PRAKTISCHE PHILOSOPHIK EIN HILFSBUCH FUR OFFENTLICHE UND PRIV ATE EBZIEHUNG. VON D R - JOHANN PAJK. WIEN. IM SELBSTVERLAGE DES VERFASSERS i III. Salesianergasse 31). Preis 3 Kr. = 3 Mark = 3 Frcs Von demselben Verfašser sind bisher folgende philo- sophische und padagogische Schriften erschienen: Principien der Newton’schen Forsehungsmethode. Briinn 1880. Grundsatze der wissenschaftlichen Forschung Briinn 1882. Ueber einige psychophysische Elemente der Padagogik. Briinn 1885. Zum Propaedeutikunterrichte. Wien 1886. Zur Theorie der menschlichen Nachahmungen. Psycho- logisohe Studie. Briinn 1887. Platon’s Metaphysik im Grundriss. Wien 1888. Zur Gymnasialreform. Wien 1890. Sallust als Ethiker. Wien 1896. Praktische Philosophie. Wien 1896. Ausserdem viele philosopbische Rocensionen, bes. in der ,Zts. f. d o. G.‘ PRAKTISCHE PHILOSOPHIE. EIN HILFSBUCH FUR OFFENTLICHE UND PRIVATE ERZIEHUNGr. VON D R JOHANN PAJK. IM SELBSTVERLAGE DES VERFASSERS. 1896 . / ' x Buehdriickerei »Re*chswehr-« G* David & A. Keiss . l; > • V orrede. Auf die philosophischen Studien wurde ich durch einen machtigen inneren Drang gefiihrt. Wer je ernstlich sein Inneres gepriift hat, wird dieselbe Erfahrung gemacht haben wie ich, dass ihn der Erkenntnistrieb iiber die schalen Formen des gewohnlichen Lebens hinausblicken lasst, um den tieferen Inhalt und Zweck des menschlichen Daseins zu erfahren. Diesem Drange nachgehend, liess ich mich im Jahre 1878 in die philosophischen Vorlesungen des Prof. Alois Riehl einschreiben und ward so sein Schiller. Einen wie tiefen Eindruck Prof. RiehFs Personlichkeit in meiner Seele zuriickliess, bevveist der Umstand, dass sein liebevolles Bild und Wort noch immer frisch und lebendig meinem Geiste vorschvvebt. Daher \vidme ich ihm hier ein Denkblatt treuer und freundschaftlicher Er- innerung. Einmal in die Philosophie eingeftihrt, fiihlte ich bald das Bediirfnis, mich darin auf die eigenen Fiisse zustellen. — In der Ethik vereinigen sich die verschiedensten Zvveige der Erkenntnis: das gesammte theoretische Wissen und der gesammte Umfang des praktischen Lebens. Aus dieser Eieenschaft der Ethik wird es erst recht begreiflich. wie Spinoza dieselbe zur Philosophie selbst erheben konnte. Wegen dieser ihrer Bedeutung iibte dieser Zweig der Philosophie stets einen grossen Reiz auf mich, indem er mich zum Nachdenken liber dessen Grundgedanken an- spornte. Denn schliesslich ist es immer nur eine einzige, scheinbar ganz unbedeutende Idee, welche selbst dem umfangreichsten wissenschaftlichen Systeme zugrunde liegt. Indem ich diesem Gedanken nachgieng und ihn zu erfassen suchte, setzten sich die ubrigen ihm verwandten Ideen um ihn an, und so entstand die Abfassung der hier vorliegenden Grundideen der praktischen Philosophie. Bei deren Abfassung gentigte es mir jedoch nicht, ineine eigenen Deductionen mitzutheilen, sondern ich \vollte dem Leser auch eine Uebersicht dessen bieten, was fiir die verschiedenen ethischen Gegenstande bereits Andere geleistet haben. Es ist sowohl fiir den Verfasser als sicherlich auch ftir den Leser angenehm, sich mit seinen Ideen in guter Gesellschaft zu wissen. Allerdings musste sich diese Umschau auf das Nothrvendigste beschranken und kurz gehalten seiti. Dass ich dabei der neueren ethischen Literatur mehr Beriicksichtigung angedeihen Hess als der alteren, wird man erklarlich finden. Zuletzt will ich nicht unerwahnt lassen, dass ich bei der Behandlung der ethischen Fragen mein besonderes Augenmerk auf deren padagogische Verwertung richtete. In letzter Linie fallt der praktischen Philosophie, wie schon ihr Name besagt, auch die Aufgabe zu, Winke fiir das offentliche und private Leben und fiir die Zwecke der Er- ziehung zu geben. Durch solche stetige Riickbeziehungen erganzen sich Padagogik und Philosophie zu einer um- fassenden Erziehungslehre. welche nicht weniger einer Anweisung liber ihre praktischen Ziele als liber ihre Me- thodik bedarf. Dem Leser aber sei diese Schrift freund- lichst empfohlen! Wien, im Mai 1896. Dr. Johann Pajk. Malfeverzeiclinis. Seite- Vorrede .. III Einleitung . .. 1 Erster Abschnitt. InductionundErklarungderBegriffe handeln, praktiscb, sittlich und praktische Philosophie. 6 Zweiter Abschnitt. Analyse des Begriffs handeln. 19 Dritter Abschnitt. Die Sittlichkeit und ihre Beziehungen 26 Vierter Abschnitt. Das in der Menschennatur enthaltene Sittengesetz .. 40 Fiinfter Abschnitt. Das in der Aussennatur enthaltene Sittliche. 55 Sechster Abschnitt. Begriff der sittlichen Pflicht und Ver- pflichtung. 77 Siebenter Abschnitt. Die praktische Sittlichkeit oder der ethische C h ar akt er . . . . .. 99 Achter Abschnitt. Topik der Tugenden und Las ter . . . . 122 Nennter Abschnitt. Wille und W i llenš fre iheit. 138 Zehnter Abschnitt. Zurechnung und Verantwortung . . 160 Elfter Abschnitt. Der sittliche Conflict. 168 Sachregister . 175 Berichtigungen Seite 5 Zeile 12 v. o. lies in Frankreicli. > 10 letzte Zeile , Dantec. > 34 Zeile 25 v. o. , in der. > 36 » 12 , , , Hartmann » 69 (Anmk.) , Spencer. > 138 Zeile 11 , , , zuriick — - ' \ Einleitung. Qnae homines arnnt navi- gnnt aedificant, virtuti omnia parent. Solin st. Cat. 2, 7 . Die Thatsachen, welche unter die Gemeinvorstellung di“s Sittlichen oder Moralischen fallen, sind durch den Glauben von Jahrhunderten, sogar Jahrtausenden als solche anerkannt. Anders steht es mit dem obersten Princip der Moral : das- selbe ist \vandelbar. und keine Zeitepoche. die uns liistorisch bekannt ist, hat mit Einhelligkeit an einem und demselben moralischen Principe festgehalten. — Woher dies ? — Aus der natiirlichen Folge alles analytischen Denkens : man kann von gegebenen Erscheinungen ausgehend zu immer hbheren Ursachen derselben aufsteigen, allein es werden selten zwei Forscher bei denselben Ursachen ebenderselben Erscheinungen stehen bleiben. Bekanntlich ist es leichter, von den Ursachen zu deren Erscheinungen, als von den Erscheinungen zu deren Ursachen zu gelangen. Doch, hat man es durch Analyse zu einer hochsten Ur- sache gebracht — am besten geschieht dies durch Zerlegung jeder einzelnen fur ethisch erklarten Erscheinung in deren psychische Elemente —, so taucht sofort ein neues Problem auf, ob denn alle fur sittlich erklarten Erscheinungen in der That nur einer Quelle entstammen. Es ist namlich mehrmals der Zweifel erhoben worden, ob sich wohi alle Formen des sittlichen Lebens, wie z. P>. die Wahrheitsliebe, das \Vohl- wollen, die Gerechtigkeit, die Keuschheit u. s. w. auf eine einzige ethische Formel zuruckfuhren lassen. Die Skept-iker verneinen es ; im vorliegenden \Verke dagegen vvurde ein unionistischer Versuch gemacht. 1 2 Einleitung. Doch weniger Berechtigung hat der ethische Pyrrhonis- mus. der alles Sittliche als in die blauen Liifte gebaut an- sieht und seine Augen vor der ungeheuren Macht desselben zu verschliessen sucht : freilich vergebens. Mit Recht zahlt der franzosische Moralist und Forscher Feuillee schon den ethischen Skepticismus unter die Uebel. Ebenso unbillig wie der absolute ethische Skepticismus ist die Forderung. dass die aufgezeigten ethischen Gesetze den Menschen mit Gewalt zum Guten ziehen sollen. Solches vermogen selbst die drakonischesten Gesetze nicht. Immer wird die Erfullung der sittlichen Pflichten von der Einsicht. und dem guten Willen der Menschen. nicht von einem ausseren Zwange abhangen. Dass sittliche Einsicht und eine gute moralische Er- ziehung gegeniiber dem Schlechten machtlos seien, ist der schadlichste Irrthum, den die sogenannten Jung-Ethiker er- sinnen konnten. Wenn einmal die Einsicht nicht hilft, dann war sie eben ein Schein und keine wirkliche und wahr- hafte Einsicht. Scheimvissen gibt es bekanntlich mehr als wahres AVissen. Gerade weil wahre Einsicht so selten ist. daher das Vorurtheil. dass die Einsicht in sittlicher Beziehung nutzlos sei. Allein. wer das lebendige Gefiihl und die sichere Deberzeugung gewonnen hat. dass das sittlich Schlechte das grosste Uebel. die Tugend aber den grossten Segen fiir die AVelt bedeutet, der kann gegen das Moralische auch unmog- lich gleichgiltig bleiben. AVissen und Einsicht streuen im sittlichen Leben. wie auf jedem Gebiete der menschlichen Thatigkeit, unzahligen Samen des Gliicks und der AVohl- fahrt aus. Freilich gehort dazu. dass der Same in nahrende Frucht aufgehe. Da jedoch die Menschen alle Arten von Šport mehr lieben als niitzliche Arbeit und eine wirklich preiswtirdige An- strengung ihrer Krafte, darum erscheint die moralische Arbeit in ihren Augen als ein unfruchtbares, wo nicht ein veracht- liches Beginnen. Die Ethik erheischt namlich nicht blos eingehende theoretische Bearbeitung. sondern auch unerschrockene prak- tische Anwendung. Nichts ist ihrem Z\vecke schadlicher, als dass man sie lediglich fiir eine descriptive AVissenschaft an- sehe. Fiir ihre Zwecke ist zu wenig gethan. wenn Theo- retiker die verschiedenen Handlungsweisen der Menschen deuten, erklaren und auf Griinde zuriickzufuhren suchen. Vielmehr ist es geboten. dass sie auf den Plan des offent- lichen Lebens hinaustreten, die Folgen des Guten und Schlechten schlagend nachweisen und die Anwendung der Einleitung. 3 gefundenen Principien nicht bloss fiir das private, sondern auch fiir das gesammte Leben energisch urgieren. Gerade das offentliche, namentlich das sociale Leben bedarf der Moral, damit es nicht ver\vildere. Die Irrlehre Schopenhauer’s, dass die Ethik rein theo- retischer Natur sei und der Praxis zu entbehren habe, ver- dient nachdriicklich bekampft zu werden. Dies sind die Beweggrtinde, welche mich bei der Ab- fassung des vorliegenden \Verkes geleitet haben. Um dieselben moglichst deutlich hervortreten zu lassen, habe ich mich absichtlich grosserer Ausfiihrlichkeit beflissen, indem ich um dieses Zweckes willen lieber nicht vor Wieder- holungen oder Umschreibungen desselben Gedankens zuriick- scheute, als dass ich dunkel und unverstandlich wiirde. Daruni bilden die einzelnen Abschnitte des Buches jeder fiir sich eine Art Ganzes. Was nun das vorliegende ethische System als solches anlangt, so diirfte vielleicht Mancher, der mit den ethischen Problemen vertraut ist, die Grundidee barock finden, gegen- wartig .- fin de siecle — das Sittliche auch in der Aussen- natur suchen zu wollen, da dieses einzig in der. Menschen- natur, wie schon der Name Ethik es besagt, liegen konne. Darauf erividere ich zunachst, dass das Sittliche nach meiner Ueberzeugung sowohl im menschlichen Wesen als auch in der Aussennatur residiert. Mir ist wohl bekannt, dass die gegenwartig vorherrschende ethische Richtung die sociolo- gische ist. derzufolge der ethische Mensch ganz im socialen Menschen aufgeht. Die sociologische Stromung ist heutigen- tags so machtig, dass ihr gegeniiber die individual-ethische ganzlich zuriicktritt. Doch frage ich: hat ein auf eine ein- same, herrenlose Insel verschlagener Schiffer, welcher ein isoliertes Leben zu fuhren gezwungen ist, noch irgendwelche ethische Vorschriften anzuerkennen und zu befolgen ? — Ich antworte darauf: wofern er auf seine Rettung und Erhaltung nicht verzichten will, wird er sowohl gegen sich selbst als auch gegep die Aussennatur Riicksichten der Pflicht und Klugheit zu beobachten haben. Ein solches Benehmen aber fallt bereits unter die Gemeinvorstellung des Sittlichen. Neben der sociologischen Ethik diirfte die nachststarkste die biologische sein, als deren bedeutendster Anwalt wohl Herbert Spencer gelten kann. Sie zieht sowohl den socialen als den individualen Menschen in Betracht und hat somit ein freieres Feld als die streng sociologische. Allein die Ur- theile iiber Spencers und Maudsley’s Richtung lauten, mindestens in Deutschland, minder giinstig. Ich berufe mich 1 * 4 Einleitung. dabei auf W. Wundt’s und Alois Riehl’s Urtheil. Selbst die scheinbar glanzende Vertretung der biologischen Richtung durch Lombroso’s imposantes Material konnte mir nicht vollen Glauben an dieselbe abgewinnen. Lombroso’s und De Ferrfis Darstellungen des Verbrechens hat iibrigens in Italien selbst hochst scharfsinnige Widerlegungen hervorgerufen. Ich erwahne nur eine der jtingsten: Bernardino Alimena’s bedeutende Schrift iiber die Zurechnung. In -wohlthuender Weise gesellt sich in Frankreich zur biologischen die psychologische und metaphysische Richtung. Besonders hervorragend sind die \Verke und Abhandlungen Feuillee’s, denen sich Detaillbrschungen von Gaston Richard und Fr. Paulhan an die Seite stellen. Jung-Amerika neigt entschieden der naturalistischen und empiristischen Richtung zu. Doch nimmt man bei der Lectiire dieser Schriften mit einigem Bedauern wahr, dass die sehr emsigen amerikanischen Ethiker nicht mit voller Energie an der begonnenen Ankniipfung an die deutschen und englischen Forschungen festhalten, sondern eigene, anderwarts iiber- wundene Wege einschlagen. In der neuesten deutschen Ethik finde ich einen Weg eingeschlagen, der sich, wie ich hoffe, neben dem psycho- logischen und sociologischen behaupten wird. Dies ist der von Paulsen betretene. Es liegt in PaulserPs Ethik ein entschieden metaphysischer Zug. Man wirft, wie ich sehe, Paulsen’s Ethik vor, sie bleibe etwas auf der Oberflache und lasse ihre Tiefen mehr errathen als sehen. Ich mochte dem noch hinzufiigen, dass ich an mehreren Stellen seines Werkes einigen Unentschiedenheiten begegne. Paulsen hat ein Juste- Milieu von Principien zugelassen und daher manches zu wenig kraftig hervorgehoben; allein Paulsen’s und A. RiehPs ethische Anschauungen haben rnich am meisten angemuthet. Noch Eines sei mir erlaubt zu bemerken : ich finde bereits bei Richard Cumberland. welcher 1672 sein Werk De legibus naturae zu Ende schrieb, und den die englischen Kritiker von heutzutage den „Vater des UtilitarismuV nennen, eine Verquickung von sociologischen und metaphysischen Principien. Indes wiegen letztere Principien ganz ent¬ schieden vor. Ich gestehe, dass mir in Cumberland’s System Vieles acceptabel erschien. Doch genug der Vorbemerkungen ; nur ein kurzes Schluss- wort sei mir noch gestattet. Meine Ansicht in Betreff der Behandlung der Ethik ist die: eine conventionelle Unterlage derselben geniigt keinesfalls. Soli die Ethik mehr sein. als eine Darstellung conventioneller Einleitung. 5 Formen des gesellschaftlichen und geselligen Lebens der Menschen, so muss sie von den rein utilitaristischen Maximen losgelost und auf Grundsatze, die aus der Naturbetrachtung zu holen sind, gestellt werden. Diese Grundsatze mtissen jedoch den Begriff des Sittlichen erschopfen, ihm daher eine universelle Bedeutung geben. Die Geschichte der antiken und auch jene der englischen Ethik, vom 16. Jahrhundert an bis herauf in unsere Zeit, zeigt uns klarer und instructiver als jede andere die immer weiter sicli verzweigenden Entwick- lungsgange, die eine rationelle, von religiosen Bedenken sich loswindende Ethik bei einem freien Volke einschlagt. Von Charron, dem Urheber der rationalistischen Moral in England, an liber Hobbes und dessen zahlreiche Gegrier, die Intellec- tualisten, Naturalisten, Metaphysiker und Empiristen herauf bis auf die Zeit SpenceFs und Stephen’s fiihrt die ethische Forschung fortwahrend iiber extreme und einseitige Pfade. Es heisst nun nicht eklektisch, sondern systematisch sein, die speciellen Wege zu einer Gesammtmethode zu verbinden. An etwas Aehnliches scheint schon J. H. Fichte gedacht zu haben, indem er das Moralische fiir etwas vielfach Zusammengesetztes und sogar Kiinstlerisches "erklarte. Die Kunst einer Losung desselben besteht nun, wenigstens meiner Meinung nach, ausser in einer genauen psychologischen Analyse der ethischen Erscheinungen in der Anwendung noch eines Mittels, welches in keiner noch so concreten \Vissenschaft entbehrt werden kann, namlich des metaphysischen Integrals. Als ein solches aber ist selbst der einfachste Begriff anzusehen, auf den die analytisch gefundenen Elemente gebracht iverden mtissen. Zum Schlusse bemerke ich noch, dass ich auf Kant’s Ansichten besondere Riicksicht nahrn. Dazu bewog mich nicht bloss die grosse Verehrung liir diesen Mann, der iiber die grossten philosophischen Probleme auf das grtindlichste nach- dachte, sondern auch das ausgezeichnete Verdienst, welches sich derselbe fiir die praktische Philosophie erworben hat. Und wenn ich auch nicht tiberall den Resultaten dieses grossen Denkers beistimmen konnte, den die Spateren nicht an Geistes- tiefe. sondern mit Hilfe der Alles iiberholenden Zeit an Wissen hinter . sich gelassen haben, so hielt ich es doch fiir eine hochst preiswiirdige Aufgabe, dieselben zu priifen und Wo nothig zu widerlegen. Kant zu verstehen und vollends zu widerlegen halte ich fiir ebenso schwierig, als fiir das Kennzeichen eines griindlichen Versuchs, in den Geist und das Studium der Philosophie einzudringen. Erster Absehnitt. Induction und Erklarung der Begriffe handeln, praktisch, sittlich und praktische Philosophie. Die grosste Schwierigkeit bietet jeder Wissenschaft die Auffindung des richtigen Ausgangspunktes, um von dem- selben aus zu einer verlasslichen Definition ihres Hauptbegriffes zu gelangen. Hat man einmal den Hauptbegriff gefunden, dann kann man durch dessen Analyse Einsicht in den gesammten Inhalt und Umfang einer Wissenschaft gewinnen. In unserm Falle handelt es sich also um den Hauptbegriff, auf dem die Wissenschaft der praktischen Philosophie begrundet \verden soli. Diesen Begriff \verden wir am besten finden, wenn wir von jenen Vorstellungen ausgehen, welche mit dem Ausdrucke liandeln verbunden sind. Handeln nun heisst, wie die Erfahrung lehrt, seine leiblichen und geistigen Krafte auf die Erreichung bestimmter Ziele richten. — Dem Handelnden schwebt irgendein bestimmtes Ziel vor, das er erreichen mochte, und um dies zu konnen, fiihrt er eine Reihe psychischer und physischer Bevvegungen und Anstrengungen aus. Die einzelnen Stationen eines solchen Bestrebens bezeichnet man mit dem \Vorte Handlungen. In Wirklichkeit ist jede Handlung ein Complex vieler Bewegungen, weiche nur durch deren einheitliches Ziel als ein einfacher Act erscheinen. Es wird sich spater Gelegenheit finden, das Handeln einer Analyse zu unterziehen. In die Sphare des Handelns nun fallt der Begriff prak¬ tisch. Zur Erkenntniss desselben werden wir am besten durch eine Betrachtung der verschiedenen Arten des Handelns gelangen. Wir finden namlich drei Formen desselben: ein Arten des Handelns. 7 durch zufallige Motive bestimmtes, ein planmassiges d. h. vollbewusstes und wohliiberlegtes, endlich ein auf ali e gleichartigen Falle berechnetes d. h. grundsatzliches Handeln. In allen drei Formen konnen zwar dieselben bestimmten Ziele und Zwecke des Handelns angestrebt \verden, doch ist die Methode der Erstrebung in allen dreien eine grundver- schiedene. Im ersten Falle bestimmt den Handelnden der Zufall, im zweiten ruhige Ueberlegung, im dritten ein fester Grundsatz, der zur zweiten Natur wird und in Gevvohnheit iibergeht. Nun aber lassen sich die Menschen bei ihren Hand- lungen zumeist durch zufallige, entvveder aussere oder von innen kommende Motive, z. B. durch die Reden und Beispiele Anderer, durch plotzliche Einfalle, durch Furcht und andere Affecte bestimmen; die Wenigsten lassen sich von Grundsatzen, z. B. von Rucksichten der Nachstenliebe. Gerechtigkeit, Ent- haltsamkeit u. s. w. leiten. — In einigen Fallen verbindet der Handelnde plotzlich ihm beifallende Motive mit ruhiger Ueber¬ legung, aber nicht. weil Ruhe und Ueberlegung bei ihm zu einem Grundsatze oder einer Gewohnheit des Handelns ge- worden sind. sondern weil er in einem bestimmten Falle aus besonders lebhaftem Interesse alle seine Gedanken und Bewe- gungen auf die Erreichung eines ihn beschaftigenden Zieles gerichtet hat ; sonst pflegt er leichtsinnig und _ unbedacht zu handeln. — Man ersieht aus den verschiedenen Methoden die Stellung des Willens gegeniiber den Motiven: bei dem zufalligen Handeln erscheint der Wille pas siv, bei dem grund- satzlichen activ und wahlend, bei sporadisch planmassigem Handeln aber ist derselbe schwankend, bald passiv, bald vvieder activ. Letzteres ist im Leben meist der Fali, da das Gemiith etwas Unbestandiges, Unregelmassiges, Unbereclien- bares, und nur in seltenen Fallen etwas Festge\vordenes, Unerschtitterliches, Consequentes, Actives darstellt. Das Psy- chische ist eben flottanter Natur. Nun wurde nichts natiirlicher scheinen, als das Prak- tische, dessen Begriff wir suchen. dem grundsatzlichen Handeln zuzuweisen, da dieses jenes Merkmal des Gesetz- massigen an sich tragt, das ja die \Vissenschaft so sehr an- strebt und sucht. Denn ein gesetzmassiges Thun und Schaffen. kurz ein gesetzmassiges Erscheinen liisst sich ara besten berechnen, fassen und begrifflich verarbeiten. In der Ethik als einer Wissenschaft, die also auf Erforschung eines Gesetzmassigen ausgeht. wiirde dieses doppelt willkommen sein. .erstlich, um begrifflich dargestellt, dann um als Muster oder Ideal des menschlichen Handelns aufgevviesen zu werden. Etwas Ideales stellt jede Wissenschaft auf, mag sie sonst die 8 Erster Abschnitt. realste sein. Wurde• es also im Ethischen bloss auf das Wie oder das Formate des menschlichen Handelns ankommen. so wiirde das grundsatzliche oder mit Kant gesagt, das gesetz- massige Handeln schon ein ideales sein, und wir hatten bereits den Begriff des Praktischen gefunden. — Allein so einfach liegt die Sache nicht. Bedenken erregt schon der Umstand, dass jene formalen Eigenschaften am Ergebnisse der That oder an der Qualitat ihres Objectes nichts andern, hochstens. dass sie einen graduellen Unterschied der Betheiligung des Srrb- jectes an derselben bestimmen. Eine \Vohlthat z. B. verliert nichts von ihrer Qu a lit at. ob sie aus einem plotzlichen, an sich edlen Impulse des Gemiiths, oder aus einer plan- massig eingeleiteten Wohlthatigkeitsaction, oder aus einem Grundsatze, etwa dem der Humanitat hervorgeht, mag man auch die stationare oder grundsatzliche Gesinnung des Wohl- thuns hoher schatzen als den unerwartet und ohne vieles Nachdenken ausgeflihrten Antrieb zu einem wohlthatigenWerke. Das mag fraglich sein. Ebenso bleibt der Todtschlag eine un- lobliche, verruchte That, ob er nun. aus Jahzorn, oder aus kalt iiberlegender feindseliger Gesinnung, oder aus grund- satzlicher Mordgier hervorgegangen ist. Nur an dem Grade seiner Scheusslichkeit wird man etwas zu bourtheilen haben. sei es, dass man ihn heftiger tadelt, sei es, dass man ihn zu mildern fiir gut flndet; allein kein Mensch, der sittliches Urtheil besitzt, wird das Wohlthun und den Todtschlag in eine Kate- gorie von Handlungen stellen, weil beide formal in gleicher Weise, etwa aus Deberlegung, ausgefuhrt wurden. Der Grund dieses verschiedenen Urtheils liegt also nicht blos im Formalen der That. sondern vielmehr in deren 0 b j e c t e und deren Folgen, dann in der Gesinnung und in den Motiven des Handelns, endlich in den Mitteln d. h. Zwischen- actionen, welche zur Erreichung des Zieles — Objectes — ftihren. Das sind die fiinf wichtigsten Seiten einer Hand- lung, welche bei der Wer tb e s ti m mu n g des Praktischen in Betracht kommen. In den obgenannten Eigenschaften des Handelns ist nun der Begriff des Praktischen zu suchen. Dieses mtissen wir mit dem Inhalte und der Qualitat einer That in Ver- bindung setzen. Der Inhalt einer That oder dessen Qualitat fallt unter den Begriff des S i 111 i c h e n oder M o r a 1 i s c h e n. l ! nd so gelangen wir vom Begriffe des Praktischen d. i. des Handelns zum Begriffe des Sittlichen, welches wir naher zu bestimmen haben. Die Anforderungen, welche man an die Beschaffenheit einer That und ihrer Folgen. an die Gesinnung der handelnden Das Praktische ein Sittliches. 9 Person und an die Qualitat der Zwecke und Mittel des Handelns stellt, betreffen ein ubereinstimmendes, gemein- sarnes Merkmal der genannten Acte und Eigenschaften, nam- lich dass sie an sich loblich. in jeder Beziehung wertvoll und stets an.strebenswert seien. Alle diese Eigenschaften kann man mit dem einen Worte sittlich gut bezeichnen. Sind jene Eigenschaften das. dann werden sie nach einer allgemein - menschlichen Vorstellung fur sittlich oder moralisch erklart. So fasst namlich eine althergebrachte Vorstellung die Bedeutung des Sittlichen auf, an die wir an- kniipfen miissen. 1 ) Nun muss das Sittliche. um ein so Wert- volles zu sein. der Anforderung entsprechen, dass es im S ein der Dinge d. i. in der Welt begriindet, also ein objec- tives sei. Denn nur was im Sein der Welt enthalten ist, gibt einem Dinge wahren Wert. Den Wert aber. der im Sein liegt und aus dem Sein folgt, erhalt jedes Ding aus dessen Eignung fur den causativen Zusammenhang aller Dinge. Das Wort causativ , eigentlich beschuldigend, nehme ich hier nicht in dem Sinne von „causal“ d. i. den Zusammenhang der Dinge und ihrer Existenz durch Noth- wendigkeit und Zwang bedingend, sondern durch Wohl- meinung und B.eihilfe fordernd, also nicht durch die necessitas causandi, sondern durcli das benevolentiae causa sublevando. Das Praktische als ein Sittliches bedeutet so- nach eine Verbindung der objectiven Sittlichkeit mit der (fesinnung des handelnden Dings, in dem sich dessen Wille und Tuchtigkeit fiir das allgemeine Wohl oder fiir den cau¬ sativen Zusammenhang der Dinge ausdruckt. — Dies bedarf einer weiteren Auseinandersetzung, welche im Nachfolgenden versucht werden. soli. Alle Dinge der Welt — so schliessen wir aus dem Umkreise unserer Erfahrung— stehen unter einander nicht bloss in einem rein mechanischen d. i. causa len, sondern auch in einem causativen d. i. zweckfordernden Zusammen- hange, indem sie nach ihrer Beschaffenheit und Natur, in hoherem oder minderem Grade, fordernd oder hemmend auf einander wirken. Es ist damit unserer Annahme nach im Grossen gerade so oder doch ahnlich als im Kleinen, sagen wir in der menschlichen Gesellschaft. Wir alle wissen es aus der Erfahrung, dass es innerhalb der Gesellschaft Menschen gibt, ’) Strumpell: Vorschul. d. Eth. 1844. S. 8-9 kennt dreierlei ethische Urtheile: a) »Lob und Tadel, Beifall und Missfallen, Achtung und Verachtung; J' Zumuthung oder Forderung, Sollen oder Miissen; e) Wohl und Weh, Guter und UebeL« Erster Abschnitt. bi \velche sogar mit Selbstaufopferung die Wohlfahrt der iibrigen Mitglieder sowie des Ganzen fordern, allein ebenso wahr ist es, dass es innerhalb der Gesellschaft auch Individuen gibt. welclie die Forderung des Gemeinwohls and der Einzelnen thatsachlich und grundsatzlich hemmen und zu hintertreiben suchen. Die Sprache nennt solche Individuen catilinarische Existenzen. Wenn wir uns in der Thier- und Pflanzen- welt, soweit uns diese bekannt ist, umsehen, so bemerken wir Aehnliches. Wir finden namlich, dass gewisse Species das Gedeihen der ganzen Gattung oder ihrer eigenen Art entweder fordern oder hemmen, dass die Einen die eigene oder fremde Gattung entweder propagieren oder aber verkiimmern und zu- grunde gehen lassen. Und ahnliche Vorgange finden wir im Grossen und Kleinen der Natur, im sogenannten Makro-und Mikrokosmus, was im Nachstehenden gezeigt -vverden soli. Ich weiss, dass von Lotze, Fechner, Hermann Wolff. Eisler, Paulsen, Feuillee u. A. Versuche gemacht wordcn sind, Functionen des Fiihlens, Begehrens und Wollens auch in der Aussennatur nachzuweisen. Diese Art Panpsychismus oder A n i m i s m u s hier zu prtifen ist nicht der Ort. und es mirde dessen Naclrvveis fiir die Ethik auch nicht von der ervvarteten Wirkung sein; denn ich soli hier den causativen Zusammenhang. wie ich ihn nenne, aufzeigen. — Gibt es nun in der Aussen- und Menschennatur eine solche gegenseitige Forderung der Dinge, wie ich sie oben definiert habe? — Ich will einen empiristischen Versuch wagen, Beweise lur denselben beizubringen. Das Princip der gegenseitigen Forderung der \Vohlfahrt liisst sich im Umfange der Aussennatur sowohl an organischen als a n organischen Dingen beobachten. Einige Ethiker, darunter Paulsen, machen es zunachst fiir die chemischen Vorgange geltend. Sie wollen in der Auswahl derjenigen Stoffe, die sich miteinander zu neuen Stoffen verbinden, ein Bestreben sittlicher Art entdecken. Wenn gewisse Stoffe auf Sauren, gewisse auf Alkalien reagieren, wenn sich nur bestimmte Stoffe oder nach MendelejefTs Theorie der naturlichen, periodischen Chemie nur bestimmte Aequivalente der einen angenommenen Ursubstanz mit anderen, nur \vieder bestinnuten Aequivalenten zu neuen Stoffen verbinden oder aber, wie das Argon, alle Verbindungen ablehnen, so kann sich dies nicht aus einem zufalligen, sondern aus einem gesetzmassigen Verhalten der Dinge zu einander erkliiren. Ebenso findet in der Auf- saugung oder Ausscheidung von Aussenstoffen durch die Sarkode eines Protoplasmas — \voriiber vom Deutschen Verworn und vom Franzosen Dontec neuester Zeit hochst Der Begriff des Sittlichen. lt belehrende Versuche gemacht worden sind — mehr als eine zufallige Begegnung oder Function primitiver Lebewesen stati. Sollen wir die Lebenserscheinungen im Grossen verstehen, so mtissen wir sie bereits im Kleinen nachvveisen oder min- destens voraussetzen, da sich alles Grosse aus Kleinem und Kleinstem znsammensetzt. Wir mtissen in der Philosophie die chemischen und biologischen Forschungen nicht minder zu Rathe ziehen und verwerten. als die rein logischen und metaphysischen, wenn die Aufgabe der Philosophie wirklich in der Auffassung und Erklarung der Gesammtwelt bestehen soli. — Bedeutungsvoller in dieser Hinsicht sind dieErscheinungen, welche die Krystallbildung. zunachst die Regeneration der Krystalle betreffen. Ueber letztere Erscheinung sind in neuester Zeit von Dr. Rauber sehr zahlreiche Thatsachen theils gesammelt, theils neu beigebracht worden. l ) Darnach kann ein bis zur volligen Undeutlichkeit versttimmelter Kry- stall. in eine entsprechende Stofflosung gebracht. seine Kanten und Flachen erganzen. Man wird in dieser Verbindung von Stoffen zu festen, bestimmten Formen kaum ein zufalliges, sondern vielmehr ein grundsatzliches Verhalten der Theile der Materie zu einander zu erblicken haben. Sicherlich for- dern sich hier die Theile bei ihrer Formbildung, deren Endzweck uns allerdings nicht bekannt ist. — In der bestimmten Flachen- und Gestaltbildung der Krystalle ersehe ich tibrigens ein anderes Moment, das mir ftir die Ethik wichtig erscheint. namlich das Bestreben der anorganischen Materie, korperlich abgeschlossene, selbstandige Individualitaten zu bilden, welche — mag die Ursache und der Zweck dieser Bildung welcher immer sein — sich dadurch ihren Besta.nd wenigstens auf eine ungewisse Zeit zu sichern suchen. Das ethische Gesetz der Individualitat will ich damit hier blos andeuten und an- kftndigen. Was nun das Verhalten der Pflanzen anlangt, so konnen wir an ihnen schon etwas mehr vom sittlichen Bestreben wahrnehmen. Der Pflanze gentigt es nicht. ftir ihren individuellen Bestand zu sorgen. sondern sie sorgt auch ftir ihre Species und Gattung, indem sie den Samen bildet und ihre Fortpflanzung auch durch Setzlinge erzweckt. Allein sie ist nicht bloss auf die Erhaltung ihrer eigenen Art bedacht, sondern einige Pflanzen denken auch an die Erhaltung anderer Arten, indem sie unzweideutige,Beweise von egoaltruistischer Thatigkeit ablegen. Dies ersehen wir aus der Symbiose. in 'J Dr. A. Rauber: Die Regeneration der Krystalle. 1895. 12 Erster Abschnitt. welcher gewisse Pflanzen mit einander leben. So stellt jede Flechte ein Zusammenleben von Algen und Pilzen vor, wodurch beide an den Vortheilen der Luft- und zugleich Bodennahrung theilnehmen. Uebrigens gehen Pflanzen auch mit Thieren Symbiosen ein. So leben in der llaut der Siiss- wasserpolypen griine Algen. Beide Falle sind, wie ich von einem Fachmanne erfahre, keineswegs als Beispiele von Parasitenthum, sondern als Arten eigentlicher Symbiose zu betrachten, deren Zweck in gegenseitiger Existenzforderung liegt. Sonach finden wir bereits im Pflanzenreiche als einer hoher als die Krystalle organisierten Gruppe von Wesen jene Erscheinungen des geselligen Lebens, die wir in viel mannigfaltigeren Formen in gewissen Thiergattungen an- treffen. Bevor ich jedoch zur Betrachtung dieser iibergehe, darf ich nicht die ethischen Beobachtungen ausseracht lassen, welche Lombroso in seinem Werke „Der Verbrecher* anfiihrt. Lombrosols Bemuhen geht dahin. die Kennzeichen und Merkmale, die Ursachen und die Umstande der Ver- brechen im Umfange der ganzen Natur aufzuspiiren und festzustellen. Und da glaubt er, auch unter den Pflanzen und Thieren zahlreiche „Verbrecher“ ausfindiggemacht zu haben. 1 ) Dabei citiert er aus Werken bertihmter , Forscher und Be- obachter, wie aus Espinas, Romanes, Ch. Darwin, Brehm und vielen anderen. Namentlich fiihrt Lombroso die von Darwin in dessen Werke „Insectivorous Plants“ beschriebenen Pflanzen als Beispiele von „Mordern an Insecten 1 '" und als Anzeichen „ fines. ersten Aufdammerns verbrecherischen Wesens“ an. Unter diesen Pflanzen hebt er das auch sonst vielfach besprochene „Droserablatt“ oder den ^Sonnenthau” hervor. — Wie ich aus einem offentlichen Blatte ersehe, zahlt man gegenwartig fiinf grosse Pflanzenfamilien mit zweiund- dreissig Species von „Insectenfressern u , unter denen die sogenannte Dionaea eine sehr markante Stellung einnimmt. — Was nun Lombroso’s ethische Anschauung in Betreff jener Pflanzen anlangt, so konnen diese von mir nur als negative Instanzen hier benutzt werden, u. zw. in dem Sinne, dass sich in der Natur thatsachlich Wesen vorfinden, welche sich zum Principe der Forderung fremder Gliickseligkeit in deut- lich ablehnendem Sinne verhalten. Allein vorausgesetzt, dass die rauberische Thatigkeit und Intention jener Pflanzen wirklich eine liber alle Zweifel enviesene ist, so geht daraus fiir eine auf objectiven Grund- ') C. Lombroso: Der Verbrecher. I. 1887. S. 2 ff. [der deutschen Uebers. ] Der Begriff des Sittlichen. IH la,gen aufgebaute Ethik die Thatsache hervor, dass sich bereits im Leben der Pflanzen eine ethische Willens- thatigkeit aussert, die man gemeiniglich erst an thierischen Lebewesen wahrzunehrnen vermeint. Damit aber ist ein Beweis mehr fur die allgemeine oder objective Giltigkeit des sittlichen, sei es guten, sei es bosen Princips in der Natur beigebracht. Der Begriff des Sittlichen muss dann formuliert werden: als ethisch gelten alle Thatig- keiten in der Natur, aus denen eine grundsatzliche d as ist gesetzmassige Forderung oder St oru ng selbstandig gestalteter Wesen durch andere Wesen nachweisbar ist. — Solches ist dann bei den insecten- fressenden Pflanzen der Fali, gleich viel, ob dieselben ihre genannte Thatigkeit in bewusster oder unbewusster, wenn nur in gesetzmassiger d. h. in einer zu ihrem Vesen gehorigen, ih ne n eigentliumlichen \Veise aus- fiihren und dadurch ihren C h ar akter kundgeben. Unter den T h i e r e n weisen einige ganz ausgesprochene Ziige von Forderung einer generellen Wohlfahrt auf. Auch liier finden wir die oben erwahnte Sorge fiir die Species und jene Art des Zusammenlebens, welche Symbiose genannt wird. So wohnt die A d a m s i a aul dem vom Einsiedler- k r e b s (Eupagurus) bewohnten Schneckengehause, u. zw. um als dessen AVachter zu fungieren. Hieher kann man auch das Zusammenleben des Muschelwachters (pinnoteres) mit der Steck- muschel beziehen. Bekannt und viel besprochen sind die socialen Einrichtungen der Bienenstaaten, ebenso die der Ameisenvolker. denen die alten Ethiker noch das Zu- samnienleben der St orehe beizahlten 1 ). Die socialen Ein¬ richtungen der eben genannten Thiere sind nicht bloss in oko- nomischer. sondern auch in socialer Beziehung hochst interessant, da sie uns die Forderung der gegenseitigen AVohlfahrt einzelner Classen der Gesellschaft, sowie die Erhaltung des Ganzen und der einzelnen Theile in unzweideutiger \Veise darthun. Uebrigens zeigen die Bienen nicht bloss sittlich gute, .sondern auch „ verbrechcrische Neigungen“, was Lombroso des nahern aus- 1'iihrt. 2 ) Auch an den Ameisen weist Lombroso „Verbrechen“ u. zw. Verbrechen aus Habsucht nach. 3 ) Verbrechen und bose Neigungen sagt er verschiedenen Thieren nach, so gewissen Affen. dass sie andere gern qualen, den Pferden Eifersucht, mehreren Thieren Hass und Eifersucht, den Mausen, Ratten, Kafern, Hechten Oannibalismus, gewissen Pferden Hinterlist, nament- ') Cie er o: Fin. III § 63. ! j Lombroso: Der Verbrecher I 5. 3 ) 1. c. I 7. 14 Erster Abschnitl. lich den mit gebogenem Stirnbein — au nez busque —. den Elephanten gewisse Abneigungen. den Bibern tiickischen Mord an einsam lebenden Thieren ihresgleichen. mehreren Thieren Rachegefiihl, andern Verbrechen gegen den Geschlechts- trieb, Todtschlage infolge Uebervolkerang. gewissen Thieren Sodomie nnd so weiter. Doch findet Lombroso an manchen Thieren auch gute Eigenschaften : an einigen Affen Gefiihle der Reue, an vielen Thieren Enthaltsamkeit, allerdings infolge der Furcht vor Strafe, an den Storchen eheliche Treue, aber auch strenge Bestrafung des Ehebruchs an Weibchen, die Unverbesserlichkeit der Katzen u. s. w. — Interessant ist Lombroso’s Bemerkung. dass die ..Verbrechen 1 ' einiger Thiere „in offenem Gegensatze zu den allgemeinen Ge\vohnheiten der Art stehen“, dass z. B. von 100 Hunclen oder Elephanten. deren nur 1—2 „schlecht e sind. Man mag in den von Lom¬ broso angeftihrten Beispielen wirkliche ., Verbrechen 11 oder ein- fache Nahrnngsbeschaffung erblicken, ein hochst verschieden- artiges Benehmen der Thiere bleibt Factum. Inwieweit der M e n s c h sittlich ist. wurde bereits kurz angedeutet. Bei der Anschauung. dass das Sittliche sich durch die Aussenwelt verfolgen lasst, ist dasselbe kein Pri- vileg, kein eigentlicher Vorzug des Menschen, wofur es die stoische Ethik ansah, \venn sie die Gotter und Menschen in den Mittelpunkt der \Veltinteressen stellte und zum aus- schliesslichen Objecte der sittlichen Betrachtung machte. ‘) Nur weil die praktische Philosophie fiir Menschen geschrieben wird. daher \vird das Ethische als ein Humanitares, als ein echt Menschliches angesehen und fiir ein solches ausgegeben. Allerdings diirfte kein \Vesen soviel ethische Anlagen besitzen als gerade der Mensch, obvvohl ihn viele Thiere in einzelnen Tugenden und manehe vielleicht gerade in der Geselligkeit iibertreffen durften. Dazu noch sind die socialen Verhaltnisse vieler Volker heutigentags wohl noch weit von einem zufriedenstellenden. verniinftigen Zustande entfernt, und in so manchen Staaten ist es heute noch mit denselben hochst klaglich bestellt, da und dort sogar in einer allen Fortschritten der Civilisation hohnsprechenden \Veise. Solche Zustande konnen nun kaum als Beweise fiir eine ausschliessliche Eignung des Menschen zur Sitt- lichkeit dienen. Wenn wir nun die Welt als ein verniinftig geordnetes Ganzes betrachten und die kleinliche Rolle des Menschen in derselben veranschlagen, so finden wir, dass derselbe nur sich selbst. keineswegs aber der Welt gegen- So lehrt Chrysippus bei C i cer o: Fin. III § 67. f Der BegrifT des Sittlichen. 15 flber in sittlicher Beziehung groša dasteht. Dann miissen wir aber auch eingestehen und sagen, er sitze als ein nur sehr bescheidener Gast an dem Tische, wo tiber die Weltinteressen entschieden wird. Wenig begriindet erscheint mir daher der Ansspruch Steinthahs, wenn er iiber den sittlichen AVert des Menschen sagt: „Das Ali an sich ist nichtig, wertlos; wenn es aber etwas ist und wertvoll, so ist es dies lediglich durch uns, durch unsere Sittlichkeit. “ ') — Dies hangt mit dem beriihmten „Selbstzwecke“ des Menschen zusammen, den besonders Kant betont hat. Wir wissen weder vom End- zwecke der Welt noch des Menschen etwas bestimmtes; wohl aber wissen wir durch Erfahrung und Nachdenken, dass. wenn der Mensch etwas ist und einen sittlichen Wert besitzt, er diesen nur durch seinen Anschluss und seinen Zusammen- hang mit der ganzen Welt und in der Accommodation an ihre Ordnung erhalt. Wie in unserm Streben nach Wahrheit und Erkenntniss, so sind wir in unserm sittlichen Thun und Lassen an die Natur angewiesen. Wenn wir auf die Entwicklung des Begriffes Sittlich¬ keit zurtickblicken, so erhalten wirfolgende Deflnition derselben: Dag S i 111 i c h e oder Moralische stellt den W e r t dar. den j e d e s D i n g im S e i n f ii r die Forderung der ti b r i g e n Dinge hat, oder, wie oben bereits gesagt worden ist: das Sittliche besteht in der Eignung. die jedes Ding f ti r den causativen Zusammen- hang aller Dinge der Welt besitzt. — \Vas den Wortlaut dieser Deflnition anlangt, .so wird eine kurze Er- klarung derselben geniigen. Erstlich suche ich den Wert des Sittlichen in einer objectiven Qualitat aller Dinge, nicht in den menschlichen Handlungen allein; zweitens vindiciere ich diese Qualitat dem Sein im Allgemeinen, nicht dem Menschen allein; drittens suche ich diese Qualitat in der gegenseitigen Forderung der Dinge. Alles iibrige zum Ver- standnisse dieser Deflnition Nothige ist bereits oben gesagt worden und wird noch in den nachfolgenden Abschnitten genauer dargelegt werden. Das Pr a k tische im Menschen setzt sich nun haupt- sachlich aus zwei Elementen zusammen: aus dem oben an- gefuhrten Formal- und dem eben deflnierten Objectiv- Sittlichen. Das Praktische ist das in die Handlungsweise des Menschen iibersetzte und durch dieselbe geiibte Sittliche ; es macht sittlich, insofern es in die Handlungen oder in die Praxis des Menschen iibergeht. Fragen \vir uns nun, in- ') S teinthal: Allg. Ethik 1885. S. 395; vgl. 335—402, 403—413. 16 Erster Abschnitt. wieweit das im Vorangehenden von mir inducierte Sittliche als eine Forderung des causativen Zusammenhangs der Dinge der traditionellen nnd iiblichen Darstellnng des Moralischen entspricht. — Das Sittliche, iibergehend in einen habitu- ellen oder stationaren Zustand desSubjects, \vird zumPrak- tischen. In dieser Eigenschaft treffen der griechische Ausdruck T,9r/.6; und der deutsche sittlich iiberein; beide bezeichnen eine in den Charakter eingegangene und dort fe st sit z en de Kraft, das Sittliche auszuuben. Ein solcher geistiger H a b i t u s — r,i>ix.'/i š£i; — unterscheidet sich vielfach von dem v o r- u b e r g e h e n d e n, in einzelnen Fallen des Handelns auftretenden sittlichen Urtheil und Entschluss — Stdčvoia, k cm-mrk-, bildet also einen Bestandtheil oder Fundus des Gemuths, r,D-o;, wie Aristoteles diesen Unterschied auffasste 1 ). Nach Ari¬ stoteles, der die Ausdrucke E t h i k und e t h i s c h zuerst terminologisch angewendet hat, kommt das Moralische nur durch die menschliche Handlungsweise — -oa/.vizr, — zustande und macht sittlich, insofern es zu einer Gewohnheit oder einem Habitus der Person \vird. So \vird nach Aristoteles das Sitt¬ liche lediglich vom Menschen oder eigentlich von dessen Willen abhangig gemacht, wie wenn der Mensch der Schopfer desselben ware, was eben eine irrthiimliche Auffassung ist: der Mensch hat die Sittlichkeit nicht erfunden. am wenigsten aber geschaffen. — M o r a 1 i s c h oder e t h i s c h sein heisst nun nach meiner Definition soviel als zur gegen- seitigen Forderung der Wohlfahrt tauglich sein, und sich in den Dienst der Weltinteressen stellen. Darin besteht nach meiner Auffassung die sittliche Aufgabe des Menschen ; denn er ist ein Theil des Ganzen und muss als solcher an den Schicksalen des Ganzen theilnehmen. Der Ausdruck praktisch kommt nun dem Begriffe der menschlichen Sittlichkeit ausserordentlich zustatten. Denn in demselben liegt erstlich die Bedeutung geschickt d. i. zum sittlichen Handeln ttichtig, dann t h a t i g und kraftig handelnd, endlich auch wirksam d. i. sein- Ziel erfolgreich suchend. Im Ausdrucke praktisch liegt somit mehr Inhalt als im \Vorte ethisch. In sittlicher Beziehung praktisch sein bedeutet also gut sein, oder sittlich handeln konnen. wirklich sittlich und zweckentsprechend handeln, 2 ) ausserdem einem Muster oder Ideal des Handelns nachstreben. u Vergl. H. Bonitz: lndex Aristolelicus s. v. 'bito; ; vgl. Sit te und Sitz. — 2 ) So umschreibt Schopenhauer: Grundl. d. Mor. Werke, 4, B. S. 270 den Ausdruck »praktischer Philosoph« mit »der Gerechte, der Wohlthatige, der Edelmiithige«. Begriff der praktischen Philosophie. 17 Wenn wir den Ausdruck praktisch auf Handlungen iibertragen und mit dem Begriffe sittlich verbinden, so er- halten wir folgende Bedeutungen desselben: praktisch ist eine Handlung, wenn sie auf sittliche Zwecke gerichtet, v on sittlich er Gesinnung begleitet und von sittlichen Motiven und Momenten bestimmt wird. — * Kant, der die iiberkommenen philosophischen Kunstausdriicke meist in einer eigenthumlichen Weise gedeutet und in seine Begriffs- welt eingezwangt hat, wendet auch dieses Wort anders, u. zw. in folgenden Bedeutungen an: „praktisch” ist ihm soviel als „auf den Willen einwirkend“ (z. B. „ praktische Gesetze" 1 ), „als den Willen zur That bestimmend“ 2 ), folglich „aus Griinden a priori gewollt“ d. h. aus freiem Willen ent- springend, im Gegensatzezu „phy si s ch“ d.h. „ausN eigung“ hervorgehend 3 ), endlich „was durch Handlung moglich ist“ (z. B. „praktisches Gut“) 4 ). - Ich fiihre Kant’s Sprach- gebrauch lediglich zur Vermeidung von Missverstandnissen an, da ich denselben nicht acceptiere. Aus dem eben entwickelten Begriffe des Praktischen ergibt sich die Definitionder „Praktischen Philosophie". Letztere ist die Wissenschaft vom Handeln nach ethischen Gesetzen, und dies in zweifacher Beziehung: erstlich als Wissenschaft vom Sittlichen, dann als Anleitung zum praktischen Handeln. In letzterer Beziehung unterscheidet sie sich ihrer Tendenz nach von der Ethik, welche vorwiegend theoretischer Natur ist, da sie die als sittlich erkannten Erscheinungen auf einen gemeinsamen, dieselben erklarenden Begriff zu bringen sucht. Indes ist dies ein mehr ausser- licher als wesentlicher Unterschied beider. — Die praktische Philosophie zerfallt somit in zwei Haupttheile: in einen theoretischen, dem die Erforschung der Natur des Sitt¬ lichen und dessen Zuruckfiihrung auf ein Princip obliegt, und in einen praktischen, welcher die Sittengesetze als sitt¬ liche Muster und Ideale und die Regeln fur das praktische Leben aufzuzeigen hat. Der theoretische Theil ist ana- lytischer oder inductiver, der praktische synthe- tischer oder deductiver Natur. Etwas zu enge scheinen mir zwei Ethiker den Zweck und Inhalt der praktischen Philosophie zu fassen: Herbert Spencer, der dieselbe als eine empirische, also aus der Praxis allein ab- geleitete Wissenschaft auffasst, deren Zweck lediglich ein rein rationaler, also theoretischer sei s ), und Wundt, der sie ’) K a n t: K. d. p. V. (Kirchmann) S. 21—22. 2 ) Kant: ebend. 50. 3 j Kant: ebend. 29. 4 ) Kant: ebend. 136. s ) H. Spencer: Thats. d. Eth. 165. 2 18 Erster Abschnitt. in seiner „Ethik“ fur eine lediglich normative, also rein praeceptive Lehre erklart. Mir erscheint die Aufstellung von Normen fiir das menschliche Verhalten ohne eine grundsatz- liche, prinoipielle Theorie ebenso unfruchtbar. wie die Auffindung von Principien ohne eine Erprobung derselben an Thatsachen, zumal da- den moralischen Principien bei der keineswegs nochausgereiften ethischen \Vissenschaft sonst dieEvidenz wenn nicht ganz, so doch zu grossem Theile mangeln wiirde. Poch muss zwischen der praktischen Klugheits- lehre und der praktischen Philosophie genau unterschieden werden. Die Klugheit des sogenannten „ prak¬ tischen Mannes“, des Kaufmanns. Weltmanns. Diplomaten ist auf die leichteste und rascheste Erreichung des Begehrten gerichtet, wobei die sichere Erreichung die Hauptsache bildct; der sittlich Kluge dagegen sieht auf' die- Erreichung der hochsten, wertvollsten Zivecko des Lebens. u. zw. nicht nur in Bezug auf seine Person oder den engen Kreis jener Gesellschaft, der er angeliort, sondern auch unter steter Bezugnahme auf die Gesammtinteressen. das AVeltganze, mit welchem er in Uebereinstimmung bleiben will. Auch nicht das Nachste und das fiir seine Person Vortheilhafteste bildet den Zweck des sittlich Handelnden. sondern ihn bestimmt einzig und allein das sittlich Vollkommene, das sittlich Ideale. Daher sind, wie Kant bemerkt. von der praktischen Philo¬ sophie die sogenannte weltliche „Klugheit“ (Lebensklug- heit 1 ), dann die geschaftliche Routine sammt allen materiellen Calculationen, und die r G.eschicklichkeit a des Erwerbs, \vie er sich ausdriickt, 2 ) auszuschliessen, da diese Eigenschaften rein materiellen. nicht aber auch idealen Z w e c k e n dienen. Damit ist jedoch nicht gesagt. dass die Lebensklugheit und die praktische Philosophie in einem Widerspruche oder gar Gegensatze zu einander stehen, in den sie ein Platon und andere Philosophen in der Verzweiflung liber die verderbten Zustande ihrer Zeit zu bringen suchten. sondern dass die Zwecke beider weit von einander liegen. Es wiirde die pr. Phil. oder Ethik oder wie immer wir die wissen- schaftliche Betrachtung des Sittlichen nennen wollen, wenig \Vert Ilir das praktische Leben besitzen, wenn sie zu demselben in einem Gegensatze stiinde, da vielmehr beide einander zu erganzen und zu unterstiitzen bestimmt sind. v ') Kant: Kr. d. p. V. 43. 2 ) K a n t: ebend. 28. Zweiter Absehnitt. Analyse des Begriffs handeln. Die Thatigkeit des Handelns ist aus verschiedenen Be- wegungselementen zusammengesetzt, die nur durch ihr gemein- sames Ziel ihre Einheit und ihren Zusammenhang erhalten. Wir wollen es von seiner psychologischen und ethischen Seite betrachten. Alles Handeln entspringt aus Motiven oder Beweg- g r ti n d e n, welche entweder im handelnden Subjecte von selbst entstehen oder von aussen in dasselbe hineingetragen werden. Das Subject befindet sich namlich in einer fortwahrenden Unrulie, indem es von einem Impuls zum andorn bewegt und hingezogen wird. Jene Unruhe heisst Begi er d e. Diese Eigentbumlichkeit' des Gemiiths haben sowohl alte als neuere Ethiker beobachtet. So kennt Thukydides, ein Schiller des Dhilosophen Anaxagoras, nach ihm Sallust, des Thukydides beriihmter Nachahmer, eine stetige Unruhe des Gemiiths. welche er inquies et indomitum ingenium nennt, ebenso M. T. Cicero, der von einem turbulentum in hominibus spricht. 1 ) Bekannt aus neuerer Zeit ist J. Locke’s Bemerkung iiber das Unbehagen — uneasiness — desmenschlichenGemiiths, aus demalleArten von Begierden und Leidenschaften entspringen.'- 2 ) Die fortwahreiid im Gemiithe ein- und austretenden Motive sind die erste Ursache, dass der Mensch hanclelt, ja, dass er handeln muss. Denn er hat stets Bediirfnisse. die ihn zur Befriedigung drangen. Die Bediirfnisse aber sind unauf- schiebbar, jagen einander, lassen dem Menschen keine Zeit zu ihrer Nichtbeachtung, also zur Unthatigkeit, und so wird derselbe von ihnen fortwahrend in Athem gehalten. Verlasst ’) S ali. Hist. Fragm. I. 7. Dietsch, wozu 1. 48 zu vergleichen ist. — Cie. De r. p. III. § 49. ’j Locke: Essay. II 21 § 39. 2 * 20 Zvveiter Abschnitt. ihn das eine Motiv, so stellt sich sehr bald ein zweites und ein nachfolgendes ein. Die Richtigkeit dieses Satzes wird am besten durch die Erfahrung bestatigt. Streng genommen miissig ist kein menschliches Lebensalter, wenn auch das verniinftige, zweck- bewusste Handeln hauptsachlich dem kraftigen Mannesalter zufallt. Das Kind handelt spielend, der Knabe und das Madchen tandelnd, der Jiingling hastig und stets planend, der Mann fest und entschlossen, der G-reis zogernd oder aber blindlings, indem er allmahlich, falls er nicht erschlafft, zum jugendliohen und knabenhaften Renommieren zuriickkehrt. DieVolker handeln wie die Individuen verschiedener Lebensalter. Wehe demje- nigen Volke, das in dumpfem Dahinbriiten traumend lebt; ihm entgeht das Reich dieser Welt, sein Los ist Knechtschaft; heil demjenigen Volke, das mit stetigem, unermudetem und unerschrockenem Handeln seine Lebenszeit ausfiillt; sein An- theil am Segen der Arbeit ist ihm gewiss. — Das Handeln hat aber ausser seiner psychologischen noch eine ethische Seite. Der Mensch muss namlich, wie Kant be- merkt, nicht blos infolge des „Gesetzes der Natur- nothwendigke.it“, also durch aussere Motive bewogen, handeln 1 ), sondern auch infolge der „sittlichen Causalitat“ 2 ), namlich bewogen durch seinen eigenen „reinen Willen“, oder mit a.nderen Worten, „in praktisch consequenter Denkungs- art nach unveranderlichen Maximen.“ 3 ) Die Einsicht in das Gute namlich, das ihm in praktischer Hinsicht. als das Beste vorschwebt, zwingt denMenschen mit innerer Nothwendig- keit zu einem mit dieser Einsicht ubereinstimmendenHandeln. Die praktische Consequenz also, mochte ich erklarend sagen, drangt den Menschen zum Handeln. \Venn wir auf die Natur der Motive, welche den Menschen zum Handeln bewegen, unsereAufmerksamkeitrichten, so flnden wir drei Arten derselben. Die Motive bestehen in Eindriic k en der Aussenwelt, welche man auch Umstande, aussere Einflusse, Medium oder Milieu nennt 4 ), in psychischen Motiven oder in Vorgangen des psychischen Lebens, endlich in ethischen Motiven, solchen Beweg- grunden namlich, welche aus der Einsicht in die Vortrefflichkeit des objectiv Sittlichen hervorgehen und das Subject zum Handeln antreiben. Diese dreifache Nothwendigkeit entspricht ganz der dreifachen Abhangigkeit des Menschen als Natur- wesens: seiner Abhangkeit von den unabanderlichen Gesetzen 1 ) Kant: Kr. d. p V. 114. 2 ) ebend. 59. 3 ) ebend. 182. *) Ueber die ausseren sittlichen Factoren handelt ausfubrlich J. St. Mili: Syst. d- ded. u. ind. Logik, VI. Buch (Gomperz). Analyse des Handelns. 21 der Natur, von dem unaufhaltsamen Verlaufe seines inneren oder psychischen Lebens und seiner Abhangigkeit von den ebenso verbindenden Gesetzen, dieihm seine eigene Vernunft vorschreibt. Das Subject ist also in seinen Handlungen durch die eben genannten Motive determiniert. Dies sind fur die praktische Philosophie hochst wichtige Schlussfolgerungen, auf denen ein grosser Theil dieser Wissenschaft beruht. Im Begriffe des Handelns ist ferner ein zweites Element enthalten, ohne welches dasselbe gar nicht denkbar und fassbar ware. Dieses Element ist die Vorstellung eines bestimmten Zweckes, das der Handelnde zu erreichen strebt. Die Vor¬ stellung von Zwecken folgt aus der Natur des Handelns als eines Erstrebens. Was durch das Handeln angestrebt wird, das ist die Befriedigung eines oder mehrerer Bediirfnisse. Zu den Motiven, welche aus verschiedenen Bedurfnissen ent- springen, verhalten sich die vorgestellten Befriedigungen d. i. die Zwecke als correlate Begriffe. Die Motive treten im Gemiithe als Gefuhle, die Zwecke als V orstellungen auf. Beide sind, psychologisch betrachtet, Parallelvorstellungen des- selben Dings ; beide sind an sich derselbe psychische Act, aber in verschiedenen Wirkungen auf das Subject verschieden erscheinend. Wer einen bestimmten Zweck vor Augen hat, macht sich ein Bild oder eine I d e e desselben, indem er das An- gestrebte in irgendeine Zeit verlegt und unter irgendeine Form bringt. Zugleich empfindet er bei dessen Vorstellung ver- schiedene Gefuhle, namlich der Lust, Sehnsucht,Erwartung, Furcht u. a., je nachdem er begehrt oder ablehnt. Die einander begleitenden Vorstellungen und Gefuhle, welche untrennbar mit einander verbunden sind, bestimmen die Richtung des Handelns. Man kann sie zu den Moment en oder Aus- schlaggriinden des Handelns zahlen. Die Zwecke des Handelns sind von zweierlei psychischen Bewegungen begleitet, entvveder von Erstrebungen oder Ablehnungen. In ersterem Falle werden wir den Zweck positiv, im zweiten negativ nennen. Etwas, das uns fiir unsere Existenz oder an sich vrertvoll erscheint. streben wir an d. h. suchen es zu erreichen, etwas, das uns schadlich scheint. suchen wir von uns fernzuhalten oder zu entfernen. Der an- gestrebte positive Zweck heisst ein G ut, der abgelehnte negative ein Uebel. Dadurch jedoch, dass ein Zweck von dem Handelnden in diese oder in jene Kategorie des subjectiven Wertes gesetzt wird, erscheint erbloss subjectiv lob lic h oder subjectiv verwerflich ; ob er dies auch objectiv sei, muss erst nach dessen ethischen E ig e ns ch aft e n 22 Zweiter Abschnitt. beurtheilt werden. Aus diesem Grunde will der Mensch etwas entweder thun, oder etwas nicht thun d. h. meidenoder unterlassen. Wenn er keines von beidem kann, verhalt er sich indifferent. Alle Zwecke des Handelns laufen im Grunde auf e i n e n e in z i g e n Zw e c k hinaus: auf Befriedigung des nimmer ruhon- den Gemiiths des Handelnden. Alle Zwecke sind daher mit diesem einenEndzwecke gleichbedeutend undnur ihrer Form nach unter einander verschieden. Alle Menschen wollen bei iiiren Bestrebungen gluckselig werden d. h. eine gewisse Befriedigung des Gemiithes erlangen; die Formen dieser Befriedigung und ihres Inhalts aber sind bei ver- schiedenen Menschen hochst verschieden. Daher sind trotz des einen Endzweckes, den wir ganz allgemein und noch un- bestimmt mit dem Worte Gltickseligkeit bezeichnen wollen. die Gegenstande, durch \velche diese letztere angestrebt wird, sehr verschieden. Die Objecte des Handelns, die man Z i e 1 e nennt, weil die Motive auf dieselben alswie auf aussere Gegenstande hinweisen, sind entweder concreter oder abstracter Natur. Die einen Menschen suchen in materiellen. Giitern, die andern in gewissen Beschaftigungen : Jagd. Krieg, Studien, oder im Nichtsthun, Traumerei u. a, D. ihr Gliick. Allein bei aller Verschiedenheit ihrer Ziele wollen die Menschen dennoch den einen Z we c k erreichen, den der Gltickseligkeit. Daher kann der eine oder andere Zweck nur als Mittel zur Er- reichung jenes hoheren Zweckes clienen. Dieser Zusammen- hang bildet eine Kette von Unterordnungen, eine S c a 1 a von sogenannten ni e deren und hoheren Zvvecken. Bei dem Endzwecke handelt es sich um die Frage W ozu, bei den Mitteln oder Nebenzwecken jedoch um die Frage Wo- d u r c h. Soviel in Betreff der psychologischen Seite des Zweckes und der Ziele des Handelns : die ethische Natur derselben muss einer besonderen Erorterung vorbehalten bleiben. Vor- bemerkt sei noch, dass die Zwecke und Ziele sowie auch die Mittel des Handelns in ethischer Hinsicht loblich sein miissen. Kiirzer konnte man dies durch die Redensart ausdriicken: Gltickseligkeit durch T u g e n d !') Dies ist ein fiir die Ethik hochst wichtiger und bedeutender Satz. Ein weiteres und zwar drittes Element des Begriffes Hancleln liegt in der Festigkeit des W o 11 e n s, das vor- gefasste Ziel zu erreichen. Der Wille hangt nicht bloss von ') Diesen Zusammenhang gibt sogar Kant’s asketische Etbik zu; vgl. dessen Erorterung iiber den Zusammenhang von Tugend und Gltickseligkeit: Kr. d. p. V. 135, bes. 138, ausserdem 133. Determiniertheit der That. 2 S klarer Erkenntnis eines Gutes, sondern auch von der Ueberzeugung seiner Nothwendigkeit, ausserdem von ausseren Umstanden ab. Die Erkenntnis des Guten und die Ueberzeugung von dessen Nothwendigkeit sind zunachst Sache der Einsicht, also Acte des Intellects, dann auch Sache der Erfahrung, also Acte der Uebung im Beobachten des ethischen Lebens, zuletzt aber auch Sache des Charakters, der sich am besten in der Consequenz und Energie des Handelns kundgibt. Dies sind drei psychische Functionen. auf denen das W o 11 e n beruht, das selbst wieder eine zusammenge- sstzte psychische Thatigkeit bildet. Der grosste Theil der Menschen hat zwar Einsicht in das Gute, kennt zwar aus eigener oder fremder Erfahrung dessen Vortrefflichkeit, besitzt aber nicht die nothige Kraft es zu thun. noch weniger es zur alleinigen Richtschnur seines Handelns zu machen. Also bleiben die meisten Menschen auf halbem Wege zum Ziele stehen, nachdem sie einen loblichen Anlauf genommen. Sprach- lich bleibt es dasselbe, wenn wir statt \Ville Gesinnung sagen. Ohne diese Eigenschaft bleibt das Handeln nur hal- bes Thun. Die Ausfiihrung des Gewollten heisst That. Die That hangt, wie wir bemerkt haben. zumeist von den Umstanden, also vom Mili eu ab. Dieses zu beherrschen ist dem Handeln- den nicht gegeben; er kann, wenn es gut geht, den giinstigen Augenblick erspahen und bentitzen. Nur insofern durfen wir die Umstande, Verhaltnisse und Gelegenheiten als ein viertes Element des Handelns gelten lassen. Die Thatbesteht in ausseren oderleiblichen Bewegungen und in einer Veranderung, die vom Handelnden in der Aussenwelt hervorgebracht wird. Die That erzeugt im Handeln¬ den in psychischer und physischer Beziehung eine R ii c k- w i r k u n g, welche man die F o 1 g e der That nennt. In den Folgen liegt das Ergebnis der Handlung; an der Riick- wirkung der That auf den Handelnden ist es letzterem zunachst und zumeist gelegen. Denn eben um gunstiger Folgen willen \verden Handlungen unternommen, da alles Handeln auf Erreichung bestimmter Zwecke ausgeht. Von den Folgen gilt dasselbe als von der Ausfiihrung der That: dieselben hangen wohl zumeist, jedoch keineswegs vom Handelnden allein ab. Der Grund liegt in der A b- hangigkeit des Subjectes von den verschiedenen, bereits angefiihrten Factoren, welche iiberhaupt das menschliche Handeln beeinflussen. Der Mensch ist, wie wir uns oben aus- gedruckt haben, im Handeln d e t e r m i n ie rt, und zwar ebenso in physischer als psychischer Beziehung. Niemand 24 Zweiter Abschnitt, kann daher fur den E r f o 1 g seiner Handlnngen mit Sicherheit einstehen. Die Folgen der That sind zwar in ethischer Beziehung infolge reicher Erfahrnng so ziemlich, wenn auch nicht ganz berechenbar, aber das Gelingen der That d. h. der Erfolg ist selbst bei scheinbar klarer Einsicht in die Umstande und Verhaltnisse sehr ungewiss. Daher liegt im Gelingen oder Misslingen der That noch kein sicheres Kennzeichen, dass die Handlung unzweifelhaft eine sittliche oder nnsittliche sei. Sowohl die Motive konnen tauschen, so sehr sie aus sittlichen Grundsatzen zu entspringen scheinen, als insbesondere die M i 11 e 1, welche angewendet werden, ausserdem freilich am meisten die Um¬ stande, welche gar oft die besten Envartungen zuschanden machen. Es kommt im Handeln nicht selte.n vor, dass die erwarteten ghnstigen Folgen sich als ein vollstandiger Miss- erfolg erweisen nnd ins gerade Gegentheil, namlich zum Schaden der handelndeln Person ausschlagen. In solchen F allen ist oft schwer zu bestimmen, wo und an wem die S chuld gelegen sei. Daher muss fur alle Falle das B e w u s s t- sein redlich unternommener und kraftvoll ausgefuhrter That Trost und Ersatz bieten. Sowohl die Nothwendigkeit, unter dem Drucke bestimmter Motive zu handeln, als auch die unsichere Berechnung des Erfolges einer That sind deutliche Beweise, dass das Handeln wie etwas N at ur not hw e n dig es, Absolutes und vom Subjecte Unabhangiges sich vollzieht, dass also der Mensch im Handeln unter objectiv gegebenen Gesetzen steht. Wenn er dieselben erkennt und sich ihnen unterordnet, so kann es ihm gelingen, die gewimschten Folgen zu erzielen; verkennt oder missachtet er diese Gesetze, dann kommt er nicht an das Ziel. Die Folgen belehren ihn. soweit sie das physische Milieu betreffen, tiber die Souveranitat eines tiber dem menschlichen Willen stehenden Sittengesetzes. — Alles, was hier nur kurz angedeutet werden konnte, soli spater eingehender nachgewiesen werden. Wenn wir nun die psychischen und ethischen Elemente des Handelns iiberblicken und auf Ursachen zuruckfuhren, so erhalten wir zwei Arten derselben, wie sie sich wenigstens der ausseren Beobachtung darbieten, namlich subjective d. h. im Handelnden, und objeotive d. h. ausserhalb des Handelnden liegende Ursachen des Handelns. Zu den sub- jectiven gehoren die aus dem inneren Leben hervorgehenden Motive, ferner die infolge eigener Initiative, des eigenen Nach- denkens und der eigenen Erfahrung im Geiste auftauchenden Zwecke des Handelns, dann die durch geistige Arbeit er- Cooperation innerer und ausserer Factoren. 25 worbene Kraftigung der sittlichen Gesinnung, endlich die durch vollbewusste Einsicht und Kraft des Geistes vorberechneten Folgen der That. Auf die objectiven Factoren des Han- delns sind zuriickzufuhren: die ausseren Antriebe, die von der Natur dem Subjecte vorgesteckten Ziele und Zwecke. die durch die Gunst des Gliickes dem Subjecte verliehenen Anlagen und Fahigkeiten, die ausseren, das Subject bestimmen- den Verhaltnisse, endlich die durch den Gang der Naturgesetze bedingten Folgen der That. Bei der hochst wahrscheinlichen Cooperation der bei den angefiihrten Factoren des Handelns d. i. der Selbstthatigkeit und des Sittengesetzes ist es sehr sclrvvierig zu entscheiden, welche Erfolge speciell dem subjec- tiven und welche dem objectiven, ausseren Factor zuzu- schreiben sind. Bei volliger Determiniertheit des menschlichen Handelns ist sogar eine Ausschliessung des subjectiven und die alleinige Herrschaft des objectiven Factors denkbar, jedoch als praktischer Grundsatz kaum durchfuhrbar. Auf Grund der wahrscheinlicheren Cooperation der beiden Factoren und im Interesse einer klaren Darstellung, welche jedoch der endgiltigen Entscheidung dieser Frage nicht vorgreifen soli, wollen wir im Nachfolgenden die beiden Factoren des Handelns getrennt halten. Soviel liber die Natur und die Elemente des menschlichen Handelns. Dritter Absehnitt. Die Sittlichkeit und ihre Beziehungen. Ein wichtiges Problem der praktischen Philosophie ist jenes iiber den Zusammenhang von Sittlichkeit und Gluckseligkeit. Wir konnen es in die Frage fassen: muss der Sittliche nothwendig glucklich sein? — Nach Kant’s Vor- gange in logische Form gebracht, lautet das Problem: bildet der Zusammenhang von Sittlichkeit und Gluckseligkeit ein synthetisches oder analytisches Urtheil? 1 )— Ich will es versuchen, das Problem zunachst auf positivistischem, spater auf metaphvsischem Wege zu losen. Das Handeln, so hiess es im zweiten Absehnitt, geht aus Bedtirfnissen hervor und ist auf deren vollste Be- friedigung gerichtet. Wurde es sich im Praktischen um weiter nichts handeln als um die Befriedigung nachstliegender Bediirfnisse, so wurde die Definition des Sittlichen, auf welches sich das praktische Handeln bezieht, sehr einfach lauten, etwa: sittlich ist alles, was die handelnde Person befriedigt; denn durch Befriedigung auch augenblicklicher und nachst¬ liegender Wunsche wiirde das Gemuth des Subjectes auf Augenblicke oder doch auf einige Zeit zur Ruhe kommen und sich glucklich fuhlen. Allein zur Gluckseligkeit gehort mehr; denn das menschliche Gemuth verlangt volle Be¬ friedigung. Daher begnugt es sich nicht mit der nachst- besten Art der Befriedigung, und diese tritt auch nicht so leicht ein. Erstlich ist es fraglich, ob das, was den Menschen fur den Augenblick oder einmal begliickt, demselben spater oder ein andermal nicht Uebel einbringt. Eine augenblickliche Befriedigung kann oft nur eine Selbsttauschung, ein Schein- b Kant: Kr. d. p. V. 133 u. 136. Sittlichkeit und Gluckseligkeit. 27 gliick sein, das sogar ein ungeheures Uebel in sich birgt. Ein Trunk frischen Wassers, zur Unzeit genommen, kann den Tod nach sich ziehen; eine Erkaltung, im Augenblick als angenehme Erfrischung empfunden, kann ein langwieriges Leiden zur Folge haben; eine Lust, im Augenblick genossen, kann verhangnisvoll nachwirken; ein Wunsch, im Augenblicke erfullt, kann spater den Menschen um die grossten Giiter bringen. Und dann, was Einem frommt, kann Tausenden z um Verderben gereichen. Kurz, fehlt dem Erreichten das Merkmal eines allgemein-giltigen, absoluten Gutes, so ist es erstlich kein Gut im Sinne der praktischen Philo- sophie, und dann auch keine Gluckseligkeit fur den, der es besitzt. Ein sittliches Gut ist namlich alles, was den causativen Zusammenhang der Dinge fordert, was da macht, dass ein Ding seinen Zweck sich selbst und den iibrigen Dingen gegeniiber erfullt und dass es jener Bestimmung entspricht, die ihm seiner Natur nach zukommt, die es in sich tragt oder sich selbst vorsetzt. Gluckseligkeit kann ein Ding nur dann bieten, wenn die Befriedigung eine dauerhafte, voll- standige ist. Eine solche Befriedigung wiirde also dasjenige sein, was wir unter dem Worte Gluckseligkeit verstehen. Doch ist hiebei zu iiberlegen, an welche Bedingungen die Befriedigung gobunden ist, um, Gluckseligkeit zu bewirken. Wir konnten uns recht wohl eine Gluckseligkeit denken, die mit der Sittlichkeit nichts zu thun hat. So z. B. konnte sich ein Volk durch eigene Macht oder durch gliickliche Umstande die Unab- hangi gkeit von einem andern, dasselbe beherrschenden Volke erringen und diese Freiheit zu seiner Wohlfahrt bentitzen, wovon uns die Geschichte mehrere Beispiele liefert. Was wir aber mit Bestimmtheit wissen, ist, dass der habituelle Besitz der Tugend solche Gluckseligkeit schaffen kann, freilich oft nicht zu schaffen scheint. E i n e Art Befriedigung ist dem Tugendhaften allerdings gewiss: die innere, subjective Be¬ friedigung, die schon der blosse Besitz der Tugend verleiht. Wir wissen alle, welches innere Gliick z. B. das Wohlthun, die Hilfe, die wir einem Unglucklichen gewahren, einbringt. Und so erzeugt eine jede Tugend einen Theil Gluckseligkeit, alle Tugenden zusammen die volle Gluckseligkeit. Allein es handelt sich um eine objective d. h. in Kant’s Sinne: um eine all- gemeingiltige Gluckseligkeit, \4felche als solche auch allgemein als Wahrheit anerkannt ware. Und da kommt uns eine zweite Beobachtung zu Hilfe, dass namlich die Tugenden auch als sichere Mittel zur Gluckseligkeit dienen. Wir konnen diese Eigenschaft z. B. an der G er e ch tigk ei t 28 Dritter Abschnitt. nachweisen. So kann eine Gesellschaft, sagen wir ein Staat, durch stricte und gewissenhafte Ausfiihrung des Princips der gleichen privaten und staatsbiirgerlichen Rechte seine Burger zu Wohlstand, Macht und Gedeihen bringen, wie es in England der Fali ist, wo die Gesetze auf das sorgsamste und scrupu- loseste durchgefuhrt zu \verden pflegen. Die Gluckseligkeit hat ein solcher Staat dann sicherlich der Tugend der Gerechtig- keit zu verdanken, und es kann kein Zweifel obwalten, dass sie es ist, die einen Staat zur Bliite bringen kann. Dies lasst sich auch indirect, durch den Hhrvveis auf andere Staaten zeigen, in denen Uebergriffe und Gewaltacte seitens der ober- sten Macht oder seitens der Burger unter einander an der Tagesordnung stehen und solche Staaten dadurch in fort- wahrende Krišen versetzen. Ein Gleiches kann von anderen Tugenden, z. B. von der Eintracht, behauptet werden, fur die der bekannte Spruch Sallust’s gilt: Concordia parvae res crescunt, discordia maxumae dilabuntur. — Es gibt jedoch auch Falle, in denen der Tugendhafte gerade wegen seiner Tugend hochst ungliicklich werden kann. Beispiele dieser Art bietet die Geschichte in reichlicher Anzahl. Es gab zu allen Zeiten Manner, die fiir Recht, Menschlichkeit und ihre Ueber- zeugung eintraten und dafiir verfolgt. mitunter den grau- samsten Qualen ausgesetzt wurden. Da scheint denn der feste Zusammenhang zwischen Sittlichkeit und Gluckseligkeit in der That gelockert, wenn nicht etwa die innere Befriedigung des Tugendhaften, der Sittlichkeit treu verblieben zu sein, fiir eine Art Gluckseligkeit angesehen wird. Und diese Gluck¬ seligkeit ist erwiesenermassen die schonste, die sicherste. — Somit bleibt folgende Verbindung der Begriffe iibrig: soli die Befriedigung, welche die Menschen bei ihren Handlungen anstreben, eine vollstandige, also Gluck¬ seligkeit sein, so ist dazu eine praktische d. i. sittliche Handlungsweise unerlasslich; ohne diese gibt es keine wahre Gluckseligkeit. Dies folgt aus der Natur des Sittlichen als eines hochsten, absoluten Gutes, dessen Wert ein allgemeingiltiger ist. Wenn wir nun das Ve r hal t n is erwagen, in welchem die Sittlichkeit zur Gluckseligkeit steht, so finden wir. dass zwischen beiden in dem Sinne eine Abhangigkeit herrscht, dass die Sittlichkeit als G run d oderUrsache, die Gluck¬ seligkeit als F o Ig e oder Wirftung fungiert. So fasst auch Kant das Verhaltnis beider auf. l ) ’) Kant: Kr. d. p. V. 133. Sittlichkeit und Gluckseligkeit. 29 Eine Klarstellung dieses Zusammenhanges ist fiir das Wesen der Sittlichkeit von grosser Bedeutung. Da es sich bei der Erlangung der Gliickseligkeit um ein sicheres, gewisses und absolutes Gliick handelt, das nicht dem Zufall oder der Unbestandigkeit unterworfen ist, so muss die Bedingung ins Auge gefasst werden, unter welcher ein solches Gliick zu erlangen ist. Dariiber belehrt uns der eben genannte Zu- sammenhang zwischen Gluckseligkeit und Sittlichkeit. Derselbe will sagen: willst du, o Mensch, gliickselig sein, so beachte bei der Erlangung der Gluckseligkeit deren Gesetz d. h. deine Handlungsweise sei sittlich! — Die Sittlichkeit erscheint somit als eine Schranke, als eine Bedingung oder als ein Gesetz fiir die Handlungsweise, durch dessen Er- fiillung die Gliickseligkeit zu erlangen ist. — Und als eine solche Schranke oder Bedingung der Gliickseligkeit hat die Ethik das Moralische stets angesehen. Wenn namlich aus der Natur des Handelns, als eines Aufgebotes aller Krafte zur Erlangung bestimmter Ziele, die Erstrebung einer ab¬ soluten Gliickseligkeit als Endzweck desselben folgt, so ist in der Sittlichkeit die Bedingung oder das Gesetz vor- gezeichnet, an welch.es die Erlangung der Gliickseligkeit ge- bunden ist. Nun aber ist ein Gesetz nichts weiter als der Aus- druck des Zweckes, welchem das Gesetz dient; denn derjenige, der ein Gesetz gibt,ist identischmit dem, der den Zweck des Gesetzes erreicht wissen will. Offenbar hat der Gesetzgeber den Zweck und das dem Zwecke entsprechende Gesetz zu- g 1 e i c h im Sinne ; sonst miisste man annehmen, er gabe zwecklose Gesetze oder wer Gesetze gibt, habe keinerlei Zwecke derselben im Auge. Dadurch werden das „Wodurch“ und das „Wozu“ des praktischen Handelns als eine gedankliche Einheit und als Ausfliisse gleichen Wertes erkannt. Das aber willbesagen: du solist deinem Triebe zufolge gliickselig sein, allein du kannst ebenso auch nur in dieser Form: unter Wahrung des sittlichen Gesetzes gliickselig sein. — Fiir den ethisch denkenden Menschen liegt in diesem Satze die Lehre enthalten, dass er auf die Jagd nach zufalligem Gliicke zu Gunsten der zwar schwer erlangbaren, aber desto sichereren, von der Tugendhaftigkeit abhangigen Gluckseligkeit verzichten solle. Zugleich ist in derselben der trostliche Gedanke enthalten, dass der ernstlich nach Sittlichkeit strebende Mensch trotz aller Ungunst der Verhaltnisse eine Gliickseligkeit erringen kann, um welche sich lasterhafte oder leichtsinnige Menschen umsonst bewerben, da dieselbe nur durch Tugend zu erlangen ist. In dieser Erkenntnis wachst 30 Dritter Abschnilt. die Lebensaufgabe des Menschen liber die tausenderlei Schranken und Gehege der ihn bedriickenden Verhaltnisse hinaus und wird zu einem machtigen. freien. beseligenden Streben nach dem hochsten Preise, den ihm kein Neider und kein Tyrann entreissen kann. Durch solche Gltickseligkeit wird der Mensch wahrhaft f r e i. und^ das Gefiihl dieser begliicken- den Freiheit ist ein Lohn. der des besten Strebens wert ist. Schon diese Erkenntnis allein vermag dem Menschen innere Ruhe zu gewahren. — Doch verfolgen wir das Verhaltnis zwischen der Gliick- seligkeit und Sittlichkeit weiter, zunachst, sofern es den Begriff der Gliickseligkeit anlangt. Bereits oben habe ich die Gliickseligkeit als eine allgemeingiltige, absolute Wohl- fahrt bezeichnet. Als eine solche aber ist sie nicht bloss materieller, sondern auch geistiger Natur. Wenn gewisse Tugenden mit keiner solchen allgemeinen Wohlfahrt verbunden erscheinen, sondern bloss geistiger Art sind — so beschaffen ist z. B. das Schicksal des Gerechten. der sich durch seinen Gerechtigkeitssinn den Hass Anderer zugezogen hat —, so kommt dies theils auf Rechnung der Unvollkommen- heit zu stehen, die allen Dingen mehr oder weniger an- haftet, theils auf Rechnung des Schlechten, das ein nothwendiger, unvermeidlicher Verfolger des Guten ist. Ich habe im ersten Abschnitte auf diesen sittlichen Dualismus der Dinge hin- gewiesen und werde noch spater Gelegenheit finden. auf die Ursachen des Bosen. das eben eine Unvollkommenheit der Welt darstellt. zuriickzukommen. Alles Gute findet seine Neider, seine Hasser, seine Widersacher, sejne natiirlichen Feinde — ganz so, wie die persische und indische Religionsmoral ein zweifaches moralisches Princip annimmt. Auch die alt- griechische Philosophie kennt diesen Gegensatz des. Guten und Bosen, welcher die Schuld tragt, dass in der Welt nichts vollkommen werden will, dass die Vollkommenheit nur eine ideale, nur eine vorgestellte bleibt. — Allein trotzdem fiihrt das sittlich Gute immer ein Stiick Gliickseligkeit mit sich, und ware dies auch keine andere als eine nur den Geist erfreuende, eine rein gedankliche, innerliche. So ist die Wahrnehmung, dass richtige Ideen friiher oder spater zum Siege fiihren, eine hochst begliickende. Ja, es fragt sich, ob nicht gerade dieser Theil der Gliickseligkeit der starkere, dauerhaftere, daher bessere ist, der deshalb auch als ein vollgiltiger Ersatz fiir die ganze Gliickseligkeit angesehen werden darf. — Da nun der Endzweck alles Handelns auf eine solche Befriedigung des menschlichen Gemuthes gerichtet ist, welche eine vollstandige oder eine allgemeine genannt werden darf, Die Sittlichkeit und der Endzweck der Natur. 31 und dies eben jene Gliickseligkeit ist, welche nur durcli sittliche Handlungsweise erlangt werden kann, 'so darf man von ihr mit Recht behaupten, sie sei als der dem sittlich Handelnden vorschwebende Endzweck seines Thuns, alswie eine entferntere Ursache desselben im Praktischen mitenthalten und mitwirkend. , Die Verbindung der Gliickseligkeit steht somit in cau- salem und zwar in einem nothwendigen Zusammenhange mit den Motiven zum sittlichen Handeln. Da auch der Grad der Gliickseligkeit von dem Grade der Sittlichkeit abhangt, und ausserdem zwischen beiden keinerlei Gegensatz vorhanden ist, sondern vollste Harmonie herrscht, so diirfen wir zwischen beiden Begriffen ein analytisch.es Verhaltnis annehmen. — Dies wird noch durch eine weitere Schlussfolgerung bestatigt. Wenn wir uns namlich nach der Ursache des Verhaltnisses fragen, in welchem die Gliickseligkeit und die Sittlichkeit zu einander stehen, und diese beiden Begriffe auf einen weiteren, hoheren Begriff zuriickzufiihren suchen, so ergibt sich als soleh er jener bereits erwahnte Zusammenhang aller Dinge des Seins, welche einem uns zwar unbekannten, aber sicheren Endzwecke zusteuern, den sie alle unter Einhaltung strenger Bedingungen oder Gesetze zu erreichen gezwungen sind. Die Uebereinstimmung mit jenem Endzwecke des Seins und mit der Form seiner Erfullung, welche Form eben auf bestimmte Gesetze, die Sittengesetze, hinweist, bringt Gliick- seligkeit, die Disharmonie mit jenem Endzwecke und dessen Erfullung allerlei moralische und physische Uebel mit sich. Also sind beide Begriffe, von denen eben die Rede ist, in dem Vor- handensein eines hoheren, uns nur dunkel zur Kenntnis gelangen- den Endzweckes aller Dinge, alles Seins und \Verdens wesent- lich enthalten. — Fiir den Begriff des Sittlichen ist diese Zuriickfiihrung von der grossten Bedeutung, da uns dasselbe so nicht mehr als ein specifisch menschliches, sondern als ein allgemeines, als ein \Veltinteresse erscheint. Ausserdem wirft die moralische Untersuchung, wenn sie uber die sociologische hinausgehend das Weltganze ins Auge fasst, durch eine der- artige metaphysische Auffassung Licht auf die iibrigen Gebiete der menschlichen Forschung. Die Etliik reiht sich so in das System der ganzen Philosophie ein und hilft mit am Baue der Welterkenntnis, indem sie das Sein als ein nach einem Endzvvecke ringendes, gesetzmassig handelndes und gesetz- geberisch auftretendes, lebendiges Gar.zes erscheinen lasst, wofiir es bereits in der altgriechischen Physik, aber auch in mehreren Systemen neuerer Zeit angesehen wird. Bei dieser Betrachtung konnte es sich sogar herausstellen, dass bei der 32 Dritter Abschnitt. Geltendmachung eines solchen Endzweckes der \Velt, den, wie gesagt, kein Mensch seinem Wesen nach kennt, sondern nur als existierend vermuthen kann. der Natur nicht die specielle Gluckseligkeit der menschlichen Wesen vorschwebe, dass ihr deshalb die Befriedigung des Menschen durch die Sitt- lichkeit nur als Nebenzweck erscheine. der sich aus dem Anschlusse an den Endzweck von selbst ergibt ; uns, als handelnden, Zwecke verschiedener Art verfolgenden, schwachen menschlichen Wesen mag jene Gluckseligkeit allerdings als etwas Wesentliches, als etwas Grosses und Nothwendiges erscheinen, da wir bei unserm Handeln gluckfordemde Ziele verfolgen. Also nehmen wir dann, der miihsam erworbenen Erfahrung folgend, welche uns in Ermanglung eines helleren Lichtes durch das Dunkel der AVelterforschung mit ihrer matten Flamme voranleuchtet, mit den nachsterspahten Merk- malen des Sittlichen — hier der Gluckseligkeit ■ — dankend vorlieb. Soweit reichen positivistische, auf Erfahrung beruhende Schlussfolgerungen ethischer Erwagung; von hier ab jedoch gehen die Ethiken der verschiedenen Religions-, sowie auch einiger Philosophiesysteme noch viel weiter, indem sie einen bewussten, personlichen Urheber der Moral an- nehmen, der sowohl den Endzweck als auch die Gesetze der Moral aufgestellt habe und fortwahrend iiber deren Erfiillung wache. Ich tiberlasse die Begriindung solcher anders ge- zogener Schlussfolgerungen deren Vertretern, und begniige mich mit der bereits im ersten Abschnitte gegebenen Definition des Sittlichen. Nach dieser ist das Sittliche an der Forderung des causativen Zusammenhangs der Dinge zu erkennen, zu dessen Begleitschaft die Gluckseligkeit der diesen Zusam- menhang fordernden Dinge gehort — ein Nexus, den Kant fiir einen synthetischen ansah und ihn aul seine „a priori nothwendige“, „ durch die Freiheit des Willens hervorge- brachte,” nicht etwa auf empirischen Principien beruhende Anschauung des Sittlichen zuriickfuhrte. 1 ) Das heisst aber soviel, als dass Kant den zugestandenen Causalnexus nicht auf Grund der Erfahrung, sondern infolge seiner transscendentalen Anschauung als einen willentlich nothvrendigen ansehen wollte und sich zu diesem Nexus nicht aus ausseren, sondern aus „reinen“ Vernunftgrunden bewogen fiihlte. Nur dadurch, dass Kant das Sittliche und Angenehme nicht auch fiir ana- lytisch nahm, glaubte er der Gefahr, in den H e doni sm us oder Utilitarismus zu verfallen, entronnen zu sein. Meine ‘) Kant: ebend. 135 u. 136. Der gesetzmassige Charakter des Sittlichen. 33 Zusammenstellung der Gliickseligkeit mit der Sittlichkeit dagegen beruht, wie ich oben gezeigt habe, auf der Zuruckfuhrung beider Begriffe auf einen vorausgesetzten Endzweck der Dinge, aus dem sich wie aus einem nothwendigen und gesetz- rnassigen Nexus durch die Uebereinstimmung der Handlungs- weise mit diesem Endzwecke sowohl die Gliickseligkeit als die Sittlichkeit als nothwendig herausstellt. Dass es einen End- zweck des sittlichen Handelns wie auch in der Welt gibt, d as zu beweisen ist einer spateren Stelle dieses Buches vorbehalten ; dagegen soli im Nachstfolgenden das zweite gewonnene Merk- mal der Sittlichkeit, namlich der gesetzmassige Charakter derselben, erortert werden. — Nach einer allgemeinen Auffassung ist das Sittliche ein regulatives Princip des menschlichenHandelns.Wie eine jede andere menscliliche Thatigkeit, so erfordert auch die moralische ihre Principien, Grundsatze, Normen und Maximen, da man mit einern unbedachten, auf gut Gliick unternommenen Handeln nicht zum erwiinschten Ziele kommt. Die angestrebte Gliickseligkeit ist eines der hochsten Giiter und lasst sich nicht so leichten Ivaufs erwerben. Das blinde Gliick, der Zufall kaiin einem Menschen wohl irdische Giiter in den Schoss werfen, allein diese sind verganglicher Natur wie die Laune der Gliicksgottin selbst; Giiter dagegen, welche dauerhaft sind und ihren Wert trotz aller Widerwartigkeiten behaupten, sind selten, dafiir aber kostbarer und schwieriger zu erwerben. Nach dem friiher Gesagten ist Tugendhaftigkeit der Preis, um welchen die Gliickseligkeit erkauft werden muss. Schon daraus ersieht man, dass die Erlangung der Gliickseligkeit an Bedingungen gekniipft ist. In der Erkenntnis dieses Ver- haltnisses liegt der Angelpunkt fiir das richtige Verstand- nis der Sittengesetze. Es ist eine uralte ethische Ueberzeugung, dass der Mensch seine Sittlichkeit nur im Anschlusse an die Ge set z e der eigenen, d. i. der Menschen- und der Aussennatur. erreichen konne. In diesem Anschlusse oder in der U e b e r- einstimmung des menschlichen Handelns mit den Gesetzen der Natur liegt eine wesentliche Eigen- schaft des praktisch Sittlichen. Dies tolgt aus der Thatsache, dass der Mensch der eine, die Natur der andere Factor des Praktischen ist, von dem der gewiinschte Erfolg abhangt. Wir konnten uns zwar vorstellen — und einige Ethiker behaupten dies auch —, dass der Mensch ein blindes \Verkzeug, ein blosses Instrument der Natur sei, durch welches diese wirke: allein diese Lehre ubersieht die Macht des menschlichen Geistes sowie den Umstand, dass auch der Mensch pro parte rata 3 U Dritter Abschnitt. als ein allerdings kleiner Theil des Seins, als ein mitbe- stimmender Factor desselben angesehen werden muss. Daher stellten die alten Ethiker den Satz auf: gut oder si 11 li c h ist, w a s der N at ur gemass — /.a-ri j Wallaschek: Ideen z. pr Philos. 65 ! ) H Spencer: Thats. d Eth. 305. 3 , W. W u n d t: c>yst. d. Philos. 1869 u. ebenso in seiner Ethik. m Dritter Abschnilt. und Maudsley’s biologisch-ethische Versuche haben in Demokrit, Empedokles, Platon und in der griechischen Iatrik ihre An- fange. — Der Gedanke, dass die Aussenwelt als eine Quelle der Sittengesetze zu betrachten sei, wurde auch von einigen neueren Ethikern wieder ausgesprochen. So von Wallaschek, \velcher bemerkt: . Wir Menschen sind in der Einsicht und Ab- sicht an die Aussenwelt gebunden. “ l ) Ebenso schreibt Schopen- hauer: „Die Ethik muss nothwendig auf irgendwas thatsachlich und nachvveisbar Vorhandenes, sei es nun in der Aussenvvelt oder im Bevvusstsein gegeben, gestiitzt werden.“ 2 ) Besonders instructiv fiir die Aufstellung der sittlichen Principien ist die Geschichte der englischen Ethik, welche vom IB. Jahrhundert bis auf den heutigen Tag die verschiedenartigsten Ausgangs- punkte der principiellen Forschung aufweist und hochst namhafte Vertreter der verschiedensten ethischen Elemente zahlt. In ihr finden wir reichlichst den Naturalismus, Intellectualismus, Conventionalismus, Utilitarismus, Sensualismus, Hedonismus, Biologismus, Sociologismus, die metaphysische, wie auch die monistische Richtung vertreten. Eine ganz merk- wiirdige Stellung nimmt unter allen Ausgangspunkten der praktischen Philosophie Kant ein, der trotz seiner von der empiristischen vollig abgekehrten Richtung eine Fiille der treffendsten Bemerkungen ausgestreut hat, welche sich trotz ihrer Einfiigung in ein hochst kiinstliches System durch ihren Gehalt dennoch Bahn zu verschaffen wussten. Indes zahlen Kant’s praktische Deductionen weit zahlreichere Anhanger als dessen ethisches Princip selbst. Dem Begriffe des Sittlichen als eines Gesetzmassigen steht es nahe, dasselbe auch als eine Norm, ein Muster oder ein V o r b i 1 d tur das mensch- liche Handeln aufzufassen, wie es Striimpell u. A. thun. 3 t ZumSchlusse dieses Abschnittes soli noch zur Vermeidung von Missverstandnissen die .Grenze z\vischen dem Sittlichen einerseits und dem A e st h e t is chen. Re ligi osen und Oekonomischen andrerseits gezogen werden. Ich kann hierinKanfs Unterscheidung zu dermeinigenmachen. Nach Kant ist das asthetische oder, wie er es nennt, das „Geschmacks- urtheil“ bloss ,contemplativ“ 4 ), das religidse Gefuhl von der Achtung beherrscht, da es „Dankbarkeit, Gehorsam und Demuthigung' 1 erfordere 0 ), wahrend das Sittliche jenen beiden Gefuhl en und Urtheilen gegeniiber vor allem einen B Zweck- Begriff 1- zum bestimmenden Grunde hat, da man bei ihm ,am Dasein eines Objects oder einer Handlung Interesse *) Wallaschek: Ideen z. pr. Philos. fi8. ! ;Schopenhauer: Die beiden Grundprobl d. Eth. 1841. S 2KS. 3 ) Striimpell: Vorschul. d. Eth. IZ. ‘) Kant: Kr. d. Urth 49. iKirchm.) s ) Kant: ebend 333. Verschiedene Beziehungen des Sittlichen. 69 habe“ '), — vielleicht genauer ausgedriickt: da man beim Sittlichen den causativen Wert eines Objectes oder Zweckes fiir das Ganze in Anschlag bringen muss. Aehnliche Be- trachtungen liber das Verhiiltnis des „Guten“ und Schiinen “ stellt AVallaschek am. Schlusse seiner ,,Ideen z. p. Ph.“ an 2 ). Man komite obige Gedanken etwa auch in folgender Weise um- schreiben : das asthetische Urtheil fasst den formalen und inhaltlichen Zusammenhang eines Objects ins Auge. das religiose bewertet einen Gegenstand nach dem Gefiihl der Autoritat, welches derselbe einflosst, wahrend das ethische denselben nach dessen Eignung oder Tauglichkeit fiir den Zusammenhang der Dinge des Seins abwagt. Kiirzer konnte man sagen : das asthetische Urtheil fasst den anmuthenden Eindruck, das religiose das durch einen Gegenstand erregte Gefiihl der Verehrung, das ethische den allgemeingiltigen Wert fiir die gesammte Welt ins Auge. Der okonomische Wert eines Objects, den Paulsen unter die ethischen Werte rechnet 3 ), betrifftj ausschliesslich die materielle Geltung desselben fiir das Einzelne und Ganze. Jedenfalls steht das Oekonomische dem Sittlichen in dieser Hinsicht als ein Wertvolles sehr nahe, darf jedoch nicht in so weitem Sinne genommen werden wie das Moralische, welches auch rein geistige Werte in sich befasst. Die Vergleichung des Ethischen und Rechtlichen wiirde eine langere Auseinander- setzung erfordern, die hier nicht Raum finden kann. Auf den Unterschied zwischen dem Ethischen und Sociologischen habe ich bereits in Kiirze hingewiesen. Ich kann dem nur bei- fiigen, dass die Idee der Sociologie der Ethik unterzuordnen ist. ') Kant: ebend. 46. 2 ) W a 11 a s c h e k: ebend 150 £f, Paulsen: Ethik. S. 465, ff. bes. 440 ff. Vierter Absehnitt. Das in der Menschennatur enthaltene Sittengesetz. Der menschliche Organismus wird von inneren und ausseren Impulsen zum Handeln veranlasst. Die Ursachen der inneren Impulse liegen ganzlich in der Zusammensetzung und Function des Korpers als eines lebendigen Organismus ; sie werden uns zunachst durch Gefiihle bewusst. Die Tendenz, der Z\veck sowie selbst der Inhaltderselben — Trieb genannt — ist dem Individuum urspriinglich vollig un- bekannt; erst mit der Zeit und durch Erfahrung lernt dieses das wahre Wesen und die rechte Natur des Triebs kennen. Als einen dunklen, anfanglich unverstandenen D rang. als eine Unruhe kennzeichnen den Trieb sowohl die alteren Psychologen wie z. B. Descartes. Hume, als auch die neueren. ‘) Oft erscheint der Trieb, wie Descartes bemerkt, geradezu z weck wi dr ig, \venn z. B. der Wassersiichtige diirstet. 2 ) - Die Thatigkeit des Triebs ist eine zrveifache: eine positive oder anstrebende, und eine negative oder abwehrende. 3 ) Die positive hat die Befriedigung eines Bediirfnisses. die ne¬ gative die Abwehr eines Unbehagens zum Z\vecke. 4 ) BeiKindern. Idioten, gewissen Kranken und Irren bleibt der Trieb zu- meist auf der Anfangsstufe seiner Unbewusstheit stehen und bevregt deren Trager zu unwillkurlichen, ungehemmten Handlungen; der verniinftige Mensch lernt seine Triebe ziigeln und sucht sich von deren Herrschalt zu befreien. — Als Z \v e c k des Triebs wird sowohl von den alteren als den neueren ‘) Vgl. bei Lotze: Medicin. Psychol. § 264, S. 297—298 die Bescbreibung der Triebgefuhle. 2 ) Descartes: Meditat. VI., S 111 in Kirchmann’s Ausg. 3 ) Descartes: Ueber die Leidensch. d. Seel. II Th., Art 87, S. 68 in Kirchmamvs Ausg. 4 j Maudsley: Physio!ogie u. Patho- ogie d. Seele. S. 187. Die einheitliche Tendenz des Triebs. 4 Psychologen die Selbsterhaltung des Individuuras angegeben. So von Hume, der diesen namlichen Zweck des Triebs bei Thieren und Menschen annimmt;‘) ebenso von Maudsley, der den Trieb fiir eine wesentliche Bedingung des Fortbestandes alles Organischen ansieht 2 .) Indes sind dies nichts als Wieder- holungen der alten peripatetisch-stoischen Lehre vom Triebe - 6pur,. appetitio —, liber welche sehr ausfiihrlich Cicero in De finibus berichtet. 3 ) Als Endzweck des Triebs lehrten namlich die Stoiker : unum esse omnium extremum . . i.dque habere propositum quasi finem, se ut custodiat in optimo sui generis statu. 4 ) —■ Was die Anzahl und Eintheilung der Triebe anlangt, so bat man dieselben a.uf bestimmte' Arten zu bringen gesucht. So kennt H. Spencer dreierlei Triebe: egoistische, altruistische und egoaltruistische. 5 ) Nach Aug. Comte’s Vorgange unterscheiden Einige bloss einen e g o i- stischen und eineii altruistische n Trieb, so W. Wundt, der einen Selbsterhaltung s- und Gattungs trieb kennt 6 ), in Betreff des sogenannten Nachahmungstriebes jedoch schwankt. Ich halte die Annahme einer grosseren Anzahl von Trieben. wie sie G. H. Schneider annimmt, fiir kaum berech- tigt, mindestens fiir unzweckmassig. 7 ) Es geniigt vollkommen. einen einzigen Trieb, den der Gliickseligkeit, anzunehmen. und es fallt durchaus nicht schwer, aus diesem einen alle Erscheinungen des Triebes zu erklaren. Sobald man fiir jedes Object des Triebs eine eigene Art desselben statuieren wollte. wiirde man damit niemals zu Ende koir.men. Denn, was vermag der handelnde Mensch nicht alles zu begehren? Die menschliche Begierde .— die B e g i e r d e ist der nach aussen tretende Ausdruck des Triebs — ist ein Proteus von hun- dert und mehr Gestalten. Sowie es also nur Eine Art Be- friedigung des Begehrens und Strebens gibt, namlich das Gefiihl der Gliickseligkeit, ebenso gibt es nur Einen Trieb. den Trieb nach Gliickseligkeit, der eben unzahlige Formen annehmen kann. Bemerken will ich noch, dass ich den Trieb vom Instjncte. als dem Residuum von Willens- handlungen, scharf getrennt \vissen mochte. Die Annahme hervorr agend er oder besonders auffalliger Formen des Triebs ist jedoch der ethischen Forschung willkommen t) Hume: Enquiry IX, S 99 in Kirchmann’s Ausg. J ) Mauds- Iey: ebend. 136 3 ) Cicero: Fin. III, § 20 tf., III. § 65, IV § 25, V. 8 24s. u. ofters. 4 ) Cicero: Fin. V § 26 s ) H. Spencer: Pnncipien der Psychologie H. Bd., S. 634—706. ‘)W.Wundt: Phys. Psych. II S. 342. Vgl. G. H. Schneider’s Werk: Der menschliche Wille, 1882 — Doch stimme ich Spinora’s eiuzigem »egoistis hem' Triebe (Ethik IV. S. 18—23) nicht bei. 42 Vierter Abschnitt. und diese sollen nicht ubersehen \verden. Von der methodischen Regel der Instantiae praerogativae werde icli ofters Gebrauch machen. Die sittliche Natur des Triebs — diese nachzu- weisen ist meine Aufgabe — hat niemand genauer und besser erkannt als die peripatetisch stoische Ethik. Diese begniigte sich keineswegs mit einer Erorterung seiner Erscheinung, sondern fasste auch dessen Ursprung ins Auge, den sie aus einer un- mittelbaren Fiigung der Natur ableitete, und suchte auch die verschiedenen Arten des Triebes.namentlichauch dessen ethische Seite klarzulegen. Sie begieng dabei den einzigen Fehler, dass sie etwas zu stark die materielle Wohlfahrt des Menschen betonte, iiber derselben jedoch die hohere, liber das vergang- liche Irdische reichende Bestimmung desselben iibersali. Vermoge des Triebs also liebe jedes Lebeivesen sich s e lb st — omne animal se ipsum 'diligit —- bemerkt Cicero, dem man ivegen seines Umgangs mit den besten Vertretern der Philosophie schon etwas mehr Kenntnis der griechischen Philosophie zutrauen darf als einige Moderne es erlauben wollen — und suche sich so gut als nur moglich zu er hal te n. 1 ) AVeiters folgert die Stoa. dass die mensch- liche Natur aus diesem Grande alles ihr Angemessene ans trebe — quod accommodatum est, appetere 2 ). Daher komme es, dass alle Lebeivesen sich vermoge des Triebes durch Ausivahl — selectio — und Ausniitzung aller ihnen gtinstigen Umstande lebenskraftigzuent- ivickeln suche n 3 ) und so dem Ziele der Ver v o li¬ kom mnung sich a n n a h er n. 4 ) Das Verdienst, Satze sol- chen Inhalts durch Beobachtung des Einzelnen als richtig nach- gewiesen zu haben, kann der durch Ch. Darvvin angebalmten und begriindeten Entivicklungslehre nicht abgestritten iverden ; ebenso kann aber die Thatsache, dass der Grundsatz der Zuchtvrahl — selection — bereits bei den peripatetischen und stoischen Physikern lange vor Danvin feststand, trotz aller in England' und Amerika neuester Zeit dagegen vor- gebrachter Versuche nicht aus der Welt geschafft werden. a ) Ein stoischer Satz vom Triebe ist noch besonders anzumerken, namlich dass alle Lebeivesen — animantes — ihre Lebens- zivecke theils gemeinschaftlich, theils individuell verfolgen, dass sie also ebenso naif die Erhaltung ihrer ‘) Cicero: Fia. V. § 24. 2 j Cicero: ebend 3 ) Cicero: rm. III § 20, V § 24. 4 ) Cicero: Fin V § 26. b ) Ich yerweis^ zur Bfgrundung des Gesagten bes. auf Fin. V § 26, was da von den sich selbst ipsa šibi per se — helfenden Pflanzen und deren Vervoll- kommnung vorgebracht wird. Der sittliche Charakter des Triebs. 43 besonderen Art als ihrer Gattung bedacht sind. 1 ) Die socialen Einrichtungen, sowie die allgemeine Menschenliebe hatten also bereits die Stoiker aus dem Triebe abgeleitet. 2 ) Man flndet sonach, dass die Stoiker, denen in diesem Punkte die Peripatetiker und Epikureer nicht viel nachstanden, bereits eine erschopfende Theorie der in der Menschennatur liegenden Sittengesetze geliefert haben, welche die heutige Wissenschaft bloss in richtiger Weise zu verwerten braucht. — Man \vird fragen, worin denn die sittliche und gesetz- massige Wirksamkeit des Triebs bestelie. und wodurch sich derselbe als eine Norm und als ein Z\veck des menschlichen Handelns erweise. Man kdnnte namlicli einwenden und sagen, der Trieb sei Verirrungen unterworfen, was ja die Erfahrung sattsam bestatigt, derselbe treibe auch zu zweck\vidrigem Handeln an, und es bediirfe eines testen, verniinftigen Willens, ihn im Zaume zu halten. Ausserdem kornrnt Kant diesen Vorwiirfen noch mit kritischen Grtinden zuliilfe, indem er den Zweifel ausspricht, ob „an einem \Vesen, das Vernunft und einen \Villen bat, seine Erhaltung, sein \Volilergehen. mit einem Worte seine Gluckseligkeit der eigentliehe Zweck der Natur sei. 1- ' 3 ) Vom Zvveifel an der sittlichen Natur der Gliick- seligkeit, die Kant spater, namlicli in der ,Kr. d. pr. Vr.“, als solche zuzugeben sich genothigt sieht ‘). will ich als von einem bereits im vorangehenden Abschnitte widerlegten sittlichen. Grundsatze liier absehen, und wende mich gegen die iibrigen Einwiirfe. Was den Trieb anlangt, so tragt derselbe das Correctiv und die Remedur seiner Verirrungen und seines Missbrauchs in sich selbst, wenn das Subject nur auf dessen Stimme recht achten will. Ist namlicli der Trieb, der ein Werk der Natur und der Geschichte des Individuums ist, gesund — es gibt bei krankhafter Anlage auch krankhafte Triebe —, so reagiert derselbe von selbst gegen seinen Missbraucli und weist durch die dem Subjecte aus seiner Gebarung er- wachsenden Folgen auf seinen naturgemassen Zweck zuriick. Der Nahrungstrieb z. B. zeigt durch die richtige Ernahrung des Leibes und durch dessen Gedeihen an, dass bei seiner Befriedigung das von der Natur geforderte Gesetz der Massig- keit beobachtet wurde; die Ueberfiillung des Leibes und das aus derselben folgen de Unbehagen so\vie die infolge dessen entstehenden Krankheiten zeigen, dass jenes Gesetz nicht beobachtet worden ist. Das namliche kann man an den i) C i c e r o : V § 25; bes V § 26 8 ) C i c e r o: Fin. 111 § 62, bes' S 63 u. 8 66. 3 )K a n t: Grundlegung z. Metaphys. d. Sitten. Hartenstein’s Ausg. Bd. 4 , S. 24H. *) K a n t: Kr. d p. V. 23. 133 ff 44 Vierter Abschnitt. ubrigen Formen des Triebs aufzeigen, woraus sich der Sat z ergibt: an der Art, wie der Trieb befriedigt wird, undan den Folgen der Erfiillung seines Zweckes zeigt sich d as Gesetz seiner Wirksamkeit. Dass der Trieb von bestimmten Gesetzen beherrscht wird, und derselbe nur ein Ausdruck dieser Gesetze ist, das zeigen, wie gesagt, die Folgen der Behandlung des Triebes. Wird also durch die Folgen die Gliickseligkeit des Subjects vereitelt. so \vnrde der Trieb nicht in richtiger Weise befriedigt, wird der Trieb aber ganz unterdriickt, so kann noch weniger ein e Gliick- seligkeit erzielt \verden. Denn die Triebe unterdrucken, heisst alles Streben unterdrucken, und dies kann un- moglich Gliickseligkeit herbeifiihren, da diese etwas Po- sitives ist — wie schon die etymologische Bildung des Wortes es ■ besagt — und keineswegs etwas Negatives. Mag nun auch der Begriff der Gliickseligkeit. auf deren Er- reichung der Trieb zunachst gerichtet ist, noch so vieldeutig sein, was H. Spencer ja mit Recht bemerkt 1 ), so ist doch schon das Streben nach Gliickseligkeit an sich, das eben aus dem Triebe entspringt, etwas beseligendes, dagegen der Mangel alles Strebens schon an sich ein Unheil, wie Maudsley ebenso wahr als schon bemerkt: „ Aufhoren zu streben ist gleichbedeutend mit Sterben. 22 ) So liegt dann schon im Streben allein ein Stiick Gliickseligkeit. das ganz unmittelbar aus dem Triebe entspringt. Sehen wir uns nun nach den prcerogativen Instanzen des Gliickseligkeitstriebes um und untersuchen wir, \vie weit an demselben die Merkmale des Sittlichen zutreffen. Bei genauerer Betrachtung werden wir flnden. dass an den hervor- stechendsten Arten des Triebs sowohl dessen Zweck als auch Erfolg ein sittlicher ist. d. i. dass beide den causativen Zu- sammenhang der Dinge zu fordern geeignet sind. Wir konnen aus den von den Stoikern, Peripatetikern und Epikureern am Triebe gemachten Analysen drei Haupt- formen desselben entnehmen und zwar : 1. Den menschlichen Selbsterhaltungs- undGattungs- trieb, dessen Impulse sich gegenseitig verstarken und zu einem einzigen Triebe vereinigen, den ich den phyletischen nennen mochte. Darunter verstehe ich den auf die leibliche und geistige Erhaltung der menschlichen Gattung — o'Ar, — gerichteten Antrieb. Diesen Zweck seiner Thatigkeit haben besonders die Stoiker hervorgehoben. ’) Spencer: Thats. d. Eth. 179-180. b Maudslev: Phvsiol. u. Patholog. d. Seel. 1H7. Die Formen des Triebs. 45 2. Den Trieb nach leiblicherund geistiger Selbstbildung und gleicher Bildung Anderer, \velchen ich den Ver- vollkommnu ngs- oder Perfectionstrieb nerme. Der- selbe umfasst und fordert das gesammte Bildungs- und Er- ziehungswesen der Menschheit als ein Mittel zur besseren Erlangung der Sittliehkeit und Gliickseligkeit. Seine eifrigsten Vertheidiger waren die Peripatetiker. 3. Den egoaltruistischen Trieb oder die Selbst- und Nachstenliebe, die ich mit einem Worte die all- gemein-menschliche Sympathie nenne. Darnach liebt jedes Lebevvesen sich selbst und in sich alle tibrigen Mitglieder seiner Gattung. Den Egoaltruismus lehrten, allerdings in der beschrankteren Form der staatlichen Gesellschaft, die Peri- patetiker und Stoiker, in der Form der Freundschaft besonders eifrig die Epikureer, in der allgemeinen Form der socialen Menschenliebe jedoch nebst einzelnen griechischen Philosophen, wie Plato'), besonders die Peripatetiker. 2 ) Die Forderung der allgemeinen. uneingeschrankten Menschenliebe hat nachst dem Buddhaismus erst das Christenthum als religiosen Grundsatz eingefuhrt. Dies sind die drei wichtigsten Erscheinungen des Gliick- seligkeitstriebes. Man konnte nach dem Vorgange der alt- griecliischen Ethiker noch einen Antrieb zur E lir bar k cit — honestuin. decorurn —, zur personlichen W ur de, zu einem zweck- und naturgemass e ingeri c lit eten Leben, auch einen besonderen Thatigkeitstrieb: — ut appetat animus agere semper aliquid neque ulla condicione quietem sempiternam possit pati, sagen die Peripatetiker 3 ) u. s. w. unterscheiden, allein die gena.nnten und violo andere Erscheinungen des Triebs lassen sich unter die obigen drei Hauptarten und unter den Hauptbegrift' des Gliickselig- keitstriebes bringen. Dass es vvirklich nur Ein Trieb ist, dessen verschiedene Erscheinungen wir vor uns haben, das ersieht man aus Versuchen, eine logisch leste Reihe seiner Hauptarten zu entvvickeln. Ich habe 'den Trieb der S e 1 b s t- erhaltung vorangestellt, da der Mensch zunachst exi- stieren muss, um gluckselig zu sein: unmittelbar daran den Vervollkonnunungstrieb angereiht, da die Ausbildung zur Erlangung der Gliickseligkeit fahiger macht, und an die letzte Stelle die allgemeinmenschliche Sympathie gesotzt, welche zur Pflege der socialen Interessen antroibt, durch welche die Individuen sowie die Gattung Mensch ihre Gluek- 1 1 vgl, G i c e r o: Fin. II § 45, wo Platon mit Bezug auf dessen Timaeus z7’b fttr einen echten ,Weltbtlrger‘ erklart wird. -) Cicero: Fin. IV § IH (societas); Acad. poster. 1 § 21. 3 j Cicero: Fin. V g oo. 4(j Vierter Abschnitt. seligkeit am besten und sichersten zu erlangen vermogen. Ich hatte jedoch ebensogut die Selbstliebe voranschickon konnen. wie dies die Peripatetiker' und Stoiker gethan hatten, die ant' Grand des Egoismus ein vollstandiges System der Ethik herstellten. Ebenso konnte man aus der allgemein- menschlichen Sympathie die iibrigen Arten des Triebs ableiten, wie es in ahnlicher Weise Schopenhauer versuchte. der anfangs sein ethisches System auf dem Mitleide aufbaute. Indes, wie gesagt, gerade die Moglichkeit, die Haupterscheinungen des Gliickseligkeitstriebs verschieden zu ordnen, berveist am besten, dass wir es nur mit Einem Triebe und nur mit Einer Grundidee desselben zu thun haben, namlich mit dem der Gltickseligkeit. Soviel ilber die Ein- theilung und methodische Seite des Gegenstandes. Was das moralische .krmen naturale' anlangt, \velches im Triebe liegt. so \vird dem Menschen dasselbe nicht durch den Funken des eigenen Geistes, sondern durch die Erfahrung und die Folgen der Triebhandlungen angezundet, indem der Geist auf diese Art des Z w e c k e s, auf den der Trieb bei seinen verschiedenartigen Aeusserungen hinweist. so\vie der M i 11 el seiner Befriedigung sich be\vusst \vird. Dieses Bewusst- sein wirkt auf den Geist mit der Kraft eines Gesetzes zuriick, und nur eine unzureichonde ethische Anschauung, \velche z\vischen den objectiven Ursachen des Bewusstwerdens und dem sub- jectiven Bewusstwerden selbst nicht zu unterscheiden ver- steht, kann die Erkenntnis des Triebes dem Willen zuschreiben. Der p hy le tise h e Trieb. so wurde oben bemerkt, er- scheint in zwei Formen: als Selbsterhaltungs- und Gattungstrieb, \velche gegenseitig auf einander wirken und ihrem ■ Ursprunge nach unzertrennlich sind. Indem das Individuum sich selbst zu erhalten sucht, sorgt es zugleich unbewusst fur die Erhaltung der Gattung. und umgekehrt. Beide Triebausserungen entspringen einer einzigen Quelle: dem einen Triebe nach der Erhaltung des Menschenge- schlechtes. Die S elbsterhaltung, vielleicht richtiger die individuelle Erhaltung genannt, hat die leibliche. aber ebenso auch die geistige Fortdauer zum Ziele; daher ist dieselbe eine zvveifache, was fur die Psychologie und Eschatologie von grosser Bedeutung ist. Die geistige Selbsterhaltung bestelit in der Sorge fur die Fortdauer des eigenen Gesohlechtes, des eigenen Namens, Ruhrnes und An- gedenkens. In der Sorge fur den geistigen Fortbestand liegt der Unterschied zwischen dem crassen Materialismus, E ir da¬ ni o n i e genannt, und der \vahren, zeitlich unbegrenzten Gluckseligkeit. welche sich nicht mit dem physischen Die Formen des Triebs. Leben zufriedenstellt. Rucksichten auf die mit der Sittlichkeit verbundene Gliickseligkeit konnen daher auch die Aufopferung des physischen Lebens zugunsten des geistigen erfordern. Die Civilisation kennt schon langst hohere Giiter, als es das physische Leben ist, und der Ausspruch des Dichters: „ das Leben ist der Giiter hochstes nicht “ muss nicht als eine pathetische, sondern als eine tiefernste, vollkommen wahre und ethisch wohlbegrimdete Sentenz verstanden werden. Die individuelle Selbsterhaltung ist ein Gebot der Natur, welche duroh den Trieb zum Menschen spricht. Sie bezweckt die Erhaltung dessen, was man in Kiirze die Personlichkeit nennt, in der sich das gesammte Sein und Wollen eines Individuums ausdriickt. Die menschliche Personlichkeit ent- halt soviele Vorziige und eine solche Fiille von Tiichtigkeit. wie kein zweites \Vesen auf Erden. Vor allen iibrigen Vor- ziigen kommt die sociale Bedeutung des Menschen in Betracht. welche Sokrates und Aristoteles mit Recht so nach- driicklich hervorgehoben haben. Eine mit Ideen und That- kraft ausgestattete Personlichkeit ist der grosste Schatz einer Gesellsc-haft, da bekanntlich alles Wohl und Weh derselben von kraftigen, fiihrenden Personlichkeiten abhangt. Wie viel aber ist nicht gegen diese Wahrheit in der menschlichen Gesellschaft schon gesiindigt worden! Gerade die besten und ntitzlichsten Menschen fallen der offentlichen Thorheit oder der privaten Rancune zum Opfer. Welcher Schaden wird nicht durch solche Verluste dem Menschengeschlechte zugefiigt! Im Gesetze der individuellen Selbsterhaltung ist die Erweiterung der personlichen Machtsphare enthalten, welche man mit einem andern Namen Individualitat nennt. In der Aus- bildung der Eigentliiimlichkeit liegt zugleich die Biirgschaft fiir die Freiheit und moglichste Selbstandigkeit, fiir die Eh r e und Wiirde, demgemass auch fiir den Charakter und die S e lb s t a c h t u n g der Person. Ohne das Bewusst- sein seiner Individualitat wiirde der Mensch niemals \vohl- geriistet in den Kampi um s D as ein, der ihm durch die Naturverhaltnisse nicht erspart bleibt, eintreten konnen. Doch muss dieser Kampf, soli er sittlich bleiben, nur zum Zwecke der Nothwehr und Selbstbehauptung, nicht zu Eroberungs- z\vecken nnternommen werden. da solche fiir das Individuum sehr gefahrlich werden konnen und unmoralisch sind. Ein grundsatzlicher Kampf „Aller gegen Alle“ liegt daher nicht in der Tendenz des phyletischen Triebes. Indem das Individuum tur seine Existenz und seine Fortdauer eintritt, fordert es auch den Fortbestand der Ge- sellschaft, dadurch auch die Fortdauer der ganzen 48 Vierter Abschnitt. Ga t tun g, da diese aus Individuen besteht. Die Tendenz des Gattungstriebes liegt, wie dessen Erfolg zeigt, in der FortpflanzungdesMenschengeschlechtes, und kann, verniinftiger- \veise betrachtet, auch keinen anderen Z\veck haben als diesen. Damit sind ihm auch seine natiirlichen Grenzen und Gesetze bestimmt, die nur ein unverniinftiger, die eigene Existenz unter- grabender und bedrohender Missbrauch iibersehen kann. Aus diesem Gesicht-spunkte betrachtet, werden die Fehler und schweren Versiindungen gegen den Geschlechtstrieb begreiflich. Die verderblichen Folgen dieses Missbrauchs bestatigen das Gesagte in ganz augenfalliger Weise. Ebenso er- scheint die Monogamie von diesem Standpunkte aus ver- standlich. Die Polyandrie und Pol y g y n a k i e sind Ausschreitungen des Geschlechtstriebs, welche ebenso dem Zwecke des Gattungstriebes als der individuellen Erhaltung ent- gegenarbeiten, da solche Missbrauche erfahrenermassen einer- seits die Fortpflanzung und Erhaltung der Gesellschaft, andrerseits den Bestand des Individuums gefahrden. Evidenter als beim Geschlechtstriebe kann die Unsittlichkeit d. h. der Widerspruch gegen die Forderung der Gliickseligkeit nicht hervortreten. Die zweite prferogative Form des Gluckseligkeitstriebes besteht im Drange nach leiblicher und geistigen 1'erfection. welche am deutlichsten an den Fortschritten der Menscliheit wahrzunehmen ist. Es wiirde iiberflussig sein, im Einzelnen auf die grossen Gulturunterschiede hinzu\veisen, welche sich durch das immer weitere, wenn auch mitunter langsame Fortschreiten der Bildung innerhalb der ]\lenschheit ergeben haben; ich will lieber auf das Wesen der Perfection und deren Zusani- menhang mit der Gliickseligkeit hinvveisen. Die menschliche Perfection vollzieht sich unter dem Drange der Bediirfnisse und hangt von der Fahigkeit der Lebewesen ab, sich an das Milieu zu accommodieren, wie die Vervollkommnung schon die alten Ethiker erklarten. Unter welchen Bedingungen sonst dies geschieht, das des genaueren zu erortern ist hier nicht der Ort. Jedenfalls zeigen hinsichtlich der Accommodation nicht alle Menschen gleiches Geschick und erzielen daher auch nicht gleiche Erfolge. Die zufallige Gunst der Ver- hiiltnisse kommt hierin wie in allem dem strebenden Menschen zuhilfe, obschon sich im grossen Ganzen ein causaler Zu- sammenhang z\vischen der Bildung und der Glfickselig- keit nicht leugnen liisst. Denn im allgemeinen gilt so- \vohl iiir die Individuen als fiir die Gesellschaften der Satz: je hoher und allgemeiner die Cultur und Civilis ation, desto grosser die Segnungen der Der Trieb und die Perfection. 49 Wohlfahrt. Ich fuge jedoch diesem Satze die nothwendige Clausel an, ohne welche derselbe seinen Wert verlieren wiirde, indem ich sage: doc h muss die Cul tu rund Civilisation von sittlichem Geiste erfiillt sein. Denn es gibt auch eine Scheincultur und eine Scheincivilisation. vrelche arger ist als jede Barbarei, da in dieser wenigstens noch einige natiirliche sittliche Antriebe fortwirken, wah- rend in der Scheincultur auch diese sittlichen Reste ver- schwinden und dem Raffinement den Platz iiberlassen. Auf diese \Veise lost sich der Widerspruch, in welchem die that- sachliche Gliickseligkeit zur Bildung zu stehen scheint, aber in Wirklichkeit nicht steht und stehen kann. Es ist mitunter geschehen, dass ein feiner und geriebener Gauner unter den ehrlichsten und gebildetsten Menschen einen Trick mit Gliick durchfiihrte; doch kommt dies nicht auf Rechnung eines etwaigen grundsatzlichen Widerspruchs zwischen der Bildung und Gliickseligkeit, — wie iiberdies ein Gauner nicht ,,gliick- selig“ genannt zu werden verdient —, sondern auf das Conto eines Betrugs zu stehen, gegen den niemand gesichert ist sowenig als gegen irgendein Ungliick. Wenn mitunter Gebildete gegeniiber Ungebildeten im Kampfe ums Dasein erliegen, was ja vorkommen mag, so liegt die Ursache dessen anders\vo als in der Bildung oder Einsicht, vielleicht in gewissen Defecten des Charakters, oder in gewissen mangel- haften Anlagen des Geistes, oder im bosen Zufall. Wollteman den causalen Zusammenhang zwischen der Gliickseligkeit und Perfection a.ufheben, so miisste man den Factor Bildung aus dem praktischen Leben einfach streichen. Da wiirde man bald sehen, zu welchen Consequenzen dies fiihrt. Es wiirden sich daraus die schreiendsten Widerspriiche gegen die Erfahrung herausstellen. — Mit Recht dringen daher Staaten und Gemeinden auf eine moglichst allgemein zugang- liche und moglichst gute Schulbildung und Erziehung, weil der Einfluss dieser Institutionen auf die Sittlichkeit und Gliickseligkeit ein evidenter ist. Einige Ethiker scheinen in der Perfection schon den Endzweck der Sittlichkeit selbst zu erblicken; doch darf aus der stetigen Perfection auf nichts weiter als auf ein Streben nach praktischer V o 11- kommenheit geschlossen werden, welche selbst wieder hoheren Zwecken — welchen, das wissen wir Menschen nicht — dienstbar ist. Indem ich noch bemerke, dass der Thatigkeitstrieb als Quelle der Arbeitsamkeit. des Fleisses und aller gewerblichen und okonomischen Reg- samkeit am besten der Perfection unterzuordnen ist, obwohl derselbe auch aus der Selbsterhaltung sich ableiten liesse, 4 50 Vierter Abschnitt. habe ich, wie ich glaube, das iiber den menschlichen Fort- bildungstrieb Nothige angefuhrt. Die dritte Hauptart des Triebs aussert sich als a 11- g e meinm ens c h lich e Sympathie. Sie regelt die socialen Verhaltnisse der Menschen unter einander. Ilir charakteristisches Merkmal ist die Vorstellung und Behandlung des Mitmenschen als\vie seines eigenen Ich, daher passend Egoaltruismus genannt. Man hat die Aeusserungen des Triebes auch M en s chlichkeit oder Humanitat schlecht- weg genannt; allein der Mensch schliesst zwar zumeist den Mitmenschen in seine Sympathie ein, kann jedoch ebenso auch nichtmenschlichen Wesen, lebenden wie leblosen, z. B. gewissen Thieren, Pflanzen, Kunst- und Naturgegenstanden seine Sympathie bezeigen. Wir konnen mit einem Torso, mit einem vom Blitze gespaltenen Baume, mit einem ver- wundeten Thiere ebensogut Mitleid empfinden als mit einem Menschen. — Ich brauche kaum zu beweisen, dass der Begriff des Sittlichen gerade auf die Sympathie eine besondere An- wendung findet. Wenn Kant die „ sympathetische Sinnesart" deshalb fur kein allgemeingiltiges sittliches nGesetz^ anerkennen will, weil dieselbe keinem allgemeinmenschlichen „Bedurfnisse“. sondern wohl der „Neigung“, aber nicht dem reinen prak- tischen Willen entspreche *), so \vird ihm kaum jemand in seiner Beweisfuhrung folgenund beistimmen konnen. Der Wider- spruch Friedrich v. Schiller’s, der Zeitgenossen Ivant’s iiber- haupt, sowie der nachfolgenden Zeiten gegen eine solche Auffassung der Sympathie kann uns schon als ein zureichen- der Gegenbeweis dienen. Wenn die allgemeinmenschliche Sympathie in der M i t- freude an fremdem Gliick und im Mitleid mit fremdem Ungluck besteht, so entspricht sie ohne Zweifel einem all- gemeinen Bediirfnisse des menschlichen Gemuthes. Denn sein Wohl und Weh mit Andern zu theilen ist eine Herzens- angelegenheit des Menschen. Fur den Menschen ist der interessanteste Gegenstand der Mensch selbst; denn im Mit¬ menschen erblickt sich jeder wie in einem Spiegel. „ Was den Mitmenschen trifft, das kann mich, kann jeden von uns treffen”; aus dieser Ueberlegung. entsteht ein Solidaritatsgefuhl Aller.. dessen Devise lauten muss : „Einer fur Alle, Alle fur Einen.“ Die Kunde vom Ungluck Anderer betriibt jedes fiihlende Menschenherz. Namentlich Ungluckliche finden mehr Sympathie als Gluckliche. Menschen, die sich in einer kritischen Situation befinden, erregen unser Mitgeftihl. sobald sie gerettet sind. ’) Kant: Kr. d. p. V. 40. Die allgemeinmenscbliche Sympathie. 51 unsere Mitfreude. Der Hauptreiz aller Erzahlungen liegt in der Schilderung gefahrvoller Abenteuer. In der egoaltruistischen Vorstellung liegt der Grand, dass tragische Scenen anf der Biihne unser Gemiith so tief ergreifen; denn im leidenden Helden erblickt der Zuschauer sich. selbst. Die allgemein- menschliche Sympathie ist die Ursache der peinlichen Ge- fuhle, die sich des Zuschauers einer Hinrichtung und des Lesers einer Hinrichtungsscene bemachtigen. Dabei wird unser JNTervensystem tief erschtittert, und schon dieser Grund spricht fiir die Aufhebung der Todesstrafe, da so viele Unschuldige durch dieselbe in Mitleidenschaft gezogen werden. Am leb- haftesten aussert sich die Sympathie in der Form der Liebe, und zwar zunachst der Ascendenten zu den De- scendenten. Im Kinde erblickt die Mutter ihr eigenes Ich. Hier sehen wir die Selbstliebe und die Liebe zum Andern unzertrennlich verbunden und zu Einem Gefiihle verschmolzen. Aehnlieh in der E h e, ahnlich in der Freundschaft. Aus der Verwandtenliebe hat sich nach der richtigen An- schauung der Stoiker die allgemeine Menschenliebe entwickelt. 1 ) Auch das kraftige sociale Gefiihl einer abgegrenzten Gesejl- schaft zeugt von dieser Sympathie. Die allgemeinmenschliche Šympathie wird auf verschiedene Ar ten erklart. Ich glaube nicht zu irren, wenn ich die¬ selbe unmittelbar aus dem phyletischen Triebe ableite und fiir eine Conseguenz desselben halte. Als die starkste Trieb- feder des Mitgefiihls erscheint mir die gemeinsame A ta¬ st a m mu n g des Menschengeschlechtes, der Monogene- t is mu s, fiir welchen mehr Grande sprechen als fiir den Polygenetismus. 2 ) Die bisherigen Resultate der K r ani o s k op ie, auf welche die Anthropologie so grosse Stiicke halt, sind noch unzu- reichend, um in dieser Frage zu entscheiden oder etwa dem Polygenetismus als Stiitzen zu dienen, da es nach R. Virchow’s und Med. Dr. v. Ihering’s Urtheil unmoglich, ist, aus vor- gewiesenen Schadeln mit Sicherheit auf die Race zu schliessen, welcher der Schadel entnommen sei. Die Abveichungen in den Schadel- und Gesichtsformen beweisen fiir den Poly- genetismus nichts, da solche Unterschiede innerhalb derselben Racen, ja mitunter zwischen den Ascendenten und Descen- denten sowie Agnaten derselben Familie vorkommen. Die Ursachen solcher Abweichungen sind hochst wahrscheinlich, *) Cicero: Fin. III. § 62. 2 j vgl. die Zusammenstellungder Grlinde fiir und wider bei Jo h. Ranke: Der Mensch. 1887. II Bd. 231 ff. Kant war Monogenetist, vgl. dessen Schrift: Von den verschisdenen Racen ■der Menschen. S. W. 2. Bd. 435. 4 * 52 Vierter Absehnitt. wie die Mediciner glauben. in den Fotusbildungen und Ent- wicklungen zu suchen. Die Pigmente der Haut und Cornoa. die Querschnittsformen des Haares, die \Veiten des Foramen magnum, die Synostosen. die Kopfniihte und ihre Formen, die Prognathien, die Dolicho- und Brachykephalien u. a. D. sind Abweichungen vollig secundarer Art, da alle die genannten, oftmals fiir „typisch“ ausgegebenen Formen auch innerhalb derselben Tribus. vorkommen. wenn auch nicht in gleich grosser Ausdehnung!). Kurz, die bisherigen Resultate der anatomischen, physiologischen und psychologischen Forschung liber den Menschen reichen nicht aus, den Polygenetismus zu sttitzen, \vahrend der M on o g en e t i s mu s last keiner Beweisfuhrung bedarf, fur den namlich, der die Menschen- racen nicht etwa nach ihrer Farbe oder nach ihrer Sprache unterscheidet. Es gibt hundert und tausend Ursachen und Einfltisse, durch welche der Urtypus eines und desselben Volksstammes im Laufe der Zeit verandert und sich selbst unahnlich \vird. — Aehnlicher Weise leitet Schopenhauer wider Cassina das Mitleid aus dem menschlichen Monogene- tismus ab.' 1 2 ) Dass die unwillktirlich sich aussernde allge- meinmenschliche Sympathie aus der „Phantasie“ stamme und kiinstlich erzeugt werde, sucht Schopenhauer ebendort zu widerlegen. 3 ) Fiir einen unmittelbaren Ausfluss des ego- altruistischen Triebes sieht sie H. Spencer an 4 ). Romberg ftihrt sie auf eine „Association der Affecte" zuriick, da schon die blosse Vorstellung fremden Leids Mitgeftihl hervorrufe. Diese „Association“ sei so machtig. dass sie einen ^Ienschen vom Unrechte wider Andere zuriickhalte, eine Ansicht, die in der englischen Ethik zuerst von Dav. Hartley aufgestellt 5 ), spater von H. Spencer verfochten wurde.°) Doch scheint mir die einfache ^RefleKion 2 und Association “ nicht machtig genug, um Mitgeftihl hervorzurufen. Wir konnen augenschein- lich geheuchelte Thranen ansehen, ohne dass diese uns riihren; um Mitgeftihl zu empfinden, miissen wir mit den leidenden ocler sich freuenden Personen gleichartig denken und die Ursachen ihrer Stimmungen als wahr und bemitleidens- vrert anerkennen. Dass es eine Ab- und Zunahme des Mit- 1 ) Oesterreichs hunte Volkervcrtretung in der Armee liefert hievon intrressante Proben; man kann in ihr alle Vblkertypen der Erde vertreten finden. — Damit stimmt R. Virchow’s Bemerkung, dass »neger- und mongoloide Personen in Deutschland gar nicht schwer zu entdecken seien% ilberem (Archiv f. Anthropolog. 1888. } 8. Bd. S. 12). J ) Schopenhauer: Die beiden Grundprobleme der Eth. S. 215 — 216. ) ebend. 250 253; vgl 272 — 273. 4 j H. Spencer: Princip, d. Psychol. Bd. II. S. 684- 706. 5 ) W. Wnnd t: Ethik 1886. S. 284. 6 ) H. Spencer: Thats. d. Eth. 133. Egoismus und Altruismus. 53 gefiihls in der menschlichen Gesellschaft gibt, ist nicht zu leugnen. Was an urspriinglichem Stammgefiihl mit der Zeit verloren geht, muss die gesteigerte Civilisation er- setzen. So bemerkt Schopenhauer: „Mit der Steigerung der Intelligenz halt die Empfanglichkeit iiir die Leiden Anderer gleichen Schritt. “ ‘) Manche denken zwar dariiber anders, doch bleibt es eine Thatsacke, die auch Voltaire hervorhebt, dass mit zunehmender Cultur und Civilisation auch die Zahl der humanitaren Anstalten zur Linderung des mensch¬ lichen Elends zunimmt. Sehr richtig scheint mir Steinthahs Bemerkung, dass die Menschheit dureh ethische Erziehung .zu ..realer geistiger Einheit“ gefiihrt werde, dadurch aber zugleich zu wahrer Humanitat. 2 ) Descartes’ Ableitung des Mitgefiihls schwankt swischen dem Princip des Egoismus und Egoaltruismus. 3 ) Spinoza kennt nur ein interes- siertes Mitleid; Kant erklart die „Menschenliebe“ nur als „Pfiicht“ und „ Schuldigkeit aus reinem Willen“ 4 ) da er jede sjmrpathetische Gefiihlsregung fiir eine „Lust“, die nicht ethischer Natur sein konne, ansah. — Aus dem Egoaltruismus entstelien dureh Differencierung zwei Richtungen, die mit einander in Conflict gerathen konnen: der absolute Egoismus und der absolute Altruismus. Keiner der beiden ist, getrennt von dem anderen, sittlich, ver- bunden und in Correlation zu einander gebracht, machen sie die Handlungen sittlich. Es gibt daher einen sittlich gesun- den und einen sittlich ungesunden Egoismus und Altruismus. Der ungesunde Egoismus fiihrt zur Selbstsucht, der ungesunde Altruismus zur Erniedrigung und zur Vernachlassigung seiner selbst. Die praktische Philosophie hat eben die Aufgabe zu zeigen, wie beide. Gefiihle, zur Norm des Handelns gemacht, ein sittliches ,6ut inabstraeto" fordern. das der ganzen Gattung Mensch dureh Pflege ihrer Wohlfahrt zustatten kommt. ■’) — Der Trieb, so wurde im Eingange dieses Abschnittes bemerkt, aussert sich auch in negativem Sinne, und zwar in den Gefiihlen der Reue, des Abscheus, der Scham, der Gewissensbisse u. a. Gefuhlsregungen, welche von jeher fur eine warnende und strafende Stimme der Menschennatur galten. Vielleicht sind gerade solehe Gefiihle die starksten und machtigsten Hebel der Sittlichkeit. ') Schopenhauer: Die beid. Grundpr. 256. h Steinthal: Allgem. Eth. 427. 3 ) Descartes: vgl. Ueb. d. Leid. d ; Seel. III Th. A_rt. 166 (128 in Kircbmann’s Ausg.) u. II Th. Art. 82, S. 61. 4 ) Kant: Kr. d. p. V. 99. 5 j W a 11 a s c h e k : Ideen z. pr. Ph. 64—65. 5i Vieiter Abschnitt. Eine zweite, dem Triebe theihveise beigeordnete Art des in der Menschennatur residiorenden Sittengesetzes besteht in der W a h r n e h m u n g und 1 o gi s c h e n Denkkraft. Die Handlungsweise des Menschen wird namlich nicht bloss von Bewegungen des Triebes. sondern auch von der Ein- sicht in die realen Verhaltnisse beherrscht. Dies geschieht durch die objective Welterkenntnis. Andrerseits wieder unterliegt das Handeln den unerbittlichen Gesetzen der begrifflichen Uebereinstimmnng oder des \Viderspruches in den Zwecken und Mitteln, denen sich ausserdem die Macht der logischen Schlussfolgerung zugesellt. Es \vird sich spater noch Gelegenheit finden, von diesen im Verstande liegen- den. das sittliche Leben machtig beherrschenden Sittengesetzen zu sprechen. Theihveise stehen iibrigens auch diese Gesetze, wie Hume bemerkt, unter dem Einflusse des Triebes. Um das in der Menschennatur enthaltene Sitten- gesetz voli und ganz zu verstehen, musste man alle psycho- logischen, logischen, anthropologischen, padagogischen, hygieni- schen, medicinischen und diatetischen Beobachtungen vor sich gesammelt und geordnet haben. Zu diesem Zwecke musste eine eigene Wissenschaft der Seelenhygiene geschrieben werden, welche die Ethik aus sich selbst nicht zu liefern vermag. — Ich glaube nun gezeigt zu haben. dass der Trieb und derVerstand das in der Menschennatur thatige Sittengesetz re- prasentieren. Wenn der Trieb entheiligt \vird. so liegt die Schuld nicht an der Natur, \vie Saliust richtig bemerkt, sondern an der menschlichen Handlungsweise, welche auch das Heiligste mit frecher Hand zu verunehren \vagt. Allerdings geschieht dies nicht, ohne dass der Mensch dafiir von der Natur seine Strafe erhalt, die sich in den Folgen seiner frevelhaften Hand- lungen kundgibt. Funfter Absehnitt. Das in der Aussennatur enthaltene Sittliche. Die im vorigen Abschnitte aufgezeigten Sittengesetze betreffen die Menschennatur' als den Sitz des phyletischen Triebes und des Verstandes.; der folgende Absehnitt soli die in der Aussenwelt waltenden Sittengesetze nachweisen. Unter der Aussennatur verstehe ich hier alle jene wirkenden Dinge, welche im menschlichen Nervenapparate Reflexe auslosen, den Menschen abgerechnet, von dessen sittlicher Natur be- reits die Rede war. Aus der Yerwandtschaft der Menschen- und Aussen¬ natur folgt, dass die Sittengesetze beider nicht nur nicht colli- dieren, sondern vollig iibereinstimmen miissen; denn der Mensch ist ein Theil der Aussennatur. Weiters folgt aus der stoff- lichen Verwandtschaft beider Naturen, dass einige unter den beiderseitigen Sittengesetzen ihrer Beschaffenheit und Tendenz nach vollig identisch sein miissen. Unsere nachste Aufgabe soli daher die sein, zu untersuchen, welehe Sittengesetze in den beiden Spharen identisch oder doch unter sich ahn- lich sind und welche von einander abweichen. Die identischen werden dann bloss angedeutet, die von einander abweichenden dagegen naher ausgefiihrt werden. Da kommt vor allem der phyletische Trieb in Betracht. Kennt die Aussennatur einen solehen? Insofern als dieser Trieb auf die Selbsterhaltung seines.Tragers und dessen Gattung abzielt, kommt derselbe der Aussennatur als einem Ganzen wie auch deren einzelnen Theilen zu. Die vernunft- gemasse, unvviderlegliche \Vahrheit von der Unzers tor¬ bar k eit der Materie, aus welcher alle Dinge bestehen, ist ein Beweis fiir die Existenz dieses Triebes. Die Pflanzen z. B. 56 Fiinfter Abschnitt. sorgen unzweifelhaft fiir ihre gonerelle Erhaltung in gleicher Weise als die Thiere und Menschen. Dass die Gestirne und die verschiedenen Welten, welche wegen ihrer eigenen Bewegung und ihrer Fortdauer schon nach der vorgeschrittenen alt- griechischen Physik zu den _Lebe\vesen~ gezahlt wurden — mag man diesen Namen jenen \Velten in dessen stricter oder ervveiterter Bedeutung beilegen 1 ) —. fiir ihre Selbsterhaltung sorgen, diese Ueberzeugung berechtigt zu der Annnahme, dass derselbe Trieb, wenn auch nur seiner Tendenz nach. gleich- falls far die Aussennatur gilt. Was den Perfectionstrieb anlangt, so lasst sich auch hierin ein Parallelismus zwischen der ausseren und rnensch- lichen Natur auffinden, \vas ich spater des naheren zeigen werde. Doch von der allgemeinen Sympathie lassen sich in der Aussennatur nur in der Pflanzen- und Thienvelt Spuren nachvveisen; im grossen Ganzen mag die Herrschaft der Sym- pathie zweifelhaft erscheinen. Das personliche Moment endlich, wenigstens in seiner anthropomorphen Form. muss hier als nur durch eine entfernte Analogie aufzeigbar ausser Be- tracht kommen. Dafur tritt in der Aussenwelt eine Reihe an- derer sittlicher Eigenschaften auf. die in der Menschennatur nur schwach vertreten sind. — Die Aussennatur bietet Stoff zu den verschiedenartigston Betrachtungen. Wir konnen dieselbe von ihrer physikalischen. mathematischen, metaphysischen. religiosen. asthetischen Seiti" betrachten ; allein imrner werden wir an ihr Eigenschaften entdecken, die fiir uns nicht nur belehrend und erhebend. sondern fiir unser praktisches Handeln auch mustergiltig, mass- und gesetzgebend sind. Der ethischen Betrachtung drangt sich vor den iibrigen Eigenschaften der Aussennatur eine gewisse Identitat in der Art ihrer Erscheinungeu auf. Unter Identitat ver- stehe ich zunachst die sich immer gleichbleibende und feste Wiederkehr gewisserErscheinungen. welche dieselben charakte- ristischen Merkmale an sich tragen. aber auch gewisse feste Beziehungen z\vischen den Erscheinungen verrathen. In beiden Beziehungen ist das Princip der Causalitat herrschend. Auf Grund der Identitat vindiciere ich der Aussennatur einen Charakter d. i. eine grundsatzliche. ihrem innersten Wesen zukommende Eigenschaft, sich selbst treu zu bleiben. I d e ir tisch sein heisst nicht bloss stets in gleicher \Veise ver- iahren. sondern auch sich selbst d. h. seinem Wesen consequent ’) vgl. Platon.: Timseus p. 30 A - C, 33 C-34 A, bes. 39 D. Das Princip der Identitat. 57 und treu bleiben, heisst ein Ding sein, das sich vor seinein Innern und nach aussen hin stets als das gleiche gibt. Die Identitat der Aušsennatur tritt uns am auffallig- sten in den Naturgesetzen entgegen. Nach Helmholtz ist unter Naturgesetz „irgendein Vorgang in der Natur . zu verstehen, der sich in allen Fallen unter den gleichen Bedim gungen wiederholt.“ ’) Nach E. Zeller, der diesen Ausdruck mehr logisch als naturwissenschaftlich fasst, ist das Natur¬ gesetz „ein Satz, der universelle Geltung. ftir alle Falle hat.~ 2 ) H. Spencer hat die nach Kant synthetisch genannte Causalitat im Sinne, wenn er in den Naturgesetzen nichts weiter als ,, Gleichformigkeit der Folge und Existenz“ flndet. 3 ) Mit Zu- hilfenahme der Helmholtz’schen und J. St. Milkschen Erkla- rung 4 ) moehte ich unter Naturgesetz die štete Beziehung ein er Gruppe von Erscheinungen zu bestimmten anderen Erschei- nungen verstehen, ohne Rucksicht darauf. welche von diesen als Ursachen, welche als deren \Virkungen zu betrachten seien. Dabei setze ich jedoch voraus, dass die beiden Arten von Er¬ scheinungen gewisse charakteristische und sie vor den librigen unterscheidende Merkmale gemein haben. Der mathematische Calciil stellt diese Merkmale fest. Woher nun die Identitat? — Helmholtz erklart dieselbe ausder ,,Unabanderlichkeit der Ursachen die er „Naturkrafte“ nennt. 5 ) Dadurch, dass die Naturkrafte continuierlich wirken, erzeugen sie in uns die Vorstellung des Gleichartigen und Bleibenden, also Identitat, welche in den Vor- stellungen der Gesetzlichkeit, Gleichformigkeit, Continuier- lichkeit nur ihren aprioren Ausdruck findet. Daher sagt A. Riehl: „Die Gesetzlichkeit ist der Ausdruck der AVirkung der Bestandigkeit auf den Verstand/ 1 ") Aus der Eigenschaft der Identitat schliessen wir auf einen gl e ich f 6 r mig en, c on ti nuierlic hen undfort- dauernden Lauf der Naturereignisse oder auf ein fort- dauerndes Leben in der Natur. Aus demselben schliessen wir auf eine ewige Thatigkeit in der Natur, durch die alle Dinge crhalten und in ihrem Wesen gefordert werden. Also zeigt sich die Natur in der Identitat ihrer Gesetze und in der auf dieser Identitat beruhenden „Arbeit“ — sehr bezeichnend \vird dieses \Vort nicht bloss von der bewegenden Thatig¬ keit menschlicher, sondern audi unpersonlicher AVesen ge- ‘j Helmholtz: Popul. wissenschaftl. Vortragc. 1865. Hit. i. S.1311'. 2 J E. Zeller: Vortrag. u. iVbhandl. 3 Pamml. l»b4 S. iH-b. 3 ) Spen- cer: Thats. d. Eth. bi. 4 j J. St, Mili: Syst. d. ded. u. ind. Log.Buch III, 1. 105 ff. ') Helmholtz: ZurLehre von der Energie.Wiss. Abh.l. Bd. 1882 S. U ff. L A. Riehl: Kritic. II. 25, 321. £8 Funfter Abschnitt. braucht — als ein Vorbild und Muster von Sittlichkeit. Aus der Causalitat aber d. i. aus der nothwendigen Coexistenz gewisser Erscheinungen scliliessen wir auf eine feste C o n- sequenz und Folgerichtigkeit der Naturthiitigkeit. In der gesetzmassigen Folgerichtigkeit und Correlation von Ursache und \Virkung, Grund und Folge erblicke ich das Prototyp der natiirlichen Gerechtigkeit, die sich bei der Schaffung von Folgen nach der Qualitat der That richtet, nach dem Spruche : „Wie die That, so die Folgen. “ In der menschlichen Gesellschaft gilt fur gerecht, \ver unbertihrt von dem Einflusse der handelnden Personlichkeit deren Thaten einzig nach ihren Motiven, Mitteln, Z\vecken und Folgen be- urtheilt. Vermoge der Folgerichtigkeit in der Natur wlrd der Zusammenhang der Dinge ein gesetzmiissiger und geord- neter, daher gefSrdert, was bei Mangel an Folgerichtigkeit nicht geschahe; daher auch ein sittlicher. Infolge der con- sequenten Succession oderOrdnung der Ereignisse hat die Philosophie von jeher die Welt fur einen ,,Kosmos“. d. i. fiir ein geordnetes "VVesen angesehen. Nach Kant ist diese „Ordnung“ allerdings nur ein Postulat der reinen „Ver- nunft“'), Spencer dagegen nimmt sie als durch Erfahrung ausgemacht an und spricht von dem hohen sittlichen Ein- flusse derselben auf das Gemiith des handelnden Menschen. 2 ) Ich finde, dass kein vernunftiges Moment gegen eine Ordnung in der Natur, \vohl aber alle fiir dieselbe sprechen, namentlich die im Begriffe der Identitat enthaltenen eben angefiihrten Corollare derselben. Das Princip der Umsetzung der Kraft dient als ein weiterer Beweis fiir die Existenz einer solchen Ordnung. In der Eigenschaft der Identitat ist ein hervorragendes Sittengesetz enthalten. Die Identitat besagt, dass einDing das ist und bleibt, als was es erscheint, und die tibrigen Dinge wissen, was sie von ihm zu halten und zu erwarten haben. Ohne Identitat ihres Wesens wiirden die Dinge leerer Schein, eitel Luge und Tauschung sein und wiirden nicht als real erkannt. Fiir den Menschen ist die Identitat in den Natur- erscheinungen besonders wichtig, da dieselbe dadurch, dass sie sich dem menschlichen Denken niittheilt, Einheit und Wahr- heit in dessen Vorstellungen bringt. Uebrigens iibertrifft die Identitat der Naturgesetze alle menschliche Consequenz um ein bedeutendes, so dass diese weit hinter der Natur zuriick- bleibt. Wahrend wir auf Grund des Identitatsgesetzes den ‘) K a n t: De mundi sens. atque intell. for. u. princip. Werke 2, S. 424. 2 ) H. Spencer: Grundleg. d. Philos. I S. 505-506. Schlussfolgerungen aus der Identitat. 59 Eintritt von Naturerscheinungen, die als gesetzliche erkannt sin d, mit Bestimmtheit erwarten diirfen, ohne hinterdrein getauscht zu werden, konnen wir auch dem charakterfestesten Menschen gegeniiber nicht das gleiche erwarten. Das geschaft- liche, politische und selbst das gewohnlichste hausliche Leben belehrt nns tagtaglich, dass dem so ist. Ist die Zukunft iiberhaupt schwer zu berechnen, so ist es die Zukunft in den menschlichen Beziehungen zehnmal, hundertmal schwerer. Dies kommt von der Schwache der menschlichen Natur, von der Gewalt der Umstande und von den wechseln- den Stimmungen her, welche das menschliche Gemlith be- herrschen. Jede gute Maschine functioniert regelmassiger als der menschliche Wille. Man nehme dazu die vielen okono- mischen und sonstigen Krišen im menschlichen Leben, durch welche die starksten sittlichen Grundsatze und Entschliisse erschiittert werden. Da es eher von den schlechten als den guten Charakteren gilt, dass sie sich consequent bleiben, so stimme ich zwar hierin Al. Riehl bei, wenn er sagt: , Wir sehen die menschlichen Handlungen mit. ebenso grosser, ja noch grosserer Regelmassigkeit erfolgen, mit wel- cher iiberhaupt verwickeltere Naturerscheinungen eintreten, sobald ihre Bedingungen gegeben sindV) Dagegen mochte ich in Betreff der guten und mittleren Charaktere eine solche Regelmassigkeit bezweifeln. Es kommt gar nicht selten vor, dass Leute, die dreissig Jahre in einem Hause treu gedient haben, im einunddreissigsten eine Defraudation begehen, die kein Mensch voraus berechnet oder nur geahnt hatte. Aehnliche Unregelmassigkeiten sind bei ausgemachten naturgesetzlichen Erscheinungen nicht zu besorgen. Daher bleibt die Natur in ihrer strengen Identitat — soweit wir die Naturgesetze tiberhaupt kennen — ein Vorbild und eine Norm fiir den Menschen. — Die Erkenntnis der Identitat in der Natur fiihrt zu wichtigen Sohlussfolgerungen, die auch fiir eine tiefere Er¬ kenntnis der sittlichen Beschaffenheit der Aussennatur von Be- deutung sind. Durch dieVorstellung einesgleichformigen undcon- tinuierlichen Geschehens kommen wir zum Verstandnisse von Z ei t und R au m; indem wir aber auf die Vorstellungen des Ge¬ schehens und Geschehenen die Begriffe Zeit und Raum zu- gleich anwenden, gelangen wir zu dem Begriffe der Grosse, und indem wir das gleichformige Zunehmen oder Abnehmen der Grossen ins Auge fassen, zum Begriffe der Reihe. Durch den Begriff der Reihe gelangen wir wieder zur Vorstellung der 'j A Riehl: Kriticisraus II 2, 231. 60 Fiinfter Abschnitt. E n .t w i c k 1 ung und dcr mit ihr vervvandten Beziehungen. Doch konnen wir zur letzteren noch auf einem andern Wege gelangen. und dies auf physiologisch-psychologischem. Die Uebung, mag sich diese auf die Muskeln und Nerven oder auf rein geistige Operationen beziehen, beruht auf der Wiederholung gewisser Bewegungen Allein sehen wir uns einmal den Erfolg dieser Uebungen an ! Dieselben konnen. rationell betrieben, zur Ver v o 11 k offlinnu n g gewisser Organe und Functionen des Korpers und Geistes fiihren. Mit dem Princip der Uebung geht somit eine \Veiterentwicklung. und zwar eine Perfectionieru ng des Organismus und seiner -Functionen Hand in Hand. Die Perfection finden wir auch in der Aussennatur, und da wir dieselbe bereits in der Menschennatur als sittlich nachge\viesen haben, so mtissen wir dieselbe auch hier fur ein Sittengesetz erklaren. Haben diese Deductionen aus dem Princip der Identitat fiir die Ethik Bedeutung? — Ich glaube. die allergrosste. Denn sie klaren liber den hochst \vichtigen Begriff der E n t- w i c k 1 u n g auf. Aus dem vorangehenden Abschnitte wissen \vir, dass Entwicklung und Vervollkommnung der mensch- lichen Fahigkeiten , Mittel zur Sittlichkeit und Tugend- haftigkeit sind. Es ist daher nur von Vortheil zu wissen, wie die Vervollkommnung vor sich geht. Nach der eben er- wahnten psychologischen Anschauung wird diese durch Uebung herbeigeftihrt, die Uebung aber vermag dies durch die mit ihr verbundene Anhaufung und Ansammlung der durch sie erzeugten Ivraft. Gewisse Centralstellen der Muskeln und Nerven werden so zu Accumulatoren der K raft, •Fahigkeit und Tiichtigkeit. 1 ) Wie es also scheint. ist die Entwick- lung keineswegs durch die Auslese — selection — allein bedingt , sondern auch durch Kraftansammlung infolge von Uebung. Allein auch die Uebung rnuss wieder durch irgendein tieferes Motiv erklart werden. Was soli nun das andauernde Motiv zur Uebung sein ? Etwa die blosse Ueber- zeugung von ihrer erfolgreichen Wirkung, die man einmal durch Zufall ge\vonnen hat? — Moglich, doch nicht so ganz wahrscheinlich. Zur Constanz der Uebung bedarf es 'starkerer Impulse, zumal wenn diese unbewusster Weise erfolgen soli. wie sie ja meistens erfolgt. Vergessen wir nicht, dass die Uebung zumeist aus Triebimpulsen hervorgeht. Ich finde ein solches Motiv in dem bereits erwahnten Endzwecke des Handelns, dessen Macht sich im Triebe anktindigt. Ohne das ‘) Aehnlich erklaren Roux und Du-Bois-Reymond die Perfection; vgl. A. R i e h 1: Kriticism. II 2, 352. Existenz eines Endzweckes. 61 Drangen nach einem Endzwecke wiirden die Uebung, Kraft- ansammlung, Perfection blind und unbegreiflich sein; durch Annahme der Einwirknng eines solchen Antriebs wird das Streben nach Thatigkeit, die Uebung, ferners die auf die Uebung verwandte Miihe und deren Constanz begreiflich. So wird der erwahnte Endzweck alles Geschehens zur eigentlichen Ursache der Entwicklung. Die Erfullung jenes Zweckes kostet aber viel Zeit, Consequenz und Kraftaufwand, um die demselben im Wege stehenden Hindernisse zu liberwinden. Denn. er- innern wir uns an das im dritten Abschnitte Gesagte: alles Gute. Tiichtige, Vollkommene, Sittliclie iindet seine Wider- sacher, die iiberwunden werden mussen, wenn das Sittliche triumphieren soli., ,.So erklart sich auch die Zeit als ein zur Ueberwindung j en er Hindernisse fiihrendes Mittel, und ist daher keineswegs eine miissige aprioristische Speculation. Wie also dem Menschen bei seinem Handeln, so schwebt der Natur ein Endzweck vor. den sie durch Nebenzwecke d. h. Mittel zu erreichen sucht. Und auf einen solchen deutet die Entwicklung hin; nur geschieht dies in der Aussennatur weit kraftiger, consequenter und ausdauernder als in der kurz- lebigen, schwachen Menschennatur. Wiirde hier, wie man mitunter annimmt, die blosse Notliwendigkeit oder besser gesagt, die blosse Causalitat wirksam sein, so miisste die Entwicklung hochst einformig ausfallen. Ilire Mannigfaltigkeit, die Variation der Formen, zeugt von Mannigfaltig¬ keit der Neb,enzw ecke. Daher sind Entwicklung und Variation correlate Begriffe. Die Existenz eines grossen einheitlichen Endzweckes der Natur kann nur theilweise. ersclilossen \verden und zwar nur aus unzweideutigen Thatsachen einer zweckmassigen und zweckbewussten Thatigkeit derselben. Die Z\veck- massigkeit im Kleinen deutef auf einen Zweck des Ganzen hin. Derjenige Theil der Aussennatur, welcher eine solche zunachst bietet, ist die organische Welt. Ob sich auch in der anorga- nischen dieses Princip vorfindet, ist ebenso schwer zu ver- neinen als zu bejahen. Wir besitzen keinen so ausgemacht sicheren Masstab fur die Zweckmassigkeit, dass wir z. B. an den Steinarten, an den tropfbarfliissigen und gasformigen Korpern die Existenz derselben als sicher annehmen konnten. Sobald wir aber einsehen, dass die Aussen¬ natur ein lebendiges, thatiges Wesen ist, was wir aus den lebendigen Bewegungen und schbpferischen Veriinderungen in ihr entnehmen, dvirfen wir zugleich auf ein zweck- massiges Schaffen schliessen, das sicherlich nicht weniger zweckmassig ist, als das des handelnden Menschen. Andrer- 62 Fiinfter Abschnitt. seits konnen wir in Betreff der anorganischen Natur keine triftigen Griinde vorbringen, dass sie irgendwo unzweck- massig verfahre. Die Naturphilosophie \venigstens hat stets an die Zweckmassigkeit der Gesammtnatur geglaubt. In der organischen Natur dagegen kann die Zweckmassigkeit direct nachgewiesen werden. So liisst die Natur weit mehr Pflanzen- samen entstehen, als ihrer zur Fortpflanzung der Art noth- wendig sind. Dann betrachte man die Bliitenmenge, \velche sie spriessen lasst, um die Frucht umso sicherer zu erzielen. Allein, durch diese Vorsicht beweist die Natur zugleich ihre Schwache; denn sie scheint sich ihres Erfolges nicht sicher zu sein. Ueber diesen ihren Zug bemerkt nun E. Diihring: „ Die Natur darf weder als unfehlbarnoch als allmachtig betrachtet werden.“ ') — Dies stimmt zu jener Ansicht, die ichobenaus- gesprochen habe, dass die Natur, um ihreZwecke durchzufuhren, mit Hindernissen zu kampfen habe, Ebenso auffallend verriith uns die Natur das Geheimnis ihres zweckmassigen Verfahrens im thierischen wie nicht minder im menschlichen Fortpflan- zungsprocesse. \Vie klug und schlau weiss sie die muhsame Kinderaufziehung und Pflege durch die begluckende Gatten- und Kindesliebe zu versiissen, indem sie in den Erzeugern Gefiihle von Lust und Seligkeit erweckt, um sie fiir alle Miihen und Sorgen umso sicherer zu ge\vinnen. Sicherlich konnten die Jungen so mancher Thiere ohne die sorgsame Pflege ihrer Eltern nicht auikommen. Es sieht ganz so aus, als begehe die Natur hierin einen „Trug“, von dem sie E. Diihring wohl vergeblich freizusprechen sucht. 2 ) Es bleibt immerhin ein Trug, wenn auch nur um der Erreichung eines gutgemeinten Zweckes willen. Wie zweckmassig die thierischen Organe einge- richtetsind, hatdiePhilosophie undNaturgeschichte aller Zeiten mit Staunen hervorgehoben. Man lese, um sich von der merk- vviirdigen organischen Einrichtung der niederen Thiergattungen zu iiberzeugen, z. B. John Lubbock’s Schrift: „Die Sinne und das geistige Leben der Thiere"! Allerdings will man, gestiitzt aui Ch. Darwin’s Theorie, die Schaffung dieser merkwiirdi- gen W erkzeuge aui' Rechnung der Selbstthatigkeit und Vererbung der Thiere stellen; allein das setzt eine so hohe Stufe von Umsicht und Intelligenz jener Wesen voraus, wie sie kaum der Scharfsinn und die Phantasie eines Darwin, Wallace, E. Hseckel u. A. selbst besitzt. Die Entstehung jener Zweckmassigkeit durch die eigene Kraft und den eigenen AVillen jedes Lebewesens erklaren wollen heisst dem Thiere nicht ‘) E. Diihring: Wert des Lebens 1877. S. 145. h E. Diili- ring: Wert d. L. S. 156-7. Existenz eines Endzweckes. 63 viel weniger zumuthen als seine Selbstzeugung, was man tibri- gens auch schon versncht hat. Nicht die Mithilfe der Thiere durch deren Accommodierung an das Milieu, wohl aber der Entwurf und die .zweckbewusste Ausfiihrung jener Organe durch deren Trager selbst sei hier in Zweifel gezogen. So bleibt denn zuletzt doch die Natur deren Schopferin. Eine so hohe Intelligenz, wie sie dabei die Aussennatur an den Tag legt, besitzt auch der Mensch nicht im entferntsten. Er ist weit davon ent- fernt, einen zweckmassig fungierenden, lebenden Thiermecha- nismus zu schaffen. „Welcher Mechaniker“, bemerkt W. Wundt, »mochte sich anheischig machen. auch nur eineMaschine zu construieren, welche die mannigfachen, veranderlichen Reflexe eines enthaupteten Frosches nachahmte ? — Unsere rohen Kunst- erzeugnisse werden niemals die Wirksamkeit jener Gebilde, die das vollendetste Product organischer Entwicklung sind, auch nur entfernt nachzuahmen imstande sein.“') Und warum nicht? wird man fragen. — Weil der Mensch nicht einmal zum Begriffe dessen, worin das Leben besteht, ge- langt ist. Im Streite liber die Annahme einer Zweckmassigkeit und eines Endzweckes in der Natur habe ich meine Stellung bereits angedeutet. Ich glaube Spuren in der Natur zu be- merken, die auf einen Endzweck hinweisen, diesen selbst aber zu errathen, halte ich fiir unmoglich. Spinoza leugnete alle Zwecke in der Natur; desgleichen thun es die Ver- fechter der Descendenztheorie. 2 ) Bei dem franzosischen Ethiker Espinas Ande ich die Annahme einer sogenannten »mechanischen Zweckmassigkeit“ — flnalisme immanent au mecanisme 3 ), der auch G. H. Schneider beistimmt. Romanes und H. Spencer erklaren die Zweckmassigkeit aus biologischen „Erregungen“ und „Reizungen“ durch das Milieu, also evolutionistisch. — Niemand verlangt von der Annahme eines Zweckes eine befriedigende Erklarung der Entstehung und Einrichtung eines Organs, niemand von der Erkennt- nis einer thatsachlichen Zweckmassigkeit eine Aufkiarung liber das Wesen des Lebens. Dieses ist bis jetzt ebenso dunkel geblieben als der eigentliche Vorgang in der Materie trotz der Kenntnis vieler mechanischer Gesetze. Indes, wie viele dieser Gesetze sind uns im Verhaltnisse zu den bereits bekannten noch ganz dunkel! Dass die teleologische. Er¬ klarung ihre Berechtigung hat, dafur zeugt auch nichts augenfalliger als die auf dem Descendenz- und Evolu- ‘jW. Wundt: Piiysiol. Psychol. Bd. II S. 408. b vgl. daruber H. Spitzer: Beitrage zur Descendenztheorie. 1886. Ebenso A. R l e h 1. Kriticismus II 2, 333. ff. 3 J Revue phil o s.: 1888 p. 2o it. 64 Funfter Abschnitt. tionsgedanken beraliende, exacte Forschung, in der die Begriffe „Nutzen“, das _Passendste“ und iihnliche eine hochst ivichtige Rolle spielen. 1 ) Und \venn man schon bei der evolutionistischen Forschung auf die mechamschen Vor- gange mit Recht grosses Gewicht legt, so kommt man zuletzt doch immer aui die Frage zuriick: \vozu aber lasst die Materie es zu demselben Resultate komičen? Die Forderung, mit der blossen Nothwendigkeit vorliebzunehmen, ohne eine E i li¬ si cht in deren Wesen zu erhalten, kann dem mensclilichen Geiste nicht geniigen. Dieser verlangt auch Kenntnis ihrer Griinde; Kenntnis von Z\vecken aber ist nur eine andere Form der Kenntnis von Griinden. Daher das Manco in der Descen- denztheorie, abgesehen von deren noch grbsserer Unzulang- Uchkeit, das \Vesen und den Ursprung des Lebens zu er- kliiren. Damit sei aber hier keineswegs der „un b e w u s st e n" Zweckmassigkeits- und Zwecktheorie das Wort geredet. An- gesichts der Leugnung eines Endzweckes der Natur muss der grelle \Viderspruch zwischen der mensclilichen Zwecksetzung und der in der Aussennatur vorausgesetzten Zwecklosig- keit auffallen. \Voher solite denn der Mensch dieselbe bezogen liaben. wenn nicht von der Aussennatur? Oder \virklich nur aus sich selbst? Ich glaube, mit der blossen Anregung dieser Frage auch schon deren Beantwortung an- gedeutet zu haben, vorausgesetzt, dass man den Menschen in die Kette der allgemeinen Causalitat einbeziehen will. Deshalb meine ich, um diesen Theil der Untersuchung zu schliessen : die behauptete Unmoglichkeit, den Zvveckbegriff in die ratio- nelle Mechanik einzufiigen. bedeutet eher eine Unzulang- lichkeit der letzteren als- eine begrihidete Ueberfliissigkeit und Entbehrlichkeit des ersteren. Der Gedanke: Alles ist zwecklos, ist ein verzweifelter. Herz und Verstand verlangen mehr, als der Mechanismus bietet und bieten kann. Soli deshalb das, was er selbst nicht besitzt, nothwendiger Weise nicht existieren diirfen oder konnen? 2 ) Ueber die Zweckmassigkeit in der Natur mochte ich noch zwei Satze aussprechen: erstlich, dass dieselbe k e i n e v o li¬ kom m e n e ist, da auch die trefflichsten Organe noch einer ') vgl. A. Riehl: Kriticism. II 2, 334. 2 ) Sobald man ein Bewusst- iverden des Bediirfnisses zugibt, muss man auch ein bewusstes Suchen nach dessen Befriedigung d. h. das Streben nach Zweck- massigkeit zuaeben. Die hochste Idee des Zvreckes fiihrt zum End- zwecke, dessen Existenz man wenigstens ahnen, wenn schon nicht er- schliessen kann. Je scharfsinniger daher A. Riebl’s Widerlegungen des teleologischen Princips sind (Kriticis. II 2, 5. Cap.), desto mehr macht sich dessen Abgang in der Erklarung der Dinge fuhlbar. Die Perfection in der Aussennatur. ( o idealen Nachbesserung fahig sind, was z. B. Helmholtz von der Einrichtung des menschlichen Auges bemerkt und was ebenso vom thierischen gilt 1 ), und zweitens, dass es sowohl „iiber- lebte“ Organe — survivals — als auch „Riickbildungen“ — replis — von Organen gibt, welche nicht mehr der Art- erhaltnng dienen, aber einst gedient hatten oder an andern Organismen noch weiter dienen. daher keineswegs gegen das Princip der Zweckmassigkeit verstossen. Zweekmassig- keit und Perfection oder Ver v ollkommnung sind correlate. u^zertrennliche Begriffe : je grosser die Perfection, desto grosser die Zweckmassigkeit und umgekehrt. Ich hatte bereits im Vorigen die Uebung als ein Mittel der Ver- vollkommnung aufgewiesen. Sich perfectionieren heisst seine Seinsfunction verstarken, heisst an Kraft, Geschicklichkeit und Sicherheit des Handelns zunehmen, heisst seine und der Dinge Gliickseligkeit fordern, also auch an Sittlichkeit zu¬ nehmen, schliesslich auch den Endzweck der Natur erfiillen. Beispiele von Perfection begegnen uns in der Natur in reichlichster Ftille. Wir brauchen nur die \Vachsthums- und Entwicklungsphasen der organischen \Vesen mit offenen Augen zu verfolgen, und wir erkennen dieses Gesetz sofort. Welche Stufenleiter von Vervollkommnungen macht nicht der PflanZensame durch. bis eine Pflanze als hoher. stammiger, fruchtbringender Baum — sagen wir eine Eiche oder eine Palme — vor uns steht! \Vie verschieden an Form sind das- trage daliegende Ei eines Adlers und die hoch in die Wolken sich erhebende Gestalt des machtigen Aars! Wer nicht die Entwicklungsphasen des hilflosen Eies zum fertigen Raubvogel verfolgt hat, wurde niemals an die Transformation des Eispermas zum gewaltigen Vogel glauben. Und doch ist dieselbe eine Folge des Gesetzes der Perfection, die verschie- dene Namen: Entvvicklung, Transformation, Vervollkommnung u. a. fiihrt. *) Wer kennt nicht die Veredlung der Thier- und Pflanzen- arten ? — Durch die Gunst des Milieus und anderer Einfltisse sehen wir eine und dieselbe Pflanzenart, z. B. das Farren- kraut, besonders die Culturpflanzen, zu ganz auffallender Ent- vvicklung der Form en und Grossen gedeihen. Die Zweck- massigkeitsstufen treten uns hier ganz evident vor Augen: dieselben sind ebensoviele Beweise des Gesetzes der Ver¬ vollkommnung. Man mag, wie es z. B. Spitzer thut, wider den Perfectionismus den Einwand erheben, der ,.b io logi s c h e 3 ) Helmholtz: Popul. wissen. Vortrag. Hft. 2, S. 206. 2 ). vgl. mehrere Beispiele in R. Virchow’s Abhandlung: i eber den fransfoi'- mismus. Anthropologie. Bd. 18, S. 3 ff. (36 Fiinfter Abschnilt. Y o 11 k o m m e n h e i t s b e g r i f f ■ sei bisher in der Wisson- schaft ein „vager“, und ein fester „Masstab zur Ermittlung der organischen Stufenhohe“ in derselben nicht vorhanden: 1 ) allein dies vermag noch nicht den Glauben an die Perfec- tionsfahigkeit der Lebewesen zu erschiittern. da gerade in der grossen Verschiedenheit der Arten und Species sowie ihrer Formbildungen, \vas auch R. Yircho\v bemerkt, der beste Beweis tur den Perfectionismus liegt. 2 ) Was von den Culturpflanzen gesagt worden ist. gilt auch von den Nutzthieren. Klima. Zuchtwahl u. a. Umstande bringen eine ungeheure Mannig- faltigkeit der Formen und Grossen hervor. welche ebenso viele Perfectionsstufen aufweisen. Ob sich in der Trans- formation der anorganischen Natur .die Perfection nacli- weisen lasse. dariiber mochte ich nicht ein bestimmtes Urtheil abgeben. Einige altgriechische Physiker \vollten in der Trans- formation des Urnebels zu festerer Gestaltung — woruber sich auch die Theorie Laplace’s und Kant’s des genaueren verbreitet — einen Beweis der Perfection erblicken. Es lasst sich Einiges dafiir und Manches dawider sagen. — Bemerken will ich noch, dass Steinthal eine eigene .Idee der Vollkommenheit" an- nimmt. 3 ) Aus dem Gesetze der Perfection ergibt sich zugleich das der O e ko n orni e. Darunter ist jene Eigenschaft eines selbstandigen Pings z. B. Organs zu verstehen. durch \velches dasselbe in den Stand gesetzt wird. mehr als eine einzige Function in zweckmassiger \Veise zu verrichten. Ueberhaupt besteht das \Vesen des Gekonomischen in der Erreichung mog- lichst grosser Erfolge bei Aufvvand vonmoglichst geringenMitteln. Dass eine solche Thatigkeit fiir die Forderung der eigenen und fremden AVohltahrt von hohem Werte ist. dass sie somit ihrem Begriffe nach sittlich ist. daran kann nicht gezweifelt werden. Deshalb wird die Oekonomie von mehreren Ethikern unter die Gesetze der Sittlichkeit geztihlt. Nur muss dieser Begriff in einem allgemeinen Sinne und nicht etwa nur auf die Gebarung mit materiellen Giitern angewendet werden. — Die Aussenwelt bietet in ihren organischen Producten eine Flille von Beweisen. dass sie okonomisch verfahrt So verrichtet namentlich in der Classe der niederen Thiergattungen ein und dasselbe Organ die verschiedenartigsten Functionen. ebenso im Pflanzenreiche. Es geniigt, aui dieses Gesetz, welches besonders die Descen- denztheorie auf das genaueste durchforscht liat, einfach hin- zuweisen. bSpitzer: Beitrag. z. Descendth. S. 19. 2 ) R. Virchow: Leb. die Transform. a. a. U. S. 4. 3 ) S t e i n th a 1: AUg. Eth. It5. Variabilitat und Individualitat. 67 Das verschiedene Verhalten der Individuenin Bezugauf ihre I erfectionierung hat grosse -Unterschiede nicht nur unter ihnen seltTst, sondern anch in deren E igen schaf t en zur Folge. Man nennt dies Variabilitat oder Variation. Indi- viduen sowie 'ganze Arten entwickeln sich rascher oder langsamer, mehrseitig oder einseitig, in einer ihrer Gliickselig- keit mehr oder minder entsprechenden Weise. Denn auch der Umstand verdient Erwahnung, dass einige Individuen sich der zweckmassigen Entwicklung in hoherem, andere in minderem Grade annahern: deni? nicht alle gelangen an das- selbe Ziel. Den Zufall bei der Entwicklung aus dem Spiele zu lassen, ware cin Fehler, der nur aus einer vorgefassten vollkommenen Gesetzrnassigkeit entspringen konnte. als m ii s s te n sich alle Wesen nothwendiger Weise gleichmassig eritwickeln. Wie viele verkummern oder bleiben zuriick! Aus dem Streben der.Natur, ihren Zweckgedanken gegen die ihr entgegenstehenden Hindernisse ■durchzuflihren, geht die Perfectionierung, aus dieser die Variabilitat, aus dieser vvieder die Individualitat hervor. Man darf sagen : die Individualitat ist von einer kraftigen und siegreichen Per¬ fectionierung abhangig oder eigentlich deren Resultat. \Vo keine Perfection, da auch keine Individualitat. So ist es im Menschen-, so im Naturleben. Striimpell geht weiter, indem er das Individuelle mit dem Variablen, „Wandelbaren“ iden- tisch fasst *). Der Grand der Individualisierung liegt wohl in der Perfectionierung. Ist doch das Individuelle ein Bleiben- des, Inharentes, welches sich demnach in seinen Merkmalen nur verstarkt. Aehnlich verfahrt Virchow bei der Erklarung der Individualitat 2 ). J. St. Mili leitet sie theils aus „ausseren Ursachen 0 , also aus dem Milieu, theils aus eigener Mitvvirkung des Dings ab, 3 ) H. Spencer aus dem der Natur vorschwebenden ..hochsten Leben welches-der Entwicklung des Dings „ ideal “ vorschwebe. 4 ) Entsprechend meiner Anschauung, nach welcher im Sittlichen zwei Factoren, das Subject und das Milieu zu- sammenwirken, sehe ich auch das Individuelle' fiir eine Re- sultierende dieser beiden Componenten an. von denen das Milieu — die Aussennatur — die starkere ist. An ihrer Seite liegt auch der angenommene Endzweck des Seins und \Verdens. Virchowf der die Sache mathematisch und physio- logisch zugleich auffasst, nimmt die Individualisierung ffir umso grbsser an, je mehr constituierende Theile ein Ding hat. 5 ) Dabei wird jedoch das Perfectionsvermogen dem nu- ') Striimpell: Vorschul. d. Eth. 139. 2 ) R. Virchow: Ueb. d. Transformism. S 3. h J- St. Mili: Syst. d. Log. III Bd. S. 260 b s 261. 4 ) H. Spencer: Thats. d. Eth. 188. 5 ) V i r c h o w.: ebend. 68 Fiinfter Abschnitt. merischen Verhaltnisse der Theile einer Masse proportional gedacht und somit ein gleiches Mass der Perfectionierung angenommen, was den Thatsachen zu widerstreiten scheint. Denn nicht alle Theile vervollkommnen sich in gleicher \Veise, wohl aber hat die speci fische Zusammensetzung der Theile Einflnss auf die Individualisierung. Ueber den sittlichen \Vert der Individualitat brauclie ich nicht viele Beweise beizubringen, da dieselbe ein Corrolar der Per- lection ist, die ich als sittlich bereits aufgezeigt habe. Die hohe Bedeutung der Individualitat fiir die Sittlichkeit ist aller Zeit anerkannt worden; auf ihr als dem Ausdruck des Per- sonlichen beruht der beste Theil des Sittlichen. Darum findet masi tiber dieselbe Vieles in den Schriften Descartes’, Lockes, Hume’s, Leibnitz’s, Herbarfs u. A. niedergelegt. Vergleichen \vir einmal die Principe der Individualitat und Identitat.! Die Individualitat beruht im Grunde auf einer auffalligen Erscheinung des an einem Dinge Specifischen, \vahrend die Identitat in dem Gemeinsamen besteht, das ein Ding mit anderen Dingen theilt. In der Identitat driickt sich die Gebundenheit eines Dings an andere Dinge, in der Individualitat dagegen dessen Einzeldasein d. i. dessen Freiheit aus. In der Identitat d. h. Uebereinstimmung der Dinge unter einander liegt deren Einheit und fester Z u- sammenhang, in deren individueller Entfaltung ihr e selb- standige Kraft und ihr \Ville. Durch eben diese zwei Eigenschaften wird das Individuum befahigt, seine eigene sowie der anderen Wesen Bestimmung umso energischer zu verwirklichen. So bilden die Identitat und Individualitat die beiden Pole desselben festen Zusammenhanges der Dinge, vrelcher zugleich deren AVohlfahrt bedingt. Die Pflege der identischen Interessen erzeugt kraftige altruistische Ge- fiihle und Bestrebungen, die der Individualitat einen kraftigen, gesunden Egoismus. Den causalen Zusammenhang beider hat Th. Ziegler in gedankenreicher Weise ausgefiihrt. ') Also haben wir im Vorangehenden zwei sittliche Principe, die Identitat und die Ent\vicklung in der Aussennatur kennen gelernt; aus dem einen folgt die Einheit, aus dem andern die Mannigfaltigkeit, oder wenn man will, die Unend- lichkeit der Welt. Beide vereinigen sich im Sein zu einem die Welt erhaltenden gemeinsamen Zwecke. — Ob es ausser den genannten Sittengesetzen noeh andere Gesetze solcher Art gibt, will ich nicht mit Sicherheit behaupten noch in Abrede stellen. Zu dem Gesagten mochte 'j Th. Ziegler: Sittliches Sein und VVerden. 1890. S. 36. Die Naturgesetze als Sittengeselze. 69 ich nur den allgemeinen Satz hinzufugen, dass alle Natur- gesetze zusammenge nommen als Sittenge se tze d. h. als Pri ncipien und Muster der Sittlichk eit zu b etra oh ten sin d. Der Begriindung dieses Satzes sei die nachfolgende Betrachtung gewidmet. Das Handeln ist, was schon mehrmals gesagt worden ist, auf Erreichung von Zielen gerichtet. Der Erfolg des Han- delns hangt nicht vom Subjecte allein, sondern auch von den dasselbe begiinstigenden und ermoglichenden Um stan d en ab. Das Wort „Umstande“ bedeutet soviel als Medium oder Aussenwelt. Nun aber gibt sich das in der Natur Bewegliche und Bewegende, Lebendige und Wirkende am deutlichsten in den Naturgesetzen kund. Wenn der oberste sittliche Zweck in der Gliickseligkeit — so undeutlich auch deren Be- griff sein mag — liegt, so herrscht nach dem Gesagten zwischen dieser und den Naturgesetzen ein nicht geringerer Zusammenhang. als ein solcher zwischen der Gliickseligkeit und den Sittengesetzen besteht. So tragen auch die Natur- gesetze den Charakter von Sittengesetzen an sich. Dies der erste und allgemeinste Grund, warum die Naturgesetze ins- gesammt als zum Sittengesetz gehorig zu betrachten sind. Ein zweiter Grund liegt in den Folgen der That, welche die Abhangigkeit des Subjects von der Aussemvelt bekunden. Ware nur der subjective „Wille“ oder nur die „ Vernunft" die Lenkerin aller menschlicher Handlungen und Geschicke, so konnte nie eine von der Person nicht boab- sichtigte Wirkung einer That erfolgen. Allein „die Folgen der Handlungen sind“, wie H. Spencer bemerkt, „Theilerschei- nungen einer nothwendigen Ordnung in der Erscheinungs- welt“.') Solche Erscheinungen aber sind ausser den Sittenge¬ setzen die Naturgesetze insgesammt, welche in ihrer strengen Causalitat dem Subjecte in den Folgen der That als wie eine Art Nemesis entgegentreten. Wir wissen : dass z. B. das Laster der Unmassigkeit fur die Verletzung der Naturge¬ setze seine Strafe empfangt. Aehnlich tragt jedes andere Laster eine nothwendige d. h. durch die Naturgesetze be- dingte. Strafe in sich. Ware dem nicht so. vor den Men- schen allein oder vor dem eigenen, oft sehr laxen Ge- wissen wiirde der Frevler, ferner der zu einem Verbrechen Inclinierende, kurz jedes ethische Subject. \velches bekannt- lich stets mehr oder minder zum Laster und Schlechten hinneigt. niemals zuriickschrecken.DieAngst und Furcht vor den ‘j H. Spenser : Thats. d. Eth. 1879. S. 61. 70 Fiinfter Abschnitt. Folgen, welche jede Storung der Naturgesetze friiher oder spaier mit sich bringt, halt von vielen Siinden, Lastern und Ver- brechen ab. Ahnung und Erfahrung sagen uns also, dass die Folgen der That im Bereiche der Naturgesetze liegen. Setzen wir einmal den Fali. die Naturgesetze wurden nicht als Sittengesetze betrachtet. Da trate uns die Er¬ fahrung entgegen, welche uns belehrte, dass die Handlungen eines Menschen, der die Naturgesetze entweder nicht kennt oder aber verkennt, nichts sind als eine Reihe fortgesetzter Verstosse gegen die Ztveckmassigkeit des Handelns, also Hiiufungen von Fehlern auf Fehler, von Verkehrtheiten auf Verkehrtheiten, von Lastern auf Laster, kurz eine Kette von unsittlichen Handlungen. Aus der Unkenntnis oder Verkennung der Naturgesetze entspringt eine Reihe von Vergehen und Verbrechen; man kennt sie unter dem Namen Vergehungen und Verbrechen aus F ahrlass igkeit. Daher muss jeder- mann, der ein Amt oder eine wichtigere sociale Stellung ein- nehmen will oder einnimmt, die Naturgesetze kennen, weil er sonst unzweckmassig und unsittlich handeln wiirde. Ein Arzt, ein Apotheker, ein Baumeister, ein Rheder. ein Schiffs- capitan , kurz jeder Vertreter irgendeines Amtes oder Ge- schaftes ist ohne Kenntnis der Naturgesetze geradezu un- denkbar. Dass die Kenntnis und Befolgung der Naturgesetze dem Menschen unumganglich nothwendig ist, hat vielleicht nie- mand eindringlicher behauptet als Schleiermacher, der die Kenntnis der Physik fiir eine Art Ethik erklarte, vvorin ihm mit einiger Restriction Wallaschek beistimmt. ‘) Man kann zwar, wie es Wundt thut, Spencer’s Theorie, die Ethik rein biologisch zu erklaren, im Besondern als nicht stichhaltig bekampfen, 2 ) und doch letzterem beipflichten, wenn er be¬ hauptet : „Die sittlichen Grundsatze miissen sich den phy- sikalischen Nothwendigkeiten fiigen.“ 3 ) Diese Worte dliriten ein nicht ganz gliicklicher Ausdruck fiir den echten Sinn derselben sein, der et\va lauten \viirde : die sittlichen Grund¬ satze und die Naturgesetze miissen in vollem Einklange stehen, Lotze betrachtet vom Standpunkte seines , idealistischen Mo- nismus“ die Natur- und Sittengesetze fiir identisch. 1 ) Ihnen schliesst sich Paulsen an. : ) Ein nicht zu verachtender Grund, den Sittengesetzen aueh die Naturgesetze beizuzahlen, liegt in der Unzulang- ’) Wallaschek: Ideen zur p. Philos. S. 129. 2 ) Wundt; Ethik’ S. 345 u. 267. 3 ) H. Spencer: Thats. d. Eth. 68. 4 ) Lotze: Miktokosmus Buch III c. 5. s l Paulsen- Einleit. in d. Philos. 2. Aufl. S. 74 ff. Die Naturgeselze als Siltengesetze. 71 lichkeit unseres Intellects, der durch sich allein das Sitt- liche weder deutlich zu erkennen noch. festzuhalten vermag, sondern einer Nachhilfe Lind eines Correctivs bedarf. Es ist in der That schwer einzusehen, wie die Vernunft aus ihrem eignen Vermdgensstande, ohne den Beiratli der Natur- erkenntnis, auch nur ein einziges sittliches Urtheil zu fiillen imstande sein solite, das Anspruch auf Richtigkeit erheberi kbnnte. Ich werde an einer spateren Stelle nachzuweisen suchen, dass hierin die Natur selbst unserm Verstande zu- hilfe kommt. Man kann aus dem angefiihrten Grunde der lediglich i d e a 1 i s t i s c h e n Ethik den Vorwurf nicht ersparen, dass sie sich boi der Concipierung ihrer Sittengebote auf einen luftigen Untergrund stellt, \venn sie ohne „Befragung der Natur ", nur so aus sich selbst einen Codex der Moral auszu- kliigeln versucht. \Vo bleibt da die nothwendige Bestatigung ihrer inneren Wahrheit und die Wegweisung fur den ausseren Vorgang des Handelns ? Sogar Kant musste sich zur Zeit, als er bereits fur sein formalistisches Princip schwarmte, eingestehen, dass die „reine speculative Vernunft ; an der ..grbssten Unzu- langlichkeit" leide und diese „ sogar mit Beihilfe der grossteu Naturerkenntnis" nicht zu beheben vermoge. 1 ) Daraus zog er jedoch den unrichtigen Schluss, auf die Suche nach einer „praktischen Vernunft" auszugehen. wobei er den „ inneren Richterstuhl" der Moral, 2 ) die r Richterausspriiche des Gewissens“ 8 ) und dergleichen fand. Dadurch aber gi^ng Kant selbst irre und 'fuhrte auch die n idealistische" Moral auf falsche Bahnen, so dass sich diese zu dem Paradoxon verstieg : ,,Die Ethik darf iiberhaupt ihre Satzo nicht der Er- fahrung entnehmen" , 4 ) einem Gedanken, den eben Kant durch seine Verurtheilung des ^Emjiirischeri" angebahnt hatte. 5 ) Indes konnte Kant, der in der ,Kr. d. p. V.“ das Wesen des Sittlichen in einer gewissen rein , formalen “ Be- schaffenheit des menschlichen Handelns suchte, nicht umhin, die Naturgesetze mindestens als Muster oder T y p e n tiir das handelnde Subject. gelten zu lassen. Er bemerkt: -Das Naturgesetz liegt allen seinen (des Subjectes) gewohnlichsten, selbst den Erfahrungsurtheilen immer zugrunde ... \\ enn die Maxime der Handlung nicht so beschaffen ist, dass sie an der Form eines Naturgesetzes iiberhaupt die Probe halt. so ist sie sittlich unmoglich". 6 ) Kannt nennt dies ebendort >) Kant: Kr. d p. V. 176 2 i Kantiebond. ebend. 118. 4 ) Steinthal: Allar- Etb. S. HO 1—302. P- V. 22 u. pass. 6 Kant: ebend. 84. i82. 3 ) Kant; s ) Kant: K. d. Fiinfter Abschnitt. den T y p u s der Naturgesetze. Dass das sittliche Handeln den Charakter der „ Uebereinstimmung der Natur und der Sitten K , der sinnlichen und intelligiblen „Naturordnung“ an sich tragen solle, geht im Grande ant' dasselbe hinaus, namlich dass die Naturgesetze auch meritorisch Prototypon der Sittlichkeit abgeben. 1 ) Allerdings postuliert Kant zur Perfectionierung einer solehen Uebereinstimmung die Fii- gung eines r heiligen Urhebers“ der Naturgesetze. Gottes.' 4 ) Dass Kant. der einer Erklarung der Naturgesetze als Sitten- gesetze so nahe stand, dieselbe nicht aussprach, daran scheint ihn das in der Welt vorhandene „Uebel" gehindert zu haben, welches er fur eine Unvollkommenheit der lediglich durch Naturgesetze bestimmten Aussenwelt ansah. 3 ) Jeden- falls dachte Kant in diesem Punkte nicht consequent; dies zeugen seine Griinde fur und wider die Eigenschaft der Natur¬ gesetze als Sittengesetze. 4 ) Indem also Kant jedes „ materielle u Princip in der Ethik perhorrescierte. stellte er jenes bekannte. rein _for male' auf: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kbnne.“ ,v ) Diese von Kant aufgestellte, sattsam angezogene Regel macht dessen Ethik zu einer rein f o r m a 1 i s t i s c h e n. da ihr jeder Himveis auf die Ziele und Zwecke des Handelns fehlt. \vas in der ethischen Literatur schon zur Geniige nachgewiesen ist. An Gegnern der T h e o r i e, dass die Naturgesetze Sittengesetzen gleichzuachten seien, hat es weder vor Kant noch nach ihm gefehlt. So z. B. hat Sokrates die Ethik ganz fur eine Ertindung der Menschen angesehen und dachte sich dieselbe ungefa.hr so entstanden, wie ein Kunstwerk aus der Hand des Meisters hervorgeht. Bekanntlich hat Sokrates die Physik aus der Philosophie und Ethik verbannt, dagegen die Mantik und den Orakelunfug als vollberechtigt in derselben belassen. 6 ) Er glaubte, zur Ethik bediirfe es lediglich des Studiums der biirgerlichen und allgemeinmenschlichen Ver- haltnisse. Aristoteles war hierin Sokrates’ treuerer Schiller als Platon, der auch die Naturforschung in das Gebiet der Ethik einbezog (im Timaeus). Unter den neueren Gegnern dieser Theorie befindet sich Gutberlet, der auf dem Stand- punkte der christlichen Ethik steht. Gutberlet behauptet, die Uebereinstimmung des menschlichen Handelns mit einer ') Vgl. Kant: Kr. d. p. V. 151. 2 Kant: ebend. 150. *) Kant: ebend. 169. 4 ) Kant: ebend. 174. 5 ) K a n t: Kr. d p. V. 35. 6 ) Xe- nophon: Comment I 1 § 11 ff., wo S. die Physiker verurtheilt. Die Naturgesetze als Sittengesetze. 73 ..bestimmten Ordnung* in der Natur „mache die Handlung an und iiir sich nicht sittlich“, wenn z. B. „eine bestimmte Ordnung im G e h e n eingehalten werde, wie wenn Soldaten in Reih' und Glied marschierenV) Dass das Gehen an sich, ebenso das geordnete Gehen einem Naturgesetze und zugleich dem Wollen untersteht, ist zweifellos. 2 ) Die ,.Gesetze c des Gehens sind vom mechanischen. physiologischen und ethischen Standpunkte aus zu beurtheilen. So z. B. sind nach Langer die Bewegungen der Fiisse urspriinglich auto- matisch, doch auch durch den „Willen variierbar“. 3 ) Unter- suchen wir einmal, ob das „ geordnete Gehen der Soldaten in sittlicher Beziehung wirklich ganz indiffelint sei. Sobald beim Gehen. wie es erfahrungsmassig feststeht, das AVissen, Konnen und Wollen zusammentreffen, wird dasselbe zu einem. sittlichen Handeln. Ein absichtlicher Verstoss gegen das geordnete Gehen ware ohne Zweifel ein Handeln wider besseres Wissen und Konnen. Daher ist ein geordnetes, den Gesetzen der mechanischen Bewegung entsprechendes, also zweckentsprechendes Gehen ohne Zweifel ein Act der Ver- nunft. Nun ist nach Gutberlefs eigener Ansicht eine Handlung wider die Vernunft eine Uebertretung des gottlichen Gebotes, folglich ein absichtlich ungeordnetes Gehen auch nach dessen eigenem moralischem Princip unsittlich. Zwei Bedenken wider die ethische Bedeutung der Natur- gesetze sind noch zu beheben ; zunachst die in der Welt unzweifelhaft vorhandenen U e b e 1. Den Ursprung der Uebel sah Kant durch die Thatigkeit der Naturgesetze nicht ver- mieden ; daher wollte er letzteren nicht die Eigenschaft von Sittengesetzen zuschreiben. Er bemerkt namlich iiber den Grund, warum die alte Philosophie einen „heiligen Urheber 0 liti**.* des Gesetzes in die Welt einfuhrte : „Die Uebel in der \Velt schienen (den grieohischen Philosophen) viel zu wichtige Ein- wtirfe zu sein. um zu einer solchen Hypothese sich tlir berechtigt zu halten.“ 4 ) Beshalb suchte er das Sittliche bloss im „Menschenverstande‘\ was soviel heisst als in p ar te statt in to to n a tu ra e. Schon dies enthalt . einen Widerspruch in sich, dass sich namlich das Kleinere der Mensch — eines besseren Verstandes erfreuen solite als das Grossere, die Natur. Fiirs zweite sind an den Uebeln nicht die Naturgesetze als Gesetze, sondern deren Concur r e n z d- i. der Z u f a 11 schuld. Drittens bedarf es erst einer strengen Begriffsbestimmung, was ein „Uebel" zu nennen sei. ~b~G u”t b e r 1 e t: Ethik und Naturrecht 1883. S. 73. h vgl. Dr. C. Lan ser: Anatomie der aussern Formen des mensch. Korpers. 1884. S. 9 fT.-, bes. 106. 236. 251. 3 ; Lan ger : ebend.9l. ) Kan t: ebend. 16J. Fiinfter Abschnitt. Wir diirfen nicht sofort alle Unbequemlichkeiten, denen das menschliche Individuum begegnet, fiir U n i v ersal- ribel erklaren. Es gibt auch eingebildete Uebel. bei denen das Ganze der Natur nicht in seinem Bestande leidet. Kant hatte wohl solche Uebel im Ange, die das \Veltganze treffen; denn das Gegentheil des Uebels, das Gute, sei deni Ganzen zu- traglich, da „das Ganze das Beste sei und alles um des Ganzen \villen gut“. ‘) Allein. \vollte man die Uebel d. h. die Unvollkommenheiten der \Velt ausrotten, so musste man zu- gleich die ganze Ordnung der Natur aufheben. Sowie die \Velt einmal beschaffen ist, lasst sich eine Concurrenz ver- schiedener Naturgesetze nicht vermeiden. Das Ertrinken eines Menschen z. B. liesse sich nur durch eine vollige Auf- hebung der gegenwartigen Naturordnung verhindern; man musste selbst die Urstoffe austilgen. aus denen das Ali be-. steht. Durch successive Schlussfolgerungen kame man zuletzt dahin, dass man, um die Uebel in der Welt zu vermeiden, alles Nebeneinander der Moleciile und Atome aufheben musste, da ein Zusammenstoss, ein s Malheur a dabei immer moglieh bliebe. DieUebel di e s e r \Ve 11 sin d bei derjetzigen Naturordnung, soweitwirdiese kennen, gfl-nz u n v e r m ei d li ch und unabwendbar. Ein ahnlicher Gedankengang bewog Leibnitz und Kant zu dem Aus- spruche, diese We 11 sei die beste. Kant bemerkt: „Ich bin demnach erfreut, mich als oinen Burger in einer Welt zu sehen, die nicht besser moglieh war.“ *) Deshalb wollte Kant auch keine ,,absoluten Weltubel“ zugeben. da diesen nicht das Merkmal der Allgemeingiltigkeit nachge- wiesen werden konne. 3 ) Ebenso \venig kommt das sittlich Gute zu absoluter Geltung: auch dieses wird nicht in jedem Falle beachtet, sondern nur zu oft iibersehen. und doch bestehet dasselbe trotz dieser „ Antinomie“. Dies gilt, wie E. Zeller richtig bemerkt, von einern jeden nicht bloss ethischen, sondern auch wissenschaftlichen Gesetze logischen, mathematischen, asthetischen und jedes andern Inhalts, dass namlich demselben in zahllosen Fallen die W i r k- lichkeit nicht ent spricht. 4 ) Eine ,,Antinomie :; der Sittengesetze \vird es daher stets ebenso geben. \vie eine solche aul jedem legislativen Gebiete vorkommt. Kant hatte gegen die Naturgesetze als Sittengesetze auch wegen der verschiedenartigen Einwirkung der „mora- lischen* 1 2 und ,met aphy s i s che n“ Gesetze auf den D Kant: Ueb. d. Optim. Hartenst. Ausg. 1867. Bd 2. S. 43. 2 ) Kant: ebend. 42. 3 ) Kant: ebend. 37. b Zeller: Vortrag. u. Ab- handl. 3. Samml. 1884. S. 2C3 Die Nalurgesetze als Sitlengesetze. 75 Menschen Bedenken, da die ersteren diesem ein blosses feollen, die letzteren dagegen ein Miissen abnbthigten. Kant bemerkt: „Die Vernunft, aus der allein alle Regel, die Nothwendigkeit enthalten soli, entspringen kann, legt in diese ihre Vorschrift zwar auch Nothwendigkeit (denn ohne das ware sie kein Imperativ), aber diese ist nnr subjectiv (i. e. individuell) bedingt, und man kann sie nicht in allen Sub- jecten (i. e. Individuen) in gleichem Grade voraussetzen. “ >) An einer andern Stelle bemerkt Kant: ,,Das moralische Ge- setz ist in der That ein Gesetz der Causalitat durch Frei- heit, sowie das metaphysische Gesetz der Begebenheiten in der Sinnenwelt ein Gesetz der Causalitat der sinnlichen Natur war.“ 2 ) Nun aber gilt nach dem oben iiber die Uebel Ge- sagten, dass die Erfiillung des Gesetzes keinesvvegs ausnahmslos zutrifft, sondern Hindernissen ausgesetzt ist. 8 ) Folglich herrscht in Bezug auf die Ausfiihrung der beiden Arten von Gesetzen kein so tiefgehender Unterschied, als ihn Kant auf- stellt. Uebrigens vermag das moralische Gesetz von Manchem ebenso ein „ Muss “ zu erzwingen \vie nur irgendein Natur- gesetz. So bestimmt als der in der Luft schwebende, nicht unterstiitzte Stein in der Richtung des Erdmittelpunktes fallen muss, ebenso bestimmt wird der rechtschaffene Mann, solange er bei Vernunft ist. Diebstahl und Betrug meiden. Es werden bei ihm daher die Begriffe Sollen und Miissen zusammenfallen. 4 ) Schleiermacher wollte jenen Unterschied ganzlich aufgehoben wissen. — Wir sind sonach zu zweierlei objectiven Sittengesetzen gelangt, welche sich erganzen: zu den in der Menschen- und Aussenwelt herrschenden. Nachdem im vierten und fiinften Abschnitte die in den beiden Naturen enthal- tenen Sittengesetze dargelegt worden sind, drangt es viel- leicht jemand, noch zu erfahren, ob es ausser den genannten keine andern Sittengesetze gibt. Darauf lautet die Antwort: durch philosophische Forschung wenigstens sind keine andern Sittengesetze zu erhalten. Doch gibt es noch moralische Prin- cipien anderer, namentlich reli gib s er Provenienz , deren Darlegung von ganzlich andern Anschauungen ausgeht, als die nachzuweisen die Philosophie sich zur Aufgabe macht. Es kann fiir die Sittlichkeit nur vortheilhait sein, wenn die ethi- schen Grundsatze, welche auf so verschiedenem V ege er- p. 20 ff d. ded. Unterscl Vortrag 76 Fuafter Abschnitt. langt werden, mit einander im Einklange stehen. \vie es im grossen Ganzen wirklich der Fali ist. Nur ist bei deren Ver- gleichung nicht zu ubersehen, dass in die Ethiken nur solche Vorscliriften gehoren, die ihrem Wesen und ihrer Tendenz nach mit deren aufgestellten Sittenprincipien genau uberein- stimmen. Sonst wiirde die Ethik zu einer vermeintlich sel i r >- pferischen, in der That aber willkurlichen Gesetzgebung hor- absinken, wahrend sie als eine Wissenschaft der Natur diese erforschend und nachahmend darlegen soli. Nicht irgendwelche nebenbei zu erreichende Zwecke. sondern die obersten Grund- siitze des Handelns allein sollen derselben vorschweben. Sechster Absehnitt. Begriff der sittlichen Pflicht und Verpflichtung. Zunachst sollen die Begriffe der sittlichen Pflicht und Verpflichtung erlautert, dann die Grundlagen derselben dar- gelegt, hierauf die Grunde, auf denen ge\visse Vicariate der sittlichen Verpflichtung beruhen, geprfift, zuletzt eine Eintheilung der sittlichen Pflichten versucht werden. Zum Wesen und Begriffe des Handelns gehort die An- strebung von Zwecken ; denn das Handeln geschieht um be- stimmter Zwecke willen. Das Ziel des praktischen Handelns aber besteht in der Erlangung des hochsten sittlichen Guts. Zu handeln, ohne einen wertvollen Zweck erreichen zu wollen, ware T h o r h e i t, des Handelns wurdige Zwecke erreichen zu \vollen ist vernu n f ti g. Daher wird der verniinitig Denkende sich auch innerlich be\vogen und gedrungen fiihlen, sittlich zu handeln; der Thor fiihlt sich dazu niemals verpflichtet. — Auf dem Wege solcher Schltisse gelangt man zur Vorstellung und zum Begriffe der sittlichen Pflicht als des Dranges, sittlich zu handeln. .Naher nocli kommen wir diesem Begriffe, wenn wir das sittliche Han¬ deln als ein Beobachten der Sittengesetze auffassen. Oben haben wir gesehen, dass die einen Sittengesetze in der Aussenwelt, die anderen in der menschlichen Natur ent- springen. Wenn wir nun die sittliche Pflicht als die Erkenntnis eineraufuns ein\virken den Macht, nach den objectiven Sittengesetzen zu handeln. bezeichnen. so erhalten wir eine zweite Deflnition der sittlichen Pflicht. Wer bei seinen Handlungen der Vorstellung und Einwir- k u n g. der objectiven Sittengesetze Aufmerk- samke.it und Gehiir schenkt und bei denselben 78 SeAster Abschnitt. seinen Willen stets nach jenen Gesetzen richtet. handelt im Sinne der sittlichen Pflicht. Man kann daher sagen : die sittliche Verpfli chtung besteht in der Ueberein- stimmung des \Villens mit den objectiv gege- ■; benen Sittengesetzen. Die Begriffe Pflicht und Ver- pflichtung driicken dasselbe aus. nur von verschiedenein Seiten betrachtet: die sittliche Pflicht ist ein objectiv be- stehendes Abhangigkeitsver haltnis des Gemiiths von der objectiven Sittlichkeit, die sittliche Verpfli c h- tung dagegen das Gefiihl und Bewusstsein eines solchen objectiven Abhangigkeitsverhaltnisses. Die sittliche Pflicht driiekt somit ein ausseres Abhangigkeitsverhaltnis, die . Verpflichtung die innere Z us t i m m u n g zu einem solchen Ver- hiiltnisse aus. In letzterer Bedeutung heisst die Verpflichtung auch Pflichtgefiihl. Diesen Definitionen zufolge beruht die sittliche Ver¬ pflichtung auf der Gesinnung des handelnden Subjectes. * Im Begriffe Gesinnung liegt zunachst der Begriff der E i n- j s i cht in die Qualitat dessen. \vas man anstrebt, dann der Begriff des Strebens, das sittlich Gute als das \vahre Ziel des Handelns zur That zu machen. Nur \venn beide Eigenschafton im Subjecte zusammentreffen. \vird das Handeln ein wahr- haft sittliches. Das Streben nach dem Guten muss jedoch I rein und frei sein von allen nicht sittlichen Neben- einfliissen. Einsicht in das Gute kann auch dor sittlich verworfenste Mensch besitzen, aber es fehlt ihm an Willen. es zu thun. Die mitunter sehr feinen Scheidelinien z\vischen dem Guten und Schlechten sind gerade den ge- riebensten Schurken bekannt. denen es daran liegt, den Schein des Bosen sorgfaltig zu meiden, um ihre Plane desto leichter auszufuhren. Daher ist der \Ville zum Guten eine Vorbe- dingung der sittlichen Pflichterfiillung. Um sich in sittlicher Beziehung fur verpflichtet zu erachten, muss man von der Vortrefflichkeit des Guten tiberzeugt sein. es lebendig fiihlen und sozusagen im Herzen tragen. \Vem dies nicht gegeben ist, der wird sich zu demselben niemals innerlich ver¬ pflichtet erachten. Allein zur Erklarung des Fortschritts von der Einsicht zur inneren Verpflichtung gehSrt die Erledigung einer Reihe von wichtigen Zwischenfragen. Augenscheinlich mtissen es bedeutende Grande sein, die jemand derart zur Befolgung der Sittengesetze verhalten. dass er alle seine Neigungen und iiusseren Impulse unterdriickt und das Gute vorzieht. Als ersten Grund haben wir bereits die Einsicht in das Gute kennen gelernt, die man auch den I n t e 11 e c t nennt. Der Intellectualismus. 79 Es ist eine teste Anschauung der sogenannten Intel- lectualisten, dass der menschliche Geist a priori eine Ein- sicht in das Gute und Schlechte besitze. In der Geschichte der Ethik begegnen wir dem Intellectualismus mehrmals, so schon vor Platon, besonders jedoch durch Platon ausge- bildet. Seiner Anschauung gemass betrachtet die Seele die .. Idee des Guten“ und richtet nach dieser das Leben des Menschen ein. Auch in spaterer Philosophie begegnet uns diese Anschauung. So im Mittelalter, und selbst Fr. Bacon ’ setzt eine sittliche lux naturalis voraus, nach ihm Locke. ') Zum System hat den Intellectualismus Bacon’s und Newton’s Schuler Sam. Clarke erhoben 2 ), am entschiedensten aber Kant verfochten. Von der „Vernunft“ behauptet Kant, dass sie auf den „Willen“ einwirke, das Gute zu thun. 2 ) Wie jedoch die Vernunft clies zustande bringe, das war Kant rathselhaft, wie er es selbst gesteht. 4 ) Ein \vie grosses Gewicht er auf den Intellect legte, zeugt seine Bemerkung in einer vorangehenden Schrift. wo es heisst : „So sind wir denn in der moralischen Erkenntnis der gemeinen Menschen- vernunft bis zu ihrem Princip gelangt. \velches sie sich zwar freilich nicht so in einer allgemcinen Form abgesondert denkt. aber jedoch jederzeit \virklich vor Augen hat und zum Richt- masse ihrer Beurtheilung macht. Es ware hier leicht zu zeigen, wie sie, mit diesem Compasse in der Hand, in allen vorkommenden Fallen sehr gut Bescheid wisse. zu urtheilen, was gut. was bose, pflichtgemass oder pflichtwidrig sei und dass es also keiner Wissenschaft und Philosophie bedurfe, um zu wissen, was man zu thun habe, um ehrlich und gut, ja sogar um weise und tugendhaft zu sein.“ 5 ) Kant hat su¬ mit eine in der menschlichen Natur a priori liegcnde ,Weis- heit“ vor Augen. \velche jede theoretische und praktische Erkenntnis weitaus iibertreffe. Ob aber die Vernunft wirklich ausreicht. um vervvickelte ethische Verhaltnisse, z. B. die feinen Unterschiede zwischen manchen Tugenden und Lastern a priori zu erkennen oder schwierige Pflichtconllicte zu Ibsen, das moehte wohl zu bezweifeln sein. Die blosse Einsicht reicht zur Verpfliclitung nicht aus, und es ist ein Zvvischengiied ganz unerlasslich. Ein solches bildet die sittliche W e r t s c h a t z u n g. Indem das handelnde Subject den praktischen Wert des Sittlichen erkennt. fiihlt es sich verpflichtet, dasselbe auch zu wollen. \V as wir um seines i) Wundt: Ethik 1886. 263-269. 2 ) vgl. ub. ihn R. Zimmer¬ mann: Clarke’s Lehre. Denkschr. d. k. k. Ak. d. Wiss. 1870. Bd. XIX. 219—336. 3 i Kant: Kr. d. p. V. 92. 96. 110. 140. b Kan t: ebend. 86 5 ) Kant; Grundteg. z. Metaph d. S. S. W, Bd 4. S. 251 — 252. 80 Sechster Abschnitt. Wertes \villen hochsehiitzen. dem fiihlen wir uns zugethan und auch verpflichtet. Die Wertschiitzung und Liebe zum G a ten entsteht nnn aus verschiedenen Ursachen. Zunachst durch eine solche Organisation des Seelenapparates, dass dieser mit der objectiven Sittlichkeit von selbst harmoniert und ohne vollbewusste Selbstthatigkeit mit ihr correspondiert. Ich habe eine solche Organisation oder _Krystallisation“ des Gemuthes (Lombroso) schon an einer Stelle die psychische _ Praformation “ genannt, da ich dieselbe fur eine sittlich d. i. zweckmassig fungierende biologische Vollkommenheit ansehe. Aus einer solchen Organisation erklart sich auch der JJnterschied, dass einige Subjecte sich sittlich verpflichtet fiihlen, andere ein solches Geiuhl nicht besitzen, dass die einen sittlich stumpf, die andern sittlich empfanglich sind. Sowie ge\visse Menschen durch eine urspriinglich giinstige Anlage des Gemiiths zur sittlichen Verpflichtung hingefuhrt werden, ebenso entsteht das Bose aus apriorer Negierung des Guten. Eine solche geschieht entweder durch eine fehler- hafte Constitution des Gemiiths — Lombroso’s Ansicht — oder durch absichtliche und grundsatzliche Ablehnung des Sittlichen. Daher \vird die sittlich e Vollkommenheit zugleich durch eine urspriinglich unbewusste wie auch durch eine bewusste \Vertschatzung des Guten und durch eine ebenso natiirliche Verabscheuung des Bosen angebahnt, da es nicht genug ist, das Gute zu lieben. sondern man auch Abscheu vor dem Bosen empfinden muss, um sittlich voll- kommen zu sein. Dies war anfangs auch Kant’s ethische Anschauung. bevor derselbe auf seine ,forraale“, vom Willen allein be- herrschte Sittlichkeit verfiel. Anfangs namlich leitete Kant die moralische ,, V erbindlichkeit “ aus reiner, u r s p r u n g| licher Erkenntnis des Guten ab, indem er „unerweis- liclie (umviderlegliehe) materiale (reale) Grundsatze“ zur Be- lestigung der Sittlichkeit forderte und an ein „unauflosliches Geiuhl des Guten“ glaubte. 1 ) Spater, in der ,Kritik der praktischen Vernunft“, verwarf er alles „Gefiihl fiir das Moralische, \velcher Art es auch sei“, indem er zur sitt¬ lichen Verpflichtung einen „hinreichenden Bestimmungsgrund des Willens“, also eine bewusste ,,Legalitat“ forderte, aber jede unbewusste oder eigentlich nicht gewollte „Moralitat“ in seinem Sinne verwarf. 2 ) Mit andern \Vorten : anfangs wax ') Kant: Untersuch. iib. d. Deullichkeit d naturi. Theol. u Mor. Hartenstein’s Ausg Bd. ž. S. 307-808. Kant: Kr. d. p. V. 86. vgl. damit Schopenhauer: Grandi d Moral. § 6. Die sittliche Gesinnung. 81 Kant in der Ethik Positivist, spater Idealist und Transcen- dentalist. Urspriinglich also wandelte er in den Fussstapfen Hutcheson’s, wie er selbst gesteht, indem er dessen „Gefuhls- moral“ huldigte; Hutcheson schlossen sich spater Shaftes- bnry, J. St. Mili, Leslie, Stephen u. A. an, die alle ein „un- mittelbares Gefuhl 8 fur Moralitat als ein in der Menschen- natnr liegendes sittliches Princip annehmen. J ) In der That gibt es ge\visse Tugenden, die infolge ihrer Feinheit nur aus genuinen, angebornen Anlagen erst recht verstandlich werden, wie die Bescheidenheit, Schicklichkeit, Schamhaftigkeit. Man kann daher mit gutem Grande von einem nattirlichen oder naiven Sittlichkeitsgefuhl reden. 2 ) Damit sei jedoch nicht behanptet, dass dies die beste Form der sitt- lichen Verpflichtung sei. Das Moralitatsgefuhl hat auch seine grossen Schattenseiten, die sich in seiner Unbestandigkeit kund- geben. So lebhaft auch dasselbe auftritt, ebenso leicht „ver- braust“ es wieder, wie sich Kant sehr bezeichnend aus- driickt. 3 ) Ausfiihrlich handelt Kant vom Dnterschiede der naiven und intellectuellen Sittlichkeit in der „Grundlegung z. Metaph. d. Sitten 8 , wo er die Yor- und Nachtheile beider gegen einander abwagt. 4 ) Sicherheit und Festigkeit im Guten gewahrt nur die Verbindung von Einsicht und Gesinnung. Aehnlich fordert Wundt zur Sittlichkeit „Einheit von Fuhlen, Denken und Wollen“, was alles sich in einer tuchtigen „Personlichkeit“ begegne. 5 ) In der Personlichkeit finden sich alle zur sittlichen Verpflichtung fuhrenden Eigen- schaften in vollstem Masse vereinigt: sittliches Gefuhl, sitt¬ liche Einsicht und der Wille zum Guten, Eigenschaften, welche zusammengenommen, sittliche Gesinnung, oder bald Gesinnung bald Wille schlechthin genannt werden. Eine jede derselben lauft jedoch auf e in e n Begriff hinaus : auf Ueber- einstimmung des Subjectes mit dem objectiven Sittengesetze. °) In einer derartigen Gesinnung liegt der Hohepunkt der sitt¬ lichen Verpflichtung, jenes beriihmte J’11 i c h t g e f ii h 1 " Kants. T ) — Indes eine so hohe sittliche Anforderung wiirde kaum fur alle Menschen erfullbar, eine Urgierung der lautersten und reinsten sittlichen Pflichterliillung daher kaum jemals vom Erfolge begleitet sein. Wer die sittlich schwache Natur des Menschen kennt und namentlich die sittlich stumpfeien >) Wundt: Ethik. )886. SS. 279. 341. 346 *, Steinthal: AUg. Eth. S. 96. •) Kant: Kr. d. p. V. 188. -) Kant: S. W. v. Hartenstem Bd. 4. S. 252. »i Wundt: Ethik. S. 385. Jv gl. die Ausfdhrung dieses Gedankens bei Steinthal: AUg. Eth. 97 ff j Kant. Kr. d. P- V. 177. 172—173. 82 Sechster Abschnitt. Charaktere in Betracht zieht, wird nicht von Allen mora- lische Vollkommenheit, wohl aber die Einhaltung gewisser nothwendiger und unerlasslicher sittlicher Grenzlinien ver- langen. Und auf dieses zwischen den obersten und untersten Grenzlinien liegende Pflichtgebiet will ich nunmehr die Aufmerksamkeit des Lesers lenken. Eine Herabminderung der strengen Pflichtanforderungen Kantfs, der nur das reinste Pflichtgefuhl fiir sittlich gelten lassen wollte, haben bereits Kant’s Zeitgenossen, ebenso einige englische Ethiker, z. B. Bain, ebenso Schopenhauer u. A. grundsatzlich verlangt. Ich halte es im Hinblicke auf eine richtige und ge- rechte sittliche Beurtheilung der Menschen fiir rathsam, solche Grenzbestimmungen anzuerkennen. Der Mensch ist in sittlicher Beziehung, wie eben be- merkt worden, ein schwaches Wesen. Im Kampfe um die Selbsterhaltung gehen seine guten Anregungen gar leicht verloren, und die eigene Weisheit, auf welche das Subject zuletzt immer angewiesen ist, versagt sehr oft ihren Dienst. Daher miissen dem schwachen sittlichen Pflichtgefuhl kiinst- liche Mittel zuhilfe kommen. Eines der ersten und wichtigsten ist das Gewissen. Das erste Merkmal des Gewissens ist Unterscheidung des Guten und Bosen, ein zweites Wahl des Guten und Ablehnung des Schlechten. Die „Stimme des Gewissens“ — das Wort Gewissen bedeutet etymologisch den Inbegriff dessen, was dem Geiste bewusst ist — mahnt zum Guten, vvarnt vor dem Schlechten und greift nach der That zum Mittel des Lobes oder Tadels. Die psycholo- gische Erklarung des Gewissens wird vielleicht am besten durch dessen Vergleichung mit der sogenannten Hemmung inhibition — verstandlich; nur findet die Hemmung bei Vorstellungen, das Gewissen meist bei Geiiihlen statt. — In der Hemmung verbinden oder trennen sich die Vor¬ stellungen nach ihren logischen Beziehungen zu einander, also nach den Grundsatzen der Identitat, Disparitat und Causalitat. Ahnlich stellt das Gewissen eine Art ethischer Gefiihlslogik vor, indem es einige Motive, Zwecke und Mittel als loblich zulasst, andere als unsittlich vom Gemiithe ausschliesst. Paulsen bringt das Gewissen mit der Sitte in Zusammenhang, was sehr viel fiir sich hat. 1 ) Doch ist die ,Sitte nur eine Form des Geivissens, namlich eine Art Collectivgewissen. Treffend charakterisiert Shakespeare das Gewissen : „Es ist ein errothender,- geschamiger Geist, der Einem Aufruhr anstiftet in der Brust; es fullt Einen mit >) Paulsen: Ethik 1 S. 298. Der sittliche Instinct. 83 Hindernissen an“ (Richard der Dritte). — Das Gewissen bildet sich ans praktischen Gefiihlen, welche die Stelle von Grundsatzen vertreten. Jene Gefiihle gruppieren sich um einzelne sittliche Zwecke und bilden mit der Zeit einen Complex von Anregungen, ohne jedoch von theoretischen oder begrifflichen Erwagungen des Sittlichen begleitet zu sein. Daher hat man das Gewissen fiir einen sittlichen „Inperativ“ angesehen, der ebenso auch ein „Prohibitiv“ sein kann. Be- kanntlich sah es Sokrates fiir etwas Gottliches, „Damonisches“ an und lauschte auf dessen Stimme wie auf die Ausspruche eines Orakels. Prosaischer fasste es Schopenhauer als „das immer mehr sich fiillende Protokoli der Thaten“ eines Indi- viduums. 1 ) Spencer leitet es aus einer gegenseitigen „Con- trolierung“ der ethischen „Gefiihle“ ab und nennt es eine Art „moralischen Bewusstseins“. 2 ) Die Relativitat, \Vandel- barkeit und Conventionalitat des Gewissens hebt Herbart hervor : mit der Zeit bilde sich in verschiedenen Gesellschafts- classen ein besonderes Gewissen. 3 ) Es spielt zwar, wie Lom- broso bemerkt, einen sehr strengen Sittenrichter, huldigt aber etwas stark der jeweiligen Mode. Man kann daher in das Gewissen kein unbedingtes Vertrauen setzen: zu sittlicher Anregung und zur Zahmung der Temperamente mag es eben gut genug sein, zum positiven Schaffen des Guten reicht jedoch seine Kraft nicht aus. Der Bandit in den Abbruzzen gibt sein „Ehrenwort c auch auf die Ausftihrung eines Mordes ab und macht sich ein „Gewissen“ daraus, es nicht einzu- losen. Das vrnite Gewissen gewisser Gesellschafts- und Ge- schaftskreise ist wohlbekannt. Schopenhauer zeigt recht drastisch, wie schwankend der Begriff des Gewissens in ethischen Dingen ist. 3 ) Eine sehr hohe Meinung vom Ge- wissen hatte dagegen Kant, der es ein „wundersames Ver- mogen“ der Seele nennt, also fiir angeboren erklart, und es der „ praktischen Vernunft“ als eine Art „ Gefiihl" fiir das Sittliche an die Seite stellt. 4 ) Nahe verwandt der aus dem Gewissen stammenden Verpflichtung ist jene, welche aus sittlichen In- st in eten d. h. aus halbbevnissten AVillensacten her- vorgeht, also in mechanischer Weise nachwirkt. Umfasst namlich der\Ville alle auf welche Motive immer rea- gierenden bewussten und halbbewussten Reflexe — in dieser Bedeutung verstehen den Willen Descartes, Leibnitz, Locke, ~ *) S c h o p e n h a u e r; Die beiden Grundprobl. S. 260. ‘j I S p e n- cer; Thats. d. Eth. 125- 3 ) Herbart: Allgem. p. Philos. Har enst. Hd. 8. S. 103. 3 ) Schopenhauer: Die beiden Grundprobl. d. Eth. S. 195 ff. *) Kant: Kr. d. p. V. 92. 110. 118. 6 * 84 Sechster Abschnitt. Hume, Maudsley und mehrere Neuere, darunterWundt, wahrend Kant keine klare Vorstellung vom\Villen besass 1 ) —, re- prasentiert der sittliche I n s t i n c t das Residuum und Ergebnis aller im Organismus stattgefundenen und in ha- bituelle Zustande tibergegangenen \Villensacte. Zu den In- stincten \verden also alle Fertigkeiten des Korpers und der Seele gezahlt, welche vom Subjecte durch Uebung er- worben und dann halbbewusst ausgefiihrt \verden. Es gibt er e rb t e und er w orbene Instincte. 2 ) Die Vererbung hat den Instincten den Schein sogenannter urspriinglicher „Vermogen“ gegeben, als waren die Instincte in der Leibes- constitution und von Natur aus begriindet. Auch die grosse Z w e c k m a s s i g k e i t hat ihnen die Ehre urspriinglicher Eahigkeiten eingetragen. Allein die Erfahrung spricht gegen beide Annahmen : gegen die Aprioritat und die Naturverleihung die Wandelbarkeit. gegen die absolute Zweckmassigkeit die nachweisbaren Irrungen und Tauschungen der In¬ stincte, von denen Descartes und Hume, sowie die neuere Naturgeschichte zu melden wissen. 3 ) Die Evolutionstheorie lehrt, dass der Instinct stark vom Milieu beeinflusst und modificiert wird. Kant stellte anfanglich die Zweckmassigkeit des sittlichen Instincts, durch welchen die „Gluckseligkeit“ des Subjectes gefordert wiirde, sogar iiber die „Vernunft“; 4 ) spater dachte er umgekehrt. 5 * ) Trotz alledem diirfen wir von einem sittlichen Instincte sprechen, der sich, wie gesagt, auf Grund von „Nachwirkungen der Willenshandlungen“ bildet. 1 ’) Also hat die Instinctmoral ihren unzweifelhaften \Vert. Wie im alltaglichen Leben, in der Kunst, selbst im abstracten Denken Uebung und Perfection nothwendig sind, damit die Arbeit auf instinctive Weise vor sich gehe, da sie nur dann am erfolgreichsten verrichtet \vird, ebenso ist zum praktischen Handeln eine instinctiv betriebene Pflichtmassig- keit unerlasslich, da erst durch eine solche dasselbe sicher und erfolgreich vonstatten geht. 7 ) Allerdings muss sich dem instinctiven Handeln. soli dieses vollkommen werden und vor Irrungen geschiitzt sein, Einsicht und fester \Ville beigesellen. Dem Gewissen steht also der sittliche Instinct zunachst, wes- .') v g'- W a 11 a s c h e k’s Nachweis : Ideen z p. Philos. S. 69—7d. i Weismanns Gegenbeweise \vider die ererbten Inslincte halte ich m kemem Punkte fur stichhaltig. 3 ) Vgl daruber auch A. R i e h l’s Be- merkungen: Kriticism. II 2. 202-208. h Rant: Grundleg. z. Metaph. S 0 ,. W h B f c ) Nach Kant ,fliessen die Neigungen der Menschen aus dem Himmels- striche, darin sie leben, her.“ 2 ) Aber auch die Bodenbe- schaffenheit wirkt auf den Menschen nach Kant ein: die Bootier hatten ihren Charakter von ihrem feuchten, die Athener von ihrem trockenen Boden erhalten. 3 ) Nach Striimpell haben auch die Beschaftigungen der Menschen, welche selbst von der Natur und deren Anregungen stannnen, Einfluss auf deren sittlichen Charakter: „Der Kiinstler fiihlt anders. als der Laie, der Bergbewohner anders als der in der Ebene, der Krieger anders als der friedliche Land- mann.“ 4 ) Durch unmittelbare Einwirkungen der Natur ent- stehen im menschlichen Gemiithe bestimmte Gewohnheiten und Neigungen. Besonders machtig zeigt sich der Einfluss der Natur auf primitive und w i 11 e n s s c h w a c h er e Menschen. Das Gemiith auch des wildesten Naturmenschen steht den Eindriicken der Aussenwelt allezeit offen und zeigt eine grossere Empfanglichkeit fiir dieselben als der Sinn des ftir dieselben abgestumpften Gebildeten. Vielleicht ist unser „civilisiertes“ Zeitalter schon zu blasiert. um sich die unge- heure Macht der Natur auf den ursprtinglichen Menschen auch nur vorzustellen. Man lese einmal die Epen und Lieder. Mythen und Parabeln der Naturvolker Afrikas und Asiens oder doch der altesten uns bekannten Volker und man wird seinen fiir diesen Zug der Natur abgestumpften Sinn bald neu belebt und aufgelrischt fiihlen. Auch die V o 1 k s m o r a 1, selbst die hocbstentwickelte j ii d i s c h-c hristliche Religionsmoral verschmaht es nicht, gewisse Thiere dem Menschen als Muster verschie- dener Tugenden vorzuhalten, und in den Sprichwortern aller Volker findet die Analogie zwischen dem Menschen- und Naturleben die weiteste Anwendung. Bilden in den angefuhrten Fallen die Naturvorgange fiir den beobachtenden menschlichen Verstand und das rnensch- liche Gemiith das zur Natursittlichkeit anlockende Moment, so liegt in der u n b e w u s s t empfundenen E i n w i r- k u n g der Natur auf den Menschen eine m e c h a n i s c h e oder rein physische Beeinflussung des Subjectes. Letztere Einwirkung wird wohl in weiter nicht erklarbaren >) Zts. f. Eth nologie, red. von A Bastian u. R.\irchow 18/4. S. 318-9. 2 ) Kant- Entw. eines Collegii der phys. Geogr. Hartenstein s Ausg. Bd. 2. S. 9. 3 ) Kant: Von den verschied. Racen der Mensch. Hartenstein’s Ausg, Bd. 2 S. 437. 4 ) S t r u m p e 11: Vorschule d. Eth. S. 143. 92 Sechster Abschnitt. Erregungen und Reizungen des Nervensystems und in Im- pulsen bestehen, welche zu Motiven des Handelns \verden. Der Mensch ist keine leblose Maschine, die nur durch zuge- fiihrte Krafte bewegt wird; derselbe tragt latente sittliche Krafte in sich, die durch Einwirkungen von aussen in Thatigkeit versetzt und durch den Verstand auf Zwecke ge- richtet werden. Dartiber kann kein Zweifel bestehen, dass sich auch u n b e w u s s t e r W e i s e empfangene Anregungen im menschlichen Organismus in spontane M o t i v e umsetzen. Niti- ist dieses Gebiet des Psychischen noch zu wenig er- forscht, und daher die unmittelbare sittliche Einwirkung der Natur auf den menschlichen Organismus im Einzelnen noch zu wenig bestimmt festgestellt. Ohne Zweifel lasst sich die Behauptung, dass auf die Sittlichkeit des Menschen auch h i s t o 1 o g i s c h e und rein physische Verhaltnisse und Functionen des Organismus einwirken, durch Wahrnehmungen stiitzen. Die bisher Von H. Spencer in dieser Richtung ge- machten Versuche konnten vor der Kritik allerdings nicht standhalten, ') allein das Princip selbst kann nicht rundweg abgewiesen werden. Jedenfalls sind die unbewussten sittlichen Anregungen der Aussennatur ein keines\vegs schwaches und an Einfluss hinter den iibrigen Anregungen zuriick- stehendes Mittel der sittlichen Verpflichtung. Man vergesse Eines nicht, dass viele sittliche Neigungen ganz unbewusst mitspielen, daher auch unbewusst entstanden sind. Ich selie in derartigen Impulsen den Grund jener merkwiir- digen U e b e r e i n s t i m m u n g oder jenes „Rapports“ zwischen der Aussenwelt und der Menschennatur. zwischen der „Sinnen-“ und „Verstandeswelt“, zwischen der objectiven und subjectiven Natur, welche die Metaphysik stets behauptet, dagegen die kritische Philosophie eines Kant zu strenge und zu weit von einander gehalten hat. 2 ) Nachdem ich so die verschiedenen Arten der sittlichen Verpflichtung dargestellt habe, will ich nun der Uebersicht vogen dieselben z u s a m m e n f a s s e n. Das erste, rein sittliche Mittel der Pflichterzeugung besteht in der Ueberle- grmg. dass das Endziel alles sittlichen Handelns — fur uns Menschen wenigstens — in einer moglichst allgemeinen Gltick- seligkeit, besteht. Das Kennzeichen dieser Art Verpflichtung ist wissentliche Uebereinstimmung der Zwecke des Handelns ') Vgl. solche bei Spencer: Thatsach. d. Etkik u. Syst. d. synthet. Philosoph. Bd. 1, und deren Kritik seitens Wundt’s (in dessen >Ethik<). sowie seitens Al. Riehl’s: Viertebahrs. f. wiss. Philos. 18«8. S 374. 2 j Kant: Kr. d p. V. B2. Vgl mit dem Ge- sagten das ganze zweite Capitel in A. R i e h l’s Kritic. II 2. 176 ff. Eintheilung der Pflichten. 93 mit den objectiven Sittengesetzen. Die zweite Art der Ver- pflichtnng besteht in der sittlichen Gesinnung d. i. im sitt- lichen Fiihlen und Wollen. Die dritte besteht in einer un- bewussten Debereinstimmung der Affecte und Neigungen mit dem, was die objectiven Sittengesetze erheischen. Die vierte stiitzt sich auf Vicariate oder Substitute der sittlichen Ueberlegung und Gesinnung. Die Vicariate lassen sich auf das Gewissen, den sittlichen Instinct, auf Gefiihle der Achtung, Lust und Unlust, auf Rucksichten der Beloh- nung oder Bestrafung, auf Nacheiferung, Klugheit, logische und psychologische Argumentationen, auf mittelbare und un- mittelbare Einfliisse der Aussennatur, auf eine freiwillige und erzwungene Anpassung an die Aussemvelt zuriickfuhren. In den angefiihrten Arten der Verpfliclitung, welche sicli auch mehrfach mit einander verbinden, ist eine Scala von ab- steigenden sittlichen Werten enthalten. geordnet nach dem Grade der geistigen Mitthatigkeit, aus welcher die Verpflichtung hervorgeht. \Venn nun die sittlichen Pflichtverhaltnisse nach ihren Objecten eingetheilt werden. so erhalten wir folgende ethische Pflichtverhaltnisse : d) I d e a 1 e P f 1 i c h t e n, welche direct auf die Erfullung und Befolgung der in der Menschen- und Aussennatur 'enthal- tenen Sittengesetze gerichtet sind. Denn es gibt auch in- directe, aus jenen obersten Gesetzen abgeleitete Normen, welche die Praxis entdeckt hat. Ideal diirfon jene Pflichten genannt werden, weil sie durch Abstraction gcvvonnen werden und dem handelnden Subjecte als hohe, selten erreichte Muster vorschweben. b) Sociale Pflichten. Dieselben beziehen sicli auf die Befolgung und Verwirklichung der allgemein-mensch- lichen Sympathie, auf welcher der Aufbau der Gesellschaft beruht. c) I n d i v i d u e 11 e oder personlichePflich te n. Bieselben umfassen alle Verhaltnisse und Zustande des Sub- jectes als einer Einzelperson gegeniiber ihren eigenen Be- diirfnissen und Bestrebungen. Diese Pflichten sind haupt- sachlich im Gesetze der Selbsterhaltung und Individualitat begriindet. Ausserdem ist das Individuum selbst \vieder ein Aggregat von Massentheilchen, die sich selbst gegeniiberstehon und gegenseitig bedingen. Dass diese Eintheilung der Pflichten eine erschbpfem e. aber keineswegs iiberfliissige ist, beweist am besten (ie Totalitat der Verhaltnisse, in denen das Subject lebt und handelt. Das Leben des Menschen und jedes handelnden Subjectes steht in fortwahrenden Beziehungen zur realen um 94 Sechster Abschnitt. metaphysischen\V e 1t, zur menschlichen Gesellschaft und zur Summe seiner eigenen leiblichen und geistigen Bediirf- n i s s e. Das sind also drei Spharen und ebensoviele Bedingungen seines Lebens und Handelns. Im Wesen der sittlichen Verpflichtung liegt es, dass diese sich auf m e t a p h y s i s c h e Dinge d. i. in den Objecten als Krafte und Eigenschaften vorgestellte Zustande, nicht auf deren m a t e r i e 11 e Bestandtheile, also auf dessen ' Molecfile und Gestalt bezieht. Das, was am Objecte sittlich ist, be- steht in metaphysischen Zustanden desselben, kann pur als solches zu Zwecken, Mustern und Normen des Han¬ delns werden und kann in der Ethik auch nur als solches in Betracht gezogen werden. Dabei mtissen aber die ethi- schen Zustande und Verhaltnisse nicht schon als a n- thropomorphe Erscheinungen gedacht \verden. Das in der Aussen- und Innenwelt wirkende Sittliche ist ebensoweit von einer solchen Gestalt entfernt als von einer ledig- lich „a p r i o r e n" Existenz, welche ihm Kant geben wollte. Daraus aber folgt, dass wir die Sittengesetze als Qualitaten, nicht deren materielle Trager als Objecte der sittlichen Pfiichten zu betrachten haben. So leicht und naturlich es daher auch scheinen mag, materielle Pflichtobjecte aufzustellen, ebenso schwierig ware es, diesen Objecten gegeniiber die Pflichtverhaltnisse im Einzelnen darzulegen und zu bestimmen. \Venn wir z. B. das Pflichtverhaltnis des Menschen zur Aussenwelt als einem Ganzen, sagen wir als Abhangigkeitsgeftihl oder als Gefiihl der Achtung bezeichnen, so ist es andrerseits wiederum schwierig, dasselbe Pflichtverhaltnis gegeniiber den ein¬ zelnen Objecten der Aussenwelt, etwa einem Baume, einem Thiere u. s. w. klarzumachen. Dies hat auch fiir Kant den Hauptgrund gebildet, ideale, nicht materielle Pflichtverhaltnisse gegeniiber der „Natur“ anzunehmen. Daher ist ihm \vohl das ..Naturges e tz“, nicht aber die „Natur 11 selbst „heilig“- An- ders namlich stellt sich unser Pflichtverhaltnis dar, wenn wir die Gesetzmassigkeit, Identitat u. s. w. zum Objecte unserer \ erpflichtung machen, anders, \venn ein materieller Gegenstand als Muster liir unser Handeln aufgestellt wird. Nur in ersterem balle bekommt das sittliche Pflichtverhaltnis eine klare und unzweideutige Richtung, in welcher sich dann auch das prak- tische Handeln bewegen kann. Indes der Sprachgebrauch nimmt die Ausdriicke nicht so genau. In ethischen Schriften begegnet man am haufigsten materiellen P flichtob je eten. &o kennzeichnet Striimpell dieselben mit folgenden AVorten : n n ^weder ist es das Verhalten des Menschen gegen die Pflichten gpgen die Aussennatur. 95 Dinge und Begebenheiten in der Natur, oder es sind die Handlungen der Menschen gegenseitig aiif einander, oder endlich ist es das Verhalten des Individuums in seinem Innern“, auf welche Gegenstande die ethischen Begriffe in An\vendung kommen. 1 ) Es gibt also dreierlei Pflichtverhaltnisse. Nach demVorgange der christlichen Moral, \velche ebenfalls ein dreifaches Pflicht- und Tugendverhaltnis: Pflichten gegen Gott, gegen sich selbst und gegen die Menschheit, enger noch gegen die christliche Gemeinschaft kennt,®) gab auch Kant Pflichten »gegen sich“, »gegen den Mitmenschen 11 und ausserdem »gegen Gott“, doch die dritten etwas zogernd zu. 3 ) Offenbar scheute er sich die christlichen Pflichten, da sie conventionell sind, abzu- lehnen. Ihm folgte J. H. Fichte, der in Betreff der »Gottinnig- keit“ als einer „ eigenthiimlichen Pflichtsphare“ Schwanken beknndet, 4 ) und als rein ethisch zweierlei Pflichten an- erkennt, „die auf sich zurtickkehrenden 11 personlichen und »die nach aussen gewendeten“. 5 ) Sehen wir uns die Griinde fiir und \vider diese Eintheilung naher an ! Pflichten gegen die Menschheit \verden wohl von keinem Ethiker geleugnet. Nicht so glimpflich- ergeht es den Pflichten gegen die Aussennatur. Wer in dieser keine Sittlichkeit entdecken kann, der freilich wird sich auch jeder Verpflich- tung gegen dieselbe entschlagen. Ich glaube, im Obigen Griinde angefiihrt zu haben, die fiir eine objective Sittlich¬ keit sprechen. Interessant ist es, dass einige Ethiker, nament- lich die idealistischen, die Pflichten gegen die Aussennatur, also z. B. gegen die Thiere leugnen. Unter andern thut dies Steinthal, da die Thiere keinen »verniinftigen Willen“ haben, wahrend der homo sapiens sich „Selbstz\veck“ sei. c ) Dagegen ist einzmvenden. dass die unmiindigen, sittlich verwahrlosten und sonst unzurechnungsfahigen Menschen ebenfalls keinen »verntinftigen Willen“ haben, aber von der Wohlthat emer der Moral entsprechenden Behandlung nicht ausgeschlossen sind, da sie ja auf die allgemeinmenschliche Sympatlne Anspruch haben. Schopenhauer eifert mit Recht gegen die »vermeinte Rechtlosigkeit der Thiere 11 , der gegeniiber er sem Sittemprincip, das des „Mitleids u , in Anwendung brmgt. ) . fin V Striimpell: Vorschul. d. Ethk. 8. •) Dorner: Syst. d. christl. Sittenlehre. 1885 S. 315. 3 ) Kant: Kr. d- p- V. 97 if. 189, »Tugendlehre*. S. 179. h J. H. Fichte: Svst d. Eth. I. Bd. S. 2o4. 5 ) J- H. Fichte: ebenda; vgl. jedoch auch seine ,Ideen‘ S. 2-9; vgl. auch Fiehte’s Krilik der Kant’schen Pflichtenlehre: ehend. S. 2a5 Anm. ') Steinthal: Allgem. Eth. S. 245. 'J Schopenhauer: Die beid. Grundprobl. d. Eth S. 243. 96 Sechster Abschnitt. braucht wahrlich nicht buddhaistischen Anschauungen zu hul- digen, um die Schonung der Thiere, wenn schon nicht das „Recht“ derselben anzuerkennen. Das Princip der Zweck- massigkeit des Handelns allein bietet zur Schonung der Thiere Grund genug, wenn man schon dabei nicht auf das Urtheil der Menschen, auf die offentliche Meinung, auf die Scham vor sich selbst Riicksicht nehmen will. Dergleichen Griinde mogen die Rechtsanschauungen der Culturvolker beeinflusst haben, dass dieselben den Thieren einengesetzmassigen Schutz gewahrten. So leitet Rud. v. Ihering das Recht der Thiere aus dem mensch- lichen „Bediirfnisse“ und aus dem „sittlichen Gefiihle“ ab.~) Es gibt ausserdem mehrfache rationell-sittliche Grtinde, welche fiir eine zvveckentsprechende Beniitzung und Schonung gewisser Nutzthiere sprechen. Ich lasse alfe buddhaistischen, ;igyptischen und andere Verehrungsarten der Thiere als Aus- tiiisse religioser oder egoistischer Motive beiseite. ebenso alle rein okonomischen Riicksichten, da diese alle nicht zu den ethischen Griinden des Handelns zahlen. und fasse einzig die sittliche Seite der Gebarung mit den Thieren ins Auge. Und da finde ich, dass ein tief in der Menschennatur liegendes sittliches Princip auch auf die Thiere anwendbar sei, namlich das des Ego al t ruismu s. Fiir die Ausdehnung dieses Prin- cips auf Thiere und andere Gegenstande der Aussenvvelt, so namentlich auch auf Pflanzen und Kunstproducte, sprechen verschiedene Griinde. Erstlich subjective. Dass der Mensch nicht bloss Menschen, sondern auch anderen Objecten seine Sympathie entgegenbringt, ist schon gesagt worden, und ich brauche darauf bloss zu verweisen. Wir fiihlen Mitleid und Mit- freude besonders mit denjenigen Thieren und Gegenstanden, mit denen wir zusammenleben und die irgendwie mit unsern ange- nehmen Gefiihlen und Empfindungen associiert sind. Wir konnen sogar unsere Hausthiere lieben, aber auch solche Thiere des Waldes und der Flur, welche uns in irgendwelcher Beziehung lieblich und anmuthig erscheinen. Unsere' Sympathie gilt z. B. Bitumen, an die uns angenehme Erinnerungen kniipfen, Land- schaften, Stadten, Litndern u. s. w. Ganz vorziiglich wenden wir unsere Sympathie gewissen Kunstgegenstanden zu, die uns infolge ihrer itsthetischen Vorziige gefallen, also Gemitlden, Statuen, Bauten u. s. \v. Infolge unserer sympathetischen Ge- fiihle verabscheuen und verponen wir jede Verunstaltung und Besčhadigung, ja jede Missachtung und Verunehrnng solcher Gegenstande, die uns lieb und tlieuer sind. Aber auch o b j ec- t i. v e Griinde bewegen uns zur Sympathie, so z. B. das V e r- ') Rud. v. Ihering: Zweck im Recht. II Rd 1. Aufl. S. 138. Pflichten gegen die Thiere. 97 halten gewisser Thiere gegen uns. Es wird schwerlich zu leugnen sein. dass einige Thiere sympathetische oder wie Ch. Damin sagt. altruistische Gefiihle fiir den Menschen hegen. so namentlich der Hund, das Pferd und gewisse Vogel. 1 ) Romanes geht noch weiter und will in der Natur des Hundes Spuren einer bewussten Sittlichkeit entdeckt haben. 2 ) Da stiinde ja der homo sapiens einer zweiten Classe sittlicher Wesen gegenuber, welche nicht zu seiner Gattung gehiiren. Der Fali fordert uns formlich auf, liber die Ursachen unserer Sympathie solchen Gegenstanden gegenuber nachzudenken. Tst es denn wirklich nur die gleiche Art. die dem Menschen gegenuber dem Angehiirigen derselben Art Mitgefiihl einfliisst? Dami wiirde ja der Menschenhass ganz unbegreiflich erscheinen. Solite nicht vielmehr das Interesse und die Ervvidernng des Interesses mit einen Grunt} zur Syrnpathie bilden? Driingt aber ein solcher Grund zur Verpflichtung. warum solite die mensch- liche Sympathie nicht auch dort platzgreifen und ihre Berecli- tigung haben. wo der verniinftige Mensch aufhdrt und das ..unverniiriftige" Ding — das englische it — sei es nun Thier, Pflanze oder was fiir lebloser Gegenstand immer als Object unserer Sympathie beginnt? Bereits oben babe ich bei einer Gelegenheit benierkt, dass unsere sympathetischen Gefiihle dem Mitmenschen gegen- iiber auch ihre berechtigte Grenze finden. dort namlich, wo der moralische Wert des Niichsten in unseren Augen ge- schwunden ist. Man mag dariiber nachdenken. vvie viel man will. man wird keinen vemiinftigen Grund finden kiinnen. warum die Verpflichtung zur Sympathie nur dem Menschen gegenuber zu beobachten sei. da bekanntlich der Mensch gegen den Mitmenschen in sittlicher Beziehung haufig nicht bloss in- different. sondern geradezu bose zu sein taliig ist. Niemals kann ein Thier den Menschen beleidigen; von welchem Dinge in der Welt erleidet dagegen der Mensch in V alirheit melir Biises und Unangenehmes als gerade vom Menschen z Es gibt daher meiner Ueberzeugung nach gar keinen verniinttigen Grund. sittliche Pflichtert ausschliesslich dem Menschen ge- geniiber zuzugeben. als ob die ganze iibrige Vhdt nic ht bestiinde und unserer Sympathie nicht wiirdig w;ire. Die Pflichten gegen die eigene P er so n habe ich bereits erw;'ihnt. muss jedoch ihr Vesen nocii n.i iei beleuchten. 3 ) Nicht alle Ethiker sind geneigt, Pflichten dieser ’ Tch7Darwin: Abstam. d. Mensch. 11» S. 101. *) Rol ," 3n V, Revue philosoph. M8. p. 30. '» Die BegrUndung und Darete lung der personlichen Pflichten ist einer der beslen Abschmtte in Paul s en s. Ethik 2 S. 396 ff. — Ich gehe auch hier meinen eigenen Weg. 98 Sechster Abschnitt. Art anzuerkennen. Steinthal z. B. lehnt dieselben rundweg ab, indem er bemerkt: ,.Pflichten gegen sich selbst gibt es nichtV) Auch Schopenhauer verwirft dieselben: 2 ) Beiden schwebt der reine Altruismus als ethisches Princip vor, welches keine Selbstverpflichtung dulde. Indes wird von der chriatlichen Moral gerade die „Eigenliebe“ als die Quelle der Pflichten gegen sich selbst bezeichnet. 3 ) J. H. Fichte, der im Menschen eine von ihm selbst vorgestellte und eine sich selbst vor- stellende Person flndet, kennt eben deshalb auch Pflichten gegen sich selbst, welche er aus der „warnenden oder strafenden Stimmedes Gewissens u . dem das Subject Rechenschaft schuldig sei, ableitet. 4 ) Schopenhauer handelt inconsequent, indem er zwar eine „Beschamung und Degradation 1, der eigenen Person vor sich selbst infolge gemachter Fehler undVergehen zugibt, 5 ) Pflichten gegen die eigene Person dagegen leugnet. In eigenthlimlicher Weise sucht Kant die Pflichten gegen die eigene Person zn bevveisen : er filhrt sie auf die sittliche Heiligkeit der Person als „des Subjectes. des moralischen Gesetzes zurtick. des Menschen als Urhebers dessen, was an sich heilig ist“, uiid betrachtet den Menschen als ,.Zweck an sich selbst, ohne hie- bei selbst Zwe.ck zu gein“. G ) Jedenfalls sieht diese Heiligung der menschlichen Person einer Ueberschatzung des Menschen gleich. In der That halt sich der sittliche Mensch seiner eigenen Person gegentiber nicht minder fiir verpflichtet als gegentiber einem Andern. Gegen uns selbst verfahren wir mitunter sogar strenger als gegen Andere —- ein deutlicher Bevveis, dass wir Pflichten gegen uns selbst haben. In der Beobachtung und Erfiillung der idealen, socialen und individuellen Pflichten liegt die gesammte sittliche A u f g a b e des Menschen. Von der Art ihrer Erfiillung hangen der sittliche Charakter, die Tugenden und Laster des Menschen ab. Doch davon soli der nachste Abschnitt handeln. hoia S ‘ ei ^. th , al r: l Allgem - EthiL l75 - 2 ) Schopenhauer: Die phifos 97 P 98 T Eth H 1 | 6 -i 29 ' G utberlef: Ethik u. Natur- pmios 97-98. J. H. Fichte: Svst. d. Eth l 242 bScho- P e n h a u e r : ebend. 129. Kant: Kr d. p. V 158 Siebenter Absehnitt. Die praktische Sittlichkeit oder der ethische Cha- rakter. Die Gesetze der objectiven Moral erheischen ihre Bethii,- tigung, denn sie sind keine leeren Schemen oder eitle Doc- trinen. Dies ergibt den Begriff der praktischen Sittlichkeit, die sich in der Handlungsweise kundgibt. Was handeln heisst, dariiber ist im zweiten Abschnitte das znm Verstiind- nisse Nbthige gesagt worden. Die Handlnngsweise ist der aussere Ausdrnck der sitt- lichen Gesinnung. Sie pragt sich am schiirfsten im sit t- 1 i e h en Charakter aus. Denn nicht vom Charakter schlecht,- hin. sondern vom sittlichen oder praktischen Charakter soli hier die Rede sein. Tritt der psychische Charakter als ange- borne Eigenart des Denkens und Handelns auf, so bietet der sittliche ein stark ausgepragtes Bild des bewussten ethi- sehen Fiihlens, Denkens, Schliessens, Handelns und Thuns dar. Zum sittlichen Charakter geniigt nicht die Fiihlweise, sondern es muss noch die Bethatigung der ga n zen Per- sdnlichkeit hinzukommen; erst beides • stellt den ganzen Complex des Handelns dar. Bei der Beurtheilung des sittlichen Charakters kommtes also nicht bloss auf die Erkennt,- nis der intimsten Gefiihle und Neigungen sondern auch auf deren Ausdrnck in Thaten an. Es bleibt daher eine jede Auffassung und Beurtheilung des sittlichen Charakters einer Person unzureichend, solange bloss ihre Neigungen oder ihre sittlichen Anlagen oder ihr Verhalten gegeniiber ver- schiedenen Anreizen zum Handeln oder bloss ihre Ihaten ins Auge gefasst werden, da es Gefiihle ohne Thaten und auch Thaten ohne Gefiihl geben kann. Es muss vielmehr wo- mbglich der ganze Plan und der ganze Weg der verschiedenen 7 * 100 Siebenter Abscbnitt. Unternehmungen einer Person von deren erster Conception bis zu deren Durchfuhrung und selbst ihr Verhalten gegen- ttber den Ruckwirkungen, welche die Folgen einer That in der- selben hervorrufen, klar vorliegen, um ein Urtheil iiber deren sittlichen Charakter zu gestatten. Erst dann werden wir zu be- urtheilen imstande sein, ob die Person wirklich solchen Principien huldigt, die mit den Gesetzen der objectiven Sitt- lichkeit iibereinstimmen. Denn nur in solcher Uebereinstim- mung oder Nichttibereinstimmung liegt das Kriterium des sittlichen Charakters, der entweder ein guter oder ein schlechter oder ein sittlich schwankender ist. Es ist daher leichter von einem sittlichen Charakter zu reden als einen solchen exact zu definieren, noch \veniger leicht aber den Begriff desselben an concreten Beispielen auf- zuzeigen. Schopenhauer hat die Definition des Charakters — man weiss nicht recht, ob er den Charakter im allgemeinen oder den specifisch sittlichen meint — eng umschrieben, \venn er denselben als „die speciell und individuell be- stimmteBeschaffenheit des Willens“ bezeichnet, „ver- moge deren seine Reaction auf die s e Ib e n Motive in jedem Menschen eine andere ist 11 . 1 ) Der Charakter erscheint ihm als eine den allgemeinen Naturkraften 11 ahnliche Ursache oder Kraft, auf Motive des Handelns in bestimmter Weise zu rea- gieren. Durch solche Erlauterungen wollte Schopenhauer auf den tiefen Grund hinweisen, aus welchem die Aeusserungen der menschlichen Natur ans Licht dringen. Anders dachte sich Goethe den Charakter, \vas aus seinem bekannten Ausspruche „ein Charakter bildet sich im Strom der Welt“ hervorgeht. Goethe wollte da.mit die mitkampfende und mitbestimmende Thatigkeit des Menschen in der Gesellschaft hervorheben. in vvelcher sich das Subject als ein praktisches, handelndes Wesen bewahrt und durch seine Thaten und Erfolge zur Geltung zu bringen sucht. Somit hat Goethe den Charakter an dessen praktischem Ende, der That, Schopenhauer an dessen psy- chischem Ausgangspunkte,. der „Neigung“, ins Auge gefasst. Es ist zwar nicht zu leugnen, dass sich der sittliche Cha¬ rakter auch auf diese \Veise erkennen lasst, aber sicher ist es auch, dass er so nicht deutlich genug erkannt wird. Vielmehr muss man womoglich das Handeln eines Menschen in seiner ganzen Ausdehnung kennen, kritisch zu erspahen und in allen seinen Phasen zu beobachten imstande sein, um es als sitt¬ lich beurtheilen zu konnen. Da wir nun bekanntlich so \venig Gelegenheit haben, die Phasen, in denen ein bestimmter Cha- ') Schopenhauer: Freiheit des Willens. S. W. 4. S. 48. Begriff der praktischen Sittlichkeit. 101 rakter keimt, sich entpuppt, kraftigt, planend nnd handelnd auftritt, im einzelnen zu verfolgen, so muss unsere Kenntnis fremder Charaktere wie nicht minder des eigenen nothwen- digerweise eine liickenhafte, ja in den meisten Fallen eine geradezu mangelhafte sein. Wir sehen oft Thaten, deren Mo¬ tive \vir nicht kennen, und sehen mitunter die edelsten Mo¬ tive keimen, denen keine Thaten entsprechen. Wir besitzen also nur wenig Handhaben, um die Charaktere in ihrem Ctrundwesen zu erfassen und zu beurtheilen. Diese Thatsache verdient aufs nachdriicklichste hervorgehoben zu werden. um als eine Mahnung zu dienen. Denn zu nichts sind die Men- schen geneigter als zu einer vorschnellen Aburtheilung fremder Charaktere. Es kommt aber noch eine zweite Schwierigkeit hinzu. Sol len wir den sittlichen Charakter fiir das P rodu c t der Person oder ihrer histologischen Constitution allein oder der Umstande oder gar fiir eine frernde, im Subjecte als blossem Werkzeuge waltende Macht oder fiir ein Gesammtproduct aller dieser. Factoren ansehen und beurtheilen? — Denn der Ausdruck praktische Sittlichkeit kann in einem \veiteren und engeren Sinne genommen werden: im weiteren, insofern als die Sittlichkeit dem Subjecte als eine Eigen- schaft anhaftet, im engeren, insofern dieselbe als Eigenwerk der Person angesehen wird. — Dariiber hat der vorige Ab- schnitt eine Antwort gegeben. Dort wurden die verschiedenen Arten aufgefuhrt, \vie sich ein Subject sittlich fiir verpflichtet h alt. Und da hatte es sich gezeigt, dass dies wissentlich nnd willentlich oder aber ohne Wissen und Willen geschieht. Die Erfahrung weist Menschen auf, die das Gute wissentlich und geflissentlich wollen und solche, die es wissentlich und absichtlich ablehnen und dies aus Griinden, die theils aus Un- kenntnis des Guten, theils aus Mangel an sittlicher Kraft ent- springen. Jedenfalls aber wiirde es steifer Doctrinarismus sein zu leugnen. dass gevvisse Menschen ihre w'ohlbewussten Pflichten absichtlich und principiell vernachlassigen, mogen sie dazu durch welche Motive immer bewogen werden. Es ist zwar wahr. und niemand wird das im Ernste leugnen wollen, dass alle Menschen ohne Ausna.hme dem Gesetze der Causalitat unterliegen, allein gerade deshalb, weil dieser Factor in der statischen Gleichung des Guten und seines \Viderstandes ein immer vorauszusetzender, allgemeiner ist, darf derselbe als selbstverstandlich beiderseits weggelassen werden, dagegen muss der subjective Factor des Handelns, wo ein solcher nachweisbar ist, in die Gleichung gesetzt werden. VVir haben doch genug Verbrecheraussagen vor uns. die das 102 Siebenter Abschnitt. Vorhandensein einer sittlichen Bosheit ausser Zweifel steli en. Wie sollten wir den Umstand, dass gerade in sittlicher Be- ziehung der Dnterschied zwischen den Menschen trotz der als gleich angenommenen ausseren Causalitat so ungeheuer gross ist. nicht auf die sittliche Eigenart der Individuen, also vor- nehmlich, wo nicht ausschliesslich auf ihren Willen, ilire Bildung u. a. Eigenschaften zuruckfiihren diirfen? Nun ist es allerdings wahr : das, was man den sittlichen Charakter nennt, soli ein deutliches 6 e p r a g e. eine Art m o r a 1 i s c h e s T o t a 1 b i 1 d der Person abgeben. Allein welche Tugenden oder welche Laster sollen da in Betracht gezogen werden ? Wer der Theorie der sogenannten C' a. r- dinaltugenden anhiingt. \viirde da ein leichteres Spiel haben; er brauchte nur eine jener vielberuhmten Tugenden als Merkmal des sittlichen Charakters aufzustellen und dar- nach den sittlichen Charakter zu bestimmen oder doch zu construieren. AVer jedoch die Spielereien der Peripatetiker und Stoiker, welche sie mit der Schlussform des sogenannten Sorites trieben. kennt, wird jenen Cardinaltugenden wenig Vertrauen entgegenbringen. Denn was diese bevorzugten Tugenden vermdgen, das vermag jede andere Tugend, namlich dass sie andere Tugenden nach sich zieht. Das Gleiehe gilt von den Lastern, welche \vieder andere Laster attrahieren. Sehen \vir uns z. B. die Tugend der Menschen- freundlichkeit an. Aus ihr lasst sich ganz naturgemiiss die Milde. aus dieser die Billigkeit, aus dieser die Freund- schaft, weiters die Freigebigkeit, das • Streben nach Be- gliickung Anderer.also die reinste Humanitat und Sittlichkeit ent\vickeln. Aehnlich leiteten die Alton aus der Selbstbe- lierrschung die Geniigsamkeit, Zufriedenheit, Freiheit von Leidenschaften, die Schamhaftigkeit. Bescheidenheit, den Sinn tur personliche Wurde, Tapferkeit u. s. w. ab. Ebenso leiteten sie aus gewissen Lastern die tibrigen Laster. z. B. aus der Schwelgerei alle Arten von Unmassigkeit. Grausamkeit u. s. \v. ab. Aus der Habsucht folgerten sie einen ganzen Rattenkonig von Lastern: Treulosigkeit. Falschheit. Uebermuth. Hoclnnuth. I Inzuiriedenheit, Herrschbegierde. Unverschamtheit. Frechheit; aus der Tragheit: Sorglosigkeit, Feigheit, \Vohldienerei. Heu- chelei, Ungerechtigkeit u. s. w. Es ist klar. dass in einem Gemuthe, in welchem das Gute oder Bose einmal iesteAVurzeln gfiiasst hat, und die guten oder schlechten Neigungen iiber- handgenommen haben, es nicht bei der ursprtinglichen sitt¬ lichen Verfassung bleibt, sondern sich bei der Tendenz der Weiterentwicklung neue Tugenden oder neue Laster an- setzen mrissen. Die ethische Concentration und Harmonie. 103 Diese ethische Beobachtung ist nun fur die Natur des sittlichen Charakters von Bedeutung. Bei der Fahigkeit des Sittlichen, sich im Gemuthe zu verbreiten und zu verdichten was ich mit dem Namen ethische Concentration benennen mochte, weil sich mehrere moralische Eigenschaften um gewisse starker entwickelte C e n t r e n oder H e r d e an- setzen —, ist eine jede stark ausgepragte Tugend und jedes hervortretende Laster geeignet, als sittliches Charakterbild einer Person zu dienen. Naturlich schliesst dies nicht den Fali aus, dass auch zwei oder mehr Tugenden stark hervor- treten, ja selbst, dass sich in einem und demselben Gemuthe stark entwickelte Tugenden und Laster zugleich vorfinden. 1 ) Denn der Combinationen des sittlichen Charakters gibt es eine Unzahl. Wir erhalten so reine und gemischte sitt- liche Charaktere. Was nun die reinen oder doch annahernd reinen sitt¬ lichen Charaktere betrifft, so ist bei deren Bestimmung noch eine wichtige Grenzlinie zu beachten. Soli der Charakter ein wirklich loblicher sein, so muss in ihm eine Art s i 111 i c h e r Harmonie herrschen d. h. es muss die Tugendhaftigkeit der Person gleichmašsig ausgebildet sein. Unter der sittlichen Harmonie verstehe ich eine gleichmassige Spannung aller sittlichen Krafte in einer Person, so dass neben einer hervorragenden Tugend noch immer andere Tugenden be-. stehen und sich vernehmbar machen. Diesern Principe ent- sprechend darf es im Charakter einer Person kein Zuviel, aber auch kein Zuwenig von einer und derselben Tugend geben. also keine sittliche Einseitigkeit, sondern eine Aus- geglichenheit aller. Die altgriechischen Ethiker nannten dies das „goldene Mittelmass“, die ŽCpm- 'j-zvovn; des Aristo¬ teles], die Romer „aurea mediocritas“, die Deutschen nennen es den ,,goldenen Mittelweg“. Die Griechen meinten. eine jede Tugend, ins Ungeheure vergrossert, verliere ihren Charakter als Tugend und schlage in das nahe verwandte Laster um. Da lag freilich die Gefahr eines Missverstand- nisses nahe, dass Einer leicht das „Mittelmašs“ iiir „Mittel- massigkeit 11 nehmen konnte. Darum lorderten sie Ein- schrankung der einen Tugend durch die anderen. In der That ist Gefahr vorhanden, dass z. B. die Tapferkeit — ein bei den alten Ethikern beliebtes Exempel — aus dem Rahmen der ubrigen Tugenden: der Vorsicht, Klugheit, Geistesgegen- wart, Massigkeit, Orts- und Sachkenntnis heraustrete und in ’) Die ethische Concentration entsprkht der psychischen Apper- ception und Association. 104 Siebenter Abschnitt. Tollkiihnheit, Vervvegenheit, Frechheit, Wuth, Verbrechen um- schlage. 1 )-Kant erklart die Harmonie derTugenden aus deren Abhangigkeit von einer „Totalitat des hochsten Gutes“, zu dem die einzelnen Tugenden gewissermassen die Glieder bil den. 2 ) Da hatten wir in der ethischen Auffassung den- selben Einheitsbegriff wieder, der 1'iir die Logik und das gesammte innig zusammenhangende Geistesleben so wichtig ist. Der Sitz der einigenden Kraft liegt im Be\vusstsein. J. H. Fichte nennt das Spannungsverhaltnis der Tugenden deren „Systenr und definiert es als cine „wechselseitige Ausgleichung der Tugenden 11 , indem er bemerkt: „0hne \Vechselerganzung und in ihrer Vereinzelung ist jede Tugend der Gefahr ausgesetzt, eine Einseitigkeit zu erzeugen. \velche den Begriff der vollkommenen Tugend aufhebt". 3 ) Ich mochte dem beifiigen. dass die Harmonie der Tugenden verschiedene Grade haben kann und nicht mit der sittliehen Vollkommen- heit zu identificieren ist. Sonach stel It der sittliche Charakter die Stufe der ethischen Perfection dar. die ein Individuum oder ein Volk erklommen hat. Eine jede hervorragende Tugend ist geeignet. als Kennzeichen des Charakters zu dienen. Gehen wir nun, nachdem wir den Begriff des ethischen Charakters kennen gelernt haben. zur Erorterung seiner Entstehung iiber ! Die Gesetze, denen die Bildung des sittliehen Cha¬ rakters unterliegt, ergeben sich aus der Analyse der einzelnen Tugenden und Laster, und sind folgende: а) die Keime zu den Tugenden und Lastern liegen in der organischen Constitution des Subjectes vor ; б) dieselben werden durch das Mili eu vreiter aus- gebildet, c) durch die subjectiven Motive des Handelns ge- fordert d) und durch Anwendung der verschiedenen M i 11 e 1 des Handelns gezeitigt. Zur Erklarung der Tugendhaftigkeit und Lasterhaftigkeit nehme ich. \vie ich bereits einmal angedeutet habe, eine Pradisposition des Individuums zum Guten und Schlechten an. Zwei Ursachen mogen eine solehe Organisation geschaffen haben : der Z ut a 1 I und die Ver erbung. Man behauptet zwar, es gebe keinen Zufall oder, wie man sich gern aus- ‘) Vgl. die Ausfuhrunz dieses Beispiels bei S t r ti m p e 11: Vor- schul. d. Eth. 9. h Kant: Kr. d. p. V. 130. J. H. Fichte: Syst. d. Eth. I 228, wo mehrere Beispiele angeftlhrt sind; II 12. Der Durchschnittscharakter der Menschen. 105 driickt, je weniger Zufall, desto richtiger das Naturverstand- nis. Allein den Zufall ans den Naturbegebenheiten eliminieren heisst die Concurrenz der Naturgesetze aufheben wollen. auf w e Ich er eben der Zufall beruht. Der Zufall begleitet die Ge- setzmassigkeit \vie der Schatten das Ijicht. 1 )ie gegonseitige Durchkreuzung der Naturgesetze lasst unzahlige Combinationen ihrer Wirkungen zu. Und beruht nicht die Perfection selbst zu gutem Theile auf der Gunst der Zufalle? Kanu selbst der Evolutionismus ohne Zulassung giinstiger oder ungiinstiger Zufalle bestehen? Die Anordnung der Moleciile, die ungestorte Function der Organe, die Weiterfiihrung des Lebensprocesses, ist dies alles ohne begiinstigende oder stiirende Einflusse zufalliger Art denkbar? — Somit auch nicht die sittliche Thatigkeit. Es gibt ein „Normales“, ein „Gesundes“ und ebenso ein s Anormales“ und ein von Natur aus „Ungesundes“, welches rein von Conjuncturen und dem Zufall abhangt. Die nachste Ursache einer Storung mag ja ganz verstandlich und klar sein. allein die weitere Kette der Ursachen entzieht sich vollig unsern Blicken, da dieselbe eben den unzahligen Moglichkeiten und Combinationen entspringt. Fiir uns endliche Wesen ist eine Weiterverfolgung derselben ganz unmoglich, und selbst die Natur als ein Ganzes hat, wie wir bereits er- sehen haben, Miihe, ihre Zwecke durchzusetzen. Von der We iterv ererbung erworbener Eigenschaften zu sprechen wiirde langere Auseinandersetzungen erheischen. leh kann bei naherer Priifung den Weismann’schen Ein- wiirfen gegen die Hereditat nicht beistimmen, obwohl ich keine strenge Durchfiihrung des Vererbungsgesetzes anerkenne, vielmehr ein \Valten verschiedener Combinationen von Um- standen, also von Zufallen annehme. Eine Vererbung von Tugenden und Lastern erklare ich daher fiir eventuell miig- lich, aber nicht fiir unbedingt nothwcndig. ■ Wie verhalten sich nun die Keime der guten und schlechten Eigenschaften zu einander? — Nach den Beob- achtungen des praktischen Lebens gibt es verhaltnissmassig wenig Individuen, die sich in sittlicher Beziehung von den iibrigen sei es im Guten, sei es im Schlechten auffallend ab- heben. Die weitaus iiberwiegende Mehrzahl der Menschen zeigt im allgemeinen einen gleichen sittlichen < harakter. In popularer Sprache ausgedriickt heisst dies: die Men¬ schen s i n d im allgemeinen w e d e r tugendhaft noch s c h 1 e c h t. Voltaire bemerkt an einer Stelle seinei Schriften : 1’homme n’est si mechant qu’on le dit. und ich glaube, diese Bemerkung entspricht der kVahrheit. Die grosse moralische Gleichartigkeit in den menschlichen Charakteren er- 106 Siebenter Abschnitt. klart sich aus der im allgerneinen gleichartigen Constitution des menschlichen Orgaiiismns, aber auch aus den socialen Verhaltnissen, durch welche die Menschen einander assimi- liert werden. Yon der Regel machen verhaltnissmassig wenige Individuen eine Ausnahme. Mit der gleichartigen Anlage zum Moralischen gelit die Fahigkeit zum Schlechten Hanci in Hand. und auch bei hbherer Civilisation lassen sich noch die urspriinglichen. gleichartigen sittlichen Zustande erkennen, eine Thatsache. der gegeniiber sich die Ethiker der verschiedenen Zeiten ver- schieden verhielten. DieSophisten erklarten alle Menschen fiir gleich schlecht und dumm. und die Beredsamkeit daher tur ein Mittel, dieselben ebenso fiir das Gute als das Schlechte. kurz fiir Alle s zu gewinnen. Die stoischeEthik war mehr optimistisch als pessimistisch; sie erklarte das sittlich Gute tur etwas der Menschennatur Eigenthumliches, das Schlechte fiir ein ihr Fremdes. 1 ) Es gibt Re.ligione.n, deren Moral den Urmenschen fiir fehlerlos und unverdorben annimmt und die Schlechtigkeit fiir ein Product der gesell- schaftlichen Fortbildung ansieht. Darin stimmen mit ihnen auch gewisse philosophische Systeme iiberein, wie es z. B. die Geschichte der franzosischen Philosophie gegen Ende des 18. Jahrhunderts beweist. Ausserdem sind die sittlichen Zustande der verschie- denen Zeitalter und verschiedenen Gesellschaften grossen Schwankungen untenvorfen. Dies erklart sich am besten aus der Annahme einer urspriinglich gemischten sittlichen Veranlagung und eines dieser Veranlagung entsprechenden sittlichen Fortbestandes, den auch die Moralstatistik der Neuzeit bestatigt. Quetelet’s D u r c h s c h n i 11 s m e n s c h — le type d’un homnie moyen -— scheint die Wahrheit des Gesagten zu bestatigen. Aber nicht bloss der sociale, sondern auch schon der einsani lebende Mensch tragt die Merkmale eines solchen Typus an sich, und man muss nicht zur Theorie des ,socialen Menschen 1 Aug. Comte’s und Anderer greifen. Der Durchschnittscharakter — la moyecne — ist daher als etwas Urspriingliches zu betrachten. Wenn die Ge- sellschatt moralisch sinkt, so bedeutet dies nicht nothcvendig einen .Riickschlag’, eine Ruckkehr zu angeblich unsittlichen Urzustanden, und wenn sie sich moralisch hebt, so heisst dies noch nicht Ruckkehr zu angeblich besserer Urspriing- lichkeit. •i j 1 )p' < ?® ro: ^ n - hi § 18. Die Aerzte, sagt Cicero, mit den btoikern hierm nicht einveistanden. waren jedoch Ursachen des sittlichen Schwankens. 107 Das sittliche Schwanken hangtmit vielenUrsachen znsammen. Die wichtigste liegt wohl in dem schwierigen Lebenskampfe, in welchem gar oft die besten moralischen Anregungen verloren gehen. DerMensch hat seine Fortexistenz ;ms fnrchtbaren Kampfen gerettet. und daher liegt ihm die Befriedigung seiner leiblichen Bedurfnisse viel naher als sein ideales sittliches Anliegen. Die naher liegenden Interessen \virken, wie Spinoza psychologisch und ethisch nachzuweisen sncht, auf die meisten Menschen in der Regel viel starker ein als irgendein entferntes, ideales Ziel. Man darf diesen Satz zu einem Axiom erweitern und sagen : ein temp c- rares Interesse wirkt auf den Menschen in der Regel machtiger ein als ein ewiges. Und ein solches ist das moralische, das ein ideales ist. Die Erfahrung be- statigt es, wie sehr das Bediirfnis nach \vahrer, absoluter Gliickseligkeit bei den meisten Menschen zuriickbleibt hinter den Anforderungen des Augenblicks und der Sorge um das materielle Wohl. Eine zvrnite Ursache des sitthchen Schwankens liegt in der Denkfaulheit der meisten Menschen. Wie \Venige erheben ihre Gedanken zum Uebersinnlichen, Wahren und Seienden ! Das Sittliche bleibt immer ein ideales, durch Analyse und Abstraction von der Materie losgelostes, sclnver gewonnenes Gut, wozu tiefes Nachdenken erforderlich ist: die Menschen scheuen aber nichts mehr als tiefes Nachdenken. Sie sitzen, wie Platon es gut versinnbildlicht, in einer halb- dunklen, durch wenige Spalten erleuchteten Hohle, und jeder einfallende Lichtstrahl blendet ihre lichtscheuen Augen. Dnnn aber frohnen auch die meisten, wie Sallust und das Evan- gelium sich ausdrucken, dem „Bauche“, der thierischen Seite des Triebes. Zum vernachlassigten Intellecte gesellt sich auch noch ein zum Guten schwacher W i 11 e, ein Haupt- grund des sittlichen Schwankens. In der sittlichen Anlage des Menschen liegt ein merk- wiirdiger .Widerspruch : auf der einen Seite ist der Mensch rpeistentheils zu schwach. um das eingesehene Gute in Thaten umzusetzen. auf der andern besitzt derselbe einen ausser- ordentlich scharfen Blick, das Gute und das Schlechte zu ' erspahen. Darnach gerath auch das iiberaus strenge sitt¬ liche U r t h e i 1 der Welt: diese weiss sehr wohl die sittlichen Vorziige zu schiitzen, ist aber auch sofort bereit. die Blossen und Laster aufzudecken. Sehr richtig bemerkt daher Lombroso, die AVelt sei ein strenges Forum der Sitt- lichkeit, und die Gesellschaft eine strengere Sittenrichterin 108 Siebenter Abschnitf. als das Individuum. 1 ) AUerdings bleibt hinter diesem scharfen Urtheil des richtenden Publicums dessen Energie und That- kraffc, das Gute zu verwirklichen. weit zuriick. Der zweite machtige Factor in der Erzeugung der praktischen Sittlichkeit ist das Medium oder M i 1 i e u d. i. sowohl die Gesammtheit aller den Menschen umgebenden concreten Dinge als auch jedes, auch das kleinste und gering- fugigste Ding seiner Umgebung. Auf die Sittlichkeit kann auch das Kleinste Einfluss iiben dadurch, dass der Mensch es sich vorstellt; denn in den Vorstellungen gibt es keinen qualificierten Unterschied in Bezug auf' deren Eimvirkung auf den Geist. Eine jede Vorstellung kann auf denselben gleich folgensclrvver einwirken. Zum Medium zahlt auch die Z e i t als der In- begriff aller ununterbrochen aneinander gereihten Veran- derungen der Dinge. Die Zeit in der Form des Menschen- und Zeitalters tibt auf die Sittlichkeit einen bedeutenden Einfluss. Ebendahin gehiirt das Klima nebst allen Ver- schiedenheiten des Bodens. Ich brauche nur auf den unge- heuren Einfluss hinzuweisen, den die Erwarmung der Erde durch die Sonne auf den Charakter des menschlichen Geistes, auf seine Thatigkeit, seinen Willen, auch auf die Muskel- und Nervenconstitution ausubt. Zum Milieu rechne ich ferner die Sprache, die Religion die Literatur, die Ernahrungsarten, die socialen und politischen Einrichtungen, besonders die sittliche Atmosphare, endlich als eine der wichtigsten Einwirkungen, die Macht der Cultur, Civilisation und der Erziehung im weitesten und engsten Sinne. Es ist schwer zu sagen, welche von diesen Einwirkungen auf das Gemiith die starkste ist; denn eine jede kann dem Willen eine neue und besondere Richtung geben, eine jede kann sich das Individuum sittlich assimilieren. Und die A s s i m i 1 a t i o n s 1' a h i g k e i t des Menschen ist eine ganz ausserordentliche. Bei genauer Beobachtung ist man erstaunt zu sehen, wie wenig Spontaneitat und Originalitat es in der menschlichen Gesellschaft eigentlich gibt. Die Massen — zu denen ich in dieser Beziehung keineswegs den sogenannten Pbbel allein rechne — ahmen Alles unterschiedslos nach, Gutes und Schlechtes, Verniinftiges und Lacherliches, bloss weil es ntodern. weil es neu ist. Das Menschenkind ist durch die Lebens- schicksale und durch die Leidenschaftlichkeit gereizt, blasiert. nervos. Daher seine ausserordentliche Nachahmung, um den bestandig einwirkenden Reiz auszulbsen und loszuwerden. ') L o m b r o s o : Der Verbrech. I. 25 (der Einleit.) Veranderlichkeit des sittlichen Gharakters. 109 Verni wir nun auf der einenSeite die ungeheure Macht ues Muieus, auf der anclern die schwankende Kraft der Menschennatur in Betracht ziehen, so werden wir leicht be- greifen, warum der sittliche Charakter so veranderlich und so unbestandig ist, dass ihn die Vorgiinge in der Aussenwelt bis auf den tiefsten Grund zu erschiittern und bis auf den innersten. von der Natur ihm eingepflanzten Kern ura- zugestalten imstande sind. Nur dieser urspriingliche Kern bleibt zuletzt ubrig, und aus diesem kann sich der Charakter wieder regenerieren ; alles iibrige an ihm Vorhandene schivin- det leicht dahin. Daher wird man es erklarlich und begreiflich finden : dass auch ein u r s p r ii n g 1 i c h gut a n g e 1 e g t e r Charakter mit der Zeit d e g e n e r i e r e n, ein s c h w a c h e r Charakter verbesserf und, zwar selten, ein z um Schlechten hinneigender in einen g u t e n sich verwandeln kann. So lehrt es eben die Erfahrung. Mit zunehmendom Lebensalter zeitigen und festigen sich auch die Charaktere, ja, sie \vandeln sich ofters auch vbllig um. Aus einem Menschen, der in seiner Jugend ein \Veichling war, wird manchmal in den reiferen Jahren der tiichtigste Mann. sogar ein Held; mancher Phantast und Schwarmer wird durch die Schule des Lebens ernuchtert und wird der praktischeste Arbeiter; so mancher Brausekopf und Freiheitsstiirmer \vird zum geschmeidigsten Beamten; so mancher etwas lockore Jiingling mit der Zeit ein musterhafter Ehegatte; mancher Verschwender wird auf seine alten Tage ein Geizhals und mancher Allerweltsfreund ein zweiter Timom Manche Menschen, die in Ehren grau geworden. bestehlen auf ihre adten Tage eine offentliche Casse und begehen Dummheiten, deren sich ein Jiingling schamen wiirde ; denn Alter schiitzt bekanntlich vor Thorheit nicht. Wer an derlei AVandlungen nicht glauben will, gehe in den Gerichtssaal oder ins Theater.- Beide Orte haben ofters erwiesen, was von vornherein unglaublich schien. Dass die Biihne Spiegelbilder des wirklichen Bebens vortiihrt, diese AVahrheit haben bereits die altclassischen Vblker in vor- trefflicher \Veise gekannt. Eine besonders starke AVirkung auf die Charakterbildung iibt das S c h i c k s a 1 aus. Gliickliche und ungliickliche \ er- haltnisse bestimmen im hohen Grade den Charakter des Sub- jectes. So bemerkt Thukydides, dass Noth und Entbehiung die besten Erzieherinnen seien. Allerdings bemerkt derselbe Historiker. dass die Pest zu Athen alle Bande der attischen Gesellschaft lockerte, und die Unfalle des peloponnesischen Kiie- no Siebenter Abschnitt. ges die Sitten des hellenischen Volkes vollig verderbten. Dasselbe bemerkt Gustav Freytag liber die Wirkungen des dreissigjahrigen Krieges in Deutschland. Aehnliche Bemerkungen macht Sallust liber den Charakter des rdmischen Volkes, welches durch die Erfolge der punischen Kriege moralisch zum Schlechten umgewandelt wurde. Diese scheinbaren Widersprliche losen sich, wenn wir bei der Beurtheilung der socialen Umanderungen den Factor der Entwicklung in Rechnung ziehen. Im individuellen Leben, in welchem die biologischen Umlaufe sich rascher vollziehen, tritt eine Charakteranderung in viel klirzerer Zeit und in rascherem Tempo ein als in der verhaltnissmassig viel langer dauernden Lebensperiode eines Volkes, das Jahr- hunderte und Jahrtausende zu seiner Reife bedarf. Zuletzt kommt es eben auf eine solche Reife an, liber welche Sallust richtig bemerkt : omnia orta occidunt et aucta senescunt 1 ) — alles Organische geht zugrunde, und wenn es ein ge\visses Reifestadium erlangt hat, verfallt es dem Marasmus. Auf ein- rnal, wie mit Einem Zauberschlage wird kein Individuum und kein Volk schlecht, wenn es nicht etwa vom Anbeginn dazu besonders veranlagt ist. Bei edlen Natur en bedarf es daher, da sie immerhin Beimischungen des Schlechten in sich tragen, — denn die Natur schafft nicht immer absolut Voll- kommenes •— einer gewissen Zeit, damit die guten und die schlechten Keime ausreifen. Das heisst aber: in der Cha- rakterbildung hat auch der Coefficient Zeit seine Hand im Spiele. Auch die Gesetze der Dynamik zeigen, dass die Zeit kein leerer Schall, keine blosse Einbildung, sondern ein realer Factor ist. Das Gleiche weist die Biologie auf. Im Leben der N^tionen folgen auf Epochen sittlicher Grosse Zeiten sittlichen Verfalls. Ebenso im Leben eines Indivi- duums. Nur bei Nationen, die sich einer besonders zahen Lebensdauer ertreuen, diirften sich die Epochen eines allge- meinen grossen sittlichen Aufschwungs wiederholen. Einige Worte liber die Echtheit des sittlichen Cha- rakters. Oben habe ich zur Erkenntnis des praktischen Lebens auf das Theater hingewiesen. Aehnlich vergleicht Schopenhauer die lebendigen Charaktere den R o 11 e n der Schauspieler. Ein Schauspieler kann bekanntlich nur diejenige Rolle am besten spielen, die zu seinem wirklichen Charakter pajsst. Der Maske und Rolle auf der Biihne muss also ein bestimmtes Naturell zugrunde liegen. Dieses entgeht trotz Spiel und ‘J Sallust: lug. 2 , 3. Die Echtheit des Charakters. 111 Geberde den Augen des Publicums nicht. Und auf das Ver- haltnis der Rolle zum Naturell darf' man hinweisen, wenn man das wahre Wesen dessen kennen will, was C h ar ak¬ ter eigentlich heisst. Das Naturell — ipuci;. natura ist der Kern des Genriiths, der Charakter — Tpo~oi, moreš eigentlich das .aussere Geprage‘ des Naturells, — das an demselben am scharfsten in die Sinne Fallende. — Allein obschon die Menschen im Leben gewohnlich unter einer fal- schen Maske spielen, so gibt es doch auc.h Naturen — man nennt sie wegen ihrer Aufrichtigkeit .brutak —. welche jede klaske veršchmahen und sich geben, wie sie sind. Napoleon I. spielte bald mit, bald ohne Maske; Fiirst Bismarck fiihrte seine Plane mit verbltiffender Aufrichtigkeit durch. Daher ist Charakter von Charakter zu unterscheiden: der echte muss, auf seine ) Schopenhauer: Die beid. Grundprobl. 1841. S. 253 ff. ) Kant: Kr. d. p. V. 118; — val. dessen „Anthropolog.‘ II Th. § 87 (Kirchmann’s Ausg.) 3 ) Riehl: Kritic. II 2 , 274. Die moralische Erkenntnis. 113 seinen Charakter in einen sittlichen um. Je nachdem mit dem Besitze der Macht die Absicht einer Begliickung oder Be- druckung der Mitmenschen verbnnden wird, ist auch schon das Motiv jenes Strebens ein sittlich zurechen- bares: in ersterem Falle ein lobliches, in letzterem ein un- lobliches, verwerfliches. Die Motive mtissen also, um der handelnden Person angerechnet zu werden, an dem Begriffe der subjectiven Sittlichkeit gemessen werden. Damit die Person in ihren Motiven und Handlungen mit dem Sittengesetze iibereinstimme, ist ihr sittliche Kenntnis und Erkenntnis nothig. Die Einsicht in das Gute setzt einen hohen Grad allgemeiner geistiger Ausbildung vor- aus. Nur wenn der menschliche Geist einen solchen erlangt bat, kann er in das Wesen und die Trefflichkeit des Sitt¬ lichen als einer Forderung der allgemeinen \Vohlfahrt Ein¬ sicht gewinnen. Eine solche Erkenntnis fiihrt nun einen zwiefachen Nutzen herbei: einen directen und indirecten. Der (lirecte besteht in der specifisch moralischen Vervoll- k o m m nung des Subjectes, mit welcher die der Sittlichkeit eigenthiimliche Gliickseligkeit aufs innigste zusammenhangt, der indirecte besteht in der allgemeinen Ausbildung des L e i b e s und der S e e 1 e. Letztere Frucht sieht auf den ersten, Blick einem ganz unerwarteten, der Natur des Sittlichen wenig verwandten Erfolge des sittlichen Strebens gleich; allein bei naherer Betrachtung findet man, dass, wie beide Erfolge einem und demselben Streben entstammen, ebenso beide demselben Endzwecke dienen, dem Weltzwecke namlich. welchem alle Vervollkommnung zusteuert. Es ist dies jener hohere Zweck des Seins, den \vir durch Verstandesschlusse z\var verstehen. aber nicht begrifflich erfassen kbnnen. Die Erkenntnis des Sittlichen und die Erkenntnis schlechthin — dies scheint dann wie ein Dualismus und wie ein logischer Zwiespalt, der in den ganzen Aufbau der wissenschaftlichen Moral einen Riss zu bringen droht —. ist aber in Wirklichkeit die B^olge eines und desselben geistigen Strebens. Denn vergessen wir nicht: das Sittliche beherrscht thatsachlich die m e n s c h 1 i c h e n Bestrebungen und Hand¬ lungen, wie Sallusfs scharfblickender Geist es langst einge- sehen hatte. Der Mangel an allgemeiner Erkenntnis ist das Haupthindernis des sittlichen Fortschritts der Menschheit. Solange die Bildung nicht eine allgemeine wird, verlange nie- mand von den Volksmassen moralische Einsicht und Haltung. Es gibt keinen grbsseren Widersinn als von denjenigen eine 8 114 Siebenter Abschnitt. correcte sittliche Haltung zu verlangen, denen man den Weg zur geistigen Bildung versperrt. Wie kann man Zurechnungs- fahigkeit von Menschen verlangen, die man systematisch in Un- mundigkeit belasst? Es ist iiberdies eine Hartherzigkeit, jemand fur eine Unwissenheit bestrafen zu wollen, in der man ihn wissentlich erzogen hat. Allein nicht bloss Unterricht. sondern specielle moralische Dnteiweisung thut noth. Eine solche solite principiell aiisgesprochen sein und in syste- matischer Weise ertheilt werden. Dazu ist allerdings ein Sittencodex nothwendig, dessen Anlegung sicherlich leichter ist als die Abfassung eines allgemeinen biirgerlichen oder strafrechtlichen Gesetzbucb.es. Darin miissten die wich- tigsten sittlichen Pflichten und Verbote enthalten sein. Da es bereits eine ausgebildete Moral, die christliche, gibt, so konnte durch eine Verschmelzung derselben mit der prak- tischen Philosophie ein solcher Codex arn leichtesten her- gestellt werden, wobei man alles Confessionelle wegliesse. Eine philosophische, auf praktischer Erfahrung und Wissen- schaft beruhende Moral, welche dem allgemein-menschlichen Bediirfnisse nach Sittlichkeit entgegenkommt, konnte den ver- schiedensten Anspriichen gentigen. Dieser Aufgabe kann keine Religionsmoral nachkommen, da eine jede das ihr Spe- cifische, Dogmatische hervorkehrt und den Begriff der Moral mit Dogmen verbindet ; die Philosophie dagegen appelliert an das allgemein-menschliche Gefulil und an den allgemein- menschlichen Verstand allein. Sehr vortheilhaft wiirden auf die Verbreitung ethischer Grundsatze populare Vortrage einwirken, welche sich auch iiber alte und neue literarische Erscheinungen ergehen konnten. Die ethischen Gesellschaften triigen zur Forderung ihrer Zwecke bedeutend mehr bei, \venn sie sich strenge an ihr Programm hielten, innerhalb dessen es wahr- lic-h nicht an Abwechslung fehlt. Durch Popularisierung der Ethik wiirde am besten der heute iiblichen Ausrede der Verbrecher vorgebeugt werden, sie seien in sittlicher Un- \vissenheit belassen und von der Gesellschaft in der Er- ziehung vernachlassigt worden. Um die Befolgung der Sittengesetze sicherer zu stellen, muss schon . auf das erste Auftreten der Motive scharfes Augenmerk gerichtet werden, da bereits in der Gutheissung schlechter Motive die schlechte That zum grossten Theile enthalten ist. Hier, an der Schwelle der Thaten, bei den Motiven liegt die erste Erprobung der sittlichen Einsicht und Gesinnung. Die Fehler, Laster und Verbrechen der Menschen haben anerkanntermassen in den schlechten und verkehrten Be- Der Zwcck und seine Mittel. 115 weggrunden ihren Hauptsitz. Es steht psychologisch fest, dass die Motive vollkommen frei und von selbst im Gemiithe auf- treten. ebenso steht es ethisch fest, dass das menschliche Gemuth von siindhaften Neigungen ausserordentlich haufig heimgesucht wird — jeder Mensch theilt diese Schwache mit Shakespeare’s Hamlet, der offenherzig seine Gebrechen aufzahlt —, allein ebenso wahr ist es, dass es keine echte Tugend ohne einen ernsten Kampf mit den schlechten Neigungen und Versuchungen gibt, dass somit nicht im Frei- sein von schlechten Motiven, sondern in deren tapferer Be- kampfung und erfolgreicher Bekriegung die Tugendhaftigkeit liegt. Und gerade in der Hemmung der schlechten Motive liegt das Kennzeichen einer hoheren Tugend, als es die ist, welche in der Ausfuhrung guter Motive besteht. Die Tapferkeit und Grosse des Sieges wird an der Schwierigkeit und Ge- fahrlichkeit des gelungenen Unternehmens bemessen. Wer den ersten Versuch mit Gliick und Muth bestanden hat, schopft daraus frischen Muth und neue Lust, sich in der Selbstiiberwindung wiederum zu versuchen. Einer skeptischen, rein naturalistischen, bloss mechanischen, nicht auch Willens- gesetze anerkennenden Moral stehen in diesem Funkte Er- fahrung und Geschichte entgegen, welche beide lehren, dass ein Sieg des Subjectes im Kampfe wider die schlechten Motive keineswegs unmoglich, jedoch erst nach harter Arbeit moglich ist. Doch die Griinde fiir diese Behauptung werden in einem spateren, besonderen Abschnitte beigebracht werden. Vorlautig ■vvill ich bloss bemerken: halt man solche Ueberwindung nicht fiir moglich, dann allerdings ist die Ethik nur eine descriptive, nicht aber auch eine sanative \Vissenschaft. Dass sie auch sanierend wirkt, und dies durch Einfiihrung in das Wesen des Sittlichen, ist meine feste und unerschutterliche Ueberzeugung, welche sich auf die grosse Macht der menschlichen Ein- sicht und eines ausgebildeten Willens stiitzt und berufen darf. — Es bleibt uns noch die Besprechung der vierten Ursache der subjectiven Sittlichkeit iibrig, welche sich auf die Mittel des Handelns bezieht. Die Definition der Mittel, die von dem Medium genau zu unterscheiden sind, habe ich bereits einmal gegeben: es sind darunter die zur Erreichung eines Zieles fiihrenden Zwischenactionen zu verstehen. Die Mittel sind als ebensoviele Ziele der in einer Handlung in- begrifferlen Bewegungen zu denken. Nur sind dieselben dem Endzwecke einer Handlung untergeordnet. Diesem Zwecke gegeniiber erscheinen sie namlich als Neben- zwecke. Auch die Mittel sind dem Sittengesetze unterworfen 8 * 116 Siebenter Abschnitt. und mussen mit diesem ubereinstimmen; sie sind in Bezug auf ihre Sittlichkeit keinesvvegs gleichgiltig oder indifferent. Dies beweist die Erfahrung. Alle Menschen wollen in irgend- einer Hinsicht oder vollkommen gluckselig sein und \venden ; zu diesem Behufe die verschiedenartigsten Mittel an : die Guten Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Redlichkeit. Friedfertigkeit, kurz sittlich lobliche Mittel, die Schlechten sind in ihren Mitteln nicht wahlerisch und wollen durch Ungerechtigkeit. Liige, Betrug, Raub, Mord. Uebermuth, kurz ohne Rucksicht auf Sittlichkeit oder Unsittlichkeit ihren Z\veck erreichen. Letztere Handlungsweise steht jedoch im \Viderspruche zum Sitten- gesetze und zu den sittlichen Pflichten. Aus dem Begrifte der Mittel als Nebenzwecke. \velche vor dem Endzwecke er- reicht sein mussen. folgt der Satz: der Zweck heiligt s e i n e Mittel nicht. Fragen wir uns nun, ob vielleicht g u t e Mittel einen schlechten Z vrečk. zu heiligen verni ijgen. Audi dies muss auf Grund der Erfahrung verneint \verden. Schone Worte, scheinbar Acte der Sympathie und des Wohhvollens. konnen niemals eine beabsichtigte Tiiuschung oder einen Betrug rechtfertigen ; Spenden, scheinbar Acte der Grossmuth. konnen niemals den Erkauf einer ungerechten Beihilfe rechtfertigen ; Nachsicht und Milde. sonst Acte der Menschenfreundlich- keit. konnen niemals zur Rechtfertigung einer Pflichtunter- lassung oder Corruption dienen; Ehren und Auszeichnungen, sonst als Belohnungen fiir gute Dienste verliehen, konnen niemals schandliche Auftrage und unmoralische Dienstleistungen in ehrbare Handlungen umwandeln. A1 s o w e r d e n a u c h die. scheinbar besten und loyalsten Mittel niemals durch schlechte Zwecke geheiligt. H. Spencer hat einerseits recht, wenn er das ethische Urtheil auf die nothwendige sittliche UebereinStimmung zwischen den Zwecken und Mitteln lenkt, aber unrecht, ,wenn er alle s sittliche Streben auf diese Uebereinstimmung beschrankt,')da es im Sittlichen nicht minder ant die Uebereinstimmung der Zwecke mit dem Sittengesetze ankommt. — Durch Verbindung der beiden obigen Satze ent- steht ein dritter allgemeiner ethischer Grundsatz, welcher lautet: sowolil die Endzwecke als die Mittel einer 11 a n d 1 u n g miissen an sich loblich sein. — Durch Umkehrung der Qualitat obiger Satze ergibt sich folgender die Zwecke und.deren Mittel betreffender Satz: eine Hand- lung wird unsittlich, wenn deren Zweck oder ileren Mitte ; l 0 ,a.de.r beide zugleich schlecht sind. 0 H- * P tli cer: Thats. d. Eth. S. 72—73. Der Fali Marie Schneider. 117 Nachdem ich die Hauptursachen der subjectiven Sittlich- keifc dargelegt habe, will ich dieselben an einem concreten Bei- spiele erproben. Dazu wahle ich einen Criminalfall, welche.n Paul .Lindau des genaueren dargestellt und ethisch zergliedert hat. 1 ) Der F ali betrifft die zwolfjahrige Verbrecherin Marie Schneider, die durch die Todtung eines dritthalbjahrigen Madchens ins Criminal kam und zu achtjahriger Gefangnisstrafe verur- theilt wurde. Der Vertheidiger und die Gerichtsarzte erkannten auf moralischen Irrsinn, also auf Unzurechnungsfahigkeit, der Gerichtshof jedoch nahm die auffallige intellectuelle Fruhreife des Madchens zur Grundlage einer gerichtlichen Verurtheilung. Das Madchen erzahlte den Hergang der That mit vollster Klarheit, legte auch die Motive seiner That ganz offen dar und war sich bewusst, ein Verbrechen begangen zu haben. Das Grundmotiv, von welchem die jugendliche Morderin ge- leitet wurde, bestand in »GefrassigkeitL Das Madchen war von kleinauf eine Nascherin und ward durch dieses Laster zur Verbrecherin. Das Gericht constatierte, dass dieses jugend¬ liche Geschopf, welches mit schaudererregender Gleichgiltig- keit und Kaltbllitigkeit seinen Plan ausfiihrte und ebenso dessen Ausfuhrung vor dem Gerichtshofe erzahlte, jedes menschlichen Gefiihls bar sei. „Du hastkein Herz, kein Gemiith!“ waren die Worte des Vorsitzenden, als er dem Madchen das Urtheil ver- kiindigte. Und eben dieses Verdict bildet den Streitpunkt in Betreff der sittlichen Auffassung der angefuhrten That. War das Madchen eine moralisch Kranke oder eine zurech- nungsfahige, daher gesetzlich strafbare Person? Ge- horte das „Kind“ in ein Correctionshaus oder in ein Gefangnis? War Marie Schneider von Geburt aus eine Verbrecherin oder ist sie es erst mit der Zeit geworden? — Paul Lindau meint, der Intellect des Madchens war vollig entwickelt; dasselbe wusste, was es t-hat, sein sittliches Gefiihl jedoch, was man Herz oder Gemrith nennt, ware vollig unentwickelt, ein reines „Nichts“ gewesen. Dies habe das Madchen durch sein offenes, entschiedenes Gestandnis bewiesen. dass es sich zwar liber seine That nicht freue, aber liber dieselbe auch keine Reue empfinde. Paul Lindau meint daher, die Morderin sei auch ganzlich unfahig gewesen, sich jemals zu bessern. und daher ware deren Unschadlichmachung durch lebenslangliche Inter- nierung in einem Zuchthause die einzig richtige Bestratung gevvesen. — Mein Urtheil liber den angefuhrten Fali ist nach den eben entwickelten Grundsatzen nachstehendes. Die mora ‘) C. Lombroso : Der Verbrecher. IS 5 42 ff. 118 Siebenter Abschnitt. insanity konnte in diesem Falle, was iibrigens auch Paul Lindau bedauert, durch die Aussagen der Zeugen nicht con- statiert werden. Weder wissen wir — da der Vater des Mad- chens zur Zeit der Verhandlung bereits todt \var und sem Charakter vorher nie genau erforscht \vorden war, die Mutter aber sich aller Aussagen entschlug, — ob die Eltern irgendwie mit einem Laster bebaftet waren, das auf die Marie erblich iibergegangen ware, noch ob das Kind Krankheiten durchge- macht habe, die in ihm einen sittlichen Defect zuriickge- lassen hatten. Dass das Madchen in seiner friihesten Jugend ausserst roh und grausam mit Kaninchen umgieng, daran wusste sich dasselbe dunkel zu erinnern. Dass es von der Mutter -vvegen seiner Schlechtigkeit viel geschlagen worden, ist nach den Aussagen der Delinquentin ganz glaublich, und gerade die Lieblosigkeit der Mutter — Falle solcher Art sind etwas ganz Gewohnliches — und deren Vorliebe fiir die friih verstorbene Schwester der Verbrecherin lassen Gefiihls- verrohung der letzteren leicht erklaren. Einen sehr bedenk- lichen Umstand fiir die Beurtheilung der Charakterbildung des Madchens bildet jedoch dessen Umgang mit einem sittlich ver- worfenen Madchen von zwanzig Jahren, von dem Marie Schneider allerlei Schlechtigkeiten lernte, was sie auch depo- nierte. Ebenso corrumpierend wirkte auf deren Gemuth die Zeitungslectiire, besonders der Umstand, dass sie ihrer Tante Gerichtsverhandlungen vorlas. Da hatten wir ja ausserst wichtige Daten, dass die jugendliche Morderin in einem un- sittlichen Milieu aufwuchs. Wie leicht entstand so in der Brust des Madchens das Verlangen, derlei gruselige Dinge selbst einmal mitzumachen. Von ihrer Unmiindigkeit erhoffte sie sich, \vie sie selbst gestand, eine mildere Bestrafung. Um einen so geringen Kaufpreis, eine milde gesetzliche Be¬ strafung, den man ihr unvorsichtigerweise vorberechnet hatte, konnte sie, wie sie glaubte, ein so schamiges Spiel schon mitmachen. Freilich wurde ihr die Rechnung verdorben, da sie, obwohl von den Aerzten fiir ein Kind erklart, den- noch als v Verbrecherin" den Gerichtssaal verliess. — Ob Marie Schneider trotz ihrer Gemiithsrohheit besserungsfahig war oder nicht, konnte nur der Erfolg der Bestrafung ent- scheiden. Nach meiner Theorie war ihre Besserungsfahigkeit nicht geradezu ausgeschlossen, da sie gerade durch die Be¬ strafung, dann durch die an ihr gemachten Besserungsver- suche, ferner durch ein reiferes Alter und bei ihrem hellen Verstande, dem es hauptsachlich infolge der Umstande an sittlicher Erkenntnis und Ueberzeugung gebrach, ihren ver- kehrten Lebenswandel einzusehen und zu bereuen Gelegen- heit finden konnte. Der Fali Marie Schneider. 119 Demnach kann Marie Schneider nicht mit Bestimmtheit als ,sittlich krank 1 oder als ,native‘ Verbrecherin bezeichnet werden, wie Lombroso und Paul Lindau annehmen. — An- ders stiinde unser Urtheil, wenn es erwiesen ware, dass 'Marie Schneider trotz einer sorgfaltigen Erziehung schlecht gewesen ware. Dann wiirde der Zweifel an ihrer nativen oder hereditaren Verbrecherneigung wohl ein begriindeter gewesen sein. Die zur moralischen Qualification nothwendige Kenntnis der sittlichen Grundsatze war bei dem Madchen zwar vor- handen. denn dasselbe wusste laut eigenem Gestandnisse, dass seine That eine schlechte, strafbare war. Das Madchen wusste auch die betreffende Katechismusstelle liber das funfte Gebot und sogar die biblischen Belegstellen zu der- selben exact herzusagen, wusste auch genaue Definitionen der Verbrechen des Diebstahls, Betrugs und Mordes anzu- geben. allein seine ,sittlichen Krafte‘ — Herz, Seele, Gemuth — waren ganz und gar unausgebildet. Daher besass die jugendliche Verbrecherin nur eine .Kenntnis 1 aber keine znm Herzen gehende ,E-r kenntnis 1 des Guten und Schlechten, wie sich Paul Lindau ausdriickt. Bei ihrer sitt¬ lichen Unreife ist es begreiflich, dass Marie Schneider die Motive ihrer grauenhaften That nicht unterdriickte und auf die unrichtigsten Mittel verflel, ihre Leidenschaft zu be- friedigen. indem sie dem Kinde vor dessen Ermordung die goldenen Ohrringe ausriss, uni sie zu Gelde zu machen und sich Naschereien zu kaufen. und um das Kind am Schreien zu verhindern, es iibers Fenster warf. Scheinbar war dies ein ganz logischer Vorgang, allein in AVahrheit bevveist das Miss- verhaltnis zvrischen dem grossen Aufwande von Mitteln und dem geringfugigen Zwecke einen grossen Mangel an sittlicher Logik d. h. an der Fahigkeit, die Dinge nach deren allge- meinem Nutzwerte abzuschatzen. Schon darin liegt das Kenn- zeichen der sittlichen Unreife des Madchens, welches doch nur wie ein Kind dachte. Aus ebendemselben Grande em- pfancl das Madchen auch nicht jenes B sittliche Grauen . welches den verstandesreifen Verbrecher vor und nach der That zu beschleichen pflegt. 1 ) Das in AVahrheit unmundige Mad¬ chen war somit nicht gerichtlich zu verurtheilen, sondern einem Correctionshause zur Erziehung zu ubergeben, — Nach den tausendjahrigen Erfahrungen der Menschheit darf man behaupten: die Moral itat ist die Gr u n d- lage alles socialen, politischen, okonomisc len und rationellen Lebens der Volker. Das haben die *) Lombroso: ebend. I. 547. 120 Siebenter Abschnitt. •vveisesten und vernlinftigsten Manner aller vorgeschrittenen Nationen eingesehen und daher auf eine grundliche mora- lische Besserung ihres Volkes gedrungen. Auch ist es ge- schichtlich erwiesen, dass im Kampfe der Individuen und Volker um ihre Existenz in der Reg.el diejenigen als Sieger hervorgehen und sich erhalten, welche den sittlichen Trieben und Anregungen folgen und ihr privates und bffentliches Leben nach sittlichen Principien einrichten. Es mogen manchmal un- sittliche Mittel zu einem momentanen, ausserlich sogar glan- zenden Erfolge gefuhrt haben, allein die Folgezeit bewies, dass dies nur Scheinerfolge waren. Jene Staaten, welche mo- ralisch hdher stehen, werden auch stabilere Verhaltnisse auf- vveisen und widerstandsfahiger sich bewahren als solche, die auf List, roher Gewalt und auf corrupter Wirtschaft be- ruhen. Der Grund dieses Unterschiedes liegt eben in dem ungeheuren Einflusse der sittlichen Kraft. Indem das Individuum — als Einzelperson und Volk — sich in den Ilienst der sittlichen Interessen stellt, kommt ihm alles librige wie von selbstzu. Dies erklartsichaus den Begleiterscheinungen des sittlichen Strebens, durch vvelches der Geist gescharft und der Wille gestahlt wird, wodurch dann auch die leib- lichen Krafte zunehmen. Auf solche Art macht die Sittlich- keit das Subject fiir alle Anforderungen des praktischen Lebens tauglich und geht in eine allgemeine Disciplin des menschlichen Geistes iibor. In der That greift die sittliche Zucht in alle praktischen Disciplinen ein und beherrscht die Padagogik, Methodik, die gesammte Geistesdiatik, selbst die Lebenskunst, die zwar nicht ihr unmittelbares Ziel bildet, kurz die ganze menschliche Gesittung und Civilisation. Aus der Rtickwirkung der Moralitat auf die Behaglichkeit des Lebens, welche sonst in Wohlleben ausarten wiirde, lasst Kant die „gesittete Gltickseligkeit“ des Menschen hervorgehen. 1 ) Die in der subjectiven Sittlichkeit sich vollziehende Con- centration der geistigen und leiblichen Krafte fordert zum Nachdenken liber das mystische \Vesen des Ethischen auf. In der er\vahnten Concentration liegt ebenso die Frucht als das Merkmal der Moralitat. Sie ist eine Vereinigung zweier Eigenschaften, die einerseits dem Geiste den Begriff des Sitt¬ lichen so dunkel und schwankend, andrerseit^ den Gefiihlen so fasslich und greifbar erscheinen lassen. Einmal zeigt sich das Sittliche als eine iibernaturliche, metaphysische Macht, die da herrscht und imponiert, einandermal als eine tief in der Menschenbrust schlummernde Kraft, vvelche nur gege- ‘) Kant: Anthropolog. II. Th. S. 197. VViikungen des Sittlichen. 121 benenfalls aus ihrer scheinbaren Ruhe mit Gewalt auffahrt, ein andermal \vieder als eine Macht. die mit zwingender Gewalt und rauher Hand in die Weltinteressen eingreift, dann wieder als eine stille Seligkeit. welche das Gemiith mit dem beseligendsten Gefiihle von Befriedigung und Zufriedenheit er- fiillt, manchmal \vieder als ein beruhigendes Gefuhl der Ab- hangigkeit von etwas, das man begrifflich schwer zu deuten vermag, einer Abhangigkeit, die nicht Schwache und Ver- zagtheit, sondern Sicherheit, Trost und Selbstvertrauen ein- flosst, da sich der schwache Mensch von einer hbheren Potenz getragen wahnt — ein Gefuhl. ga.nz dem der Religiositat ver- gleichbar. niit welcher die Moral vielfach Quelle und Ursprung gemein hat. Diese Wahrnehmungen alle beweisen aber, wie complioiert, wie ungemein zusammengesetzt das Wesen des Sittlichen ist, das in scheinbar e i n a n d e r wider- sprechenden Gestalten auftritt. u. zw. als Selbst- beherrschung und Thatkraft, als Gerechtigkeit und geordnete Selbstliebe, als Selbstvertrauen und Bescheidenheit. als naives Gefuhl und hochste Erkenntnis. bald als individuelle bald als sociale Triebkraft. Die Merkmale des Sittlichen sind so wun- derbar in einander verschlungen. \vie es nur die Ftihig- keiten und \Vege des menschlichen Geistes selbst sind. Aehter Absehnitt. Topik der Tugenden und Laster. Die Topik der Tugenden ergibt sich aus der Erwagung der verschiedenen ethischen Pflichtverhaltnisse. Letztere sind im Abschnitte von der Verpflichtung in drei Arten eingetheilt worden: in ideale, sociale und personliche. Ihnen entsprechen ebensoviele Arten von Tugenden. Daniit ware die Topik der Tugenden und Laster im allgemeinen angegeben. Da es iiber- dies keine sogenannten Cardinaltugenden gibt, indem eine jede Tugend die Reihe der iibrigen eroffnen kann, so scheint auch jede weitere Eintheilung der Tugenden uberflussig. In- des sprechen methodische Grande dafur, jene Tugenden vor- anzuschicken, welche die Haltung der Person sich selbst gegeniiber betreffen, weil die Erfiillung der iibrigen vielfach durch die Qualitat der personlichen bedingt ist. Ich schicke daher die personlichen Tugenden voran und lasse diesen die socialen und idealen nachfolgen. Innerhalb jeder Gruppe aber gebe ich jenen Tugenden den Vorzug, welche den Charakter der Art am scharfsten ausdriicken. Dies thun z. B. unter den personlichen die Selbstbeherrschung und Perfection, unter den socialen die M e n s chenl i ebe und Gerechtigkeit, unter der idealen die A c h t u n g und \Vertschatzung. Worin besteht nun die Selbstbeherrschung, welche die Reihe der personlichen Tugenden eroffnet? —- Zunachst in einer lebhaften, eindringlichen und dauerhaften Vorstellung der objectiven Sittlichkeit, wodurch ganz wie bei der Entstehung der Verpflichtung Uebereinstimmung des Den- kens und Handelns mit dem Sittengesetze erzeugt wird. Sind einmal die Motive und Zwecke unsers Handelns mit dem Sittengesetze im Einklange, so gelingt einem sittlich geschulten Die Selbstbeherrschung. 123 Charakter auch die Herrschaft uber sich selbst. d. i. iiber seine Gefiihle, Vorstellungen und Handlungen. Insbesondere wird es ihm gelingen, die sich aufdrangenden schlechten Mo¬ tive, abzulehnen und die edlen festzuhalten. Freilich. ohne diese Schulung fallt die Selbstbeherrschung nur ausserordent- lich begnadeten Naturen zu. \Vie wenig sich die Menschen in ihren Sympathien und Antipathien zu beherrschen ver- raogen, ist manniglich bekannt.. Kein Uebel richtet in der Gesellschaft mehr Unheil a.n, als die ungeziigelte Herrschaft der Anthipathie. —• Allein, wie e n t s t e h t die Selbstbeherrschung ? Durch spontane Associationen aller jener Vorstellungen, welche sich auf das sittliche Handeln beziehen. Diese Associationen sind im z\veiten Abschnitte ausfiihrlicher besprochen worden. Also die Motive, Zwecke, Mittel und die, That flnden sich bei ernster sittlicher Bestrebung von selbst zusammen. Ist jene Uebereinstimmung der Gesinnung mit dem erkannten Sittengesetze einmal da. so tritt die Tugendhaftigkeit mit N a t u r n o t h w e n d i g k e i t ein ; es braucht keiner „kiinst- lerischen“ Beihilfe des Subjectes, um in die „Begeisterung“ fiir das Sittliche „Besonnenheit“ zu bringen, wie J. H. Fichte sich den Vorgang bei der Selbstbeherrschung vorstellt. 1 ) Die einzige Kunst, deren. es bedarf, ist die stets lebendig unter- haltene Vorstellung des Sittlichen: diese muss zur zweiten Natur werden. Ein plotzliches Dazwischentreten des Subjectes wahrend oder unmittelbar vor der That ware ein abenteuer- licher, dem deus ex machina vergleichbarer Act, wahrend die Selbstbeherrschung ein natiirliches Product der sittlichen Ent- wicklung, ein Stuck seiner inneren Geschichte ist. Kant lasst in der Selbstbeherrschung die „reine Ver- nunft“ iiber den ,,Willen“ die Oberhand gewinnen, da die Vernunft ein hoheres Wesen. der Wille ihr „untergeordnet " sei. 2 ) Allein das sind leere Personificationen; zudem der Wille von Kant vollig vag vorgestellt. etwa wie ein, Impuls des Triebes. Deberdies ist Kant’s Darstellung die altiiberlieferte stoische, die ein „oberes“ und „ unteres “ Seelenvermogen unterscheidet, und das Subject — also einen Britten — da- zwischentreten und entscheiden lasst, lauter unhaltbare An- nahmen. — Aehnlich fasst Steinthal den Process der Selbst¬ beherrschung auf, indem er bemerkt: »Wir stellen Krnit gegen Kraft, Gesetz gegen Gesetz/ 3 ) Allein wer und wo ist dieses 3 wir“ wahrend der Selbstbeherrschung, und wn uu i) J. H. Fichte: Syst. d. Etb. 237. J ) Kant: Kr. d. p. V. lo. 3 ) Steinthal: AVg. Eth. 346—347. 124 Achter Abschnitt. diesa seine Macht. „Kraft gegen Kraft" zu stellen? — Wo das Subject d i e s kann, da braucht es keiner Krafte mehr. Richtiger ist Spencer’s Darstellung, der die „Selbtsiiber- windung“ als .eine Resultierende mehrerer Componenten be- trachtet. Als solche fuhrt er unter andern die Einsicht, das Gewissen. den Selbsterhaltungstrieb, das Mitleid. den ver- niinftigen Willen an. 1 ) — Kurz, die Selbstbeherrschung ist die Frucht eines lange dauernden, consequenten. sittlichen Strebens, welcb.es ganz von der Idee der Sittlichkeit durch- drungen ist. Man wird die nunmehr von mir aufgeworfene Frage, ob denn die Kraft der Selbstiiberwindung als solche schon eine T u g e n d sei, vielleicht sonderbar finden. Allein sie scheint mir berechtigt. Denn ich will es nur gleich sagen, was ich mit jener Frage meine, ob namlich die Selbstbeherrschung auch schon ohne sittliche Absichten loblich sei. — Dies kann sie nicht sein, so vielberiihmt auch die „Besonnenheit“ oder aui-ppoauvvi der Alten ge- wesen sein mag. Ohne die sittliche Beziehung bleibt sie in- different, ja, sie kann ohne diese sogar schlecht sein. Man darf sagen: je starker die Selbstsucht. desto grosser die Selbstbeherrschung der Person. Gerade die grossten Schurken und Gauner wissen sich zur rechten Zeit am besten zu iiber- winden und zu' verstellen, um ihre Plane desto sicherer durch- zusetzen. Ebenso halten die kleinen und grossen Gewalthaber in vranderbarer Weise an sich, um geeigneten Orts und zu passender Zeit mit umso grosserer Wucht loszubrechen. — Gerade an der Selbstuberwindung, als einer der hochsten psy- chischen Leistungen. die sowohl den tugendhaftesten als den verworfensten Charakteren eigen sein kann, konnen \vir er- sehen , wie die sogenannte ,f o r m a 1 e‘ Ethik , die ein streng gesetzmassiges und consequentes Handeln schon zur Tugend stempelt, ganzlich unzureichend ist. Wofern nicht auch die Motive, Zwecke und Mittel sittlich sind. hat die gesetzmassigste Handlungsweise keinen moralischen \Vert. Obwohl auf der einenSeite Einschrankung. ist die Selbst¬ beherrschung auf der anderen dennoch die grosste F r e i- heit, deren der Mensch fahig ist. In der Entsagung. in der Selbstiiberwindung liegt die sittliche Grosse, die sittliche „Er- habenheit 11 des Menschen ; in der Selbsteinschrankung liegt auch die hochste Stule der privaten und politischen T reiheit innerhalb einer verbundenen Gesellschaft. 'j Spencer: Thats. d. Eth. 125—126. 125 Die Selbstbeherrschung Unter dem Einflusse der Selbstbeherrschung stehen verschiedene personliche Tugenden, welche von den hochsten bis zu den niedrigsten hera,b eine Art ethische Tonleiter bilden. Zu diesen sind zu zahlen: die T h a t- kraft, der personliche Muth. die Standhaftigkeit. Entschlos- senheit, die sittliche Entschiedenheit. Gegensatze derselben sind : der Kleinmuth, die Zaghaftigkeit, die Unentschlos- senheit, Feigheit, \Villensschwache, der AVankelmuth, die Vel- leitat. die Schlaffheit, die sittliche Ohnmacht und als nnterste negative Stufe, die Verzweiflung. Ein Uebermass von Tapfefkeit erzeugt Tollkiihnheit, Trotz. Eigen- und ^tarrsinn. Aus der Beschrankung des Egoismus gehen folgende i ugenden hervor : die E n t h a 11 s a m k e i t. Massigung, Massigkeit, Geniigsamkeit, Zufriedenheit. Wenn Schopenhauer die Enthaltsamkeit, wie alle iibrigen Tugenden. auf sein sitt- liches Princip, das Mitleid, zuriickzufiihren sucht, so gilt diese Zuriickfuhrung wohl nur fiir eine einzige Art derselben, die sinnliche, 1 ) Die diesen Tugenden entgegenstehenden Laster sind : die U n m a s s i g k e i t, AVollust, Ueppigke.it, Schwel- gerei, Selbstsucht. Aus einem Uebermass der Enthaltsamkeit entspringen die Selbstabtodtung und der Geiz. Die A s k e s e rechnet Paulsen zu den Tugenden. 2 ) Doch ist deren Wert nicht immer ein positiver ; an sich ist die Askese indifferent. Der Geiz lasst ausser der personlichen B(>ziehung auch eine sociologische zu. Daher zahlt er, wie mehrere andere liaster, sowohl zu den personlichen als den socialen Uebeln. Ebenso ist die S e 1 b s t v e r s t ii m m 1 u n g ein Verbrechen gegen die personlichen und zugleich socialen Pflichten. Der S e 1 b s t m o r d, im bewussten Zustande begangen, kann die Eolge verschiedener Laster sein. aber immer bleibt er, wenn er nicht aus krankhaften. unverschuldeten. physischen und psychischen Zustanden hervorgeht. ein Verbrechen (Lom- broso). Schopenhauer begriindet dies damit, dass er denselben fur ein „ Vergehen gegen die Species 11 . welcher durch den Selbst.- mord der Individuen ,,Mittel und AVege der Erhaltung“ ab- geschnitten werden, also sociologisch und juristisch auffasst. ) Doch verstosst der Selbstmord auch gegen die personlichen Pflichten und steht im Gegensatze zum Principe der Selbst- erhaltung und Selbstbeherrschung. Eine dritte Gruppe der personlichen Tugenden und Laster hat die Perfection und Zweckmassigkeit Vgl. Schopenhau er’s Ableitung : Die beid. Grundprobl. d. Eth. 1811 S. 218. h Paulsen: EthilP 386. Schopenhauer: Die beid. Grundprobl. 128—129. 126 Achter Abschnitt. znr Quelle. Die hierher zu zahlenden Tugenden sind: die Arbeitsamkeit, Sorgfalt, Gewissenhaftigkeit, der Fleiss, die Ausdauer, Beharrlichkeit, die Ausbildung des Korpers und der Seele, besonders die sittliche Ausbildung. die leibliche Abhartung, Streben nach grandlichem \Vissen und Weisheit. Deren Gegensatze sind: die Tragheit, Faulheit, der Miissiggang, die Vernachlassigung seiner selbst, der Cynismus, die Nachlassigkeit liberhaupt, der geistige Still- stand, die \Veichlichkeit, ddr Missmuth, Leichtsinn, die Un- gelehrigkeit, der Ruckschritt imWissen und in der Moralitat, die Thorheit. Wir konnen die personlichen Tugenden obiger Art mit der sittlichen Freiheit d. i. dem Inbegriffe des personlichen Wissens und Konnens abschliessen; ihr steht die Unfreiheit und Sclaverei d. h. Abhangigkeit des sittlichen Denkens und Handelns von den Trieben, Leiden- schaften, Lastern und dem Zufall gegeniiber. Ein Uebermass von Gewissenhaftigkeit fiihrt zur Scrupulositat, zum grundsatzlichen Skepticismus oder zur principiellen Zweifel- sucht, welche die Sittlichkeit im Keime erstickt und in schrankenlosen P e s s i m i s m u s ausarten kann. Die sitt¬ liche Skepsis als strenge Priifung seiner selbst und der Mit- menschen ist eine sittlich gute Eigenschaft. Paulsen fiihrt folgende personliche Tugenden an: die Massigkeit, Uebung, Selbsterziehung, den Willen, die Freiheit und Unabhangigkeit, Thatigkeit. Askese, Be- scheidenheit. 1 ) Allein der Wille ist ein zusammengesetzter Begriff, der mehrere Thatigkeiten in sich begreift, die Be- scheidenheit aber auch eine sociale Tugend. Von diesen beiden werde ich spater handeln. Dem Zusammenwirken der Principe Selbsterhaltung und Individualitat entspringt eine besondere Art von personlichen Tugenden, welche zu den eben angefiihrten einen Gegensatz zu bilcLen scheinen, aber durch die soge- nannte ethische Harmonie in statischem Gleichgewichte zu einander stehen. Es sind dies : das Ehrgefiihl oder das Bewusstsein seines personlichen Wertes und seiner mensch- lichen Gleichberechtigung, die Achtung vor sich selbst und das mannhafte Eintreten ftir sein Recht und seine Ueber- zeugung, und diesen ver\vandte Gefiihle. Das Gegentheil des Ehrgefuhls bilden die Bescheidenheit und D e m u t h ; beide sind nur relative Tugenden. Die Bescheidenheit, welche Goethe und Schopenhauer ftir keine Tugend ansahen, ist gleichwohl eine Zierde ihrer Trager, nur darf sie nicht ‘) Paulsen: Ethd 396—405. Die socialen Tugenden. 127 zur Verleugnung der eigenen Person. zur Selbstschadigung und Entausserung seiner Individualitat herabsinken. Nichts ist schwerer, als in der Bescheidenheit das richtige Mass ein- zuhalten. Dasselbe gilt von der Demut h. welche aus einer Vergleichung des Ich mit einem andern, besseren Nicht-Ich, also aus Achtungsgefiihlen hervorgeht. Man darf die Demuth nicht schlechthin aus der Zahl der Tugenden streichen, weil sie gegen die Individualitat verstosse, sondern muss ihr einen besonderen Wert als persiinlicher und z. Th. als socialer Tugend zusclireiben, wenn dieselbe, \vie Kant sie erklart, aus einem Widerspiel des Gewissens und des sinnlichen Hanges der Person hervorgeht. 1 ) Dann ist die Demuth sicherlich eine lobliche Eigenschaft und keine Selbsterniedrignng. Das Uebermass des Ehrgefiihls bilden : der E h r g e i z. welcher, wie Thukydides und Sallust bemerken, ebenso die Quelle der grossten Tugenden als der grossten Laster bildet, daher streng genommen als ethisch indifferent zu betrachten ist; fer- ners der Hochmuth, die Selbstuberhebung, die Selbstsucht. Seinen Gegensatz bilden die Erniedrigung und Wegwerfung seiner selbst. Die Selbstverachtung kann bereehtigt sein. wenn sie infolge eigener Schlechtigkeit eintritt. Von der Wahrung der personlichen Ehre werde ich spiiter reden. Es gibt noch einige personliche Tugenden, vvie die \V a h r h a f t i g k e i t, Treue u. a., doch nehmen auf dieselben ebenso personliche als sociale Pflichtverhaltnisse Einfluss. Ich werde sie daher spater besprechen. Die socialen Tugenden lassen sich in allgemein- humanitare und in specifisch-gesellschaftliche eintheilen. Die Grundlage der ersteren ist die allgemein-menschliche Sym- pathie. die der letzteren die Gerechtigkeit. Die L i e b e der El tern zu ihren Nachkommen ist die pri mitivste Form der Sympathie. der reinste Egoaltruismus. An diese kniipft sich die Pietat in allen ihren Beziehungen an, also die Liebe der Descendenten zu den Ascendenten und beider unter sich, welche Liebe sich zur Anhanglichkeit an den eigenen Volks- stamm, an die eigene Nation, ans Vaterland. an den Sta.it, an die eigene Gesellschaftsclasse : Tribus, Kaste, Corps er- ■vveitert. Ihre griisste Erweiterung besteht in der allgememen M e n s c h e n 1 i e b e, welche jedoch ein Product vieler Fac- toren ist; in die letzteren reihen sich auch der Egoismus, Associationen der verschiedensten Art, selbst blosse Gi wo n heiten ein. Es ist zuletzt nicht mehr die phyletische Sym- pathie allein, die ein so weitumfassendes und erhabenes *) Kant: Kr. d. p. V. 89. 128 Achter Abschnitt. Gefiihl erzeugt. Bei der grossen Entfremdung der Menschen- racen und bei dem stets zunehmenden Gegensatze ihrer Individualitaten mlissen zuletzt aussere und klinstliche Mittel, vvie die Civilisation, okonomische, rechtliche, inter¬ nacionale, politische u. a. Beziehungen die Bindeglieder ihrer Vereinigung schaffen. Trotzdem ist der Schlusseffect dieser Vereinigung ein sittlicher, wenn auch kein rein sittlicher, was Schopenhauer mit Recht bemerkt. Die humanitaren Tugenden haben vorwiegend freie oder doch nicht streng gebundene sociale Beziehungen der Menschen unter einander zum Ziele. Hierher gehort die in- timste Art dieser Beziehungen, die F r e u n d s c h a f t, welche in ihrer ethischen Erscheinung auf Uebereinstimmung der sittlichen Gesinnungen und Grundsatze und auf der Gegen- seitigkeit sittlich loblicher Dienstleistungen beruht. Es gibt ausserdem Freundschaften-, deren \Vurzeln in natlirlichen, persiinlichen Neigungen oder in Verstandesreflexionen oder in andern als ethischen Beziehungen zu suchen, daher von der streng ethischen Wertschatzung auszuschliessen sind. Ferners ziehe ich in de n Bereich der humanitaren Tugenden die auf gegenseitiger Sympathie beruhende und im Dienste ethischer Beziehungen stehende E h e. Man karm die E h e als einen Bund zu gegenseitiger Ieiblicher und geistiger Hilfeleistung und Begluckung auf- fassen, indem man ihren rein sittlichen Z\veck hervorkehrt, dagegen ihren socialen, phyletischen und juristischen in den Hintergrund stellt. Dann steht die Ehe einem Freundschafts- bunde am nachsten, und ihre Bethatigung wird zu einer hohen Tugend. Um dies zu sein, muss die Ehe ihrer Romantik entkleidet, von der rohen Sinnlichkeit losgelost und als eine sittliche Verbindung aufgefasst werden. Es mag ja wahr sein, dass der urspriingliche, naturgemasse und bleibende Zweck der Ehe in der phyletischen Erhaltung des Menschen fortbesteht; allein ebenso offenbar hat es sich mit der Zeit herausgestellt, dass dies keineswegs der einzige und ausschliessliche Zweck der Ehe sein kann. Man befrage dariiber die Erfahrung. Diese sagt es deutlich, dass die Ehe auch lroheren Lebenszwecken dient, die weit liber den phyle- tischen, ja selbst liber den socialen hinausreichen. Sie ist eben ein Mittel zu gegenseitiger Perfectionierung und Be- gllickung der Gatten, also eine ausgesprochen ethische In- stitution. Wenn Steinthal in Anlehnung an Fr. v. Schiller’s Worte die Ehe ilir einen Bund des „ Stark en “ mit dem s Schwachen li Die humanitaren Tugenden. 129 erklart, ! ) so fragt es sich, wer zuletzt der „Starke" bleibt. Dass in der Ehe die Natur als eine schlaue Vermittlerin auf- tritt, um die Fortpflanzung des Menschengeschlechtes zu be- iordern, davon habe ich bereits gesprochen. Aus dem damals Gesagten ergibt sich. dass die ,wilde Ehe‘ siindhaft und unsittlich, dem Gattungstriebe sogar widersprechend ist. was ja auch ihr Ende zeigt, durch das die menschliche Fort¬ pflanzung nur geschadigt wird. Zu den humanitaren Tugenden sind weiters zu zahlen: die Mit fr e ud e und das Mitleid. Schopenhauer erklart das Mitleid fiir die „einzige nicht egoistische Triebfeder 1 . 3 ) Allein bei allem hohen Werte des Mitleids ist es nicht mog- lich, die iibrigen Tugenden aus demselben abzuleiten. Hoher scheint mir die Mitfreude zu stehen. Die Mitfreude erscheint manchmal als eine ubermenschliche Leistung, \vahrend das Mitleid in der Regel wenig Selbstiiberwindung kostet. Man darf schon daraus schliessen, das Mitleid sei eine der ge- wohnlichsten und wohlfeilsten Tugenden. Das ersieht man auch aus der grossen Ausbreitung und intensiven Wir- kung des Mitleids. welche sich in den zahlreichen A n- stalten — „Asylen“ — zur Linderung des menschlichen Elends aussert. Auf das ganz ungeheuerliche Anwachsen des Mitleids machte bereits Voltaire aufmerksam. Spencer hiilt eine Einschrankung der zu ausgedehnten Wohlthatigkeit fiir nothwendig, ;i ) wie er auch — nach Spinoza’s Vorgange kein unbedingter Lobredner des Mitleids ist. 4 ) Zu den humanitaren Tugenden zahlen \veiters : die Giite, Milde, Herablassung. Menschenfreundlichkeit. das Wohlwollen. .Auch diese Tugenden erklaren sich aus der all- gemein-menschlichen Sympathie. Die christliche Ethik sucht sie als Nachdhmungen eines grossen Vorbilds oder Ideals — Christi — darzustellen. 5 ) Interessant ist es, dass fast alle grossen Vorbilder von Giite, Menschenfreundlichkeit und Milde durch ihr Leiden und ihre Aufopferung hervorragende Charak- tere waren, ein Beweis, dass der Mensch nur durch schwere Opfer zur Sittlichkeit gelangen kann. Auf che Humanitat d. i. die allgemein-menschliche Denk- und Fiihlweise gehen die Toleranz oder Duldsam- keit zuriick. Im Wesen der Humanitat ist die G 1 e i c h b e- rechtigung der Menschen als Mitglieder derselben Art begriindet. Alle Menschen sind den gleichen sittlichen Pflichten unterworfen und vor dem objectiven Sittengesetze gleioh. ‘) Steinthal: Allg. Eth. 291. 2 ) Schopenhauer: Die beid. Grundprobl. 1841. S. 2H5 ff. j Spencer: Thats d. Eth. 214. *) Spencer: ebend. 287. 5 ) Dorner: Syst. d. christi Moral. S.31ofl. 9 130 Achter Abschnilt. Deshalb sind sie jedoch ihrem sittlichen Charakter nach nicht gleichwertig, da nicht alle in gleicher Weise ihrer Verpflichtung nachkommen. Auch wird es unter den Men- schen stets verschiedene Anlagen zur Sittlichkeit und mannigfache Abstufungen der letzteren geben. Daher ist aus der ethischen Gleichberechtigung der Menschen noch keineswegs auf eine sociale oder ethische Gleichheit zu schliessen. Es gibt fiir Alle gleiche sittliche Pflichten, aber trotzdem keine sittliche, noch ■vveniger eine sociale Gleichheit. Denn die ethi¬ schen Rechte fliessen aus der Tugendhaftigkeit, diese aber ist nicht bei Allen die gleiche. Rousseau’s, Proudhon’s, Blanc’s u. A. Gleichheitstheorien finden in diesem Grundsatze ihre \Viderlegung. Die moralischen Anforderungen lassen sich aus der Sociologie nicht eliminieren; sie bilden dort wie iiberall eine nicht zu umgehende Schranke. Den Tugenden der Humanitat stehen folgende La s ter gegeniiber: der Ha s s, die Impietat, Feindschaft, Antipathie, Schadenfreude, Hartherzigkeit, Gefiihllosigkeit, das Uebel- wollen, die Inhumanitat, Intoleranz, Hnduldsamkeit, Grausam- keit. Eine principielle Negierung der Menschenliebe ist die Misanthropie oder der Menschenhass, von der die Miso- gynakie oder der Weiberhass eine Unterordnung bildet. Eine Feindesliebe gibt es nicht, weil dieselbe dem Selbst- erhaltungstriebe widerspricht, wohl aber eine Verzeihung und Aussohnung. Die angefuhrten Laster kann man mit dem einen Worte Bosheit oder Boswilligkeit bezeichnen. Die g e s e 11 s c h a f 11 i c h e n oder burgerlichen Tugenden appellieren an den Verstand. Die vornehmste unter denselben ist ohne Zweifel die Gerechtigkeit. Sie regelt die Verhaltnisse der gesellschaftlich verbundenen Menschen. Wir sind nicht immer in der Lage, jedermann zu lieben und zu achten, ihm wohlzuthun und Sympathie zu bezeigen, aber wir konnen in Gedanken und Thaten gegen jedermann gerecht sein d. h. ihm den geburenden Antheil an der Gliickseligkeit gonnen. Wir miissen auch gegen die grossten Verbrecher gerecht sein, indem wir ihnen die Mittel zu ihrer Rechtfertigung, Besserung und zu moglichster Reparierung des durch sie angerichteten Schadens bewilligen. Schopenhauer nennt die Gerechtigkeit die „erste und grund- wesentliche Cardinaltugend“, ') die er aus dem Mitleide ab- leitet. Doch fliesst die gerechte Handlungsweise nicht bloss oder zumeist aus dem Gefiihl, sondern auch aus dem ‘) Schopenhauer: Die beid. Grundprobl 230. Die socialen Tugenden. 131 Verstande, wie denn die Gesellschaft nicht bloss durch Gefiihle, sondern hauptsachlich durch gemeinsame Interessen und die Vernunft zusammengehalten wird. Sehr richtig scheint mir Spencer die Gerechtigkeit als die ,. Gleichheit der Behandlung Anderer“ zu definieren, ‘) obwohl auch er sie wie Schopen- hauer aus dem Mitleid herleitet. Wundt erblickt in der Ge¬ rechtigkeit eine unpersonliche, von allen Sympathien und Antipathien losgeloste Handlungsweise, vvelche allen Mitglie- dern der Gesellschaft, abgesehen von ihren personlichen Zu- falligkeiten, Gleichheit garantiere. 2 ) Aehnlich lost Dorner die Gerechtigkeit von allem Gefiihl los, indem er eine „positive“ und eine „negative Nachsten- liebe“ unterscheidet und die Gerechtigkeit unter die letztere subsumiert 3 ) d. h. durch die Gerechtigkeit Thaten der Nachstenliebe ohne Beimischung von Gefiihl vollziehen lasst.' Schopenhauer kennt auch eine „kluge“ Gerechtigkeit die das Gemeinwohl und das Wohl des Nachsten im Auge hat, welche er jedoch als eine egoistische nicht fiir sittlich gelten lasst, 4 ) — wohl mit Dnrecht, da die Erfullung der altruistischen und socialen Pflichten auf sittliche Geltung Anspruch hat. Die Unterscheidung der Gerechtigkeit und Bi11 i g- k e i t fallt in der praktischen Philosophie weniger ins Gewicht als im Recht; in der Ethik kann zwischen beiden kaum ein Unterschied obwalten. Daher sind die juristisch be- griindeten Definitionen, nach denen die Gerechtigkeit einem Menschen nur das ihm streng „Geburende“, die Billig- keit das ihm „Entsprechende“ zutheile, 5 ) fiir die Ethik von k einem Belang. Billig ist es z. B. ein kleineres Uebel mit in den Kauf zu nehmen, um dadurch ein grosseres zu verhiiten. Eine Nachsicht zu rechter Zeit kann oft mehr Gutes stiften als Uebung der strengsten Gerechtigkeit. In der allgemein-menschlichen Sympathie ist fiir die Gerech¬ tigkeit und Billigkeit Platz genug. . Das Gegentheil von der Gerechtigkeit bildet die Un ge¬ rechtigkeit, vvelche das Wohlwollen nach egoistischen und personlichen Riicksichten austheilen lasst. Schopenhauer und Diihring leiten die Ungerechtigkeit und das Unrech t — Krankung — aus der angebornen Bosheit ab, 6 ) doch gibt es mehr als Eine Quelle beider. Ungerechtigkeit und l nrecht *) Spencer; Thats. d. Eth. 180 u. 162 h W u n d t: Ethik. 1886 S. 600. 3 ) P Dorner: Syst. d. christl. Mor. 463—465. ) Schopen¬ hauer : ebend. 221. 5 ) Herbart: Allgem. p. Phi os. . . • S. 59-60; W u n d t: Ethik. 50. ‘) Schopenhauer; D. beid. Grund- probl. 221—230; Diihring: Wert d. Leb. 73—74. 9 : 332 Achter Abschnitt. sind die zwei schlimmsten socialen Uebel, weil einUnrecht imnier neues Unrecht gebiert. Alt und wahr ist daher der Spruch : „Besser Unrecht leiden als Unrecht thun“ ; denn das Unrecht pflegt sich an dessen Urheber selbst zu rachen. Gegen Unrecht gibt es im allgemeinen kein besseres Mittel als Festigkeit im Gnten, Selbstvertrauen, Geduld, Ruhe des Gemiiths und kraftige, aber ausgiebige Abwehr. Das Verhalten gegen Unrecht ist je nach der Beschaffenheit des erlittenen Unrechts und der Umstande ein verschiedenes. Ist das Unrecht ein unabwendbares, so ist es geduldig und mannhaft zu ertragen, ist es abwendbar, so muss es im Interesse der Selbsterhaltung und des Guten mit aller Kraft abgewehrt \verden. Dem boswilligen Unrechte gegeniiber gibt es keine Nachsicht und keine Transaction. Auf Ueberlegung beruht ein weiteres machtiges Band der Gesellschaft: der G e h o r s a m oder die Unterord- niing. Der sittliche Gehorsam entspringt a,us der Einsicht, dass die Sittlichkeit das hochste Gut und fiir den Bestand der Gesellschaft eine Nothwendigkeit ist. Ueber den sittlichen Wert des Gehorsams bemerkt Steinthal: „Die Liebe zum Sittlichen bezeigt sich in dem unbedingten Gehorsam. den der Wille ausschliesslich der ethischen Einsicht mit Freuden ent- gegenbringt 11 . 1 ) Auch Kant leitet den Gehorsam aus der „Achtung fiirs moralische Gesetz“. 2 ) also unmittelbar aus dem objectiven Sittengesetze ab. Dem Gehorsam stehen der U n g e h o r s a m, die Auflehnung und der Trotz gegeniiber. Aus der Beobachtung der socialen Pflichten entspringen die hohen Tugenden der T r e u e, Uneigenniitzigkeit und Selbstaufopferung. 3 ) Die Selbstaufoplerung zu Gunsten des Ge- meinwohles ist die hochste Stufe der Tugendhaftigkeit. — Diesen Tugenden . stehen die T r e u 1 o s i g k e i t, Untreue, Perfidie, Felonie, der Eigennutz, die Menschenausbeutung — exploitation —, Sclavenhaltung gegeniiber. Diesen Lastern reihen sich der N e i d und die Scheelsucht an. welche im Eigennutze ihren Ursprung haben. Eine Verbindung von humanitaren und stricte socialen Tugenden bilden: die Gegenseitigkeit, \Vechselseitig- keit, Eintracht, Friedfertigkeit, Dankbarkeit. Wahrend Stein¬ thal die Dankbarkeit als eine Tugend betrachtet und sie auf die Gegenseitigkeit zuruckfiihrt, 4 ) spricht ihr Schopen- hauer alle ethische Berechtigung ab, da sie so \venig eine „Pflicht“ sei, als das B \Vohlthun“. Die Erwiderung der Dank¬ barkeit sei daher nicht als „Handel“ anzusehen : bleibe ‘) Steinthal: Allgem. Eth. 162. 3 ) Kant: Kr. d. p. V. 94—98 3 ) vgl. (iber dieselben Steinthal: ebend. 219. 4 j Ste inthal: ebend. 286 Die socialen Tugenden. 133 dis Dankbarkeit aus, so sei dies keine Verletzung des An- dernV) Man darf darauf erwidern : auch das Mitleid ist kein „ Handel , und doch fordert man dessen Bethiitigung, allge- meine Uebung und Erwiderung. Dass die Dankbarkeit lob- lich und sittlich sei, beweist am besten das Laster des Un- danks, welches mit der grossten Strafe, mit Verachtung, er\vidert \vird. Die Friedfertigkeit findet ihre noth\vendige Grenze in den Sittengeboten der Selbsterhaltung und Indi- vidualitat. Storung des Friedens ergibt den S t r e i t, der zwar metaphysisch als „Yater der Dinge “, nicht aber auch sociologisch als solcher gilt. Streit fuhrt zum K r i e g e. Ein e\viger Volkerfriede ist bei der Unbandigkeit der meisten menschlichen Triebe unmoglich, der Krieg ein unumgang- liches Mittel, das statische Gleichgewicht zwischen den sitt- lichen und unsittlichen Aspirationen herzustellen und dem Guten Recht zu verschaffen. Richtig ist der Spruch: „Besser ein gesunder Krieg als ein fauler Friede“. Faul ist der Friede. wenn er um den Preis von Zugestiindnissen an das Schlechte erkauft wird. Es wird daher immer zweierlei Kriege: sittlich berechtigte und sittlich nicht berechtigte geben. Zu den ersteren gehoren alle N o t h w e h r- und Befreiungskriege, durch welche die verletzte und beleidigte Menschlichkeit hergestellt wird. So urtheilen auch Beaussire und Rud. v. Ihering. 2 ) Die internationalen F r i e- denscongresse und Schiedsgerichte bleiben deshalb noch immer nicht iiberflussig, sondern sind sogar nothwendig; nur sollten sie in ihr Programm auch die „be- rechtigten Kriege nicht bloss „den ewigen Frieden” auf- nehmen. Alle Eroberungs - und Uebermuthskriege dagegen sind als unsittlich zu stigmatisieren und sollten ge- radeso wie alle Arten von Volksbedriickungen vor das Tribunal einer zu bildenden Volkerliga gezogen werden. Socialer Natur, jedoch stark vom Gesetze. der Indivi- dualitat beherrscht, ist das Gefuhl und Bewusstsein der j) e r- s 6 n 1 i c h e n Ehre, die man vor Unrecht und Ungerechtig- keit, vor Missachtung und Verachtung, kurz vor jeder Verun- glimpfung bewahrt wissen muss. Die Ehre ist ein integrierender Theil der Person und des Charakters, den man als ein liohes Gut hiiten und wahren muss. Auf der Reinheit der person- lichen Ehre beruht die E h r e n h a f t i g k e i t und Re¬ pu ta ti on der Person als Mitgliedes der Gesellschaft. Dahei U Schopenhauer: ebend. droit desgens: Rev.philos. 1838. p. u. Recht ifeC6 S l'J. 2Ž6. 2 ) Beaussire: Questions de 113—133; R. v. Ihering: D. Kampf 134 Achter Abschnitt. ist eine Restitution der verletzten Ehre durchaus ge- boten. Nur fehlen in der heutigen Gesellschaft sittlich fun- gierende Institutionen, um die personliche Ehre ausreichend zu schiitzen. Das Dueli entsprach den aberglaubischen An- schauungen einer langst vergangenen Zeit und ragt gegen- wartig wie eine traurige Ruine in die Neuzeit hinein, und dies nur deshalb, weil an seine Stelle nichts Entsprechendes ge- setzt werden konnte. Das Dueli fristet seine Existenz von der Unzulanglichkeit der Gesetzgebung. Daher besteht die per¬ sonliche Rache — ,Revanche“ — inderrohen Form des Duells \veiter‘) und findet sogar an einem aufgeklarten Juristen. wie Rud. v. Ihering, ihren Sachwalt und alswie eine „Form des Rechtes“ Anerkennung. 2 ) Dass die Pri vat rac h e mit der Einrich- tung des modernen Staates unvertraglich ist, dass sie der- selben sogar Hohn spricht, leuchtet aus dem Wesen, Zwecke und der Organisation des Staates ein. Daher schlagen Einige, wie Beaussire, Ehrengerichte — jurys d’honneur — vor, um so die personliche Ehre zu wahren oder herzustellen. 3 ) Durch Einsetzung solcher Ehrengerichte \viirde die Zerrung von Privatangelegenheiten vor das grosse Forum so\vie das AValten des blinden Zufalls am bestenvermieden \verden. Vorwiegend socialer Natur ist die Tugend der W a h r- haftigkeit und aller mit ihr verbundenen Eigenschaften. Sie zeigt den Menschen gegeniiber der Gesellschaft, wie er seinem Charakter -nach beschaffen ist. Die AVahrhaftigkeit erscheint am primitivsten in der Form der N a i v i t a t. Letztere Eigenschaft ist besonders den Kindern und Genies eigen. Die Aufrichtigkeit und der bei den Alten hoher als bei den Neueren geschatzte Freimuth sind die rauhen Seiten der Naivitat. Vielberuhmt, und dies mit Recht, ist die schwer erlangbare Tugend der Gleichmassigkeit — mqua- bilitas — ; sie ist ein Zeichen sittlicher Vollkommenheit. Sich im Gliick und Ungluck gleich bleiben ist eine seltene Tugend. Den genannten loblichen Eigenschaften stehen als Laster : H e u c h e 1 e i, Liigenhaftigkeit, Falschheit, Ver- stellung, Doppelziingigkeit, Heimtucke, Verrath gegeniiber. Die L ti g e bleibt auf alle Falle ein schlechtes Auskunftsmittel und verdient, wenn sie im Ernste angewendet wird, keine philosophische Vertheidigung. Eine solche hat Schopenhauer versucht. 4 ) Die sogenannte K 1 u g h e i t ist keine ausge- sprochen ethische, sondern eine indifferente Eigenschaft; ihr 2 n y Vgl uber dieselbe Duhring: Wert des Lebens 1877. S. 208. J , “ J- Ihenng; Kampf u. Recht. 1886. S. 14. 3 i vgl. Beaussire’s Aufsatz m Rev. philos. 1888. S. 130-131. Schopenhauer: Grundprob. 272. r Die philosophischen Tugenden. 135 stehen die U n k 1 u g h e i t, Unvorsichtigkeit, Unbedacht- samkeit und Unuberlegtheit als Laster gegeniiber. Theils personlicher, theils socialer Natur ist die Scham- haftigkeit. Man kann sich selbst gegeniiber ebenso Scham empfinden als gegeniiber Andern. Die geschlechtliche Schamhaftigkeit ist eine Folge des geordneten Familienlebens ; \ver das Interieur der Familie kennt, \vird die Ursache dieser Tngend zu verstehen imstande sein. Ich kann daher den- jenigen nicht beistimmen, welche den primitiven Volkern alles Schamgefiihl absprechen. Wenn man die Berichte iiber das ziigellose Leben der Wilden priift, so findet man dasselbe zwar etwas bunter als in unserer vielgeriihmten „gesitteten“ Gesell- schaft, wo eine Mischung von Schamhaftigkeit und Scham- losigkeit nicht ausgeschlossen ist. Einige Ethiker, wie Ch. Darwin, Gutberlet schreiben selbst den Thieren Schamgefiihl zu, was wohl zu weit geht. AVenn sich gewisse Thiere „schamen“, so ist ihnen ein solches an Schamgefiihl gemahnendes Verhalten nur ausserlich ange- lernt worden. Dass Geisteskranke, wie Gutberlet behauptet, das Schamgefiihl verlieren, kann in keiner Weise als ein Be- \veis fiir oder wider ein apriores Schamgefiihl dienen. Die angebliche Schamlosigkeit der „wilden Volker" widerlegt ara besten die einschrankende Bemerkung Lombroso’s, dass die- selbe mit den ,,periodischen AeusserungendesGeschlechtstriebs 11 zusammenhange. * 2 ) Der Schamhaftigkeit stehen die Scham¬ losigkeit, Unverschamtheit, Frechheit, Ehrlosigkeit gegen¬ iiber. Von der Bescheidenheit und Demuth war bereits die Rede. — Die idealen oder philosophischen Tugenden bestehen in der Erfiillung der Pflichten gegen das Weltganze. Die Erfahrung lehrt, dass der Mensch seine Zwecke nur im Anschlusse an die Gesetze der Aussennatur erreichen kann. Daraus folgt fiir ihn als ein verniinftiges, denkendes AVesen die Pflicht, diese Gesetze zu beobachten, zu achten und sich denselben zu fiigen. A c h t u n g urid Gehorsam sind daher die Ecksteine der philosophischen. aus dem Stu- dium des \Veltalls fliessenden Tugenden. 3 ) Beide Gefiihle sind jedoch weit von einer Idololatrie oder Anbetung der Natur als eines angeblich pantheistischen AVesens entfernt. Sowohl eine solche Idololatrie als die „Flucht aus AVelt* in eine angeblich bessere halte ich fiir krankhafte G Gutberlet: Teleolog. Streifzug. Zts. f d. Philos. 18h7 - S. 226. 2 ) Lombroso: D Verbr. I 41. D vg!. di e AusfuBrungen A Comtes, dass die Astronomie sociale Subordination lehre. Y • ' p. 504 ff. 136 Achter Abschnitt Anschauungen. Es gibt nur Eine reale Welt. In dieser veranderlichen Welt einen kampf- und sorgenfreien AVinkel durch Selbstmord finden zu wollen halte ich tur ebenso naiv als kurzsichtig, vermessen und unsittlich.') Den pla- tonischen AVeltschnrerz, das Schopenhauer’sche ..Nirvvana". kurz jene ganze orientalisierende \Veltflucht halte ich tiir eine moralische Verirrung und ftir einen Mangel an Geisteskraft und AVillensstarke. Bei allem. socialen Jammer bleibt einern ernsten Denker noch immer Zeit und Gelegenheit iibrig. nach Wahrheit und geistiger Befreiung zu streben. Im schlimmsten Falle bleibt Ergebung in den unerforschlichen Gang der Natur als der trostlichste Ausweg iibrig. Haben doch alle grossen Geister in dieser Tugend ihre sittliche Kraft bewiihrt. AVer wie Demokrit in tiefer Erkenntnis der Dinge alle F u r c h t und allen Aberglauben abgelegt hat, der hat einen grossen Schritt zur Gliickseligkeit gethan. Ich erklare daher jeden, der die Menschen untenveist, die Natur der Dinge zu erkennen und zu begreifen d. i. jeden wahren Phy- siker und Philosophen fur einen AVohlthater und wahrenFreund der Menschheit, ja fur den verdienstvollsten Mann. Starkere Mittel, die Geister zu wahrer Sittlichkeit und Gliickseligkeit anzuregen, wiisste ich ausser den genannten AVissenschaften und Mitteln keine. Nicht der \Velt abzu- sterben und ihr zu entfliehen, sondern dieselbe zu verstehen. zu begreifen und ihr gemass zu leben halte ich fiir wahre Philosophie und Sittlichkeit. AVer die Menschen zum Aber¬ glauben und zur Missachtung der Natur erzieht, sucht sie zu verdummen und so von der Sittlichkeit abzu\venden, darnit sie sehend nicht sehen. Schon in der Einsicht beruht \vahre Sittlichkeit; jede Dressur macht die Geister unsittlich und unlauter in Gedanken und AVerken. Damit habe ich die Grenzen angedeutet, bis zu denen in der Befolgung der Natur vorzuschreiten ist. AVeder ein leichtbliitiger O p t i m i s m u s noch ein Alles ab- sprechender P e s s i m i s m u s ftihrt zum Ziele ; jener erzeugt blinde Vertrauensseligkeit, dieser dumpfe Verzweiflung. Har- monie mit der Menschheit und Aussenwelt zeigt den einzig richtigen AVeg zur Gliickseligkeit. Diese besteht in einern stabilen Gemiithszustande, der ebenso weit von freudigem »Aufjauchzen" als von einern „Zutodebetriibtsein“ entfernt ist. Arbeitsamkeit und Zufriedenheit sind seine Erzeu- gerinnen. ') vgl die Widerlegung der Hartmann’schen Moral bei W a 11 a- schek: Ideen z. p. Phil. 65—69. Die philosophischen Tugenden. 137 \V er Erfahrung besitzt, wird Kant beistimmen, wenn er die Erlangung der „Z u f r i e d e n h e i t“ in die Erstrebung des sittlichen „Zweckes“ verlegt. 1 ) ,.Gliicklich ist nur der Weise“, — so haben es die grossten und vorge- schrittensten Geister aller Jahrhunderte verktindet, unglucklich und thoricht muss nach demselben Zeugnisse daher jeder sein, der sich gegen die Ordnung der Natur auflehnt. — Ich schliesse diesen Abschnitt mit der Bemerkung, dass an den vielbeklagten U e b e 1 n der Welt nicht die Natur die Schuld tragt, welche ja dem Menschen in Allem hilfreich eiitgegenkommt, wofern er sie nur versteht, sondern der Mensch selbst. der mit seinen ungeziigelten Leidenschaften und Trieben uberallhin sein moralisches Elend verschleppt und durch dieses die Natur entheiligt. 1) Kant: Grundleg. z. Metaph. Werke. Bd. 4. S. 241. Neunter Absehnitt. Wille und Willensfreiheit. Wir stehen vor einem der sclrvvierigsten Probleme der Ethik, vor der Betrachtung des sittlichen AVillens. Schwierig ist schon die Definition des Willens, noch schwie- riger die Darlegung der Thatigkeit, welche dem Willen gerade auf ethischem Gebiete zufallt. Yon dem Begriffe des Willens ist wiederum die Auffassung der sittlichen Zurechnung nnd Verantvrortung, kurz das Problem der Willensfrei- heit abhangig. Ohne stricte Definitionen und ohne ein con- sequentes Festhalten an den einmal gewonnenen Begriffen ist an ein Vorwartskommen liber diese Schwierigkeiten nicht zu denken. Dabei ist jedoch ein weiteres Ausholen und Zu- greifen auf das psychologische Gebiet unerlasslich. Das gesammte psychische Leben setzt sich aus drei Factoren zusammen: aus inneren, dem eigenen Korper ent- stammenden, aus ausseren, von der Aussenwelt kommenden Impulsen und nebstdem aus dem durch die gegenseitigen Wirkungen dieser Impulse resultierenden Bewusstsein. Kurz kann man diese drei Factoren als Trieb, Reiz und Reflex bezeichnen, wobei zu bemerken ist, dass jede dieser Functionen wiederum Gegenfunctionen oder Reactionen her- vorruft. Die Functionen und Gegenfunctionen verhalten sich zu einander wie der Stoff zur Anschauung des Stoffes oder der Gegenstand zu dessen Vorstellung oder das Object zu dessen Subjecte oder kurzer gesagt, \vie die Materi e zum Geiste. Die Triebimpulse vollziehen sich in den Organen, die Reize in der Nerven- und Hirnmasse, die Reflexe haupt- sachlich im Hirn. Durch die Continuitat der Korper- und Geistesfunctionen wird das Bevrasstsein d. h. die Gesammtheit der Reflexe zum Figenscbaften des Willens. 1 39 Selbstbewusstsein, zum Ich, dadurch aber zur\Vahr- n eh mu n g und Vorstellung der Innen- und Aussenwelt, und zugleich zum W o 11 e n. So erhalten wir die zwei ersten und weitesten Determinationen des WolIens. Das Wollen ist namlich physiologisch eine Gegenfunction oder ein Reflex, psychisch eine Bewusstseinsaction, durch welche dieselbe der Vorstellung zunachst kommt. Diese primaren Eigenschaften des Willens sind fur dessen ethisches Verstandnis von der hochsten Bedeutung; denn in ihnen liegt implicite das ganze \Vesen des Willens enthalten. Erstlich ist der \Ville eine Gegenfunction oder ein Reflex. Daraus folgt, dass er eine lebendige Kraft, und zwar eine Umsetzung der wirkenden Kraft bedeutet. Da¬ durch ist der \Ville auch etwas Bewirkendes oder Tha- tiges. Nur muss er deshalb nicht als eine „besondere“ oder „geheime“ Kraft gedeutet werden; denn alle Functionen und Gegenfunctionen des Korpers sind Umsetzungen der einen Kraft des Korpers, in weiterem Sinne ein Theil der Allkraft der Natur, eine Anschauung ebenso Descartes’, Leibnitz’s als Spinoza’s und der monistischen Psychologie. Ferners ist der \Ville eine B e wu s s tse in s actio n d. h. eine Reflexion, die aus dem Be\vusstsein des Ich ent- springt und die Gluckseligkeit der Person zum Zwecke hat. Darin liegt die Tendenz des ethischen Willens. Weiters ist der Wille eine Vorstellungsthatigkeit. Damit ist seine intellectuelle, geistige Eigenschaft gekenn- zeichnet. Der sittliche Wille ist nicht wie der Trieb ein blindes Begehren, sondern ein Anstreben klar vorgezeichneter Objecte. Er ist also der auf bestimmte Gegenstande gerichtete Ver- stand, der nicht nur die Ziele des Triebs erkennt, sondern auch ihnen selbst Ziele zu setzen imstande ist. Dadurch steht der Wille zum Triebe in einem gewissen Gegensatze. Sobald jedoch der Verstand den wahren Zweck des Triebs erkannt hat, widerstreitet der Wille dem Zwecke des Triebes nicht, sondern nur dessen Ausschreitungen. Aus der Verbindung aller eben angefuhrten Qualitaten zu Einem Gesammtbegriffe ergibt sich eine weitere sehr wichtige Eigenschaft des Willens, namlich dass derselbe alle j ene Functionen, auf die er alsReflex reagiert. zu repro- ducieren imstande ist. Dies vermag der Wille als eine mit Kraftumsetzung verbundene Vorstellung. Nicht die Macht, dem Korper neue Impulse zuzufiihren. besitzt der Wille, wohl aber das Vermogen, bereits stattgehabte und diesen associierte psychische und physische Functionen auszulosen. Wiisste man es nicht, dass schon die blosse Vorstellung, \vie es Romberg 140 Neunter Absehnitt. u. a. Psychologen an gewissen Vorstellungen nachgewiesen haben, bestimmte Functionen auszulosen imstande ist, so wurde man freilich schwer an die Reproductionsfahigkeit des Willens glauben. So aber muss man dies als ein Factum hin- nehmen, das durch die Erfahrung hinliinglich festgestellt, aber deshalb noch lange nicht theoretisch erklart ist. Die eben gegebene Erklarung moge daher lediglich als eine Hypothese betrachtet \verden, \velche viel AVahrscheinlichkeit fur sich h at. Die Impulse des Triebs und Reizes sowie ihrer Nach- klange sind ebensovielen \Virkungen von Kraften gleichzu- achten, denen die dureh sie hervorgerufenen Gegenwirkungen. die Reflexe, entweder das Gleichgewicht halten oder un ter 1 ieg e n oder iib e rl e ge n sind. Im ersten Falle kommt • es zu keiner That; es herrscht im Gemiithe Indifferenz oder doch ein Schwanken, im zweiten und dritten Falle kommt es zur Be\vegung d. h. zur That oder Han dl u n g. Dieser verleihen entweder die Impulse oder die geistigen Reflexe Richtung und Gesclrvvindigkeit. Die Richtung der Handlung liegt entweder in der Annahme oder Ablehnung gewisser Impulse, welche in der Ethik Motive heissen. Ob nun Gleichgewicht oder Schwanken oder Bewegung eintreten und bestehen soli, das hangt wieder von neuen Functionen • ab. die sich den Impulsen oder den Reflexen zugesellen konnen und dadurch der einen oder der anderen Gruppe von • Kralten das Uebergewicht verschaffen. Es konnen dies neue Vorstellungen oder neue Gefuhle sein. Durch diese \vird auf die Nerven und so zugleich auf die Organe ein bestimmter Einfluss ausgetibt, den man Innervation benannt hat. Die Innervation ist nichts weiter als eine Auslosung virtu- eller oder im Nervensysteme in latentem Zustande harrender Krafte\virkungen. Kurz, bei der Analyse des \Villens haben wir es zunachst mit statischen und dynamischen Verhalt- nissen zu thun, bei denen die Resultierende, ihre Richtung und Gesclrvvindigkeit von der Beschaffenheit, Grosse und Intensitat der Gegenfunctionen abhangig ist. Dieser im Gemiithe sich vollziehende Gleichgewichts- process heisst nun Wollen — volition — und die Ge- sammtheit der in demselben auftretenden Reflexe Wille — volonte —. Wenn nun die Thatigkeit des Willens von Vor¬ stellungen und Gefiihlen ethischen Inhalts ausgeht, wird dieselbe zum sittlichen Wi 11 e n. Der eben gegebenen Analyse des \Vollens und des Willens will ich zur Klarstellung des schvvierigen Gegen- standes einige historisch-kritische Bemerkungen beifugen. Der Wille eine ReQexthatigkeit. 141 Dass die VVillensthatigkeit in Reflexen oder Re- actionen des Cerebralsystems gegen die Einwirkungen des Triebs und der verschiedenen Nervenreize besteht, hat meiner Ansicht nach am bestimmtesten Lockhart Clarke — jedoch nicht ohne Anlehnung an Descartes — ausgesprochen. L. Clarke bemerkt: ,Reaction der Cerebralganglienreflexe nach aussen, das ist die Thatigkeit des Willens.“ ‘) Nach desselben L. Clarke’s Ansicht reagiert der Wille gegen die Triebesausserungen nnd Reize, welche die Motive der Handlungen bilden. Er bemerkt: „Was man als Motive unseres AVollens bezeichnet, sind unsere verschiedenen Sinnesempfindungen, Triebe und Affecte, wenn sie durch die Ueberlegung dem Urtheil des Verstandes unter\vorfen werden.“ * 2 ). Hier wird von L. Clarke das Wollen als ein mechanischer Vorgang aufgefasst, wie es denn ebendort von ihm ein ,, dynamisches Element 11 genannt \vird. und auch das Uebrige ist richtig bis auf die Bemerkung, dass die Motive dem Verstande „unterworfen“ seien. Die Reflexion. welche der Wille dem Triebe und Reize entgegen- setzt. schliesst noeh keineswegs ein Ueberge\vicht, sondern bloss eine Gegenwirkung ein. Diese untersteht zunachst me- chanischen Gesetzen. Auch die Erfahrung weiss nichts von einer unbedingten Herrschaft des Verstandes liber den Trieb und die Affecte. wohl aber vieles von deren gegenseitigem Kampfe und schwankendem Siege. Einer ahnlichen Ueber- schatzung huldigte Descartes, \venn er den AVillen fiir einen absoluten Regulator des Seelenmechanismus ansah. 3 * ) Dagegen erblickt Leibnitz in diesem gegenseitigen Kampfe einen rein mechanischen Vorgang, indem er bemerkt: ..Zur Bildung eines vollkommenen Willensactes gehiiren mehrere AVahrnehmungen und Neigungen. aus deren Kampfe er als Resultat hervorgeht. “ J ) Als eine ..Reaction“ des Organismus auf „Reize“ sieht auch Schopenhauer den AVillen an: er fiihrt diesen Gedanken sehr eingehend in der Schrift „Freiheit des Willens“ aus, wo er die AVillensacte als „Krafte\yirkungen“ darstellt. 5 ) Dass in derAction des AVollens eine ,,Kraft" ivirksam sei, bemerkt auch Hume, nur erscheint ihm der „Vorgang des \Vollens“ als ein zwar „natiirlicher“. aber „unbegreiflicher Process. 6 ) Aus dem \Vesen des Reflexes wird dieser \ organg noch am besten erkliirbar. Locke stellte die Hypothese des ‘) vgl. die Citate bei Mandsley: Phys. und Psych. d. S. 132. 2 ) Bei Maudsley: ebend. 153 Anm. - 3 j Descartes: Ueb. d. Leid. d. Seele. I, Art. 46. - *) Leibnitz: Nouv Ess. II B. c. 21 8 39. *, Schopenhauer: Werke 4 Bd.. c. II. S. 14 ff. u c. III S. 33 ff. - 6 ) Hume: Enquiry. VII, Sect. I, S. 62 ff. (K.rchm. Ausg.) 142 Neunter Abschnitt. „Unbehagens“ auf, um aus diesem die gesammte \Villens- action zu erklaren. ‘) Dass mit dem \Vollen Bewegungen, also auch Thatigkeiten verbunden sind, wird allgemein zugegeben; nur die Art der Hervorbringung derselben, ob durch den \Villen selbst oder nur gleichzeitig mit demselben, erfahrt eine ver- schiedene Deutung. \Vahrend Leibnitz die mit dem AVillen associierten Bewegungen auf die VVirkung des allgemein herr- schenden Causalitatsgesetzes zuruckfuhrt. indem er den Leib fur einen von aussen bewegten „Mechanismus“ ansieht, * 2 ) hielten Descartes und Locke den Willen fur die Ursache der Bewegungen, welche nach ihrer Ansieht schon durch die „Vorstellung“ oder einen „Gedanken“ allein hervorgebracht wurden. 3 ) Aus der durch die Vorstellung ausgelosten Bewegung folgt jedoch weiter nichts 'als eine Association beider, die noch keineswegs auf eine ursachliche Erzeugung der Bewegung durch die Thatigkeit des Willens mit Sicherheit schliessen lasst. Es kann der Vorgang auch ein umgekehrter sein, dass namlich die Vorstellung im Subjecte eine Folge der inneren sich vor- bereitenden, noch latenten Bewegung ist, wie Maudsley im Anschluss an Hume 4 ) die Sache darstellt. Maudsley bemerkt: „Der einzelne Willensact ist nicht das bestimmende Agens, sondern das durch den der Vorstellung von dem zu er- reichenden Zwecke entsprechend wirkenden Impuls bestimmte Resultat.... Wenn der Wille eine Bewegung verlangt, so ist der Hergang derselben schon vollstandig bestimmt; der \Ville macht sozusagen die in dem motorischen Centrum bereits organisierte Be\vegung frei, ohne dass er liber die Mittel, durch \velche das gewollte Resultat erreicht wird. irgendwie gebieten konnte.“ a ) Sobald wir uns den \Villens- vorgang mechanisch erfolgend denken, brauchen wir noch einen neuen Kraftzuwachs des Willens, der ihm das Ueberge- \vicht verleiht. Diesenliefert ein neues Un 1 ust- oder Lustge- f d hi, das sich der Action anschliesst und sie auch zum Ab- schlusse zu bringen vermag, da aus seinen Mitteln, namlich der Reflexion, der Wille keine Entscheidung herbeizufiihren imstande ware. Eine sehr wichtige Eigenschaft des Willens besteht in dessen Bewusstheit. Durch diese kommt ihm auch die ‘) Locke: Essay. II Buch. — 2 ) Leibnitz: Ein neues Syst. d. Nat. c. 15 ex. — h U e s c a r t e s: Ueb. d. Leid. d. Seel. I Art. 44, wo Beispiele erortert werden ; — Locke: Ess II c. 21 § 4. — 4 i H u- me: Enquiry VII Sect. 1, S. 62. — 5 ) Maudsley: Phys. u. Psych. S. 155 u. 158. (Der deutsch. Uebers.) Wahlfreiheit, Spontaneitat des VViilens. 143 Eigenschaft der Vorstellung zu, in welcher Ansicht mehrere Psychologen und Ethiker iibereinstimmen. Nach Descartes sind „Wissen und Wollen in \Vahrheit ein und dasselbeV) Doch will Descartes dieses Wissen nur auf ethische Gegen- stande bezogen wissen, da er bemerkt: „Ebenso verhalt es sich mit den natiirlichen Trieben des Hungers, Durstes u. s. w., die von dem Wollen zu essen oder zu trinken u. s. w. ganz verschieden sind.“*) Hieher gehort jener Satz Leibnitz’s vom Willen, welcher zu einem allgemeinen Axiom geworden ist: „Man kann nur daswollen, was man fiir gut halt“, da man es eben kennt, 3 ) dem ich einen zweiten hieher ge- horigen, fiir die Ethik hochst bedeutenden Satz Leibnitz’s nachfolgen lasse: ,Man kann nur dem grossten Gute folgen“ und „das grosste Uebel vermeiden w o 11 e n. “ 4 ) Besonders bezieht sich die Einsicht auf die Erkenntnis und Wahl zwischen dem Guten und dem Schlechten. Deshalb hat Descartes den Willen als das „Vermogen zu wahlen“ oder als „die Wah 1 freiheit“ definiert, “) eine Deflnition. welche wohl die gelaufigste sein diirfte. Leibnitz fasst dieselbe in die Worte: „Das Wollen ist die Anstrengung oder Strebung (conatus), auf das, was man fiir gut halt, loszugehen und sich von dem zu entfernen, was man fiir schlimm halt, so dass diese Strebung unmittelbar aus dem Bewusstsein folgt. .. Aus jeder Strebung folgt die Handlung, wenn sie nicht Hinder- nisse findet.“ 6 ) Hierin stimmt der Wille mit dem Gewissen iiberein. — Eines der wichtigsten Willensprobleme betrifft die Frage. ob der Wille auch eine spontan \virkende Kraft sei oder bloss ein passiver Zuschauer. Von der Erledigung dieser Frage hangt der beste Theil der Ethik ab. — Descartes ist in Bezug auf dieses Problem nicht zu voller Entschiedenheit gelangt: bald erscheint ihm ali e spontane Bevvegung nur als Ausfluss der causalen Verbindung aller Dinge, namentlich als ein Werk der „gottlichen Vorsehung,” 'j bald wieder als Eigenwerk des Subjectes. Es \viirde zu \veit liihren, in eine Erorterung seiner hierin schwankenden Ansichten ein- zugehen. Leibnitz schwankt zwar in diesern Punkte ebenfalls, da er den thierischen und menschlichen Organismus fiir einen ‘) Descartes: Ueb. d. Leid. d. S. I Art. 19, S. 25. ) Des¬ cartes- Princip, d. Philos. IV 190 . (S. 274 Kirchm.) - ) Leibni tz: Nouv. Ess. II B. c. 21 § 15. (Kirchmann s Uebers.) - Ji Leibnitz ocIIB c 21 S 35 - s ) Descartes: Medilat. III S. 7o II. (Kirchm.). — Leibnitz: Nouv. Ess. II B. c. 21 § 5. - 7 ) vgl. darhber bes. die Medit. Descartes’. 144 Neunter Abschnitt. nach festen Gesetzen fungierenden „Mechanismus l! oder fiir eine „Maschine“ ansieht, aber 'er macht hierin Concessionen, indem er sehr wichtige Angaben uber die Art macht, wie eine spontane Bewegung durch den Willen denkbar ivare. Schon der Gedanke Leibnitz’s, dass „unser Geist sich eines Bildes bewusst iverden, demselben Halt gebieten und es so- zusagen festhalten“ konne, also die Annahme einer H e m- m u n g der Vorstellungen, ferners, dass „der Geist auf gewisse Gedanken naher eingehen konne, die ihn dann zu andern fiihren, 11 ‘) M fiir die Ethik von hochster Bedeutung. Darum miissen jedoch jene Gedanken noch nicht als vom Subjecte frei erzeugt betrachtet iver den, da sie ihm von selbst beifallen. Allerdings vermag der Geist dieselben fest- zuhalten und fiir sittliche Actionen zu beniitzen. Leibnitz bemerkt: „Man mnss die guten Anregungen als Gottes Stimme, die uns ruft, beniitzen, um ivirksame Beschliisse zu fassen 11 . 2 ) Somit kommt dem Menschen, selbst nach Leibnitz' mecha- nistischer Anschauung, bei der Erregung der Vorstellungen und Bewegungen wenigstens einige Spontaneitat zu. Dies vermag nach seiner Anschauung eine jede klare Vorstellung zu leisten, durch welche die Hemmung der Gedanken d. h. deren Ablehnung oder Festhaltung moglich sei. Damit \vill jedoch Leibnitz keine absolute Herrschaft des Willens iiber die Vorstellungen ausgesprochen haben, da auch ,,ganz un- merkliche Wahrnehmungen, die man nicht klar und deutlich unterscheiden kann“, den Geist „nach der einen oder andern Seite neigen“ kiinnen. 3 ) — Viel entschiedener \vird die Spon¬ taneitat des AVillens von Locke betont, ivelcher sagt: „Sobald dei Seele die Macht ivieder erlangt, die Beivegungen des Korpers iiusserlich und die der Gedanken innerlich, je nach- dem sie es passend findet, zu hemmen oder fortzusetzen, zu b e g i n n e n oder fortzusetzen, betrachtet man den Menschen ivieder als freies \Vesen u '.') — Mit Locke stimmen einige der neueren Psychologen iiberein, welche dem Willen die Kraft der Hemmung zuschreiben, jedoch diese nicht als eine abso¬ lute gelten lassen, sondern sie von Bedingungen abhangig machen. So bemerkt Maudsley : „Der Wille scheint nichts anderes zu sein als ein Verlangen oder AViderstreben. d a s hinlanglich stark g e w o r d e n ist, um nach ge- schehener Reflexion oder Ueberlegung eine Handlung hervor- ztirufen 11 . 5 ) — Von ivelchen Bedingungen dies abhangt, ist bereits erortert ivorden. — ') Leibnitz: Nouv. Ess. II C. c. 21. § 12. 2 ) Leibnitz: ebend. § 35. 3 ) Leibnitz: ebend, § 15. 4 ) Locke: Ess. Ilc. 21. §12. Maudsley: Phys. u. Psych. 152. Gesetze des Wollens. 145 Diese Vorbemerkungen schienen mir bei der \Vichtigkoit des Gegenstandes nicht iiberflussig. Nachdem ich so" die Grundeigenschaften des \Villens dargelegt habe, gehe ich zur Erorterung der Gesetze des praktischen W o 11 e n s liber. Um die Willensvorgange moglichst klar zu machen, will ich zunachst an einem einzelnen Willensacte eine Analyse vornehmen, hierauf ein concretes Beispiel vorfuhren. Vorbedingung des Wollens ist das Vorhandensein eines fiir sittliche Reflexe empfiinglichen Seelenapparats ; denn be- kanntlich gibt es auch sittlich stumpfe Naturen, die keine solche Reactionsfahigkeit besitzen. Dann inuss auf den Seelenapparat ein R e i z erfolgen, sei es vom eigenen Organismus aus, sei es von der Aussemvelt her. Im ersteren Falle kann es auch ein idealer Impuls, selbst eine leise Erinnerung, im ziveiten ein Zuruf, ein Larm, ein Lichtstrahl, eine Beriihrung, eine Aufforderung oder eine blosse Anlockung, ein Geruch. kurz ein starkerer oder schivacherer Eindruck der verschiedensten Art sein. Ferner muss der Antrieb und Reiz Empfindungen oder dooh G e f ii h 1 e hervorrufen, auf welche R e f 1 e x e ausgeubt werden. Dabei werden etwa bereits stattgehabte Willensreflexe gleichen Charakters und Inhalts in Erinnerung gebracht oder ahnliche Reflexe hervorgerufen oder auch. ganz neue ausgelost und von den friiheren a p p e r c i p i e r t. Die Art der Apperception hat auf die G e s c h w i n d i g k e i t der AVillensaction einen grossen Einfluss. Durch die Apperception nun werden die sich im Be- \vusstsein vordriingenden Reize — Motive genannt — zu¬ nachst beobachtet, dann aber aufgenommen oder abgelehnt. Den Act der Beobachtung der Motive nennt man l eber- 1 egu n g oder Ervvagung, dessen Abschluss aber. in- sofern Annahme oder Ablehnung eines Motivs erfolgt, Entschliessung oder Entscheidung. Manchmal erfolgt diese sehr schnell, es kann aber auch geschehen. dass sie lange Zeit braucht. was einen Zustand des Z w e i f e 1 n s oder Zogerns herbeifiihrt, oder sie tritt gar nicht ein. I>ies hangt vom Hinzutreten neuer Momente ab. \velche zu- meist in Gefuhlen, aber auch in neuen Vorstellungen _ be- stehen, die sich den friiheren als Hilfen beigesellen. A\ enn im Seelenapparate keine Apperception und keine Entscheidung erfolgen will. so tritt in demselben durch allmahliches Er- lahmen oder Erloschen der Motive Indifferenz odet Gleichgiltigkeit ein, \velche bis zur St um p I- h e i t und zum Stumpfsinn fiihren kann. Erfolgt 10 146 Neunler Absclmitt. dagegen eine feste E n t s c h 1 i e s s u n g, so erfullt sie den Geist mit dem Gefiihl der B e f r i e d i g u n g. Halt die Kraft der Entschliessung vor. so erfolgt die T h a t. Ich will nun die Willensvorgange an einem Beispiele er- lautern. Jemand, sagen wir ein gelernter Kaufmann, fiihlt den Beruf und die Fahigkeit in sich, ein selbstandiges Geschaft zu errichten. Der Gedanke, sein Gliick zu machen, treibt den Kaufmann an, ernstlich an die Yerwirklichung seines Ge- dankens zu gehen. Das ihn fortwahrend treibende Motiv ist zunachst die eigene, vielleicht auch die Gliickseligkeit anderer Personen. Allein bevor der Mann das Geschaft er- offnet, wagt er, — wir nehmen an, dass er gewohnlich verntinftig handelt — alle Chancen des Gelingens ab, u. zw. nicht bloss die nachsten, \velche die Eroffnung ermoglichen, wie die Be- schaffung des nothigen Capitals, sondern auch die ent- fernteren, ob sich das Geschaft auch rentieren werde. Es werden ihn bei der Erwagung die verschiedensten Empfin- dungen und Gefiihle uberkommen, bald Gefiihle der Bangigkeit, bald der Hoffnung. Der Mann wird seine eigenen, sowie die Erfahrungen seiner Freunde und Bekannten zu Hilfe rufen und sich auch an Fachleute um deren Rath wenden. Dabei wird er einerseits alle Schwierigkeiten und Hindernisse, die seinem Unternehmen anfangs sowie spater moglicher- weise sich in den Weg stellen konnten, erwagen, andrerseits wieder alle erdenklichen Vortheile berechnen, beide gegen einander abwagen und zuletzt einen E n t s c h lu s s zu fassen versuchen, was nicht immer so leicht geht. \Venn er nun er- kannt hat, dass irgendein M om ent fiir die Errichtung des Geschaftes alle dagegen sprechenden Momente uberwiegt — er hat, sagen wir, eine vermeintlieh treue und verlassliche financielle Quelle ausflndig gemacht und sich deren versichert —, so wird ihn nichts mehr an einem festen Entschlusse hindern, das ins Auge gefasste Geschaft zu errichten und ins Leben zu rufen. Er hat sich also fiir seinen Plan, das Geschaft, entschieden. Nunmehr ist er von der Bangig¬ keit der Erwagung befreit und fiihlt dariiber Be fr iedigung. Bleibt er nun bei seinem Entschlusse d. h. tritt kein neues Motiv oder doch kein neues starkeres Mqpient gegen seine Entscheidung auf, so wird er bis zur Etablirung des Geschaftes bei seinem Entschlusse ausharren und dieses zur That werden lassen. Hatte sich dagegen ein seine Bedenken iiberwiegendes Moment gefunden, so ■vviirde der Mann gezogert oder auch, was ja auch moglich ist, geblendet von dem Gedanken, durch Etablierung des Geschaftes Das Problem der Willensfreiheit. 147 sein Gliick zu machen, auch ohneweiters dasselbe errichtet haben. In letzterem Falle \vird der Mann, \v6lcl10r. sagen wir sanguinischen Temperaments ist d. h. w e n i g U e b e r- legung, aber viel Unterne hmungsgeist besitzt. zu einem Entschlusse verleitet werden. Er kann eben ohne neue Unternehmungen nicht leben; um die F o lg e n seiner Hand- lungen pflegt er sich wenig den Kopf zu zerbrechen. In diesem Beispiele haben wir den schemenhaften Vor- gang aller Falle von Willenshandlungen vorgezeichnet. Worin bestehen nun die Stadien dieses Vorgangs? — In der Absicht, durch eine Handlung seine Gliickseligkeit zu fordern — dies ist der zum Handeln treibende Gedanke; — eine mehr oder weniger rasche oder langsame Erwagung eines Motivs d. h. Anreizes zu einer bestimmten Handlung; die En t s c h lies sung oder auch Zbgerung, je nach den neuen, das Motivstiitzenden oder untergrabenden Ausschlag- griinden; die entwedervon der Einsicht der erwagenden Person oder vom N atu reli oder C h ara k ter eingegebene Ents chlie s s un g ; endlich die von der Starke und Dauer des Entschlusses abhangende That, welche von Gefuhlen der Befriedigung begleitet sein kann. Und so sind wir vor die wichtige und schwierige Frage der \Villensfreiheit gelangt. \Venn wir namlich dieAction der Erwagung und Entschliessung iiberblicken, so fragen wir uns ganz unwillkurlich: wie verhalt sich denn der Wille zu der ganzen Action? welche Rolle spielt die Reactions- lahigkeit der Seele gegeniiber den Motiven und Momenten? unter welchen Modalitaten vollzieht sich namentlich der vdchtigste Act, die Entschliessung? bat der \Ville bei diesen Er\vagungen und Entschliessungen freie Hand oder wird er nur bestimmt? isternur ein Zuschauer oder Mitspieler ? spielt er dabei eine passive oder eine active Rolle? hat er eine \Vahl oder ist er ganz der Nothwendigkeit iiberantwortet? kurz: ist er dabei frei oder unfrei? — Die Antvvort auf alle diese Fragen ist schwierig oder leicht. je nachdem man sich recht verstandigt hat, was in diesem Falle unter Frei- heit oder Unfreiheit zu verstehen ist. — Bevor ich in die Beantwortung dieser Fragen eingehe, muss ich einige Vorbemerkungen machen und darauf eine Definition dersitt- lichen Freiheit geben. Zunachst will ich bemerken, dass ich an diese Frage mit keinen -metaphysischen Betrachtungen hinantreten •vvill. Ich ersehe aus Schopenhauer’s und Anderer metaphy- sischen Beweisgriinden, dass solche selbst fiir Philo- sophen keine Actualitat besitzen; wie sollten dann solche 10 * 148 Neunter Abschnitt. Grunde bei Laien verfangen ? Vielmehr will ich hier wie in manchen andern Stiicken meinen eigenen Weg gehen, \vobei ich mich auf Erfahrungsthatsachen berufen will. M(‘ine Be\veisfiihrung soli daher eine empiristische sein. Doch vorerst muss die Definition der ethischen \Villensfreiheit auf- gestellt werden; denn von derselben hangt die Beiveis- fiihrung ab. — Von allen eben gestellten Fragen erscheint mir die nach der AVahlfreiheit als die wichtigste und als diejenige, welche alle iibrigen in sich fasst d. i. die Frage: ob der Wille bei der Entschliessung eino Wahl habe zwischen verschiedenen Motiven oder ob er ganz der Nothivendig- keit unterw orfen sei, so und nicht anders zu handeln, als er handelt. — Wenn man diese Formulierung des Pro- blems der Willensfreiheit als richtig zugibt, dann ist die Definition der \Villensfreiheit foigende: unter Wil- lensfreiheit ist ein solcher Zustand der Seele zn verstehen, durch welchen es fiir diese rnehr als eine einzige Art gibt. sich zu entschliessen und darnach zu handeln. Aus diesem Satze ergibt sich durch Contraposition der Urtheilsmaterie die Definition der Unfrei- heit des Wi.llens, welche daher lautet: unter Unfrei- heit des \Villens ist ein solcher Zustand der Seele zu verstehen, durch den es fiir dieselbe nur eine einzige Art gibt, sich zu ents chliessen und zu handeln. Wenn ich diese, wie ich glaube, unzweideutigen Defi- nitionen auf das oben gegebene Beispiel der Erwagung und Entschliessung anwende, so lautet fiir dieselbe die Frage: standen dem Kaufmanne zur Zeit, als er sich fiir die Er- richtung eines selbstandigen Geschaftes entschloss, mehrere Mbglichkeiten sich zu entschliessen offen oder nur jene einzige, die er denn auch befolgte? — Nachdem ich das Problem auf diese Weise, wie ich glaube. mit der erforderlichen Genauig- keit eingeengt und festgestellt habe, werde ich nunmehr an dessen Losung gehen, woboi ich das gewahlte Beispiel im Auge behalten will. Vor Allem ist daran festzuhalten, dass hier vom sitt- lichen Handeln die Rede ist. Was darunter gemeint ist, war im z\veiten Abschnitte erklart worden; alles Handeln ge- schieht, wenigstens vom subjectiven Standpunkte aus be- trachtet, um der Gliickseligkeit willen. Ferner bemerke ich, dass diejenigen psychischen Vorstellungen, welche das Subject zum Handeln auffordern oder zu verlocken suchen. dem AVillen entgegenstehen und diejenigen Objecte bilden. auf Die Willensgesetze. 149 welche der Wille reagiert. Sie heissen deshalb eben M o- t i v e. Die Grunde dagegen, welche das Gleichgewicht zwischen den Motiven und dem \Villen zu Gunsten einer Action aufheben, sind von Schopenhauer nicht in glucklicher ^\' eise ebenialls Motive genannt worden; sie sind Hilfen entweder der Motive oder des Willens und werden daher besser mit dem Namen Moment e, franzosisch mobiles, oder auch Ausschlaggriinde bezeichnet, da sie wie bei dem Schvranken der Wage die eine oder andere AVagschale zum Sinken bringen. Um nun zum AVesen der AVillensfreiheit zu gelangen, vvollen \vir uns die verschiedenen Arten vergegenwartigen, wie sich der Kaufjaann entschloss oder auch nicht zum Entschlusse kam. Entweder hat demselben die E i n s i c h t gezeigt, das Unternehmen werde fur ihn vortheiihaft sein und dessen Gliick begriinden, dann musste er den Entschluss fassen, das Geschaft zu errichten; oder es hat ihn ein .schwerwiegendes Moment davon abgeschreckt, dann musste er um seiner Gliickseligkeit \villen von seinem Gedanken ab- stehen ; oder es hat ihn sein Unverstand bethort, auch in einem precaren oder gar unreellen Geschafte sein Gliick zu suchen, dann musste er sich auch zum Geschafte ent- schliessen; oder endlich hielten sich die Grunde fur und vvider in seinem Geiste' das Gleichgewicht, und er musste die Sache auf sich beruhen lassen und zuwarten. Aus allen diesen Ervvagungen, welche sammtlich auf Leibnitz’s Axiom vom „grossten Gute“ zuriickgehen, ergeben sich folgende AVillensgesetze: erstens, derMensch muss sich entschliessen nur so zu h a n d e 1 n. w i e es ihm fiir seineGluck- seligkeit moment a n a m besten scheint; zweitens, er kann in demselben Augen- blicke nur fiir Eine H a n d 1 u n g sich ent- scheiden; drittens, er k o m m t tiberhaupt z u k e i n e m Entschlusse. Kommt er also zu einem Entschlusse, so kann dies nur ein eindeutiger und in demselben Momente nur Ein Entschluss sein, was in der Natur der Sache liegt; in verschiedenen M o m en t e n kann sich das Subject stets in verschiedener A/V eise entschliessen. Aus diesen Argumentationen ergibt sich der allgememe Willenssatz * dem AVillen steht bei jeder Entschliessung inimer nur Eine Moglichkeit zu handeln oflen, 150 Neunter Abschnitt. was soviel heisst als: d er sittliche \Ville ist bei jeder Entschliessung unfrei. Wenn man nach der Ursache der unfreien Entschlies¬ sung des Willens forscht, so findet man dieselbe in der subjectiven Unmoglichkeit, sich gegen seine bessere Ueber- zeugung zum Handeln zu entschliessen. Und diese Unmog¬ lichkeit wieder kommt von dem nie versagenden Triebe des Menschen nach der hochsten Gliickseligkeit. Gabe es diesen Trieb nichf, so gabe es auch keinen Zvvang zur Ueberlegung nnd zu bestimmten Entschliessungen. In der subjectiven Nothvvendigkeit, sich \vahrend der Ueberlegung fur den momentan am besten scheinenden Gedanken zu ent- scheiden, zeigt sich der Gliickseligkeitstrieb in seiner mani¬ festen Gestalt. — Freilich, objectiv genommen, kann eine jede Entschliessung gegen das wirkliche und \vahre Interesse der Person verstossen. Ja, es kommt sogar vor, dass mancher Mensch gerade infolge zuvieler Ueberlegung den gesunden Sinn fur die realen Verhaltnisse verliert und in irgendeiner Angelegenheit gerade zu demjenigen Schritte sich entschliesst, \velcher fur ihn verhangnissvoll wird. Was also subjectiv das Beste scheint, muss es nicht auch in Wirklichkeit sein. Die liingste Erwagung und der leichtfertigste. voreiligste Ent- schluss konnen sich, was den wirklichen Effect anbelangt, oftmals die Hande reichen. Im Zwange der Entschliessung liegt der Grand, dass der Begriff W i 11 e n s f r e i h e i t so schwankend er- scheint. Denn die causale Abhangigkeit der Entschliessung von den realen Umstanden und Verhaltnissen lasst nur den Gedanken an eine vollige Unfreiheit des Willens auf- kommen, dagegen die Abhangigkeit desselben von der Ein- sicht und dessen Reaction gegen die Motive, namentlich die Neigungen und Leidenschaften, zeigt den \Villen im Lichte der F r e i h e i t. In Wahrheit aber ist der Wille fiir jeden Fali begrenzt oder, wie man sagt, d e t e r m i n i e r t. Somit schliesst der Begriff Determinismus scheinbar einander entgegengesetzte Merkmale in sich ein, die sich jedoch bei ge- nauerer Betrachtung, wie ich eben gezeigt habe, sehr wohl mit einander vertragen. Auf keinen Fali aber lassen sich bei genauer Analyse irgendeines Willensactes Griinde fiir eine absolute Unabhangigkeit des Willens, was man den In determinismus nennt, beibringen. Es gibt einen mehrfachen Determinismus. Deter- miniert erscheint der Wille, sobald wir dessen Abhangigkeit von dem causalen Zusammenhange aller Dinge des Seins in Betracht ziehen. Man nennt dies den m e t a p h y s i s c h e n Determinismus und Freiheit. 151 Determinismus. Ausserdem gibt es einen moralischen Determinismus, den durch den Gliickseligkeitstrieb stattflndenden, demzufolge der Mensch sich stets nach seinem momentan ihm am besten scheinenden Wohle entscheiden muss. Die Ethiker sprechen noch von einem dritten Determinismus, dem psychologischen, dessen Sitz sie in den Charakter des Subjectes verlegen. Diesem letzteren gemass miisste der- selbe Mensch stets in derselben \Veise handeln. Ich glaube, im Obigen triftige Griinde vorgebracht zu haben, warum ich den psychologischen Determinismus als solchen nicht an- erkenne, da der Charakter und die Handlungsweise etwas keinesvvegs so feststehendes ist, als woftir man es ausgibt, und weil auf die Willensacte nicht bloss der Charakter, son- dern auch die ebenso wandelbare Einsicht bestimmend ein- wirkt. Paulsen geht in seiner Behauptung noch weiter. indem er dem menschlichen Willen im Gebiete der Natur eine be- sondere „Enclave“ zuschreibt, in der sich derselbe freier bewege, *) welche Ansicht Manches ftir sich hat. Dem als gut Erkannten steht der sittlich denkende Mensch allerdings vollig determiniert gegeniiber. Z\vischen Recht und Unrecht gibt es fur einen rechtschaffenen Menschen keine Wahl, ja nicht einmal ein Schwanken. Der echte Patriot kann nicht halb ein Vaterlandsfreund, halb ein Vaterlandsverrather sein. Der Gerechte kann nicht halb Ehrenmann und halb Schurke sein. Kant driickt sich iiber diese moralische Unfreiheit aus : „Der reine Yernunftwille wahlt nicht. sondern gehorcht einem unnachlasslichen Yernunftgebote.“ Kant sieht also die Pflicht- erfiillung fiir ein „Vernunftbedurfnis“ an. 2 ) Das ist nun scheinbar allerdings ein „Zwang des Willens“ und eine „Noth\vendigkeit“, 3 ) allein da der Zwang in Uebereinstimmung mit der eigenen Einsicht geschieht, so ist er in eigentlichem Sinne eine S e I b s t b e s t i m m u n g der Person, somit deren Freiheit. Dies ist jene echte moralische Freiheit. durch welche alle Thatigkeit des Menschen sittlich und verdienstlich \vird , namlich Unabhangigkeit der Person von ihren eigenen Begierden und Leidenschaften sov ie von den Lockungen der Aussenwelt, jene empirisch emptundene Selbstandigkeit der Person oder des Ich. welche kein Philosoph in schoneren Ausdrucken und starkeren Accenten betont, aber trotzdem keiner in ungliicklicherer \\ eise nachzuvveisen gesucht hat als eben Kant.') Denn er leugnet <) P a u 1 s e n: Ethik 2 386. - ) Kant: Kr. d. p. V. 1 / 2 und 173 Anm. - h Kant: Ueb. d. OpUmism Hartenstein. S. W. 166,. Bd. 2 S 42. -S Kant: Kr. d p. V. 143. 153. 193. u. sonst. 15! Neunter Abschnitt. die empirische Evidenz dieser Freiheit, welche er doch so beredt schildert, indem er sie dort sucht, wo dieselbe nicht zu finden ist, namlich in einer metaphysischen, von ihm fur „intelligibel“ ausgegebenen, ans dem Causalnexus der realen Welt gerissenen, transcendentalen Nebelregion. Kant vergass in seiner Scheu vor der „Heteronomie “ des Willens, dass die sittliche sovvie alle menschliche Freiheit im Anschlusse. nicht in der Ausserachtlassung der Naturgesetze moglich sei. und traumte von einer „moralischen“ Losgebundenheit des Menschen. die aller ausseren Gesetzgebung spotten konne.') Allein eine Ethik, die sich liber die Natur himvegzu- schwingen wahnt, schwebt in Illusionen und verzichtet auf alle praktische, ja auf alle wissenschaftličhe Geltung. Denn alles Wissen geht auf die Natur der Dinge zuriick, oder es muss als solches abdicieren. So lehrt es die Geschichte aller \Vissenschaften. Es gibt also genau genommen einen dreifachen Determinis- mus: einen mechanischen oder das allgemein herrschende Causalgesetz. einen ethischen und einen p s y c h i- s c h e' n. Der erste bezeichnet die Abhangigkeit des AVillens von der Aussennatur. der z\veite von der Idee der Gliickseligkeit, der dritte von dem Verlaufe der eigenen psychischen Ereignisse. Nun wurde nichts natiirlicher und logischer erscheinen, als den menschlichen Willen flir vollig ohnmachtig und unfrei zu erklaren, da derselbe in einer j eden seiner Entschliessungen gebunden ist. Allein die Logik der Thatsachen ist auch in diesem Punkte starker als aller Doctrinarismus. Sehen wir einmal genauer zu! Da haben wir zunachst das unerbittliche Causal¬ gesetz vor uns. dem unzweifelhaft die ganze \Velt und alle Dinge in ihr unterworfen sind. Auch scheint die Natur einen Endzweck zu verfolgen, der den Leitstern ihrer Thatig- keit bildet, und dem gemass sie alle Dinge leitet und lenkt. Man dart zugeben. dass eine durchgangige Causalitat und nebstdem eine ihr angemessene Zweckmassigkeit das ganze Weltal 1 durchzieht und alle Dinge beherrscht. Da ist un- zweifelhaft einern j eden sein Platz und seine Bestimmung angewiesen. Das Alles muss zugegeben werden; trotzdem darf behauptet werden, dass ein und derselbe Zweck sich innerhalb derselben Sphare bfters in ver- schiedener Weise verwirklichen lasst, und das bedeutet schon unz\veifelhaft eine ge\visse Freiheit. Jeder Mensch z. B. will 0 K ant’s Ausfiihrimgen in der Kr. d. p. V. 114. 117 ; — und dazu Paul Ree: Die Illusion der VVillensfreiheU. § : J . Determinismus und Freiheil. 153 gllickselig sein — so fordert es ein Gebot der Natur, die durch den Trieb und Verstand zu uns spricht —, und in der That sucht jeder die Gliickseligkeit nach seiner individuellen Be- schaffenheit zu erlangen. Zu demselben Zwecke fiihren also oft verschiedene. Wege, und diese einzuschlagen verstosst gegen kein Causalgesetz. Die Individualitat und Variation sind sogut Naturgesetze als die Causalitat selbst. Die Aussenwelt iibt auf den Menschen verschiedene Reize aus, \velche fiir ihn Antriebe zu Handlungen werden. Muss aber der Mensch diesen Reizen ohneweiters erliegen? Wer an einem Juwelierladen voriibergeht und sich die aus- gestellten Gegenstande ansieht, muss der nothwendiger- weise einen derselben oder alle zusammen auch nur begehren ? Die Erfahrung lehrt, dass der Verniinftige sich gar Vieles ansieht, ohne auch nur den leisesten Wunsch zu ver- spiiren, von dem Gesehenen etwas zu besitzen. Freilich gibt es Thoren, die sich gleich alles wiinschen, was sie erschauen. Doch mit der Zeit und bei zunehmender Vernunft kommt so Mancher von seinen kindischen Begierden ab. Wer in eine Restauration geht, um seine leiblichen Bediirfnisse zu stillen. muss der allen Lockungen des Menus unterliegen? Wird er nicht — vorausgesetzt. dass seine Mittel ihm auch die luxurioseste Mahlzeit erlauben — eine seiner Gesundheit zu- tragliche, nicht aber eine seinen Gaumen befriedigende Kost auswahlen? Der Beamte, \velcher zur bestimmten Stunde in sein Amt geht, muss derselbe nothgedrungen zu einem Spazier- gange ins Freie umschwenken, weil das Wetter zu derselben Zeit verlockend ist? Wenn der Mensch ivirklich den ausseren Reizen so vollig unterworfen ist, \vie man behauptet, so ist ihm keine, ernste Aufmerksamkeit erheischende Arbeit moglich. Ist dies jedoch wirklich der Fali? Ein Eisenbahnbetrieb z. B.. der einen bis ins Kleinste geregelten Dienst erfordert, in vvelchem alle Sinne und alle Gedanken der Bediensteten auf die Einhaltung des Fahrplanes und aller peinlich genauen Vorschriften gerichtet sein mtissen, wiirde bei der unbe- schrankten Herrschaft der Aussenvvelt uber den Geist ganzlich unmoglich sein. Ebenso wiirde, sobald alle Emancipation des Geistes von den Eindriicken der Aussenwelt aufgehoben ware, kein Commando im Kriege, keine Schiffahrt. keine wissenschaftliche Beobachtung, kein schwierigeres natui- wissenschaftliches Experiment, kurz keine planmassige Arbeit moglich sein. Denn bei jeder ernsten Arbeit ist grosst- mogliche Freiheit von den storenden Eindriicken der Aussen- welt eine Hauptbedingung des Gelingens. Und dass es manchem Menschen in der That moglich ist, der Natur ruhigen Auges 154 Neunter Abschnitt. ins Antlitz zn schauen, ohne von Furcht und Verwirrung ergriffen zn \verden, das \vird man nicht lengnen konnen. Es gibt somit immer noch einen gewissen Grad von I' reiheit gegeniiber den Anreizen der Natur. \Vir gehoren zvvar der Natur als deren Kinder an und stehen in ihrer mutterlichen Gewalt, allein \vir besitzen ihr gegeniiber auch linsere gewissen Rechte. Um den menschlichen Willen zu eliminieren, hat man ihn zu einer „Wirkung“ d. h. zu einem Producte der Causalitat gemacht. Um dies zu beweisen, hat man zu allen Arten hypothe- tischer Schlussfolgerungen gegriffen. Die Beweisfuhrungen dieser Art strotzen von Annahmen. An einem directen empi- ristischen Nachweise, sagen wir an dem Aufzeigen der ganzen Kette von Ursachen auch nur Eines AVillensactes. hat die Doctrin des absoluten Determinismus verzweifelt.') Der Causalitatsbeweis lasst sich seiner Natur nach \virklich nur auf metaphysischem Wege fiihren. Doch rnuss ich gestehen, dass hierin viel Absonderliches geleistet wird. Da flnden wir unter den Be\veismitteln fiir die stricte Abhangigkeit des AVillens das anerkannt diimmste und eigensinnigste Thier. den Esel, ver\vendet, der z\vischen zwei rechts und links gleich weit von ihm entfernten, .gleich duftenden 11 und erreichbaren Heubiindeln verhungern muss, wofern ihm nicht auf dem Wege der Causalitat ein ,.Motiv “ zukommt, um von dem einen Biindel zu fressen. Eine wahr- haft ergotzliche Idee, dieser z\vischen zwei Heubiindeln ver- hungernde Esel! Zum Gliick ist es bloss Buridan’s diimmerer Gesell; der wirkliche Esel wiirde ganz gewiss ohne alle de- terministische Scrupel nicht bloss das eine, sondern auch das andere Biindel auffressen. Um den Willen zu discreditieren, wird derselbe mit einer „U r t h e i 1 s g e v? o h n h e i t“ umschrieben, als ob alle unsere Urtheile nur AViederholungen \varen. Merkt man denn die petitio principii nicht, die in einer solchen Erklarung liegtr' Wie war denn dann das erste Urtheil zustande ge- kommen ? AVie kommen iiberhaupt alle originaren Urtheile zustande, und wozu dient dem Willen die ganze Er- \vagung. \venn er nicht zu urtheilen fahig ist? — Oder liegt in der unleugbaren Action der Ueberlegung nicht schon der evidenteste Be\veis fiir die relative AVillensfreiheit, welche zwischen den Vorstellungen zu wahlen vermag? — Man wird zugeben, dass den dressierten Hund, welcher ein vorgehaltenes Stiick Fleisch nicht ohne Erlaubnis nimmt. ') vgl. Paul Ree: Die Ulusion der Willensfr. S. 29. \\ahlfreiheit, e hischer Delerminismus. 155 hiebei die ihm beigebrachte Gewohnheit leitet, allein ich wundere mich. wenn man dem Menschen keine bessere \V a h 1 f r e i- heit zumuthet. Und konnen wir unsere „Antipathien“ und ,.Sympathien“, zu denen wir ja innerlich angeregt \verden, gegeniiber den Mitmenschen wirklich nicht unterdriicken und uns von der Gerechtigkeit leiten lassen ? — AVer an soviel Kraft des Willens verzweifelt, muss allerdings alle Moglichkeit einer Ethik leugnen. Allein zum Gliick hat eine solche Verzweiflung ihren Grund nicht in ethischen 1 hatsachen, sondern in der zaghaften Interpretierung derselben. Was wider die W ahlfreiheit vorgebracht wird, (das ..Handaufheben auf Geheiss", die „Unmoglichkeit, vom Hause sich weiter zu entfernen als gewohnlich“ u. dgl. m. — vgl. Schopenhauer u. A. —), setzt eine iibergrosse Macht der Gewohnheit voraus und entspringt iiberhaupt einer de- sparaten Anschauung von der Kraft des menschlichen Geistes. Man stellt die durchschnittlich geringe ethische Bethatigung des Menschen als Grenze aller sittlichen Fahigkeiten des AVillens auf und glaubt. auf diese Weise vor alle moglichen AVillens- bethatigungen eine Schranke gezogen zu haben. Dabei aber tibersieht man Eines, nami ich die ungeheuere Reflexfahig- k e i t des AVillens, welche bei grossen Geistern in geradem Verhaltnisse zu dem ihnen entgegenstehenden Widerstande wachst. Es gibt zwar fiir den Geist keine absolute, aber sehr viele und hohe Grade relativer Freiheit, aller¬ dings immer innerhalb des von der Natur ihm angewiesenen Rahmens. Daher irren sowohl diejenigen, welche dem \Villen alle Freiheit absprechen, als diejenigen, welche ihm eine ab¬ solute, von der Causalitat vermeintlich losgeloste Freiheit zuschreiben. Es handelt sich eben um eine mindere oder grossere Emancipation von der Naturgewalt; ganzlich konnen wir uns von derselben niemals loslosen. Allein nicht minder als der mechanische oder „meta- physische“ gilt der ethische Determinismus fiir ein festes Willensgesetz. Nur besitzt derselbe fiir die jedesmalige momentane Entschliessung seine Berechtigung : er fallt stets im Sinne des hochsten vermeintlichen Gutes aus. Daraus folgt jedoch nichts weiter als dass sich das Subject stets nur fiir seine Gliickseligkeit entscheiden muss ; keines- wegs jedoch folgt daraus, dass dies stets in der gleichen AVeise und stets in Betreff desselben Gegenstandes geschehen miisse. Daraus, dass sich das Subject heute so entschieden hat, folgt noch keineswegs, dass sich dasselbe auch morgen oder jedesmal ebenso entscheiden werde oder miisse. Z\vischen dem heutigen und morgigen Entschlusse besteht nicht j c nor 156 Neunter Abschnitt. nothwendige Zusammenhang, den die Verfechter der\Villens- causalitat als Gesetz aufstellen \vollen. Die Erfahrung lehrt, dass derselbe Mensch innerhalb eines Tages seine Ent- schliisse liber denselben Gegenstand hundertmal fassen kann. Welche einander widersprechenden Beschliisse ist ein be- rathender Korper, sagen wir ein Kriegsrath, innerhalb vier- undzvvanzig Stunden zu fassen imstande! — Oder rnuss ein sonst vernnnftiger Mensch, der einmal einen dummen Streich gemacht und bereut hat, denselben das nachstemal \vieder machen? Ein Staatsmann, der einmal einen grossen Fehler begangen und eingesehen hat, wird denselben, wenn er klug ist, ein zweitesmal zu vermeiden suchen. Und sicher- lich lernen wir aus den eigenen Fehlern nicht minder als aus den Fehlern Anderer. —• Fussend auf dem Causalgesetze wendet man 'ein und sagt: \venn die gleichen Umstande und Verhaltnisse ein- treten, muss das Subject stets wieder so handeln als das erstemal. — Das ware vollkommen richtig, wenn auch der Wille des Menschen stets derselbe bliebe. Allein gerade die gemachte Erfahrung verandert denselben und dieselben Umstande finden nicht rnehr denselben Willen vor. Das Cau- salitatsgesetz wirkt zwar immer in gleicher Weise fort, doch kann die nachstc Entschliessung des \Villens trotzdem anders oder gerade in entgegengesetztem Sinne ausfallen. Das Ver- halten der Menschen ist in dieser Beziehung ein verschiedenes : die einen werden durch ihre Fehler ge\vitzigt, die anderen verfallen in die alten Irrthiimer. Wenn letzteres allgemein der Fali \vare, so wiirde ein sittlicher Fortschritt weder im einzelnen noch im allgemeinen mbglich sein. Die Erfahrung dagegen lehrt, dass ein Fortschritt moglich ist und sich an vielen unz\veideutigen Symptomen nachweisen lasst. — Aus der sittlichen Einsicht folgt also cine Veranderung des \Villens und so kommen wir auf den bereits mehrmals erwahnten Zusammenhang zwischen der Einsicht und dem M i 11 e n zuriick. Es ist ein Erfahrungsatz, dass der sittliche v on der Einsicht abhangig ist, nach dem Spruche: Wie die Ednsicht, so der Wille. Dies ist' keine zufallige, sondern eine nothwendige, causale Abhangigkeit, an welcher die ethische Theorie seit jeher festgehalten hat. Wenn man gegen diese Ansicht den Einwand erhebt, dass der Wille oftmals wider diese Regel verstosse, dass er oftmals wider die Ein¬ sicht sich verschliesse und der Mensch blindlings wolle. so ubersieht man das Eine, dass die Einsicht manchmal nur eine scheinbare ist und von einem nur wenig ausge- Willensfreiheit. 157 bildeten Verstande ausgeht. Um sittlich, also zweckmassig und erfolgreich handeln zu konnen, wird vom Subjecte eine tiefgehende, umfassende, alle Falle und Umstande berech- nende S a c h- und Weltkenntnis verlangt. Eine solche Kenntnis ist jedoch sehr selten vorhanden. Der Umkreis des praktischen Handelns ist ein ungeheurer, der Verstand jedoch bleibt hinter den Anforderungen an denselben seitens der Praxis in der Regel um weite Strecken zuriick. Daher be- steht zwischen der Praxis und dem Verstande fast stets ein grosser Abstand, welcher dann den \Villen oft so schwach, so 'unklar, so unzureichond und so veranderlich erscheinen lasst. Zum Beweise dessen. dass der \Ville sich zum grossten Theile nach der Einsicht richtet, lassen sich gewisse T u- g e n d e n anfiihren, welche hauptsachlich durch Einsicht zustande kommen. Zu diesen gehoren: die Erftillung der schwersten Berufs- nnd Standespflichten, denen oft Herz und Gemiith widerstreben, die Selbstbeherrschung, die Gerechtig- keit, besonders wenn sie unter erschwerenden Umstanden geiibt werden muss, die Toleranz, der Gehorsam, die Geduld, die Dankbarkeit, die Nachsicht, die Massigung u. m. a. Allein der Wille ist nicht von der Einsicht allein ab- hangig; er hangt auch von einem zweiten, nicht minder wichtigen Factor, dem Charakter ab. Dieser wirkt an- erkanntermassen auf den AVillen nicht schwacher ein als die Einsicht. Zur Begrundung des Gesagten kann man eben- falls auf gewisse Tugenden hinweisen, die zum grossten Theile aus dem Charakter stammen u. zw. auf die Thatkraft, den Muth, die Arbeitsamkeit, die Schamhaftigkeit, die Bescheidenheit, die Mitfreude, die Friedfertigkeit u. m. a., die ganz im Tem¬ peramente oder dem Naturell ihren Ursprung haben. Nun sind aber bekanntlich die beideri genannten Ele¬ mente des Willens vielen Veranderungen unterworfen. somit der \V i 11 e selbst veranderlich. Die Einsicht wird hauptsachlich durch Erziehung und Selbsterziehung, der Cha¬ rakter durch die Umstande fortgebildet, wie bereits oben gezeigt \vorden ist. Die Selbstbildung und Selbsterziehung geschieht aber hauptsachlich durch Apperception der Ge- danken ; folglich kann die Willensentschliessung durch das Subject selbst vorbereitet und prajudiciert werden. Auf diese Art nimmt das Subject zwar nicht unmittelbar d. i. im Momente der Entschliessung, wohl aber vor demselben auf seine Willensentschliessungen Einfluss. Somit gibt es eine Art indirecter Willensfreiheit. Der Wille ist zwar auch dann nicht von dem Zwange der Gliickseligkeits- 158 Neunter Abschnitt. vorstellung entbunden, aber die Entschliessung wird durch die vorangegangene Schulung nnd Uebung des Geistes angebahnt. Der Charakter mit seinen Neigungen und Affecten hat nicht mehr freies Spiel, und die ethischen Grundsatze, Anschau- ungen und Ueberzeugungen gewinnen an Kraft; in demselben Masse nimmt die subjective Willensbestimmung zu. Man darf somit bei der Erorterung der Willensfreiheit nicht das Eine vergessen, dass die Entschliisse nicht etwa bloss vom Medium, sondern auch von der Reflexion der iibrigen im Geiste vorhandenen Vorstellungen bedingt sind. dass sie also im Seelenapparate nicht frei. sondern auch unter dem Einflusse der Reflexion d. i. des Actes der Ueber- legung und des Bewusstseins zustande korrimen. Dabei tritt die Individualitat des Menschen mit der ■Causalitat in Concurrenz : die einen Individuen entschliessen sich nach ausseren Motiven, die andern nach ihren Neigungen und Trieben, die dritten \vieder nach der Ein- gebung ihrer Grundsatze und Ueberzeugungen. Die Reflexion. welche im Willen liegt, ist eine Kraft, man kann sie mit der dynamischen Widerstands- oder Gegenkraft vergleichen. Sie kann zunehmen und wachsen. und in demselben Masse muss die ihr entgegenwirkende Kraft an Effect verlieren. Der Mensch ist demnach keine leblose Maschine, und ist auch von Descartes und Leibnitz, die den Seelen- apparat gern unter diesem Bilde betrachten. niemals fiir eine solche angesehen worden, da ihr beide Ethiker einen -vernunftigen, machtigen Regulator an die Seite stellen. Indem wir bei dem heutigen Stande der Psychologie diesen Regu¬ lator der Seele nicht von aussen beistellen, sondern in der organischen Reflexionskraft suchen, schreiben wir dem Organismus eine spontane Kraft, eine e i g e n e Thatigkeit zu. Ich sehe daher keinen Grund, der wider die Mit- thatigkeit oder, wie ich mich einmal ausgedruckt habe, wider die Cooperation des Subjectes im Willensentschlusse sprache. Freilich liebt man es formlich, den Menschen, der sich doch die Krafte der Natur dienstbar gemacht hat, zu einer Marionette derselben Natur zu erniedrigen, indem man ihm jede Selbstthatigkeit, jede Initiative abspricht und dessen \Villensentschliisse lediglich als „Wirkungen“ ausserer K ral te. des Causalitatsgesetzes hinstellt. Ueberhaupt lagert liber dem Begriffe des menschlichen Willens in der heutigen Ethik noch sehr viel Dunkel. da man die Motive und deren Reflexe nicht scharf von einander trennt und den Willen mit Willensfreiheit. 169 dem Charakter und den Reizen der Aussenwelt vermischt, was die Verwirrung nur steigert. Ich bringe hier meine bereits im zweiten Abschnitte gemachte Bemerkung in Erinnerung, nach welcher der Wille nicht bloss von den Gesetzen der Aussennatur und dem Verlaufe des eigenen psychischen Lebens, sondern auch von den Gesetzen der eigenen Vernunffc determiniert ist. Warum dieser letzte. wichtigste Factor libersehen wird, leuchtet mir nicht ein. Vielleicht iibersieht man ihn absichtlich, um einen derar- tigen Determinismus des Willens herauszubringen, gegen welchen sich der menschliche Geist Yon jeher gestraubt hat und sich fortwahrend straubt, und dies mit vollem Rechte. Denn gerade auf der Kraft des Geistes beruht der beste Theil des sittlichen Strebens. Vetgeblich werden alle Versuche bleiben, den Geist ganzlich unter die Herrschaft lediglich mechanischer Gesetze zu beugen. Mit der wahren Geltung der ethischen Causalitat er- ledigt sich zugleich der psychische Determinismus, welcher mit ihr identisch ist. Die Macht des menschlichen Geistes manifestiert sich besonders in der Fahigkeit, ge\visse Ge- danken und Vorstellungen festzuhalten, wie oben gezeigt worden ist. Ebenso ist es moglich, durch die Hemmung unter den gegebenen Gedankenreihen die eine oder andere zu wahlen. Die Vorstellungen finden sich allerdings von selbst und frei im Geiste ein, allein die Wahl unter den- selben, die Ablehnung oder Annahme der einen oder andern steht bei uns, wenn wir den Verstand gebrauchen gelernt haben. Also auch hierin besitzt der Mensch eine allerdings auf einen geringen Umkreis beschrankte Freiheit, die von der „intelligiblen“ Kanfschen freilich noch sehr weit entfernt ist. — Fassen wir das Resultat unserer Betrachtungen zu- sammen. Der Mensch besitzt in der Kraft der Reflexions- thatigkeit einen gewissen, beschrankten Grad von Freiheit iiber seine korperlichen und geistigen Bewegungen. Er ist nicht ohne alle Macht der Selbstbestimmung, da er selbst ein Factor in der Kette des Causalitatsgesetzes ist. Er \viirde kein ver- niinftiges Wesen sein, wenn ihm alle Einwirkung auf sein Thun und Lassen und auf die Forderung seiner Gliickseligkeit benommen ware. Der Mensch ist, wie die Erfahrung lehrt, weder ein Sclave seiner Begierden noch ein blindes Spielzeug ausserer Eindriicke. Und dieser geringe Grad der Selbstbe¬ stimmung, die ihm von Natur zukommt, erhebt ihn hoch iiber die iibrigen irdischen Geschopfe. Dadurch hat sich der Mensch seine grosse Herrschaft iiber die Natur, aber noch eine grossere Herrschaft, jene iiber sich selbst erworben. Zehnter Absehnitt. Zurechnung und Verantwortung. Mit der Willensfreiheit hangt aufs innigste die Z u- rechnung oder Imputabilitat und V e r a n t w o r- t, u n g oder Yerant\vortlichkeit zusammen. Ist die Handlung eines Menschen das Werk der Person oder doch durch deren spontane Mitwirkung entstanden, so nimmt man dieselbe fiir einen AVillensact der Person an und macht diese fiir die Handlung verantwortlich. Ist dagegen der \Ville des Menschen lediglich eine „Wirkung“ anderer, sagen wir ausserer Factoren, dann ist die Person im Grunde nur deren Zeuge und kann nicht zur Rechenschaft gezogen werden. „Nothwendigkeit und Zurechnung schliessen einander aus“, bemerkt Kant. 1 ) So steht die Frage iiber die Zurechen- barkeit der Handlungen. Bevor ich in die Erorterung dieses Gegenstandes eingehe, mochte ich die Zurechnung und Verantwortung zu definieren versuchon. Unter Zurechnung verstehe ich die Fahigkeit des Subjectes, sittlich zu handeln, unter Verantwortung die Verpflichtung und Pflicht der Person, die Folgen ihrer Handlungen auf sich zu nehmen und ‘zu tragen. Nach den im vorangehenden Abschnitte ent\vickelten Principien besitzt der Mensch z\var keinen absolut freien Willen, aber er kann sich seines AVollens bewu sst s e in und nimmt auch indirecten Einfluss auf seine Hand¬ lungen. Selbst nach dem Causalitatsgesetze ist das Subject infolge seiner realen Existenz Mitursache seines Schicksals, so\vie es die Ursache des Glucks und Ungliicks Anderer sein kann. Da die Thatigkeit jedes Dings aus Kant: Kr. d. p. V. 120. Griinde fur ZurechnuDg. 161 dessen eigener Natur, die sich vorzugsweise im Denken und Urtheilen kundgibt, entspringt (Spinoza’s Ansicht), so ist auch ein jedes Ding fur sein Verhalten verantwortlich. Somit sind die Zurechnung und Verantwortung selbst bei Fest- halten am absoluten Determinismus zu rechtfertigen. Ich halte diesen Grund fiir einen solchen, der unmittelbar aus dem Wesen der Causalitat fliesst, und erinnere daran, dass bereits im Eingange dieser Schrift bemerkt worden ist, dass alle Dinge der Natur in einem gewissen causativen Zusammen- hange zu einander stehen, dem zufolge sie fordernd oder hemmend auf einander einwirken. Allein fiir die Zurechnung sprechen noch andere Griinde. Zunachst asthetisch-sittliche. Alles Unsittliche ist an sich so scheusslich und verabscheuungswiirdig, dass seine blosse Erscheinung zu Tadel und \Vegraumung auf- fordert. 1 ) Ebenso ist das sittlich Gute an sich lobens- wert und fordert zu seiner Belobung und Belohnung auf. In diesen Gefiihlen ist ein genuiner und unmittelbarer Aus- druck der objectiven Sittlichkeit zu suchen. Es ist die Macht des Sittlichen selbst, das sich in derlei Anregungen ankiindigt. Kein \Vunder daher, wenn unser sittliches Urtheil die \Vir- kungen von der Qualitat auf den Trager der Qualitat iibertragt und diesen ebenso belobt und belohnt oder hasst und ver- achtet wie es die Erscheinungen des Unsittlichen hasst. \Venn nun P. Ree, um derartige ethische Urtheile zu erklaren, sie auf „anerzogene Antipathien und S y m- pathien“ zuriickfiihrt und ihnen jede objective Berechti- gung abspricht, 2 ) so macht er sich einer petitio principii schuldig, da er uns nicht beweist, dass solche Antipathien und Sympathien principiell unbegriindet seien. Man will doch wissen, wie dieselben iiberhaupt entstehen und durch Anerziehung sich vererben konnten. Auch „Urtheilsgewohn- heiten 11 sind auf ihre Berechtigung oder Nichtberechtigung zu priifen. Ich glaube nun, dass selbst bei vollem Glauben an ein unerschiitterliches Verhaltnis der „Nothwendigkeit“ und des ,,Willens‘ als deren „ Wirkung“ die Zurechnung einer „Schuld“ Berechtigung hat. \Vir mogen von diesem causalen Ver- haltnisse etwas wissen oder nichts, daran glauben oder nicht, das Schlechte bleibt in unseren Augen scheusslich, und wer es verbricht, ist zu bestrafen, allerdings unter gewissen Be- dingungen, die erst naher zu bezeichnen sind. ') vgl. P. Ree: Die Ulusion. S. 31. 2 ) P. Ree: ebend. 30. 11 162 Zehnter Abschnitt. Bei der Annahme eines relativen Determinismus sind zweierlei Falle zu unterscheiden : erstlich solche, in denen auf Zurechnung zu erkennen, dann solche, in denen Unzu- rechnungsfahigkeit anzunelimen ist. Fiir die Zurechnung spricht in erster Lime der Nachweis sittlicherErkenntnis. DerjenigeMensch, dessen IntelLect soweit entwickelt ist, um das Gute von dem B5sen zu unter¬ scheiden, muss fiir zurechnungsfahig angesehen werden. Wo- fern der Thater die logische Denkfahigkeit, also die An- wendung der Principien der Identitat, Disparitat und des Widerspruchs besitzt, kann er fiir ethisch zurechnungsfahig erklart werden. Auch muss er psychisch soweit gesund sein, dass ihm die Fahigkeit des Gedachtnisses und der Er- innerung nachgewiesen werden kann. In sittlicher Beziehung endlich muss er die Fahigkeit besitzen, zu iiberlegen und zu wahlen. Dann kann man bei ihm von einem psychisch- normalen Zustande reden. Um fiir zurechnungsfahig erklart zu werden, muss das Subject einen sogenannten reifen Verstand, G e- m ii t h und ethisches Bewusstsein oder G e \v i s s e n, und zwar dies alles wenigstens in einem constatierbaren Masse besitzen, ausserdem von D e f e c t e n, welche die geistigen Fnnctionen storen, frei sein. Allein auch dieUnzurechnungsfahigkeit muss in unzweifelhafter Weise statuierbar sein, \vas uraso sch\vie- riger erscheint, als die Thater ihre „lichten“ und „dunklen" Augenblicke haben. Im allgemeinen darf man den Grund- satz aufstellen : Unzurechnung ist d ur eh a 11 e Arten ausserer und innerer Storungen des physischen und geistigen L e b e n s b e g r ii n d e t. Man kann sich dariiber noch kiirzer ausdriicken, indem man alle A n o m a 1 i e n der geistigen Functionen fiir Griinde der Nichtanrechenbarkeit erklart. Da jedoch alle all¬ gemeinen Erklarungen der moralischen Phanomene entweder zu weit oder zu eng ausfallen, so ist eine detaillierte Auf- zahlung der Bedingungen, welche die Praxis ergeben hat, vorzuziehen, wenn auch die Aufzahlungen niemals dem wa,hren Umfange der Wirkungen eines Gesetzes entsprechen. Jedenfalls schliessen sie dafiir viele Zweifel aus. Die Griinde, auf denen die moralische Nichtzurechnung beruht, sind physischer, psychischer, moralischer und zufalliger Art. Zu den physischen Griinden zahlen vor allem alle Erkrankungen des G e h i r n s und des N e r- vensystems, sofern durch dieselben der Gebrauch jener Organe, namentlich des Gedachtnisses, der Empfin- Griinde fdr Unzurechnung. 163 dung und Vorstellung gestort wird. Hieher mussen auch die Erkrankungen des H e r z e n s, der Leber und der Verdauungsorgane, uberhaupt der i n n e r e n G e f a s s e gezahlt werden ; denn diese sind nicht minder wichtige Factoren und Hemmer der psychischen Thatigkeit als die Nervencentren und Organe. Zu den p s y c h i- schen Griinden der Nichtzurechnung gehoren: U n- miindigkeit wegen zu friihen Alters, Idiotismus. Manien, alle iibermassigen Affecte, alle Arten von Irrsinn, auch alle momentanen Storungen der normalen psychischen Processe. — Zu den moralischen gehoren: ein volliger Mangel sittlichen Gefiihls, eine verwahr- loste Erziehung; —zu den aus dem Mil i eu hervorgehen- den Griinden: eine tiefstehende Stufe der allgemeinen Ci- vilisation der Gesellschaft, eine allgemeine Demo- ralisation, fortgesetzte Missregierungen, ausserer Zwang, Verfiihrung. Bernardino Alimena 1 ) fiihrt folgende Arten von Nicht.- anrechenbar keit an die er in vier Stufen eintheilt: Ent- schuldigung ohne Freisprechung. Entschuldigung mit Freisprechung, Milderung der StrafeundRechtfertigung. Griinde der partiellen und totalen Nichtanrechenbarkeit unter- scheidet Alimena folgende: Seelenkrankheiten, u. zw. grosse N ervose, Stummheit, S omnambulismus, Hypnose, Bausch, Irrsinn, Mangel an psychi- scher Go act io n sfahig k eit — coaction psychologique, Irrthum, Unw isse nhei t (Ignoranz), Bache fiir an- gethanes Unrecht, Nothwehr, gerechten Zorn, gerechtfertigten Schmerz, legalen Gehorsam gegen die weltlichen und geistlichen Behorden, ausseren Zwang zur Ungesetzlichkeit. Dabei hat Alimena weder den Determinismus noch die Willensfreiheit, sondern einzig den an der Gesellschaft veriibten S c h a d e n im Auge, und macht daher in der Be- urtheilung der menschlichen Handlungen keinen Unter- schied zwischen den aus dem W i 11 e n und den aus dem Zwange der Verhaltnisse hervorgehenden Thaten, wie er auch den Zweck der Strafe in der Verhiitung und Abschreckung erblickt. Darum macht er auch die Zu- rechnung und Grosse der Strafe von der Grosse der Schadigung der Gesellschaft, von der Schlechtigkeit des De- linquenten — also doch auch von moralischen Qualitaten — ‘) B. Alimena: I limiti e i modificatori deli’ Imputabilita. 1894. f 11 * 364 Zehnter Abschnitt. und „von der verminderten Moglichkeit der privaten Abwehr des Verbrechens abhangig. Cesare Lonabroso nimmt den menschlichen \Villen. daher auch die Functionen des Hirns als determiniert an und spricht dera Subjecte jede Selbstthatigkeit ab. da dessen Organismus iiberdies durch tausendjahrige H e re¬ di t a t moralisch belastet sei. Deshalb verwirft er auch jede Rucksicht der menschlichen Justiz auf eine Willensfreiheit, da es keine solche gebe, fasst den Menschen obendrein nicht als sociales, sondern als individuelles Wesen auf und will in der Zurechnung nur biologische und p s y c h o- 1 o g i s c h e., aber keine socialen Einflusse gelten lassen. Demgemass gibt er keine Zurechnungsfahigkeit des Thaters zu und sieht die Strafe auch nicht als Besserungs-, sondern bloss als Mittel zur Unschadlichmachung an. Das Eigenthumliche an Lombroso’s Theorie aber ist die Annahme eines besonderen Verbrechertypus d. h. die Annahme gewisser physischer und psychischer De- fecte, durch welche sich eine gewisse G r u p p e von Indivi- duen innerhalb einer Gesellschaft von den iibrigen in sitt- licher Beziehung ausscheide und eine moralische Species bilde, die zu Verbrechen verschiedener Art hinneige. Die Nichtzurechnungsfahigkeit dieser Gruppe will Lombroso damit begriinden, dass er deren sittliches Kranksein nachzuweisen sucht und sie analog den englischen Biologen, welche eine Moral Insanity annehmen 1 ), als Mattoidi d. h. als sittlich Irre bezeichnet. 2 ) Die Drsachen des sittlichen Irrseins will Lombroso in zweierlei Umstanden: in avitischer Belastung und in in dividueller Anomalie des physischen und geistigen Lebens gefunden haben. Die physischen Anomalien der Mat¬ toidi bestehen: in Abnormitaten der Hirnbildung, nam. der Hirnwindungen, aber auch schon in anomaler histo- logischer Bildung des Kleinhims, in Entziindun- gen der Hirnhaute, die sich bei 50 Percent von Verbrechern vorgefunden hatten, 3 ) in chronischer Hyper- amie, welche eine „Basis aller Storungen bei den Irren sei“, iiberhaupt in Anomalien der Blutvertheilung, was eine zvrnite ,Basis der Geistesstorungen“ bilde 4 ), in Herz- fehlern, in der selten normalen Beschaffenheit der Leber J 0 vgl. Savage: Moral Insanity. 1881. — Hollaender: Der moralische Wahnsinn (Moral lnsanity). 3882. vgl. deren Beschreibung bei Lombroso: Der Verbrecher. I 459 ff., theilweise auch im II. Bde. 3 ) Lombroso: ebend. I 396. *) Lombroso: ebend. I 201. Lombroso iiber Moral Iasanity. 165 in der Mikroke phalie, in Ausartungen des Ge schlechts- trieb es. Die psychischen Storungen werden von Lombroso nur envahnt, dagegen fuhrt er die moralischen Defecte der Irren eingehender aus. Zu den letzteren Defecten zahlt er: voll- stiindigen Mang e 1 an s it tli chem Gefiihl, natiirliche B o s- heit, Mangel an Gemiith. Neuerungs- und Zersto- rungssucht, excentrisches Wesen, Schadenfreude und Grausamkeit, Unmassigkeit, schwankenden Charakter, Leichtsinn, Mangel an Thatkraft, Eg oismus, iiber- haupt Mangel an Selbstbeherrschung, Selbst- mordgedanken. — Man mag zugeben, was Lombroso behauptet, dass es »Verbrecher aus Instinct“ oder »Verbrecher des G e d a nkens" gebe') d. h. Menschen, welche infolge eines un- \viderstehlichen inneren Dranges Verbrechen begehen — das sind die Monomanisten, wie z. B. gewisse Diebe —, allein unstatthaft ist es, eine . besondere Gruppe von natiir- lichen oder pradestinierten Verbrechern zu statuieren und die Ursachen der Verbrechen einzig und allein in krankhafte Defecte des Organismus zu verlegen. Lombroso selbst liefert uns Waffen gegen seine Theorie. So bemerkt er, dass es unter 26856 von Verga untersuchten eigentlichen Irren nur 0'56 Percent Verbrecher gab. 2 ) Dies widerlegt doch schlagend den causalen Zusammenhang zwischen Irrsinn und Verbrechen. Ebenso bemerkte er, dass sich in den Irrenan- stalten „sehr selten" Mattoidi befanden. Folglich ist die Zusammenstellung des Irreseins und der sittlichen Mor- biditat unstatthaft. Wenn nun Lombroso diesen Wider- spruch mit dem Umstande zu beseitigen versucht, dass man nicht alle Mattoidi in Irrenanstalten schicke, so be- gibt er sich selbst des besten statistischen Nachweises: die- selben genauer ausgeforscht zu haben. Dies beweist eben, dass seine „ Mattoidi “ keine „Geisteskranken“ sind: \Venn Lombroso die besagten Defecte an erwiesenen Verbrechern nach bestimmten Percentsatzen constatiert, so folgt daraus noch keineswegs eine Beschrankung der Ver¬ brechen auf Mattoidi. Lombroso bemerkt doch selbst, „das Hirn eines Menschen sei in hohem Grade veranderlich, ohne deshalb Krankheitssymptome “ zu zeigen. ‘) Damit fallt ein sehr \vichtiges Argument fur den causalen Zusammenhang der Verbrechen mit Hirnanomalien. Dem mochte ich noch beifugen, dass die Obductionen der Verbrecher keineswegs <) vgl. Lombroso: ebend. I 453. 3 ) ebend. I 452. e ) ebend. I 197. 166 Zehnter Abschnitt. immer oder doch nur meistentheils Hirnanomalien ergeben haben, ein Beweis, dass auch d er gesundeste M e n s c h zumVerbrecher werden kan n. Interessant ist es zu bemerken, dass Lombroso doch auch den ausseren Umstanden des Verbrechens Rechnung tragt, so sehr er dasselbe auf biologische Ursachen zu beschranken sucht. Er erklart namlich, dass an den Verbrechen auch mangelhafte Erziehung Schuld trage 1 ) und dass durch Er- ziehung Besserung moglich sei. 2 ) Auch fehle das Schuld- bewusstsein den Mattoidi-Verbrechern nicht immer. 8 ) Somit beraubt Lombroso semen allgemeinen Satz von den vererbten und angebornen Neigungen zum Verbrechen der besten Stiitzen, indem er moralische Einfliisse zugibt. Dass namlich die moralische Atmosphare der Gesellschaft auf die Verbrecher von eminentem Einflusse ist, diirfte heute nur eine verstockte und starrsinnige Theorie leugnen wollen. Die socialen Dntersuchungen weisen mit Macht dahin. Uebrigens hat dem Werke Lombroso’s diesen wesentlichen Irrthum bereits C. Gutberlet vorgehalten. 4 ) Auch sonst finden sich unter den von Lombroso an- gefiihrten biologischen Ursachen der Unzurechnungsfahigkeit einige angefiihrt, die man ebensogut an sittlich Gesunden beobachten kann, z. B. Hyperamie, anormale Hirnwindungen, Mikrokephalie u. a. Damit ist abermals indirect erwiesen, dass krankhafte Anomalien des Organismus keineswegs immer zu Verbrechen fiihren oder die Zurechnungsfahigkeit noth- wendigerweise aufheben. Ich komme sonach immer wieder auf den Satz zuriick, dass bose Neigungen an sich noch nicht zu Verbrechen fiihren miissen, sondern auch bekampft werden konnen, kurz, dass der Mensch eine relative, be- schrankte \Villensfreiheit besitzt. — Nun moge eine Illustration der eben vorgetragenen Theorie folgen. Ein Knabe, nennen wir ihn A., ist morgens auf dem \Vege zur Schule. Allein das schone AVetter gibt ihm den Gedanken ein, im Stadtparke, durch den ihn der AVeg ftihrt, lieber spazieren zu gehen als im Schulzimmer zu sitzen. Setzen wir nun den Fali, was im Schulleben doch vorkommt, der Knabe erwagt zwar seinen Schritt, erliegt aber der Ver- suchung und schwanzt den Unterricht, hat derselbe nach ireiem \Villen gehandelt, ist er als zurechnungsfahig zu be- trachten und verantvortlich zu machen? Vorerst miissen wir den Knaben in eine der drei Kate- ‘1 Lombroso: ebend. I 477. — 2 ) ebend. I 522. — 3 ) ebend. II 100. *) C. Gutberlet: Die Willensfreiheit u. ihre Gegner. 1893. Em Beispiel von Zurechnung. 167 gorien handelnder Menschen einreihen. Er verhalt sich gegen die Motive passiv oder activ oder schwankend. Nach dem ethischen Willensgesetze wird er in allen drei Fallen unfrei handeln, denn im ersten Falle war der Knabe seiner Neigung unterlegen, im zvreiten seinen Grundsatzen, im dritten aber dem augenblicklichen Ausschlaggrnnde, welcher seine Ent- schliessung herbeifuhrte, also entweder seiner Neigung oder einem Grundsatze. Ist der Knabe zurechnungsfahig? — Jedenfalls, denn er hat wider sein besseres Wissen, das er durch seinen vorher regelmassigen Schulbesuch, durch die Kenntnis der Schul- disciplin, die ihm vielleicht taglich eingescharft \vurde und schon durch den blossen Act der Ueberlegung, ob er bummeln oder zur Schule gehen šolle, bethatigte, den Unterricht ge- schwanzt. Er ist auch geistig soweit entwickelt, dass er bereits die Folgen seiner gevrohnlichsten Handlungen ermisst. Deshalb ist er auch als verantwortlich zu betrachten. Ein anderer Knabe, er heisse B., geht ebenfalls durch den Stadtpark zur Schule. Auch ihm fallt der Gedanke ein, bei dem herrlichen Wetter lieber spazieren als zur Schule zu gehen, allein er zieht es vor, letzteres zu thun. Die Frage lautet nun ebenfalls: hat der zvrnite Knabe frei oder unfrei ge- handelt? — Wir kommen zu den ganz gleichen Folgerungen: sein Grundsatz, der Pflicht zu gehorchen, liess ihm keine Wahl ubrig, folglich handelte er sovrie der erste, unfrei. — Ist' er als zurechnungsfahig anzusehen? Gerade so wie der Knabe A. und aus denselben Griinden. Folglich ist er auch fur seine Handlungsweise verantwortlich, was ihm allerdings leicht wird, da er seine Pflicht gethan hat. In der That wird der A. fur seine Pflichtunterlassung bestraft, der B. aber hat das lohnende Bewusstsein, seine Pflicht erfiillt zu haben. Man wircl vielleicht einwenden: wenn beide Knaben. unfrei gehandelt haben, so sollten auch beide in gleich ge- r e c h t er Weise behandelt werden. Dies geschieht denn auch: keiner kann sich liber eine ungerechte Behandlung beklagen: Der B. wird so behandelt, wie er es selbst voraUsgesetzt und gewollt hatte: er \vird giinstig beurtheilt. Aber auch dem A. geschieht kein Unrecht: er wird ganz so behandelt, wie er es selbst erwartet hatte, namlich bestraft. Jeder der beiden \vird demnach so behandelt, vrie er es selbst gewollt und verdient"hatte, und jedem ward das zutheil, was er sich selbst vor der That vorgerechnet hatte. Denn die Entschliessungen und Handlungen der beiden waren ja nur der Ausdruck ihres subjectiven Wollens. Elfter Absehnitt. Der sittliche Conflict. Bevor ich an die Losung der sittlichen Con¬ flict e oder der Collision der Pflichten gehe, will ich eine Definition derselhen aufstellen. Unter dem sitt¬ lichen Conflicte verstehe ich den Z w e.i f e 1 des hand.elnden S n b j e c t e s. welche von z w e i oder mehreren z n g 1 e i c h sich aufdrangenden Pflichten bei der ethischenEntschliessung vorzuziehen sei. In dieser Definition sind zwei Punkte enthalten, welche von Wichtigkeit erscheinen : erstlich, dass der Z\veifel sich auf Pflichten und zweitens auf sittliche Pflichten beziehe. Es handelt sich in demselben nicht um kleinere oder grossere Giiter, von denen das eine fiir gewisse Falle \viinschenswerter ware als das andere, also nicht um ein Begehren oder Vorziehen von Z\vecken, sondern von sittlichen Pflichten. Es konnen in der Praxis des Lebens auch zwei keineswegs gebotene Z\vecke in dieAVahl kommen, worin ich jedoch keinen sittlichen Conflict erblicke. Ob z. B. der Mensch ein friedliches oder ein bewegtes Leben vorziehe, ob eine Nation lieber kriegerischen als friedlichen Aspirationen Raum gestatte, das ist keine Instanz eines sittlichen Conflicts, \vie Spencer meint, 1 ) so wichtig solche Fragen auch sein mogen, da es hier ja nicht auf die \Vahl sich entgegenstehender nachweisbar sittlicher Pflichten ankommt. Eine grosse Entlastung der Prage bedeutet es . auch. wenn man jenen Conflict nicht in dem Zwiespalt zviišchen ‘) Spencer; Thats. d. Eth. 148. Arten der Pflichtconflicte. 169 den M i 11 e 1 n und deren Zwecken sucht, wie es Spencer thut, ob z. B. „einfachere“ oder „compliciertere“ Mittel zur Erreichung eines Zweckes anzuwenden seien, * 1 ) — eine Barage rein technischer Natur. Ueber die sittliche Quali.tat der Mittel darf so wenig ein Zweifel herrschen als liber die Zwecke, da nach einer der friiheren Auseinandersetzungen eben beide loblich sein mlissen. und nicht bloss die einen derselben. Ebenso entfallen fur die praktische Philosophie alle streng rechtlichen oder juridischen Conflicte, da diese nicht nach ethischen, sondern nach Rechtsprincipien zu entscheiden sind. \Vohl aber gehoren hierher jene Falle, in denen moralische "und rechtliche Pflichten mit einander in Conflict gerathen. Dies ist z. B. der Fali, wenn die Gerechtigkeit und die Grossmuth gegen einander abgewogen werden, und eine Person in Zweifel gerath, ob sie den Einfitisterungen der einen oder der anderen der beiden sittlichen Pflichten Gehor schenken solle. Aehnlich ist der Fali, wenn infolge einer Beleidigung einerseits der Individualitatstrieb zur Rache, andererseits die Stimme der Sympathie oder des Mitleids zur Verzeihung und Nachsicht auffordert. Fur solche Falle konnen ethische Normen aufge- stellt werden. Die Collision der Pflichten schreibt sich von der viel- seitigen sittlichen Inanspruchnahme des Men- schen her und tritt viel haufiger auf, als die Aufforderung einer einfachen Pflicht. Sehr richtig bemerkt J. H. Fichte : „Jeder befindet sich in einem Durchkreuzungspunkte eigen- thiimlicher Pfliphtforderungen, welche unablassig und stets von andern Seiten auf ihn einstiirmen“. 2 ) Fichte geht soweit, dass er eine jede sittliche Handlung fur eine Losung einer wirklichen Pflichtcollision ansieht, 3 ) worin ihm H. Spencer beistimmt, der keine „absolute“ — will wohl heissen einfache — Tugend, sogar keine „absolute Sittlichkeit“ an- erkennen \vill. 4 ) Dasselbe geht librigens schon aus der oben auf- gestellten Theorie der gegenseitigen Hemmung aller Tugenden und Pflichten hervor, welcha erst durch ihren Zusammenhang eine sittliche Totalitat bilden. Von der praktischen Philosophie wird nun verlangt, dass sie den Weg zeige, wie solche Conflicte zu losen seien. Allein dies ist in der Regel eine ausserordentlich sch\vierige Auf- gabe, da bei derlei Entscheidungen eine grosse Anzahl von i) Spencer: ebend. 175—178. J ) J. H. Fichte: Syst. d. Eth. I. 294. 3 ) J. H. F i c h t e : ebend. 295 u. schon 255. 4 ) Spencer: Thats. d. Eth. 292. 170 Elfter Abschnitt. Umstandfin in Betracht kommt. Doch da es eine Schwache der Philosophie bedeuten wiirde, wenn diese in solchen An- legenheiten ilircu Dienst versagte, so muss sich dieselbe entsehliessen. dariiber Weisungen an die Hand zu geben, so verantwortungsvoll dies anch ist. Dabei darf nicht ver- schwiegen werden, dass die Ethik in diesem Punkte, wie J. H. Fichte urtheilt. nur einige wenige und dazu bloss probable und wahrscheinliche Normen bieten kann. 1 ) Auch Kant und Schleiermactier geben dariiber nur ausserst reservierte An- leitungen, worin ihnen auch Paulsen und die Neueren folgen. Ich ziehe es vor, bevor ich allgemeine Normen aufstelle, einige Falle von Collision vorzufiihren und aus deren Analyse all¬ gemeine Grundsatze der Losung abzuleiten. Der erste Fali betrifft die Frage, ob man in bestimmten Fallen einem Mitmenschen gegentiber das stricte Recht, oder Billigkeit und Nachsicht zu iiben habe. Hier stehen sich zwei sittliche Pflichten : die Gerechtigkeit und Grossmuth gegeniiber. Welche soli der anderen vorangeštellt werden? — Die Erwagung wird hauptsachlich die Folgen in Betracht ziehen. welche einerseits fur das Subject, andrer- seits fur die zweite Person aus der Erfiillung der ersteren oder letzteren Pflicht hervorgehen diirften : ob namlich die Gerechtigkeit oder Grossmuth mehr Nutzen oder doch weniger Schaden fiir beide Parteien herbeifiihren werde. Darnach wird die Entscheidung zu treffen sein. Mehr als einen pro- bablen Grund tur die eine oder andere Entscheidung kann man wegen der ungewissen Zukunft principiell nicht angeben. Spencer lčist diesen Conflict einseitig, wenn er grundsatzlich der „Gerechtigkeitden Vorzug vor der „Grossmuth" ein- raumt. 2 ) Desgleichen verfahrt Rud. v. Ihering, der in seinem „Kampf ums Recht “ denselben Grundsatz verficht. Doch ist bereits mehr als einmal angezweifelt worden, ob die stricte und riicksichtslose Durchfuhrung der juristischen Gerechtig¬ keit der Menschheit mehr zum Heile' als Dnheile gereiche. Hier gelien rein sittliche Erwagungen obiger Art voran. Aehnlich liegt der Conflict im Falle einer Beleidigung, welche vom Beleidiger Satisfaction fordert. Der Trieb der Individualitat, personliche Ehre genannt, erheischt Genug- thuung, die allgemein-menschliche Sympathie dagegen fordert zur Verzeihung auf. Der beste Ausweg ware eine gesell- schaftliche Einrichtung, welche diesen Streit mit weniger Bitterkeit iiir beide Parteien schlichtete. Dies ware ein schieds- ‘) J. H. Fichte hat der Ldsung dieser Frage einen besondern Abschmtt gewidmet, im o. c. Werke. I Bd. § 73 S. 289 ff. 2 ) Spencer: Thats. d. Elh. 135. Beispiele von Pflichtconflicten. 171 richterlicher Spruch oder eine ehrengerichtliche Entscheidung, wovon schon oben gesprochen worden ist. Einer besonderen Gattung von sittlichen Conflicten gehort der Widerstreit zwischen der Pflicht der individuellen S e 1 b s t e r h a 11 u n g und der Aufopferung fiir das Gemeinwesen. Man kann dies auch die Collision der In d i vi d u alit at mit der Societat oder den Streit der privaten und offentlichen Interessen nennen. Was nun die Selbstaufopferung anbelangt, so geht hierin das Interesse des Gemeinwesens voran. Die Individualitat beschrankt sich nicht auf die rein leibliche Erhaltung der Person, da das Individuum auch in irgendeiner Idee oder in seinen Idealen fortlebt. Beide Pflichten, die individuelle und die sociale, konnen durch die individuelle Aufopferung besser erfiillt werden als durch Yerweigerung derselben; denn es gibt keine Moglichkeit, eine Societat, sagen wir z. B. einen Staat zu er- halten, wenn dessen Burger nicht bereit sind, ihr Leben fiir denselben in die Schanze zu schlagen. Der Conflict lost sich somit durch Bevorzugung der socialen Pflicht. Diese Art Losung hat auch die Geschichte als die heilsamste bestatigt. Darum entscheiden sich die meisten Ethiker fiir dieselbe. Des Conflictes zwischen der Gesellschaft und dem Individuum hat sich schon langst die Poesie bemachtigt, um auf dessen Motivierung und Losung ihre priichtigsten ( Schopfungen aufzufiihren. Ich will Sophokles’ Antigone nennen, ) in welcher die Collision der Verwandtenliebe und Unterthanen- pflicht zur Katastrophe fiihrt. Allein in Wahrheit besteht hier ein Scheinconflict zwischen der Pflicht der Venvandten- liebe : — von der religiosen Pflicht sehe ich ab. um den Streit auf das rein ethische Gebiet zu beschranken — und der Unter- thanenpflicht. Antigonen’s Recht steht fest; minder ihre Pflicht, die des Gehorsams gegen das Verbot des Tyrannen. In \Vahr- heit ist der Gehorsam gegen das Edict eines Tyrannen im constitutionell regierten Theben nicht als Pflicht zu betrachten. Der Fali Antigone hat daher mehr poetische als eigentlich ethische Bedeutung. In Shakespeare’s „ Kaufmann von Venedig“ finden wir einen Conflict zwischen der gewahrleisteten rechtlichen und einer implicite in ihr enthaltenen moralischen Pflicht. Der Jude Shylock beharrt auf der Erfiillung seines „Scheins“, die Rucksichten der Menschlichkeit und die Unausfiihrbarkeit des Scheins jedoch stehen dessen Erfiillung entgegen. Die Losung dieses Pflichtenconflictes zu Gunsten der Menschlichkeit. also Sittlichkeit, ist eine ganz noth\vendige, da, wie es im Stiicke selbst heisst, gegen einen solchen „Schein“ nicht bloss die 172 Elfter Abschnitt. Gesetze Venedigs, sondern auch die Unmoglichkeit spricht, jene rechtliche Forderung auszufiihren. Rudolf von Ihering unterzieht sich daher der mehr geistreichen als dankbaren Aufgabe, Shylock’s verlorene Sache zu verfechten (im „Kampf ums Recht“). Ein haufig vorkommender Fali betrifft die Collision der Berufspflichten mit irgendeiner sittlichen Ueber- zeugnng. In einem solchen Falle geht die Erfullung der Berufspflicht voran, da eine That, im Auftrage hoherer In- stanzen ausgefiihrt, keine sittliche Verant\vortung ihres Voll- streckers einschliesst. J. H. Fichte handelt kaum richtig, wenn er diese Art Conflicte in einen „Gegensatz der Be- rufs- und Selbsterhaltungspflicht“ verlegt. ‘) Kann ein offent- licher Functionar die Ausfiihrung von Amtshandlungen, die ihm aufgetragen werden, mit seinen ethischen Ueberzeugungen nicht vereinbaren, so steht ihm der Rticktritt von seinem Amte offen. Die Tragweite eines solchen Schrittes zu ermessen steht jedoch ganz dem Forum seiner eigenen reiflichen Ueber- legung zu, und allgemeingiltige Normen fiir derlei Falle auf- zustellen steht der Ethik nicht zu. Wenn wir aus den vorgebrachten Analysen die Ergeb- nisse ziehen, komrnen wir zu folgenden allgemeinen Normen: 1. Zwei coliidierende sittliche Pflichten suche man, wo moglich, begrifflich auf eine einzige, hoher stehende Pflicht zu reducieren, \velehe dann zu wahlen ist; 2. bei gleicher Tragweite der Folgen ist die Wahl zwischen zwei oder mehreren collidierenden sittlichen Pflichten eine arbitrare, da die Sittlichkeit dadurch keinen Schaden erleidet;, 3. dringende oder „prasentative“ Pflichten (Spencer) sind entiernten oder „reprasentativen“ in der Regel vorzuziehen. Hugo Grotius bringt in seiner ebenso juristisch als ethisch schatzenswerten Abhandlung „De aequitate“ 2 ) fast dieselben Losungen vor. Er war auf dieselben durch die Priifung ver- schiedener rechtlicher Conflicte gekommen. Ich hebe aus denselben zur Erganzung der oben gefundenen die nach- stehenden hervor: 4. der Conflict z\vischen den sittlichen und positiv gesetzlichen Pflichten ist auf dem Wege einer Aus- gleichung oder der Billigkeit — aeauitas zu ‘) J. H. Fichte: Syst. d. Eth. I Bd. S. 302-i07. 2 ) Hug. Grotii: Opera Francf. a. M. De Aequitate c. XII. Losung gewisser Pflichtconflicte. 173 schlichten; wo dies nicht moglich ist, durch Erfiillung des positiven Gesetzes; 5. die allgemeinen und offentlichen Pflichten gehen den individuellen und privaten, dieweiteren den e n g e r e n voran; 6. die d r i n g e n d e (statim implendam legem) ist der einen Verzug gestattenden (quae moram patitur) vorzuziehen. Sachregiste. (Die Zahl bedeutet die Seite, ein beigefiigtes f. die Hauptstelle.) Aberglaube 136 Abhangigkeit «6 f. Abhartung 126 Ablehuung der Motive 140 f. Abstammung des Menschenge- schlechtes 51 Achtung 85 f. 122. 135 f. activ 7 Adamsia 13 asthetisch sittlich 161 f. Asthetisches 38 f. Affecte 85 Affen 13 Algen 12 Altraismus 63 f. Ameisen 13 angeborner Charakter 111 f. Animismus 1U Annahme 140 f. Anomalien (korperliehe) 162 f. anorganische Dinge 10 Anthropomorphismen 94 Antigone 171 f. Antinomie 74 Antipathie 130. 161 Apperception 145 f. Arbeitsamkeit 126 Askese 125 Asketik 35 Assimilation 108 f. Asyle 129 Auflehnung 132 Aufopferung 171 f. Ausbildung 126 Ausdauer 126 Ausgleichung 172 f. Ausharren 146 f. Ausschlaggrund. 147 f.: 149 f. Aussennatur 55. 56 f. 95 Auswahl 42 Autoritat 86 f. Befolgung der Natur 136 Begeisterung 85 f. Begierde 41 Beharriicbkeit 126 Beispiel 88 f. BeleidiguDg 170 f. Berufsptlichten 172 f. Bescbeidenheit 126 f. Besonnenheit 124 f. Besseiung 166 f. Bevvusstsein 138 f. 142. 139 f. Biber 14 Bienen 13 Billigkeit 131 f. 170 f. biologische Ethik 3 f. Bosheit 130 Boswilligkeit 130 Btirgertugenden 130 Cannibalismus 13 catilinarische Existenzen 10 causal 9 f. Causalitat 56 Causalitatsgesetz 152 f. 159 f. causativ 9 t. Charakter (Arten des Ch.) 100 — Wille u. Ch. 157 f. — sittlicher Ch. 99 f. 111 f. — veranderlich 109 f. 112 f. — angeboren, er- worben 111 f. chemische Proeesse 10 f. 176 Sachregister. christliche Moral 95 Civilisation 49 Collision der Pflichten 168 f. Concentration, ethische C. 103 f. Conflict, sittlicher C. 168 f. Consequenz 58 Constitution des Organismus 104 f. Cooperation des Menschen und der Natur 25. 67 Cultur 49 Cynismus 126 Dankbarkeit 132 f. Defecte, korperliehe, moralische 162 f. — 165 f. Degeneration, moralische D. 1(9 f. Demuth 126 f. 127 f. Denkfaulheit 1G7 f. Denkoperationen 89 f. Descendenztheorie 63 f. determiniert 21 f. 150 f. Determinismus 150 f. — Arten d. D. 152 f. — ethiseher D. 155 f. Doppelziingigkeit 134 Droserablatt 12 Dueli 134 f. Duldung 129 Durchschnitt, moralischer 105 f, Durchschnittsmensch 106 f. Echtheit des Charakfers 110 f. Egoaltruismus 50 f. 96 f. egoaltruistischer Trieb 45 f. Egoismus 53 f. 89 f. 127 Ehe 51. 128 f. 129 f. — wilde E. 129 f. Ehre 133 f. Ehrengerichte 134 Ehrenhaftigkeit 133 Ehrgefiihl 126 f. Ehrgeiz 126 f. Eigennutz 132 Eigensinn 125 Einsicht 2. 79 f. — E. u. Wille 156 f. Einsiedlerkrebs 13 Eintracht 132 Einvvirkung der Natur 91 f. Elephanten 14 Emancipation von der Natur. 152 f. 155 f. Entfremduug 128 Enthaltsamkeit 125 Entsagung 124 Entscheidung 145 f. Entschiedenheit 125 Entschliessung 145 f. Entschlossenheit 125 Entwicklung 60 f. 110 f. Endzvveck 22. 31. 60 f. Erfolg 88 f. Ergebung 136 Erhabenheit des Menschen 124 Erkenntnis 80 f. 113 f. Erniedrigung 127 Erwagung 145 f. Ethik, praktische E. 2. — Name E. 3. — relieiose 75. — biolo- gische 3. - metaphysische 4. — utilitaristische 4. — conventio- nelle 4. — KanFsche 5 ethisch 13 f. 16 f. Eudamonie 46 f. Eudamonismus 35 f. Factoren des Sittlichen 33 Fahrlassigkeit 70 Falschheit 134 Faulheit 126 Feigheit 125 Feindesliebe 130 Feindschaft 130 Felonie 132 Flechte 12 Fleiss 126 Folgen 23. 69 formal-ethisch 8 forma! e Ethik 8. 13. 72 f. 124 formalistische Ethik 72 f. Fortschritt 156 f. frei und unfrei 147 f. Freiheit jeder Art 124. 126. 155 — sittliche 147 f. Freimuth 134 Freundsohaft 51. 128 f. Friede 133 f. Friedenscongresse 133 f. Friedfertigkeit 132. 133 f. Functionen des Korpers, Geistes 139 f. Furcht 87 f. 136 Gattungstrieb 41 f. Gefuhllosigkeit 130 Gefilb Islogik 82 Gegenfunctionen 139 f. Gegenseitigkeit 132 Gehen, das G. 73 f. Gehorsam 132 f. 135 f. Geist 138 f. Geiz 125 Gemilth 7 f. Geniigsamkeit 115 Gerechtigkeit 58. 122.130 f. 131 f. Sachregister. 177 Gpschicklichkeit 18 Geschleclitstrieb 48 f. Gesellschaft u. Individuum 171 f. - ethische G. 114 Gesetze der Charakterbildung 104 f. des Wollens 145 f. gesetzmassig 8 f Gesinnung 8. 9. 78. 81 Gestirne 56 Gewissen 82 f. Gewissenhaftigkeit 126 Gleichberechtigung 129 f. Gleichgewicht 140 f 149 f. Gleichgiltigkeit 145 f Gleichheit 129 f. 13o f. Gleichmassigkeit 104. 134 f. Gliickseligkeit 26 f. — Gl. u. Sitt- lichkeit 30 f. — hochste Gl. 150 f. Gluokseligkeitstrieb 41 f. Grausamkeit 130 Grosse 59 grundsatzlich 7 f. gut 9 f. 16 f. Gut 21 Giite 129 f. Handeln 6 f. — Arten des H. 7 f. — 19 f. Handlung 6 Harmonie, sittliche 103 Hartherzigkeit 130 Hass 130 Hechte 13 Hedonismus 32 Heimtucke 134 Herablassung 129 Hereditat 164 f. Heuchelei 134. histologische Verhiiltnisse 92 f. Hochmuth 127 Humanitare Tugenden 128 f. Humanitares 14 Humanitat 14. 50. 129 f. Hunde 14 Ich 139 f. ideale Pfiichten 93 f — i. Tugen¬ den 135 f. Ideales 18 idealistische Ethik 71 f. Identitat 56 f. — 58 f. — I. und Individualitat 68 Imperativ 86 f. Impietat 130 Impulse 138 Indeterminismus 150 f. Indifferenz 140 f. 14 5 f. Individualitat 11. 47 I. 67 f. 126 individuelle Erhaltung 46 f. Inhumanitat 130 Innervation 140 f- insectenfressende Pllanzen 12 Instinct 41. 83 f. 84 f. Intellect 78 Inlellectualismus 79 f. Interessen 107 f. Intoleranz 130 Kafer 13 Kampf ums Dasein 47 f. Katzen 14 Kenntnis 113 f. Kleinmuth 125 Klima 108 Klugheit 16 89 f. 194 f. Klugheitslehre 18 Kosmos 58 Kraft, sittliche 120 Kraftumsetzung 58 Kranioskopie 51 Kriege 133 f. Krystallbildung 11 Leben der Natur 57 f. Lebensklugheit 18 Legalitat 80 Leichtsinn 126 Liebe 51 — L der Eltern 127 logische Operationen b9 f. Logik 54 Lohntheorie 87 f. Lustgefiihle 87 f. Luge 134 f. Liigenhaftigkeit 134 f. Macht 112 f. Massigkeit 125 Massigung 125 Maschine, der Mensch eine M. 158 f. Maske 110 f. Materialismus 46 f. Materie 138 materielle Pflichtobjecte 94 f. Mattoidi 164 f. Mause 13 Mechanik 64 f. mechanische Einvvirkung der Natur Hi f. Mensch 14 f. Menschenausbeutung 132 Menschenfreundlichkeit 129 Saeliregister. 1/8 Menschenhass 130 Menschenliebe 122. 127 Menschen natur 10 f. menschliche Sittliehkeit 35 metaphysische Dinge 94 — m. Be- trachtungen 147 f. — m. Deter- minismus 150 f. Methode der Ethik 1. 4 f. Milde 129 Milieu 20. 108 f. Misanthropie 130 Mysogynakie 130 Missmutli 126 Mitfreude 50. 129 f. Mitleid 50. 129 f. Mittel 115 f. 169 f. Moment 21. 145 f. 149 f. Monogamie 48 f. Monogenetismus 51 f. moralisch 9 f. 16 f. — m. Deter- minismus 151 f. Moralitat 80. 119 Motive 7. 20 f. 48 f. 92. 112. 141 f. 145. 149 f. Miissiggang 126 Muschehvachter 13 Muster 7. 71 f. Muth 125 f. Mystik 120 f. Nachahmung 88 f. 129 Nacheiferung 88 f. Nachlassigkeit 126 Nachsicht 170 f. naive Sittliehkeit 81 f. Naivetat 134 Natureindrileke 90 f. 91 f. Naturell 110 i. 147 naturgemass 34 Naturgesetze 56 f. — N. als Sitten- gesetze 69 f. naturwidrig 34 Nebenzvvecke 22 Negation des Lebens 36 negativer sittlicher Trieb 53 f. Neid 132 Neigungen 85 f. Nichtzurechenbarkeit 163 f. normal 105 f. Normen 18 f. — N. der Pflichten- conflictlosung 172—173 f. Nothivehr 133 f. Nothwendigkeit 148 f. Objecte 8 f. objectiv-sittlich 9 f. 15. — o. Ur- sachen 24 Oekonomie 66 f. Oekonomisches 38 f. 66 f. Optimismus 136 f. Ordnung 58 organisch 10 f. Panpsychismus 10 f. passiv 7 Perfection 48 f. 65 f. 122 125 f. Perfectionstrieb 45 f. 56 f. Perfidie 132 personliche Pflichten 93 f — p. Tugenden 126 f. Personlichkeit 47 f Pessimismus 126. 136 f. Pferde 13. 14 philosophische Tugenden 135 f. Pflanzen 11 Pflanzenwelt 10 Pflicht 77 f. — Eintheilung der Pf. 93 f. — Pf. gegen die Thiere 97. — gegen sich selbst 97 f. Pflichtgefiihl 78. 81 Pflichtmassigkeit 85 Pflichtobjecte 94 f. phyletischer Trieb 44 f physisehe Einwirkungen 91 f. 92 f. Pielat 127 Pilze 12 planmassig 7 Polyandrie 48 f. Polygenetismus 51 f. Polygynakie 48 f. Pradisposition 104 f. Praformation 80 prajudicierter Wille 157 f. praktisch 7 f. 15—17 f. — p. Phi- losophie 17 f. primitiv 91 f. Princip der Ethik 1 Privatrache 13 4 f. Protoplasma 10 psychischer Determinismus 152 f. 159 f. Pyrrhonismus 2 Qualitat 8 f. 161 f. Raehe 134 f. Ratten 13 Reaction 141 f. Reactionsfahigkeit 145 f. Recht der Thiere 96 f. Reflex 138 f. 139 f. Reflexfahigkeit 155 f. Reflexion 158 Sachregister. 179 Regelmassigkeit 59 f. Regeneration der Krystalle 11 regulativ 83 Reihe 59. 138 f. 141 f. 153 f. religios 38 Religionsmoral 91 Reproduction durch den Willen 139 f. Reputation 133 Restitution der Ehre 131 f. Rolle und Charakter 110 f. Ruckschritt 126 Schade 163 f. Schadenfreude 13) Schamhaftigkeit 135 f. Schamlosigkeit 135 f. Scheelsucht 132 Schicksal 109 Schiedsgeiichte 133 f. Schlaffheit 125 Schneider Marie 117 f. Schuldbevvusstsein 166 f. Schwache der Menschennatur 62 f. Schwankungen 106 f. 107 f. Schwelgerei 125 Sclavenhaltung 132 Sclaverei 126 Scrupulositat 126 Selbstabtodtung 121—125 f. Selbstaufopferung 132. 171 f. Selbstbeherrschung 122 f. 124 f. 151 f. Selbsterhaltung 41 f. 44 Selbsterziehung 126 Selbstmord 125 Selbstsucht 125 Selbstverstiimmlung 125 Selbstzweck 15 Hhylock 171 f Sittencodex 114 Sittengesetz, zweifaches 33 — 37 f. Sittlich 8 f. 9 f 13 15. 107 f. Sittliehkeit, praktische S. 101 Skepsis 2. 126 social 50 — s. Pflichten 93 f. — s. Tugenden 127 f. — s. Gleich- heit 130 f. . Sociologie 3 130 Sollen und Mussen 75 f. Sophisten 106 spontan 143. 158 f. Sprichworter 91 Standhaftigkeil 125 Steckmuschel 13 Stillstand 126 Storche 13. 14 | Storungen des Geistes 162 f. I Streben 44. 78. 126 Streit 133 Stumpfsinn 145 f. Succession 58 f. Susswasserpolypen 12 Symbiose 11 f Sympathie 45 f 50 f. 56 f. 161 System der Tugenden 104 1. — S. der Ethik 3 f. Teleologie 63 f. Tendenz des Triebs 40 f. That 23 f. 146 Thatkraft 126 f. Thatigkeitstrieb 45. 49 Thiere 10 f. 13 f. 95 f. Thorheit 77. 126 Todesstrafe 51 Toleranz 129 f. Tollkuhnheit 125 Topik der Tugenden u. Laster 122 f. Tragheit 126 Treue 127 f. 132 Trieb 40 f. 42 f. 138 Trotz 125. 132 Trug der Natur 62 f. Typus der Naturgesetze 72 f. Obel 21. 72—73 f. 137 UbelwoHen 130 Uberlegung 7. 145 f. Ubung 60 f. 126 Umstande 166 f. Unbedachtsamkeit 135 Unbehagen 19 IJnduldsamkeit 130 Unfreiheit 126. 147 f. Ungehorsam 132 Ungerechtigkeit 131 f. Unglucksfalie 109 f. Unlustgefuhle 87 f. Unmassigkeit 125 Unrecht • 31 f. 132 f. Unterordnung 132 f. Un treue 132 Uppigkeit 125 Unzurechnungsfahigkeit 162 f. TJrtheil 9 f. 107 f. Urtheilsgewohnheiten 154 f. Variabilitat 67 f. Variation 61. 67 f. Verantwortung 160 f. V eranderlichkeit des Charakters 109f. Verbrecher unter den Thieren 12 f. 180 Sachregister. Verbrechertypus 164 f. Vererbung 105 f. Vernunft 77. 79 Verpflichtung 77 f. Verstand 54 f. 162 Verzweiflung 125 Volksbedrilckung 131 Volksmoral 91 f. Vollkommenheit 66. 80 Vortrage, populare 114 Wahl 118 Wahlfreiheit 143 f. 148 f. 155 f. IVahrbaftigkeit 127. 134 f. \Vankelmnth l?5 Wechselseitigkeit 132 IVeiberhass 130 Weichlichkeit 126 Weisheit 89 f. Weltkenntnis 157 f. Wert des Menschen 14 f. 15 f. \Vertschatzung 79 f. 122 Wille 78. 79. 81. 83 f. 100 f. 107. 139 1. 140 f. — W. eineWirkung 151 f. 158 f. — in der Natur 13 f. Willensact 84 Willensfreiheit 147 f. 157 f. Willensgesetze 149 f. Wohll'ahrt 37 f. Wohlwollen 129 Wollen 23 f. 81. 139 f. 140 f. 145 f. \Vollust 125 Zaghaftigkeit 125 Zeit 59. 108 f. 110 f Zogerung '145 f. Zufall 67. 73. 104 f. Zulriedenheit 125. 137 Zurechnung 16U f. 162 f. Zusammenhang der Dinge 9 f. Zwang 163 f. Zwecke 21. 116 f. Zweckmassigkeit 63 f. 64 f. — Z u. Perfection 65. 125 Zweifel 126. 145 f. X