen feierlichen Umzug, morgen Freitheater, ein andermal Reisvertheilung. I'iuwm ot oirosn808. Bei allem Respekt den man den Göttern, bis zu einem gewissen Grade selbst den falschen Götzen schuldig ist, muß ich gestehen daß eine Gruppe junger Damen während dieser heiligen Ceremonie meine innere Sammlung beeinträchtigte. Uns gegenüber, jenseits der engen Gasse, saßen vier Mädchen oder junge Frauen in dem Vorsaale eines für die Gelegenheit gemietheten Hauses. Ihr weißer Teint, ihre Haltung, ihre einfache aber elegante Toilette lassen in ihnen die vornehme Dame erkennen. Der Archdeacon bestätigt meine Vermuthung. Ihr Haar ist sehr geschmackvoll geordnet, und zwei von ihnen könnten in Europa M Schönheiten gelten. Frauen ihres Ranges müssen, wen« 267 sie öffentlich erscheinen, apathisch und gelangweilt aussehen. Die Gesetze des Anstandes erheischen dies. Aber ist das Gespräch einmal im Gange, flüstert und lächelt man, dann fällt man wohl bald aus der Nolle. So ergeht es auch meinen jugendlichen Vis-a-vis. Die Gesichter beleben sich, die kleinen mandelförmig geschlitzten Augen funkeln, und ein spöttischer, schelmischer, skeptischer Ausdruck ersetzt die eben erst zur Schau gestellte Miene der Gcistlosigkeit und Langenweile. Eine sehr geschminkte, äußerst beleibte Matrone, die mich lebhaft an die unvergeßliche Thicrret vom Palais-Noyal-Theater erinnert, scheint mit dem Amte der Duena betraut. Offenbar mißfällt ihr mein Lorgnon das nicht immer auf die Procession gerichtet ist. Sie stellt sich also in die Hausthüre und verhindert die Damen zu sehen und gesehen zu werden. Ein großer Fehler, unwürdig einer Duena von Einsicht und Erfahrung! Was ist die Folge? Unmittelbares Anknüpfen des elektrischen Verkehrs mit dem fremden Teufel, strenger Befehl an die Duena ben Blicken freien Durchgang zu gestatten, und für mich pantomimisch ertheilte Ermächtigung diese Scene aus dem chinesischen Iii^ii Mo nach Bequemlichkeit zu betrachten. Aeltliche Herren nähern sich den Damen, verneigen sich üef und weisen ihnen die geballten Fäuste, werden mit "nem gnädigen Lächeln beehrt, lassen Thec serviren, ziehen sich dann unter langwierigen Ehrfurchtsbezeigungen zurück. 268 Mittlerweile sitzen die Damen auf ihren Schemmeln, lachen und schwätzen, spielen mit den Fächern, erfreuen sich an dem Verdrusse der Matrone. Ein Befehl des Vice-Königs öffnet uns die Thore des großen Gefängnisses: ein oblonges Viereck welches mehrere Höfe enthält und von einer der Länge nach getheilten Gallerte umgeben ist. Die innere wird von den männlichen Gefangenen bewohnt; die äußere, welche ein unbedeckter Gang von der Ringmauer scheidet, von den Weibern. In den Höfen drängen sich die Sträflinge; die Mehr-Zahl wird im nächsten Semester den Tod erleiden. Bekanntlich finden die Hinrichtungen in China, ausgenommen die der Mörder die keinen Aufschub erleidet, zweimal im Jahre, im Frühling und im Herbst, statt. Es ist dies ein in Kanton periodisch wiederkehrendes Blutbad. Einige dieser Menschen schleppen ihre schweren Ketten mühselig, andere stellen sie frech zur Schau. Nach ihren Gesichtern zu urtheilen, sind sie keine Unschuldigen. Wahrscheinlich wurden sie im Gefängnisse schlechter als sie bei ihrem Eintritte waren. Die vergiftete Luft, der beständige Verkehr nnt Laster mußte die letzten Reste von Ehrbarkeit zerstören welche sie vielleicht in diese Hölle auf Erden gebracht hat- 269 ten. Einer sagte mir: „Ich bin eines Mordes beschuldigt, aber ich leugne diese That." Der Gefangenwärter lächelte, ein teuflisches Lächeln, als wollte er sagen: „Die Folterbank wird Dir die Zunge lösen." Ein junger Mensch aus dessen hohlen Augen Irrsinn sftricht nähert sich uns. Als fünfzehnjähriger Knabe hat er seinen Schullehrer vergiftet, ein Verbrechen welches das Gesetz dem Vatermorde gleichstellt. Seme Jugend bewahrte ihn vor einem greulichen Tode. Alle Jahre richtet sein Vater der der wohlhabenden "lasse angehört ein Gesuch um Begnadigung an den Vice-König; der Vice-König schickt es an das Tsungli-Yamen Welches es der Kaiserin Regentin vorlegt. Vis jetzt er« folgte immer ein abschlägiger Bescheid. Wir treten in einen der Säle. Es ist Essenszeit. Wie die wilden Thiere einer Menagerie werfen sich die Sträflinge auf ihre ärmlichen Rationen. Das Klirren der Fesseln bildet die Tafelmusik. In einem fensterlosen finstern Naume in welchen Lichtreflexe aus dem Vorgemache ein schwaches Dämmer-licht werfen, errathen wir mehr als wir sie sehen hinter einem massiven Holzgitter mehrere Menschen die zur furcht« baren Strafe des Kang verurtheilt sind. Sie fluchen, sie weinen, sie seufzen. Einige wälzen sich am Boden, andere stehen an die Wand gelehnt. Einige kauern in den Ecken, andere gehen langsam im Kreise umher. Aber alle be« 270 wegen sich unablässig; sie suchen was ihr Marterwerkzeug sie nicht finden läftt, die Nuhe. Bei unserer Erscheinung treten sie an das Gitter, werfen uns Blicke des Hasses zu, der Rache, der Verzweiflung; Blicke von Verdammten! Dann entfernen sie sich langsam und verschwinden im Dunkel. Aus andern, gleichfalls in die Schleier einer ewigen Nacht gehüllten Kerkern ertönen unterdrückte Schmerzens-laute, lautes Geheul, Kettengeklirre und der dumpfe Schall wuchtiger Bambusstreiche auf entfleischte Leiber. In einem kleinen Raume, der verhältnißmäßig reinlich gehalten ist, rauchten einige Gentlemen, andere nehmen ihr Mahl ein das ihre eigenen Diener auftragen. Dies sind Privilegirte, in Untersuchungshaft Befindliche oder bereits Verurtheilte, aber jedenfalls Begünstigte. Wahrscheinlich um einen ungeheuren Preis haben sie dies Zimmer gemiethet. Diese kleine Industrie bildet einen der Nebenerwerbe des Gefängnißdirektors. Andere Lokalitäten sind als Sftielsaal eingerichtet, ein praktisches Mittel zu gleicher Zeit die Taschen des Mandarins mit Taelen und das Gefängniß mit Verbrechern zu füllen. Man führt uns nun in die äußere Gallerie die, lvie bereits gesagt, den Weibern vorbehalten und durch einen ungedeckten Gang von der Ringmauer des Gefängnisses getrennt ist. .Es ist das^Höchste" im Niedrigsten, das 271 äußerste Maß des Entsetzlichen. Dante's Phantasie allein vermochte sich so hoch zu erheben, so tief zu versenken. Nas sie ihm als Traumbild zeigte, habe ich in Wirklichkeit gesehen. Immer sinkt das verkommene Weib unter den verkommenen Mann. Aus feincrem, aus zarterem Stoffe geformt, fällt sie von höher herab und fällt tiefer. Ich sah hier auf engem Raume vereint allen physischen Jammer und alle moralische Verworfenheit. Und in diesem schändlichen Kerker sind mit den verurtheilten, ent-wenschten Hyänen, anständige Frauen und Mädchen als Geißeln eingesperrt, weil ihre Männer, Väter, Brüder, Söhne der gerichtlichen Untersuchung durch die Flucht ent« gingen. Doch, da wir es können, entfliehen auch wir aus dieser Hölle! Vor dem Thore des großen Gefängnisses sehen wir einige lebendige Skelette welche gezwungen sind komisch sein sollende Stellungen einzunehmen. Eine hölzerne Tafel auf ihrer Brust enthält die Worte: „dem öffentlichen Gelächter ausgesetzt". Ob wohl irgend Jemand bei diesem Anblicke lachen kann! Im großen Vorhof erregt eine Gruppe von etwa dreißig Männern unsere Aufmerksamkeit. Sie sind soeben angekommen und ruhen im Schatten einer Sykomore: Jünglinge, Männer in voller Kraft der Jahre, Greise: ewige sind wie wohlhabende Leute gekleidet. Sie wurden 2?Z als Menschenjäger oder Hexer auf frischer That ertappt. Ihr Geschäft ist die Barrancöes von Makao mit unfreiwilligen Auswanderern zu verschen. Diese Unglücklichen sind, immer je vier, an ihren Zöpfen und überdies mit Stricken aneinander gebunden. Auf den Fersen kauernd oder dicht neben einander am Boden liegend gleichen sie einer Heerde Schafe. Der Tod erwartet sie und, vor dem Tode, die Folterbank. Sie wissen es. Jeder Chinese Weiß das Strafgesetzbuch auswendig. Ihre Mienen sagen es deutlich genugi die Einen weinen still vor sich hin, Andere seufzen und Einige scheinen wie wahnsinnig vor Entsetzen. Keiner spricht. Als wir eine Stunde später Wieder vorübergingen, rauchten sie. Ein guter Samaritaner hatte Cigarette« unter sie vertheilt. In den kurzen Genuß Versunken haben sie ihr furchtbares Loos für den Augenblick vergessen. Die eben noch gespannten Züge sind erschlafft. Dumpfe Gleichgültigkeit ersetzt den eben noch so lebhaften Ausdruck der Verzweiflung. Die Gerichtshalle, ein länglicher Hof, befindet sich in der Nähe des Gefängnisses. Der Richter sitzt in einer offenen Gallerte hinter einem mit Aktenstücken beladenen Tische. Zu seiner Rechten steht der Gerichtsschreiber, zur Linken der Dollmetsch. Dem Tische gegenüber, wenige 273 Schritte entfernt, kniet der Angeklagte. Auf beiden Seiten bilden fünf bis sechs Diener oder Unterbeamte des Tribunals eine Hecke. Der Henker und seine Knechte stehen gegen die Wand gelehnt mit ihren blutbefleckten Marterwerkzeugen, bereit sie auf den Wink zu gebrauchen. Der Archdeacon und ich stellen uns neben den Dollmetsch. Mit etwas weniger lauter Stimme als gewöhnlich, das einzige Zugeständnis; welches er der Majestät des Ortes macht, übersetzt er mir die wesentlichen Theile des Verhöres. Uebri-6ens sind der Hof und die Gallerie leer, und die beiden Fremden die einzigen Zuschauer. Weder der Richter noch die anderen Anwesenden nehmen von uns die geringste Notiz. Sie thun als sähen sie uns nicht. Der Richter mag ein Vierziger sein, vielleicht ein Fünfziger: blasses Gesicht, Katzenaugen, auf der Nase eine riesige Brille, die Amtsmiene geeignet selbst ein gepanzertes Gewissen mit Schrecken zu erfüllen, der Anzug einfach aber sorgfältig, die Nägel wahre Klauen, am Daumen ein großer Ring von Jade, das allgemeine Aussehen ehrbar, imposant, scheußlich. Dieser chinesische Minos ist über den Tisch gebeugt und heftet seine Augen auf zwei offene Vücher deren eines mit schwarzen, das andere mit rothen Schriftzügen bedeckt ist. Hinter ihm stehen seine Privatdiener. Einer reicht ihm von Zeit zu Zeit die Pfeife, indem er sie ihm unter dem Arm durch in den Mund steckt 274 und, nachdem sein Gebieter einige Züge gethan, sogleich wieder zurückzieht. Obgleich der Nichter der Südsftrachc vollkommen mächtig, so ist die amtliche Annahme daß er nur das „Mandarin" das heißt die Nordsprache verstehe. Daher die Nothwendigkeit eines Dollmetsch. Er selbst nimmt an dem Verhör persönlich keinen Antheil. Dies ist die Sache des Schreibers und des Dollmetsch, die er übrigens durch einige leise Worte zu leiten scheint. Tiefes Schweigen unter den Zuhörern. Soll ich es gestehen? Der Anblick des Richters macht mein Blut in den Adern gerinnen. Nichts Menschliches in diesem metallenen Antlitz. Keine Spur von Barmherzigkeit oder Menschenliebe. Ich blicke um mich und finde auf allen Gesichtern denselben Ausdruck. Ich setze mich an die Stelle des Angeklagten, und der Angstschweiß tritt auf meine Stirne. Ein Gefangener wird vorgeführt oder vielmehr in einem Karbe hereingetragen. Gestern wurden ihm, an dieser Stelle, auf der Folterbank die Fußgelenke zermalmt. Heute ist er ein Bündel Haut und Knochen, unfähig zu antworten. Das Leben entflieht fichtlich. Auf ein Zeichen des Richters trägt man ihn fort. Ein junger Mensch aus dem Volke wird eingeführt. Er läßt sich an der den Gefangenen angewiesenen Stelle auf die Kniee nieder. Furcht und Hinterlist leuchten ihm aus den Augen. Seine gemeinen Züge tragen bereits das 375 unverlöschbare Gepräge des Verbrechers. Er beantwortet die üblichen Fragen: woher ist seine Familie, wie heißen seine Eltern, seine Großeltern und so fort. Dann beginnt das eigentliche Verhör: „Du hast sechszehn Dollar gestohlen?" sagte der Dollmetsch. Der Angeklagte leugnet standhaft, bis der Nichter die Hand erhebt und der Henker vortritt. Bei feinem Anblicke ruft der Gefangene: Ja, ja, er habe sie gestohlen um Reis zu kaufen: Hunger habe ihn verleitet. — In welchem Laden? In dieser oder jener Gasse, dem Schauplätze eines größern Verbrechens, einer wahrscheinlich von ihm begangenen Mordthat? — Da erblaßt der Angeklagte. Er stottert, weint, fleht um Barmherzigkeit und leugnet. Bisher hatte der Dollmetsch ihn einzuschüchtern gesucht; jetzt schlägt er plötzlich einen süßlich schmeichelnden Ton an. „Warum leugnen, mein Sohn?" sagt er. „Sprich, gestehe und Du wirst Dich unserer beloben. Siehst Du, ich lasse Dir die Ketten abnehmen." Der Henker entfesselt ihn. — „Und nun, mein Kind, sprich." — Aber mein Kind ist nicht so albern. Hier beginnt zwischen den beiden Männern ein Zweikampf von Frechheit, List und Lügenhaftigkeit. Der eine weiß daß er für sein Leben kämpft, der andere für seinen Nuf als Inquisitor. Der freundliche, einschmeichelnde Ton des Dollmetsch stimmt wenig zu seinem gehässigen Ausdruck und zu der steigenden Angst die sich im Gesichte des Angeklagten malt. Letzterer 18" 276 leugnet beharrlich. Der Richter lispelt wieder ein Wort, worauf der Henker und seine Knechte fich auf den Mann stürzen, ihn zu Boden werfen, der Länge nach ausstrecken und zum Theile entblößen: dann neben ihm auf die Fersen kauernd ertheilt ihm der Henker, während er mit lauter Stimme zählt, wenigstens hundert Bambusstreiche. Ich gestehe daß ich mich einer Ohnmacht nahe fühlte, und mein guter Archdeacon schien mir in ähnlicher Verfassung. Die Anwesenden sahen uns mit dem Ausdrucke der Geringschätzung an. Einige lächelten verächtlich. Noch tönt das Geheule des Unglücklichen in meinen Ohren. Bald aber verstummt er. Er fchcint nur eine leblose Masse. „Nun," sagt mir. Reverend Gray, „wird man zur Zermalmung der Knöchel schreiten." Dies läßt aber der Zustand des Inquisiten nicht zu. Er wird also hinaus geschleppt. Wir athmen auf. Die Philanthropie meines liebenswürdigen Führers erftHut»H^ des Aufschubes; aber, als Cicerone, hätte er gewünscht mich die heutige Procedur der chinesischen Gerichtshöfe in allen ihren Phasen sehen zu lassen. Insofern mischt sich zu seiner Befriedigung ein Beisatz gelinden Bedauerns. Der junge Dieb und muthmaßliche Mörder wird durch zwei Herren von achtbarem Ansehen ersetzt. Ein Kaufmann und sein Kommis; jener ein bejahrter, dieser ein junger elegant gekleideter Mann. Sie sind des Salz- 277 schmuggels angeklagt. Nach einer tiefen Verbeugung vor dem Nichter knieen sie nieder. Weder der Eine noch der Andere scheinen bewegt. Der ältere Mann gesteht seine Schuld. Der Kommis vertheidigt sich. — Er habe nur den ihm ertheilten Befehlen gehorcht. Er wußte nicht daß er das Gesetz übertrete. Wahr sei, daß er unter die Beamten Reis vertheilt habe. Aber ist es ein Verbrechen Hungrige zu sfteisen? — Während er spricht läßt ihn sein Patron, der nun anfängt ängstlich zu werden, nicht aus den Augen. Dnrch Zeichen sucht er ihm Schweigen aufzuerlegen. Der Richter macht dem Auftritte plötzlich ein Ende. Er zieht eine große englische Uhr aus der Tasche, betrachtet sie aufmerksam und hebt die Sitzung auf. Die beiden Kaufleute werden weggeführt: ich vermuthe sie haben es sich ein gutes Stück Geld kosten lassen um dem Bambus und Schlimmerem zu entgehen. Ohne uns eines Blickes zu würdigen geht der Richter mit seinem Gefolge ab; der Schreiber und der Dollmetsch packen Tintenfaß und Akten zusammen, der Henker und seine Knechte die Marterwerkzeuge. Alles geräuschlos und mit Methode. Dies Prä« torium ist eine wohlorganisirte Hölle. Herr Hughes, englischer Konsul aä intsi-im, hat die Güte mich nach dem Uamen zu begleiten. Einige Böller« schüsse begrüßen uns bei der Ankunft. Der Vice-König 276 kommt uns entgegen und führt uns in einen reich verzierten, nach dem Garten offenen Pavillon. Die bereits tief stehende Sonne dringt durch exotisches Laub in den Saal wo wir um einen viereckigen Tisch sitzend uns den Genüssen eines chinesischen Festmahles ergeben. Der Vice-König ist ein liebenswürdiger Hausherr, wählt mit eigener Hand die besten Leckerbissen und lädt sie mit Hilfe seiner Elfenbeinstäbchen auf mein Tellerchen. Ich erwidere die Artigkeit in ähnlicher Weise. Der Champagner wird in Tassen kredenzt. Die zahlreiche Dienerschaft trägt schöne, reinliche Livreen. Die ganze Szene sah aus wie eines jener Bilder die man so oft auf lackirten Schirmen oder Theebüchsen sieht. Ein persönlicher Freund des verstorbenen Kaisers und seit neun Jahren auf seinem gegenwärtigen Posten erhalten — es ist das wichtigste Gouvernement weil es die beiden großen Provinzen Kwang tung und Kwangsi umfaßt, das schwierigste wegen des Verkehrs mit den Ausländern in Hongkong —, zählt Me zu den hervorragendsten Männern des Reiches, erfreut sich besonderer Gunst bei Hofe und erwartet nächstens in das Ministerium berufen zu werden. Man rühmt seine Sanftmuth und geistige Begabung. Er ist zweiundsechszig Jahre alt und hat das Aeußere eines in der hohen Politik ergrauten Staatsmannes : edle geistreiche Züge, lichtgraue lebendige Augen, 279 ein kaustisches Lächeln auf den verhältnißmäßig fein geschnittenen Lippen. Er trägt sein Hofkleid, eine dunkelblaue Tunika mit lichtblauen Aufschlägen, über der Brust reiche Goldstickereien, um den Hals einen kolossalen Rosenkranz. Ein prachtvoller Pfauenschweif fällt von dem Hute den der krystallene Knopf ziert. Das Gespräch bewegte sich um verschiedene Gegenstände. Großer Austausch von Komplimenten, aber keine nichtssagenden Phrasen. Beim Fortgehen hatten wir mehrere Säle und Korridore zu durchschreiten. Der Vice-König begleitete uns bis zu den Sänften, und an jeder Thür machten wir Chin-chin. Nun gibt es für den Europäer kaum etwas Komischeres als diese Art zu grüßen. Man hebt, wie bereits erwähnt, die beiden geballten Fäuste auf die Höhe der Stirn, versetzt sie in eine rotirende Bewegung und blickt mittlerweile dem Begrüßten, der dieselbe Gymnastik vornimmt, fest in die Augen. Der Vice-König entledigte sich dieser grotesken Artigkeitspfücht mit solcher Grazie und Würde daß mir dabei die Bedeutung des Chin-chin mit Einem Male klar wurde. Seit diesem Besuche in seinem Vamen reizt mich der Anblick chin - chimrender Chinesen nicht mehr zum Lachen. AIs Gegengift der allzu vertraulichen amerikanischen Umgangsformen, die nun auch in Europa einreißen, würde ich unseren tonangebenden W0 Herren und Damen den Chin-chin zur Annahme empfehlen. Im Dorfe Fa-ti (Blumenfeld) befinden sich die Gärten welche Kanton mit Blumen versehen. Was für ein sonderbarer, verderbter Geschmack! Welch' eigenthümliches Gefallen an den abgeschmacktesten Metamorphosen. Orangenbäume werden in Vasen verwandelt, Vuxbaumbüsche in Drachen mit eingesetzten Porzellanaugen, Lorbeer in Ungeheuer, Cypressen in Djonken oder Fasanen. Und alle diese verkrüppelten Pflanzen wachsen, blühen und tragen sogar spärliche Früchte: ungefähr wie die Frauen auf ihren künstlichen Klumpfüßen schwerfällig und unter Leiden umherwackeln. Aber das Princip ist dasselbe. Diese in ihrem Wesen grausame und sinnreiche Nation gefällt sich darin zu verstümmeln ohne zu todten. Wir rudern einen der zahlreichen Nebenflüsse des Pearl-Niver hinauf. Da hören wir den Gong begleitet Von Schmerzensgeschrei. Letzteres stößt ein Dieb aus der durch die Haufttgasse eines übelberüchtigten Dorfes gepeitscht wird. Der Mann mit dem Tam-tam schreitet ihm voran, der Henker folgt mit dem Bambus. Die Dorfbe- 281 wohner sehen mit offenen Mäulern zu und scheinen sich des Schauspiels zu erfreuen. Ob es sie auch bessern wird? Gs ist beinahe Nacht. Wir befinden uns im Süd-Ost-Ende, an dem äußeren Umfange Kantons, in der „Todtenstadt". Man stelle sich ein ganzes Viertel vor welches ausschließend von Todten bewohnt wird. Hier werden die Leichen der in Kanton verstorbenen Eingeborenen der Provinz Che-kiang beigesetzt bis ihre Angehörigen sie abholen lassen. Jeder Sarg steht in einer Art Kapelle zu Welcher man durch ein Vorzimmer gelangt. Es ist die Anwendung des in China so weit entwickelten Korftorations-Wesens auf die Todten, Die äußerste Reinlichkeit herrscht in der Nekropole. Kein übler Geruch verräth die Verwesung. Von Katafalk schreiten wir zu Katafalk. Ein Fackelträger geht uns voran. Ein unheimlicher Spaziergang! Wir sind am NichtPlatz angekommen. Er befindet sich 4n einer engen Gasse welche auf der einen Seite durch eine Häuserreihe mit Töpferbuden, auf der andern durch eine lange Ziegelmauer gebildet wird. Glücklicher Weise wird heute an der Mauer nicht „gearbeitet". Aber wir sehen die Werkzeuge deren man sich dabei bedient: Tische 263 auf denen der Delinquent ausgestreckt wird um von unten nach oben zerstückelt zu werden: Kreuze, kleine Käfige zur Aussetzung von Schädeln! mit Leim gefüllte Gefäße zur vorhergehenden Präftarirung der Köpfe. Alle diese Ge-räthschaften tragen frische Spuren des Gebrauches. Zur Zeit der großen Hinrichtungen, im Frühling und Herbst, ist der Boden buchstäblich mit Blut getränkt. Und dies hindert die Töpfer gegenüber nicht an ihrer Arbeit! (2. December.) Der Vice-König hatte die Güte für die Reise nach Makao den Peng-chao-hoy zu meiner Verfügung zu stellen. Dieser prachtvolle Steamer, ein im Dienste der Zollbehörden gebrauchtes Staatsschiff, wird von einem ehemaligen Ofsicier unserer Marine, dem Ka« pitän Vasallo aus Prag, befehligt. Um fünf Uhr Morgens holte er mich in seinem Gig ab. Nachdem der Peng durch seine Kanonensalve die friedlichen Bewohner von Shamien aus dem Schlafe geschreckt, zieht er Oesterreichs weiß-rothe Flagge auf die, wohl zum ersten Male, neben dem gelben Drachen des Reiches der Mitte weht. Vorsichtig windet er fich durch den Wald von Djonken und rauscht dann, zwölf Knoten m der Stunde laufend, den Pearl-River hinab. 233 Wer Kanton nicht sah, hat China nicht gesehen. Peking ist Central - Asien, die Stadt der Bibel, seinem Wesen nach ein Feldlager, das Zelt des Nomaden auf einem Rasttage. Kanton ist China, Peking die Mongolei. In Kanton, dem Mittel- und Brennpunkte einer ungeheuren, falsch civilisirten, raffinirten, verderbten Bevölkerung pulsirt chinesisches Leben. Das Auge ist überrascht und angezogen, aber alsbald wendet es sich mit Ekel ab. Das Frühstück wird in der Kabine des liebenswürdigen Kapitäns eingenommen. Dort sind wir in Oesterreich: Wiener Möbel, Wiener Vorhänge und Teppiche. An den Wänden die Porträts des Kaisers, der Kaiserin, des Erzherzogs Max und viele Ansichten aus unserem lieben fernen Vaterlande. Beim Dessert wird der dem Wiener werthe Gumftoldskirchner Wein kredenzt. Um zwei Uhr Nachmittags dampft der Peng um das Fort de Barra auf dessen Wällen die portugiesischen Quinas wehen. Einige Minuten später gehen wir in Makao an Land. 264 VII. Makao. Vom 2 jnm 4, December. 5ein Verfall. — Die NnNsrage. — Zunahme d«5 chinesischen Element». — Camäes, Makao ist bekanntlich eine kleine aus drei Hügeln, welche eine Plateau unter einander verbindet, bestehende, mit Häusern bedeckte Halbinsel. Eine schmale Landzunge Verbindet sie mit dem Kontinent. Soweit ist die Aehn-lichkeit mit Kadix auffallend. Es ist Festtag. Ich stehe vor der Kirche mit einer Gruppe junger Leute in bunten, auf Eleganz Anspruch machenden Toiletten. Man kennt den fragwürdigen Geschmack der Söhne Iberiens aus den Mittelklassen der sich besonders an Sonntagen bemerklich macht. Wir betrachten uns die Damenwelt. Unförmliche Fleischmassen, in schwarzseidene Mantillen gehüllt, mit fahlen Gesichtern und geschlitzten Augen. Mühselig steigen sie aus ihren Tragsesseln. Die Duenas und maleiischen Zofen folgen der Gebieterin zu Fuße. In der Kirche lassen sich Alle, nach portugiesischer Sitte, auf die Fersen nieder, murmeln ihre Gebete und rauschen mit den Fächern. Die Dienerinnen, 285 Wie alle Weiber aus dem Volke, unterscheiden sich von der Herrin durch einen dunkleren Teint, denn ein größerer Beisatz chinesischen oder malaiischen Blutes fließt in ihren Adern, durch geringere Beleibtheit und, statt der schwarzen, durch grellfarbige Kapuzen. Makao zählt kaum mehr zwölf Familien von rein portugiesischem Blute. In diese Zahl sind nicht begriffen die Aerzte und die schlecht bezahlten Civil- und Militärbeamten welche die Negierung zu gewissen Epochen Hieher sendet und, nach Ablauf ihrer Dienstzeit, wieder nach Hause bringen läßt. Die schönen Tage wo die Portugiesen nach Makao kamen um reich zu werden gehören ja der Geschichte an, sind gewissermaßen eine Mythe geworden. Niemand gedeiht hier außer die Kulihändler und die Eigenthümer von Sftielhäusern. Wenn man letztere schlösse, wurde mir gesagt, würde das Gras in den Straßen wachsen. Außer den Portugiesen gibt es hier drei englische und fünf deutsche Residenten, die einen wie die anderen Kaufleute ohne Geschäfte. Zuweilen vereinigt sie der Gouverneur bei sich. Diese sehr seltenen Soireen bieten der lusitanischen und der germanischen Nasse die einzige Gelegenheit sich zu begegnen, die Gassen ausgenommen, die immer verödet sind, in auffallendem Gegensatze zu dem äußerst belebten Viertel der Chinesen. Dort geht es gar lebhaft her. Wohlversehene Vutiken mit ungeheuren Aushängeschildern wechseln da mit stets gefüllten 236 Speise- und Spielhäusern. Zwischen einer doppelten Reihe niederer Gebäude im chinesischen Style drängen sich Krämer ihre Waare ausrufend, Lastträger mit Waarcnballen, zahlloses Volk, Männer, Weiber und Kinder. Man ist in China, aber um jene Ecke biegend, sind wir mit Einem Male in eine portugiesische Provinzialstadt gerathen. Kein menschliches Wesen zu sehen, höchstens ein paar Soldaten die ihr Cherut rauchend vorüberschlendern; sehr selten ein Tragsessel, kaum vermögend die Dame zu fassen welche ihn einnimmt; wir haben ihre Bekanntschaft bereits in der Kirche gemacht. Die Häuser sind massiv aus Stein gebaut, roth oder gelb übertüncht und tragen das ausgesprochene Gepräge des Mutterlandes. Es läßt sich behaupten daß keines älter ist als 1632 und keines jünger als 1650. Hinter den Häusern und zu beiden Seiten, über Mauern auf denen Vasen mit Agaven stehen oder die plumpe Steinbalustraden krönen ragen Cedern empor, Pinien, Bananen, exotische Büsche mit glänzenden Blättern. Die prachtvolle Kathedrale von Sankt Paul, von den Jesuiten am Ende des sechszehnten Jahrhunderts erbaut, unter dem Ministerium Pombal in eine Kaserne verwandelt, wurde vor einigen Jahren ein Raub der Flammen. Nichts blieb als die, trotz einiger Ueberladung, schöne Fassade. Die übrigen Kirchen sind baroke oder ganz schmucklose Bauten. Die vielen zu ihnen emftorführenden Rampen 387 und Treppen, die schweren Steingcländer erinnern an Abrantes, Santarem, Viseu. Bei jedem Schritte erfreut sich das Auge am Anblicke stattlicher Gebäude. Es sind ehemalige Mönchs- und Nonnenklöster, dermalen in Kasernen ohne Soldaten umgestaltet, in Museen ohne Kunst-schätze, in Kanzleien die überfüllt sind mit hungrigen Beamten. Die Praya grande, oder der Quai, ist eine dem Meere südwärts zugewandte Häuserreihe; sie erinnert an die Iunqucira in Lissabon. Die Makaesen vergleichen sie mit der Chiaja in Neapel; eine etwas gewagte Hyperbel. Hier genießt man im Sommer der Südwest-Monsoons und, in allen Jahreszeiten, einer reizenden Aussicht nach der Küste des Festlandes und dem es umgürtenden Archipel. Diese Inseln, obgleich ganz nackt, höchstens mit einigen sonnverbrannten Büschen bewachsen, fesseln den Blick durch ihre phantastischen Umrisse und schmücken sich mit den wechselnden Tönen welche der Himmel, wenn auch weniger schön als im südlichen Europa, Morgens und Abends über sie ergießt. Das chinesische Element ist in stetiger Zunahme begriffen. Dies begreift sich. Der Chinese vertritt das Leben, der Portugiese den Schlummer, wenn nicht den Tod. Daher kommt es daß viele schöne alte portugiesische Häuser in chinesischen Besitz gelangten. Ich habe einige besucht. Die Metamorphose ist vollständig. Das Madonnenbild 283 Welches gewiß in keinem portugiesischen Haushalte fehlte ersetzt der Altar der Voreltern. Keine Spur mehr von der einfachen Einrichtung, von dem vornehmen Verschmähen der Bequemlichkeiten des Lebens welches die iberische Rasse und ihre Wohnsitze kennzeichnet. Jetzt sind diese Räume überfüllt mit Sftielsachen, mit nutzlosem Geräthe, Rollen von bemaltem Papier oder Seidenstoffen, mit all' den namenlosen Kleinigkeiten welche der Einheimische liebt und die wir gemeinhin Chinoiserien nennen. Während die englischen und deutschen Residenten allmälig fortziehen weil sie keine Geschäfte mehr machen, während das portugiesische Element, durch fortwährende Aufnahme asiatischen Blutes entartet, allmälig ausstirbt, bewirkt der Chinese durch seine bewunderungswürdige Thätigkeit und Mäßigkeit was seine Regierung*) weder durch List noch mit Gewalt erreichen konnte: er ergreift, noch im Schatten der portugiesischen Flagge, Besitz von dem einst durch lusitanische Helden eroberten Gebiet. Das Ueberhandnehmen des den Portugiesen so verhaßten chinesischen Elementes gab zu einer Vorschrift Veranlassung welche den in Kalifornien bestehenden gegen die gelbe Rasse gerichteten Gesetzen würdig zur Seite steht. In Makao ist den Chinesen untersagt auf der Praya grande *) Die chinesische Regierung hat die Besitzergreifung der Halbinsel Makao durch die Portugiesen niemals anerkannt. 369 und in den anstoßenden Gassen Häuser in ihrem Style zu erbauen. Eine ungerechte, unpolitische und ohnmächtige Maßregel. Die Folge ist daß die Chinesen portugiesische Häuser kaufen. Sobald letztere in den Besitz ihrer neuen Erwetber gerathen sind verdoppelt sich ihr Werth. Ich wohne hier in einem geräumigen prachtvollen Herrenhause das in einem schönen Garten steht unweit der Praya grande. Die Eigenthümer, welche es nicht verkaufen wollen, haben es um einen Spottpreis, um vierzig Dollar monatlich, an einen europäischen Kaufmann vermiethet dessen Familie hier die Sommermonate zubringt! Im Besitz eines Chinesen würde es mindestens den doppelten Werth haben. Die Ursachen des Verfalles sind die chinesische Konkurrenz und die Eröffnung der Treaty-Ports.*) Alles hat sich also zum Untergange Makao's verschworen. Und doch war es das große Emporium der ersten portugiesischen Kaufherren und, seit der Mitte des sechszehnten Jahrhunderts, der Brennpunkt katholischer Nissenschaft und katholischen Lebens im äußersten Osten. Noch heute ist es das, schwache, Band welches die portu-g iesische Mischrasse mit der christlichen Gesellschaft verbindet. *) Siehe,S. 191. Hübner, Spaz^rgang III. lg 290 Ich empfing heute mehrere Besuche. Der Gouverneur Vice-Admiral Sergio de Souza scheint seine Beliebtheit zu verdienen. Ihm verdankt Makao die gut erhaltenen Straßen und alle andern Vortheile einer trefflich ge-handhabtcn Aedilität. Viel Sorge verursacht ihm die Auswanderung der Kuli. Nach Möglichkeit sorgt er für das Wohl dieser Menschen. Die Kaufleute welche ich sah sprachen mit Gereiztheit über die Stockung des Handels: „Kanton", sagten sie mir, „ist ganz gesunken, und Makao war so zu sagen nur eine Succursale Kantons. Die Schisse welche dort schwarzen Thee eingenommen vervollständigten hier ihre Ladung. Aber der Thee kommt jetzt weder nach Kanton noch nach Makao, sondern sucht die Häfen des Dang-tse kiang. Also keine Schiffe, kein Thee, keine Geschäfte. Der Kulihandel allein gibt Prosit, aber. Leute die sich achten, Engländer und Deutsche, nehmen hieran keinen Theil. So weit hat uns die Schwäche und Engherzigkeit der englischen Regierung gebracht. Wir brauchen eine kräftige Politik." Also jemehr man leidet, desto kriegerischer wird die Stimmung. In den Augen dieser Kaufleute ist das einzige, das sichere Heilmittel der Krieg. 291 Ich besah die Barrancöes heute sehr eingehend. Es ist ein blutroth getünchtes Gebäude welches mehrere Säle enthält. In letzteren belehren große Maueranschläge die Kuli über die Bedingungen unter welchen sie sich nach Peru oder nach der Havana verdingen können. Bei ihrer Ankunft vom Festlande werden sie in den Barrancöes eingesperrt, sodann in einem dieser Säle versammelt. Man liest ihnen die Bedingungen vor und befragt sie zu wiederholten Malen ob sie noch immer zur Auswanderung entschlossen seien. Sodann haben sie ihre endgiltige Einwilligung vor dem Notar abzugeben. Ist dies geschehen, so sind sie gebunden. Viele nehmen im letzten Augenblicke ihr Wort zurück. Erst unlängst verlangten von Achthundert Fünfhundert nach ihrer Heimath zurückgeschickt zu werden. Da sie das verhängnisvolle Jawort noch nicht gesprochen hatten, wurde dem Begehren willfahren. Die Angeworbenen werden an Bord gebracht. Diese Einschiffungen finden dreimal in der Woche statt. Die Schiffe, meist Schnellsegler, verlassen die Nhede sobald ihre Ladung voll« ständig ist, dubliren, je nach ihrer Bestimmung, Cap Horn oder das Cap der guten Hoffnung und bringen gewöhnlich drei Monate auf der Ueberfahrt zu. Nächstens werden Dampfer die Segelschiffe ersetzen. Dem Gouverneur liegt es ob darüber zu wachen daß die gesetzlich festgestellte Anzahl der Einzuschiffenden nicht überschritten werde. 19* 292 Unparteiische Zeugen bestätigen daß Admiral Souza angelegentlich bemüht ist unfreiwillige Einschiffungen hintanzuhalten. Zu diesem Ende begünstigt er eine Uebung welche, am Ende der Reise, für jeden in guter Verfassung ausgeschifften Kuli dem Kapitän eine Prämie von einem Pfund Sterling und seinem ersten Ofsicier von fünf Shil-lingen zusichert. Aber die menschenfreundlichen Bestrebungen des portugiesischen Gouverneurs, so wie die strengen Maßregeln der chinesischen Behörden welche jeden in ihre Hände fallenden Werbeagenten ohne Weiteres hinrichten lassen, werden häufig vereitelt durch die Käuflichkeit der Unterbeamten, durch die Bestechung welche die „Brokers", fast immer Spanier und Portugiesen, zu üben wissen, insbesondere aber durch die Schissskapitäne selbst. Letztere verlassen Makao nachdem sie ihre normale Ladung Menschenfleisch eingenommen haben! aber statt ihren Kurs nach Amerika zu nehmen, laufen sie an irgend einem nahen verlassenen Punkte der Küste an. Dort harren ihrer chinesische Werber mit einem neuen Vorrathe unfreiwilliger Auswanderer welche unbarmherzig in die unteren Schiffsräume gesteckt werden. Die Agenten oder Vehexer wenden verschiedene Kunstgriffe an. Eine häufig gebrauchte List ist folgende. Der Werber geht von Dorf zu Dorf, jammert über die schlech-tm Zeiten, spricht von dem glücklichen Loose der Brüder 293 in Amerika und erzählt daß er zur Auswanderung entschlossen sei. Er findet Glauben, beredet Einige oder Mehrere ihm zu folgen uud bringt sie nach Makao. Dort vollzieht er mit ihnen in den Barrancöes die vorgeschriebenen Förmlichkeiten. Den Schluß derselben macht die endgültige Zusage. Zu diesem Zwecke treten die Kuli, zwischen Geländern wie man deren an unsern Theatern und in den Bahnhöfen sieht hintereinander gehend, vor den Notar um die bindende Erklärung abzugeben. Der Werber ist zu artig um den Vortritt zu beanspruchen. Er will in seiner Demuth der letzte sein. Während sie sich langsam dem Schreibvulte nähern macht er sich aus dem Staube. Von dem Sklavenhandel dürfte sich das Kuligeschäft in moralischer und physischer Beziehung kaum wesentlich unterscheiden. Vielleicht hatten die Neger, während der immer grauenhaften Neberfahrt, etwas mehr zu leiden: aber am Orte ihrer Bestimmung angelangt fanden sie, wenn nicht in der Menschlichkeit so doch im Interesse ihres Eigenthümers der sein Kapital nicht verlieren wollte, eine gewisse Bürgschaft verhältnihmäßigen Wohlseins. Die Kuli entbehren dieser Gewähr; und ihr Loos ist, wie man mir sagt, auch deshalb beklagenswerther weil sie einer der schwarzen weit überlegenen Rasse angehören. 294 Bekanntlich hat Camöes die Lufiaden in Makao gedichtet. In einem noch in seiner Verwahrlosung wundervollen Garten, zwischen natürlichen Felsen und alten Bäumen, zeigt man auf einer Anhöhe die Grotte des Sängers. Ein einsames entlegenes Plätzchen. Die Stille nur unterbrochen durch das Flüstern der Zweige. Mit Entzücken streift das Auge über Wasser und Land hin, über die Stadt, die Küste, den Archipel. Wie sollte man da nicht Tasso's gedenken und seiner Eiche in San Onofrio. Eine letzte trübe wehmüthig schöne Analogie zwischen den beiden hart geprüften Zeitgenossen! Auf einem Steine wurden einige Verse aus den Lu-siaden eingegraben: Klagen über königlichen Undank. Man hätte besser wählen können. Warum das Interesse für Camoes auf die Entbehrungen des armen Edelmannes beschränken? Warum nicht lieber dem Barden folgen in die luftige Höhe des Parnaß? Dort, unter seinen Pairs, feiert er die glänzendsten Triumphe. Die Begeisterung, das Bedürfniß zu dichten wie die Nachtigall singt weil sie muß, die Vaterlandsliebe, die Treue für das angestammte Königshaus entlockten seiner Leier ihre bezaubernden Töne, und nicht der Durst nach Hofgunst, das Verlangen nach etwas Geld oder nach einem Bande. Wenige Schritte von der Grotte befindet sich ein Gewölbe durch dessen Spalten der Poet, einer Sage nach, die Sterne beobachtete. Armer 295 Camoes, dein Stern erblich damals, aber er erschien wieder am Himmel wo er leuchten wird bis an das Ende der Zeit. VIII. Auf der Heimfahrt. vom 6. Vecemberi'bis 13. Äanuar (1372). Aßreise von Hongkong, — Die Missionare in China, — Europäische Vt-Ziehungen zum «eiche der Mille. — Ankunft in Ndirseitl'e. (6. December.) Genau um Mittag dampfte der Tigre, Kapitän Boileve der Messageries Maritimes, aus dem Hafen von Hongkong. Der jetzt herrschende Nord-Ost-Mon-soon läßt uns hoffen Marseille in achtunddreißig Tagen zu erreichen. Dem „äußersten Osten" Lebewohl sagend, fühle ich mich wie bestürmt von angenehmen Erinnerungen. Ich gedenke der freundlichen Aufnahme die mir dort zu Theil Ward und bemerke jetzt erst daß ich, mit Ausnahme der ersten Tage in Yokohama und der Reisen im Innern, seit ich San Francisko verließ in keinem Wirthshause geschlafen habe. In Europa ziehe ich das Hotel vor; aber hier ist dies 296 anders. Eure Freunde entdecken Eure Neisepläne und verständigen hievon ihre Korrespondenten in den anderen Häfen. Der Dampfer läuft ein. Eine Flottille von Sampanen, von kleinen Kähnen und Nachen aller Art umgeben ihn sofort. Ein schmucker Gig nähert sich; die Matrosen tragen Livree; am Steuer sitzt, sein Cherut im Munde, ein junger Elegant, weiß gekleidet vom Wirbel bis zur Zehe. Er stürzt an Vord, sucht, errathet, entführt Dich. Deine Boys und seine Boys sorgen für das Gepäck. Nun bist Du gelandet und in einem schönen durch die Veranda etwas verdunkelten Zimmer untergebracht. Das Bad ist bereit, die Toilette alsbald gemacht, das Diner angesagt. Im Salon erwartet Dich die Frau vom Hause in großer Toilette. Meist jung, oft hübsch, immer liebenswürdig, weil offenbar erfreut über den Besuch. Jedermann ist es; denn Deine Ankunft unterbricht die Monotonie, diese Geißel des kolonialen Daseins. Ein frisch ausgeschiffter Europäer der gekommen ist um sich zu unterhalten und nicht um Anderen Konkurrenz zu machen, dieser seltene Vogel, ist gewiß willkommen. Ich verweile nicht bei den materiellen, übrigens nicht zu unterschätzenden Genüssen dieser schönen oft fürstlichen Gastfreundschaft. Ich hebe besonders die geistigen Vortheile hervor. Du bist mit Einem Male in den Familienkreis eingelassen und zugleich in eine neue Welt versetzt. Jeder Tag ist reich an neuen Eindrücken 297 und Beobachtungen. Man rechne nur die Stunden nach die der Reisende in unseren Hotels allein zubringt und die, insofern es sich um Belehrung handelt, zu den verlorenen gehören. Hier vom Morgen zum Abende bist Du nie allein, und Du hörst von nichts sprechen als von lokalen Angelegenheiten die sich auf China oder Japan beziehen und die Dich eben interessiren da Du um ihretwillen gekommen bist. Während Dein Hauswirth auf seiner Kanzlei oder in seinem Kontor arbeitet, schwätzest Du mit feiner Frau oder gehst mit ihr spazieren, oder Du spielst mit ihren Kindern oder nimmst bei der chinesischen Bonne im ditoliLi! oi^imü Unterricht. Kurz Du hörst nur vom Reiche der Mitte oder von dem der aufgehenden Sonne sprechen. Zu jeder Stunde bist Du dort. Die Ueberfahrt gibt Zeit und Stimmung zu einem Rückblick auf das Gesehene. Wie steht es mit den beiden in den Treaty-Ports so viel besprochenen großen Fragen: den Missionären und den künftigen Beziehungen Europa's zu China? ->- Unerachtet der Bemühungen der französischen Regierung durch ihren Gesandten Herrn von Lagrenee ein Toleranzedikt zu Gunsten der Christen zu erlangen, blieb unser Glaube im Reiche der Mitte auf das Strengste ver» 298 pönt. Die Missionäre welche das Evangelium predigten, die Eingeborenen welche die Taufe empfingen waren nach wie Vor die Opfer periodischer Verfolgungen und ununterbrochener Plackereien. Ihr Schicksal, ihr Vermögen, ja selbst ihr Leben lagen in den Händen des Mandarins. Das Beste, das Wünschenswerteste für sie war, daß er ihr Dasein vornehm ignorirte. Die von China mit England und Frankreich geschlossenen Verträge von Tien-tsin und die nachträglichen Konventionen von Peking haben diese Zustände gründlich verändert.*) „Die christliche Religion," sagt der achte Artikel des englischen Vertrages, „so wie sie von den Protestanten und den römisch-katholischen Christen geübt wird, empfiehlt dem Menschen tugendhaft zu sein und Andere zu behandeln wie er selbst wünscht behandelt zu werden. Daher werden jene welche diese Religion lehren Anspruch auf den Schutz der chinesischen Behörden haben und nicht verfolgt oder (in ihrem Berufe) behindert werden können, so- ^) Der englische Vertrag wurde zu Tien-tsin ain 26. Juni 1858 unterzeichnet, die nachträgliche Konvention in Peking am 24. Oktober 186N; der französische Vertrag zu Tien-tsin am 27. Juni 1858, die nachträgliche Konvention zu Peking am 25. Oktober 18«0. 299 fern sie ihren eigenen Geschäften friedlich nachgehen und ihnen keine Uebertretung der Gesetze zur Last fällt." Der viel eingehendere dreizehnte Artikel des französischen Vertrages lautet folgendermaßen: „Da die christliche Religion zum Zwecke hat den Menschen tugendhaft zu machen, so werden die Angehörigen aller christlichen Glaubensgenossenschaften vollkommene Sicherheit genießen sowohl für ihre Personen, als für ihr Eigenthum und die freie Ausübung ihrer Religion: auch wird den sich friedfertig in das Innere begebenden, zu diesem Ende mit regelmäßigen Pässen versehenen Missionären wirksamer Schutz geleistet werden. Die Behörden des chinesischen Reiches werden Niemanden in dem Rechte behindern welches Jedermann in China besitzt, nämlich in dem Recht, die christliche Religion freiwillig anzunehmen und auszuüben ohne deshalb in Strafe zu verfallen." Der sechste Artikel der Zusatz-Konvention von Peking fügt zu diesen Bestimmungen eine wichtige Klausel: „die religiösen Niederlassungen der Christen und ihre wohlthätigen Anstalten, welche zur Zeit der Verfolgungen unterdrückt und eingezogen wurden, sollen den ehemaligen Eigenthümern mit den Kirchhöfen und sonstigen dazu gehörigen Gebäuden zurückerstattet werden." Die Gesammtzahl der katholischen Ehinesen im ganzen Reiche wnd, gewiß sehr willkürlich, auf eine halbe, auf 300 ein».', auf zwei Millionen veranschlagt. Die bedeutendsten christlichen Gemeinden befinden sich in den Provinzen Sze-chuen, Kiang-su, Ngan hwei und Chili. Ungefähr fünfhundert europäische Missionäre, deren drei Viertheile Franzosen sind, und hundertsechszig bis zweihundert chinesische Priester üben die Seelsorge aus. Folgendermaßen sind sie über das Reich vertheilt. Priester der Mission etrangere de Paris (sämmtlich Franzosen) in den Provinzen Kwang-tung und Kwangsi (in letzterer haben sie wegen der Feindseligkeit der Bevölkerung bisher noch nicht festen Fuß gefaßt); in Sze-chuen, Mnan und Kwei-chow; überdies in der Mandjurei und in Thibet. Aus Korea wurden sie vertrieben. Die Dominikaner (Spanier) in Fuh-kien, Hunan und auf der Insel Formosa. Die Priester der „Kongregation von der Mission genannt Lazaristen" (Franzosen) im Chekiang, Nord-Chi-li (Peking), West-Chi-li und Kiang-si. Die Jesuiten (Franzosen und einige Italiener) in Kiang-su, Süd-Chi-li und Ngan-Hwei. Die Franciskaner (Italiener) in Shan-sie, Shen-su, Kang su und Hu-Veh. Die Priester der römischen Propaganda Fidci (Italiener) in Honan, wo sie jedoch bisher, gleichfalls wegen der feindseligen Haltung des Volkes, nicht eindringen könn- 301 ten; auf der Insel Hongkong und in dem zur Provinz Kwang-tung gehörigen Distrikte Se-non, Die Priester der belgischen „Kongregation für die Missionen in China" (Belgier) in der Mongolei, Die Schwestern vom heiligen Vincenz de Paula (Französinnen) in Peking, Ning-fto, Shanghai, Hang-chow (Che-kiang) und auf den Inseln Chusan. Die Karmeliterinnen in Shanghai. Die Hilfschwestern der armen Seelen im Fegefeuer (Französinnen) in Sü-kia-wei. Die Schwestern des heiligen Paul von Chartres (Französinnen) in Kanton, seit dem Tientsiner Blutbade, in Hongkong. Die Schwestern von Canossa (Italienerinnen) in Hongkong. Die italienischen Schwestern in Hang-kow am Vang-tse-kiang. In jeder Provinz gibt es ein General-Vikariat. Sze-chuen und Chi-Ii zählen deren drei. Je nach der Anzahl der Priester und der Christenheiten, ist jedes Vikariat in mehrere Distrikte getheilt. Die in Rom residirende Propaganda Fidei bildet das Band zwischen den Missionen und dem heiligen Stuhl. Der General-Prokurator, gegenwärtig Pater Raimondi, der seinen Sitz in Hongkong hat, unterhält den Verkehr 302 zwischen Rom und den apostolischen Vikariaten. Seine Briefe erreichen die entferntesten Bischofssitze binnen dritthalb Monaten. Die chinesischen Priester gehören sämmtlich altchristlichen das heißt Familien an welche seit zwei- oder dreihundert Jahren katholisch sind. Neofthyten werden nur in Folge einer, selten erbetenen, noch seltener gewährten, Dispens zur Priesterweihe zugelassen. Die eingeborenen Priester schildert man als gläubig, dem Studium ergeben, meist eifrig, aber ohne Thatkraft, schüchtern und unfähig eine „Christenheit" zu leiten. Sie lieben und suchen theologische Diskussionen; aber, mehr spitzfindig als tief, erheben sie sich in der Wissenschaft selten über eine gewisse Grenze. Die Ueberlegenheit der europäischen Missionäre fühlen sie, zuweilen nicht ohne einige Bitterkeit: aber sanft und mit Klugheit behandelt, sind sie treffliche Gehilfen. Allgemein wird ihnen Sittenreinheit nachgerühmt. Die höheren Stellen der Hierarchie, wie Bischofssitze, blieben ihnen bisher verschlossen. Die eingeborenen Klosterfrauen sind sehr gute Wesen die sehr wohlthätig wirken aber einer beständigen Leitung bedürfen. Damit eine Mission gedeihe ist es nöthig daß die ihr ungehörigen Missionäre unter einander in häusigem und regelmäßigem Verkehre stehen. In vielen Provinzen ist 303 dies Wegen der ungeheuren Entfernungen geradezu unmöglich. Aber bei Errichtung neuer Missionen wird darauf Bedacht genommen daß die Kirchsftrengel an einander grenzen nnd die Priester sich ein- oder zweimal im Monate sehen können. Die Katechumenen werden als die Pioniere des Christenthums benutzt. Sie gehen von Dorf zu Dorf, erregen zuerst Neugierde, dann Interesse, beantworten die an sie gestellten Fragen und lassen zuweilen dauernde Spuren ihrer vorübergehenden Erscheinung zurück. Ihnen folgen eingeborene Priester; sie beginnen den Unterricht und suchen die gute Stimmung zu erhalten. Erst wenn der Boden gehörig vorbereitet, begeben sich die Missionäre an Ort und Stelle, vollenden die Belehrung, verleihen die Taufe und gründen eine „Christenheit". In Betreff des weiblichen Geschlechtes liegen die Vorarbeiten den einheimischen Schwestern ob. Sie gehen wie die Katechumenen zu Werke, versammeln die Frauen und jungen Mädchen des Dorfes in dem Hause eines Freundes, erklären die Grundwahrheiten des Glaubens, erwecken den Wunsch der Betehrung. Ist ihre Sendung bis zu einem gewissen Grade gelungen, so erscheinen die Missionäre, vervollständigen den Unterricht und ertheilen die Taufe. Die Neophyten sind selten eifrige Katholiken, aber sie bleiben treu so lange sie in ihrer Gemeinde leben. Diejenigen welche viel reisen, lange 304 Zeit vom Hause abwesend sind oder sich in heidnischen Gegenden niederlassen, verlieren leicht den Glauben, fallen aber selten ausdrücklich von ihm ab. Die alten Christen hängen dagegen an ihrer Religion. In Sze chuen, wo sie sehr zahlreich sind, haben sie das Gefühl ihrer Stärke und vertheidigen sich tapfer, zuweilen mit gewaffneter Hand, gegen die Nachstellungen der Literaten. Jedermann kennt die Gefahren welchen das Aposto-lat in China ausgesetzt ist. Weniger bekannt ist die elende ärmliche Lebensart der Missionäre und der Schwestern. Furchtbar mäht der Tod in den Reihen dieser muthigen Männer, dieser opferwilligen Frauen. „Wir kamen," sagte mir ein Missionär, «vor zehn Jahren aus Europa; mit den sechs Schwestern waren wir vierundzwanzig. Sie sind alle todt bis auf vier, deren einer ich bin. Die Diplomaten und Konsuln ertragen den Aufenthalt in China ganz wohl. Die große Sterblichkeit unter uns kann also nicht dem Klima zur Last gelegt werden, sondern unserer Lebensart, der chinesischen Kost, dem Mangel an ärztlicher Hilfe und den vielen Entbehrungen." Während meiner Reisen in China bildeten die ij sionäre das allgemeine Tagesgespräch der Ausländer. Das Memorandum des Prinzen Kuna/) und die Tien-tsiner *) Es bildet eine Beilage des Rundschreibens des Tsungli-Damen vom 9. Februar 1871. 805 Mordthaten hatten die Priester und Schwestern auf die Tagesordnung gesetzt. Jedermann, die chinesische Regierung, die Missionäre selbst, endlich die Vertreter der christlichen Mächte gaben ihre Meinung über die „Missionsfrage" ab. Hören wir sie t Zunächst die Ansicht der Trade-Ports. Niemand hat sie noch besser zusammengefaßt als Herr Medhurst in seinem bereits von mir citirten Buche.*) Herr Medhurst ist Engländer und Protestant. „Es ist jetzt Mode," sagte er, „sich über die protestantischen Missionäre zu beklagen und sie zu ihrem Nachtheile mit den römisch-katholischen Priestern zu vergleichen. Dies ist eine Ungerechtigkeit. Ich werde keine solchen Parallelen ziehen, sondern einfach die Wirksamkeit der Theile prüfen......Die katholischen Missionäre, obgleich sie im Vergleich zu den protestantischen Legion sind, lassen sich wenig sehen. Ihr System besteht darin daß sie, gleich nach ihrer Ankunft, so weit als möglich in das Innere dringen, jede Berührung mit den europäischen Kaufleuten vermeiden, sich als Chinesen verkleiden und ihren Veruf *) Ili« lorei^usr m lar Oatba?. Der Leser wolle mir geneigtest den Anachronismus nachsehen den ich begehe indem ich in ein im Jahre 1671 geschriebenes Tagebuch Citationen aus «nem 1672 erschienenen Buche aufnehme. Hühner. Vpaziergang m. 20 306 im Dunkel und ohne Unterlaß in den verschiedenen Stationen üben welche ihre Vorgänger und Brüder seit Jahren wenn nicht seit Jahrhunderten besaßen. Ihre Aufopferung ist merkwürdig, ihre Erfolge erstaunlich, und ich gehöre zu jenen welche glauben daß sie sehr viel Gutes thaten und noch thun. Sie suchen durch die Erziehung Prose-lyten zu machen, ein nothwendiger Weise langsames Verfahren, aber gerechtfertigt durch die zahlreichen und soliden Bekehrungen. In den Städten oder Dörfern wo sich eine römische Mission befindet gibt es immer einen Kern christlicher Familien in denen sich der Glaube von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanzt hat, und oft war ich überrascht durch die Ruhe und das ehrbare Wesen welche man in diesen Gemeinden findet, besonders wenn man sie vergleicht mit der sie umgebenden heidnischen Bevölkerung, sowie durch den Gehorsam und die Anhänglichkeit welche die Bekehrten für ihre geistlichen Väter, so nennen sie die Priester, stets an den Tag legen." Herr Medhurst mißbilligt die, oben gegebenen, Bestimmungen der französischen Verträge. Den katholischen Priestern, meint er, die bisher gewissermaßen im Verborgenen wirken mußten, sei in Folge dieser großen Zugeständnisse der Kamm geschwollen. Sie verlangen Rückstellung von Gütern welche vor langen Jahren und aus Politischen Gründen eingezogen wurden: sie maßen sich 307 eine Gerichtsbarkeit über die eingebornen Glaubensgenossen an und ermuthigen diese ihre Pflichten als chinesische Unterthanen nicht zu erfüllen. Die Missionäre, die katholischen wie die protestantischen, begehen auch einen Fehler durch Erbauung prachtvoller Kirchen und hoher Thürme, wodurch gewisse chinesische Vorurtheile verletzt werden. Endlich tadelt der Verfasser an den barmherzigen Schwestern daß sie durch Aufnahme von Kindern in ihre Waisenhäuser den Feinden der Ausländer willkommenen Stoff zu verleumderischen Gerüchten gewähren. Andere Stimmen, weniger gemäßigt als Herr Medhurst, sprechen überhaupt den Missionen jede praktische Nützlichkeit ab. Doch auch sie, wie Jedermann, wie alle jene mit denen ich hierüber sprach, bestätigen die große Ueber« legenheit der katholischen über die protestantischen Missionäre. Die ersten katholischen Anstalten entstanden vor dreihundert Jahren. Der Unterricht und die Verbreitung des Glaubens wurden nie ganz eingestellt, und unter den zahlreichen über das ganze ungeheure Land zerstreuten Christenheiten gibt es einige sehr bedeutende. Die römischen Missionäre kennen China besser als irgend Jemand, und durch sie erhält man aus den entferntesten und unzugänglichsten Punkten des Reiches die besten und verläß- 20* 308 lichsten Nachrichten.*) Alles dies gibt man gerne zu. Aber man fürchtet daß die Missionäre zu große Ansprüche erheben, dadurch die Mandarine in üble Stimmung versetzen und so, mittelbar, dem Handelsverkehr Nachtheil zufügen. Wozu, sagt man, die Verkündigung des Evangeliums? Die Chinesen verstehen es nicht. Sie sind nicht reif für die Dogmen des Christenthums. Man lasse die Zeit wirken. Zuerst werde civilisirt und dann gepredigt und bekehrt! Schon fiel die große Mauer welche China umfing. Unsere Kanonen haben die erste Bresche hineingeschossen. Ein neues Element drang in das erst noch verlassene, jetzt immer mehr und mehr sich erschließende Land. Dies neue Element sind wir. Wir bringen den Chinesen unsere Ideen, wir geben ihnen das Beispiel der Sicherheit, der gut gepflasterten gefegten erleuchteten Straßen, der Eisenbahnen und Telegraphen. Hiezu tritt der Ginfluß der aus Amerika, Australien und unsern Ansiedlungen in der Meerenge von Malacca zurückkehrenden Chinesen. Sie haben dort, bis zu einem gewissen Grade, den Geschmack, *) Indem Herr Wade Lord Granville die Proklamation des Pnnzen Kung über die Tien-tsiner Vorfälle einschickt, fügt er hinzu: ,,Nir werden durch die römischen Missionäre erfahren, m welchem Matze die Proklamation verbreitet wurde." Vlue Vook. China No. 1. (1671) S. 222. 309 die Ideen, die Gewohnheiten der Europäer angenommen. Das sind die wahren Missionäre. Wenn die Chinesen hinlänglich aufgeklärt sein werden um über ihren Aberglauben zu lachen, so werden sie sich vielleicht taufen lassen. Wenn die katholischen Missionäre statt zu predigen, die protestantischen statt die Bibel zu verkaufen, kleine Flugschriften mit Abhandlungen über nützliche Kenntnisse, über Physik und Mechanik, illustrirtc Zeitungen und dergleichen verbreiteten, so würden sie weit kräftiger als durch ihr jetziges Verfahren zur Umwandlung dieser Nation beitragen. Wenn ich antworte: „Aber die Auswanderer kommen aus Kalifornien*), aus Australien, aus Singapore als größere Fremdenhasser zurück als sie bei ihrer Abreise nach jenen Ländern warm", so lächelt und schweigt man. Indeh, nicht Jedermann theilt diese Selbsttäuschungen. „Ich habe immer gefunden", sagt Herr Medhurst**), „daß der Chinese durch die Berührung mit den Fremden nicht besser wird. Die herrschenden Klassen dulden uns, aber mit Freuden würden sie den Tag begrüßen an dem sie die letzte unserer Faktoreien vernichtet, das letzte unserer Schisse von ihren Küsten verwiesen sähen. Die Emigranten verfallen nach ihrer Rückkehr immer wieder, ihrem Instinkte *) Siehe I. Band, Seite 247—254. '*) Ido torsixusr iu kr O»Ül»y S. 17«. 310 folgend, in die alte Lebensweise und betrachten ihren Aufenthalt im Auslande als eine glücklich überstandens Prüfung. Selbst die Chinesen von Rang welche in neuester Zeit Europa gewissermaßen in diplomatischer Mission besuchten schienen durch das was sie dort sahen wenig berührt und verriethen nicht das geringste Verlangen nach den Fortschritten und Errungenschaften der Civilisation." Der Verfasser führt Chung-Hou an, den dem Leser bekannten Ober-Kommissar in Ticn-tsin. Er war gegenwärtig bei seiner Einschiffung an Bord eines prachtvollen Dampfers der französischen Messagerie und besuchte ihn später in London in einem großen Appartement des Grosvenor-Hotel. Bei beiden Anlässen schien der chinesische Reisende den Lur.us der ihn umgab nicht zu bemerken. Eben so wenig hätte er sich über die elende Unterkunft in einer Djonke oder in einer chinesischen Herberge gewundert. Herr Medhurst meint daß diese Nation geistig unfähig ist sich von den ererbten Ansichten, Vorurtheilen und Gewohnheiten loszureißen. Also: das Publikum in den „Häfen" will daß sich China civilisire; es bezweifelt die Nützlichkeit der Missionen: es hat eine hohe Meinung von den persönlichen Eigenschaften der katholischen Missionäre, aber es betrachtet sie als eine Quelle der Verlegenheit. Die Klosterfrauen werden, wie dies auch Herr Medhurst that, wegen ihrer an- 311 geblichen Unvorsichtigkeit getadelt und wegen ihrer übrigen Eigenschaften und ihres Lebenswandels bewundert. Dies ist in China, wenigen Ausnahmen abgerechnet, die Generalbilanz der katholischen Missionäre in den Faktoreien. Die protestantischen Missionäre sind nicht beliebter als die katholischen, vielleicht noch viel weniger. Man beschuldigt sie sich an Handelsunternehmungcn zu betheiligen, zu viel an das zeitige Wohl ihrer Familien und die irdischen Güter dieser Welt zu denken und die Konsulate durch unablässige Reklamationen zu belästigen. Als Beispiel führt man an daß sie im verflossenen Jahre nicht nur für die Verwüstung ihrer Kapellen in Tien-tsin, sondern auch für den luoium e^ans ihres durch die Unruhen beeinträchtigten Bibelverkaufes Entschädigung beanspruchten. Herr Medhurst der weniger als die meisten Residenten gegen sie eingenommen ist sagt von ihnen: „Die protestantischen Missionäre sind fast alle verheirathet, lassen sich in den offenen Häfen nieder, bauen sich in der Koncession oder in der Nähe derselben Häuser im europäischen Style und leben mehr oder weniger im Umgänge mit den Fremden. Obgleich sie ihre Enthaltung von Handelsgeschäften nachzuweisen suchen, so sind die Eingeborenen doch überzeugt daß sie Handel treiben. Ich habe gesagt daß sie verheirathet sind. Gewiß, meine Absicht ist nicht mich 312 gegen den Ehestand auszusftrechen oder das Cölibat anzupreisen , um so weniger als ich mehr als ein Ehepaar kenne welches gemeinsam viel Gutes wirkt. Demunge-achtet glaube ich daß in China unverheirathete Männer und Frauen sich vorzugsweise für den Missionsberuf eignen Sie können ihre ganze Zeit dem Apostolate widmen, mit größerer Leichtigkeit den Umgang mit den Europäern meiden und ihren Wohnsitz unter den Eingebornen nehmen. Auch werden sie sich bei diesen eher in Gunst und Ansehen setzen weil der Chinese die Ehelosigkeit als ein Hauptelement der Selbstaufopferung betrachtet." Der Verfasser zollt übrigens den Organen der verschiedenen Bibelgesellschaften volle Anerkennung. Ich habe nur wenige Männer dieses Standes begegnet, und die ich sah erfreuten sich eines guten Nufes und schienen ihn zu verdienen. Die Zahl der Bekehrungen zum Protestantismus ist verschwindend klein, aber wenn die englischen, amerikanischen und deutschen Missionäre wenig Schafe in die Hürde führen, so haben sie, jedenfalls, in den letzten vierzig Jahren für Verbreitung der Kenntniß von China in Europa Bedeutendes geleistet. Ich habe in Vorstehendem die in den Faktoreien herrschenden Ansichten über die Missionen sämmtlicher Glaubensbekenntnisse, der Wahrheit getreu, jedenfalls nach bestem Wissen und Gewissen, zusammengestellt. Die Kauf» 313 leute kommen um reich zu werden, die Priester und Schwestern um die Seelen zu retten. Die Standpunkte sind verschieden, die Auffassungsweise desgleichen. Man lebt in verschiedenen Welten. Man versteht sich also nicht. Wen könnte dies Wunder nehmen? Nun gehe ich zu den Beschwerden der chinesischen Regierung über. In seinem berühmten Memorandum hat sie Prinz Kung zusammengestellt.*) Die Vertragsbestimmungen über den Handelsverkehr geben, heißt es daselbst, ziemlich gute Resultate. Dagegen haben die die Missionäre betreffenden Klauseln ihren Zweck verfehlt, ja sogar die guten Beziehungen mit den Ausländern gefährdet. Die Missionäre taufen Gute und Böse, sogar Rebellen. Sie unterstützen die unbegründeten Anforderungen schlechter Menschen. Daher die UnPopularität der kath0' tischen Religion. Die Nation unterscheidet nicht zwischen Katholiken und Protestanten, noch zwischen Fremden und Fremden. Umsonst versuchte die Negierung das Publikum aufzuklären. China ist ein großes Reich! Schon vor den Tien-tsiner Ereignissen habe die stei» *) Nie bereits bemerkt, vom 9. Februar 1871. Schon zwei Jahre vorher, am 26. Ium 1869, hatte er an Sir N. AlcoÄ, bamals brittischer Gesandter in Peking, über denselben Gegenstand eine Note gerichtet. 314 gende Erbitterung gegen die Verbreitung des Christenthums die Aufmerksamkeit der Regierung erregt. In Folge dieser Ereignisse seien Mandarine in das Elend geschickt, mehrere Uebelthäter hingerichtet, Entschädigungen gezahlt worden. Wenn aber solche Ausbrüche des Volksunwillens sich erneuern sollten, so würde die Anwendung von Gewaltmaßregeln gegen dieselben immer schwieriger werden. Bisher haben die Ober-Beamten, die chinesischen sowohl als die fremden, zu Palliativmitteln ihre Zuflucht genommen, was ein Fehler war. Die Fremden verlangen und China gewährt Maßregeln zur Beseitigung der Schwierigkeiten des Augenblickes. Die Anforderungen der Fremden sind oft unzulässig und scheinen darauf angelegt China in eine falsche Lage zu versetzen. Die chinesische Negierung Wünscht daß die Missionäre sich den in andern Ländern bestehenden Vorschriften zu unterwerfen haben: daß sie die Landesgesetze beobachten, und daß ihnen untersagt werde sich Vorrechte anzumaßen die ihnen nicht gebühren, Aergerniß zu geben und (eine Anspielung auf die Waisenhäuser) ihre Handlungen in Geheimniß zu hüllen. In jeder Beziehung sollte ihr Benehmen den von ihnen gepredigten Grundsätzen entsprechen. Dies sei aber nicht der Fall. Im Gegentheile, sie bedrücken die Nicht-Christen und erbittern das Volk durch ihre Lästerungen des Konfucius. Sie veranlassen die Christen sich ihren Unter- 315 thanspflichten zu entziehen und die Steuern zu verweigern: sie vertreten vor Gericht die Sache der Widerspenstigen lösen Gheversprechen, mischen sich in Familienangelegenheiten und stiften, aus eigennützigen Beweggründen, Unfrieden. Sie belästigen die Behörden durch ihre oft übertriebenen Forderungen und entblöden sich nicht die Christen dem Arme der Gerechtigkeit zu entziehen. Einige bedienen sich sogar in ihren Korrespondenzen eines Siegels und legen sich Titel bei die ihnen nicht gebühren. Endlich mißbrauchen sie den Artikel VI der französischen Konvention um die Rückgabe ehemaliger Kirchengüter zu verlangen, ohne alle Rücksicht auf die Stimmung des Publikums und auf den heut zu Tage bedeutend höhern Werth der rekla-mirten Grundstücke. Sie bilden einen Staat im Staat Ermuthigt durch die strenge Bestrafung der schuldigen Tien-tsiner, glauben sie sich Alles erlaubt. Die Folge kann ein Volksaufstand sein welchen die Negierung schwerlich zu bemeistern vermögen Wird. Groß wäre die Verantwortlichkeit der Mächte wenn sie sich weigerten, gemeinsam mit China, für ähnliche Fälle die nöthigen Vorkehrungen zu treffen. Daher schlägt der Ministerrath vor: Die gänzliche Aufhebung der Orphelinatei wenn dies nicht zugegeben würde, Ausschluß der nichtchristlichen Kinder; jedenfalls Abfassung von Listen auf welchen die 316 Kinder verzeichnet wären: ungehinderte Zulassung der sie besuchenden Verwandten und Freunde. Das jetzt beobachtete Geheimniß errege Verdacht. Das Volk glaube nun einmal daß den Kindern das Herz und die Augen ausgerissen würden. NeVrigens gebe es in China Waisenhäuser im Ueberfluß und daher keinen Grund für den Bestand christlicher Orphelinate. Den Weibern solle untersagt werden dieselben Kapellen wie Männer zu besuchen, ebenso Missionärinnen zu sein. Christen welche als schlechte Subjekte bekannt sind sollen aus der Gemeinde ausgestoßen werden. Auch werden periodisch revidirte Listen verlangt auf welchen die Namen der Glieder einer jeden Christenheit verzeichnet seien, sowie neue Paßvorschriften in Betreff der Missionäre. Also: die im Innern lebenden Missionäre werden beschuldigt sich eine halb amtliche, die der Provinzial-mandarine ähnliche Stellung anzumaßen: die Amtsbefugnisse der letzteren in Betreff der eingeborenen Christen in Frage zu stellen; diese der Landes Gerichtsbarkeit zu entziehen und, in Folge dessen, Leute von bösem Lebenswandel anzulocken: Kinder für die Orfthelinate zu werben und zwar mit Anwendung verbotener Mittel und gegen den Willen der Eltern. Diese Anklage richtet sich indirekt auch gegen die Gesandtschaft und die Konsulate Frank» 317 reichs indem sie sie verdächtigt den überspannten Anforderungen der katholischen Priester insgeheim Vorschub zu leisten. Die Missionäre, ihrerseits, leugnen weder die Popularität deren sie in den Christenheiten genießen noch das Ansehen in welchem sie bei ihnen stehen. Die Mandarine, sagen sie, sind nicht zahlreich. Es gibt Distrikte von einer bis zwei Millionen Einwohnern die von zwei oder drei Mandarinen verwaltet werden. Diese wissen selten und kümmern sich wenig um das was im Schooße der von ihnen regierten Bevölkerung vorgeht. Persönlich sind sie dem Christenthum nicht immer feind; einige widersetzen sich der Verbreitung desselben in keiner Weise. Sie üben die Gerichtspflege gut oder schlecht und treiben die Steuern ein. Es gibt gute und böse Mandarine, aber den einen wie den andern geht der Unterthan sorgfältig aus dem Wege. Der Gouverneur der Provinz, der Taotai des Distriktes, der Chihfu sind Persönlichkeiten deren bloßes Erscheinen das Blut in den Adern gerinnen macht. Die Dörfer haben eine sehr freisinnige Gemeindeverfassung. Sie verwalten sich in vielfacher Beziehung selbst. Wo das Christenthum Wurzel schlägt, gewinnen die Missionäre, ohne ihr Zuthun, großen Einfluß. Denn obgleich auto-uom, will der Chinese geleitet sein; er liebt eine Behörde über sich zu sehen weil er fühlt daß er ihrer bedarf, und 318 er zieht als solche den Missionär der ihm Gutes erweist dem Mandarin vor welcher mit dem Henker in seinem Gefolge erscheint und nur zu dem Zwecke so viel Geld als möglich zu erpressen. Die Missionäre stellen in Abrede daß sie je chinesische Unterthanen zur Widersetzlichkeit gegen die Gesetze ermuntern, gestehen aber daß sie sie auffordern sich von den heidnischen Ceremonien fernezuhalten und zu den Kosten derselben nicht beizusteuern. Sie leugnen nicht die Christen, welche um ihres Glaubens willen zu leiden haben, vor Gericht zu vertheidigen uud sie erklären die Aufnahme in den Schoos der Kirche Niemandem verweigern zu können dessen Bekehrung aufrichtig ist oder scheint, selbst wenn solche Leute in den Augen des Mandarin üble Subjekte seien, denn der Zweck der Religion sei ja die Rettung der Seelen und, daher, die vorhergehende Besserung der Bösen. Nachdem der französische Vertrag mit China die Rückgabe des ehemaligen Kirchengutes festgestellt habe, üben die Missionäre nur ein Recht indem sie vorkommenden Falles die Dazwischenkunft der Konsulate oder des Gesandten Frankreichs in Anspruch nehmen. Wenn der Gesandte ihre Reklamation für unbegründet oder unzeitgemäß hält, so lassen sie die Forderung fallen oder verschieben sie. Könne irgend Jemand sie der Zudringlichkeit beschuldigen, 319 was sie nicht zugeben, so wären dies jedenfalls die französischen Behörden und nicht die chinesischen. Der Gebrauch von Siegeln, die Annahme von Titeln ist Sache des Herkommens, der Uebung und, für die Missionäre, des Taktes und der Unterwerfung unter den Ausspruch ihrer Obern. Der Missionär muß vor Allem das Beispiel der Demuth geben: aber die Apostolischen Vikare sind Bischöfe, Kirchenfürsten; durch den Gebrauch ihres Siegels begehen sie keinen Eingriff in die Gerichtsbarkeit der Mandarine. In China ist das Siegel das einzige Symbol der höheren Amtsgewalt. Das Siegel des Apostolischen Vikars bestätigt, in den Augen der einheimischen Christen, seine Eigenschaft als geistlicher Hirte und Bischof. Auch vor Abschluß der Traktate haben die General-Vikare sich fortwährend ihres Siegels bedient. Uebrigens geben diese sogenannten Etiquettenfragen, wie dies dem Tsungli-Yamen wohlbekannt sein muß, nur äußerst selten zu Reibungen Anlaß. Jedermann weiß wie in den Orphelinaten vorgegangen wird. Nie haben die Priester oder die Klosterfrauen Kinder gekauft. Kaum ist ein Asyl irgendwo errichtet, so strömen die Kinder herbei. Sie werden von ihren Eltern oder von christlichen oder heidnischen Reisenden gebracht, denen sie die Eltern zu diesem Ende anvertraut haben. Kinder männlichen Geschlechtes werden nur ausgesetzt wenn 320 die Armuth des Vaters es ihm schlechterdings unmöglich macht sie zu ernähren. Mädchen gelten für eine Last und werden, kaum geboren, auf die Gaffe oder in einen Fluß geworfen, oder auch lebendig begraben. Sogar wohlhabende Leute entledigen sich ihrer Töchter in dieser Art. Ist aber ein Orfthelmat in der Nähe, so überwiegt die Stimme der Natur: die Eltern tragen ihre Kinder zum Missionär. Die Sterblichkeit der kleinen Knaben ist sehr groß weil die Eltern sich nur wenn durch die äußerste Noth gezwungen von ihnen trennen, also erst nachdem die Kinder bereits während einiger Zeit gehungert haben. Im Waisenhause aufgenommen, gedeihen sie scheinbar, aber nach Verlauf einiger Monate tritt plötzlich Abnahme der Kräfte ein; die meisten erliegen. Die Sterblichkeit der kleinen Mädchen ist, obgleich nur zu groß, doch viel geringer als die der Knaben, weil sie unmittelbar nach ihrer Geburt oder sehr bald darauf in die Hände der Schwestern gelangen. Sie haben nicht Zeit gehabt den Keim der Krankheiten die der Hunger erzeugt in sich aufzunehmen. Wenn viele dieser Mädchen sterben, so wachsen doch andere zu kräftigen gesunden Personen heran. Alle diese verlassenen kleinen Wesen wären ohne die Dazwischenlunft der Missionäre und der Schwestern eine Beute des Todes geworden. In den Vertrags Häfen beschuldigt man die Klosterfrauen der Unvorsichtigkeit. Man sagt ihnen: Die Anzahl der von 321 Euch geretteten Kinder ist zu gering um als Ersatz für das Nebel zu gelten was Ihr Euch selbst und, mittelbar, uns allen zufügt, indem Ihr zu Argwohn gegen die Europäer Anlaß gebt. Auf diesen Vorwurf antworten wir, Missionäre und Schwestern, vor Allem daß wir die Thatsache bestreiten. Ueberall werden die Schwestern vom Volke geliebt und geehrt. Zum Beispiel, in Ning-po grüßen sie die Einheimischen aus der Straße, und die armen Schiffs-knechte bei der Fähre nehmen von ihnen kein Geld an.^) Zahllose Beispiele dieser Art könnten wir anführen. Erst in der neuesten Zeit ist es den Literaten gelungen das Volk gegen uns aufzureizen. Dann, vergeßt Eines nicht: wir sind Missionäre; wir wollen nicht nur das Leben, wir wollen auch die Seelen dieser Kinder retten. Sobald wir sie in Empfang genommen, werden sie, vorausgesetzt daß sie das Alter der Vernunft noch nicht erreicht haben, getauft. Sind sie über sieben Jahre alt, so werden sie zuerst im Glauben unterrichtet und dann getauft. Ihr lächelt? Wir begreifen das. Ein jeder hat seinen Gesichtspunkt. Ein jeder erfüllt seine Pflicht in seiner Weise, und so lange hieraus für Andere nicht entschiedener Nachtheil erwächst haben die Anderen nicht das Recht über ihn zu *) Diese Thatsache wurde mir durch einen Protestanten, einen englischen Residenten in Ning-po, bestätigt. hübn«r, Spaziergang III. 21 322 klagen. Ihr beruft Euch auf Tien-tsin. Wir bestreiten daß die Sterblichkeit in unserem Orfthelinate die Veranlassung zum Blutbade gab. Sie gab den Vorwand, sie ward eine Waffe in den Händen derer welche die Blut-that ersonnen, vorbereitet, geleitet haben; und der Zweck dieser Menschen war und ist nicht allein die Vertilgung der Missionäre, sondern die Vertreibung oder Vernichtung aller Ausländer. Die Klagen des Tsungliyamen find nicht aufrichtig. Sie werden vorgebracht um uns des vertragsmäßigen Rechtes der Exterritorialität zu berauben: um uns den Landesgesetzen, das heißt dem Bambusrohr und der Folter zu unterwerfen, um, so weit es sich um uns Geistliche handelt, auf den Zustand wie er vor dem Kriege und vor den Verträgen war zurückzukommen, und zwar mit Wissen und Zustimmung der Mächte mit welchen jene Verträge geschlossen wurden. Dies sind die wesentlichen von den Missionären zu ihren Gunsten vorgebrachten Beweisgründe. Mehrere derselben wurden von dem brittischen und amerikanischen Minister in ihre Antwort auf die Rundschrift des Tsungli-yamen aufgenommen. Die beiden Noten sind bekannt, denn sie befinden sich unter den dem englischen Parlament mitgetheilten Papieren. Die in Paris redigirte Note des 323 französischen Geschäftsträgers*) verwirft das Ansinnen der chinesischen Regierung in einer drohenden Sprache. Ich übergehe hier die Argumentation der englischen und amerikanischen Noten. Einige Theile derselben verdienen jedoch hervorgehoben zu werden. Herr Wade benutzte die Gelegenheit um die Ausarbeitung eines internationalen Gesetzbuches für „gemischte" Fälle, sowie von Seiten China's die Errichtung stehender Gesandtchaften in Europa anzurathen. Herr Low deutet darauf hin daß fast alle Klagen der chinesischen Negierung Priester und Christen betreffen welche in den fernen Provinzen Sze-chuen und Kwei-chow leben, wo es weder Konsuln noch fremde Kaufleute gibt, und es daher an unparteiischen Zeugen fehle. Darum sollten dort Konsulate errichtet und jene fernen Gegenden dem auswärtigen Handel eröffnet werden. Letzterer Gedanke fand bei Lord Granville Anklang. Das wahre Interesse dieses diplomatischen Schriftwechsels liegt in den Berichten der Herren Wade und Low an ihre eigenen Regierungen. „Das chinesische Memorandum", schreibt Herr Wade an Lord Granville, „ist schlecht gemacht. Es enthält neben leicht zu widerlegenden Behauptungen unhaltbare Anklagen. *) Datirt Peking 14. November 1871. 31* 324 Aber in ihrcm Zusammenhange betrachtet, und verglichen mit dem was ich hier in den letzten acht Jahren in langen Unterredungen erfahren habe, bestätigt diese Staatsschrift meine Neberzeugung daß es nur zwei Mittel gibt die Missionäre gegen die Feindschaft dcr Literaten zu schützen. Entweder die Mächte müssen die Ansprüche der Missionäre mit gewaffneter Hand bis auf das Aeußerste scmt :mä out) verfechten, oder sie müssen diesen Ansprüchen gewisse Schranken ziehen. Diese Beschränkungen sollten einerseits den Missionären alle Freiheit lassen welche sie wünschen können wenn sie nichts Anderes im Sinne haben als die Verbreitung des Christenthums; andererseits aber sollten diese Beschränkungen die chinesische Negierung in den Stand setzen der konservativen, durch die Prätensionen der Missionäre beleidigten, Partei die Versicherung zu ertheilen daß diese Prätensionen von den Mächten nicht zugestanden noch gebilligt werben ..." Mit anderen Worten, klar und einfach gesagt: England Wird das Dilemma gestellt entWeber für die Missionäre das Schwert zu ziehen, dem chinesischen Reiche den Krieg zu erklären, oder die Missionäre in eine Lage zu versetzen welche der konservativen Partei in China, den Feinden der Fremden, insbesondere der Christen und vor Allem der Katholiken, fernerhin leinen Anstoß gebe. Arme Missionäre! 3Z5 ..Es ist nur billig," fährt Herr Wade fort, „beizufügen dah, wie die römischen Missionäre selbst mit Einstimmigkeit bezeugen, die Negierung ihr Möglichstes thut um Reibungen mit den Christen zu verhindern. Drei Viertheile der katholischen Missionäre, deren Gesammtzahl vier- bis fünfhundert sein dürfte, sind Franzosen; und die nichtchristlichen Chinesen nennen die römisch-katholische Religion die französische oder die Religion des Herrn des Himmels. „Sehr oft hörte ich hier Befürchtungen äußern über den vorwiegenden Einfluß des „romanistischen"*) Elementes. Die Besorgniß daß die Romanisten ihre Reihen durch Aufnahme der Feinde der Regierung anschwellen, und dah letztere am Ende die wohlgesinnten Unterthanen des Kaisers an Zahl übertreffen, oder daß die christlichen Gemeinden sich Frankreich gänzlich in die Arme werfen würden, diese Besorgniß, obgleich sie nicht eingestanden wird, gab offenbar den Anlaß zur Erlassung des Memorandums." Herr Low, Gesandter der Vereinigten Staaten, schreibt an Herrn Fish: „Ich glaube nicht daß alle gegen die katholischen Mis- *) Herr Wade bedient sich fortwährend der Worte Roma-nismus und romanistisch, Ausdücke welche die englischen Missionäre anzuwenden pflegen, die aber dem diplomatischen Style gänzlich fremd sind. 32 6 sionäre vorgebrachten Klagen Wahr sind; einige dürften jedoch nicht aller Begründung entbehren. Und, obgleich ich mir von den Schwierigkeiten und Gefahren vollkommen Rechenschaft gebe, so muß ich doch aufrichtig gestehen (<^n-äour omui>ol8 mo) daß meiner Ansicht nach die Abhilfe außerhalb dem Wirkungskreise und den Mitteln der Diplomatie zu liegen scheint. Die Anforderungen einer gesunden Politik, die religiösen und moralischen Gefühle christlicher Nationen gestatten nicht daß man (zu den früheren Zuständen) zurückkehre, welche Vortheile auch hieraus für die Industrie und den Handel erwachsen könnten. Auch Rücksichten der Menschlichkeit erheischen daß das Recht nach den Gesetzen ihres Landes regiert und, vorkommenden Falles, gerichtet zu werden, allen Fremden ohne Ausnahme zugesichert bleibe. Andererseits müssen die Regierungen darüber wachen daß ihre Beamten, Agenten und Unterthanen sich keine Eingriffe in die Rechte der Chinesen erlauben, und daß Jedermann die Bestimmungen der Verträge befolge . . . Daß eine gänzliche Enthaltung von jedweder Einmischung zu Gunsten der eingeborenen Christen zu Verfolgungen letzterer benutzt würde, ist möglich, ja sogar wahrscheinlich. Vielleicht würde dies aber der Sache der Missionäre am Ende eher Vorschub leisten. (?)... Gibt es überhaupt ein Mittel, so ist Frankreich allein berufen es anzuwenden und, in seinem Interesse sowie im. 32? Interesse sämmtlicher auswärtiger Residenten, den Chinesen jede Ursache zu Klagen zu benehmen." Aus dem Gesagten folgt daß Herr Wade und Herr Low sich in der Ueberzeugung begegnen die Diplomatie sei außer Stande die sogenannte „Missionsfragc" endgültig zu lösen. Aber von diesem gemeinsamen Standpunkte ausgehend, gelangen sie zu entgegengesetzten Schlüssen. Der englische Gesandte insinuirt daß die Missionäre ihrem Schicksale zu überlassen seien. Dieser Rath ist ihm nicht nothwendiger Weise durch ein feindseliges Gefühl, durch einen Mangel an Sympathie für die Verbreitung des Christenthums eingegeben. Ich bin, meines Theils, weit entfernt, ihm einen solche Seelenstimmung zuzumuthen. Es gibt eifrige Katholiken welche diese Ansicht des Herrn Wade theilen und die Aufhebung des Protektorats verlangen. Ich werde diese Theorie sogleich prüfen. Herr Low verlangt, im Gegentheil, mit bemerkenswerther Unbefangenheit, für die Priester die Aufrechterhaltung der Rechte und Privilegien welche die Verträge einem jeden in China lebenden Ausländer zusichern. In Europa gab das chinesische Memorandum zwischen den Negierungen der Großmächte zu einem unfruchtbaren Ideenaustausch Anlaß.") Das französische Kabinet schlug 'j Juni und Juli 1871. 328 die Beantwortung mittelst einer Kollektivnote vor. Die englische Regierung lehnte dies Ansinnen ab wegen der Verschiedenheit, sagte sie, welche in Beziehung auf katholische und protestantische Missionäre zwischen den Verträgen der beiden Mächte bestehe. Die Repräsentanten antworteten also in abgesonderten Noten, aber alle wiesen die chinesischen Ansinnen zurück. Vor der Hand hatte es dabei sein Bewenden.*) Die Tragödie von Tientsin und das über Frankreich hereingebrochene Unglück stellten das französische Schutzrecht über die Missionäre und einheimischen Christen in Frage. Stimmen erhoben sich welche eine Neugestaltung des Protektorates beantragten. Auf den ersten Blick hin empfahl sich der Vorschlag durch seine Einfachheit. Die katholischen Missionäre, sagte man, sind Ausländer wie alle anderen in China lebenden Fremden, gerade so wie die in den „Häfen" ansässigen Kaufleute. Diese Priester sollten daher fortan, wie letztere, durch den Gesandten und die Konsuln ihrer Nation beschützt werden: die französischen Geistlichen durch die französischen Agenten, die spanischen Dominikaner durch die spanischen-, die italienischen Fran- 5) Im November 1671 wurde der Zwischenfall als beseitigt betrachtet. »Wir haben Euch. fasste Prinz Kung zu den Gesandten, Vorschläge gemacht. Ihr nehmt sie nicht an? Gut. Sprechen wir nicht weiter davon." 329 Ziskaner und Priester der römischen Propaganda durch den Minister und die Konsuln des Königs von Italien. Oder, wenn der heilige Stuhl nicht zustimmte, konnte man nicht die katholischen und protestantische,: Missionäre unter das Kollektivftrotektorat der in Peking vertretenen Mächte stellen? Die Minister Rußlands, Englands, Deutschlands und Italiens, endlich der Vertreter des katholischen Frankreichs Würden einen Nath bilden der über alle auf die Missionen bezügliche Angelegenheiten in letzter Instanz zu entscheiden hätte. Dieser Vorschlag wurde in Peking von den Gesandtschaften ernsthaft (!) berathen und von den chinesischen Mi« nistern sehr günstig aufgenommen. Anders beurtheilten ihn die Missionäre. Alle, Franzosen, Spanier, Italiener, Belgier, wiesen ihn einstimmig zurück und verlangten die Fortdauer des französischen Protektorates. Ein anderer Antrag war auf Abschaffung jedweden Protektorates gerichtet. Der so blühende Zustand der chinesischen Kirche zur Zeit der großen Kaiser der gegenwärtigen Dynastie empfehle die Rückkehr zu den damaligen Zuständen. Das Protektorat habe viele Nachtheile. Zunächst, und dies fei nicht der geringste, die Einmischung derer welche es im Namen Frankreichs ausüben in rein geistliche Angelegenheiten. Der Gesandte in Peking, die Konsuln in den „Häfen" sind verpflichtet die Interessen 330 der Kirche zu wahren, bis zu einem gewissen Grade für die Sicherheit der Missionäre zu sorgen, die Reklamationen der letzteren, wenn sie ihnen billig scheinen, zu unterstützen. Nie können sie diesen Anforderungen genügen wenn sie in Unwissenheit erhalten werden über die Wirksamkeit, das Thun und Lassen der Missionäre-, wenn letztere, in Fragen wo geistliche und weltliche Interessen sich berühren oder in kritischen Zeiten, den Rathschlägen der Vertreter der Schutzmacht kein Gehör schenken wollen? In der Theorie ist dieser Anspruch logisch vollkommen gerechtfertigt. In der praktischen Anwendung führt er zu großen Uebelständen, zu unlösbaren Schwierigkeiten, zu Reibungen zwischen beiden Theilen die, wenn sie bekannt werden ein öffentliches Aergerniß, zuweilen eine wirkliche Gefahr sind. Man erinnere sich nur an die Vorgänge in Tientsin: ein Konsul der sich fortwährend in die Missionsgeschäfte einmischt: der Alles, sogar das Waisenhaus der Schwestern überwachen, regeln und leiten Willi der den Priestern die Thüre weist weil sie wagen ihm Vorstellungen zu machen; oder, aus Widerspruchsgeist, sich über den Ernst der Lage täuscht gerade weil die Patres sie für gefahrvoll halten. In dem alten großen China beschützten sich die Jesuiten selbst, oder vielmehr sie wußten den einzigen wirksamen Schutz zu erwerben: den der Kaiser. Allerdings kämm auch für sie böse Zeiten: die Zeiten der Verfolgungen. Dies ist aber 331 das Loos auf das Missionäre gefaßt sein müssen, vor dem sie nicht zurückschrecken, denn in Zeiten der Verfolgung erwerben sie die Krone des Martyrthums. Übrigens was hat ihnen der französische Schlitz in Tien-tsin gefrommt? Diese Beweisführung, die ich übrigens keinen Missionär aber mehrere Laien vorbringen hörte, bedarf kaum einer Widerlegung. Das heutige China ist nicht das China des Kaisers Kanghi. Die Ankunft und Niederlassung der Europäer in den Häfen und der Gesandtschaften in Peking hat die Lage gründlich geändert. Die alten Jesuiten konnten die Gunst des Hofes erwerben und durch zwei Jahrhunderte bewahren, weil ihnen Niemand politische Hintergedanken zumuthete. Heute gilt jeder katholische Missionär für einen französischen Agenten und ist als solcher ein verdächtiger Mensch. Die chinesischen Minister kümmern sich wenig um die Lehrsätze welche die Priester in den Schulen und Orfthclinaten vortragen. Die Anwesenheit der Missionäre im Innern, ihre Geringschätzung des Konfucius, die Einführung fremdländischer Riten mißfällt ihnen und erregt den Unwillen der höheren Stände. Hiezu tritt die auffallende Zunahme der Bekehrungen. Das; seit I860 die Zahl der katholischen Christen in China sich namhaft vermehrt habe, wird mir von allen Seiten bestätigt. Daher der steigende Haß, die steigende Angst 332 der Literaten und, für die chinesische Regierung, die Noth-Wendigkeit beschränkende Maßregeln, wirtlich oder wenigstens scheinbar, zu ergreifen. „Den Missionären", sagten mir aufgeklärte Mitglieder des Uftostolats in China, „jeden diplomatischen Schutz entziehen, hieße sie der Vortheile des französischen Traktates berauben, sie in Acht erklären, der Gehässigkeit, den Verfolgungen der Mandarine preisgeben; es hieße den Bestand der christlichen Gemeinden im äußersten Grade gefährden. Gewiß, Reibungen können stattfinden zwischen den Schützern und Beschützten. Keinem Gesetzgeber gelang es noch die Grenzlinie zu ziehen zwischen der geistlichen und weltlichen Macht: und nie wird dies gelingen, denn die Trennung von Kirche und Staat ist entweder ein leeres Wort, oder der Bruch, ein feindseliges Verhältniß zwischen Staat und Kirche, in letzter Folge, die Auflösung der christlichen Gesellschaft. Eine endgültige Lösung dieser Fragen suchen, ist und wird immer ein fruchtloser Versuch bleiben. Darum gebe man ihn auf. Aber in allen schwierigen Fällen müssen Priester und Diplomaten so viel als möglich zusammenwirken. Uebrigens man nenne uns diese Konflikte! Nicht Einen Fall kennen wir wo Missionäre sich nicht dem Ausspruche des französischen Gesandten in Peking so- 333 fort gefügt hätten. Findet er unser Verlangen gerecht und nicht unzeitgemäß, so unterstützt er es; im entgegengesetzten Falle versagt er seine Unterstützung oder verschiebt sie auf einen geeigneteren Zeitpunkt, und dabei bleibt es. Heute residiren in Peking die Vertreter der großen nicht katholischen Länder: die Gesandten Rußlands, Englands, der Vereinigten Staaten. Wir haben uns ihrer nur zu belobeni wir danken ihnen für die oft bewährten Sympathien: aber wir bedürfen, neben und bei ihnen, eines Fürsprechers, eines Vertheidigers der Interessen unseres Glaubens, eines Mannes dem die Verträge das Recht geben zu unsern Gunsten seine Stimme zu erheben, und diese Sendung kann, in Abwesenheit Oesterreichs, nur das officielle Frankreich erfüllen, das — in China wenigstens — wesentlich katholische Frankreich." Wie steht es mit den inneren Zuständen des Reiches? Was geht bei Hofe vor, im Schoohe des Tsungliyamen, in den Köpfen, in den Herzen dieser zahllosen Literaten die auf die Geschicke ihres Landes einen so großen Einfluß üben? Man begreift wie schwierig die Beantwortung dieser Fragen ist, selbst für die in Peking lebenden Diplomaten. Nachstehende Notizen wurden indeß aus guten Quellen geschöpft. 334 Während die Mächte entschlossen sind die erworbenen Stellungen zu behaupten, ihren Angehörigen die durch die Traktate gewährleisteten Vortheile zu wahren, die kaiserliche Regierung zur treuen Erfüllung der übernommenen Vertragsftflicht zu verhalten, verfolgen die Chinesen nur Einen Zweck: sie suchen sich den übernommenen Obliegenheiten zu entziehen: sie sinnen insgeheim auf Vertreibung der Fremden und treffen hiezu die nöthigen Vorkehrungen. Dieser Wunsch beseelt jeden nichtchristlichen Chinesen: er ist der Traum, die Lebensaufgabe der so einfüchreichen Lite-raten und niedern Mandarine. Den Massen, die mit dem alltäglichen Elende, mit Nahrungssorgen zu kämpfen haben, bleibt keine Zeit für Politik. Aber auch im Volke herrscht entschiedene Abneigung gegen die Ausländer. Die Literaten nähren diese Stimmung auf alle Weise, durch Ausstreuung verleumderischer Gerüchte, durch Verbreitung zahlloser Schmäh« schriften, durch Weissagungen bevorstehender Ermordung und Plünderung der Fremdlinge. Wie benimmt sich nun die Regierung diesen Bestrebungen gegenüber? Die regierende Dynastie erfährt das Loos aller derer die ihr vorangingen: sie verkommt. Eine natürliche Wirkung der Allmacht mit der die Söhne des Himmels ausgestattet und der Abgeschlossenheit zu der sie verurtheilt sind. Der Gründer und seine ersten Nachfolger waren 335 Männer von Bedeutung, Männer der That; sonst hätten sie sich nicht zu solcher Höhe emporgeschwungen; aber kaum am Gipfel angelangt, beginnen sie herabzusteigen. Rasch entnerven sich, rasch verkommen die Geschlechter der Despoten. Auf eine von allzu großer Sorgfalt umgebene Kindheit, auf eine vorzeitige Jugend, alsbald verderbt durch die gefällige Dienstfertigkeit der Höflinge, alsbald und vor der Zeit abgestumpft, folgt ein bereits hinfälliges Mannesalter, das Alter, was es nicht sein sollte, der zweiten Kindheit, der moralischen und physischen Impotenz. Nun ist aber die chinesische Regierung ihrem Wesen nach ein persönliches Regiment. Der Wille des Kaisers ist der belebende Hauch der das Räderwerk der Verwaltung in Bewegung setzt. Fällt dieser Wille hinweg, so bleibt die Maschine stehen. China verträgt auf seinem Throne keine Müßiggänger. So erklärte man mir den Sturz der früheren, die gefährdete Lage der regierenden Dynastie. Tung-chi, der jetzige Kaiser, hatte noch keine Gelegenheit sich zu zeigen. Man weiß nur daß er mit Ungeduld den Augenblick erwartet wo es ihm gestattet sein werde die lästige Bevormundung der, etwas pedantischen, Kaiserin Negentin abzuschütteln: daß er, von ehrgeizigen Gespielen umgeben, darnach lechzt die Zügel der Regierung zu ergreifen. Diese Jugendfreunde sind eben so ungeduldig wie ihr Gebieter sich ihren Theil an der Gewalt zu sichern 336 und hoffen dies zu erreichen indem sie den Fremdenhaß auf ihre Fahne schreiben. Die einflußreichsten Personen der Kamarilla sind die Kaiserin Mutter und der „siebente" Prinz, ein jüngerer Bruder des „sechsten" nämlich des Prinzen Kung. In diesen Kreisen sucht man den Kaiser glauben zu machen daß die erlittenen Niederlagen- nur von der Unvollkommenheit der chinesischen Waffen herrührten; hellte seien die kaiserlichen Truppen trefflich bewaffnet und eingeübt, daher vollkommen im Stande den Feind zu zermalmen. Ein Wort des Kaisers, und zahllose unwiderstehliche Heerschaaren würden zusammenströmen. Leider seien aber die Minister unfähige Feiglinge, oder vielmehr strafwürdige Verräther; sie seien die Urheber der demüthigenden Verträge, der Zulassung der Fremdlinge in die Häfen, kurz aller Uebel die in den letzten zwölf Jahren über China hereinbrachen. Diese Höflinge stützen sich auf die Mutter des Monarchen, auf ein enges Bündniß mit den Literaten und niedern Mandarinen, auf das patriotische Gefühl der Nation. Die Glieder des Tsungli-yamen erfüllen sie mit Schrecken. In China hat der gefallene Staatsmann in der Regel das Leben verwirkt. Das Benehmen der Minister verräth ihre Rathlosigkeit. Statt den Kampf auf» zunehmen, statt dem Kaiser die Falschheit der gegen sie geschleuderten Anklagen zu beweisen, die Haltlosigkeit der 837 bei Hofe gehegten Hoffnungen, die Ohnmacht China's in einem erneuerten Kampfe mit einer oder mehreren europäischen Mächten darzuthun, gehen Kung, obgleich der mächtigste und einsichtsvollste chinesische Staatsmann, und die übrigen Minister in die ihnen gelegte Falle. Sie nehmen die Stellung der Angeklagten an, betheuern ihre Unschuld, bieten die Hand zu Maßregeln welche die Kriegspartei fordert. Hieher gehören die Abdankung der meisten europäischen Instruktoren und Kommandanten der chinesischen Staatsschiffe; die von ihnen wenigstens geduldete, systematische Aufreizung der Truppen gegen die Fremden, die Rüstungen und der mit Eifer betriebene Vau von Kriegsschiffen und Festungen. Immer in der leeren Hoffnung die Gegner zu entwaffnen und der öffentlichen Meinung zu schmeicheln, sucht das Ministerium den Vertragsbestimmungen eine möglichst enge Auslegung zu geben, sich den Reklamationen der Gesandtschaften gegenüber schwierig zu zeigen und seinerseits unzulässige Forderungen zu stellen. Mit dem Memorandum bezweckte es hauptsächlich eine vorübergehende Beschwichtigung der fremdenfeindlichen Partei. Die Tien-tsiner Mordthaten und die darüber in den europäischen Niederlassungen entstandene Erbitterung erhöhen den Ernst der Lage. Die Polemik der in den „Häfen" erscheinenden englischen Zeitungen, ihre fortwährenden Schmähartikel gegen die chinesische Regierung sind für Hülmer, Spaziergang Hl» 22 338 die höheren Mandarine kein Geheimniß geblieben und werden von ihnen als ein Beweis gedeutet daß die englischen Kaufleute fest entschlossen sind einen Krieg hervorzurufen. Aus den zahlreichen Flugschriften welche die englischen und amerikanischen Missionäre in chinesischer Sprache drucken lassen schöpfen die Hofkamarilla, der Tsungli-Y amen, die Literaten und Mandarine eine ziemlich richtige Kenntniß der europäischen Zustände: durch sie erfuhren sie die Niederlagen Frankreichs, den Aufschwung der deutschen Macht die Verlegenheiten Englands gegenüber von Rußland. Also, ein geheimes Ringen um die Gewalt in den höchsten Sphären, gefährliche aber begreifliche Schwankungen im Ministerrath und im Lande, als Wirkung der gegen die Fremden gerichteten Umtriebe, eine dumpfe aber steigende Gährung. Vom Norden zum Süden, von den Gestaden des Gelben Meeres bis Thibet wird Brennmaterial aufgehäuft. Die Anstifter und ihre Werkzeuge entwickeln dabei die den Chinesen eigenthümliche Behendigkeit, Ausdauer und Geduld. Die Minister zittern für ihr Amt und zugleich für ihr Leben. Sie geben nach bis zu einem gewissen Grade, suchen aber doch ernstlich und aufrichtig, weil dies in ihrem wohlverstandenen Interesse liegt, die Ruhe im Innern und den Frieden mit dem Auslande zu erhalten. In diesem Sinne sind ihre geheimen Instruktionen an die Gouverneure der Provinzen abgefaßt. Man 339 Weiß im Tsungli-yamen daß, in der gegebenen Lage, ein Funke hinreichen könnte um den Brand zu entzünden. So wurden mir die innern Zustände China's dargestellt. Wie haben sich seine Beziehungen zum Auslande gestaltet? Alle großen und einige Mächte zweiten Ranges schlössen, in den letzten eilf Jahren, Verträge mit China; aber Rußland und England allein haben in diesem Reiche bleibende Interessen zu vertreten, bleibend insofern es nicht von dem Willen dieser Negierungen abhängt sie andern Rücksichten zu opfern. Eine ernstere politische Niederlage Nußlands in Peking würde sein Ansehen in Central-Asien vernichten; eine Niederlage Englands seine indische Herrschaft in Frage stellen. Frankreich schützt die Missionäre und sichert den einheimischen Christen, nach Maßgabe seiner Kräfte und innerhalb der Grenzen der Verträge, die freie Ausübung der katholischen Religion. Eine hohe, edle Aufgabe! Diefe Macht hat sie sich aber selbst gestellt: sie könnte sie, was der Himmel verhüte, nöthigen Falles aufgeben ohne dadurch ihre Stellung als Großmacht in Europa einzubüßen. In Beziehung auf den Handel hat die französische Negierung von China wenig zu verlangen. Alle für den Verbrauch der Fremden in den Vertragshäfen bestimmten französischen Artikel, mit Ausnahme der Seide, 22" 340 Werden dort zollfrei eingeführt. Die Chinesen sind bisher keine Konsumenten französischer Erzeugnisse.*) Die Vereinigten Staaten von Nord-Amerika nähern sich, gewissermaßen, durch die Vervielfältigung des Dampf-verkehrs zwischen Kalifornien und China.") Aber die Anzahl der in den Trade-Ports angesiedelten amerikanischen Kaufleute ist sehr gering, und einige derselben arbeiten mit chinesischen Kapitalien. Die Damftfschifffahrt und die sich daran knüpfenden Interessen bilden also, bis jetzt, das einzige Band zwischen Nordamerika und dem Reiche der Mitte. Dies erklärt daß die Amerikaner mit Hinblick auf ihre Steamer vor Allem auf Entdeckung von Kohlenlagern ausgehen. In militärischer Beziehung ist die Operationsbasis der Vereinigten Staaten, die Arsenale im Atlantischen Meere, weiter entfernt als Portsmouth und Cherbourg. Uebrigens weiß man daß ihre Kriegsmarine in keinem Verhältnisse steht zur Ausdehnung ihres Gebietes, und daß die öffentliche Meinung ferne Expeditionen verabscheut. Die bereits seit Langem bedeutende Schifffahrt Deutschlands in den chinesischen Gewässern hat sich in den letzten Jahren etwas vermindert. Während des französisch-deutschen 5) In neuester Zeit fangen sie an französische Parfumerie-waaren zu würdigen. **) Im verflossenen Jahre hat er abgenommen. 341 Krieges waren die unter norddeutscher Flagge segelnden Schiffe in den chinesischen und japanischen Häfen durch französische Kriegsschiffe blolirt worden. Mittlerweile bedienten sich die Chinesen der englischen und amerikanischen Küstenfahrer, und es wird einige, gewiß nicht lange, Zeit brauchen bis sich diese Gewohnheit verliert und die deutsche Flagge ihre frühere Bedeutung wieder gewinnt. Die im äußersten Oriente angesiedelten Kaufleute deutscher Zunge verlangen daher von ihrer Regierung einen ausgiebigeren Schutz, die Vermehrung der Kriegsmarine und die Besitzergreifung eines großen Ländergebietes, bestimmt ein deutsches Australien zu werden. Zuerst dachten sie an die Insel Formosa; keine glückliche Wahl wegen des tropischen ungesunden Klimas! dann an Korea. Dies sind die Wünsche und Hoffnungen dcr wenig zahlreichen aber thätigen und unternehmenden deutschen Kolonie in den Vertragshäfen. Oesterreich hat bis jetzt keine Veranlassung Kriegsschiffe nach dem äußersten Orient zu entsenden. Kein politisches, kein ernsthaftes Handelsinteresse ruft es nach jenen fernen Landen. Seine so blühende Industrie befriedigt die Bedürfnisse der Monarchie und konkurrirt, in gewissen Zweigen, mit fremder Gewerbsthätigkeit auf europäischen und levantinischen Plätzen. Sie ist dermalen Weder im Stande noch genöthigt ihre Erzeugnisse bei den Antipoden auszubieten. Indem die österreichische Regierung, 343 wie die andern Gros mächte, einen Vertrag mit China schloß, hat sie sich das Recht gesichert in asiatischen Angelegenheiten, wenn je hiezu veranlaßt, mitzusprechen; sie hat in dem vornehmsten Hafen des chinesischen Reiches ein Konsulat errichtet und dem Konsul zum Behufe der Auswechselung der Ratifikationen des Vertrages diplomatischen Rang verliehen. Diese vorübergehende Mission wird, hoffentlich, eingezogen werden. Außer den durch nichts gerechtfertigten Kosten, sprechen politische Beweggründe dafür. Fragen, mit welchen die Monarchie nichts gemein hat, können in jenen fernen Gegenden zu Verwickelungen führen. Den andern mit ihr befreundeten christlichen Mächten, in Anwesenheit ihres Vertreters, jede Mitwirkung verweigern, dürfte kaum angemessen scheinen; in großem Maßstabe mitwirken zur Vertheidigung von ihr gänzlich fremden Interessen, widerspräche den Anforderungen einer gesunden Politik; sich darauf beschränken, wie es die kleineren Ver-tragsmächtc thun würden, ihre Flagge neben der belgischen, niederländischen und portugiesischen, im Gefolge der anglo-franzo'sischen Flotten zu zeigen, wäre Oesterreichs, als europäischer Großmacht, unwürdig. Die diplomatische Abwesenheit scheint daher geboten. Nußland grenzt an das Reich der Mitte in einer Ausdehnung von mehreren tausend Meilen. Jeder Schritt den es in Centralasien vorwärts thut, nähert es China- 343 und vermehrt dort, mittelbar, das Ansehen seiner Macht. Seine ersten Beziehungen die, aus religiösen Bedürfnissen entsprungen, keinen streng amtlichen Charakter trugen, reichen in die Zeiten Peters des Großen zurück. Russische Gefangene waren gegen Ende des siebenzehnten Jahrhunderts nach Peking gebracht worden und gründeten dort eine kleine Kolonie. Obgleich mit Chinesinnen vermählt, bewahrten und überlieferten sie ihren Kindern den christlichen Glauben. In Folge einer Uebereinkunft zwischen beiden Höfen durften sich griechische Priester als Seelsorger der russischen Gemeinde in Peking niederlassen. Diese „geistliche Mission" an deren Spitze ein Archimandrit steht erneuert sich alle zehn Jahre und besteht noch heute. Sie hat nie Propaganda gemacht und, bei mehreren wichtigen Gelegenheiten, den Verkehr zwischen beiden Negierungen vermittelt. Die amtlichen Verbindungen China's mit England und Frankreich, die Frucht eines für China unheilvollen Krieges, begannen im Jahre 1800. Die Beziehungen zu Rußland umfassen beinahe zwei Jahrhunderte. Die Wenigen russischen Residenten sind in Tien-tsin und bei Hankow und am 3)angtse-kiang angesiedelt und beschäftigen sich ausschließend mit dem Theehandel. Fast alle sind Sibirier, die meisten aus Kiachta, also an der chinesischen Grenze gebürtig. Sie lernen mit Leichtigkeit die chinesische Sprache; in ihren Adern flieht tartarisches 344 Blut; sie sind Stammesverwandte der Mandju, der herrschenden Rasse in China. Man kennt sich also seit Langem und man versteht sich leicht. Deshalb unterscheidet das chinesische Volk zwischen „Russen" und „Fremden". Unter der letzten Bezeichnung umfaßt es alle andern in den „Häfen" vertretenen Nationalitäten. Der russische Gesandte nimmt seinen Landsleuten gegenüber die Stellung eines Familienvaters ein. Sie werden leicht bestimmt, in Zwistigkeiten unter einander, in Streitfällen mit Chinesen, feinem Nathe zu folgen. Begründeten Reklamationen gewährt er Unterstützung, aber er Wählt seine Zeit, und, ohne bei ihnen auf Widerstand zu stoßen, ohne Lärm und Aufsehen zu erregen, setzt er über die Interessen der Einzelnen das Wohl des Staates den er vertritt. Er wird nicht beirrt durch die sich mit Ungestüm geltend machende öffentliche Meinung der Vertragshäfen, durch die in Shanghai und in jeder andern Faktorei erscheinenden Zeitungen, durch die Interpellationen im englischen Parlament und die Artikel der Times. Aber da seine Schritte von Jedermann gekannt sind, so fehlt es doch nicht an Kontrole. Nur besitzt er die nöthige Freiheit sein Auftreten zu regeln nach den Umständen, nach den Weisungen seines Hofes, nach den Eingebungen seines Urtheils und seines Gewissens. Die Folge ist eine minder schwierige Stellung als die der Vertreter der an« 345 beren Mächte, namentlich Englands, und freundliche fast intime Beziehungen mit dem chinesischen Hofe. Das auf das Maß der Nothwendigkeit beschränkte russische Konsularkorps besteht aus einem in Tien-tsin re-sidirenden General-Konsul, aus einem Handelskonsul in Shanghai und einem andern in Hankow. Der Chinese ist seiner Natur nach Skeptiker; er glaubt nur was er sieht, und er sieht Rußland: er sieht es weil er es berührt an seinen Grenzen: in Nord-Ost, im Norden, im Nord-West; er greift es, so zu sagen, mit Händen. Er glaubt also an Rußland. Er kann das Dasein Englands und Frankreichs nicht bezweifeln: die unangenehmen Erinnerungen die sich an die erste Bekanntschaft mit ihnen knüpfen find zu frisch um bereits vergessen zu sein. Von den übrigen Mächten hat er nur dunkle Begriffe, er kennt sie nur von Hörensagen. „Wo liegt Oesterreich?" fragte mich der Vice-Kömg von Kanton, ein hochgebildeter Literat und einer der hevorragendsten Staatsmänner China's, „nördlich von Rußland oder südlich? England liegt westlich von Nußland." Man sieht, Rußland ist der Ausgangspunkt seiner Kenntnisse des Erdballes. Dies sind die Vortheile deren diese Macht in China genießt. Sie gründen sich auf die geographische Lage, auf eine gewisse Blutsverwandtschaft und auf die Macht der Dinge, die Beschlüsse der Vorsehung welche der Staats- 346 mann, soferne er nicht absichtlich die Augen schließt, als bestehend anerkennen muß, selbst wenn er nicht vermag sie zu ergründen. Rußland, bedarf es dieser Bemerkung? wird scharf überwacht. Von beiden Seiten des Stillen Weltmeeres sind die Blicke klar- und weitsehender Beobachter auf seine Bewegungen geheftet. Die Fortschritte Welche es im Innern des Kontinents macht bringt es selbst zur allgemeinen Kenntniß. Die St. Petersburger Blätter, die Mittheilungen russischer Gelehrten geben, gelegentlich, Kunde von den Märschen und Erfolgen seiner in Central-Asien ofterirenden Truppen. Ich glaube nicht daß die russische Negierung daraus ein Geheimniß machen will. Die Nachrichten kommen spät an, denn die Entfernungen sind ungeheuer und die Verbindungsmittel langsam. Aber früher oder später erfährt man die Wahrheit. Man weiß daß sich Rußland, in Beziehung auf die sechs Monate des Jahres gefrornen Häfen des Amurgebietes, keiner Selbsttäuschung hingibt; daß es keine Entwürfe hegt Welche die Seemächte beunruhigen könnten. Man weiß und man sieht daß auf dem Hochplateau welches Sibirien von Indien, China vom Aral und vom kaspischen Meere trennt, Nußland vordringt, stetig und unaufhaltsam, gerade wie einst die Engländer in Indien, und daß es hierin einer unabweislichen Nothwendigkeit gehorcht gerade wie jene, eine Sendung erfüllt die einem großen Theile der 347 Menschheit nur zum Heile gereichen kann. Das Alles weiß man. Ich war überrascht in den Vereinigten Staaten, in Japan und besonders in China, unter den englischen Residenten so vielen Männern von Urtheil und Erfahrung zu begegnen welche zwar Verwicklungen befürchten wenn sich die russischen Heere den indischen Grenzen allzu sehr näherten, aber diese Macht mit voller Unbefangenheit beurtheilen. In Peking beschränkt sich die Aufgabe der russischen Diplomatie auf die Wahrung der eben angedeuteten Interessen. In Beziehung auf den Handel verlangt Nußland nichts von China: in politischer Hinsicht verlangt es, nachdem seine Grenzen mit dem chinesischen Reiche geregelt sind, daß es ihm in Centralasien keine Schwierigkeiten bereite. Ganz verschieden ist die Stellung Englands. Unermeßliche Handelsinteressen erheischen seinen Schutz. Sein jährlicher Handelsverkehr mit dem „himmlischen" Reiche beträgt zweiundvierzig Millionen Pfund Sterling! Er würde noch viel größere Verhältnisse annnehmen wenn die Erzeugnisse der englischen Industrie, welche heute nur durch die Vertragshäfen importirt werden können, auf allen Punkten des Reiches Eingang fänden, und wenn sie nicht — gegen die Verträge, sagen die Engländer, im Einklänge mit ihnen, behaupten die Chinesen — im Innern des 348 Reiches mit Durchgangszöllen belastet würden. Also: Eröffnung des ganzen Reiches für europäische Waaren, Zulassung der fremden Handelsflaggen in die Flüsse, freier und direkter Verkehr zwischen den westlichen Provinzen Sze-chuen und Jünan mit Indien (über Iravaddy), Abschaffung der inneren Zolllinien oder Aufhebung des Transito-zolles auf europäische Artikel, dies sind die Errungenschaften welche England anstrebt. Ich sage England: Manchester, Leeds, die großen Herde der vaterländischen Ge-werbsthätigkeit, die ich hier ausdrücklich unterscheide von den in Hongkong, Shanghai und in den andern offenen Häfen angesiedelten Engländern. Die brittische Industrie verlangt also die Erschließung des Reiches und den freien Durchgang, und die Regierung der Königin könnte sich, selbst wenn sie es wollte, diesem Andringen nicht widersetzen. Um den Zweck zu erreichen, gebraucht sie alle ihr zu Gebote stehenden Mittel der Ueberredung: und sie wird bei der bevorstehenden Revision der Verträge ihre Anstrengungen in dieser Richtung verdoppeln: aber aus politischen und finanziellen Gründen, aus Gründen der Menschlichkeit, um tausend anderer Ursachen willen, weicht sie zurück vor der Anwendung der Gewalt. Sie weiß übrigens daß wenn ihre kommerciellen Ansprüche zum Kriege mit China führten, eben wegen des ungeheuren Ueberwiegens der brittischen Interessen im Vergleiche zu 349 den unendlich geringeren der anderen Vertragsmächte fie auf die bewaffnete Mitwirkung keiner der letzteren zu zählen hätte. Und hier sei mir, im Vorbeigehen, eine Bemerkung gestattet über eine in Peking und den „Häfen" vielbesprochene Frage, über die Solidarität, das Zusammengehen der Vertragsmächte in dem Falle daß die Beziehungen einer oder der andern derselben zu China durch ernste Verwickelungen getrübt würden. Diese so sehr gewünschte und gehoffte Solidarität bildet das große Argument welches man chinesischer Halsstarrigkeit entgegenhält. Ihr steht, sagt man den Großmandarinen, nicht nur England gegenüber, oder Rußland oder Frankreich oder den Vereinigten Siaaten, sondern uns allen. Auch Herr Hart gebraucht dies Drohmittel in seiner berühmten Denkschrift die ich sogleich besprechen werde. Ist es nöthig das Trügerische dieses Gcdankenganges nachzuweisen? Kann irgend Jemand wirklich glauben und im Ernste behaupten daß Mächte, die an der Handelsbewegung der offenen Häfen keinen oder nur sehr geringen Antheil nehmen, für die aus diesem Handelsverkehre entspringenden Anforderungen Englands das Schwert ziehen; daß England für die politischen Interessen Nußlands in Centralasien oder für den ausgiebigeren Schutz der katholischen Missionäre durch Frankreich kämpfen, daß Nußland sich mit China ent- 350 zweien werde um das brittische Ansehen in Indien zu stützen? Und dennoch bestehen diese Täuschungen. So wahr ist es daß der Mensch immer geneigt ist zu glauben was er wünscht. Gewiß, es gibt gemeinsame Interessen; und für die Wahrung dieser Interessen wird es vielleicht gelingen eine Uebereinstimmung zwischen den Ansichten der Kabinette und ein analoges Auftreten ihrer Vertreter in Peking zu erzielen.*) Nun ist abcr sehr weit von einem solchen diplomatischen Schritte zu einer gemeinsamen militärischen Handlung welche der Krieg mit China wäre oder dazu führen müßte. Die Negierungen wissen dies vollkommen, und eben so gut weiß man es ohne Zweifel im Tsungli-yamen. Die Residenten in den Faktoreien aber geben sich solchen Täuschungen hin. *) Der Leser hat oben gesehen daß die französische Regierung vorschlug das chinesische Memorandum vom 9. Februar 1671 über die Missionäre mittelst einer Kollektivnote zu beantworten und daß das englische Kabinet diesen Antrag ablehnte. Nun handelte es sich aber in dem gegebenen Falle um eine allen Mächten gemeinsame Angelegenheit, um Leben und Eigenthum ihrer Unterthanen, Venn die eigentliche Veranlassung zur Denkschrift des Prinzen Kung hatte ja das Blutbad von Tien-tsin gegeben. Die Erlassung einer Kollektivnote war nur eine De-monstration welche die Unterzeichner noch zu keiner gemeinsamen Handlung verpflichtete. Aber selbst zu dieser Demonstration wollte und, wie ich glaube, konnte die englische Negierung sich nicht entschließen. Und man spricht von einem gemeinsamen Kriege der Mächte mit China! 352 Ich habe an einem andern Orte die Handelsverhältnisse besprochen und hervorgehoben daß die Lage der europäischen Kaufleute in den Trade-Ports, obgleich noch immer befriedigend, dennoch nicht mehr so glänzend sei wie sie war. Man hat gesehen daß der Gewinn der Einzelnen sinkt, während die Ausfuhr englischer Produkte zunimmt. Ich habe diese Erscheinung erklärt. Sie erzeugte in den Settlements oder Koncessionen zwar nicht eine allgemeine Unzufriedenheit, aber eine moralische Verstimmung, eine gewisse Unruhe, eine Geneigtheit die englische Regierung und ihre vornehmsten Organe in China zu tadeln, eine steigende Erbitterung gegen das Tsungli-yamen und gegen die Mandarine; im Allgemeinen endlich den, sehr natürlichen, Wunsch die Dinge auf die Spitze zu treiben, eine Krisis hervorzurufen und mit Hilfe dieser Krisis zurückzukehren zu den großen und raschen Profiten der guten alten Zeit. Also zwei verschiedene Strömungen wirken auf die Gesandtschaft und die Konsulate Ihrer brittischen Majestät; die Strömung aus dem Vaterlande: stufenweise und friedliche Entwickelung der Handelsbeziehungen zum Vortheile Aller: und die Strömung aus den „Häfen": individuelle Forderungen, Auslegung der Verträge im Sinne der Ansprüche eines jeden Einzelnen, Drohungen, Repressalien, und, wenn es sein muß, Kanonenschüsse. Der brittischen Regierung wird Weichheit vorgeworfen, ihrem Mi- 352 nister in Peking Wohldienerei, zu weit, getriebene Nachgiebigkeit, offenkundige Sympathien für die Chinesen; den kaiserlichen Behörden Doppelzüngigkeit und Insolenz, daher ihre unmittelbare Züchtigung durch die Konsuln und Kommandanten der Kriegsschiffe mit Nachdruck gefordert wird. Viele Beispiele, und viele gute Gründe lassen sich zu Gunsten der von den Faktoreien bevorworteten Methode vorbringen. In dieser Weise, das heißt durch die direkte und eigenmächtige Dazwischenkamst der Konsularbehörde gestützt auf die Flotte, hat Herr Medhurst mit dem Vice-König von Nanking/) und der Konsul Gibson mit den Mandarinen von Formosa abgerechnet. Die Häfen klatschten Beifall, aber aus London kam eine Mißbilligung. Nicht den Konsuln gebühre es, schrieb das Foreign Office, Repressalien zu üben, ebensowenig als den Kapitänen der Kriegsschiffe ihnen hiezu die Hand zu bieten. Klagen und Reklamationen seien durch die Gesandtschaft in Peking an die kaiserliche Centralregierung zu leiten. Der Konsul in Shanghai erhielt eine Rüge, der Konsul auf Formosa seine Absetzung, die Marineofficiere einen scharfen Verweis. Ein Schrei des Unwillens war die Antwort der Faktoreien. Von allen Seiten liefen Protestationen ein gegen diese „Preisgebung der britüschen Interessen". Eine vor Lord Granville erscheinende Deputation der größten mit China *) 1866. 853 handeltreibenden City-Häuser beklagte sich im Namen ihrer wuchtigen Kommittenten über die englische Politik im äußersten Osten, „eine Politik der Nachgiebigkeit und Zuvorkommenheit, wo im (Gegentheile nöthig wäre auf der strengen Beobachtung der Verträge zu bestehen und für Akte der Willkür und für Beschimpfungen sofort gebührende Genugthuung zu verlangen." Die Sprache der Citymänner ist charakteristisch als getreuer Wiederhall der Stimmung ihrer Geschäftsfreunde in den Faktoreien. Die kaiserliche Regierung und ihre höchstgcstellten Mandarine geben noch zu anderen Klagen Anlaß. Herr Hart hat sie in seiner erwähnten Denkschrift zusammengefaßt. Chinesischer Sympathien beschuldigt, genoß der General-Inspektor der kaiserlichen Zollämter in den europäischen Niederlassungen nur einer mäßigen Beliebtheit. Diesen ihm zur Last gelegten Fehler, wenn es ein Fehler ist, machte er gut indem er an den Stufen des Thrones Seiner chinesischen Majestät eine Bittschrift niederlegte, in der That eine scharfe, bittere Anklage, das Aeufterste was man an Aufrichtigkeit und, im Hinblick auf den im Solde der von ihm gegeißelten Negierung stehenden Verfasser, an unerhörter Keckheit zu leisten vermag. Aber der Tollkühnheit des Herrn Hart entsprach die Langmuth oder vornehme Indolenz des Prinzen Kung und seiner Kollegen. In Europa, selbst in den freiesten Staaten, würde die Ab- Httlmer, Epazierganc, IU. II 354 setzung des Verfassers der Einreichung einer ähnlichen Schrift auf dem Fuße gefolgt sein. Im Reiche der Mitte gehen die Dinge anders vor sich. Als Antwort auf die Schmähungen welche ihnen ihr Untergebener, vor den Augen China's und der übrigen Welt, in das Angesicht schleudert, gehen die Minister des Kaisers einfach zur Tagesordnung über. Herr Hart bleibt General-Inspektor, und China China. Vielleicht hat kein lebender Europäer in ähnlichem Maße Gelegenheit das Räderwerk der chinesischen Verwaltung, ihre Gebrechen und guten Seiten zu kennen, und schon deshalb verdient Hart's Denkschrift Beachtung. Ich citire hier einige Stellen. „In China", sagt er sich der landesüblichen Phraseologie bedienend, „haben die Männer aus dem Westen einen Abgrund von Schwäche gefunden. Was nützt ein gutes Gesetzbuch, wenn die Gesetze nur unvollkommen gehandhabt werden? Die Verwaltung, vortrefflich in der Theorie, ist in der Praxis eine elende Maschine geworden. Die Beamten üben ihr Amt während einer kurzen Frist. Daher die geringe Anzahl der guten Agenten und die große der unehrlichen. . . . „Die Kriegssteuern sind ungeheuer, aber mit dem Solde ist die Regierung oft Monate lang, zuweilen während eines Jahres im Rückstände. Auf dem Papier zäh- 355 ten die Soldaten nach Millionen: aber in Wirklichkeit ist die Armee eine Sammlung von Krüppeln und unwissenden Dummköpfen die sich in Friedenszeiten, statt abgerichtet zu werden, als Kuli verdingen. Will man eine Schlacht liefern, so wird an Markttagen eine Razzia gemacht; man greift die Leute auf und bewaffnet sie mit Schaufeln die in Eile zu Lanzen und Säbeln umgestaltet werden. Die Nebungen der tartarischen Truppen in Friedenszeit mit Bogen und Schleuder sind ein leeres Schaugepränge. Diese Leute sind Schwächlinge und zu nichts tauglich außer zum Abrichten der Vögel. Wenn die Rebellen sich zeigen und es gelang einen Zusammenstoß mit ihnen zu vermeiden, so wird sich ein Mensch mit seiner Familie umbringen um auf das kaiserliche Mitleiden zu sftekuliren. Wir nehmen an, die beiderseitigen Truppen stehen sich gegenüber. Wenn sich die Rebellen zurückziehen, so rücken die Kaiserlichen vor; wenn aber jene nicht sogleich die Flucht ergreifen, so laufen diese davon. Natürlich stellt der General den Vorfall als einen Sieg dar; zum Beweise seiner Großthat und als Beleg für sein Bulletin läßt er ein oder zwei friedliche Menschen oder ein Paar Bauern mit unrasirtem Schädel umbringen, die er sodann für „langhaarige" Rebellen ausgibt. In diefer Weise erlangen die Officiere Anspruch auf Belohnung.... „Das Volk wird ausgesaugt.... Also Gesetze die 23* 356 an sich gut wären erzeugen unberechenbaren Schaden, so daß selbst ruhige und gehorsame Unterthanen übel aus-schlagen und mit der Zeit schlechte Subjekte werden .... Die ganze Staats- und Militär-Verwaltung ist Lüge. Diejenigen deren Aufgabe es ist für Vollziehung der Gesetze zu sorgen denken nur an ihren Vortheil, die Nächter des öffentlichen Säckels an den eigenen, und die an der Gewalt befindlichen Männer thun als hätten sie keine Augen. Die Interessen des Volkes können aus ihren niederen Sphären nicht hoch genug steigen um die Aufmerksamkeit der Hochgestellten zu erregen, und die von Oben erlassenen Befehle nicht tief genug sinken um zur Kenntniß des Volkes zu gelangen. Wer also wollte für das künftige Benehmen des letztern einstehen? Wer wird verhindern können daß seine Verachtung für die regierenden Männer nicht eines Tages in offene Rebellion übergehe?" Der Verfasser bespricht auch die auswärtige Politik. Die Verträge haben, sagt er, mit Rußland die Grenzfrage geregelt, mit Frankreich die Frage der Missionäre, mit den drei Mächten aber, insbesondere mit England, die Handelsfragen. Was würde geschehen wenn China seine Verbindlichkeiten mit Rußland nicht einhielte? Hierüber schweigt Herr Hart. Nenn China sein Wort bricht in Bezug auf die Missionäre, werden, so meint er, sämmtliche „katholische" Mächte für diese ihnen gemeinsame Angelegenheit kämpfen. 35? Wenn die chinesische Regierung aber die den Handel be-treffenden Vertragsbestimmungen verletzte, dann würde dies eine „allen" (!) Mächten gemeinsame Beleidigung sein . . . Kurz gefaßt, stellt sich die Lage Englands in China folgendermaßen dar. Die kolossale Betheiligung des brit-tischen Gewerbfleißes und des brittischen Handels an dem Verkehr mit den chinesischen Märkten, die begründete Hoffnung einer noch weiterenEntwickelung würden es der englischen Negierung, selbst wenn sie wollte, unmöglich machen die im äußersten Osten genommenen Stellungen aufzugeben. Aber wenn es unmöglich ist sie zu verlassen, so scheint es schwierig den Status quo aufrecht zu erhalten. Der Leser weiß darum. Auf der einen Seite stehen die Residenten; sie betrachten ihre Lage als gefährdet, sind stets geneigt ihre personlichen Interessen mit dem öffentlichen Wohle Englands zu verwechseln, führen eine herausfordernde Sprache, suchen wo sie können Händel mit der chinesischen Regierung und verlangen von dem Mutterlande eine „feste energische" Politik, mit andern Worten, sie drängen zum Krieg. Auf der andren Seite sehen wir die Regierung der Königin, den Eingebungen der Staatsklugheit folgend, Anforderungen abweisen auf welche sie weder eingehen kann noch will. Daher entzog sie, um unerwartete und in ihren Folgen unberechenbare Verwickelungen zu vermeiden, ihren Konsuln und Kommandanten der Flotte die 356 Vefugnih auf eigene Verantwortung den Lokal-Behörden gegenüber Repressalien zu üben. Aber gibt sie sich nicht gefährlichen Täuschungen hin, wenn sie darauf besteht daß alle Reklamationen im diplomatischen Wege an die kaiserliche Centralregierung zu leiten seien? Liegt dieser Anordnung, so hörte ich in Shangai, in Tientsin, in Kanton fragen, nicht eine gänzliche Verkennung der chinesischen Zustände zu Grunde? Im Reiche der Mitte ist Alles anders als bei uns: Gedankengang, Glaube, Gesetze, Traditionen, Gebräuche, ja selbst die Begriffe von Ehre und Recht. Der Regelung des Verkehrs zwischen Chinesen und Ausländern fehlt die Grundlage gemeinsamer völkerrechtlicher Principien. Der ganze Organismus des Reiches bildet mit unsern Verwaltungsnormen einen unversöhn-baren Gegensatz, oder vielmehr es gibt in China keinen Organismus. Wenn die europäischen Staaten dem menschlichen Körper gleichen, dessen einzelnen Gliedern gesonderte Verrichtungen obliegen, dessen Blut nach gewissen Gesetzen umläuft, dessen Muskeln dem Willen gehorchen, so ist China ein riesiger Polyp oder vielmehr eine Anhäufung Verschiedener Stoffe die nichts gemein haben als den Ursprung der Rasse, den Haß gegen Fremde, Stolz und Einbildung, diese beiden Gegner jedweder Verbesserung, die Kraft der Trägheit, die Waffen der List und des Verraths. Wie, um nur Ein Beispiel zu geben, kann man von der 359 Centralregierung in Peking die Aufhebung der Durchgangszölle erlangen, da dies die Auflassung der innern um jede Provinz gezogenen Zolllinie voraussetzte, und der Ertrag dieser Zwischenzolle es den Statthaltern allein möglich macht die Verwaltungsmaschine im Gange zu erhalten und den jährlichen Tribut nach Peking abzuführen; da endlich dieser Tribut ja das einzige Band ist zwischen dem Herzen des Polypen und seinen übrigen unförmlichen Gliedmaßen? Wie läßt man sich beikommen die Ausarbeitung und Annahme eines völkerrechtlichen Gesetzbuches anzuempfehlen? Uebersieht man denn, so nöthig dieser Kodex wäre zu dem Zusammenleben von Einheimischen und Ausländern, daß die Rcchtsbegriffe in China mit den unsrigen nichts gemein haben? Wozu also sich der thörichten Hoffnung hingeben daß es je gelingen werde einen auch nur einigermaßen erträglichen Modus vivendi zu finden? Warum nicht lieber verzichten auf unfruchtbare Versuche deren jeder nichts Anderes ist als ein neuer schlagender Beweis unserer Ohnmacht? Warum nicht lieber die Lage mannhaft ins Auge fassen? Warum nicht das Dilemma in dem wir uns befinden aufrichtig uns und Andern eingestehen? Nur zwischen zwei Wegen bleibt uns die Wahl: entweder China zu verlassen oder von ihm ganz oder theilweise Besitz zu ergreifen — die andern Mächte können in letzterem Falle ihrerseits ebenso handeln — und das Land zu regieren 360 nach den Ansichten und Gesetzen civilisirter Staaten! In den Trade-Ports ist dies der herrschende Gedanke. Und in der That, vom Gesichtspunkte der abstrakten Logik, zeigt er die einzig mögliche radikale Lösung. Nur verträgt die Politik nicht immer radikale logische Lösungen, und die englische Regierung ist zu weise um auf solche Vorschläge einzugehen. Im Leben der Nationen wie im Leben der Individuen gibt es Lagen Wo es gilt zu warten, Zeit zu gewinnen, sich zufrieden zu geben wenn es gelang für die Bedürfnisse des Tages zu sorgen, was die Vorbereitung für kommende Ereignisse und endgültige Entscheidungen ja nicht ausschließt. In einer solchen Lage befinden sich die fremden Negierungen China gegenüber. Unter den gegebenen Umständen wird man, glaube ich, wohl daran thun auf die Hoffnung zu verzichten daß es gelingen könne die täglich auftauchenden Streitfragen nach allgemeinen Grundsätzen zu schlichten. Jeder einzelne Fall wird abgesondert zu behandeln und zu erledigen sein, für sich allein, innerhalb der Grenzen des Möglichen, nach Maßgabe der Verhältnisse und der Menschen mit denen man zu thun hat. Wenn die Centralregierung unvermögend ist ihren fernen Satrapen die strenge Erfüllung der Ver-tragspflichten aufzuerlegen, so werden natürlich die fremden Regierungen genöthigt sein dem betreffenden Statthalter 361 die Augen zu öffnen und, wenn er bösen Willen verräth, seine Züchtigung zu übernehmen. Nur wird ein ähnliches Eingreifen gerechtfertigt sein müssen durch eine gebieterische Nothwendigkeit, und die Entscheidung über die Frage ob eine solche Nothwendigkeit vorhanden sei sollte nur den Gesandten in Peking zustehen und niemals den Konsuln in den Vertragshäfen. Nicht als ob ich die Einsicht und sonstige Befähigung der verdienten und ehrenwerthen Männer bezweifelte deren Aufgabe es ist den Handel und die Interessen ihrer Landsleute, zuweilen deren Eigenthum und Leben zu schützen. Aber jeder von uns hat den Gesichtskreis seiner Stellung, und jener der Konsuln ist nothwendiger Weise beschränkter als der des Gesandten in Peking. Er allein ist im Stande, in jedem gegebenen Falle, die verschiedenen Elemente zu prüfen, zu erwägen ob Zwangsmaßregeln wirklich unvermeidlich seien, ob die politische Lage China's ob die Lage Europa's sie vertrage, und nach erfolgter Erwägung zu entscheiden in welchem Maße, zu Welchem Zeitpunkte und bis zu welchem Grade dies äußerste Mittel zu ergreifen sei. Allerdings hat die Berichterstattung nach der fernen schwer zugänglichen Hauptstadt des chinesischen Reiches ihre Unzukömmlichkeiten, aber weit ernstere böte das Vorgehen der Konsuln auf eigne Verantwortung: es setzte England der Gefahr aus sich plötzlich und so zu sagen ohne sein Wissen in einen neuen chi« 362 nesischen Krieg verwickelt zu sehen. Wahrscheinlich unter der Einwirkung eines ähnlichen Gedankenganges, und nicht in der irrigen Voraussetzung baß China wie europäische Staaten zu behandeln sei, entzog Lord Clarendon den Konsuln das Recht Zwangsmaßregeln zu veranlassen und betraute hiemit ausschließlich den Vertreter der Königin in Peking. Wenn dem so ist, so wird kein unbefangener Beurtheiler dieser weisen Maßregel seinen Beifall versagen. Ein letztes Wort über die Anstrengungen welche gemacht werden um in China die Wohlthaten der Civilisation zu verbreiten. Ein löbliches ja edles Gefühl liegt ihnen zu Grunde, und wenn europäische oder amerikanische Reisende das Bedürfniß fühlen auf eigne Gefahr den Chinesen das Evangelium der nützlichen Kenntnisse, der Eisenbahnen und Telegraphen zu verkündigen, so wird Niemand dagegen eine Einwendung erheben. Aber die Aufgabe der Diplomaten und Konsuln ist dies in keinem Falle. Was Herr Low, von den Missionären und einheimischen Christen sprechend, vorbrachte läßt sich, scheint mir, auch auf die Propaganda der Civilisation anwenden. Dies Unternehmen liegt, um uns der bedeutungsvollen Worte des amerikanischen Gesandten zu bedienen, außerhalb des Wirkungskreises der Diplomatie. Diplomaten und Konsuln haben die Aufgabe die Interessen ihres Staates zu wahren; sie 363 sind nicht berufen sich in die Angelegenheiten derer zu mischen bei denen sie beglaubigt sind. Ihre weisesten Rathschläge würden, weil man sie nicht für uneigennützig hielte, natürlichem Mißtrauen begegnen. Ich habe immer gesehen daß Botschafter welche ein zu lebhaftes Interesse für das Wohl des Landes empfanden in dem sie residirten übel endeten, und, was das Schlimmste, daß das Interesse ihres eignen Lundes darunter zu leiden hatte, llebrigens sind die Chinesen nicht so blödsinnig als man meint. Nenn sie von Eisenbahnen und Telegraphen nichts wissen wollen, so will das nicht sagen daß sie die Vortheile von Einrichtungen verkennen durch welche Zeit und Raum besiegt werden. Vielleicht liegt der Grund der Abneigung in ihrer Absicht den Verkehr mit Europa nicht zu vervielfältigen und zu beschleunigen, sondern im Gegentheile zu erschweren und womöglich zu vernichten. Den Beweis, wie wohl sie die Errungenschaften der Civilisation zu würdigen wissen sofern sie daraus Vortheil zu ziehen hoffen, liefern die Thätigkeit in ihren nach europäischem Muster eingerichteten Arsenalen, die auf ihren Schiffswerften erbauten Kriegsschiffe, die Vervollkommnung ihrer Nassen, die in europäischem Styl, allerdings auf den Rath ihrer Sterndeuter errichteten Festungswerke, aber errichtet nicht im Innern gegen Rebellen, nicht an der russischen Nordgrenze, sondern an der Barre von Taku und in den offe- 364 nen Häfen mit gegen die Faktoreien gerichteten Batterien. Um die Chinesen zu unsrer Civilisation zu bekehren, müßte man mehr auf ihr Herz zu wirken wissen als auf ihren Geist der offner und empfänglicher ist als allgemein geglaubt wird. Den Willen müftte man umzukehren im Stande sein. Die Chinesen sind nicht, wie die Japaner, gute Kinder regiert von «nt'.mw tm-i-,!>I<;n; sie sind ernste Männer, befähigt unsere Civilisation anzunehmen wenn sie uns verstehen werden, und verstehen werden sie uns am Tage wo sie wollen. Ei, mein liebes Tagebuch, wie viel hätte ich noch auf deine Blätter zu schreiben! Aber du würdest allzu dickleibig. Seien wir bescheiden; sündigen wir nicht auf die Geduld unserer Leser. Wird man nicht schon sagen: Wie wagt der Tourist über so viele Fragen zu sprechen die es ihm an Zeit gebrach zu ergründen? Aber hierauf antworte ich: Der äußerste Orient ist beinahe noch eine Terra incognita. Den Meistern der Wissenschaft der Ruhm der großen Entdeckungen; dem einfachen Handlanger das kleine Verdienst mitzuhelfen bei dem großen Werke, nach Maßgabe seiner Kräfte. 365 Glücklich wer bei schönem Wetter an Bord des „Tigers" reist, unter dem Commando des Kapitän Boilcve, nnd mit so angenehmen Gefährten als mir der Znfall beschied. Sechs Wochen Villeggiatnra! Die Einförmigkeit der Seereise unterbrochen durch leuchtende Bilder eingerahmt in den rauschenden Ocean: Saigun, Singapore, das wundervolle Ceylon, die Felsen von Sokotora, Aden; dann weiter oder vielmehr näher dem geliebten Vaterlande die Landenge von Suez, der beschneite Ida, der Etna, Korsika, die italienische Küste. (13. Januar 1872.) Wir liegen vor Marseille. Das Zwielicht übergießt uns mit seinen fahlen Lichtern. Noch entzieht sich, hinter einem weißen Vorhange das Land unsern Blicken: aber verworrene Töne gelangen an unser Ohr, wie man im Theater zuweilen das Geräusch auf der Bühne vernimmt, bevor die Kortine aufrollt. Jetzt tritt die Sonne hervor, eine blasse Nintersonne. Ihre ersten Strahlen verscheuchen die Nebel, und mit einem Nisse des Schleiers erscheint auf seiner Felsenspitze das Gnadentirchlein von Notre Dame de la Garde. Cnd e. Vruck von H. Neubürsser in Dessau. SBom nätnlidjen Sßerfaffer erschien: Sixte-Öuint d'apres des correspondances diplomatiques inedites, tirees des Archives d'fitat du Vatican, de Simaiicas, Venise, Paris, Vienne et Florence. 1870. 3 volumes in-8°, prix 22 fr. 50 es. Paris, librairie A. Frank. 67 rue de Richelieu. Zirtus der Fünfte Alexander Freiherrn von Hiibner, «hemaligem Botschafter Oesterreichs am sranzüsischen und päpstlichen Hofe, Deutsche Ausgabe vom Uerfasser. Zwei Rande. 1871. gr.8. (3 Bl. u. 352, 3 Bl. u. 396 S.) geh. 4 Thlr. I. ß). Meigel in Leipzig.