Conversation | Razgovor Dean Komel Gespräch mit Bernhard Waldenfels Lieber, sehr verehrter Herr Professor Bernhard Waldenfels, in diesem Jahr haben Sie Ihren 90. Geburtstag gefeiert, Ihr erstes Buch Das sokratische Fragen. Aporie, Elenchos, Anamnesis (1961) erschien vor mehr als sechzig Jahren, Ihr Buch Das Zwischenreich des Dialogs (1971) vor mehr als fünfzig Jahren. In beiden Werken können wir eine ausgeprägte dialogische Orientierung des Denkens erkennen, die ein konstantes Merkmal Ihres philosophischen Weges bleibt. Dieser Weg führt durch das Feld der Phänomenologie und ist begleitet von Begegnungen mit fast allen zeitgenössischen philosophischen Strömungen sowie der gesamten philosophischen Überlieferung. Sie haben diesen Weg zu einem großen Teil im Philosophischen Tagebuch. Aus der Werkstatt des Denkens 1980-2005 (2008) und im Reisetagebuch eines Phänomenologen. Aus den Jahren 1978-2019 (2020) lebendig nachgezeichnet. Ist es heute noch möglich, wie Sokrates zu seiner Zeit und viele andere nach ihm, ein „philosophisches Leben" zu fordern? Lieber Herr Professor Komel, ich danke Ihnen bestens dafür, dass Sie als Phänomenologe meines 90. Geburtstags gedacht haben, nachdem wir über viele Jahre hin das dialogische Denken nicht nur gemeinsam bedacht, Phainomena 33 | 128-129 | 2024 sondern auch praktiziert haben. Die Zeitschrift Phainomena aus Ljubljana, die ich nicht nur aus der Ferne, sondern auch aus der Nähe kennenlernen konnte, verkörpert eine wichtige Stimme in der weltweiten Polyphonie des phänomenologischen Denkens. Dabei gehen von Sokrates, mit dem ich selbst vor mehr als sechs Jahrzehnten begonnen habe, ähnlich wie später von Kierkegaard wichtige Impulse aus. Er steht für ein Denken, das unsere Erfahrung nicht überfliegt, das sie vielmehr bedenkt, aber auch immer wieder neu zur Sprache bringt. Ein Denken aus der Erfahrung reicht tiefer als ein Nachdenken über Erfahrung. Ihr phänomenologisches Denken wurde entscheidend von Ihrem Pariser Lehrer Maurice Merleau-Ponty geprägt und Sie haben seither immer wieder, auch als Herausgeber und Übersetzer, auf wesentliche Motive seiner Philosophie zurückgegriffen. Auch haben Sie versucht, die bei Merleau-Ponty im Vordergrund stehenden Themen weiterzudenken, wie etwa das Phänomen der Leiblichkeit (Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, 2000; Findigkeit des Körpers, 2004; 350 Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erfahrung, 2009), die Kunsterfahrung (Spiegel, Spur und Blick. Zur Genese des Bildes, 2003, slow. Übers. 2004; Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung, 2010), Sozialität (Der Spielraum des Verhaltens, 1980; Sozialität und Alterität. Modi sozialer Erfahrung, 2015), Normalität und Normativität (Grenzen der Normalisierung, 1998), Moral (Schattenrisse der Moral, 2006) sowie Ordnung und Außerordentlichkeit der Erfahrung als solcher (Ordnung im Zwielicht, 1987; Bruchlinien der Erfahrung, 2002). Mein phänomenologisches Denken verdankt in der Tat wichtige Anregungen Maurice Merleau-Ponty. 1961 zog es mich von München nach Paris, wo ich die letzten Vorlesungen des großen französischen Phänomenologen hören konnte, der in Deutschland nur bei wenigen Kennern Beachtung fand. Was mich bei ihm anzog, war nicht nur der Versuch, mit Husserl „die noch stumme Erfahrung zur Aussprache ihres eigenen Sinnes zu bringen" - so dessen eigene Worte aus den Pariser Vorlesungen -, sondern über alle Schulgrenzen hinaus bei offenen Türen zu philosophieren, und dies im Hinblick auf die Errungenschaften der neuesten Wissenschaften, auf die Conversation | Razgovor Erneuerungskraft der modernen Kunst und auf die „Abenteuer der Dialektik" in der Kriegs- und Nachkriegszeit. So gehörten die Leibhaftigkeit der Erfahrung, der Bezug zu den Anderen und eine entsprechende Zwielichtigkeit der Ordnung für mich zu den Schlüsselthemen des Denkens und Lebens. Ihre Überlegungen sind natürlich in einer anderen Zeit angesiedelt als es die Nachkriegszeit war, in der Merleau-Ponty schrieb und wirkte. Obwohl Sie sich meines Wissens nie als Anhänger der Postmoderne deklariert haben, konfrontieren Sie in Ihrem Buch Verfremdung der Moderne (2001), das auch in slowenischer Übersetzung (2008) erschienen ist, den (post)modernen Zustand mit einer der Moderne eigenen Fremdheit bzw. einer Fremdheit, die sie entweder selbst hervorgebracht oder aber verdrängt hat. Was die aktuelle philosophische Orientierung betrifft, so plädiere ich weder für eine modernistische Euphorie des endlosen Und-so-weiter noch für ein post-modernes Nachhutgefecht, sondern für eine hyper-moderne Denkungsart, die in allen Ordnungen Überschüsse des Fremden eines Außerordentlichen 351 entdeckt und die auf diese Weise über sich selbst hinauswächst, ohne auf ein allumfassendes Ganzes zu schielen. Das ursprüngliche Fremdwerden der Erfahrung ist nicht zu verwechseln mit einer Entfremdung, die auf ihre endgültige Aneignung wartet. Der späte Merleau-Ponty spricht in seinen späten Überlegungen, die dem Zusammenspiel von Endlichem und Unendlichem nachgehen, von einem „Aufstieg auf der Stelle" (ascension surplace). Es scheint - und das war auch mein Eindruck, als ich Ihre Vorlesungen und Seminare in Bochum besuchte -, dass Sie der französischen Gegenwartsphilosophie einen gewissen Vorrang vor der deutschen einräumen (Phänomenologie in Frankreich, 1983; DeutschFranzösische Gedankengänge, 1995; Idiome des Denkens. DeutschFranzösische Gedankengänge II, 2005). In diesem Zusammenhang verstehe ich auch Ihre ständige und beharrliche Polemik mit Habermas und Gadamer sowie mit Heidegger. Ihre Affinität zur französischen Philosophie haben Sie zudem an eine Reihe von Schülerinnen und Schüler weitergegeben, etwa an Laszlö Tengelyi, Hans-Dieter Gondek, Burkhard Liebsch, Iris Därmann, Antje Kapust, Thomas Bedorf und Marc Rölli, um nur einige zu nennen. Phainomena 33 | 128-129 | 2024 Was die französische Philosophie angeht, so führte sie mich mit ihren verschiedenen Varianten und Idiomen auf eigene Wege, die wir in einem neu gegründeten Bochumer Graduiertenkolleg „Phänomenologie und Hermeneutik" gemeinsam zu beschreiten suchten, in Zusammenarbeit mit einem ähnlichen von Klaus Held in Wuppertal organisierten Kolleg. So kam es für mich zur Distanz zu den wichtigsten in Deutschland vorherrschenden Ansätzen, sei es eine kritische Pragmatik im Sinne von Habermas, die sich auf Geltungsansprüche konzentriert, sei es eine universale Hermeneutik im Stile von Gadamer, die Züge eines Hegelianismus in the long run annimmt, sei es ein Seinsdenken im Gefolge von Heidegger, das sich vom faktisch Seienden abkehrt. Umgekehrt stellten sich Bezüge her zu einer Radikalisierung der Erfahrung, wie sie sich schon bei Henri Bergson, bei William James oder bei Walter Benjamin abzeichnet. Der Schwerpunkt dieser Phänomenologie, die ich selbst als „responsive Phänomenologie" getauft habe, liegt auf einem Widerspiel von Pathos und Response. Wir antworten auf das, was uns wohl oder übel widerfährt, und dies geschieht in Form von einer Zeit- und Ortsverschiebung, 352 die ich - mit einem von Plotin oder von Levinas entlehnten Ausdruck - als Diastase bezeichne. Dies bedeutet wörtlich ein Auseinandertreten, das sich weder linear vor und zurück bewegt noch zirkulär zu sich selbst zurückkehrt. Das Graduiertenkolleg „Phänomenologie und Hermeneutik", das Sie zusammen mit Klaus Held von 1992 bis 1998 an den Universitäten Wuppertal und Bochum organisiert haben, hat viele Studierende, Doktoranden und Wissenschaftler aus aller Welt zusammengebracht. Das hat mich persönlich optimistisch gestimmt für einen neuen Aufbruch im europäischen Miteinander, der auch weltweit positive Auswirkungen haben könnte. Doch schon damals wurde dieser Optimismus durch den Krieg in Jugoslawien erschüttert. Die Europäische Union war nicht in der Lage, diesen Konflikt aufzuhalten oder gar zu verhindern. Die gesamte Auflage der serbokroatischen Übersetzung Ihres Buches In den Netzen der Lebenswelt, die Ugo Vlaisavljevic vorbereitet hat, verschwand während der Belagerung von Sarajewo. Die folgenden Jahrzehnte waren geprägt von wirtschaftlichen und politischen Krisen, Krieg und Flucht innerhalb und außerhalb der Grenzen Europas. In Ihrem Nachdenken über Europa bis hin zu Ihrem jüngsten Buch Globalität, Lokalität, Digitalität (2022), das mit Ihrem Vortrag anlässlich der Tagung „Europa an den Scheidewegen Conversation | Razgovor der gegenwärtigen Welt. 100 Jahre nach dem Großen Krieg" 2018 in der Villa Vigoni am Comer See (organisiert vom Institut Nova Revija) beginnt und mit dem „Nachwort zur Ukraine: Nostra res agitur" endet, widmen Sie sich explizit dem „Grenzverkehr zwischen Eigenem und Fremdem". Trotz der Kriegssituationen, die die Grenzen und das Herz Europas unmittelbar gefährden, herrscht der Eindruck vor, die Europäer von heute interessierten sich nur noch für Spaß und Vergnügen. In der Tat entsprang aus der gemeinsamen Arbeit in dem besagten Graduiertenkolleg ein vielsprachiges „europäisches Miteinander", zu dem das ehemalige Jugoslawien einen besonderen Beitrag lieferte. Der Zerfall des ehemaligen Jugoslawiens lebte nicht nur fort als ein Relikt des ererbten europäischen Nationalismus, sondern er enthüllte sich auch als Vorbote weiterer Konflikte in Mittel- und Osteuropa, die bis heute andauern. Die Phänomenologie fand ihre kritischen Bewährungspunkte an Orten wie Warschau, Prag, Budapest, Zagreb, Ljubljana oder Sarajewo, von wo schon der erste Weltkrieg ausgegangen war. Hinzukamen Grenzorte wie Dubrovnik, 353 wo Konflikte wie der zwischen Phänomenologie und Marxismus auf dem Prüfstand standen, die eben auch in Organen wie Nova Revija in Ljubljana und an Tagungsorten wie Villa Vigoni am Comer See besprochen wurden. Der Angriff auf die Ukraine, den Putin mit seinem Gefolge beschönigend als „militärische Spezialoperation" zu bezeichnen pflegt, trägt zusätzlich dazu bei, uns aus einem pazifistischen Schlummer zu wecken. Fremdheit, die unser Generalthema bildet, sondert sich nicht nur ab vom Eigenen, sie schlägt immer wieder um in Feindschaft. Auch dies gehört zur Krisis der europäischen Vernunft, die Husserl, ebenso wie Paul Valéry, schon vor langer Zeit diagnostizierte. Ihr Beitrag zur Entwicklung der zeitgenössischen Phänomenologie, der zweifellos zu den bedeutendsten gehört, ist durch die Felder der responsiven Phänomenologie und der Phänomenologie des Fremden gekennzeichnet, die beide aufeinander verweisen. In diesem Zusammenhang möchte ich Ihr durchschlagendes Werk Der Stachel des Fremden (1990, slow. Übers. 1998) und natürlich die vierteilige Reihe der Studien zur Phänomenologie des Fremden erwähnen, die aus den Titeln besteht: Topographie des Phainomena 33 | 128-129 | 2024 Fremden (1997), Grenzen der Normalisierung (1998), Sinnesschwellen (1999) und Vielstimmigkeit der Rede (1999). Nicht nur die Erfahrung des Fremden bedarf der phänomenologischen Aufmerksamkeit, sondern auch die Fremdheit der Erfahrung selbst. Im Werk Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden (2006) schreiben Sie: „Die Debatte um das Fremde hat nur dann Aussicht, sich aus dem Hin und Her von Aneignung und Enteignung, von Vereinnahmung des Fremden und Auslieferung an das Fremde zu befreien, wenn das Fremde vom Pathos her gedacht wird als Beunruhigung, als Störung, als Getroffensein von etwas, das sich niemals dingfest und sinnfest machen lässt. Dies gilt für persönliche Verhältnisse so gut wie für den intra- und interkulturellen Austausch." Sie heben zu Recht hervor, dass die Fremdheit kein Spezialphänomen darstellt, sondern ein Grundphänomen, das mit einem allseitigen Fremdwerden der Erfahrung anhebt und in radikalen Einbrüchen wie dem Erstaunen und dem Erschrecken seine erschütternde Kraft demonstriert. Laut Jan Patocka ist diese radikale Form der Fremdheit dazu angetan, eine „Solidarität der 354 Erschütterten" wachzurufen. Das Fremde findet seinen genuinen Ausdruck darin, dass wir zu antworten genötigt werden, bevor wir in klassischer Manier fragen, was denn das Fremde sei und warum es uns heimsucht. Was uns erstaunt oder erschreckt, überkommt und überrascht uns, es geht unserer Initiative voraus. Besondere Aufmerksamkeit verdient auch die Aufmerksamkeit als solche, die, wie Sie in der Phänomenologie der Aufmerksamkeit (2004) gezeigt haben, nicht nur kognitive, sondern auch zwischenmenschliche, soziale und politische Relevanz hat. Aufmerksamkeit ist eng mit dem Problem der Verantwortung verbunden, an die heute in zahlreichen Foren appelliert wird, wobei die vorherrschende Stimmung und Überzeugung davon ausgeht, dass es immer weniger Verantwortung gibt. Sie selbst vertreten die Auffassung, dass die Übernahme von Verantwortung dadurch möglich ist, dass wir antwortende, responsive Wesen sind. Anlässlich der Gründung des Forums für Humanwissenschaften (FORhUM) am Institut Nova Revija (2014) haben Sie einen Vortrag mit dem Titel „Homo respondens" gehalten, der auch in Ihrem Buch Sozialität und Alterität (2015) enthalten ist. Aber als Menschen können wir nicht auf alles und jeden antworten. Die Schwäche und Verletzlichkeit der Responsivität Conversation | Razgovor zwingt uns, Korrespondenzen zu suchen, die nicht immer möglich oder ermöglicht sind. Was speziell die Aufmerksamkeit angeht, so beginnt sie in der Tat damit, dass uns etwas auffällt oder aufschreckt, bevor wir uns ihm zuwenden und bevor wir es in eigener Verantwortung annehmen oder ablehnen. Die Auffälligkeit des Erstaunlichen und Erschreckenden geht jeder intentionalen oder praktischen Bedeutsamkeit voraus. Etwas kommt auf uns zu, bevor wir uns von uns aus darauf einlassen und darauf eingehen. Das Wirken der Aufmerksamkeit schlägt sich nieder in einer Aufmerksamkeitsarbeit, die der Freud'schen Trauerarbeit darin gleicht, dass sie sich von etwas nährt, das von anderswoher kommt, und dass sie selbst stets selektiv vorgeht. Zuwendung und Abwendung gehen Hand in Hand. Die Aufmerksamkeit ist wie schon bei James, Bergson und auch bei Husserl und Heidegger kein bloß kognitives oder gar digitales Problem, sie ist vielmehr tief im Gang unserer Erfahrung verankert. Keine Intention ohne Attention. Die Verletzlichkeit der Aufmerksamkeit rührt daher, dass sie sich nicht ein für alle Mal programmieren lässt wie ein 355 künstliches Gerät. Aufmerksamkeit, die, um mit Simone Weil zu reden, einer Schwerkraft unterliegt, muss eingeübt werden. Die Responsivität selbst hat viele und nicht immer erkennbare Gesichter, die Sie u. a. in Antwortregister (1994) systematisch erörtert haben. Hier stoßen Sie auch auf eine zentrale Annahme der Gadamerschen Hermeneutik, die den methodischen Vorrang des Fragens vor dem Antworten befürwortet. Zugleich stellt sich das Problem, dass sich in das Dazwischen von Frage und Antwort immer schon unsere Erfahrung schiebt bzw. geschoben hat. In diesem Zusammenhang sprechen Sie in Hyperphänomene (2012) von der „hyperbolischen Erfahrung". Das Antworten verteilt sich in der Tat auf verschiedene Register, die den wechselnden Klangregistern einer Orgel gleichen. Das Vorverständnis im Sinne von Gadamers Hermeneutik ist nur ein Moment im Gang einer Erfahrung, die sich selbst vorauseilt. Selbst wenn wir fragen, antworten wir auf Herausforderungen, die uns beunruhigen und die als „Hyperphänomene" den Rahmen gegebener Phänomene überschreiten. Phainomena 33 | 128-129 | 2024 Im Rahmen der phänomenologischen Erörterung dieses Dazwischen, in dem sich Intentionalität und Effektivität, Logos und Pathos verschränken, möchte ich insbesondere Ihre Ausführungen in Platon. Zwischen Logos und Pathos (2017) und in Erfahrung, die zur Sprache drängt. Studien zur Psychoanalyse und Psychotherapie aus phänomenologischer Sicht (2019) erwähnen. Die Begegnung von Phänomenologie und Psychoanalyse war bereits Thema Ihres Buches Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie - Psychoanalyse - Phänomenotechnik (2002). 2017 wurden Sie auch mit dem Sigmund-Freud-Kulturpreis ausgezeichnet. In seiner Laudatio wies Rolf-Peter Warsitz auf Folgendes hin: „Intersubjektivität als Responsivität basiert also auf dem ,libidinösen Körper' zweier Körper, der alle Sinnesqualitäten umfasst und ohne die semiotische und symbolische Dimension von Sprache und Sprechen oder die präverbalen Formen der phonetischen Sprache im libidinösen phonetischen oder sprachlichen Körper nicht denkbar ist. Waldenfels zufolge kann die Responsivität als Entfaltung des Begehrens in der Sprache als ein konstitutives Moment der conditio humana angesehen werden." 356 Was sich zwischen Pathos und Logos oder Ethos abspielt, ist ein Begehren, das seinen leiblichen und zwischenleiblichen Ausdruck sucht und einen Sinn annimmt, den es nicht vorweg schon hat. In diesem Sinne drängt Erfahrung zur Sprache. Ein Satz wie: „Alles ist Sprache", der gern mit dem linguistic turn in Verbindung gebracht wird, verkennt die affektive Genese der Sprache. Was uns angeht und uns anruft, überschreitet eine Sprachschwelle, die mit keinem Reich der Sprache zu verwechseln ist. In dieser genealogischen Betrachtungsweise trifft sich die Passivität einer radikal genetischen Phänomenologie mit der Psychoanalyse, die zwischen Es und Ich angesiedelt ist und die im „es denkt" von Lichtenberg und Nietzsche ihre Vorläufer hat. Ganz in diesem Sinne ist meine jüngst gehaltene Tübinger Preisrede, die dem jüdischen Rabbiner Leopold Lucas gewidmet ist, mit „Geburt des Ethos aus dem Pathos" überschrieben. Was ich tue und lasse, verdanke ich dem, was uns widerfährt. In diesem Sinne ist das „Ich" zwar nicht zu streichen, aber als responsives Ego kleinzuschreiben. Ich erinnere mich gerne an Ihren Hinweis: „Lerne viele Sprachen, vor allem die, die es noch nicht gibt!" Aber es scheint, als hätten wir es heute mit einer starken Tendenz zur sprachlichen Uniformierung und Conversation | Razgovor Unifizierung zu tun, auch im kulturellen, akademischen, medialen, digitalen und politischen Bereich, ganz zu schweigen von den wissenschaftlich-technischen und wirtschaftlichen Institutionen. So wurde die diesjährige Feier zum 300. Geburtstag Kants im Goethe-Institut in Ljubljana beispielsweise auf Englisch abgehalten, obwohl alle Teilnehmer die deutsche Sprache gut beherrschten. Auf der anderen Seite können wir in ganz Europa ein Erstarken der Identitätspolitik beobachten. Die Mahnung des polnischen Aphoristikers Stanislaw Lec: „Lernt Sprachen. Auch die nicht vorhandenen", ist in der heutigen Zeit, in der sich mehr und mehr ein technologisch verstärkter Monolinguismus ausbreitet, aktueller denn je. Der weitgehende Primat des allround-English, der dem genuinen Reichtum des Shakespeare-Englisch hohnspricht, führt zu einer kurzschlüssigen Verarmung der Sprache. Europa, das kein einheitliches „Europäisch" kennt, steht und fällt mit seiner Vielsprachigkeit, die auf Übersetzungen angewiesen ist. Dabei fungiert die Übersetzung nicht als bloßer Notbehelf, sie lässt uns vielmehr alles Eigene neu sehen und neu hören. Schon Goethe versicherte zu Beginn des 19. Jahrhunderts, bevor der Nationalismus sich ausbreitete: „Wer 357 fremde Sprachen nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen." Ihre philosophischen Werke sind in zahlreiche Sprachen übersetzt worden. Die Philosophie selbst ist eine Sprache, in der sich verschiedene Sprachen verständigen können. Wie könnte sie auf der Grundlage dieser „communicatio" dazu beitragen, die Welt besser zu machen, wenn wir unter einer besseren Welt nicht nur eine utopische Idee oder ein atopisches Ideal verstehen, sondern einen lebendigen Topos, ja - eine Lebenswelt? Das wechselseitige Ineinander der Sprachen, das es uns erlaubt, im Eigenen Fremdes und im Fremden Eigenes wiederzufinden, kommt einer Lebenswelt zugute, die sich nicht auf das situative Hier und Jetzt beschränkt, es aber auch nicht überspringt, sondern dazu führt, dass wir zugleich hier und anderswo, jetzt und zu anderer Zeit leben und denken. Wenn Husserl von Horizonten der Erfahrung spricht, so bezieht er sich auf Grenzerfahrungen, die sich nicht aufheben, sondern nur aufzeigen lassen. Nochmals sei an den platonischen Sokrates erinnert, dessen buchstäbliche Atopie Ausdruck einer genuinen Fremdheit ist. Auch das Staunen der Philosophie entspringt hier. phainomena REVIJA ZA FENOMENOLOGIJO IN HERMENEVTIKO JOURNAL OF PHENOMENOLOGY AND HERMENEUTICS Phainomena 32 | 126-127 | November 2023 Demarcations | Razmejitve Damir Barbaric | Dragan Prole | Artur R. Boelderl | Johannes Vorlaufer | Cathrin Nielsen | Virgilio Cesarone | Mario Kopic | Petr Prašek | Žarko Paic | Tonči Valentic | Dean Komel | Emanuele Severino | Jonel Kolic | Jordan Huston Phainomena 32 | 124-125 | June 2023 Passages | Prehodi Alfredo Rocha de la Torre | Miklos Nyirô | Dario Vuger | Ming-Hon Chu | Maxim D. Miroshnichenko | Jaroslava Vydrova | Malwina Rolka | René Dentz | Igor W. Kirsberg | Izak Hudnik Zajec | Primož Turk | Adriano Fabris Phainomena 31 | 122-123 | November 2022 Cathrin Nielsen - Hans Rainer Sepp - Dean Komel (Hrsg. | Eds. I Dirs.) Eugen Fink Annäherungen | Approaches | Rapprochements Cathrin Nielsen | Hans Rainer Sepp | Alexander Schnell | Giovanni Jan Giubilato | Lutz Niemann | Karel Novotny | Artur R. Boelderl | Jakub Capek | Marcia Sa Cavalcante Schuback | Dominique F. Epple | Anna Luiza Coli | Annika Schlitte | Istvan Fazakas D NR INSTITUTE NOVA REVIJA FOR THE HUMANITIES 0 phainomena PHENOMENOLOGICAL SOCIF^ OF LJUBLJANA 977131833620412829