MUZIKOLOŠKI ZBORNIK — MUSICOLOGICAL ANNUAL XVI, LJUBLJANA 1980 UDK 784.5 Mahler BEMERKUNGEN ZU GUSTAV MAHLERS KINDERTOTENLIEDERN — DARGESTELLT AM BEISPIEL DES ZWEITEN Volker K a 1 i s c h (Adliswil) Angesichts der zahlreichen Mahlerliteratur scheint es eher fragwürdig, dieser einen weiteren Aufsatz hinzuzufügen. Glaubt man doch, alle Problemfelder Mahlerschen Schaffens erfaßt zu haben und durch weitere Veröffentlichungen schon Gesagtes lediglich zu wiederholgen oder sich in Banalitäten zu ergehen. Allein ein Blick in die veröffentlichte Mahler-Literatur (siehe das umfassende Verzeichnis der Von-denhoffs) läßt den Interessierten darüber erstaunen, wie widersprüchlich und teilweise unvollständig die Aneignung des Mahlerschen Ouevres in dessen Rezeptionsgeschichte vonstatten gegangen ist. Die Kindertotenlieder Bind ein solches Beispiel.1 Merkwürdig um so mehr, als es genügend Autoren gibt, die sich darum bemühen, die Bedeutung der Kindertotenlieder zwar zu unterstreichen,2 aber den Beweis dafür schuldig bleiben. Hinzu kommt, daß der Zeitgeschmack eher unverständig auf Mahlers Wahl der Rückertschen Lyrik reagiert, zumal Mahler als außerordentlich literaturbelesen eingeschätzt wird, Rückert aber sicherlich heute nicht unter den »ganz Großen« rangiert.3 Der Verweis auf »größte Kontrolle durch den kompositorischen Verstand«4 vermag den angedeuteten Verdacht, Mahler wollte sich vielleicht in dem bedeutungsvollen Jahr 1901 (schwere Krankheit, Uraufführung von »Das klagende Lied« und der »Vierten Symphonie«, Rücktritt von der Leitung der Philharmonischen Abonnementskonzerte, Begegnung mit Alma Schindler, Beginn der Komposition der »Fünf Rückert-Lieder«, »Fünften Symphonie« und »Kindertotenlieder«; ge^ * An dieser Stelle möchte ich Herrn Prof. Dr. U. Siegele, Herrn Prof. Dr. W. Dürr, Herrn J. Beurle (alle Tübingen), sowie Herrn R. Hopkins für Ihre konstruktive Kritik und freundlichen Anregungen zum Aufsatz danken. 1 Siehe Vondenhoff, S. 432/33. 2 Vergleiche hierzu Redlich B., Spalte 1496, Barford, S. 18 u. a. 3 Siehe Adorno C, S. 127. 4 Siehe Klemm A., S. VI. 31 nauen Daten siehe Schreiber S. 166) lieber lyrischen Gefühlswallungen hingeben, kaum zu relativieren. Selbst die äußeren Daten der Entstehung der Kindertotenlieder sind in der Mahler-Literatur umstritten: sieher ist, daß Mahler Gedichte Rückerts zehnmal in zwei Zyklen vertont hat und dies über einen längeren Zeitraum hinweg. Die Entstehungszeit 1901 bis 1904 mutet allerdings eher wie eine Konvention unter Mahlerforschern an und bedarf immernoch einer schlagenden philologischen Klärung.4a Nur die Anekdotensammler und unverbesserlichen Mahlerverklärer wissen die »wahre« Bedeutung der Lieder einzuschätzen, indem sie sich auf die berühmte »Schicksals-Vorwegnahme-Stelle« in Alma Mahlers Memoiren5 berufen und somit ihren Teil zur Mystifizierung beitragen. Am 29. Januar 1905 fand in einem Konzert des Vereins schaffender Tonkünstler in Wien die Uraufführung unter anderem der Kindertotenlieder mit Friedrich Widemann, Bariton, statt. Eine der wenigen Aufführungen, in denen der Komponist nacht den Quellen zu •schließen von dem Publikum und Kollegen akzeptiert und gefeiert wurde.6 I. Friedrich Rückerts »Kindertotenlieder« 1. Die literarische Quelle Wer versucht, die literarische Quelle für Mahlers Kindertotenlieder ausfindig zu machen, stößt zunächst auf den widrigen Umstand, daß die unter dem schlichten Titel »Kindertotenlieder« erschienene Gedichtsammlung nicht in der Gesamtausgabe der Werke Friedrich Rückerts aufgenommen ist, sondern nachträglich und separat 1872 als einzelnes Bändchen veröffentlicht wurde. Fragt man nach der Entstehungsgeschichte der »Lieder«, so stößt man auf die traurigen Ereignisse von 1833/34 in Rückerts Familienleben. Am 31. 12. 1833 starb nämlich zunächst die 3-jährige Tochter Luise, wenige Tage später von ihrem etwas älteren Bruder Ernst (4 Jahre) gefolgt, offenbar an Scharlach.7 Entgegen der im Vorwort der Ausgabe publizierten Ansicht, daß die Gedichte »vom Ende des Jahres 1833 bis in den Anfang des Sommers — Mai und Juni — 1834 während der Ereignisse, die sie erzeugten, entstanden« und niedergeschrieben wurden, weist die neuere Rückertforschung plausibel nach, daß als wahrscheinlicher Entstehungszeitraum für die Gedichte eine weitaus längere Zeitspanne anzunehmen ist.8 4a Vili, S. 108. 5 Siehe A. Mahler, S. 70. 6 Vergleiche A. Mahler, S. 81 und Blaukopf, S. 236. 7 Siehe Vorwort, S. IV, abweichende Angabe bei Prang, S. 153. 8 Prang, S. 153. 32 2. Der Lied-Text Von den insgesamt 428 veröffentlichten Gedichten wählte Mahler bekanntlich fünf aus: es handelt sich dabei um die Nummern 47, 56, 69, 83, 115 der Erstausgabe, die er in der Reihenfolge 115 = 1, 69 = 2, 56 = 3, 47 = 4, 85 = 5 komponierte. Beim Vergleich der originalen mit den komponierten Texten Mahlers fallen folgende Veränderung auf (Lesart entspricht der eines kritischen Berichts, ausgegangen wird vom vertonten Text): I. Nun will die Sonn' so hell aufgehn! 1. Vers, 4. Wort: 3. Vers, 5. Wort: 5. Vers, Umstellung: 6. Vers, 4. Wort: 7. Vers, 1. Wort: 8. Vers, 4. Wort: »Sonne« statt »Sonn'« »auch« statt »nur« »Du mußt die Nacht nicht...« statt »Du mußt nicht die Nacht...« »ewige« statt »ew'ge« »Lämpchen« statt »Lämplein« »Freudenlichte« statt »Freudenlicht« II. Nun seh' ich wohl, warum so dunkle Flammen 1. Strophe, 3. Vers: nach 4. Wort »voll« hinzugefügt 3. Strophe, 2. Vers: 5. Wort »immer« fällt weg 4. Strophe, 1. Vers: »Sieh recht uns an!« abgewandert in 4. Strophe, 2. Vers: »Sieh uns nur an,« »noch« statt »nur«. III. Wenn dein Mütterlein Die Neuordnung des Textes besteht darin, daß das 2. Lied 1. Strophe vorangestellt wird, gefolgt vom 1. Lied 1. Strophe, wobei 1. Strophe, 1. + 2. Vers gegen den Anfang des 2. Lieds 1. Strophe ausgetauscht wird. Die 2. Strophe des 1. Lieds fällt ganz weg, an dessen Stelle steht die Schlußstrophe des 2. Lieds mit kleinen Abänderungen: »O du, der Vaterzelle« heißt jetzt »O du, des Vaters Zelle« zum Anfang der Verszeile wird noch ein zusätzliches »ach« eingeschoben. 4. Strophe, 1. Vers: 4. Strophe, 2. Vers: IV. Oft denk' ich, sie sind nur ausgegangen! 2. Strophe, 2. Vers: 2. Strophe, 4. Vers: 3. Strophe, 2. Vers: 3. Strophe, 4. Vers: V, in diesem Wetter 1. Strophe, 3. Vers: 1. Strophe, 4. Vers: 5. Wort: »Haus« statt »Hause« nach 2. Wort »nur« eingefügt 4. Wort: »hier« statt »wieder« nach 6. Wort zusätzlich »auf jenen Höhn!« 4. + 5. Wort vertauscht 3. + 4. Wort vertauscht 33 Nach der 3. Strophe folgt nochmals die 1. Strophe, dabei steht in dem 1. Vers, 6. Wort: »Braus« statt »Graus« 4. Strophe, 1. Vers nach 3. Wort zusätzlich »in diesem Saus« eingefügt Nach 4. Ver& wird nochmals der 2. Vers wiederholt. Da sich nicht nachweisen läßt, daß Mahler eine andere Ausgabe der Kindertotenlieder vorliegen hatte, sind die Textveränderungen, wenn auch im geringen Umfang,9 wohl von seiner eigenen Hand. Diese Feststellung ist insofern wichtig, da sie als Indiz für die These gewertet werden kann, Mahler behandle seine zu vertonenden Lied-texte gleich wie zu komponierendes Material.10 3. Textanalyse des zweiten Kindertotenliedes. Der äußeren Form nach handelt es sich um ein Sonett11 mit dem Schema (Daten in der Reihenfolge: Endreim, Silbenzahl, Versrhythmus): a (11) e é e é eé e ée ée b (11) e ée é e ée éeée b (12) é ée ée e é e ée ée a (11) e ée ée ée é eée a (11) e é e é e ée é eée b (11) eée é eéeé eée b (11) e é e é eé e ée ée a (11) eé e ée ée ée ée e (11) e ée é e ée ée ée d (9) e ée é e ée ée e (11) e é e é e ée éeée d (11) eéeéeéeéée e (11) e é e ée é e ée ée d (11) e ée ée é e é e ée Interessanterweise ergeben sich die Unregelmäßigkeiten des ansonsten schematisch gebauten Sonetts lediglich durch Mahlers Textänderungen und keinesfalls in der originalen Version. So stoßen jetzt in der 1. Strophe 3. Vers die 1 + 2. (O Augen!«) betonte und die 5. + 6. (»Gleichsam um«) unbetonte Silbe zusammen und erweitern das Versmaß zum 12-Silben, während in der 3. Strophe 2. Vers der formale Bau durch das Hinweglassen zweier Silben (»immer«) gestört wird. 9 Vergleiche hierzu Panier A I, S. 127. 10 Siehe Borris, S. 579 und Hansen, S. 27; hierzu auch Blaukopf, S. 125. 11 Siehe Gerlach, S. 33. 34 Betrachtet man die Sprachform des Gedichts, fällt auf, daß es, obgleich in der Ichform gehalten, erzählt, berichtet. Dieser Sachverhalt bleibt in der Mahler-Literatur nicht unerwähnt12 und wird als »epische Lyrik«13 oder »holzschnittartiger Liedtypus«14 benannt. Das Neuartige besteht nach Schreibers präziseren Formulierung im Vergleich zum früheren Liedschaffen Mahlers nun darin, daß »die Lieder Rückerts nicht das Individuelle in's Allgemein-Menschliche verallgemeinern, wie die Wunderhorn-Texte, sondern durch die Thematik von Schmerz und Unglück ,das Ich-mäßige des Fühlens', den Gegensatz zvischen dem ,einzelnen Erlebenden' und dem ,Weltlauf betonen«.15 4. Die Entscheidung Mahlers für Rückert. Dieser Punkt führt mitten in die verwirrenden Deutungen und verwegenen Spekulationen über Mahlens Entscheid, die Gedichte Rückerts zu vertonen. Zunächst jedoch soll die Pamersche These in Frage gestellt werden, daß Mahler quasi als Einziger um die Jahrhundertwende die Lyrik Rückerts für seine Liedvertonungen wählte.16 Eine 1907 von Challier veröffentlichte Studie, die sicher ihre berechtigten Bedenken auslöst, da sie keine präzisen Angaben über die vorgefundenen statistischen Bedingungen und Methoden macht, kann Pamers Behauptung entgegengehalten werden: Bewertet man lediglich diese Untersuchung17 vorsichtig als einen gewissen Zeit- (besser: Zeitgeschmacks-) Spiegel über »die Lieblingsdichter der deutschen Komponisten«, so muß festgestellt werden, daß Rückert quantitativ durchaus häufiger (und angeblich häufiger als Goethe, Eichendorff, Unland, Lenau, Schiller, Chamisso, Fréiligrath, Mörike) vertont wurde. Über den möglichen Hintergrund für Mahlers Wahl kann, wenn überhaupt, nur unter Berücksichtigung der vorzüglichen literarischen Kenntnisse Mahlers gemutmaßt werden.18 Folgende zwei Erklärungsansätze kristallisieren sich dabei heraus: a) sprachlicher Ansatz: Es besteht ein gewisser Konsensus in der Fachliteratur darüber, daß Mahler in der Lyrik Rückerts wohl deren immanente Musikalität spürte19 und von dem »Artifiziellen im Gewand des Naiven angespro- 12 Siehe Klemm A, S. V. 13 Adorno A, S. 105. 14 Borris, S. 580. 15 Schreiber, S. 147 f., s. auch Gerlach, S. 17. 16 Siehe Pâmer A I, S. 119. 17 Challier, S. 1006. 18 S. hierzu Floras I, S. 37 ff. und Blaukopf, S, 125. i9 Vergleiche Kralik, S. 48 und Gerlach, S. 12. 35 chen« wurde.20 Dabei hält die These Mayers vom »Nebeneinander von Text und Musik« und der Vorwurf, zweitklassige Literatur zu benützen, um diese besser »mißbrauchen« zu können, der Realität der Kompositionen nicht stand.21 Wie weit allerdings der »Materialcharakter« der Texte in der Diskussion mitgedacht werden muß, zeigt sich in der Überzeugung Mahlers, daß »die Musik die Poesie weit hinter sich läßt; sie kann alles sagen. In einer Modulation, einer Ausweichung drückt sich allen verständlich das aus, was die anderen Künste beschreiben und umschreiben müssen«.22 b) psychologischer Ansatz: Bei allen Bekenntnissen, Ansichten oder Meinungen Mahlers, ist es unerläßlich, sie im Zusammenhang mit seinen persönlichen Lebensumständen, den jeweils gegenwärtigen oder vergangenen, zu interpretieren. Es versteht sich dabei von selbst, daß sich hier der Niederschlag von Lebenserfahrungen in seinen Werken nicht zwingend zeigen läßt, es wäre aber andererseits töricht, jegliche Beziehung zwischen den Faktizitäten leugnen zu wollen. Allein die Daten über den Tod der Geschwister23 und der Eltern24 machen verständlich, wie das beinahe jährliche Erleben des Todes eines unmittelbaren Verwandten, der Psyche des jungen Mahler Zeit seines Lebens eine existentielle Problematik aufzwang.25 Alma Mahler weiß auch aus der kurzen Zeit der Ehe immer wieder traumatisch besetzte Träume und Erlebnisse Mahlers wiederzugeben. Man denke hierbei beispielsweise auch an den intensiven Versuch, den Tod des Bruders Ernst zu verarbeiten26 oder an die von Mahler erzählte gespenstische Vision im Zusammenhang mit seiner Schwester Justine.27 Diese Schlüsselerlebnisse ließen sich mit den tiefen Eindrücken und Gefühlen bei Leopoldines Tod und Ottos Selbstmord fortsetzen. Die auf keinen Fall zu überstrapazierenden und interpretierenden Belege sollen vorsichtig für die These herangezogen werden, daß diese Lieder »Erfahrungen aus der Kindheit verarbeiten. In der Psychologie weiß man, daß vertraute Namen, denen man irgendwann und irgendwo begegnet, Erinnerungen an Kindheitserlebnisse auslö- 20 Gerlach, S. 18. 21 Siehe Mayer, S. 151, hierauf die Antwort Adornos C. 22 Nach Floros I, S. 196. 23 Auflistung bei Blaukopf, S. 21. 24 Siehe Schreiber, S. 16. 25 Hierzu Kennedy, S. 6. 26 Bei A. Mahler, S. 7. 27 Ebenfalls bei A. Mahler, S. 9. 36 sen können. Mahlers um ein Jahr jüngerer Bruder, den er sehr liebte und der mit dreizehn Jahren starb, hieß — wie Rückerts Sohn — Ernst«.28 Daß die Qualität dieser Erlebnisse in Form der Erinnerung bei Mahler nicht zu unterschätzen sind, belegen auch zahlreiche Briefstellen — herausgegriffenssei als Beispiel der Brief an Max Marschalk vom 17. 12. 1895: »Der Parallelismus zwischen Leben und Musik geht vielleicht tiefer und weiter, als man jetzt noch zu verfolgen imstande ist«.29 5. Der Unterschied zu Rückert. Abschließend isei zu diesem Kapitel auf eine gewichtige und notwendige Differenzierung hingewiesen, die die Motivation Rückerts, die Gedichte zu schreiben, fundamental von der Mahlers unterscheidet, diese zu komponieren. Wie die betreffenden Stellen aus der Rückertliteratur eindeutig belegen, sind die Gedichte Rückerts unter dem unmittelbaren Eindruck des Todes beider Kinder entstanden. Mahler hingegen stand 1901 auf der Höhe seiner »Laufbahn« und für ihn bedeutete wahrscheinlich die Komposition der Lieder, wie oben ausgeführt, eine Kindheitsbewältigung. Es scheint daher notwendig, nachdrücklich ein Zitat, durch Guido Adler überliefert, zur Verdeutlichung heranzuziehen: »Ich (Mahler, Anm. d. Verf.) habe mich in die Lage versetzt, mir wäre ein Kind gestorben; als ich dann wirklich eine Tochter verloren hatte (Maria am 5. 7. 1907, Anm. d. Verf.), hätte ich die Lieder nicht mehr schreiben können.«30 II. Detailanalysen Anhand der folgenden analytischen Untersuchungen sollten verschiedene Aspekte am Beispiel des zweiten Kindertotenliedes »Nun seh' ich wohl, warum so dunkle Flammen« stellvertretend für die gesamten Kindertotenlieder gezeigt werden. Den Analysen selbst lag sowohl der Klavierauszug als auch die Orchesterpartitur (mit + gekennzeichnet) zugrunde. 1. Harmonik31 Zunächst sei einmal versucht, lediglich das harmonische Geschehen im Lied funktional zu beschreiben: 28 Klemm B S. III, bei Vili S. 110. 29 Nach Floros I, S. 137, sowie das ganze IV. Kapitel: Ästhetik, 2. Kunst und Leben S. 136 ff. und auch Kennedy, S. 159. 30 Nach Pamer A, I, S. 127. 31 An dieser Stelle sei Herrn J. Beurle, Tübingen, herzlich für seine Geduld bei der Überwachung und Kontrolle dieser Analyse gedankt. 37 •T«k4 : LU 4S 1 <* 1-------. rf if t -* t ^ H -f* «fo > 9 n k Ai A% jf» LU 4« *4 U XI 4%, as: «24 J* > { ** As. C Jb fc L------->^ °i i» Tj o4) N (yj L&J 4»v^ut*U*J% Aww Ü?5 ^ Wj? (^^ ^ 3 3 Akb*(. FwuL^o^ i b€vnCrk<"4^e«: H Vi 3»' --------> {IU *0 LJ 5;U Mît |ewfcli'ôt- Tôu«(i7«4 a * Dabei tritt sehr schnell die Schwierigkeit auf, jeden Akkord irgendwie sinnvoll in einen Zusammenhang zu bringen (siehe Takte 26—28, 36—40 oder 56—61). Vielmehr wird die traditionelle Dur-Molltonale Begrifflichkeit an manchen Stellen zugunsten einer klanggeregelten, linearen Verknüpfung von Akkorden aufgegeben.32 Daß dies offensichtlich ein zentrales Verfahren Mahlers ist, läßt sich auch an anderen, harmonisch nicht so exponierten Stellen zeigen, wobei mit 32 Vergleiche Adorno A/S. 213. 38 chromatischer Weiterführung (Alteration) der als leittönig aufzufassenden Noten, in zeitlich voneinander unterschiedlicher Sukzession, verbunden mit einer Retardierung und somit Verstärkung der Klangwirkung, komponiert wird. Eine weitere harmonische Eigenheit Mahlers besteht in einer Verschleierung von Akkorden im funktionalen Zusammenhang: In den ohnehin wenig eindeutigen Takten 48—52 erklingen beispielsweise in Takt 49 g-Moll und Es-Dur gleichzeitig, in Takt 50 mehr »harmoniefremde« denn »harmonieeigene« Töne. Erst wenn man versucht, den »großen« harmonischen Bogen dieser Stelle zu sehen, ergeben sich, quasi deduktiv, die zu erwartenden Harmonien. Wohl sehr bewußt setzt Mahler diese Möglichkeit auch zur Leitung von Hörerwartungen ein, denn in der Signifikanz kaum zu überbieten, wird der c-Moll-Schluß des Liedes von dem einleitenden Quartsextakkord in Takt 66 nach all den zwischengeschalteten Akkorden schwerlich als befriedigender, auflösender Abschluß empfunden.33 Als harmonisch stabilisierende Elemente dagegen finden »Orgelpunkte« und die Auskompo-nierung des Quintenzirkels Anwendung. 2. Themen-Motive Die Einleitung (Takt 1—4) exponiert das Hauptmotiv,3^ eine komponierte harmonische Ellipse (ausführlich und meines Wissens zum ersten Mal bei Gerlach aus Seite 34 beschrieben) in sich bergend, zusammengesetzt aus zwei Teilen: die »ursprüngliche« Vorhaltsdissonanz Takt 1 + 2 und deren Wiederholung im Quintabstand Takt 3 + 4, zusammen den Intervallraum einer Oktav durchmessend. Dieses zentrale Motiv laßt sich permanent und maßgeblich im ganzen Lied und zwar in zweierlei Hinsicht nachweisen: S3 Siehe Pâmer A II, S. 117. 39 a) rein quantitativ in originaler oder leicht abgewandelter Form (Takt 1—4, Takt 10—14, Takt 17—21, Takt 28—29 (30), Takt 35—40, Takt 44—47, Takt 67—74) oder b) in davon abgeleiteten anderen Motiven bzw. thematischen Linien: die thematische »Keimzelle« sei durch die durchschrittene Quart, die stufenweise Zielgerichtetheit und in zusammengesetzter Form im Erreichen des Ausgangstons charakterisiert. Somit ist also alles, was thematisch-motivisch in diesem Lied geschieht, aufeinander beziehbar und aus diesen vier Aufangstakten ableitbar.34 Anbetracht dieser Tatsache scheint es gewaltsam, das Liedganze in einzelne Motive oder Themen aufzusplittern, wenn sie substantiell zusammengehören und in einem gewissen Sinne auf die »unendliche Melodie« abzielen; — das scheinbar Neue ergibt sich aus der Anwendung einer Variantentechnik unter völliger Gleichberechtigung35 von Singstimme und Begleitung. Von besonderem Interesse sind die Takte 26—28, wo die Singstimme von einem Zitat aus dem ersten Kindertotenlied (Takt 48 + 49) kontrapunktiert wird. 3. Melodische Qualität Versucht man den verschiedenen melodischen Linien des Liedes (in welcher Stimme auch immer!) zu folgen, so läßt sich erkennen, 33a Welches zurecht von Vili mit dem »Sehnsuchtsmotiv« aus Wagners »Tristan« verglichen wird; S. 114. 34 Erklärungsansatz bei Pamer A II, S. 121, auch Adorno A, S. 142/143. 35 Hierzu Adorno B, S. 36 u. Fischer, S. 64. 40 daß die Diatonik eine hervorragende Rolle einnimt und sehr selten aufgegeben wird (auch bei Alterationen).36 Die Phrasenbildung besitzt bei melodischen Floskeln immer die Tendenz, in große, weitangelegte Bögen gefaßt zu werden;37 Sprünge oder »unsingbare« Intervalle werden in der Linienführung weitgehend vermieden. Die Bewegungsrichtung in den melodischen Linien beschreibt recht häufig einen Halbkreis und kann zum Aufangston einer Phrase zurückkehren. 4. Linearität Als Mahler mit der Komposition der Kindertotenlieder begann, fiel das in eine Zeit, in der er sich detailliert mit Bachscher Kontrapunktik auseinandersetzte.38 So sicher es nun ist, daß dieses Lied nicht durch Bachsche Kompositionstechniken reguliert wird,30 so offensichtlich läßt sich zeigen, welche Bedeutung die Selbständigkeit der Linienführung bei Mahler besitzt. Wie schon bei den Erörterungen in den Abschnitten »Harmonik« und »melodische Qualität angedeutet, wird das auch in den Takten 11—14 zwischen Ober- und Unterstimme im Klavier, 15—19 zwischen Sing- und Oberstimme des Klaviers, 33—36 zwischen Sing- und Oberstimme des Klaviers mit Stimmkreuzung, 53 zwischen Mittel- und Unterstimme im Klavier, 61—67 zwischen Sing- und Oberstimme des Klaviers und andere Stellen besonders deutlich. Zwar folgen diese Linien nicht unbedingt den traditionellen Konsonanz-Dissonanz-Regeln eines zweistimmigen Kontrapunkts, erfüllen hingegen weitgehend die Forderungen von Stimmführungsregeln unter Erhalt von größtmöglicher Unabhängigkeit und den damit eingebauten Konflikten40 (Harmonik, Stimmkreuzung usw.). 5. Rhythmik — Metrik An der Zähleinheit von Viertelwerten hält Mahler auch bei Änderung des Taktes (Takt 37 3/2-Takt, Takt 69 2/4-Takt) fest.41 Der kleinste vorkommende Notenwert findet sich als Sechzehntel-Quintole in Takt 29 auf Zählzeit 1. Bezeichnenderweise deklamiert die Singstimme hauptsächlich syllabisch (Ausnahmen: Takt 35, 63 + 64, 66) in Vierteln und Achteln, seltener in punktierten Werten. Im Interesse der Anlage weiter melodischer Linien handelt es sich um eine großenteils recht einfache rhythmische Struktur. Pausen scheinen hingegen an Wichtigkeit zu gewinnen und fungieren als Interpunktionen oder Gliederungselemente des Textes und 36 S. Pamer B, S. 953, auch Borris, S. 586. 37 Hierzu Pamer A I, S. 135. 38 S. Schreiber, S. 146. 39 S. Pamer B, S. 953. 40 Vgl. hierzu Zillig, S. 118/119, Mersmann, S. 94 u. Kennedy, S. 80. 41 S. Pamer A II, S. 109/110. 41 gleichzeitig als Auflichtung der musikalischen Faktur.42 Verbale rhythmische Anweisungen greifen in die Zeitgestaltung ein: das Grundtempo »Ruhig, nicht schleppend« wird nach einem kurzen Ritardando (Takt 28) in ein »Etwas bewegter« (Takt 30—37) umgewandelt. Ein wiederum anschließendes Ritardando (Takt 39 + 40) leitet zurück zum »Tempo I« (Takt 41 ff.). Dieselbe Tempoänderung ist nochmals von Takt 60/61 (»Ritardando«) zu Takt 62—70 (»Etwas bewegter«) gefordert, wobei das Stück mit einem Ritardando (Takt 71 ff.) schließt — alles Tempo- und Agogik-Vorschriften, die einen weiten Raum zur Interpretation offenlassen. 6. Dynamik Differenziert und sorgfältig handhabt Mahler ebenfalls die Dynamik in diesem Lied. Obwohl die Komposition vorherrschend im p bzw. pp gehalten ist,43 sorgen ausgiebig verwendete- und Crescendi-Zeichen, Akzente, sf dafür, daß keineswegs ein monotones Klangbild entsteht. Für Höhepunkte wie in Takt 41 oder 66 in der Singstimme wird ausdrücklich pp gefordert, mf, geschweige denn f, kommen nicht vor. Diese äußerst kontrolliert gebrauchte Dynamik spiegelt ein sehr gebändigtes Fühlen, deshalb nicht weniger intensiv, eindringlich auf jeden Fall44 — aufdringlich niemals. 7. Form Das Suchen nach einer eindeutigen Form verläuft im vorliegenden Lied wohl ergebnislos; zwar lassen sich durchaus ganz bestimmte formale Abschnitte erkennen, doch werden diese nur verständlich, wenn man sie auf dem Hintergrund einer »durchkomponierten Form« betrachtet als organisierter Zeitverlauf.45 Zwei Ansätze zur Formanalyse sollen durchgeführt werden: a) mit dem Mittel der thematisch-motivischen Analyse: Formteil A (Takt 1—45) Formteil A' (Takt 46—74) Vorspiel — Liedabschnitt mit Liedabschnitt — Nachspiel (Takt 1—4) variiertem Material (Takt 46—66) (Takt 67—74) aus dem Vorspiel (Takt 5—45) b) vom Gedicht ausgehend: Der Versuch, Analogien zwischen der Form des Gedichts und des komponierten Liedes zu verfolgen (1. Strophe Takt 5—19), 2. Strophe Takt 21—36, 3. Strophe Takt 38—51, 4. Strophe Takt 54—67) ergibt, daß den Strophen des Gedichts, obwohl 4- und 3-Verszeiler, etwa jeweils die gleiche Anzahl Takte Musik zugeordnet ist (Strophenform). 42 Hierzu Pâmer A II, S. 108. 43 S. Redlich A, S. III. 44 S. Bekker, S. 30. 45 Hierzu Forehert, S. 98. 42 Gerlach erklärt das wie folgt: »Das Gedicht für das zweite der Kinder-totenlieder Mahlers war ein Sonett. Um es als Lied erklingen lassen zu können, ist Mahler genötigt, in die kürzeren Strophen Zeilen zu interpolieren, denn nur so erhält er rechte Proportionen, Strophen einander entsprechenden Umfang®. Die interpolierten Zeilen erklingen ohne Sprache als instrumentale Melodie.«46 Die Überlappung der Formen bzw. Formteile, die sich aus der Zusammenschau der Analysen a) + b) ergeben, kann mit Pamers Worten beschrieben werden: »Auch dort, wo die Strophenform noch in späteren Liedern deutlich erkennbar ist, ist durch innere Kontinuität — meistens durch eine stark in den Vordergrund tretende, straff zusammenhaltende Begleitung, sowie auch die symphonisch angelegte motivische Arbeit in der Melodik und thematische Ausarbeitung in Zwischenspielen (beachte die Verwendung des Einleitungsmotivs, Anm. d. Verf.) — ein Hinausgehen über den Rahmen der Liedkomposition seiner Zeitgenossen zu konstatieren« — Form gilt nicht mehr als vorausgegeben, sondern wird zur kompositorischen Aufgabe.47 8. Klavierauszug — Orchesterpartitur+ Was das Verhältnis Klavierauszug — ursprüngliche Orchesterfassung anbelangt, so kann man festhalten, daß Mahler sich durchaus Änderungen für Klaviersatz vorbehielt, wenn sie auch im einzelnen nicht gravierend sind. Durch Singstimmenverdopplung (Takt 8/9, Takt 48—51) oder des geraden Gegenteils (Takt 43—45, Takt 61/62), durch das Wegfallen eines imitatorischen Einsatzes (Takt 49—51), einer Pause in der Singstimme (Takt 49), durch die Umdeutung einer Note (Takt 45) Singstimme b' statt ais') oder Veränderung einer Begleitfigur (Takt 72 im Baß des Klaviers verglichen mit der Harfe der Orchesterpartitur) und vor allem durch die abgeänderte Phrasierung im Klaviersatz und Reduktion einer sehr auskomponierten Dynamik der Partitur, in der es auch forte gibt (z. B.: Takt 34), erhält der Klavierauszug von Mahlers Hand gegenüber der autographen Partitur einen eigenen Stellenwert.48 9. Instrumentation+ Ein erster Blick in die Partitur informiert darüber, welche Instrumente Mahler für das zweite Kindertotenlied verwendet, es sind: 2 Flöten, Oboe, 2 Klarinetten (in A), 2 Fagotte, Horn (in F), Pauke (in B), Harfe, Singstimme und mehrfach besetzte Streicher — also eine ausgesprochen kammermusikalische.49 46 S. bei Gerlach, S. 33. 47 Bei Pamer B, S. 953, vgl. mit Mersmann, S. 92, Adorno A, S. 71, Adorno A, S. 91/92. 48 Hierzu Klemm B, S. IV, aber auch Adorno A, S. 107. 49 S. Pamer A II, S. 113. 43 Besetzung im Vergleich zu den Orchesterwerken Mahlers jener Zeit. Was die Singstimme anbelangt, so ist überliefert, daß Mahler ausdrücklich die Aufführung durch eine Männerstimme vorsah.50 Im 1. Abschnitt des Liedes (Takt 1—14) dominiert, abgesehen vom instrumentalen Vorspiel (Takt 1—4), die Singstimme, welche hauptsächlich von den Bläsern (durchschnittlich mittlere Lage) mit Liegeklängen und bei dem Ausruf »O Augen!« von den Streichern (führende Violoncelli) abgelöst, gestützt wird. In den darauffolgenden Takten 15—21 wird das vorhergehende Klangbild noch stärker reduziert und ganz auf die Selbständigkeit melodischer Floskeln in verschiedenen Instrumenten gestellt Danach (Takt 22—28) wechselt das Klangregister der tiefen Streicher in die Holzbläser (ab Takt 26), um dann durch alle Streicher vorbereitet (Takt 29/30) in ein Tutti aller Streich- und Blasinstrumente (Takt 31—35) zu münden. Ab Takt 33 wird der volle Orchesterklang (aber dennoch p) wieder abgebaut und kehrt mit den führenden Violoncelli zu einem auf Durchhörbarkeit angelegten Streicherhintergrund zurück (Takt 35—40). Nachdem der Übergang in den Abschnitt Takt 41—48 zusätzlich mit dem in diesem Lied einmaligen Einsatz der Pauke (gedämpfter Wirbel Takt 39/40) bewerkstelligt worden ist, erhalten die Holzbläser die Ausgestaltung der Harmonien zuerteilt, die Singstimme und Harfe begleitend, wobei das Horn (Takt 44—47) das Hauptmotiv des Liedes, sonst den Streichern anvertraut, spielt. Von großer Eigenständigkeit und Wichtigkeit einzelner Instrumente zeugen die Takte 49—60, die zunehmend ab Takt 61—64 das Klangbild dichter gestalten, jedoch zu keinem Höhepunkt führen, sondern, nachdem die Bläser weggenommen werden, in Takt 67 den kargen Klang der Anfangstakte, allerdings in anderen Registern, wieder aufgreifen. Mit Takt 69/70 blendet Mahler die Streicher aus und führt die verlöschende Musik in einen Liegeklang der Holzbläser (Takt 72—74). Zusammenfassend last sich feststellen, daß die Instrumentation rein kammermusikalisch zur Verdeutlichung der Satztechnik unter Anwendung gewisser koloristischer Mittel angelegt ist.51 10. Wort — Ton Verhältnis* In diesem, die Analyse abschließenden Aspekt, ist die Möglichkeit gegeben, über die resümierende Beschreibung des Sachverhalts hinaus zu gewissen Deutungsansätzen für das Lied zu gelangen. Da aber hier nicht der Raum ist, allen diesen Beziehungen in Feinheit nachzuspüren, seien lediglich einige Beobachtungen angeführt. In der harmonischen Analyse fielen besonders die Stellen, die sich einer funktionalen Deutung entziehen (Takt 26—28/57—61) und die, 50 Hierzu Göhler, S. 361, auch Kennedy, S. 140. 51 S. bei Adorno B, S. 34 oder Bekker, S. 28 u. Panier A II, S. 121 und vor allem Mahler selbst bei Reich, S. 31. 44 die durch Auskomponierung des Quintenzirkels (Takt 29—36/61—66) außerordentlich tonartenbekräftigend wirken, auf. Nun ist im ersten Fall an diesen Stellen (Takt 26—28) vom »Nebel mich umschwammen, gewoben vom verblendenden Geschicke« und einer anschließenden Bewußtwerdung und Ernüchterung über die Sachlage die Rede (diese Interpretation läßt sich ebenfalls auf die Takte 57—61 übertragen!) und im zweiten von »Strahl« und »Sterne«, also Metaphern für das Licht, die jeweils mit einem recht positiven, emphatischen Erleben (vgl. auch Takt 41/42) verbunden sind (klare Tonalität). Aus der thematisch — motivischen Analyse folgt eine große Bedeutung für das Hauptmotiv (Takt 1—4), welches durch sein häufiges direktes oder indirektes Vorkommen, symbolisch — .signalartig52 und zusätzlich als Gliederungsmoment wirkt. Dies ließe sich anhand der Wortvertonung »O Augen!« (Takt 11) als ein »Weheruf«,53 der einen momentanen emotionalen Gefühlszustand widerspiegelt, verstehen. Das Zitat aus dem ersten Kindertotenlied mit dem Text »Du mußt nicht die Nacht in dir verschränken, mußt sie im ew'gen Licht versenken!« könnte auf eine tiefe Überzeugung von den folgenden Worten in Takt 29—35 hinweisen. Auch die Instrumentation mag für Textdeutungen fruchtbar gemacht werden, so bei der Schlüsselstelle des Liedes Takt 22—28, wenn die »Nebel« sozusagen aus den Streichern in die Bläser steigen und den Blick für die Realität freigeben. Die Gewißheit, daß der »Strahl« bereits »heimgekehrt« sei, könnte ein Pendant in dem Tutti der Streicher und Bläser Takt 31 ff. und 63 ff. finden. Die »leuchtenden« Harfengirlanden in Takt 41/42, das deutlich vernehmbare Hauptmotiv (Wehemotiv) im Horn Takt 44—47 »sprechen« ohne Worte für sich und der entmaterialisierte Schluß muß wohl als offen und vieldeutig empfunden werden. Bei diesen Andeutungen soll es bleiben, da sie keinenswegs ergeben; mögen sie dennoch zeigen, daß Mahler bei der Komponierung des Liedes keine Wortausdeutung anstrebte, sondern eher eine Synthese bzw. Übereinstimmung von Gefühlen, Inhalten, Stimmungen in Text und Musik.54 III. Versuch einer Einschätzung und Bewertung der Kindertoten-lieder. 1. Bedeutung der Lieder für das Gesamtschaffen55 Die wohl vom musikalischen Tatbestand überzeugendsten Beziehungen zu den Sinfonien sind die häufig erwähnten und festgestellten 52 Vgl. Borris, S. 582. 53 Bei Floros II, S. 215. 54 Hierzu Pâmer A II, 125 und Borris, S. 579. Auch Lustgarten, S. 272. 55 Vgl. hierzu Fischers These, S. 57. Auch Blaukopf, S. 235. 45 Liedanklänge bzw. Zitate,56 die sich in folgenden sinfonischen Sätzen aufspüren lassen: V. Sinfonie cis-Moll: — vgl. 1. Kindertotenlied, Takt 14/15, Singstimme mit 1. Satz, Takt 313—315, Flöten57 — vgl. 1. Kindertotenlied, Takt 75—77, Singstimme mit 1. Satz, Takt 17—22 nach Ziffer 14, Flöten58 — vgl. 2. Kindertotenlied, Takt 1—4, Violoncelli mit 4. Satz, Takt 2—5, Violinen59 VIII. Sinfonie Es-Dur: — vgl. 4. Kindertotenlied, Takt 15 f./36 f./36 f./59 f., Singstimme mit II. Teil, Takt 890/91, Singstimme60 — vgl. 4. Kindertotenlied, Takt 65—69, Singstimme mit II. Teil, Takt 573—577, Violinen61 IX. Sinfonie D-Dur: — vgl. 4. Kindertotenlied, 65—69, Singstimme mit 4. Satz, 21—15 Takte vor Schluß, Violinen62 aber auch (man beachte, daß diese Sinfonie 1899—1901 komponiert worden ist) IV. Sinfonie G-Dur: — vgl. 2. Kindertotenlied, Takt 48—51, Singstimme mit 3. Satz, Takt 80—8363 Sicherlich muß mit allem Nachhruck auf die Problematik, wie weit es sich hierbei um eine bewußte kompositorische Beziehung handelt, hingewiesen werden. Dagegen sollten die Einzelanalysen anregen, daß durch: — Relativierung der im Riemannschen Sinne funktionalen Zusammenhang der Akkorde. — Verfahren der Themen- und Motivgewinnung durch Variierung einer melodischen »Keimzelle«. 56 Hervorragend die Auseinandersetzung hierzu von Tibbe, S. 103 ff. 57 S. Tibbe, S. 116. 58 S. Adorno A, S. 218, Anmerkung 3; Pâmer A II, S. 127, Kennedy, S. 586. 59 S. Borris, S. 586 und Vili, S. 113. 6« S. Tibbe, S. 115. 61 S. Tibbe, S. 114. S. Panier A II, S. 127 und Vili, S. 118. 62 Kennedy, S. 150; Wörner, S. 226; Tibbe, S. 120. m S. Tibbe, S. 118. 46 — Integrierung von Zitaten: — melodische Phrasenbildung in Richtung »unendlicher Melodie«, — betonte Selbständigkeit der Linienführung. — Wechsel des Metrums, aber unter Beibehaltung der Zähleinheit; — wichtige verbale Spielanweisungen. — Differenzierung der Dynamik. — Nichtgewähren von emphatischen Höhepunkten. — Verweigerung einer eindeutigen Form, — strukturelle Instrumentation usw. mit den »Zitaten« in den Sinfonien zusammen, von der Anlage der Musik her, eine innere, nachweisbare Verwandtschaft zu seinen Sinfonien, vor allem der Sinfonien 5—9 (10), in den angewandten kompositarischen Techniken besteht.64 2. Bedeutung der Vorstellungswelt Mahlers für die Komposition der Kindertotenlieder Mahler selbst hat einmal betont, daß das Komponieren für ihn gleichkomme mit der Schaffung einer eigenen, imaginären Welt. Nun floß in diese »Welt« durch sein starkes philosophisches und religiöses Interesse sehr viel an Weltanschauung65 ein, die er sich durch Lektüre und Gespräche angeeignet hatte. Zu der in diesen Liedern zugrunde liegende Todesproblematik seinen abschließend noch einige Bemerkungen gestattet: Nachdem Mahler biographisch sehr direkt mit der Erfahrung des Todes konfrontiert worden war, weiß man zusätzlich (nach einem Bericht Bruno Walters),66 daß Mahler um 1900 (nach der Genesung von schwerer Krankheit) und in seinen letzten Lebensjahren (nach der Diagnostizierung seines Herzleidens im Jahre 1907) sich intensiv nicht nur mit dem Tod, sondern auch mit Fragen des Jenseits, auseinandersetzte. Doch ebenfalls nicht nur in Situationen unter unmittelbarem Erleben einer gesundheitlichen Belastung, sondern sein Denken kreiste anscheinend darüber hinaus • prinzipeil um diesen Fragenkomplex, so daß Floros Mahlers Anliegen geradezu als »metaphysische Agonie« bezeichnet.67 Die philosophischen Impulse für sein »Todes-Denken« entnahm und erhielt er unter anderem aus der Lektüre von Gustav Theodor Fechners Werken, Goethes Entelechielehre und aus Gesprächen mit seinem Freund Siegfried Lipiner (ausführliche Erörterung bei Floros S. 98—114). Die Kindertotenlieder erhalten somit zusätzlich eine spezifisch philosophische Dimension und beinhalten möglicherweise Mahlers 64 Hierzu Bekker, S. 33, Redlich B, Spalte 1496, Fischer, S. 64; Lustgarten, S. 272. 65 S. Floros I, S. 168. e« Nach Floros I, S. 99. 67 Bei Floros I, S. 100 und Barford, S. 15. 47 eigene Vorstellungen und Gedanken zu einer allgemein-menischlichen Frage. Benützte — Literatur: a) Noten: Mahler, Gustav Mahler, Gustav b) Bücher und Aufsätze: Adorno, Theodor W. (A) Adorno, Theodor W, (B) Adorno, Theodor W. (C) Barford, Philip Bekker, Paul Blaukopf, Kurt Borris, Siegfried Challier, Ernst Fischer, Kurt v. Floros, Constantin (I + II) Forchert, Arno Gerlach, Reinhard Göhler, Georg Hansen, Mathias Kennedy, Michael Klemm, Eberhardt (A) Klemm, Eberhardt (B) Kindertotenlieder für eine Singstimme und Orchester auf Gedichte von Friedrich Rückert (hg: Eberhardt Klemm), Taschenpartitur, Leipzig 1973 Kindertotenlieder für eine Singstimme und Orchester auf Gedichte von Friedrich Rückert (hg: Eberhardt Klemm), Klavierauszug, Leipzig 1973 Mahler — Eine musikalische Physiognomik. Frankfurt 1960 Zu einer imaginären Auswahl von Liedern Gustav Mahlers, in: Impromptus, Frankfurt 1968: 30—38 Zu einem Streitgespräch über Mahler, in: Musik und Verlag, Karl Vötterle zum 65. Geburtstag am 12. April 1968, Kassel-Basel-Paris-London-New York 1968: 123—127 Mahler Symphonies and Songs (BBC Music Guides), London 1970 Gustav Mahlers Sinfonien, Berlin 1921 Gustav Mahler oder der Zeitgenosse der Zukunft, Wien/München/Zürich 1969 Mahlers holzscnitthafter Liedstil, in: Musik und Bildung 5 (1973): 578*—587 Die Lieblingsdichter der Deutschen Komponisten, in: Musikalisches Wochenblatt/Neue Zeitschrift für Musik 1907, Heft 49: 1005—1006, 50: 1030— 1035 Bemerkungen zu Gustav Mahlers Liedern, in: Musicological Annual 13 (1977): 57—67 Gustav Mahler, Bd. I + II, Wiesbaden 1977 Zur Auflösung traditioneller Formkategorien in der Musik um 1900, in: Archiv für Musikwissenschaft 32 (1975): 85—98 Mahler, Rückert und das Ende des Liedes, in: Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musik for-schung Preußischer Kulturbesitz 1975, Berlin 1975: 7—45 Gustav Mahlers Lieder, in: Die Musik 10 (1910/ 11): 357—363 Das irdische Leben — Zum Weltbild des jungen Mahler, in: Beitrage zur Musikwissenschaft 16 (1974): 25—30 Mahler, London 1974 Vorwort zur Partiturausgabe der Kindertotenlieder, Leipzig 1973 Vorwort zum Klavierauszug der Kindertotenlieder, Leipzig 1973 48 Kralik, Heinrich Mahler, Alma Mayer, Hans Mersmann, Hans Pâmer, Fritz Egon (A I + II) Pâmer, Fritz Egon (B) Prang, Helmut Redlich, Hans Ferdinand (A) Redlich, Hans Ferdinand (B) Reich, Willi Schreiber, Wolfgang Tibbe, Monika Vondenhoff, Bruno und Eleonore Vorwort Wörner, Karl H. Zillig, Winfried Gustav Mahler, Wien 1968; Lustgarten, Egon, Mahlers lyrisches Schaffen, in: Musikblätter des Anbruch 2 (1920) Gustav Mahler — Memories & Letters (hg: Donald Mitchell), London 1973 Musik und Literatur, in: Gustav Mahler, Tübingen 1966: 142—156 Die Moderne Musik seit der Romantik, Wildpark-Potsdam, o. J. Gustav Mahlers Lieder, in: Studien zur Musikwissenschaft Bd. 16 (1929): 116—138, 17 (1930): 105—127 Das Deutsche Lied im 19. Jahrhundert, in: Handbuch der Musikgeschichte (hg: Guido Adler), München 1975: 939—955 Friedrich Rückert — Geist und Form der Sprache, Schweinfurt 1963 Gustav Mahler: »Kindertotenlieder«, Vorwort in der Taschenpartitur (Eulenburg), Mainz 1961 Mahler, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart Bd. 8, Kassel/Basel/London/New York 1960: Spalte 1489—1500 Gustav Mahler: Im eigenen Wort — Im Wort der Freunde, Zürich 1958 Mahler, Reinbek 1971 Über die Verwendung von Liedern und Liedelementen in instrumentalen Symphoniesätzen Gustav Mahlers, in: Berliner Musikwissenschaftliche Arbeiten Bd. 1 (hg: Carl Dahinaus/Rudolf Stephan), München 1971; Vili, Susanne, Vermittel-ungsformen verbalisierter und musikalischer Inhalte in der Musik Gustav Mahlers, Tutzing 1979 (besonders S. 108—121) Gustav Mahler Dokumentation (Sammlung Eleonore Vondenhoff), Tutzing 1978 Vorwort zur Ausgabe der Kindertotenlieder von Friedrich Rückert, Frankfurt 1872 Die Musik in der Geistesgeschichte — Studien zur Situation der Jahre um 1910, Bonn 1970 Gustav Mahler, in: Von Wagner bis Strauss — Wegbereiter der Neuen Musik, München 1966: 116—130 POVZETEK Razprava je poskus, da se z analitiènim raziskovanjem približamo pomenu, ki ga imajo »Kindertotenlieder« za celotno Mahler j evo ustvarjalnost. Izhajajoè iz preuèevanja literarne predloge in sprememb besedil, nakazuje avtor s pomoèjo zgodovine nastanka pesmi dve razlagi (jezikovno in psihološko), zakaj se je Mahler odloèil za Rückertovo poezijo. 49 Podrobne analize druge pesmi »Nun seh' ich wohl, warum so dunkle Flammen« prikažejo kot primer za druge pesmi kompozicijski postopek, ki se nanaša na harmonijo, tematiko, motiviko, melodiko, linearnost, ritmiko in metriko, dinamiko, formo, primerjanje klavirskega izvleèka in orkestralne partiture, instrumentacijo in odnos med besedo in tonom. To naj bi tudi koristilo nadaljnji obsežnejši opredelitvi pesmi v literaturi o Mahler ju. Vendar avtor ne ostane pri kompozicijskem prikazu, ampak hoèe z vkljuèitvijo Mahler j evega miselnega sveta poudariti še morebitno metafizièno vsebino pesmi. 50