Alpenreisen von I. G. K o h l. Erster Theil. Dresden und Leipzig, Arnoldische Buchhandlung. 1849. In der Arnolbischen Buchhandlung — Alpenschuhe und Gemofüße. — Junge und atte Bergsteiger. — Gemsjagdabenteuer. ^ Besteigung der Jungfrau. — Verification der Bergbesteigungen. — Die „lauen^ Gemsen. — Sprünge der Gemsen. — Veurtheilungs-kraft derselben. — Schwierige Capitel der Naturgeschichte.— Jauchzende Kinder.—Die Ziege der Armen. v„l Inhalt. Seite 3. Ausflug nach Unterwalden......60 Die Alpenpässe. — Pässe und Spitzen. — Gipfel und Ginschnitte. — Der Brünig. — Die ebene und gebirgige Schweiz. — Huhcö Alter des Sonderbun-des. — Ob und nid dein Walde. — Verschiedenes Klima der Schweizcrthäler. — Eine Unterwaldnerin- — Unruhige Nacht. — Die letzte Oclung. — Die Kreuze im Felde — „Trinken" und „Saufen." — Brut und Käse. — Kirchen. — Das Capitol von Untcnvalden. — Die Schweizer-Festungen. — Scene auf dem Alpnacher Sec. — Die Ufer desselben. — ^lzul»« iiicu^nitae!. — Die Tiefe der Seen. — Strömungen derselben. — Schönheit der Natur in der Schweiz. — Die Artillerie in Stanz. — Auspeitschen in den Urcantonen. — Prügelstrafe in der Schweiz. — Die Landsgemeinde. — „Io, den weimer! den weimcr!"— Die freie Jagd. — „Unser cinem fehlt die Couragi!" — Viehtreibcnder Aristokrat. — Der Senator als Gastwirth. — Sold und Vermögen. — Untcrwaldcner Landbuch. — Unbestimmte, rohe Ab-fassungswcise desselben. — „Meine gnädigen Herren." — Die „Herrlichkeiten." — Seewusten.— Gefahrliche Entwässerung.— Uebergang über den Vrünig. — Laubsammler. — Die WeidhäuM. — „Weit'r uhi?" und „Wcit'r ohi?" — Ncistrystall-Echmuck. ^- Winter im Thal und Sommer auf dem Berge. — Die Fegct. H. Tour ins Dberhasli........n>6 Bekämpfung des Meeres. — Wildheit der Alpenströme. — Schwerer Kampf mit der Natur. — Wasserbauten in der Schweiz. — Die Communi-cationswcge derselben. — Die runden Fele-stücke. — Felsgrabcn. — Die herabrollcnden Felsblöckc. — Die Wildgewasser. — (5ine Schalle. — Der „Holz-schütz." — Schaden der Steintrünnner. — Verwitternde Felsen. — Steinabfällc. — Schutz der Wälder. — Vichversicherungen. — Adler, Geier, Raben. Sperlinge. — Seltenheit der Adler. — Nohnplahc derselben. — Die Gbliger Adlerjäger. — Die Veiz-plätze. — Die Lämmergeier. — Kinder von Geiern geraubt. — Bestrafte Verwegenheit. — Hoher Flug der Adler. — Der Vergrabe. Vrienz..............,32 Oaptktw benevolent!»«. — Hundertjährige Käse. — Todte Capitalien. — Käse als Nahrungsmittel. — Constitution der Käseesser. — Die Scharröthc. — Inhalt. ix Scite Die Holzschnitzer von Vrien;. — Blumen aus Hol; geschnitzt. — Die Vrienzer VlumenbouanetS. — Die hclzerne Architektur. — Holzschnitzende Gegenden. Vieiriugeu.............142 Nutzen des Reifens. — Mcnschcnstudicn. — Das Oberhaßlithal. — Zicgenmarft in Vrienz. — Gin Geichirt.— NcrncrBaucrntl acht.—Die Städtcrtracht. — Abstammung der Schweizer. — Die Schwedcnsage. — Ursprung derNhätier. — Gestörte Wirthshausruhe. Guttanneu.............lä^ Das „Kirchet." — Das Rendezvous der Maler. — „Im Winter werden die Schweizer wieder Schweizer." — Die Gcisbuben. — Krieg der Baumeister und Maler. — Die finstere Schlauche. — Das Sagen und Feilen des Wassers. — Die Lammi. -— Ober- und Unter-HaM. — Färbung des Wassers der Aar. — Die Flüsse im Winter. — Die Rihli-Lawinen. — Ein Säumerweg. ^- Verschiedene Form der Granit- und Kalkbcrge. — Der Weg über Granit.— Föhn und Vise. — Sturm auf eer Höhe. <— Leeres Wirthshaus auf der Handcck. — Echirmtannen. — „Aus den Wolken fallende Wasserfalle." — Der Aar - Wasscrfall. — Die beiden Aarlesscl. — Soiree in Guttannen. — Ein Cretin. — Talente desselben. — Seine Veschcidenhclt. — Der betende Cretin. 3. Besteigung des Brieuzcr Nothhornes . . ,«, Die Rothhörncr. — Gränze der Vegetation. — Die Legtannen. —- Vergzicgen. — Dienste des Vera/ steckcns. — Die Herberge auf dem Nothhorne. — Alistcigungslinie der Berge. — Acußcrste Spitze. — Aussicht. -^ Herbstliches Ncbelmeer. — Herbstwciter auf den Bergen. — Färbung des Nebelincers. — Farbenspiele. — Farbenpracht. — Erbleiche« der Schnccgipftl. — Der Maiscc. — Zarte Nebclstrei-fcn. — Rückkehr. — Die Laterne ohne Docht. — Der Marsch im Finstern. — Erhöhung der Temperatur durch Nebclschichtcn. — Gefahr und Rettung. Nachgenüsse. — Der Vcrgpfad am See. «. Ausflug nach Murren.......2^ Der Pfad nach Murren. — Kirchgang der Hochge-birgSleute. >— Der Staubbach. — Bannwalder. — Hochgebirge-Scenen. — Eisige Hochthäler. — Das wilde Roththal, — Die Gestalt der Jungfrau. — Der Jungfrauen - Gletscher. — Die Silberhörner. — X Inhalt. Seite Das einsame Murren. — Kartoffeln und Käse. — Gesundheitszustand. — Gimmelwald. -^ Die Kar-toffelgärtchcn. — Das Berncr Sibirien. — Gellert's Oden und Lieder. — Die Seesincn-Alp. — Ausbreitung der Bergbevölkcrung. — Gebirge als Be-völkernngs - Conductoren. — Zusammenhang der Al-penwcidcn. — Aclteste Gemeinden ans den Bergen. — Die Thaler als Souterrains. — Der Bergschutt in den Thälern. — Bergabwärts rollende Vevölker-ungsftuth. — Abnahme der Vergbcvölferung. ?. Zum Rosenlamgletscher.......230 Der Vrienzer Ece. — Thal des Ncichenbachs, — Unbewohnte Strecken der Alpen. — Gin Älpen-Wirthshans im Winter. — Vruchlciden der Bergbewohner. — Das Nosenlanithor. — Gang der Sonne in den Alpen. — Vergspitzen als Stundenweiser. — Doppelter Tag der Thäler. — Mondphasen in den Vergen. — Verschiedene Vorzüge der Gletscher. — Merkwürdige Kluft. — Die Gletscherzunge. — Mit. ternacht aus einem Gletscher. — Eisfarbe im Mon-dcnschein. — Das Blau des Gletschereises. — Der Neichenbach. — Berg- und Thaldörfer. — Ein Schattendorf. — Der See im Nebel. 8. Reise in das Urbachthal.......25l Frühlingsanfänge. — Der Frühling in, den Alpen. — Der Goldey. — „Die Burg." — Die Föhnenschilde. — Auswanberungsfieber. — Die Boten des Frühlings. — Cisgcbildc. — Der Spittelmcistcr von der Grim? sel. —' Die Grimselpassagc. — Schlechtes Wetter in den Alpen. — Gingang ins Urbachthal. — Dörfchen Nntcrstock. — Nutzen der Schneeschuhe.— Lawinen. — Eine Grnndlawine- — Zwei Auöbund-jager. — Die verstellte Gemse. — Die zerschmetterten Gemsjäger. — Die Miloheuer. — Das Gras der hohen Züge. — Die Partei der Freischärler. — Politische Verwilderung. — Parteisucht. — Hnnger-scenen. — Der armen Wittwe Tauf. — Hülflofig-keit. — Die Armen in der Schweif — Eine schweizerische Hauösrau. — Die anmuthigen kleinen Mädchen. — Aprilschnee. — Die Giszacken. — Winterlandschaft im April. — Des Spätwintcro Nachtheile. Inhalt. xi Seite n. Frühlingsreise in der Urschwci). 1. Luzern............ . 287 Das Klima der ebenen Schweiz. — Der Alvenfrühling. — Der erste Mai. — Die berner „Heimathen."— Der neue Baustyl.— Die Nrinaucn. — Die Dampfschiffgesellschaft. — Die Tellosage. — Schweizer Historiker. — Johannes von Müller. — Tschudi'ö Chronik. 2. Altorf.............W9 Landsgemeinde. — Die großen Rathe. — Die Volksversammlungen.— Die Volksführer von Uri.— Die Magnaten der Hirtencantone. >— Die Maifelder. — Der Tag der Landsgemcinde.'— Tcllomonumente.— Die Vorsitzenden Herren. — Procession zur Landsge-meindc. >— Die beiden,,Tellen." —Die Weibel.— Der Ring. — Die Urihörner. — Die Herren unter dem Schirme der Bauern.— Abdankung dcr Staats-beamten. — Die Wahlen. — Die herrschenden Familien. — Wahl der kleinen Beamten. — Das Handmehr.— Fünfhundertjährige Dauer einer Verfassung. — Die Getreuen. — Alte und neue Zeit. 3. Maderanenthal..........3l9 Schweizer Bettler. — „Ausbürger." — Futternoth im Frühlinge. ^ Gin urncr Landschaftsmaler. — Uebcrfulle von Naturschönhcit. H. Kloster Gngelberg.........623 Periodischer FremdenM. — Maler der Urcantone. — Professor Wyrsch. — Das Gngclbergcr Thal. — Ungewöhnliche Berg formen. — Kloster Gng clbcrg. — Liberalismus der .Mostergebiete. — Gngclberger Käsehandel.— HcimatlMicbe der llrschweizer. — Der liberale Abt. — Kloster-Rüstkammer. — Kloster-Disciplin. v. Am Vierwaldstätter-See. Bekkenried . . 333 Die-Nauchknechte.^- KlDstertyrannei.— Schwarze und Rothe. —Ufer deö Viettvaldstätter-Sees.—Die Republik Gersau. — Die Fische im Merwaldstatter-Sce. ?. Schwyz.............339 Das Thal uun Schwyz, — Schwyz und Schweiz.— Die Rcsidenzdörfcr. — Das Verbum dorfen. — „Herr" Nedlng. — Der Abyberg.— Die Familie Neding. — Schwyzcr Primaten. -^ Der Iesuitcnpalast in Schwyz. — Blumenschmuck der Icsmtenkirche. ». Auf dem Haken......... 34» Die Alpenweiden. — Schwyzer Communismus. — «i Anhalt. Horn- und Klauenmänner. — Concessionen der Horn? manner. — Theilung der Alpenwiesen. ^ Grundlage der Nlpenwirthschaft. — Frühlingsanfang auf den Höhen.— Frühe Blüthe aufdcn Alpen. ^ Die beiden Mythen.— Die Salznoth.— Wirkung des Hungers. » Im Alpthale...........359 Der katholische Priester. — Verbannungen, Pro-scriptionen, Einkerkerungen. — Die Schweizer in der Fremde. — Ewige 'Anbetung. — Die Wald-schwcstcrn von rcr Au. — Kloster Au. — Betrachtungen in stiller Kirche. — Die Glöcknerinnen. RO Kloster Einsiedeln.........^7 Lage und Bauart von Ginsiedeln—Der Einsiedler Meinrad.— ^,l)li»« Um»i V. einen sehr bedeutenden See dieser Art zur Seite, der früher häufig angeschwollen und durchgebrochen zu scin scheint und dann in den unteren Thälern große Ueberschwcmmnngcn und Zerstörungen veranlaßte. Durch einen Canal, den man zu seinem Niveau hinaufführte, hat man ihm einen regelmäßigen Abfluß verschafft und die Thaler vor seinen Ausbrüchen sicher gestellt. 22 Der Nellcnbalm. zwei Arme, verloren sich in einen tiefen Spalt, kamen mit Macht wieder zum Vorschein, schleuderten Steine, welche sie von der Eisstäche aufhoben, mit sich, warfen einen EiSthurm um, der zersplitternd in die Wogen hinabfiel, und stürzten sich endlich unten in einem breiten Wasserfalle über die äußersten, schroffen Eiswände des Gletschers ins Thal und Vett der Lüt-schine hinab. Das Ganze dauerte etwa eine» Tag, bis der kleine See völlig ausgeflossen war, und bis durch gewaltsame Beseitigung der Eisblöcke auch der gewöhnliche Nusgang wieder gereinigt und hergestellt war. Jetzt sahen wir nun leider von dem ganzen Vorfalle nichtS mehr, als den Schmuz und die Steinblöcke, die dadurch nach allen Seiten hin auseinandergeworfen waren, und in denen wir nun weiter zum Nellenbalm hinaufstiegen, waö eine sehr mühselige Arbeit war. Dieser Nellenbalm lst eine Höhle oder Nische im Felsen zur Seite des Gletschers, in welcher sich früher eine der heiligen Petronella gewidmete Kapelle befand. Es soll hier in alten Zeiten ein Saumweg vorbeigegangen sein. der über die Verge ins Wallis führte. Jetzt ist dieser Weg durch den vordringenden Gletscher und die vielen Steintrümmer und Erdhaufen, die er zur Seite anhaust, längst völlig zerstört. Wir ruheten einen Augenblick aus und blickten auf die dunklen unbestimmten Massen, die über uns hingen, und die eben so unbestimmten Zacken und Spalten, die unter uns gähnten, hin. Es war bereits Nacht geworden und Alles mäuschenstill. Eine solche Stille macht in einer Umgebung, wo Alles von sehr gewaltsamen und lärmigem Verfahren zu zeugen scheint, einen sehr eigenthümlichen Eindruck auf die Seele. Auf einmal hörten wir vor uns einen dumpfen Schall und Krach, der wie ein Schuß mitten in diese Ruhe einbrach. „Der Gletscher läßt einen Stein fallen/' bemerkte mein Führer. ES war vermuthlich einer jener Blöcke, Gefährliche Rückkehr. 23 die man oft lange auf den Spitzen der Eiöthürme balanciren sieht, bis der Moment kommt, wo gerade soviel Eis unter ihnen weggeschmolzcn ist, daß sie sich nicht mehr halten können und in die Tiefe hinabfallen. Dem Krach folgte noch ein Gepolter wie ein Echo nach. Vermuthlich hatte der Stein auch einige andere Steine, auf die er herabfiel, aus dem Gleichgewichte gebracht. Diese rollten so lange, bis sie wieder ihren Haltpunkt fanden und sich festlagerten und nun Alles wieder für eine Zeit lang ruhig da lag. Mir kam es vor, als hätte der Gletscher ein Wort geredet, oder wenigstens einen Buchstaben ausgesprochen von dem langen Alphabete, an welchem er Jahrhunderte lang Laut für Laut buchstabirt. Da wir weder Stein von Eis, noch Nebel von Erde, noch Block von Loch, noch Spalte von Halt unterscheiden konnten, so war unsere Rückkehr ziemlich gefährdet. Und ich hatte daher mehre Male Gelegenheit, zu erfahren, wie außerordentlich wohl eine, wenn gleich rauhe, doch feste und treue Faust eines kräftigen Bergführers thut, die mir zur rechten Zeit in und unter die Arme griff. Einige Male kamen wir auf so hohe Blöcke, daß ich nicht hinabzuspringen wagte, weil unter ihnen wieder Steintrümmer lagen, in deren Zwischenräumen ich den Fuß zu brechen fürchtete. Mein Führer faßte dann unten Posto, breitet« seine Arme aus, wölbte seine Brust kräftig hervor und sagte mir, ich sollte mich nur ohne Weiteres auf seine Schultern und Brust hinabwerfen, er wolle mich schon fangen und halten. Dieß war ein eigenthümliches Experiment, gelang aber jedeS Mal, und ich bekam vor der Tüchtigkeit meines Führers eine solche Hochachtung, daß ich ihn ordentlich liebgewann, wie denn Tüchtigkeit, besonders wenn sie uns selbst hilft und rettet, neben unserer Bewunderung gewöhnlich auch unsere Liebe gewinnt. Wer Alpenreisen aus eigener Erfahrung kennt und noch 24 Hoher Werth der Alpenführer. dazu viele beschriebene Alpenreisen gelesen hat, der weiß wohl, wie Vieles die Wissenschaften und gelehrten Forscher blos den Führern verdanken und wieselten die Letzteren diesen Leuten volle Gerechtigkeit widerfahren lassen. Der immer humane und aufrichtige Saufsure macht davon eine schöne Ausnahme. Diese Leute, ich meine die guten, soliden Führer, betrachten den Reisenden als ein anvertrautes, heiliges Gut, das sie, es koste, was eS wolle, an Ort und Stelle schaffen müssen. Sie sind sein Stab und sein Stecken. An gefährlichen Stellen binden sie ihn mit Stricken an ihren Leib und gewahren ihm einen Anker, der nie nachgiebt, gehen auch eher mit ihm zu Grunde, als daß sie das Ankcrtau kappten. Durch wilde Ströme tragen sie ihn auf dem Arme und sind zuverlässiger als Stege und Brücken. Sinkt er ermüdet nieder, so nehmen sie ihn auf den Rücken und schleppen ihn zuweilen Stunden lang unermüdct fest und sicher auf Wegen fort, auf denen wohl selbst der leichtfüßige Achilles noch versucht wäre, seine Rüstung wegzuwerfen, um gewandter und leichter aufzutreten. Sie sind aber dem Reisenden noch mehr, als Stab und Stecken, Anker und Brücke, sicheres Maulthier und treuer Hund, sie sind meistens auch Auge und Ohr, auch Lehrer und lebendiges Vuch der Gelehrten, aus dem diese unendlich viel köstliche Erfahrung schöpfen, ohne daß sie ihnen nachher den gebührenden Dank dafür zollen. Von allen den Naturbeobachtungen, welche über die höheren Alpenregionen gemacht sind, rührt sicherlich über die Hälfte aus dem Erfahrungsschatze der Hirten und Gemsjager her, aus welchem die Gelehrten genascht und sich mit Federn geschmückt haben, die sie für ihre eigenen ausgaben, weil sie sich meistens schämten, solche unansehnliche Gewährsmänner, wie Hirten und Gemsjagcr es sind, dafür anzuführen. Die Gletscher sind eigentlich nur die äußersten und untersten Vorposten und Ausläufer Reiseunfall. 25 der großen Eismassen, welche die hohen Plateaus der Verge bedecken. Man kann sagen, es sind die dicken Eiszapfen. welche von den gewaltigen mit Eis und Schnee bedeckten Dächern der Erhebungen herabhängen. Klimmt man an der Seite dieser Eiszacken hinauf, so kommt man dcnm auf jenes Dach selbst, wo sich die Spallung in einzelne Theile verliert und Alles eine einzige zusammenhangende Eismasse zu bilden scheint, die man daher in den meisten Alpengegenden auch wohl Eismeer zu nennen Pflegt. Die meisten Gletscher hänge» mit ihre» Wurzeln irgendwo in einem Eismeere fest. Zu dem Eismeere des Grindelwaldgletschers gelangt man an der Seite des Mettenberges und kleinen Schreckhorns auf einem Wege, der sowohl einige Schwierigkeiten, als auch, was meistens damit verbunden zu sein pflegt, vielfaches Interesse darbietet. Wir setzten uns am anderen Tage znPfeldc, um den ersten Theil dieses W^ges ohne Ermüdung und Anstrengung zurückzulegen uuo unsere Kräfte für oben zu sparen; ^- ein Plan, der sehr vernünftig schien, bald aber zu unserem Schaden ausgefallen ware. Kaum hatten wir uns ein wenig am Verge erhoben, und kaum gab es einige Felsgräbcn zu durchsetzen, so stürzte das Pferd meines Reisegefährten mitten zwischen die Vlöcke eines solchen Felsgrabens so ungeschickt zusammen, daß wir eine Viertelstunde mit Scheuchen und Schieben zu thun hatten, ehe das Thier wieder zum richtigen Gebrauche seiner vier Veine gelangte. Glücklicherweise war stin vorsichtiger Reiter kurz vor dem Sturze abgestiegen. Nachdem wir dieß überstanden, setzten wir uns wieder zu Pferde, weil unsere Führer meinten, wir könnten noch eine gute Strecke bequem reiten. Da kam aber die Reihe an mich und meine Rosinanle. Diese lief, wie dieß be" kanntlich alle Vcrgpferde zum Entsetzen der Rcisenven gewöhnlich thun, immer auf dem äußersten Rande des Weges, was eine Kohl, Alpcnvciscn. I. 2 26 Vergftferbe und Vergstecken. Zeit lang recht gut ging, so lange sie die Füße auf festen Grund und Voden setzte. Nun kam aber bald eine kleine Schneelage, die sich über den Rand des Weges ohne solide Unterlage hinaus-gebaut hatte. Mein Pferd setzte, trotz der Vorsichtigkeit, die man diesen Thieren zuzuschreiben pflegt, ohne Weiteres einen seiner Hinterfüße auf den schwebenden Schnee und stürzte natürlich auch ohne Weiteres zu Voden. Ich fiel glücklicherweist auf die demAbhange entgegengesetzte Seite und hatte michschnell aus den Steigbügeln gelöst. DaS Pferd hing mit dem Hinter-thcil an dem grasigen Abhang herunter, und der Führer machte sich sogleich mit der Peilsche dahinterher, um seinen Anstrengungen, den Weg mit allen vier Vcinen wieder zu gewinnen, zu Hilfe zu kommen. Da ich ihm hierbei noch im Wege lag, so arbeitete es mit Knieen und Vorderhufen auf meinen Leib los. Ich, bloß auf meine Rettung bedacht, wehrte mick mit Händen und Füßen gegen diese Bestrebungen. Der Führer, bloß durch den möglichen Verlust seines Pferdes erschreckt, peitschte darauf los, und dieß mochte für Andere eine sehr komische Scene geben. Wie wir Alle davon kamen, weiß ich nicht zu sagen, doch standen wir nach einigen Augenblicken Alle wieder auf dem Wege. Da wir indeß keine Lust hatten, die Güte unserer Schutzengel noch ein Mal in Anspruch zu nehmen, und deutlich genug erkannt hatten, daß die Centauren ein Volk der Ebene waren, so schafften wir Jeder 4 Veinc ab und setzten unsere Reise bloß dreibcinig fort, wobei ich den Vergstecken auch für ein Vein gelten lasse. In der That ist cm tüchtiger, gut geführter Bergstecken in den Alpen vielmehr werth, als ein solches Pferd. Ich habe wenigGutes von diesen vielgelobtenThieren erfahren und bin gewiß, daß sie mit sammt ihren Treibern keine so untrüglichen Orakel sind, wie sie Manche sich vorstellen. Wir wanderten immer den Gletscher entlang, der uns in Blick in das Grinbelwaldthal. 2? einiger Entfernung stets zur Seite und unter uns blieb, und erhoben uns so in anderthalb Stunden auf einem Wege, der an mancherlei interessanten Scenen und Ansichten sehr reich war, bis zu einer kleinen Hütte, die man da gebaut hat, wo der Gletscher von Felswänden am engsten zusammengepreßt wird. Je weiter wir hinauf kamen, desto länger streckte sich der Gletscher, und während man von unten, wo man die ganze Länge in der Verkürzung sieht, nur einen dicken Haufen von Eismassen vor sich zu haben glaubt, sahen wir nun hier in der Mitte deutlich genug, daß es ein langer Eisfluß war. Wir ließen uns in der kleinen, mit Eiszapfen umhangenm Hütte, die wie ein Schwalbennest an der Felswand klebt und senkrecht über dem Gletscher schwebt, eineWeile nieder und blickten rückwärts über den Gisflnß hin, in das Thal von Grindelwald hinab. Wir konnten mit dem Perspectiv den Stufen des Thales deutlich folgen. Erst unsere nächste, blos von Eis starrende Nachbarschaft, dann die Häuser deS Dorfes, von kahlen Bäumen umgeben, weiterhin und tiefer hinab die gelben Schimmer von einigen noch halb belaubten Herbstbäumen und ganz aus der Ferne und Tieft der grüne Teppich einiger vom Winter noch unangetasteter Wiesen. Es war ein herrlicher Herbsttag, die Luft vollkommen klar, die Sonne warm. Nur auf dem Viescherhorn nach Wallis zu lag etwas Gewölk, das unser Führer für den lauernden Föhn erklärte. Folgt man mit den Augen dem Laufe des Gletschers und vergleicht man seine Brüche und Spalten mit den Verengungen oder Erweiterungen, sowie mit der Abschüssigkeit seines Thales, so gewahrt man deutlich, wie sich in den Verengungen AlleS durch einander wirft, wie die Spalten tiefer und zahlreicher und die durch sie herausgemeisclten Eisthürme und Spitzen höher und wilder werden, wie dagegen in den Erweiterungen die For- 2* 28 Mythe v°m Martinöloch. men milder werden und sich mehr ausgleichen. Gerade an der Stelle, wo wir weilten, und wo von beiden Seiten hohe Fi sprengen. Zu dem Ende hatte er seinen Rücken gegen die Sette des Mettenberges gestemmt, srinen Vergftecken aber gegen den Eiger gesetzt und so mit Gewalt das Thor zerrissen. Dabei sei ihm der Stecken durch den Giger hindurch gec fahren, und sein Rücken habe sich in die besagte Nische abgedrückt. Aus den geöffneten Felspforten aber seien Eisblöcke und Gis< thürme hervorgepoltert, und der Gletscher habe nach einiger Zeit das ganze untere Thal erfüllt. — Ich freue mich immer, wenn ich sehe, wie auch unsere Leute ebenso gut, wie die, Sicherheitspolizei in der Kindheit. 29 welche sich die Cyclopen und Titanen ersannen, Mythen z» dicü-ten und sie der« Localität vollkommen anzupassen im Stande waren. Das wunderbare Loch oben imGgcr, das, wie gesagt, vom Grindelwald gerade so aussieht, als wäre der Verg mitten durchbohrt, heißt das Martinsloch*). Es soll, wie mir Gems-jäger, welche durchpasstrten, versichert haben, durch zwei Höhlen gebildet worden sein, die von beiden entgegengesetzten Seiten in den Berg eindringen und in der Mitte sich treffen. In der Nahe soll es eine gewallige Wölbung vorstellen. Vom Grindl'lwald aus sieht man nur einen kleinen, hcll schimmernden Pimkt. An einem bestimmten Tage und zu einer bestimmten Stunde im Herbste und Frühling tritt die Sonne vor dieses Loch und wirst ihre Strahlen hindurch. Dann sieht es aus, als ob ein großer Stern mitten aus dem Verge hervorleuchte. Auf sehr pikanten Wegen, wo man sich oft die Intrepiditat eines Berggeistes wünschen möchte, setzten wir unsere Wanderung zum Eismeere fort. DerPfad war manchmal so schmal, daß es kaum Platz genug für einen Fuß gab. Dabei hatte man zur Seite immer die Aussicht auf die schnellste Expedition und unten immer die hartköpfigen Eiszacken und Thürme, die, obwohl sie jetzt oben etwas mit Schnee gepolstert waren, doch nichts weniger als einladend aussahen. Die Sicherheitspolizei ist hier noch in der Kindheit, und selbst an den gefährlichsten Punkten bestehen alle LebenslewlNgsanstalten höchstens in einem jungen Tanncn-baume, über den man hinschwankt, oder sonst einem zur Seite angelehnten Vaumaste, den eher der Zufall, als die menschen-freui.dl^che Absicht, ein Wesen vor dem Tode zu bewahren, hier- ') Gs giebt auch noch in einem anderen Schweizer-Cantrn einen so durchlöcherten Berg. Auch dort heißt das Loch Martlnsloch. 30 Fester, sicherer Gang des Führers. her geführt zu haben scheint. Stürzte man, so würde man auf den meisten Stellen nicht nur getödtet, sondern auch sogleich von der Mutter Gäa verschlungen. Denn sehr gewöhnlich bleibt zwischen dem Gletscher und der Felswand, an welcher er anliegt, noch eine dunkle Kluft, die dadurch entsteht, daß das Eis in der Nähe der erwärmten Felsen abschmilzt und sich zurückzieht. Gs sind eben solche Klüfte, wie die waren, in denen ich mich am Abend vorher an der entgegengesetzten Seite des Gletschers durchgearbeitet hatte. Wir hatten auf diese Weise unterwegs vielfache Gelegenheit, über Schwindel und über die mit ihm verwandten Gefühle der Furcht und des Mangels an Fassung zu Philosophiren und an uns selbst zu erperimentiren. Unser Führer — es war derselbe, dessen feste Hand ich am Abend vorher gespürt hatte, — rief, uns immer zu, wir sollten nur ganz fest auftreten, dann hatten wtr nichts zu befürchten. Und er ging uns hierin mit gutem Beispiele voran. Ich sehe noch jetzt, wenn ich daran zurückdenke, seinen sicheren Gang, seinen festen Tritt, seine prallen Waden, seine soliden Schuhsohlen, die er denSteinen immeraufdenKopf setzte, als wollte er sie zermalmen, vor mir. Die furchtsamen Reisenden laufen an schlimmen Stellen meistens auf den Steinen hin, als gingen sie auf rohen Eiern, und glauben falschlich, auf diese Weise sicherer zu gehen. Der Schnee machte uns nicht wenig Mühe, denn er war leider nicht „gespannt," wie dieVergsteiger ihn gern haben, d. h. fest und gefroren, sondern lind, d. h. weich und nachgiebig, und natürlich auch unausgetreten, da seit Wochen kein Mensch hier gegangen war. Oben schließt sich der Gletscher wieder dichter an den Felsen an, und wir konnten hier nun nahe zu ihm herankommen. An einigen aufgebäumten Eisschollen, die wir berührten, war deutlich wahrzunehmen, daß das Eis hier schon ganz Geriebene Felsen. 31 anders construirt war als unten. Es war nicht so blau, vielmehr gefüllt mit unzähligen Blasen, und hier uud da erkannte man deutlich ekne Schichtung der Masse. Der Felsen, an welchen der Gletscher sich hier dicht anlehnte, war offenbar bearbeitet und polirt. Auch sah man zahllose kleine Furchen oder Streifen über denselben hinlaufen, welche von den Steinchen und Sandkörnern herrühren sollen, die der Gletscher an den Felsen andrückt ,md reibt. Doch gingen diese Streifen alle völlig perpendicular von oben nach unten, was wir uns vergebens bemühten mit der horizontal gehenden Bewegung des Gletschers in Harmonie zu bringen. Einem französischen Professor mußte dieß indeß doch wohl gelungen sein; denn wir sahen eine Stelle, wo, der Aussage unseres Führers zufolge, ein solcher einige „pierre« «li-iees" für ein Pariser Museum losgeschlagen hatte. Während wir diese Dinge untersuchten, hatte unser Führer indessen aus dem Schnee, der den Rand des Gletschers bedeckte, ein kleines Bret und einen Baumstamm, der eine Art Leiter bildete, hervorgearbeitet. Das Vret führte mis über einen Gletscherspalt, und die Leiter brachte uns nun vollends auf das Eismeer hinauf. Da Alles mit Schnee bedeckt war, so ging unser Führer immer sondirend und nach Spalten forschend voran, und wir faßten bann auf einem Eisblock Posto, um den Einblick in diese innere Eiswelt der Alpen in Nuhe zu genießen. Der Ausdruck Eismeer ist eiwas hyperbolisch, denn wir übersehen hier eigenllich nicht viel mehr als einen Eis sec. Uebrigens sahen wir wahrscheinlich auch mehr, als wir zu sehen glaubten; denn wenn schon in den unteren Verggegenden die Entfernungen tauschen, so thun sie es in den Schnee- und Eisregionen noch weit mehr. Und übrigens war es unS ziemlich einerlei, zu wisftn, ob wir viel oder wenig sahe». Denn was wir sahen, genügte uns ganz vollkommen, und ich wollte, ich konnte 32 Das Glsmeer. den« Leser dieß Prökchen einsamen Eismeeres so schön, wie ich es damals sah, und so lebendig, wie es mir noch jetzt vor der Erinnerung schwebt, im Bilde hierher aufs Papier setzen. Wie wurde er staunen, wenn ich es vermöchte, die Wand seines Zimmers zu durchbrechen und auf ein Mal wie in einem Gropiuö'schen Diorama jenes Eisbild ihm, der gemächlich auf seinem Divan ruht, vorzuführen. Helft mir mit Eurer Phantasie bei der Arbeit, und vielleicht wird eS uns gelingen, den Zauber zu vollbringen. Also hinweg, du holzige enge Stubenwand, erlaube unseren Blicken, ins Weite zu schweifen. Verwandle dich in Schnee, du staubiger Zimmerteppich, und dehne dich hinaus in die Ferne, bis du ein vaar Stunden im Umkreiö gewinnest. Nund herum um die eisige Fläche stellen wir hohe Verge und Felswände, die das Ganze wie ein Amphitheater umgeben. Die Sonne scheint hell hinein und erfüllt die kalte Wüste mit Licht und Warme. Diese freundlichen Genien lassen sich auf zitternden Luftwellcn und auf lieblichen Strahlen herab und umspielen die harten bc-puderten Eisthürme und dringen in die Spalten, welche das Licht freundlich annehmen und es in blauen Tönen wieder ausstrahlen. Bloß im Hintergrunde des Amphitheaters liegt eine dunkle Partie, die aber die Großarligü-it des Bildes noch erhöht. Es sind die hohen Viescherhörner, die mit der anderen Seite nach Wallis blicken und einen Prachtvollen, dichten und geheimnißvollen Wolkenmantel umgeworfen haben. Es ist der Föhn, der wie ein Gewitter auf ihrem Gipfel lauert. Er liegt mitten in der klaren Umgebung, mitten in dem blauen H'mmel, wie ein finsterer Geist da, der zwar unheilschwanger scheint, vorläufig aber doch sich noch ruhig verhalt. Wundervoll ist das Spiel der kleinen Schneestaubsaulchen nnd Fähnchen, die sich hier und da an den höchsten Gräten ab Helen und, von irgend einem neckischen Lüftchen, vielleicht ist es in der That ein scharfer Sturm, ge« Die „heiße Platte." M trieben, in die blauen Räume hinaus wirbeln. Solche Schnce-staubflaggen sind ein gewöhnlicher Schmuck der hohen Felswände. Zur Linken blicken wir von der Gistribune, auf der wir stehen, in einen leeren Kessel hinab. Es ist das Vecken des vor einigen Tagen ausgelaufenen Sces. Jenseits dieses Veckens am Felsen liegt eine kleine Hütte, das einzige zwergartige Machwelk von Menschenhand mitten in diesem großartigen Gebilde dcr Natur. Die Hütte heißt Stiereck. Sie dient den Hirten zum Schutz im Unwetter und zum Magazine für einige Gerälh-schaflen und Heu. Zur Rechten aber steigt aus noch höheren Regionen eine Gletschermafse, einem gefrorenen Wasserfalle ahnlich, herab und ebnet ihre Gismassen in der Flache des Eismeeres aus. Mitten in dieser Eismasse, ganz von blauem Gise umgeben, steckt ein kolossaler schwarzer Felsen, der eine senkrechte Wand darbietet und daher nie beschneit wird. Auch aus der Feme gesehen, bietet dieser Felsen Winter und Sommer einen schwarzen Flecken im Eise dar. Die Thalleute, obwohl es ihnen nicht entgangen ist, was die eigentliche Ursache seiner bestandigen Schncelosigkeit ist, nennen ihn daher die „heiße Platte," als wenn der Felsen seiner Hitze wegen wed. I 50 Gemsjagd l Abenteuer. einmal mitMordplänen und sann nun, obgleich er seiner eigenen Rettung noch völlig ungewiß war, darauf, wie er den Adler er« legen möchte. Vorsichtig und mit vieler Muhe brachte er all-mälig seinen ganzen Körper auf dem Rücken zu liegen, und nach zehn Minuten Arbeit bekam er auch seinen Stutzen schußgerecht in die Hände. Mit dem Hinterkopfe klemmte er sich an einen kleinen Felsknollen. Mit dem linken Ellbogen drückte er den Felsen ebenfalls, wo er konnte, und das linke Vein schlang er gleichfalls um den Felsen und klammerte sich irgendwo mit dem Hacken an. Die Theile der rechten Seite hingen mehr oder weniger über den Abgrund hinaus. In dieser Attitüde, in der alle Muskeln des Körpers in spielender Spannung und Klammerung begriffen sein müssen, beobachtete er seinen Vogel eine Viertelstunde lang. Ich wollte, ich könnte sagen, er hätte ihn geschossen. Allein das Thier kam leider nicht mehr näher, ließ den Jäger los und nahm, vielleicht durch ein entferntes Geräusch er« schreckt, eine andere Richtung. Lange sah ihm unser Freund in der Hoffnung, er möchte noch wiederkehren, nach, mußte sich aber endlich entschließen, wieder auf seine eia/ne Rettung be« dacht zu fein. Nach dreistündiger verzweifelter Arbeit hatte er sich endlich mit zerfetzten Kleidern und Handen ans Ende des FelsbandeZ durchgewunden, wo er einige Sträucher erreichte, mit deren Hilfe er sich auf ein bequemes Terrain hinaufarbeiten und zuletzt dem Tode völlig entkommen konnte. Solche schauderhafte Kriechereien, die nur für Schlangen praktikabel zu sein scheinen, kommen auf den Gemsjagerstegen nicht selten vor. Im hinteren Theile des Thales von Lauter« brunnen giebt es einen hohen runden Felsen, dessen Spitze von tollkühnen Wildläusern schon mehre Male erkrochen worden ist. Denkt man sich etwa 3 oder 4 Pyramiden dcö Cheops übereinander gehäuft und auf die Spitze dann den Wiener Stephansthurm Besteigung der Jungfrau. 51 gestellt, so bekommt man etwa einen Begriff von der Stellung jenes runden Felsens, den ich meine. Er ist vollkommen kahl, nnd es ist platterdings nichts darauf zu gewinnen. Etwa 150 Fuß unter seiner Spitze ist an Aufrechtgeheu nicht mehr zu denken, allein es schlangelt sich ein schmales Fclsenband wie ein gewundener Cpiralgang zum Gipfel hinaus, und auf ihm ist schon mehr als ein Wildlaufer, blos um sich der Sache rühmen zu können, hinaufgekrocyen. Es ist Sitte unter diesen Leuten, daß sie auf solchen Spitzen, die noch Niemand vor ihnen erklomm, irgend ein kleines Monument errichten. Gewohnlich schleppen sie Steine zusammen und machen daraus eine Pyramide, in der sie dann auch wohl noch einen Stock mit einem Lappm daran als Fahne befestigen. Die Fahne geht bald zu Grunde, aber solche Steinpyramtden kann man aus vielen Spitzen ent» decken. Da sich meine Phantasie viel mit der Beschaffenheit der allerhöchsten Berggipfel beschäftigte, wie denn die Menschen immer besonders neugierig sind, zu erfahren, wie das Höchste „nd Unerreichbarste aussieht, wie z. V. die Könige an ihren Höfen leben u. s. w., so war cs mir besonders interessant, den Bericht Vaumann's über die oberste Krone des Gipfels der Jungfrau anzuhören. Er hatte sich mit 4 oder 5 kühnen Gesellen nach Vielen Mühen bis in die nächste Nahe dieseö Gipfels emporgearbeitet, alö sie entdeckten/ daß noch ein kurzes, aber schweres Slück Arbeit zu thun übrig sei. M hob sich vor ihnen noch eine feste Masse empor, die wie ein Hahnenkamm gestaltet war. Auf derOberstachc war dieseMasse blankes Eis, entwederbestand sie Lurch und durch aus solchem, oder cS war ein Felsenkamm, der mehre Ellen dick mit Eis belegt war. Aus der scharfen Kante dieses Kammes, der zu beide» Seiten grausig schroff abfiel, zu gehcn, war unmöglich; Baumann, welcher der Entschlossenste 3* 52 Verification der Bergbesteigungen- der Gesellschaft war, setzte sich rettend auf den Rücken des Eises. Mit einem Veile hieb er rechts und links Löcher für seine Füße in die Seiten des Eises und^ritt so bis auf den Gipfel hinauf. Dieser war ein vollkommen zugespitzter Eiszackcn, den er erft mit dem Beile bearbeiten und ausebnen mußte, um für seine Person darauf Platz zu gewinnen, Auf der einen Seite über den Eismeere» des Cantons WaNis, auf der anderen über dem Verner Oberlande schwebend, führte er dieß ans. Die kühnen Bergsteiger hatten eine eiserne Stange mit einer Fahne von Blech daran mitgenommen. Für diese hieb er ein Loch ins Eis drei Fuß tief ein, steckte sie hinein und teilte das Loch wieder mit Eisblöcken zu. Zwei seiner Gefährten waren ihm bald nachgekrochen; aber erst, als auf die besagte Weise oben ein fester Anhaltepunkt gewonnen war, wagten es auch die Anderen nachzukommen und sich alle auf der Spitze zu versammeln. Es ist schade, daß diese erste Besteigung der Jungfrau einen sehr ungeschickten Historiker in einem gewissen Dr. Nührdorfcr gefunden hat, welcher sich herausgenommen hatte, diese Erpedition leiten zn wollen, der aber mehre vergebliche Versuche machte uud am Ende Vaumann und seine Gefährten, die er in seinem Buche. ,.seine Leute" nennt, das Unternehmen allein ausführen ließ-Sein Bericht darüber, den er aus den Erzählungen Vaumann's zusammensetzte, ist leider unter aller Kritik und ohne irgend ein interessantes Resultat. Die Besteigung der Jungfrau durch Vaumann ist die erste und am allseitigsten beglaubigte. Die eiserne Fahne, welche er auf dem Gipfel befestigte, ist nicht nur von den Bewohnern aller umliegenden Thäler lange Zeit gesehen, sondern auch von Professoren von Bern aus mit dem Pcrspcctiv deutlich erkannt worden. Und diese Professoren haben darüber öffentliche Zeugnisse abgegeben und drucken lassen. Solche Unter- Verification der Bergbesteigungen. 53 nehmungen müssen aber immer möglichst allseitig beglaubigt werden, damit gar keine Zweifel über das Factum bleiben. Denn die Ungläubigkeit und der Neid der Menschen, sowie na-menilich die Eifersucht der Bergsteiger untereinander, ist gewöhnlich so groß, daß sie wo möglich jede Bergbesteigung gerne in Zweifel ziehen. Im Thale von Hasli und auf der Grimscl ist es zwar bekannt, daß unter Anderen auch Professor Agasstz mit Grimsel- und Haslifuhrern auf der Spitze der Jungfrau gewesen ist. Aber die Grindelwalder wollen, eigensinnig und «eidisch, wie sie sind, nicht daran glauben. Einige von ihnen geben zu verstehen, die Führer hätten Geld und Wein bekommen und nachher ausgesagt, was uian von ihnen verlangt. Andere meinen, man könne sich in den oberen Verg-gegenden gar leicht täuschen und die eine Spitze für die andere nehmen. Aus irgend einem Gipfel möchte die Gesellschaft Agassi; wohl gewesen sein, aber nicht auf demIungfrauengipfel. Alle aber, we,m man ihnen die Glaubwürdigkeit sowohl, als die nöthige Wissenschaft dieser Gesellschaft entgegensetzt, kommen immer mit der Frage wieder: warum haben sie denn nicht wie der Vaumann eine Fahne auf dem Iungfrauenhorne errichtet? warum hat man aus keinem Thale nach ihrer Expedition eine solche Fahne bemerkt? Es giebt meiner Erfahrung nach nur wenige Bergbesteigungen, die nicht von irgend Jemand bezweifelt worden, und ich habe mit Wenigen darüber gesprochen, daß Dieser auf dem Finstcraarhorn oder Jener auf dem Monte Rosa gewesen sei, ohne Kopfschütteln und Zweifel wahrgenommen zu haben. Auch Professor Parrot's Besteigung des Ararat, bei der er sich doch so viele Mühe gegeben hat, ist in Zweifel gezogen worden. Die Bemerkung übrigens, daß man sich in den höheren Regionen über die Identität einer und derselben Vergspitze sehr 54 Die „lauen" Gemsen. auffallend und fast unbegreiflich täuschen könne, ist sehr wahr, von allen Bergsteigern bestätigt und dabei auch interessant. Nenn man die Verge von unten ansteht, so sollte man dieß kaum für möglich halten. Allein oben andern die Gipfel gewallig ihre Gestalt und stellen sich in jeder Entfernung und Nähe anders dar. Dazu wickeln sich dann viel mehr Gipfel und Spitzen hervor, als man von unten erkennen kann, und tritt nun noch etwas trübes Wetter ein oder kommen gar Wolken und Nebel hinzu, so nehmen die erfahrensten Leute zuweilen das Schreckhorn für das Wetterhorn oder das Vreithorn für die Jungfrau. Die Valancir- und Vergstcigkunststücke, welche Vaumanu bei seinem Ritt auf die Jungfrau und mein Gemsjäger auf seinem faulen Steinbande ausführten, sind indeß doch nur verhältnißmäßig bewundernswürdig, nämlich im Verhältniß zu der großen Unbehilflichkeit und Furchtsamkeit, die dem Menschen von Natur eigen ist. Die Gemsen und andere Vergthiere, die nicht die geringste Neigung zu Schwindel kennen und die der Schöpfer selbst erpreß für die Verge geschaffen und orgcmisirt hat, führen Saltomortales und equilibristische Kunststücke aus, welche uns zu absoluter Bewunderung hinreißen. Der erste Gindruck, den dir der Anblick einer Gcmse macht, sei es, daß du sie in der Wildniß zu belauschen oder in einem Käsig zu sehen Gelegenheit findest, ist freilich nichts weniger, als viel versprechend. Gewöhnlich stehen die Gemsen ganz krummbeinig da und schleifen, wenn sie gehen, ihre schlaffen Füße nachlassig und fast matt hinter sich her. „Sie fthen meistens nur ganz lau lau aus," sagte mir emGcmsjager sehr treffend. Sie haben, möchte ich sagen, etwas Katzenhaftes, wenn man ste so vor sich hocken sieht. Gleich Katzen ziehen sie die Vcine unter dem Vauche zu< sammen und scheinen auf der Lauer zu sein, wohin der nächste Sprung genommen werden müsse. Für gewöhnlich muß man Sprünge der Gemsen. 55 sie natürlich ansehen wie Vogen mit schlaffer Sehne; aber erst, wenn man die Bogensehne spannt, da erkennt man ihre Güte. 'Die Gemsen hiben von Natur etwas Geniales in ihrem Wesen, und zwischen einer Gemse in ihrem gewöhnlichen Zustande und einer Gemse im Laufen und Springen ist ein Unterschied wie zwischen Paganini mit der Schlasmütze aus dem Kopfe und Paganini mit der Geige in der Hand und dem Vogen in Bewegung. Vei anderen Thieren ist kein so großer Contrast. Ein Schaf z. V. bleibt sich in allen Situationen immer gleich, wie ei» simpler genie- und leidenschaftsloser Mensch. Den Gemsliebhabern glänzen immer die Augen, wenn sie den Moment beschreiben, wo die Gemsen einen Feind erkannt haben und, nun Plötzlich alle Sehnen spannend und alle Segel gleichsam aufziehend, mit Blitzesschnelle über Stock und Block, über Schrund und Kluft davon fliegen. Mit einem Satze wissen sie sich oft von demselben Flecke, wo sie so lau und schlaff da» standen, zehn Schuh hoch zu erheben, als wären Plötzlich die stärksten Stahlfedern in ihnen in Wirksamkeit gesetzt. Sie können ohne Zulauf, blos durch den Schwung der Ressorts ihrer Kniee und Fußsehnen, senkrechte Sprünge machen, die in Erstau-uen setzen. Nicht weniger bewundernswürdig ist die Geschicklich-keit, mit der sie sich auf äußerst schmalem Raume balanciren. Die Gemsjager sagen oft, indem sie ihre Faust prasentiren: „Sehen Sie, wenn der Kopf eines Felsens nur so groß ist, so wagt es die Gemse, im Flugedarauf hinabzusprmgen, und vermag eS, sich darauf zu halten." Wo so viel Naum ist, daß sie ihre vier Klauen in einem Haufen darauf neben einander stellen kaun, da bleibt sie stehen. Ihr Auge und ihre Veurtheiluugskraft sind eben so scharf und prompt wie ihre Füße, und wenn sie auf der Flucht an einen Abgrund kommt, so wirft sie in einem Moment die Blicke umher und weiß sofort zu beurtheilen, ob 5)6 Veurtheilungslraft der Gemsen. der Weg hinab praktikabel ist, und wählt dann sogleich die beßten Anhaltepunkte, mit derenHülfe sie sicher in die Höhe oder Tiefe gelangen kann. Selten oder nie springt in der Angst der Flncht eine Gemse in einen unpraktikabeln Abgrund aufs Gerathewohl hinab. „Sie springt nie ussi (aus)," wie die Leute sich ausdrücken. Auch verlauft sich eine Gemse selten oder nie so, daß sie nicht weiter könnte. „Sie verstellt sich nie/' wie die Leute sagen. Gelangen die Gemsen auf der Flucht cm einen Abgrund, der unpraktikabel ist, so stehen sie einen Augenblick still, und indem ihre Furcht vor dem Abgrunde die Furcht vor den Jägern überwindet, bekommen sie dann uor diesen Muth und kehren in vollem Laufe auf dem Wege, den sie kamen, zurück. Dann werden sie für die Jäger nnter Umständen gefährlich, besonders wenn der Weg, auf dem sie hinausgejagt wurden, wie dieß häufig der Fall ist, ein solches schmales Felsenband ist, auf dem nur für wenige Personen Platz ist. Da die Jäger sich gegen den vollen Aula >f der Gemsen nicht halten können, so ist dann daS einzigeRettungsmiltel, sich so platt als möglich an den Felsen zu drücken, um die Gemsen frei vorbei Passiren zu lassen. Wenn die Gemsen an Felsenabhangcn hinabspringen, so sind sie selbst mit solchen kleinen Vorsprüngen zufrieden, welche ihnen erlauben, für einen Moment im Vorübersausen den Fuß darauf zu fetzen und dadurch die Heftigkeit ihres Falles ein wenig zu hemmen oder demselben durch einen raschen Druck eine etwas veränderte Richtung zu geben. An nicht völlig schroff geneigten Felswanden, die nicht gar zu hoch sind, lassen sie sich, auch wenn dieselben gar keinen Absatz und Haltpunkt darbieten, dennoch hinab, indem sie auf den Füßen mehr hinabschurren als laufen. Ein Gemsjager theilte mir folgenden merkwürdigen Zug von der Geistesgegenwart einer Gemse mit. Er bemerkte, wie dieselbe sich an einer unter einem Winkel von 50Graden geneigten Fels- Schwierige Capitel der Naturgeschichte. 5? wand hinabließ. Als sie schon im Fallen war, erblickte sie einen kleinen bequemen Felsvorsprung, der etwas außer der Richtung ihrer Fall- oder Rutschlinie lag. Der Jäger sah nun, wie die Gemse mit den Füßen arbeitete und ruderte und fallend eine krumme Linie machte und sich so zum Vorfprung hinarbeitete, von wo sie init drei weiten Sätzen wie ein Gumnnball im Nu entkam. Es giebt Capitel in der Naturgeschichte, deren Behandlung so schwierig ist, daß sie alles Geschicks in Beobachtung und Darstellung zu spotten scheinen. Dahin gehört das Capitel von der Kletterkunst der Gemsen, von dem Fluge der Vögel, von dem Schwimmen der Fische und überhaupt von allen dcn gewandten und mannigfaltigen Bewegungen der Thiere. Weder beiVuffon, noch bei sonst einem mir bekannten Naturforscher sind diese Dinge so abgehandelt, daß es einem Jäger oder sonst Jemand, der die Natur naher vor Augen gehabt hat, genügen könnte. Und doch sind dieß auch Capitel, die nicht minder voll Wunder und Lob des Schöpfers sind, als jedes andere. Von allen Nngesicderten kommt nach der Gemse gleich der Mensch; denn die Vergschafe und selbst die kecken Vergziegen, obwohl sie, wie die Gemsen, in den Bergen geboren werden und daselbst zuweilen in halbwildem Zustande zubringen, stehen tief unter jenen beiden Vcrgtlettcrern. Die Ziegen, welche von dem Geruch eines Krautes oft eben so verlockt werden, wie die Gems-läger von der Fahrte einer Gemse, vcrklettern oder „verstellen" sich oft, und der Mensch ist dann der, von dem sie ihre Rettung erwarten. Es ist interessant, zu wissen, daß die Ziegen in solchen Post« Uonen doch nicht so dumm sind, daß sie gefährliche Nstlungö-vcrsuche machen oder in ihrer Angst gar ins Vlaue hinaus-springen. Sie bleiben vielmehr, wenn sie von den Hirten nicht 3** 58 Jauchzende Kinier. entdeckt werden, oft Tage lang an demselben Flecke, bis sie vor Hunger und Enlkräftung umfallen und in die Tiefe stürzen. Zuweilen, wenn die Thiere an ganz unzugängliche Orte gekommen sind, lassen sich die Hirten an Stricken herunter und holen sie so in ihren Armen herauf. Ans dem Heimwege von Grindelwald frappirten mich als charakteristisch fürLand und Leute besonders zwei Scenen. Erstlich ein Paar ganz kleine Kinder, die kaum vier oder fünf Jahre alt sein konnten, eine Schwester und einVruder, die, als wir bei ihrem Hause vorübcrfuhren, laut zu jauchzen und zu jodeln anfingen. Sie standen auf dem Vorplatz? ihres Wohnhauses etwas hoch über dem Wege und sahen bei ihrem lauten Jauchzen sehr ernsthaft drein. Es machte auf mich einen sehr komischen Effect, zwei solche kleine Rangen, die kaum auf ihren Beinen stehen konnten, bereits mit solchem Gifer eine Sitte ihres Landes üben zu sehen. Die Leute können hier nichts von ihren Bergen herab im Thale passircn sehen, ohne es so anzujauchzen und anzuschreien. Zweitens eine ganz eigenthümliche Gruppe und zwar eine arme Frau mit einem Säuglinge am Vusen, einen Korb auf dem Rücken, und ein trippelndes Knablein, welches am Stricke eine Ziege hinter sich herzog. Ziegen sind hier fast das wichtigste oder wenigstens das geliebtcste und am sorgsamsten gepflegte Vcsitzthum der Armen, denen sie die erwünschteste Speise, Milch und Käse, geben. Zuweilen haben sie ein halbes Dutzend Ziegen, die ganz Armen aber doch wenigstens immer eine. Wenn diese Leute nun in einem benachbarten Flecken oder Stadtchen etwas zu thun haben, so nehmen sie nicht selten auch ihre Ziege mit, damit sie ihnen in dem fremden Orte etwas Milch gebe. Sie brauchen sich dann zu ihrer Aetzung nichts zu kaufen, als für eine» Batzen Brod, das sie in die Ziegenmilch tunken. Man sieht auch arme wandernde Vettlcrfamilien, die eine solche Ziege Die Ziege der Armen. HH als wandernden Milchbrunnen mit sich führen. — Ich begreife nicht, wie die Maler um neue interessante Sujets nur verlegen sein können. Jene Gruppe der Mutter mit dem Säugling und ziegenführenden Knäblein wäre, besonders wenn man sie sich irgendwo am Wege ausruhen und ihr frugales Mal verzehren ließe, ein ganz vortreffliches Sujet für einen Genremalcr, pittorsk und zugleich gemüthlich ansprechend und dabei auch, weil es hier öfters vorkommt, ganz local und charakteristisch. Von den Ziegen und dem Umgehen der hiesigen Armen mit ihnen könnte ich überhaupt noch viele interessante Dinge erzählen. Sie spielen hier ganz die Rolle, wie die Schweine bei den armcn Irlandern. Neulich kam ich zu einer armen Frau, die sich vor der niedrigen Thüre ihres Ziegcnstalles die Kniee wundrutschte, um alle Fugen und Spalten der Thüre genau nachzusehen und auszustopfen. Sie hatte eben einen Topf voll Milch aus dem Stalle geholt und nun eine Menge Lappen und Zeugstecken bei sich liegen, die stein alle Fugen hinemprakticirte. Ich mußte 10 Minuten warten, bis ich mein Anliegen vorbringen konnte, denn es war sehr kalt, und wenn da der Ziege etwas zugestoßen ware, so wäre ein großes Glcnd daraus emstanden, uno damit sie reichlichMilch gäbe, mußte sie so warm als möglich stehen. Die meisten Armen nehmen daher auch die Ziege im Winter mit in die Stube, wo sie ihr, um sie bei guter Milch zu erhalten, nicht weit vom Osm einen kleinen Stall zurecht machen, wie denn dasselbe den Schweinen in Irland des Specks wegen zugestanden wird, wie den Schafen in Livland der Wolle zum Stricken wegen, wie den Hühnern in manchen Gegenden Deutschlands der Eier wegen. so 3. Ausflug nach Unterwalden. Es ist eine wunderliche Eristenz hier in denVergen. Man ist sich so nahe, und doch wird es so weit. Zwischen den nächsten Nachbarn laufen die hohen Bergmauern hin und trennen sie so scharf, als lägen Meere dazwischen. Die Vögel schwingen sich von eincm Volksstamm zum anderen in wenigen Minuten und sehen innerhalb einer Stunde die verschiedensten Leute, die ganze Monate lang, durch Schnee und Eis getrennt, nichts von einander vernehmen. Die Walliser wohnen in gerader Linie nur wenige Meilen von uns, aber wir sind durch eine so unübersteig-liche Eismauer von ihnen gesondert, daß, wenn man sie erwähnt, wir aufhorchen, als hatte man ein fernes Land genannt. Da die Gemmi und auch die Grimstl vollkommen verschneit und ungangbar sind, so müßte ich, um in dieses drei Meilen in gerader Linie von uns entfernte Land zu gelangen, eine Neise von drei Tagen überVern, Freiburg und den Genfer See mnchen, die ganze Alpcnmasfe umgehend. Ware Alles stach und eben und hätten wir Eisenbahnen, so könnten wir in einer halben Stunde in der Urschweiz, in anderthalb Stunden in Graubündten, in zwei Stunden mitten in Italien, in einer Viertelstunde bei den Emmethalern sein. Sowie unsere Verhältnisse aber sind, brauchen wir zu jeder dieser Reisen tagelange Kletterei und weit-chweifige Umwege. Es kommt mir immer vor, als wären wir eine Menge inteiessanter Leute hier in dcn Thalern wie in nebeneinander gestclllcn Kammern eingetastet, und auf meinen Spaziergänger» fühle ich mich immer versucht, an die Wände der Verge zu klopfen und zu rufen.- Holla, Nachbarn, was macht Ihr jenseits der Verge? Diese Nahe und doch diese Unernich- Die Alpenpässe. O1 barkeit so vieles Interessanten setzt mich zuweilen in eine Art von Spannung, als soNtc ich irgendwo durch die Wände durchbrechen, und um dieß zu thun, setzte ich mich denn eines Tages wieder zu Schiffe und ließ mich über den Vricnzer See rudern, um unseren Nachbarn, den Unterwaldcnern, einen Besuch abzustatten. Zu ihnen führt einer der niedrigsten Alpenpasse, der den ganzen Winter zu passtren und zugleich einer der hübschesten ist, nämlich der sogenannte ,,Vrünig". Gs ist einer von den zahlreicheren Paßnamen mannlichen Geschlechts; ich mochte wissen, woher es kommt, daß die Schweizer viele Passe auch weiblichen Geschlechts gemacht haben, z. V. „die Gcnnm", „die Grimsel", „die Lammi". Einige Passe haben einen Plural-Namen, z. V. die „Surenen." Man steigt von Vrienz aus auf einem drei« stündia/n anmuthigen Wege zumVrünig empor, der stch zwischen dem Wyler Horn und dem Hochstollen cinsattelt. Ex ist ungefähr 3600 Fuß hoch, was zu wissen viel wichtiger ist, als daß die benachbarten hohen Verge stch zu 8- oder 10- oder 12,000 Fuß erheben. Im Ganzen sind höchst sonderbarer Weise die Menschen viel eifriger erpicht, die Höhen der einzelnen himmelansteigenden Spitzen zu wissen und sich zu merken, als die Höhen der durch die Hochgebirge führenden Einsattelungen oder Passe, obgleich diese für alle menschlichen und Naturverhaltnisse unvergleichlich viel wichtiger stnd, als jene. Durch die Thore der Pässe führen die Straßen, welche die Völker verbinden, und es ist daher höchst interessant zu wissen, ob sie einige hundert Fuß höher oder niedriger stnd. Denn da« von hängt in hohem Grade ihre Venutzbarkeit ab. Einige werden demnach schon frühzeitig imHerbst durch Eis und Schnee ungangbar, andere erst spater im Winter. Einige bleiben daS ganze Jahr offen. Ob die hohen Spitzen noch einige tanstnd 82 Passe unb Spitzen. Fuß höher oder niedriger sind, ist für den Verkehr ganz gleichgiltig, denn selbst die niedrigsten versucht Niemand zu benutzen. Die Passe sind gewöhnlich eben als Völkerthore die Theater der merkwürdigsten historischen Ereignisse gewesen. In ihnen verschanzten sich die Nachbarn gegen Nachbarn, in ihnen haben die denkwürdigsten Armccübergänge und Schlachten statt» gefunden. Die Spitzen der Verge sind völlig unhistorisch. Denn außer den Kämpfen der Steinböcke und der streitenden Winde hat sich dort nichls Außerordentliches begeben. (5'inem kritischen Geschichtsforscher, der ausmachen möchte, auf welchen Wegen Hannibal und Cäsar über die Alpen zogen, muß es sehr wichtig sein, die genauesten Daten über die Höhe der verschiedenen Pässe zu erlangen, wahrend ihm die Grade der Erhebung der Eiszacken des Monte Nosa oder Mont Cenis vollkommen gleichgiltig sind. Dem Meteorologen sind zwar die hohen Spitzen nicht völlig gleichgiltig, denn sie zeigen nicht nur das Wetter an, sondern durch ihre Einwirkung auf Elektricität und Wolken modificiren sie auch das Wetter vielfach. Allein unvergleichlich viel wichtiger sind doch auch i h m die Passe. Denn diese lassen die Windströmungen ebenso wie die Züge der Wan« derer und Handelsleute durch und sind die Thorc für Wolken, Gewitter, Stürme, die sie aus einem Thale ins andere überführen. Ueberhaupt sind für alle Naturforscher die Pässe von dem höchsten Interesse, denn durch sie verbreiteten sich die Thiere und Pflanzen aus einem Thale ins andere, und die Wandervögel wählen diese Passe noch in diesem Augenblicke zu ihren Nebergangen aus dem Norden nach dem Süden. Auf den hohen Vergspitzen, wo alle Vegetation, alles T'hierleben erstirbt, giebt es nur noch für eine Branche der Naturforscher etwas zu thun, für die, welche sich mit den Zuständen deS Eises und der Luft beschäftigen. Gipfel und Glnschmtte. 63 Trotz dieses großen Interesses, das die Pässe der Gebirge haben, und trotz der vielen Folgerungen, die man aus ihrer Erhebung zu ziehen im Stande ist, ist die Menschheit, wie ich sagte, weit weniger geneigt, sich um sie, als mn die Höhe der äußersten Spitzen zu bekümmern. Haben nicht selbst unsere Lehrer in der Schule sich die sonderbarste Mühe gegeben, unS genau zu lehren, was Notabene noch kein Mensch genau weiß, wie hoch die Jungfrau, wie hoch das Wetterhorn, wie hoch der Eiger, der Mönch und die übrigen Ricsengipfcl sind. Dagegen sollte man der Jugend die Höhen von desto mehr Gebirgspässen merken lassen, und dann, was beinahe gar nicht geschieht, die mittlere Höhe ganzer Gebirgsrcihcn und Gebirgslheile. Für das ganze Ge-birgsstück, welches zwischen den Thälern von Lautelbrunnen, Grindelwald, der Aar und der Nhone liegt, ist es viel entscheidender zu wissen, daß sich die Hauptmasse zu einer Höhe von circa 7«00Fuß erhebt, als daß darin sich Spitzen wie das Finsteraarhorn von 13000 Fuß Höhe befinden. Der Fußpfad, der von Vrienz auf den Vrünig führt, geht gerademittendurch dasBernerZoll-und Wachthaus, welches hier an der Grenze des Cantons angelegt ist, so daß der Grenzwäch-ter vor Schmugglern, wenn sie nämlich den rechten Weg wählen, sicher sein kann. Wir kehrten einige Augenblicke bei den guten Leuten ein, um nns mit einem Gläschen (gelbem, safran-gefärbten, wie man ihn in der Schweiz gewöhnlich hat) Glühwein zu ermuntern, denn es wehte eine kalte und nebelige Vise über den Paß aus Unterwaldcn herauf. Der Vrünig ist hier die Hauptpassage für diesen Wind, der wie in einem Canale durchströmt, an die gegenüberstehenden Gebirge der Südseite des Haslithales schräg anprallt und dann durch das Thal des Vrienzer SeeS nach Westen fortströmt. Diese Pässe sind die eigentlichen Sitze der Winde. Die 64 Der Vrünig. Winde hören da fast nie auf, weil fast zu keiner Zeit in zwei benachbarten Thalern die Luft ganz in gleichem Grade erwärmt und ganz gleich schwer oder leicht ist, mid weil es daher immer etwas auszugleichen giebt. Ueber den Gipfeln der Verge ist es daher weit öfter ruhig, weil die Zustande der Luft sich hier weit ungehinderter ausgleichen können. Eben so ist häufig über dem Dache eines Hauses Windstitte, wahrend durch die verschiedeneu Thür- oder Fensteröffnungen desselben Hanfes immer ein leichter Zugwind streicht, der cine Folge der verschiedenartigen Temperatur der Zimmer ist. Fast alle Passe, wie alle Verge haben eine schroffe und eine allmalig ansteigende Seite. Beim Vrümg ist diese von Vrienz her und jene nach Unterwalden zu. Der Rücken des Passes selbst ist etwa eine Stunde breit und mit Wiesen, hübscheu Vaumgruppcn, kleinen Erhöhungen und Vertiefungen des Vo-dens sehr lieblich geschmückt. In der Mitte, dicht am Wege befindet fich in einem Felsen ein kleines Loch, in das man gerade die Faust stecken kann. Aus diesem Loche bläst Winter und Sommer Luft hervor. Die Leute glauben, daß, wenn die Luft warm sei, dieß schlechtes, wenn kalt, gutes Wetter geben werde, und jeder Wanderer steckt daher im Vorübergehen die Hand in dieses Loch, um sein Tagcsschicksal zu erfahren. Wir konnten an dem leisen Luftzüge weder besondere Kalt?, noch besondere Wal me verspüren und schlössen daher auf indifferentes Wetter, wie cS uns auch wirklich in deu folgenden Tagen zu Theil wurde. Auf der Höhe der steilen Seite des Vrnnigs steht eine reizende kleine katholische Kapelle, vor deren Thüre man eine herrliche Aussicht auf das Thal von Unterwalden zu genießen pflegt. Sie ist dem Reisenden das erste Zeichen davon, daß er nun in eine andere große Abtheilung der kleinen Schweizerwelt eintritt, nämlich in die katholische Ilrschweiz, welche die Canton Die ebene und gebirgige Schweiz. 65 Unterwalden, Uri, Schwyz, Zug, Glarus und Luzern begreift. Diese alten, in einer ungeheueren Masse von unzugänglichen Bergen versteckten Cantone haben eben so wie die Bewohner aller Höberen Schweizer-Alpenthäler von uralten Zeiten her einen anderen Willen gehabt als die Einwohner der sogenannten ebenen Schweiz. Als die ebene Schweiz den Römern gehorchte, wohnten in den Urcantonen der oberen Abtheilungen des Rhonethales, des Rhein- und Aarthales wilde Bergvölker, welche die Römer als Fentos inäomit»« bezeichneten. Ms das Christenthum in die Schweiz kam, blieben die Bewohner der höchsten Alpenthäler noch lange Heiden, und gegen die Grindelwalder, gegen die Oberhasler, gegen die Unterwaldener :c. mußte noch mancher Kreuzzug unternommen werden, ehe sie ihren Götzendienst mit der christlichen Lehre vertauschten. Als die Herrschaft Oestreichs sich über einen großen Theil der ebenen Schweiz ausbreitete, waren es wieder die hohen versteckten Bergthäler, welche sich dieser Herrschaft widersetzten und ihre alte Freiheit von Neuem befestigten, insbesondere die vier Nrcantone, aber eben so auch die unzähligen kleinen Thalrepubliken in Graubnndten, sowie die Leute in anderen hohen Gebirgsthälern, z. V. in Appenzell und auch im Oberhasli, welche ebenfalls unabhängige Republiken mit besonderer Verfassung bildeten. Als die Refor« mation der Kirche in der ebenen Schweiz um sich griff, blieben auch hier wieder die hohen Bergthäler gegen den Fortschritt der Zeit zurück. Nicht nur die Urcantone, sondern auch die hohen Bergthäler Graubündtens und des Wallis blieben der Refor-maiion von Zürich und Genf verschlossen, und in das Vcrner Oberland, das ebenfalls dem Katholicismus treu bleiben wollte, konnte die Reformation, eben so wie früher das Christenthum, "ur mit Waffengewalt eingeführt werden. Die Bewohner der höheren Bergthäler haben von jeher in der Schweiz das Princip 66 Hohes Alter des Sonderbunbes. der Trägheit und Stabilität repräscntirt, im Gegensatz mit dcr ebenen Schweiz, welche immer das Element des Fortschrittes und der Veränderlichkeil enthielt. Als die Franzosen am Ende des vorigen Jahrhunderts die Vorstellungen, welche sie sich von einer gut eingerichteten Republik gemacht hatten, in der Schweiz realisiren wollten, hatten sie die heftigsten Kampfe auf den alten Schlachtfeldern der Schweizer und Oesterreicher zu bestehen, in den Urccmtonen, dann in WaNis und in Graubündten. Als das alte Patricierregiment 1830 in Bern fiel, erhob sich ein Theil des Oberlandes, das dem Alten anhing, gegen die neue Ordnung der Dinge und mußte zum Radicalismus mit Gewalt bekehrt werden. Die siegreiche Reaction gegen diesen muen Radicalismus in WaMs ging von dem hinteren und oberen Rhonethale aus, sowie auch die conservative Partei Graubündtcns ihre Hauptanhanger im hinteren oder oberen Rheinthale hat. Die Urcantone ihrerseils haben gegen die neuen Ansichten, die aus der ebenen Schweiz vordrangen, ganz auf dieselbe Weise einen Sonderbund gemacht, wie sie einen solchen schon vor vielen Jahrhunderten bei vielfachen Gelegenheiten gegen die Burgunder, gegen die deutschen Kaiser, gegen die österreichischen Herzoge, gegen die Franzosen schlössen. Dieser Sonderbund ist daher eigentlich so alt wie die Schweizergeschichte selbst und steckt vermuthlich schon unter dem verborgen, was die Römer Fontes in-äomilno nannten. Das Alter aller geselligen Zustände und Verhältnisse in diesen Urcantonen, die Unveränderlichkeit der Sitten und des Charakters dieser einfachen Hirtenvölker, und dieDauer ihrer merkwürdigen politischen Verfassung geben diesen Landern undLeuten ein hohes Interesse, und ich stieg daher auf der steilen Seite des Vrünigs, nicht ohne eine spannende Emotion zu empfinden, in das Land selber hinab. Die Schweizcr-Cantone sind schon an und für sich so klein, Ob und nld dem Walde. 67 daß es ill London manche Straße giebt, >'i, der eben so viele Menschen wohnen, wie in einem ganzen solchen souverainen Staate der Schweiz. Ganz Unterwalden hat nur 22,000 Einwohner. Ja es wäre leicht, in Petersburg drei oder vier Häuser zu bezeichnen (z. V. ein paar große Casernen und das kaiserliche Winterpalais), unter deren Dache eben so viele Menschen leben, als in allen Thälern und Verge» des Staates Uri zusam« mengenommen, der nicht mehr als 14000 Bewohner zahlt. Aber die Schweizer theilen selbst dieß Kleine noch wieder in kleinere Theile. So trennt sich der Canton Appenzell wieder Eine Unterwalbnerln. Vaters Tode habe sich daher Niemand als sie gefunden, der die Wirthschaft zu führen und das Hauswesen aufrecht zu halten im Stande gewesen, und sie habe sich mit Gottes Hilfe entschlossen, die Sache zu übernehmen, obwohl es ein schweres Geschäft sei, da so viele Schulden auf dem kleinen Hofe lägen, daß jedes Jahr erst 60 Schweizerfranken Zinsen dafür herausgearbeitet werden müßten, bevor sie dara» denken konnte, ihren kleinen Geschwistern und ihrer Mutter und dann sich selbst das Nöthige zu geben. Knechte und Mägde könne sie natürlich nicht halten, sie müsse selbst das Feld bearbeiten, selbst den Garten bestellen, selbst die Kartoffeln pflanzen und auch ärnten. Nur ihre jüngeren Brüder dienten ihr als Gciöbuben und Vichhüter, und blos in der Heuärnte dinge sie sich wohl einen Knecht als Gehilfen. Sie erzählte uns dieß Alles mit der größten Unbefangenheit und gab uns eine so gute und wohlgeordnete Uebersicht ihrer täglichen Geschäfte, daß schon daraus in uns die Vermuthung entstand, sie möchte sie eben so ordentlich vollführen, als barstellen. Wir verhehlten ihr nicht unsere Bewunderung, daß sie bei so großer Jugend schon so Vieles übernommen habe, und sie erwiderte dann: „Ja, es wäre auch in Unterwalden etwas Seltenes und in ihrer ganzen Nachbarschaft auf dem Bürgen am Vierwaldstatter See, denn da läge ihr Höfchen, ihr kein solches Beispiel bekannt. Sie habe es auch nur aus Liebe zu ihrer guten Mutter und ihren kleinen Geschwistern thun tonnen, und bei ihren Nachbarn wäre daher das „Lugi-Mädel vom Bürgen" ganz wohl angesehen, denn dieß wäre der Name/ unter dem sie auf ihrem Verge bekannt wäre." Indem wir ihr ein kleines Compliment über ihre frischen Wangen machten, gaben wir ihr zu verstehen, sie müsse heirathen, um sich einen tüchtigen männlichen Schutz zu verschaffen, und das würde ihr gewiß nicht schwer werden. Sie meinte aber lächelnd, ,daß wir Eine Unterwasdncrm. 71 uns darin täuschten, denn sie könne sich eben nur mit Noth und Mühe über dem Wasser erhalten, imd ein Mädchen mit einem verschuldeten Höfchen, mit einer alten Mutter und einer Reihe jüngerer Geschwister, von dcnen sie nicht «blassen wolle und könne, weil dieselben ohne sie ganz hilflos werden, würde Niemand nehmen. Wir fragten sie nach dem Zwecke ihrer Reise. Sie wolle nach Lungern, sagte sie, wo sie einen Mann aus demHasli« thale erwarte, mit dem sie ein kleines Geschäft abzumachen denke. Sie selbst habe vielFutterdieses Jahr und könne neben ihren beiden Kühen noch wohl drei andere durchwintern. Da habe sie nun mit dem Rudi Imbodcn von Wyler auf dem Hasliberge einen Contract abgeschlossen, daß er ihr auf morgen drei seiner jungen Rinder über den Vrünig brachte, die sie ihm dann gegen 20 Franken durchwintern wolle und mit denen sie morgen nach Hause zu treiben gedenke. „Da Ihr von dort her kommt", wandte sie sich dann wieder zu uns, so kennt Ihr ihn ja wohl und könnt mir vielleicht sagen, waS für ein Mann es ist. Ich bin besorgt, daß er sein Wort und seinen Termin nicht einhalte. Ich selbst habe ihn nur einmal auf dem Markte in Stanz gesehen, aber es schien mir ein gerader und ordentlicher Mann". Mein Führer versicherte ihr, daß er von dem Rudi Imboden gehört habe, und daß er ihr glaube versickern zu können, sie habe nur Gutes von ihm zu erwarten. Da ich sie fragte, wie sie ihr Land bearbeite, und ob sie sich eines Pfluges dabei bediene, fing sie an zu lachen und sagte, einen Pflug kenne man in ihrer ganzen Nachbarschaft nicht. Sie, wie alle ihre Landsleute, hatte Meistens nur Wiesenland für Viehzucht, und die ganz kleinen Stückchen Ackerlandes, die sie hie und da zwischen den Felsen besaßen, müßten sie mit der Hacke und Schaufel bearbeiten. Auch wußten sie den nöthigen Dünger auf dem Rücken hinauftragen und zuweilen sogar, wenn der Voden hier und da vom Regen 72 Unruhige Nacht. weggewaschen wäre, etwas frische Erde. Dieß Alles gäbe ihr im Sommer erstaunlich viel zu thun; im Winter dagegen habe sie es leichter, da dann nur das Vieh im Stalle zu besorgen sei, wobei ihre kleinen Brüder die Hauptsache thaten. Sie selber spänne den größten Theil der Winterzeit hindurch rohe Seide, was eins der vornehmsten Wintergeschäfte der Madchen und Weiber von Unterwaidcn sei. Diesen Winter aber sahe es mit der Seidenspinnerei schlecht aus; denn die Luzerner Kaufleute, welche dazu Auftrag zu geben pflegten, hatten dilß Jahr wenig rohe Seide aus Italien empfangen, und man glaube allgemein, es werde nur wenig zu thun geben. Gben deßwegen auch hoffe sie noch auf die drei Rinder, damit sie ihre Zelt anderweitig nützlich verwenden könne. Ueber alle diese Dinge sprach die Dirne mit einer solchen Unbefangenheit und Klarheit deö Urtheils, daß sie ganz unsere Zuneigung gewann und daß wir ihr gelobten, sie auf dem Vürgen aufzusuchen. Solche tüchtige Madchen und Weiber waren gewiß die, welche ihren Vätern und Mannern so ttlulhig in den Schlachten ge^en die Oestcrreicher und Franzosen halfen. Solche Frauenzimmer von solcher Tüchtigkeit, von olcher Stärke und Iugendfrische, vielleicht auch ganz ähnlich gekleidet, waren es vermuthlich, wie Cäsar sie in seinen Schlachten gegen die aus ihren Bergen hervorziehenden Helvetier bewundern lernte. Ich hatte mir zwar das entlegenste und höchste Zimmer im Hause geben lassen, um ruhig zu schlafen. Nichtsdestoweniger aber stöne mich die ganze Nacht das Lärmen der späten Gäste in der untersten Etage unserer Herberge. Die hölzernen Wände der Schweizer-Tannenhäuser sind wie Resonanzböden. Man hört an jedem Ende des Hauses das geringste Geräusch am anderen Ende. Ich war daher schon frühzeitig a«f, und bereits vor Sonnenaufgang befanden wir uns wieder aufderHeerstraße. Un- Die letzte Oelung. 7ä Luegk-Madli schlief noch. Es war einer jener kalten und trüben Herbstmorgen, die freilich die Landschaft zu verschönern wenig geeignet sind, die aber den Fußgänger in ganz frische und muntere Vewegnng bringen, sss war noch sehr still im Thale ringsumher. Doch hatten wir kaum unser Nachtquartier ein paar tausend Schritte hinter uns, so hörten wir ein Glöckchen in der Ferne in regelmäßigen Absätzen ertönen. „ Das ist gewiß ein katholischer Priester, der einem Sterbenden die letzte Oelung bringen will", sagte mein Führer. In der That sahen wir bald ein kleines Laternenlicht auf uns zukommen. Gin Kirchendiener trug es neben dem Glöckchen, das immerfort er« tönte, und hinter ihm her ging ein Priester in weißem Ornate, das Gebetbuch unter dem Arme. Wir grüßten höflich und be« kamen feinen Segen. Ich fragte einen Untenvaldener Mann. der uns begegnete, zu wem der Priester woNe, und war erstaunt über die Antwort, die er mir gab.- „Er will zum sterbenden — hier nannte er den Namen des Kranken — um den lieben Gott von ihm abzuhalten"; er meinte, um Gott mit Gebeten zu be« wegen, daß er den Mann noch nickt zu sich nehmen möchte. Die Vorstcllungsweise, welche dieser Aeußerung zum Grunde lag, war so sonderbar, daß ich kaum meinen Ohren traute. Aber mein Führer sagte, die Unlerwaldcner, für die er als Ver-ner Freischarler, nebenhergesagt. die größte Verachtung hegte, drückten sich nicht selten so sonderbar aus, weil sie allesammt eine höchst bigotte, abergläubische und stupide Race von Menschen seien. Die Verner Oberländer sind bisher zwar, was Aufklarung und Schulbildung betrifft, auch nicht sehr bevorzugt gewesen, allein es ist doch gewiß, daß das Volk in Vern jetzt viel intelligenter und besser belehrt ist, als das in den Urcantonen, das, obwohl es sich einer alten, höchst republikanischen Verfassung Kohl. Alvcnrciscn I. . 74 Die Kreuze im Felde. rühmt, doch von seinen Priestern und Herren sowohl in religiöser, als politischer Hinsicht mehr bevormundet wird, als das Volk von Bern, seitdem es seine Patrizier entthront hat. Als tüchtig, als redlich, treu nnd ehrlich sind die Unterwaldener, die Urner und Schwyzer in der ganzen Schweiz noch jetzt berühmt, zugleich aber auch als unwissend, grob und abergläubig. Die Flüsse und Vache hatten im Frühling durch Ueber-schwemmungen höchst traurigeVerwüstungcn in den Feldern und auf den Niesen angerichtet, und wir kamen fast durch keinen Fluß, der nicht seine Brücken weggerissen und unglaubliche Massen von Steinen über die benachbarten Wiesen verschleudert hatte. An dem Rande mehrer überschwemmter und zerstörter Strecken sahen wir noch drei hohe hölzerne Kreuze stehen, welche die Priester errichtet hatten, um durch sie und ihre Scgenssprüche der Fluth Einhalt zu thun. Mehre dieser Kreuze aber waren ganz von Steintrümmern und Blöcken umgeben und standen mitten in der Scene der Verwüstung zum Zeichen, daß der Priester die Fluthen und Steine nicht so gut hatte bändigen können, wie die höchst zweckmäßigen „Schallen," die ich in den Verner Thälern sah, es vermögen. Obwohl die Unterwaldener Katholiken sind, so bemerkt man bei ihnen im Vergleich mit den protestantischen Vernern doch keine solche Abnahme der häuslichen Reinlichkeit und der wirtschaftlichen Ordnung, wie in vielen katholischen Landern im Vergleich mit protestantischen. Die Dörfer, durch welche wir kamen, waren alle sehr nett und reinlich gebaut und die Häuser, in welche wir traten, von außen und innen sehr sauber. Neberhaupt hatdas ganze Land eine äußerst lachende und ansprechende Physiognomie. Ueberall große Wiesen mit Waldchen und Seeen hübsch vermischt. Viehzucht ist das vornehmste und fast einzige Gewerbe der Leute seit uralten Zeiten. Weil das Vieh ihnen „Trinken" und „Saufen." 75 Alles giebt, was sie nöthig haben, so halten sie es auch vortrefflich. Im Winter ist es ihre vornehmste Sorge, oaß die Kühe und Ziegen eS recht warm im Stalle haben, und von Thierquälerei hört man hier weniger, als von Thiererziehung und Thierverpflegung. Die Rinder selbst sind daher auch besonders sanft und gutmüthig, und man sieht nicht selten, wie die Kühe. wenn der Hausherr unter sie auf die Weide tritt, aufblöken und ihm brummend nachlaufen, als wollten sie ihm schmeicheln, uder als erwarteten sie ein freundliches Wort oder einen Leckerbissen von ihm. Die Leute sind auch so höflich gegen ihre Kühe, daß sie „Trinken" nennen, was wir bei dem Viehe „Saufen" heißen. Das Saufen brauchen sie dagegen gewöhnlicher von dem Menschen. Soviel Ackerland, daß ein Pflug nöthig oder nützlich wäre, hat fast Niemand. Wir erkundigten uns fast in jedem Dorfe nach der Anzahl der Pflüge. In den meisten behauptete man, es wäre gar kein Pflug vorhanden. In einigen hieß es, sie glaubten, daß Dieser oder Jener vielleicht einen Pflug habe, ihn aber wohl kaum je benutze. In Sar-nen, dem Haupldorfe des ganzen Landes, sollen nur zwei oder drei Pflüge vorhanden sein. In Lungern, einem der bedeutendsten Orte nach Sarnen, hatte man sich vor ein paar Jahren auf Gemeindeunkostm einen Pflug angeschafft, und zwar bei Gelegenheit einer künstlichen Verkleinerung des Sees, wo man ein neugewonnenes Stück Land durch einen feierlichen und festlichen Act der Cultur übergeben wollte. Man hatte bei dieser Gelegenheit zwei Pferde vor den neuen Pflug gespannt und unter dem Jubel der Menge einen Theil jenes Landes mit Furchen bezogen. Seitdem aber war dieser Pflug nie wieder benutzt worden. Dieß Alles gilt fast von allen Alpenthälern der Schweiz, wenn «„H „^^ z„ ^ h^,,, Grade, wie von den 4* 76 Brot und Käse. Urcantonen; selbst hier auf meinem Bödeli, welches doch ein ganz flaches und fruchtbares Landchen uon einer Stunde Breite und einer Stunde Länge darstellt, giebt es sehr wenig Pflüge. Man möchte denken, daß, wenn die Leute nur ihre Alpen oben zur Viehweide hätten, sie dann wohl unten im Thale den flachen Boden als Ackerland höher nutzen könnten. Allein eben die Alpen, welche ihren Viehstand so groß haben werden lassen, zwingen sie, auch den Thalgrund als Weide oder Heuwiese zu benutzen, damit das Vieh hier unten im Herbst und Winter, wo die Alpen oben verschneit sind, Nahrung finde. In einigen Thälern fängt man jetzt hier und da ein wenig an, auch Futterkräuter künstlich zu bauen, was bis dato noch eine sehr neue Sache in der Schweiz ist. Die, welche dieß vrobirt haben, sind ganz entzückt darüber, daß sie dadurch soviel an Raum und Kräften sparen. Aber in den Urcanto-nen weiß man noch nichts vom Futterbau. Sowie die Alpen oben, so sind auch die Wiesen unten größtentheils noch Almenden, und schon deswegen kann der Ackerbau kein« Fortschritte machen. Der Mehl- und Brotmarkt der Ur-cantone ist Luzern; doch verbrauchen diese Kaseesser ft wenig Brot, daß das Attribut „brotessend," welches Homer dem Menschen fast als ein stehendes giebt, ihnen kaum beigelegt werden könnte. Käse ist ihr Vrot, und sowie wir, wenn wir sagen: „Herr, gieb uns unser täglich Vrot", darunter überhaupt Nahrung oder Speise verstehen, so nennen sie den Käse schlechtweg „Spies" (Speise). Daher auch Haller in seinem schönen Gedichte „die Alpen" die Nlpenbewohner lobt, daß sie aus Milch Mehl zu bereiten wüßten. Industrielle Beschäftigungen giebt es außer dem Spinnen der rohen Seide in diesem Hirtencantone gar keine und wird es auch noch lange keine geben, obwohl sich das geschaftlose Leben der Kirchen. — DaS Capitol von Unterwalden. 77 Hirten im Winter sehr wohl mit einiger Industrie vertragen möchte. In jedem Dorfe, durch welches wir kamen, fanden wir eine gwße und imposante Kirche, überall sehr gut unterhalten, frisch ausgemalt, in gutem Sthle gebaut und scheinbar ganz neu. Diese Kirchen stehen in einem merkwürdigen Contraste mit den altmodigen, kleinen, häßlichen und schlechtunter« haltenen protestantischen Gotteshäusern der Verner Gemeinden, die sich zum Theil noch der Kirchen zu bedienen scheinen, welche sie vor 300 Jahren aus den Händen des Katholicismus empfangen haben. Die Kirchen sind die schönsten öffentlichen Gebäude dieses LandeS, und außer ihnen habe ich nur noch eine Gattung öffentlicher Gebäude dieses Staates kennen gelernt, nämlich die Zeug« und Schützenhäuser. Auf einem Hügel bei dem Hauptorte Sarnen, auf welchem ehemals der österreichische Landvogt, der Landenberger, seine Vurg hatte, stehen hoch, durch baS ganze Thal hin prunkend, ein Zeug- und ein SchützenhauS. Dieser Hügel ist gleichsam das Capitol von Untenvalden ob dem Walde, und ich konnie nicht umhin, dieses einfache Capitol mit den von öffentlichen Gebäuden beladenen und besaeten Capitolien anderer mehr entwickelter Staaten zu vergleichen. In jenem Schützenhause feiern die Unterwaldemr ihre Scheibenschießen, welches ihrej großen Nationalfeste sind. Ein ähnliches Zeug- und Schützenhaus giebt es in Stanz, dem Hauptorte von Unterwalden nid dem Walde, und ebenso ist es in den anderen Urcantonen. Parlamentshäuser brauchen diese Republiken nicht, denn sie halten ihre Versammlungen unter freiem Himmel. Ministerialgebäude haben sie auch nicht nöthig; denn ihre Landammanns und deren Minister, der Finanzminister, „Säckelmeister", und der Kriegsminister, „Vannerherr" oder „Zeugmeister" genannt, ,c. sind Bauern und wohnen auf ihren 79 Die Schweizer-Festungen. eigenen Vautrhöfen. Festungen bedürfen sie ebenfalls nicht, denn das sind erstlich ihre Berge und zweitens noch immer, wie bei den alten Spartanern, die Brust der das Laud vertheidigenden Männer. Auf Den, welcher aus der Geschichte weiß, wie und mit welchem Löwenmuthe dieses Land zu Zeiten vertheidigt wurde und mit welcher Aufopferung und welcher Energie es noch jetzt ^eden Augenblick im Falle der Noth vertheidigt werden würde, macht eS einen eigenen Eindruck, diesen ganz kleinen, so kriegerischen und in der ganzen Welt durch seine Heldenthaten berühmten Staat mit so friedlicher und völlig idyllisch-poetischer Physiognomie vor sich zu sehen. Seit der Zerstörung der Vurgen und Schlösser der Rudenze, der Landenberger, Geßler ic. sind zu Zwingburgen oder Befestigungen keine zwei Steine im Lande übereinander gelegt worden. Nur zuweilen in Falle» der Noth hat man wohl einmal aus Fichten-stammen einen Verhau auf dem Vrünig oder bei den anderen Zugangen zum Lande am See gemacht. Doch waren diese Verhaue weiter nichts als Barricade«, die bald wieder verschwanden. GutcSchützen aber sind die Leute alle durch die Bank, und sie verfehlen ihr Ziel so wenig wie die Tscherkessen im Kaukasus, und man muß ihren Eifer und ihr Geschick bei ihren Schützenfesten bewundern, bei denen es fast nicht weniger geschäftig und eifrig zugeht wie in ihren Schlachten. Der Hirtenstab, die Büchse und das Gebetbuch, die Alpen, die Schützenhäuser und die Kirchen, das sind die vornehmsten Dinge für diese Leute. Ich besah in Sarnen die Kirche, ein Kloster und das Schützenhaus. Das Zeughaus wollte man mir nicht öffnen, und ich ging dann durch den reizenden unteren Theil des Landes wei« ter nach Alpnach am Fuße des Pilatus. Hier erquickten wir uns mit einem trefflichen Flühstück und schifften uns dann auf dem Alpnacher See ein, der ein Theil des VierwaldstatterS ist. Scene auf dem Alpnacher See. 79 Wenn man diesen See ansieht, der gar keine Wege an den Seiten, sondern nur schroffe, steile Ufer hat, so begreift man cS wohl, wie schwer zuganglich das Land auch von dieser Seile war, eben so wie von der Seite des Vrünigs. Man kann nur zu Schiff ins Land hinein oder aus dem Lande hinaus gelangen. Ein eben solcher von der Natur barricadirter Seearm führt nach Uri hinein, ein dritter nach Luzern und ein vierter Winkel in das Thal von Schwyz. Der Vierwaldslätter See ist eine Composition von vier oder fünf verschiedenen Seebecken, die alle wie Arme nach Süden, Norden, Osten und Weslen sich ausstrecken und denen die Thäler derUrcantone von Süden, Norden, Osten und Westen brüderlich die Hand reichen. Er ist das Centralgewasser dieser Cantone, durch dessen Vermittelung sie mit einander und vor Allem mit ihrer Hauptstadt Luzer» verkehren. Dieser See, in der Mitte zwischen dem Genfer und dem Constanzer See, gleichweit von den Usern des Rheins im Nor-dcn und des Tesstns im Süden, stellte von jeher gleichsam das Herz der Schweiz vor. Um ihn und um die zu ihm gehörigen Thaler herum bildete sich der ganze Körper der Eidgenossenschaft. Es war jetzt nicht mein Plan, in alle Winkel dieses wundervollen Sees hineinzudringen, weil ich es vorläufig nur auf einen Spaziergang durch Unterwaiden abgesehen hatte. Doch ließ ich meinen Schiffer bis auf die Mitte des Sees hinausrudern, um den eigenthümlichen Anblick, den er heute darbot, aufzufassen. Es war, wie gesagt, ein ruhiger, etwas kühler und neblichter Herbsttag. Der See war glatt wie ein Spiegel. Ueber seine Uferberge aber hing ein eben so glattes Nebeltuch herab, das wie eine Zeltdecke über das ganze Gewässer hin ausgespannt war. Alle Spitzen der Verge steckten tief in diesem Nebel, und nur der Sockel ihrer Mauer» war rund herum in gleicher Höhe zu sehen. Die Wälder, die auf den Gehängen 80 Die User des Alpnacher Sees. dieses Sockels standen, schienen wie aus den Wellen ins Wasser hinabzustürzen. Unter uns lag eine tiefere Welt als über uns, denn bis zu den Wolken hatten wir nur 500 Fuß. Der durchsichtige See, auf dessen Oberfläche wir schwammen, ist aber nahe an 1000 Fuß tief. Der Rand des Sees war überall mit hübschen kleinen Ortschaften besetzt. Aber auch am Rande der Wolkendecke lagen solche kleine Ortschaften, deren Schornsteinrauch direct an die tiefe Decke des Himmels sich hinaufwalzte. In der Ferne, an den Spitzen versteckter Seebusen, wo der Himmel ganz auf die Erde herabzufallen schien, zeigten sich die Thürme vonLuzern und von Küßnacht. DieSchiffer sagten, daß schonseit 14 Tagen der See mit einer solchen unbeweglichen Nebeldecke verhangen sei und denselben eigenthümlichen Anblick darbiete. Obwohl ich dieß Mal, so zu sagen, nur einen Blick aufdie herrlichen Ufer dieses Sees that, und obwohl ich sie zwar in einem eigenthümlicheu Zustande, aber nicht bei dem vortheilhaftesten Lichte und Wetter sah, so wurde ich doch von ihren mannigfaltigen Reizen im höchsten Grade entzückt. Alle Beschreibungen und Bilder, die ich davon gesehen hatte, hatten mir keine ge« nügende Idee davon gegeben, und ich glaube, daß die Schriftsteller und Künstler der pittoresken und poetischen Seite der Natur hier noch lange nicht die gebührende Ehre erwiesen haben. Was die wissenschaftliche Seite betrifft, so bin ich gewiß, daß hier noch nicht das Atternothwendigste geschehen ist. Es wird auf den ersten Anblick vielleicht eine etwaö kühne Behauptung zu sein scheinen, wenn ich sage, daß dieser See noch eine wahre aqua inooß-nitü ist, und daß ich dasselbe von fast allen großen und kleinen Secen der Schweiz versichern möchte. Es giebt zwar nur wenige berühmte Reisende und Naturforscher Europa's, die nicht einmal forschend in den Schweizer-Alpen gereist sind, und doch sind bis auf diesen Tag die Beobachtungen. welche Saussure vor mehr als einem Jahrhundert über die Temperatur dieser Seeen machte, nvch immer bis jetzt die einzigen, auf welche unsere Kenntniß dieser Verhältnisse gegründet ist. Dabei muß man wissen, daß Saussure nur in jedem der Hauptseeen eine einzige Beobachtung, nur überall in derselben Tiefe, nur überall in derselben Jahreszeit machte. Sollte man nicht denken, daß diese Seeen, an deren Ufer seit Jahrhunderten solche Sammelplätze gelehrter Forscher, solche Städte wie Zürich und Genf liegen, Städte, die man die schweizerischen Athens genannt hat, uns Menschen in allen ihren Verstecken und Winkeln zum Ueberdruß durchforscht und bekannt wären. Sauffure hat das höchst merkwürdige Factum in helles Licht gesetzt, daß alle diese Seeen, selbst die auf der Südkette der Alpen, in einer Tiefe von 300 bis 400 Fuß durchweg die unbegreiflich niedrige Temperatur von 3 bis 4 Grad Neaumur haben. Dieses Factum ist für die Physik von dem größten Interesse und Ware, wenn es weiter entwickelt und verfolgt würde, im Stande, über die Eigenschaften der Wärme gewiß noch manche unerwartete Frage anzuregen. Sollte man nicht glauben, daß wir jetzt seit Saussure längst, wüßten, wie diese Wärmeuerhältnisse in noch größeren Fiesen der Seeen sich gestalteten, in welcher Progression die Wärme nach der Oberfläche hin zunähme, oder wie sie im Herbste im Frühlinge, im Winter und zu allen Zeiten des IahreS modificirt würde. Wie interessant wäre es, wenn wir gcnau wüßten, wie die Wärmezuständc der sehr hoch liegenden Seeen zu denen der niedrigen Seeen, der nördlichen zu den südlichen, der kleinen zu den großen stch verhielten. Sollte man nicht denken, daß, wie es fast bei jedem Schweizer-See emsig« Fischer giebt, die keine Forelle und keinen LachS begnadigen, so auch jeder Schweizer«See seinen Gelehrten gehabt halte, der Alles mit Sonde und Thermometer bis auf den Grund 4*5 82 Die Tiefe dcr Seeen. durchforschte. Wir sind aber so weit davon entfernt, daß m den meisten Seeen dieser vieldurchforschten Schweiz noch nicht ein einziges Mal ein Thermometer gesteckt hat. Man hat es mit Recht der Mühe werth gefunden, alle Unebenheiten der Erdoberfläche in den Gebirgen genau zu bestimmen und in Reliefs und Karten nachbildend darzustellen. Obgleich die Seeen auch einen Voden haben, dessen Gestaltung für die Wissellschaft im höchsten Grade interessant ist und dessen verschiedene Tiefe mit Hilfe des Senkbleies fast noch leichter zu erforschen ist, als die Höhe der Verge, so hat man sich doch fast überall, mit wenigen Ausnahmen, damit begnügt, nur eine einzige Linie bei jeder Seebeckenfigur genau zu bestimmen, nämlich die Linie seiner Ufer. Die Tiefe einer Menge kleinerer Seeen der Schweiz ist noch völlig unbekannt. Bei den meisten ist sie nur an einzelnen Punkten bestimmt. Es lohnt sich kaum der Mühe, einen großen und idealischen Maßstab an winzige Leistungen zu legen, und ich will daher hier nicht das ganze Ideal der vollständigen Kenntniß dieser Seeen, wie sie sein sollte und könnte, ausführen, weil es von vornherein klar ist, wie unbedeutend unsere Kenntniß, wie sie ist, dagegen erscheint. Aber ich will nur noch auf einen Punkt aufmerksam machen, der fast nie untersucht worden ist, auf die Art der Bewegung der GeWasser in diesen Seeen. Einige dieser Seeen sind bis 1lXX> Fuß tief. Ja der Vodensec soll an einzelnen Stellen 2000 Fuß tief sein, und die größte Tiefe des Langen Seees ist sogar auf 2460 Fuß angegeben. Die Flußbetten, in denen diese Seeen abstießen, sind dagegen nur wenige Fuß tief, und eö scheint daher, daß nur immer eine sehr dünne Wasser« schicht auf der Oberflache der Seeen sich allmälig in diese Flußbetten hineinschieben könne. Auch die Winde setzen die Oberstäche der Seeen nur bis zu einer geringen Tiefe in Strömungen der Seeen. 83 Bewegung. Sind nun jene Gewässer in der Tiefe seit Anbeginn stillstehend wie Krystall und fest gemauert wie die Steine im Inneren der Gebirge? Oder werden auch hier unten etwa durch warme Quellen und durch andere Umstände Bewegungen und Strömungen hervorgebracht? Und wenn, wie es zu vermuthen steht, dem so ist, wie circuliren denn die Gewässer der Seeen, in wie viel Zeit schieben sich die obersten Schichten fort und zum See hinaus? Im Laufe wie vieler Jahrhunderte kommen die alleruntersten Gewässer in der Tiefe von 2000 Fuß allmälig nach oben, um hier zu verdunsten oder aus dem See hinauszulaufen? Man hat langst berechnet, in wie viel Jahren der menschliche Körper durch Ausdünstung und andere Processe sich völlig metanwrphosirt, aufgezehrt und erneuert hat. Aber in wie viel Jahrhunderten dünsten und laufen wohl diese Seebecken a„8 und füllen sich wieder durch neuen Zufluß? Ich will zugeben, daß zum Theil diese und andere Fragen, deren einem immer viele durch den Kopf gehen, wenn man auf der platten Oberfläche dieser Seeen dahinfährt, unlösbar sind. Aber man kann sich dem Unlösbaren doch auf eine gewisse Distance nähern, und daß dieß bei Weitem nicht hinreichend geschehen, scheint nun allerdings mit Recht auffallend zugleich und demüthigend für unsere Zeit. Meine Schisser führten mich nun nach unserer kleinen Excursion auf die Mitte des Sees verabredeter Maßen anS Ufer zurück und setzten mich bei der Ausmündung des zweiten Thales von Unterwaiden bei Stanzstadt ans Land. DaS Thal, das sich an seinem Ende spaltet, hat noch eine Ausmündung bei Vuochs. In der Mitte der Spaltung zwischen beiden Mündungen liegt der Berg Vürgen, auf dem unser Luegi-Madli wohnte. Das „Luegi" heißt eine Partie dieseS Verges, auf der ihre kleine Wirthschaft liegt, und von der 84 Schönheit der Natur in der Schweiz. sie den Namen hatte. Ein Paar sehr gesprächige Frauen auS Stanz, die sich auf dem Wege an uns anschlössen, zeigten uns „das Lucgi" oder vielmehr nur die Stelle, wo es dicht unter den Wolken lag. Denn leider auch diese Höhe war in Nebel gehüllt. Sie kannten das Luegi-Mädli, über das wir sie befragten, gleich und waren voll Lobes wegen ihrer Redlichkeit und Tüchtigkeit. Stanz, das Hauptdorf von Unterwalden nid dem Walde, liegt an dem Punkte der Vereinigung jener beiden Thalspaltungen, von dem ich sprach, und die Oertchen VuochZ und Etanzstadt sind ihre beiden Hafenplätze. Die Landschaft hat hier überall so schöne und anmuthige Scenen, wie keine Phantasie sie sich einzubilden und wie Pinsel und Feder sie zu copiren nicht im Stande sind. Man möchte immer jeden Winkel schildern und malen, wenn nicht der Gedanke, daß es tausend solche Winkel in der Schweiz giebt, den Mnth dazu entsinken machte. Die Schweiz ist wohl das einzige Land in Europa, das von einem Ende zum anderen bei jedem Schritt, den man dahin thut, schön und interessant ist. So wie man nur aus dem ebenen Elsaß bei Basel, oder aus dem ebenen Frankreich bei Genf, oder aus dem ebenen Baiern bei Constanz den Fuß ins Land setzt, ist man von der Poesie einer zauberischen Landschaft umgeben und bleibt es bis an die Grenzen der Schweiz bei den einförmigen Ebenen des Po hinab. Ich begreife kaum, was die Leute, die unter solchen Scenen aufgewachsen sind, bei dem Anblick unserer norddeutschen Ebenen empfinden »lögen. Wenn ich daran denke, schaudere ich fast. Es dünkt mich jetzt so natürlich, daß ein Land aus einer Abwechselung von Hügeln, Hochgebirgen, Thälern, Ebenen, Seeen, Flüssen, Felsen und Wäldern bestehe, daß es mir fast scheint, als hatten jene platten Länder, gar keine Die Artillerie in Stanz. 85 Natur und keine» Charakter. Das ganze Land, platt wie der Tisch, das muß einem Schweizer völlig monstruös erscheinen. Ich ruminire selbst jetzt, wo ich die Schweiz in ihrem Winterkleide sehe, immer solche Betrachtungen. Wie wird sie mich erst im Frühlinge wieder entzücken, wenn alle diese schönen Nuß- und Obstbäume, von denen der hübsche Flecken Stanz umgeben ist, lieblich erblühen, wenn alle üppigen Wiesen umher von dem Geläute des gesättigten Viehes ertönen, wenn alle so äußerst malerisch umher gruppirten Berge von dem Jauchzen der Hirten und dem Gesänge der Vögel erklingen, und Alleö in dem lieblichsten Sonnenscheine lächelt. Freilich muß es in einer solchen Jahreszeit dann auch besonders schmerzlich sein, ebenfalls auf Schritt und Tritt nicht nur an die Schönheit der Schweiz, sondern auch an ihre innere politische Zerrissenheit erinnert zu werden. Wir wohnten in Stanz einigen Artillcriemanövern mit zwei Kanonen bei, zu denen Luzern einige Artillerieoffiziere geschickt hatte, um die Hirten in dem Gebrauche des schweren Geschützes einzuüben. Wir hörten von zwei anderen Kanonen, die Luzern den Freischärlern von Vern abgenommen und die es an den Staat von Nnterwalden als Trophäen und Siegesmonumente und als ein Zeichen der Dankbarkeit für geleistete Dienste verehrt hatte. Man zeigte uns auch den Platz auf dem Markte des Ortes, wo einer jener Freischärler, der, auS Unterwalden gebürtig, mit den Vernern gezogen war, eine in-famirende Strafe erlitlen hatte. Die Luzerner hatten ihn gefangen genommen und an die Unterwaldener ausgeliefert, uud diese hatten ihn dafür öffentlich an den Schandpfahl gebunden und ausgepeitscht. Man vernimmt es mit Verwunderung, daß diese freien vV Auspeitschen in den Urcantonen. Republikaner noch bis auf den heutigen Tag eine Bestrafungsart beibehalten haben', welche die alten griechischen Demokraten bloß bei ihren Sklaven anwandten, und daß sie diese Strafe nicht allein bei Diebstahlen und anderen gemeinen Verbrechen, sondern auch bei politischen Vergehen in Anwendung bringen, da außer Rußland jetzt sonst kein Staat in Europa mehr ist, wo so etwas geschehen konnte. Da ich mich, als Jemand, der im Osten Europa's mehre Mal über Stockprügel Beobachtungen zu machen Gelegenheit hatte, für den Gegenstand nalür« lich interessirte, und da ich mich an Ort und Stelle genau über daS hier beobachtete Verfahren erkundigte, so wUl ich eine Beschreibung von dieser urschweizerischen Bcstrafungsweise geben. Ist Jemand zur Stockprügelstrafe verurcheilt, — und so viel ich im Laufe des Winters aus Verner Journalen, die gleich jeden Fall dieser Art, der in den Urcantonen vorkommt, mit gebührendem Abscheu signalisiren, sehen kann, ist dieß ziemlich häufig, — ist Jemand, sage ich, zu Stockprügeln verurcheilt, so stellt man ihn zuerst eine Viertelstunde an den Pranger oder, wie man hier sagt, „an den Lasterpfahl." Dieser Lasterpfahl ist mitten im Dorfe errichtet, und die Jugend hat das Recht, sich manche Freiheiten mit dcm Verbrecher herauszunehmen. Dieser muß dabei, wie zum Spott, den Stock, mit dem man ihn zu strafen gedenkt, in der Hand halten. Darnach holt man ihn ab und führt ihn gewöhnlich in Begleitung einer lärmenden Volksmenge durch das Dorf, indem man ihm bei jedem öten oder lOlen Schritte zwei Hiebe über den Rücken giebt. Man hat dabei eine sogenannte „große" und „kleine Tour". Bei jener muß der Delinquent einen weiteren Weg machen, und die Prügel werden ihm vom Henker gegeben. Vei dieser ist sein Leidensweg kürzer, und sein Peiniger ist ein Dämon mit minder erschreckendem Prügelstrafe in der Schweiz. 87 Namen, hier in Unterwalden der' Vettelvogt. Da der Geprügelte das ganze Dorf mit Geschrei erfüllt und vor jedem Hause einmal seufzt, so kann fast kein Einwohner diesem betrübenden Anblick sich entziehen, und man kann sich denken, wie viel Zartgefühl bei einer solchen Scene abgestumpft und wie viel Rohheit dadurch erzeugt werden mag. Soviel ich habe in Erfahrung bringen können, werden sowohl in Stanz und in Sarnen, als auch in Altdorf und Schwhz die Stockprügel auf ganz ähnliche Weise ausgetheilt. Das Wunderbare ist dabei, daß diese freien Republikaner auf ihrer Volksversammlung diese Straf« weise adoptirt und sich selbst aufgelegt haben; eine Strafart, die zu allen Zeiten jeden freien Mann empört hat, und bei der selbst die Sklaven das tiefste Gefühl von Scham und Ingrimm empfinden, wie ich oft in Rußland zu bemerken Gelegenheit hatte. Der Freischärler, welcher diese barbarische Strafe seiner politischen Principien und Handlungen wegen erlitt, war, wie es schien, ein Mann von nicht ganz gemeiner Bildung. Einen Kupferstich, der seine Execution darstellt, finde ich hier unter den Vernern vielfach verbreitet. Er ist jetzt Bürger der vereinigten Staaten von Nordamerika, wohin er bald nachher auswanderte. Ich möchte wissen, mit welchen Gefühlen er dort an seine alten Bergrepubliken zurückdenkt. Es ist übrigens erst seit 17 Jahren, seit 1832, daß die Prügelstrafe in den übrigen liberalen Cantonen, in Zürich, Bern lc., abgeschafft wurde. Was die Leute mir hier von Stockschlagen, welche die alten Patrizischen Oberamtmänner und Statthalter in diesen Thälern des Oberlandes vor 1630 an Männer, Weiber, Mädchen austheilten, erzählen, klingt wirklich nichts weniger als republikanisch oder eidgenössisch. Noch jetzt leben hier im Narthale Weiber genug, welche Narben auf dem Nucken tra> gen von den Stockschlägen, die ihnen auf Befehl eines alten M Die Landsgemeinde. patrizischen Statthalters, welcher Kon 1826 bis 1830 hier regierte, gegeben wurden. Wir übernachteten in Stanz und setzten am anderen Morgen unsere Rückreise über Kärns nach Lungern fort. An der Straße nach Kärns fanden wir eine ganze Reihe von Sträflingen in schweren Ketten arbeiten, ebenso wie man deren in den ungarischen Städten sieht. Auch in Luzcrn gehen aus den Straßen die Sträflinge in Ketten umher, immer Almofen bettelnd oder in den Hausern der Bürger eine Beschäftigung suchend. Auch solche Dinge contrastiren gewaltig mit der Vorstellung, die wir von freien stolzen Republikanern haben. Nicht weit von Stanz ist der Platz, wo die Nnterwalde-uer alle Jahre im Frühling ihre „Landsgemeinde", d. h. ihren souverainen gesetzgebenden Körper versammeln. Mitglied dieser Landsgemeinden ist jeder Mann, der sein zwanzigstes Jahr erreicht hat, — in Unterwaiden ebenso wie in den übrigen Ur-cantonen, die alle seit uralten Zeiten der Form nach die unbeschränkteste demokratische Verfassung gehabt haben. Ich sage: der Form nach, denn in der That sind es doch immer nur einige Wenige, die Priester und die sogenannten „Herren", welche das Ganze leiten und diejenigen Gesetze durchsetzen, die sie haben wollen. Mein Verner Führer hegte daher auch, ganz anders als Johannes von Müsser, eine große Veracht« ung gegen diese Volksversammlungen der Urccintone und gab mir zu verstehen, daß das Ganze nichts weiter sei, als was die Engländer einen „lmmlmF" nennen. Mein Verner, der oft solchen Landsgemeinden beigewohnt hatte, stellte mir die Sache so dar: Auf der großen Wiese, die zu der Versammlung bestimmt ist, werden eine Tribüne und ein Tisch erricht tet, an dem der Landammann, der Säckelmeister, der Vanner-herr und die anderen Beamten Platz nehmen. In der „I o, ben weimer! den weimer!" 39 Nähe beS Tisches sind Bänke für die Herren vom Herrenstande. Rund herum ist ein Ring mit Stricken und Pfählen gezogen, in den jeder Unterwaldener Mann hineintreten kann, um mit zu stimmen. Zuerst spricht nun der Land-ammann einige Worte, in welchen er den Leuten einige grobe Schmeicheleien sagt oder sie in heitere Laune versetzt. Dann resignirt er auf seinen Posten und schlägt seinen Nachfolger auf den Stuhl deS Landammanns vor. Wer der Nachfolger sein soll, haben die Herren gewöhnlich unter sich schon ausgemacht, und wenn sein Name genannt wird, so schreit das Volk gewöhnlich: „Io, jo, den weimer! den weimer!" (den wollen wir! den wollen wir!), und dadurch ist der Landammann gewählt. Ebenso werden die anderen hohen Posten besetzt. Hat sich vielleicht, wie es zuweilen geschieht, eine Gegenpartei gegen den Vorgeschlagenen gebildet, und tritt etwa ein Redner auS dem Volke auf und versichert, der Vorgeschlagene sei ein schlechter Wirth, ein Betrüger und Schuldenmacher und passe nicht zu dem Posten, er möchte daher lieber Den und Den ernannt sehen, so sagt der Landammann wieder: „Freilich ist Der, den Ihr haben wollt, ein sehr guter Mann, aber waS die Beschuldigungen betrifft, die Ihr gegen den von uns Genannten vorbringt, so weiß ich bestimmt, daß sie nicht wahr sind, und ich glaube, Ihr könnt gar keinen besseren Wahlen", und diesen Versicherungen des Landam-manns pflichtet am Ende auch gewöhnlich die Majorität dadurch bei, daß sie sich für seinen Candidaten erklärt. Die Wahl der Beamten ist auf einer solchen Landsgemeinde in der Regel die Hauptsache. Denn das ganze Parlament ist gewöhnlich nur 3 oder 4 Stunden von 11 Uhr Morgens biS 2 oder 3 Uhr Nachmittags beisammen, und die Beamten regleren dann das Land allein während der übrigen Stunden 90 Die freie Jagd. — „Unser einem fehlt die Couragi!" des Jahres. Sind die Veamtenstellen erst so besetzt, wie die Herren es wünschen, so werden dann noch einige neue Gesetzvorschläge gemacht, die ebenfalls durchgehen, weil das Volk meistens nicht versteht, welche Gewalt es dabei aus den Händen giebt. Am Schlüsse kommt dann noch wohl der Landammann auf irgend einen Gegenstand zurück, den das Volk gut begreift und der eins seiner Lieblingsinteressen be« rührt, wie z. V. auf den Vogelfang, die Jagd und Fischerei. Dabel erhebt dann der Landammann die Stimme und spricht laut: „Mit dem Vogelfang, der Jagd und der Fischerei, damit lassen wir es, denk' ich, beim Alten, so wie wir's von unseren Vorvätern überkommen haben. Die lassen wir frei, wie sie immer gewesen sind." — Dann schreien sie alle: „Ja, ja, damit lassen wir es bei den Bestimmungen unserer Vorväter. Wir sind ja freie Leute. Vogel- und Fischfang sollen frel sein. Und kein Patent für die Jagd, wie sie es in Bern haben müssen, wollen wir auch nicht lösen!" Und somit gehen sie jubelnd auseinander. In Kärns schloß sich ein Unterwaldener Bauersmann an uns an, der nicht zum Herrenstande gehörte. Cs war ein einfacher Tagelöhner. Ich fragte ihn, ob er auch e'me Stimme auf der Landsgemeinde habe. „-O ja!" sagte er, „in den Ring darf ja Jeder hinein, und ich habe manchmal meine Hand gestreckt. Aber meine Meinung habe ich nicht dazu gegeben. Dazu fehlt unser einem die Couragi!" Ich sagte: „Ihr seid ja aber ein ganz freier Bürger und könnt in der Volksversammlung dreist Euere Meinung sagen!" „Ja, das ist wohl wahr. Aber, wie gesagt, es fehlt unS die Couragi. Der gemeine Mann luegt halt auf die Herren. Was die Herren machen, das ist halt gemacht. Unser Eins streckt bloS die Hand aus." Viehtreibender Aristokrat. 91 Sonst waren die Unterwaldener und ihre Nachbarn, die Leute aus dem Verner HaSlithale, sehr gute Freunde, und sie kamen bis noch vor wenigen Jahren auf den Bergen, welche ihre Thäler trennen, häufig zusammen, um Ring-und Kampfspiele zu feiern, wie die Bewohner benachbarter Thäler dieß häufig aus den sie trennenden Bergrücken zu thun pflegen. Bei der jetzigen Spannung zwischen den Urcantonen und den neumodig liberalen Vernern hat dieser freundnachbarliche Verkehr völlig aufgehört, und jene Spiele sind nun ganz eingestellt. Da mein Führer ein Freischärler war, so war es mir daher besonders interessant, sein Benehmen hier den Leuten von Unterwalden gegenüber zu beobachten. Zu meiner Verwunderung verstand er sich sehr bald und sehr gut mit unseren neuen Bekannten, und ich merkte an ihren Reden bald, daß es auch hier in Unterwalden Leute gab, welche den Grundsätzen der Freischärler weit mehr huldigten, als denen ihrer Herren. Unteiwalden gilt im Uebrigen für einen der einigsten und ruhigsten Cantone der Schweiz, in welchem unglücklichen Lande es sonst fast keinen einigen Canton, keine einige Stadt und kein einiges Thal giebt. Wir gingen über die reizenden Höhen von Kavns, traten jenseits des Karnser Waldes wieder in Unterwaldcn nid dem Walde ein und wanderten von Stufe zu Stufe wieder zum Sarner See und von diesem zum Lungern-See hinaus. Hier fanden wir einen Mann, der ein hübsches fettes Kalb hinter sich her zog, und da, wie mein Führer sagte, dieser Mann einer vom Herrenstande war, von dem ich während meiner drei Tage in Nnterwalden so viel gehört hatte, ohne Gelegenheit zu haben, ein Mitglied dieses machtigen, gefürchteten Herrenstandes besonders nahe zu sehen, so war ich froh, die Bekanntschaft dieses Kalbführers zu machen, der, unsere Gesell- s2 Der Senator als Gastwirth. schaft vergrößernd, längs des Sees mit uns nach Lungern hinauf ging. Es war ein schöner, großer, wohlgekleideter, junger Mann, der, obwohl er ein Kalb zog, in der That in seinem ernsten Wesen und seiner ganzen Haltung einen Anstrich von Würde und Noblesse hatte. Seine Familie hatte schon seit alten Zeiten hohe Aemter in der Republik bekleidet. Sein Vater, ein Wirth in Lungern, war Vannerherr gewesen, sein alterer verstorbener Bruder sogar Landammann, und er selber war noch jetzt Senator, d. h. Mitglied des obersten Nathes des Landes, der im Namen der Landsgemeinde die Staatsangelegenheiten leitet. Nebenher leitete er noch die von seinem Vater ererbte Gastwirthschaft in Lungern im Verein mit seiner Mutter und einem jüngeren Bruder. Ich beschloß, die Nacht bei ihm in Lungern zu logiren. Welch eine Idee, einen Senator, einen Rathsherrn, einen NeichS-rath mit einem Kalbe ziehen zu sehen, das er sich im nach« sten Dorfe gekauft hat, um es fett zu machen und nachher stückweise seinen Gasten gebraten zu serviren. Aber dieß ist ganz urschweizerisch, und ich bin schon etwas an solche Dinge gewöhnt. Ich habe hier schon viele Großräthe gesehen, die, wenn sie in der Hauptstadt des Cantons sind, im Parlament des Staats sitzen, zu Hause aber den Bauern und reisenden Handwerksburschen für einen halben Batzen ein Glas Wein einschenken, oder Statthalter, die in ihrer Jugend Geis-buben waren, oder Vannerherren (Kriegsminister) oder Regierungspräsidenten, die den Fremden wie Kellner hinter dem Stuhle aufwarten. Längs des hohen Ufers des Sees von Lungern hmwandernd pflog ich mit meinem Senator die eifrigsten Gespräche über die Staatsangelegenheiten von Unterwal' den, wobei er sich jedoch, wie es einem Haupte des Landes geziemt, mehr zurückhaltend mit seinen Antworten zeigte, Sold und Vermögen. 93 als ich mit meinen Fragen. Ich fragte ihn, was sein Bruder als Landammann an Sold erhalten habe. Er sagte: 20 Schilling (1 Franken) täglich, welches der altherkömmliche und gewöhnliche Sold eines Landammanns von Unterwalden sei. Es giebt in England einen Schuldirector (den Headmaster von Eaton), der sich auf 4000 Pfund Sterling steht, und in Irland kenne ich einen Richter, der als solcher 5000 Pfund Sterling einnimmt. Demnach hat der erste Mann im Staate von Unterwalden jährlich ungefähr so viel Gehalt wie jener englische Schuldirector und dieser irische Richter in einem Tage. Die anderen obersten Beamten deS Landes haben eine noch geringere Besoldung, und man mag darnach auf die Wohlfeilheit dieses Staatshaushaltes schließen. Ich könnte, wenn es nicht zu weitläufig wäre, das ganze Budget von Unterwalden, welches ich erhalten habe, mittheilen. Doch will ich nur soviel sagen, daß es in Deutschland eine Menge Edelleute giebt, die für ihr Haus, ihre Bedienten, ihre Förster, Beamten ic. ein unvergleichlich größeres Budget haben, als dieses Hirtenvolk für seinen Staat. So gering die Besold« ungen der Staatsbeamten sind, so gering ist auch das ganze Nationalvermögen und das Vesitzthum der Einzelnen. „Gerade heute/'sagte mein Senator, „ist die reichste Frau von Unterwalden gestorben. Sie war eine „Hochhuustochter von Wolfenschießen" *) und hatte nicht weniger als 800 Gulden reine Nevenueen jährlich/' Ein Banquier in London könnte wohl diese ganze Nation auskaufen, die Summe, in einen Wechsel verwandelt, in die Tasche stecken und fragen, warum denn seit tausend Jahren um einer solchen Kleinigkeit willen die Leute soviel Geschrei gemacht, soviel Muth, Tapferkeit und Patriotismus aufgewandt hätten. *) D. h. elne geborene Hochhuus aus Wolfenschießen. 94 Unterwalbener Landbuch. Indem ich dem Kalbe meines Reichsraths, das zuweilen nicht von der Stelle wollte und ihm viel Noth machte, einen kleinen Stoß gab, fragte ich ihn, ob es auch verschiedene politische Vereine in Unterwalden gäbe. „Ach nein," erwiderte er, „ich kenne hier gar keine Parteien. Höchstens giebt es einige unnütze, unruhige und schlechte Subjecte, welche man bestrafen lassen müßte. Das ist AlleS." Mir fiel dabei eine Aeußerung von Louis Philippe ein, der auch kürzlich einem seiner Unterthanen, der von den verschiedenen Parteien in Frankreich reden wollte, ins Wort siel und versicherte, er kenne gar keine verschiedenen Parteien in seinem König« reiche. Auch die Dogen von Venedig haben nie etwas von verschiedenen Parteien in ihrem Staate hören wollen. Die Gesetze des Landes, die von Alters her gegolten haben unv die zu verschiedenen Zeiten von den Landsgemeinden beliebt und bestätigt wurden, sind in dem sogenannten „Landbuche" gesammelt. Dieses Landbuch ist noch nicht gedruckt worden. In jeder Gemeinde aber befindet sich ein geschriebenes Eremplar desselben, das bei dem Weibel der Gemeinde aufbewahrt wird. Jeder, dessen Interesse es ihm wünschenswert!) macht, ein Gesetz nachzulesen, geht nun zum Weibel, „um inS Landbuch zu luegen." Nachdem ich mir bei der würdigen alten „Frau Bann erHerrin," die in Lungern ein treffliches und höchst empfehlenswerthes Wirthshaus hält, eln gutes Abendessen und Nachtlager bestellt hatte, ging ich auch zum Weibel, „um ins Landbuch zu luegen," über das ich einige Mittheilungen machen will, weil vermuthlich nur wenige Reisende sich die Mühe nehmen, auf ihren Reisen in der Schweiz neben dem Rig!, den Secen, den Gletschern, auch noch solche alte schweizerische Merkwürdigkeiten zu besichtigen und zu schildern. Ich fand den Weibel sehr bereit, meinem Wunsche zu Unbestimmte, rohe Abfassungsweise des Landbuchs. 95 Willfahren, und er legte mir den alten Unterwaldener Gesctzes-Coder vor. Es war ein mäßiger Folioband, in dem sich ebenso viele kurze Gesetze, als leere Seiten zum Nachtragen der allenfalls künstig auf der Landsgemeinde beliebten Ge« setze befanden. T>a in Unterwalden alle Jahre nur drei bis vier Stunden der Discussion und der Abfassung der Gesetze gewidmet werden, so kann natürlich manches Jahrtausend hingehen, ehe ihr Gesetzbuch auf ahnliche Weise anschwillt, wie die Codices anderer Lander, in denen man das ganze Jahr hindurch Tag und Nacht (ich denke an die englischen Parlamentsverhandlungen) Gesetze macht. Ich konnte in wenigen Stunden so ziemlich die Hälfte des Ganzen durchlefen und war erstaunt über die unbestimmte, ungehobelte, rohe Ab-fassungsweise der Bestimmungen eines Coder, der noch jetzt im I9ten Jahrhunderte in einem europäischen Staate Giltigkeit hat. Mir kam es vor, als entzifferte ich alte Runen und hatte Gesetze vor mir, wie sie bei den alten Franken, Allemannen und Vurgundionen aufgesetzt gewesen sein mögen. Selbst der Sachsen- und Schwabenspiegel schien mir gegen dieses Unterwaldener Landbuch eine civilisirte Lecture. Um eine kleine Probe zu geben, will ich hier einmal das ganze Capitel über die Landstraßen in Unterwalden hersetzen. Es lautete folgendermaßen: „Wir haben aufgescht und gemacht von wegen der Landstraßen : Allwo Landgüter von beiden Seiten an die Straße stoßen, sollen sie den halben Theil der Kosten geben, wo Noth ist zubauen, und wo ein Baumeister heißt bauen. Aber wo ein Landgut innerhalb an die Straße stößt, soll es den vierten Theil der Kosten geben. Und wenn Giner, der Gut an der Straße hat, für sein Theil an der Straße, da ihm befohlen wird, selbst bauen will, der mag es thun, jedoch fürderlich. Oder aber, wenn er es nicht fürderlich thut, soll der Baumeister selbsten Werkleute dingen." 96 „Meine gnädigen Herren." Man denke sich nun, daß dieser Artikel alle Bestimmungen des Unterwaldener Landbuches enthält, und dieß in unserem Jahrhundert, in welchem der Straßenbau einer der vornehmsten Gegenstände ist, welcher die Gesetzgeber und Staatsmänner beschäftigt. Ich fragte vergebens nach neueren Bestimmungen über den Straßenbau. Man versicherte mir, man habe keine. Ich suchte das ganze Landbuch deswegen durch und fand nichts Anderes, als jenes Dutzend Worte. Nun sage man mir noch, daß nicht auch unsere Zeit noch Staaten habe, die denen des goldenen Zeitalters frappant ähnlich sehen. Können die thcssalischen und arcadischen Hirten einfachere Bestimmungen über den Straßenbau in ihren Thalern gehabt haben? Ein solcher Staat wie Untcrwalden verhält sich zu einem unserer Staaten, wie ein Apfelkern zu einem Apfelbaume. Ein Artikel aus der Rubrik über das Kriegswesen lautete so: ,,An der Landsgemeinde von 1791 ist meinen Gnadigen Herren über das Mnsterungsproject zu disponiren überlassen, in der Meinung, daß manniglich soll ererciren lernen." Diesem Artikel zufolge können also die „gnadigen Herren", wie es scheint, so ziemlich jeden Unterwaldener als Soldaten enroliren und erer-ciren lassen und über ihn disponiren, wie sie wollen, eben so, wie sie jener Bestimmung über die Landstraßen zufolge so ziemlich überall da Straßen bauen lassen können, wo sie es zu befehlen für gut finden. Wie originell und naiv ist eS dabei, daß der Secretair oder Protokollist, der diese Bestimmungen ins Gesetzbuch eintrug, sehr häuftg in der ersten Person spricht: meine gnädigen Herren. „Meine gnadigen Herren" spielen eine sehr große Rolle in dem Landbuche. Sie kommen fast auf jeder Seite ein Mal vor, und wie die Könige die Anfangsbuchstaben ihrer Namen, die sie so oft schreiben, in einer wunderlich geschnörkelten Chiffre zusam- Die „Herrlichkeiten." 97 inenschmelzen, so hat hier der Schreiber milden Worten: „mcine gnädigen Herren" verfahren. Gewöhnlich stehen nur die Anfangsbuchstaben „M. G. H." hübsch und groß gezeichnet mit allerlei Schnörkeln da. Jeder Unterwaldener weiß schon, daß damit die „Herrlichkeiten," so werden die vom Herrcnstande auch zuweilen im Landbuch genannt, gemeint sind. Man denke nun an diese Kälber treibenden und Kellnerdienste verrichtenden „Herrlichkeiten," um die Sonderbarkeiten dieses originellen kleinen Hirtenvolkes durchzufühlen. Freilich muß ich bemerken, daß auch die Landsgemeinde immer die „hohe Landsgemeinde" genannt wird, und daß man von ihr, als dem eigentlichen Souverain des Landes, immer mit einem gewissen Respect redet. Doch verhält sich diese hohe souveraine LandZgemeinde zu den Herrlichkeiten vom Herrenstande vermuthlich ungefähr so, wie daS Ansehen der letzten Mero-vingischen Könige zu ihren Majordomen. Auch in anderen Urcantonen finden sich ganz ähnliche Verhältnisse und ganz ahnliche antediluvianische Landbücher. Doch sind diese letzteren in einigen Cantonen bereits etwas besser redigirt und gedruckt, z.V. in Uri. Es versteht sich, daß Vern und andere größere Cantone, in denen der Staat sich in einem höheren Grade von Entwickelung befindet, ihre weitläufigen und fleißig ausgearbeiteten Gesetzbücher haben. Die politischen und geselligen Zustände in den verschiedenen Schweizercantonen stehen auf sehr verschiedenen Stufen. Die französischen Cantone sind in allen Beziehungen am weitesten entwickelt. Die volle Bedeutung des Lebens, sagt Vurdach, wird uns erst dann klar, wenn wir auch seinen Keimen nachspüren und seme ersten Regungen belauschen. So wird uns die volle Bedeutung unserer Staatseinrichtungen erst klar, wenn man solche Staaten wie Unterwalden gesehen hat. Kohl, Alpenreisen. I. 5 HK Scewlisten. Ich habe schon oben gelegentlich darauf aufmerksam gemacht, daß man auch hier in diesen Alpenthalern beginnt, die Seem trocken zu legen, oder wenigstens die Ausdehnung derselben möglichst zu beschränken, und daß malt namentlich dem See von Lungern einiges Land abgewonnen hat. Ein See, so sehr er auch dem Maler und Fischer gefallen mag, ist für den Oekonomen und Landmann am Ende doch weiter nichts als eine Wüstenei, ein vollkommen ertragloses Ober« siächenstück. Und in jedem Lande, in dem eine vernünftige Staats- und Hauswirthschaft mstirt, sollte man daher darauf ausgehen, die Seeen sämmtlich abzuleiten und auszutrocknen. In der That ist für die Verringerung dieser Art von Wüsteneien in den letzten 30 industriellen Jahren in allen Ländern yuropa'3, die ich kenne, mehr geschehen, als früher in Jahrhunderten. Sogar in Livland, Kurland, Dänemark und Schottland habe ich viele Unternehmungen dieser Art beobachtet, und in Holland sah ich Veranstaltungen, die man getroffen hatte, um mit Hilfe von Dampfmaschinen ein ganzes ziemlich großes Binnenmeer auszupumpen. Ich besah daher den Grund und Voden, den man aus dem See von Lungern vor einigen Jahren gewonnen hatte, mit besonderem Interesse. Die Verhältnisse waren hier zu einer theilweisen Ableitung des Sees sehr günstig. Der Riegel oder Vergabsatz, der den See vorn eindämmt, der sogenannte Kaiserstuhl, ist nicht sehr breit und also leicht zu durchbohren. Man hat uon unten herauf bis etwa 400 Fuß unter die ehemalige Oberssache des Sees durch ihn einen Stollen hindurchgetrieben, durch diesen das Wasser abgelassen und auf solche Weift an dem oberen minder tieferen Ende des Sees eine Fläche von circa 100 Morgen Landes gewonnen. Die armen Thalbewohner konnten nicht Capital genug aufbringen, diese Ar' Gefährliche Entwässerung. 99 belt auszuführen, und die Berner, ihre politischen Feinde, streckten ihnen das Nöthige vor. Die ganze Geschichte der Ausführung dieses Werkes, die ich mir erzählen ließ, möchte auch den Leser wohl manche Blicke in die hiesigen eigen, thümlichen Verhältnisse thun lassen. Doch würde mich ihre Mittheilung zu weit führen. Aber eines kleinen Nebenereig« nisseS will ich erwähnen, an dessen Möglichkeit Niemand gedacht hatte, und dab beweisen kann, wie Vieles man bei der Ausführung solcher Arbeiten zu berücksichtigen hat. Man hatte kaum die Wassermasse — natürlich sehr allmälig, um das unterhalb liegende Thal nicht zu gefährden, — abgelassen, da singen die alten, nun vom Wasser entblößten Ufer an einzelnen Stellen an, zu bersten und zu brechen, und es schoben sich mit den herabsinkenden Erdmassen auch mehre kleine Häuser, Gärtchen und Wiesen in die Tiefe hinab. Vorher waren sie durch den Druck der großen Wassermasse zurückgehalten worden und lösten sich nun, da dieser Gegendruck aufhörte. Für Jemanden, der eben so viel Sinn für daS Industrielle als für das Pittoreske hat, boten die neugebauten Haustrchen in der Tiefe des alten Seeuftrs und die frischen Felderchen und Wiesen einen sehr anziehenden Anblick dar. Es war während meiner verschiedenen Beschäftigungen Abend geworden, und die traulichen Lichterchen brannten da unten in der Tiefe so heimlich und gemüthlich, wo sonst seit Beginn der Welt das dem Feuer so feindliche Element herrschte. Es giebt indeß nur wenige Schweizersecen, deren User und Umgebungen so günstig zu einer künstlichen Ablassuug gestaltet sind, wie die des Lungern-Sees. Die meisten von ihnen sind erstaunlich tiefe, mit Wasser ausgefüllte Schlünde, und ihre Ufer gehen meistens gleich unter einem so steilen Winkel abwärts, daß, 5* 1l)0 Utbcrgang über den Vrünig. wenn man sie auch 200 bis 300 Fuß tiefer legen wollte, man doch nur wenig Land an den Seiten gewinnen würde. Ein Fußreisender hat die Quartiere und Schlafstädten, wo ihm Alles, Zimmer, Mahlzeit, Bett :c., so recht com-fortabel und gemüthlich bereitet wurde, in dankbarerem Andenken, als ein Zuhausebleibender die beßten Diners und die brillantesten Soireen. Daher denke ich noch immer mit Vergnügen an den Abend zurück, den ich bei jener alten, achtbaren und, wie ich sagte, einflußreichen Gastwirthsfamilie zu< brachte, bei welcher, wie es bei achtbaren Leuten zu fein pflegt, der Wein kraftig, der Braten zart, das Brot weiß, die Butter frisch, das Bett bequem und auch die Gesellschaft gut war. Es war mir ein wahrer Genuß, mich mit diesen einfachen, ernsten, gescheiten, vermuthlich auch strengen Aristokraten eines Hirtenvolkes zu unterhalten, und am anderen Morgen, als ich frühzeitig Abschied nahm, interessiito es mich nicht wenig, den Senator und seinen Bruder beim Ackerwagen zu treffen, an dessen Radern sie etwqs zu hämmern und zu repariren hatten. Der Uebergang über den Vrünig am frühen Morgen war dieß Mal reizend, und er wird mir noch lange in sehr gutem Andenken bleiben. Hübsche Spaziergange in imeressanten Gegenden lassen eben den Eindruck auf uns zurück, wie poetische oder musikalische Genüsse, wie die Lecture eines an? sprechenden Gedichts oder wie eine schöne Musik. Obgleich es noch früh Morgens war, so ging es doch auf den Stiegen des steilen Weges zum Vrünig fast so lebendig her, wie auf den Treppen eines Bergwerkes. Es kamen uns mehre Passagiere entgegen und zwar nicht, wie im Sommer, ausländische Touristen, sondern lauter inländische Staffage: Laubsllmmler. 101 ein junger Mann mit seiner Frau, der nach Luzern reiste,— Führer, mit Hutschachteln und Kasten beladen, hinter dem Paare her kletternd,— weiter hin ein Paar Handelsreisende, die nicht weniger als drei Männer, unter großen Koffern sich bückend, bei sich hatten, — dann arme Leute aus Unterwalden, die große Laubbündel herabschleppten. Dies; Alles kam so nach und nach aus den dicksten Nebeln, die unseren aufsteigenden Pfad verhüllten, hervorgetaucht. Die Leute gaben uns die schönsten Beschreibungen von dem Wetter auf der Höhe des Passes und sagten, sie hätten soeben die Sonne über den Wolken in der herrlichsten Pracht aufgehen sehen. Der Vrünig, als ein sehr niedriger Paß, wird im Winter ziemlich häufig statt der höheren, dann unzugänglichen Passagen benutzt. Der Anblick der armen Laubträger that mir jedes Mal wehe. Die Leute legen sich oft dicht zusammengepackte Bündel von anderthalb Centner auf den Nacken. Der Kopf wird dabei ganz heruntergedrückt und zerquetscht, und das von Schweiß triefende, roth aufgedunsene Gesicht bekommt dabei einen sehr traurigen Ausdruck von Anstrengung und Pein. Nin Bildhauer, der dm Atlas darstellen wollte, müßte die Köpfe dieser Leute siudiren. Mit ihren hohen runden Laub-lnindeln, die sie mit den Armen unterstützen, gleichen sie alle jenem Globusträger. Ich glaube, die schweizerischen Laubträger übertreffen, wenn auch nicht den Atlas, doch die berühmten Porter der englischen Häfen. Diese tragen zwar auch anderthalb Centner und noch mehr auf dem Nacken, aber immer nur kurze Strecken und auf den schönen stachen Quais der Londoner und Liverpooler Docks. Aber auf welchen langen und unbequemen Fels-, Wald- und Vergwegen balanciren Jene herab! Erfreulicher alg die Begegnung mit diesen Schwerbe- 102 Die Weidhausli. lasteten waren uns die Hirten, die, mit Milch auf dem Rücken, ebenfalls in mcht geringer Anzahl uns entgegenkamen. Es waren dieß kleine Viehbesitzer aus Unterwalden, die auf dem Verge noch einige Kühe in ihren „Weidhausli" (Weide-Häuschen) stehen hatten, und die nun die Milch vom heutigen Morgen und vorigen Abend herunterbrachten. Solchen Leuten, die Milch auS den Nergen bringen, begegnet man hier fast den ganzen Winter hindurch. Gegen Abend finde ich hier selbst jetzt, wo der Schnee zwei Fuß hoch liegt, alle Verg-pfade von solchen Melkern belebt, die, ihre blanken Milch-gefäße auf dem Rücken, bergauf steigen, um die Milch aus dem Schnee und den Wolken herabzuholen. Sie haben nämlich außer ihren großen Alpcn, wo ihr Vieh im Sommer geht, noch in niedrigeren Berghohen kleine Heuwiesen, auf denen sie sogenannte „Weidhausli" für das Vieh erbauen. Das Heu, das sie nun auf diesen Vergwiesen gewinnen, wird von dem Vieh, das sie dort einstalliren, an Ort und Stelle verzehrt. Da diese Vergwiesen oft eine oder zwei Stunden weit von ihrem Wohnorte liegen, so sparen sie dadurch die Mühe des sehr schweren Transportes des Heues, und zugleich behalten sie den Dünger an Ort und Stelle, den sie sonst, um die Wiese zu düngen, ebenfalls weit hinausschleppen müßten. Freilich müssen sie dafür nun täglich ein Mal hinauf, um dle Milch zu holen. Doch ist dieß für sie ein leichtes Geschäft, und die Zeit, die sie dabei verbrauchen, schlagen sie gar nlcht an, da sie im Winter ohnedieß nichts zu versäumen haben. Meistens stehen oben in der Vergwildniß auch so ein Paar Weldhäusli nachbarlich beisammen, und die Hirten finden dann Abends Gesellschaft oben, mit der sie rauchend und plaudernd, nachdem sie das Vieh besorgt haben, zusam-mensitzen. Am Morgen melken sie dann die Kühe noch ein „Weit'r uhi?" und „Weit'r ohi?" 103 Mal, verstopfen und verschließen ihren Stall sorgfältiger gegen die Kälte als gegen die Diebe, welche sie oben nicht fürchten, und bringen dann ihren Milchvorraih gemächlich nach Hause, Sie nennen dieß Geschäft: „Hirte go" (Hirten gehn); „Hirten" heißt soviel als: dieKühs besorgen. Die Wiesen und Heuvor? rathe oben sind gewöhnlich nur klein und meistens am Ende des Decembers verbraucht. Dann verstreuen sie den Dünger auf die Wiese und führen das Vieh zu ihrer Wohnung ins Thal hinab, wo nun das Heu der Thalwiesen bis zum Frühjahr durchhelfen muß. Manche aber, wie gesagt, haben oben auch so bedeutende Heuvorrälhe, daß sie den ganzen Winter hindurch in die Verge Hirten gehen. Statt eines guten Morgens gaben unS diese Leute alle eine Frage. Einige, die wußten, woher mein Führer war, fragten uns: „Muß's heim st?" (Muß e5 heim sein? d. h. müßt Ihr schon nach Hause?) Diese Frage ist bei Bekannten hier sehr gewöhnlich. Die meisten aber fragten: „weit'r uhi?" (wollt ihr hinauf?) worauf dann mein Führer mit der Frage antwortete: „Weit'r ohi?" (wollt ihr hinab?). Mit diesem „Weit'r uhi" und „Weit'r ohi" kommt man hier jeden Berg hinauf. Nach und nach merkten wir, daß die graue Decke über uns sich bläuete, und es dauerte nicht lange, so brach der helle, klare Himmel durch. ES geschah dieß gerade, als wir bei der kleinen Kapelle auf dem Gipfel des Vrünigs anlangten, und die ganze Scenerie dieses hübschen Alpenpasses lag nun in einem höchst reizenden Winterschmucke vor unS. Der Nebel hatte wahrend der Nacht offenbar über dem Passe gestanden; denn alle Väume waren bereift, und die Sonne hatte ihn im Aufgehen zu beiden Seiten in die Thäler hinabgedrückt. Dieß thut sie allerdings zuweilen, viel häufiger aber 104 Relfkrystall-Schmuck. wirkt sie das Gegentheil, lockert die Nebeldecke und hebt sie empor, während die kalte Nacht sie wieder tiefer ms Thal hinabfallen läßt. Die Bereifung der Bäume war wirklich prachtvoll. Die Nadeln saßen alle in der Richtung des Paß« durchschnitts von Norden nach Süden, so wie der Luftzug der Bise gestrichen war. Alles war mit ihnen geschmückt, von den größten Bäumen bis in die kleinsten Zweige. Ich habe die Nadeln nie so groß gesehen. An den dickeren Aestchcn hatten sie über 2 Zoll Lange. Dabei kam ein Umstand vor, den ich noch in keinem meteorologischen Werke über Reifbildung bemerkt und beurtheilt gefunden habe. Der an den Acstchen hingereihte Reifbesatz hatte mehre Absätze, von denen der erste am Aste dicker und länger, und die äußeren, die aus ihm hervorgewachsen zu sein schienen, kürzer und dünner waren, etwa so: Viele Gegenstände, die im Sommer allcs Schmuckes entbehren, waren auf das Wundervollste mit Reifkrystallen geschmückt. Die langen Dornen aller Gebüsche hatten diesen Zierraih; eben so die verdorrten Schilfstenqcl und die dürren Stroh- und Heuhalme, die der Wind in die Zweige der Bäume geführt hatte. Auch an allen Spinnefaden hing der zarteste und regelmäßigste Anftug. Der Winter hatte hier also Dingen Schmuck verliehen, die der Sommer zu zieren nicht im Stande ist. Die Sonne, die sich bereits über die Verge erhoben hatte, warf die klarsten Strahlen in dieses zauberische Krystallreich, und da sie zugleich äußerst warm Winter im Thal und Sommer auf dem Verge. 105 waren, während unten im Thale die empfindlichste Kälte herrschte, so kam es uns vor, als wohnten wir hier über den Wolken einer Vermählung von Sommer und Winter bei. Der Nebel und der Nordwind hatten sich in der Nacht etwa 300 bis 400 Fuß über den Vrunig erhoben. Denn nur bis zu einer so hohen Linie waren alle Bäume mit weißem Win-terblüthenstaube bestreut. Oberhalb dieser Linie hatten alle Bäume ihre natürliche Farbe. Wir hatten hier also eine Eisregion unterhalb einer höheren Region, die vom Eise frei war. Es ist -nicht selten, daß Wärme und Kälte sich hier in den Bergen so auf den Kopf stellen. So z. V. hatten wir diesen Winter oft daS Phänomen, dasi unser Thal mit dicker Schneedecke überzogen war, wahrend der Schnee an beiden Seiten der Thalabhänge wegging. In der That hat die Schneedecke im Thale den ganzen Winter ganz unverrückt gelegen, während sie an den Bergen, wo die Sonnenstrahlen mehr Kraft haben als auf dem ebenen Thalboden, verschwand und wiederkam. Zuweilen war der Schnee an dem oberen Theile der Verge mehr over weniger völlig weggefegt, wahrend dic untere Partie der Berge ebenso wie das Thal selbst damit bedeckt war. Es hatte dann in den oberen Gegenden ein warmer Wind geweht, während im Thale eine kalte Luftschicht den Schnee constrvirte. Wir haben daher auch mitten im Winter (im Monat Januar) hier auf den Abhängen der Berge blühende Blumen gefunden (z. V. Gentianen). wahrend auf dem Boden des Thales selbst keine einzige eristirte. Leider war unser munterer Gang auf den sonnigen Höhen hin nur so lang, als der Brünig breit ist, und auf der anderen Seite des Passes gelangten wir wieder an das unwandelbare Nebelmeer. Eine Zeit lang führte unser Fußpfad 5" 106 Die „Feget." noch an dem Rande dieses Meeres hin, und auch hier waren, wie auf der anderen Seite des Vrünigs, die Gehölze und Verg-abhänge von zahlreichen Menschen belebt. GZ waren fast lauter Laubsammler. Da die Leute kein Korn bauen und folglich auch kein Stroh haben, so ist ihnen das Laub als Streu von größter Wichtigkeit. Sie fegen daher um diese Zeit (im Spätherbste) jeden Felsen und jeden Waldwinkel mit Besen rein und sammeln alle die dürren Blätter auf das Sorgfältigste. Weil das Laubsammeln für diese Zeit des Jahres ihr Hauptgeschäft ist, so haben' sie dafür, wie für die Zeit der Weinlese oder der Kornärnte, sogar'einen eigenen Namen. Sie nennen sie „die Feget" (die Fegezeit). Dieses Wort ist ganz so gebildet wie viele andere ähnliche Worte des Schweizer-Dialekts, z.V. folgende: „Vluomet" (Vlüthe-zeit), „Aerntet" (Aerntezeit), „Winmet" (Neinlesezeit), „Holzet" (Zeit des Herabschaffens des Holzes), „Spinnet" (Spinnezeit, auch Epimlgesellschaft), „Kilthet" (Kilthezeit, auch so viel als Zusammenkunft zum Kilthen). . Tour ins Dberhasli. Zn Holland fließen alle Flüsse, Flußarme und Bäche nicht in eigenen natürlichen Betten, sondern in künstlichen Gräben, welche der Mensch ihnen schuf. Die wilden Flußgötter sind dort vollständig gebändigt nnd gesittigt. Auch dem Meere haben die Holländer Grenzen gesteckt. Sie weisen mit sehr künstlich geformten und berechneten Fortificationen seine Angriffe Bekämpfung des Meeres. 107 zurück und lassen von seiner andringenden Fluth nur soviel ins Land, als gut ist, um die Schiffe landeinwärts zu tragen und den Handel zu fördern. Die binnenlandischen Eceen, wenn sie zu groß sind, werden mit zweckmäßig construirtm Maschinen ausgepumpt oder auf ein kleineres Gebiet beschränkt, und sogar in die Tiefe der Erde steigen die Leute hinab, um auch den versteckten Quellen, welche der Oberfläche des Bodens schaden könnten, durch ein unterirdisches Canalfpstem ihren Lauf vorzuschreiben. Man kann sagen, die Holländer haben die Najaden und Oceaniden mit sammt ihren Flußurnen und Töpfen zum Lande hinausgejagt und das Wasser selbst in ihren eigenen Urnen und Töpfen aufgefangen, um es so im Lande zu vertheilen, wie es dem rationellen Ackerbau, einer vernünftigen Viehwirthschaft und dem Interesse des Handels und Verkehres am bcßtcn conumirt. Ebenso haben sie auch das Land in ihre bildende Hand genommen. Sie überlassen es nicht dem Zufalle, ob sich irgendwo neues Land bilden soll oder nicht, sondern sie lassen hier oder dort, wo es thunlich ist, Aecker anwachsen und wissen sogar mit Hilfe einer wunderbaren Pflanze aus rollendem Sande Hügel und Berge zu ihrem Schutze emporzuziehen. Sie haben also nn ganz künstliches Land, das sie ebenso umbilden und zu-rechtschneiden, wie Dieffenbach den menschlichen Körper. Nur dessen, was sich in der Atmosphäre luftig bewegt, sind sie noch nicht Meister geworden und den Wind können sie noch nicht in Canalen nach ihrem Willen fließen lassen, sowie sie auch Regen, Schnee und Hagel noch nicht so regelmäßig zu leiten Uermögcn, wie es wohl wünschmewmh wäre. Natürlich sollte jede Nation das Erdoberftächenstück, welches sie bewohnt, so künstlich zu organisiren suchen, wie es die Holländer mit dem ihrigen gethan haben. Iu jedem Lande 108 Wildheit der Alpenströme. sollte man streben, soviel als möglich aller wilden Naturkräfte Meister zu werden und sie so zu reguliren, wie es einer guten Nationalökonomie am meisten gemäß ist. In jedem sollte der Lauf der Ströme, wo er zu schnell ist, gehemmt werden. Wo das Wasser stagnirt, sollte es in Fluh gebracht werden, der Voden, wo seine Unebenheiten hinderlich sind, sollte applamrt, wo er zu niedrig ist, sollten Erhöhungen gebildet werden. ES genügt, einen Blick auf die Oberfläche fast aller unserer Länder zu thun, um zu erkennen, wie weit sie noch von einer Musteroberfläche, wie man sie sich denken kann und wie sie bisher nur in Holland hergestellt ist, entfernt sind, wie wenig selbst das leicht Aus-führbare o'ber Mögliche geschehen ist und welches große Feld der Thätigkeit den Nachfolgern unserer jetzigen Ingenieure da noch offen steht. Vor Allem ist die Oberfläche der Alvenländer am weitesten von jenen idealischen Oberflächenzuständen entfernt, und es ist hier, wo der Mensch so oft von der Natur überwältigt wird und wo die Kunst mit der Natur den ausdauerndsten Kampf hätte führen sollen, vielleicht am allerwenigsten dafür ge< schehen. Die meisten — fast alle — Ströme stießen hier noch mit der ihnen angeborenen Wildheit in Flußbetten, welche die bildende Hand des Menschen noch nicht berührt hat und die noch denselben uncultivirten Anblick gewahren, den sie kurz nach der Sündfluth darboten. Träge bleiben sie stecken n schmuzigen faulen Morästen, oder leidenschaftlich stürzen sie sich durch die schönen Aecker und Wiesen, wie es ihre wilde Laune heischt. Das Erdreich setzt sich an oder löst sich ab und verschmilzt in den Flüssen, wie es der Zufall, zu dessen Meister sich der Mensch noch nicht gemacht hat, gebietet. Jahrtausende lang sind hier Steine, Erdhaufen nnd Schwerer Kampf mit der Natur. 109 Schneebällen auf die lebenden Geschöpfe, auf ihre Wohnungen und Aeckcr tödtend und verwüstend herabgefallen, ohne daß der Mensch, wenngleich klagend und verzweifelnd, die Hand gerührt hatte, die Wildniß, in der er sich eingenistet hatte, zu cultiviren. Wir pflegen da, wo sehr viel von uns verlangt wlrd, oft am wenigsten zu thun und dann selbst das Mögliche zu unterlassen. Es ist vielleicht daher nur die Ueber* macht der Natur und der Alpen daran Schuld, daß die Kunst hier die Flügel so lange lahm hangen ließ und daß die In< genieure und Geometer, die in den ebeneren Ländern längst so Vieles geleistet haben, erst in der neuesten Zeit auch in den Alpen angefangen haben, das alle wilde Chaos ein wenig zu reguliren und den wilden Naturgöttern die Flügel einigermaßen zu stutzen. Die Seeen, welche sich hier zum Austrocknen darbieten, sind unergründlich tief, die Flüsse, deren Lauf man rectificiren soll, sind unbändig, die Erdhaufen, die man befestigen sollte, sind auseinander brechende Verge, die Steine, welche herabfallen, sind zertrümmernde Gebirge, und die Wege, die man applaniren muß, führen durch die Wolken. Ich glaube, daß mau in demjenigen Theile der Alpen, welcher zu Oesterreich gehört, in neueren Zeiten mit der zweckmäßigen Bearbeitung und Gestaltung der Erdoberfläche dte meisten Fortschritte gemacht hat. Im Erzherzogthum Oesterreich sieht man eine Menge canalisirter und rectisicirter Gewässer. Die österreichischen Alpen bieten zahlreiche Veranstalt» ungen dar, um daö Holz der Vergabhänge auf regelmäßigen Wegen in die Tieft hinabrutfchen zu lassen oder um Lawinen und Steine unschädlich über die Köpfe der Wanderer hinweg-zuführcn. Sie sind zum Zwecke der Anlage trefflicher Kunst-straßcn applanirt, und sogar schon eine Eisenbahn läuft mitten durch die Alpen hindurch. 110 Wasserbauten in der Schweiz. Die Schweiz steht, glaube ich, in dieser Beziehung vor seinen kaiserlichen Nachbarn etwas zurück. Die vielfache politische Zersplitterung des Landes mag häufig auf die für großartige Erdarbeiten so nöthige Einigung nachtheilig eingewirkt haben. Jedoch hat man in neuerer Zeit nun auch hier angefangen, die Hand ans Werk zu legen und Arbeiten mancherlei Art auszuführen, die zum Theil unsere Bewunderung erregen, zum Theil für das Land außerordentlich nützlich geworden sind. Man hat Verge durchhöhlt, um zu versteckten Seem, deren unregelmäßige Ausbrüche häufig die untenliegenden Thaler verwüsteten, zu gelangen und ihnen einen regelmäßigen Ausftuß zu geben, so beim Möriler See, der an der Seite des großen Aletschgletschers liegt. Man hat einzelne Canäle gegraben, um die Schifffahrt zu befördern, so den schönen Linthcanal, der den Züricher und Wallen-städter See verbindet. Man hat Flüssen, um sie unschädlicher zu machen, einen anderen Lauf gegeben, und sogar Seem hat man, wenn nicht ganz auszutrocknen, doch tiefer zu legen und zu verkleinern versucht, um an ihren Nfern Land zu gewinnen, z. V. den See von Lungern und Un° terwalden. Man hat Verge geebnet und herrliche Bergstraßen gebaut, so die bewundernswcrthe Straße des Gott-hardt und andere. Man hat ln den letzten Jahrzehnten eine Menge Thaler überbrückt und Brücken gebaut, welche ihrer Schönheit und Solidität wegen in der ganzen Welt berühmt geworden sind, so die Vrücke bei Freiburg, so die neue Aarbrücke bei Vern ic. Selbst in meiner kleinen Nachbarschaft sehe ich ein halbes Dutzend solcher Arbeiten schon ausgeführt oder in Arbeit oder doch im Plane. Das neue Kanderbett am Thuner See ist seit vielen Jahren fertig. Die wilde Lütschine hat bereits lange zu beiden Seiten an ihren Ufern hohe Stein- Die Communicatlonswege der Schweiz. Ill wälle, wie sie jeder wilde Alpenfluß haben sollte, und die kleinen Kohl- und Kartoffelgarten der Leute lehnen stch nun ganz furchtlos an das Ufer des Flusses an. Eine Regullrung des Stücks der Aar, das über unser Bödeli hinfließt, ist im Plane. In den Felsen an der Nordseite des Vrienzer Sees sprengt man lebhaft, um eine Straße mS Haslithal hinaufzuführen, und einige wilde Vergsiüsse, welche an den Abhängen dieses Sees hinunterstürzen, ergießen sich seit einigen Jahren in regelmäßig ausgemauerten Canälen. Im Winter giebt es zwischen uns und den Thalern oberhalb des Vrienzer Sees keine andere Communication als die, welche ein kleines, täglich über den See fahrendes Voot und dann ein schmaler, felsiger Fußsteig, der am Nordufer des Sees hinlauft, gewähren können. Am Südufer des Sees machen schroff in das Waffer hervortretende Felswände alle Communication unmöglich. Da oberhalb des Sees nicht nur noch fruchtbare Thäler (wie z. V. das berühmte Haslithal) liegen, sondern auch aus diesen Thalern noch wichtige Pässe in andere Lander, so der Vrünig-Paß nach Un-terwalden, der Susten nach Uri, der Grimstl-Paß nach Italien führen, so muß man sich mit Recht wundern, daß dieses ganze Thal- und Wegenetz bisher nur mittels jenes kleinen Vootes und jenes engen Fußsteiges mit der übrigen Schwcizerwelt zusammenhing. Im Frühling, wenn wilde Waldbache den Fußsteig ungangbar und anhaltende Stürme zugleich den See unschiffbar machen, ist auch selbst jene Communication zuweilen unprakticabel. Gs sind viele Thal-fhsteme, ja ganze Cantone in der Schweiz, welche so zu sagen nur durch einen Faden mit der Welt zusammenhängen und die, wenn dieser Faden abgeschnitten wird, ganz auf sich selbst reducirt werden. So befindet sich z. V. auch der ganze 112 Die runden Felsstucke. Canton Uri, wenn im Frühling, wie es zuweilen geschieht, ein wilder Föhn tagelang auf dem Vierwaldstätter See haust so zu sagen im Belagerungszustände. :^ Da ich die erwähnten so nützlichen Weg- und Wasser-Arbeiten zu besichtigen wünschte, so zog ich den Fußweg der Fahrt auf dem See vor. Vei den Wegearbeiten hätte ich mir den Professor Agassiz hergewünscht, denn die Leute hatten an einer Stelle eine ganze Reihe vollkommen abgerundeter Felsen entblößt, die Agassiz gewiß zum Beweis seiner Gletschcriheorie benutzt hätte. Es waren lauter runde Köpfe, wie große Vrote anzuschauen. Ihre Oberfläche war so glatt abpolirt, daß es eine Wollust für mich war, mit der Hand darüber hinzustreichen. Die Masse war Grauwacke mit vielen weißen Quarzaden», die alle quer durch geschliffen waren. Die Leute meinten, der See sei früher bis hier zu den Felsen hinaufgegangen und habe die Steine so bearbeitet. Es fragt sich aber, ob Wellen solche Köpfe herausarbeiten können. Ich sage, es fragt sich. Denn allerdings ist die Frage noch gar nicht gehörig untersucht, wie das Wasser, wie die Luft und andere polirende Gewalten die Steine abzuschleifen pflegen, und welche Gestalten sie bei der Grauwacke, beim Granit, beim Kalkstein, beim Thonschiefer und bei den anderen Steinarten bewirken können. Es ist sehr wahrschein« lich, daß jede Steinart von ihnen auf eine besondere Weise bearbeitet wird. Diese Vorfrage ist in den Werken über die Gletscher, sage ich, noch gar nicht berührt, und doch scheint dieß eine sthr wichtige Untersuchung zu sein, die vorausgehen muß, wenn man mit Sicherheit diese oder jene Stein« polirung dem Eise zuschreiben will. Das Nordufer des Vrienzer Sees ist im Ganzen einförmig und für den Reisenden, welcher es im Vorüberfah- Felsgraben. 113 ren vom Dampfschiffe aus betrachtet, ziemlich reizlos. Die Verge laufen wie eine hohe Mauer ohne merkliche Unterbrechung und ohne viel Variation des Terrains am See hin, und die zahllosen Ginschnitte, welche die Lawinen, die Bergquellen und Regenströme in die Wälder und Bergwände gemacht haben, geben ihnen so zu sagen ein recht zerlumptes «nd wildes Aussehen. Dem Dampfschiffreisenden, sage ich, erscheinen sie so; allein für den Fußreisenden, der Alles in der Nähe sieht, ist selbst ein solches Terrain noch voll mannigfachen Genusses, und er entdeckt da noch reizende Miniaturbilder, wo der, welcher nur ein flüchtiges Auge auf das Ganze wirft und nur die Hauptumrisse betrachtet, nichts sieht, was sein Auge fesselt. Solche Einschnitte in den Vergabhangen, in d«-,, !,n), sondern man setzt auch Der „Holzschutz." 117 den Boden mit großen, soliden und möglichst flachen Stemm aus, und zwar so, daß nirgends ein Winkel geboten wird, wo die hinabrollenden Blöcke mit ihren Ecken stecken bleiben konnten. Man macht also die ganze Rille rund wie einen Waschtrog, so daß der O-uerdurchschnitt einer Schalle etwa so aussieht: Die Steine, welche man dazu nimmt, sind gewöhnlich dieselben Blöcke, die man im Bette de3 Wildbaches findet. Damit die Schalle sich bequem an das breite Stück 3 anschließe, laßt man sie Anfangs noch ein Bißchen breit, bis man ihr dann in einiger Distanz (bei nn) ihre Normalbreite giebt, die sie wahrend ihres ganzen Laufes (0), der oft eine halbe oder ganze Stunde lang ist, beibehält. Je nach der Quantität deS abzuführenden Materials beträgt diese Breite 5, oder 10, oder 15 ,c. Schnh. Man führt die Schalle natürlich bis zur Mündnng des Grabens fort, bis zu dem größeren Fluß oder bis zu dem See, in welchen er ausläuft. Hier an der Mündung setzt man der Schalle gewöhnlich eine hölzerne Nase oder Fortsetzung an, die man „Schutz" nennt. Denn auf glatten Tannenbäumen gleiten die Steine am leichtesten fort, und hier an der Spitze, wo die Abdachung am schwächste«, ist gerade auch die größte Schnelligkeit nöthig. Es wäre deßhalb, was Schnelligkeit der Beförderung betrifft, auch am beßten, wenn die ganze Schalle aus Holz gebaut werden könnte. Allein dieß geht wegen der Unfestigkcit dieses Materials nicht Die oft sehr unsanft herabpolternden Blöcke würden das Holz sehr bald zerstoßen haben. Beim Ende macht man sich nicht so viel daraus, weil dasselbe ohnedieß oft crnencrt werden nmß. Die Steine und die übrigen Bergmatenalim, welche 113 Schaden der Steintrümmer. auf dem ,,Holzschutz" wie auf einer Brücke in den See oder Fluß hinab geführt werden, häufen sich nämlich dort bald an, und es ist nöthig, die Schalle über diese neuen Anhäufungen hinweg fortzusetzen. Vel dem Dörfchen Oberried sah ich das erste dieser so interessanten und so wohlthätigen Weike und besichtigte es mit großer Freude von seinem Anfang am Verge bis zu seinem hölzernen Ausgang am Seeufer. Das wilde, schmuzige, mit Steinblöcken schwanger gehende Gewässer war dadurch nur auf einen kleinen Streifen von 14 Schuh Breite beschränkt, wahrend es sonst rechls und links 300 Schritt weit wie ein Lava« ström Alles verwüstet hatte. In seinem alten, jetzt trockenen Steinbette waren nun die erfreulichsten Spuren einer neu aufblühenden Cultur wahrzunehmen. Ueberall waren schon kleine culturfähige Fleckchen Landes zwischen den Steinen bearbeitet. Hier und da hatte man die Steine regelmäßig zurecht gelegt, Erde darauf geschüttet und Gänchcn angelegt, und mehre solche kleine Garten reihten sich nun furchtlos mitten in der grausigen Trümmerwildniß dicht am Damme der festen und sicheren Schalle hin. Das ganze Werk hatte ungefähr 20,000 Franken gekostet. Wollte man einmal alle die Schäden, den Verlust an Land, Bäumen und Menschenleben capi-talisiren, den das Gewässer den Anwohnern wahrend seiner ganzen tausendjährigen Ungebandigtheit verursachte, so würde man wohl hoch in die Hunderttausende hinaufkommen. Die Zerstörung der Walder und Felder durch Stein« abtrümmerung ist so bedeutend in den Alpen, daß ich mich wundern muß, wie die Reisenden von dieser Erscheinung nicht häufigere und genauere Notiz nehmen. Es ist betrübend, daß es allerdings offenbar ist, daß der Mensch dieser zerstörenden Gewalt nie ganz und nicht in allen Fallen Meister werden Verwitternde Felsen. — StemabMe. 119 kann. Gewöhnlich zwar fördern slch die abbröckelnden Trum« mer in den besagten alten längst ausgearbeiteten Gräben hinab, werden schon von der Nalur etwas zusammengehalten und dem Menschen so überliefert, daß er sie auf die besagte Weise durch Schallen weiter zusammenfassen und völlig «nschäd« lich machen kann. Allein sehr oft entstehen auf ein Mal auch da Abbröckelungen und Steinfalle, wo sie bisher unerhört waren und wo sich noch kein Graten gebildet hat. Es giebt Felsen, die Jahrhunderte lang fest und unverändert über einem Walde oder über Wiesen und Feldern standen, die aber auf ein Mal, sei es, daß ihre Unterlage unterspült wurde, oder daß ein besonders heftiger Winter mit Hilfe des Eises einige Spalten erweiterte, oder daß überhaupt diese Felsen jetzt in ihr Greisenalter eintreten, abzubröckeln, zu zerfallen und Jahr für Jahr große und kleine Trümmer in die Tiefe hinabzusmden anfangen. Diese Trümmer fallen nun zunächst in die Walder, schlagen die Bäume nieder und brechen sich hier allmälig einen breiten freien Weg. Leisten die Wälder ihnen keinen Widerstand mehr, so kommen sie unterhalb derselben auf die Wiesen und Felder, deren Rasen und Ackerkrume sie weit und breit aufreißen, fortführen, oder mit zahllosen Steinen bedecken. Gegen solche Zufälle giebt cs dann kaum eine menschliche Hilfe, denn zusammenkitten kann man die Felsen oben nicht, und ablesen lassen sich die Steine unten auch nicht. Gewöhnlich werden sie während des beständig Iahrzehende lang fortgesetzten Bombardements in solchen Massen herbeigeführt, daß sie den Boden ellenhoch bedecken. Oft sind freilich die Leute selbst an dem Vordringen eines solchen neuen Steinstromes schuld, wenn sie z. V. ihre Wälder durch Wegfallung der älteren und stärkeren Bäume schwächten. Einen solchen Fall entdeckte ich 120 Schutz der Wälder. neulich, und ich will ihn hier mittheilen, weil ich einige Details über ihn in Erfahrung brachte, und weil in der Regel kein Reisender sich um die Historien der Steinfälle, Trümmerhalden, Wildgräben ic. bekümmert. Es war an dem AbHange des großen schönen Berges, der nicht weit von meinem Wohnsitze liegt und die „Vreillaune" heißt. Ich spazierte mit einem alten Manne hinauf, um jenen Steinabfall zu beobachten. Ich sah den Wald, der die Seiten des Verges umkränzt, etwa in einer Breite von 400 bis 500 Schritt von einem öden, mit Vlöcken bedeckten Streifen durchbrochen. Es waren meistens kleine Steine, die auf dcm ganzen Streifen fast so dicht wie Pflastersteine übereinander lagen. Zwischen durch fanden sich große Felsblöcke. Sehr wahrscheinlich waren die Steine alle anfangs größer gewesen und erst allmälig von den nachstürzenden großen Felsen zertrümmert und gleichsam zu einem stachen Straßenpflaster festgeschlage» worden. Wir kletterten auf einem sehr mühseligen Wege über eine Stunde lang in diesem Trümmergewirre hinauf und kamen obcn zu der Quelle dieses SteinstromeS, einer großen zertrümmerten Felspartie. Nahe bei diesen Felsen war der Wald noch unversehrt, und sie steckten mitten im Gebüsch, was sehr natürlich sich daher erklärt, daß die Steine anfangs noch keine große Gewalt haben und sich neben den Bäumen hinschieben. Weiter unten aber, wo durch den Fall ihre Kraft erhöht wird, war aller Wald wegrasirt. Mein alter, der Gegend kundiger Führer sagte mir, daß noch vor dreißig Jahren Alles weit hinunter mit schönen Bäumen bedeckt gewesen sei, und der Steinstrom erst so bedeutend um sich gegriffen habe, seitdem man unvorsichtiger Weise einige Hundert der stärksten Bäume weggehauen habe. Jetzt hatten die Steine die Waldregion langst durchbrochen und auch schon einen Theil der schönen Wiesen unter- Viehversicherungen. 121, halb derselbe» angegriffen und zerstört. Ich stieg auch wieder zu diesen Wiesen hinab und fand sie auf eine große Strecke in ein dickes Steinpflaster verwandelt, durch welches nicht so viel Gras hindurchdrang, als durch das Pflaster mancher Gasse einer alten Stadt. Einzelne große Blöcke lagen als Avantgarde dieses wilden Heeres bis auf die untersten Wiesen herab, die auch nach einigen Iahrzehcndcn unabwendbarem Nuin anheim fallen werden. Mein Alter erzählte mir, wie eln Mal hier zwe'l, ein ander Mal drei Kühe, wieder ein ander Mal 15 Geisen von solchen Steinen überrascht und erschlagen worden wären. Uud wir selbst krochen nicht ohne Gefahr in diesen Wüsteneien herum, denn die Steinkanonade hört hier fast zu keiner Zeit auf, und wenn sie herabkommen, so kommen sie, sagte mir mein Alter, „nit hübschli" (nicht sanft). Nebenbei will ich bemerken, daß man hier seit einiger Zeit in mehren Dörfern auch Versicherungsanstalten gegen alle die Vorfalle, welche das Vieh in den Bergen treffen können, gebildet hat, z. V. gegen das Erschlagen desselben durch Steine, gegen das Abstürzen von Felsen :c. Es ist dieß ein neues Zeichen des Erwachens eines wohlthätigen Afsociajions-geistes der Bergbewohner, welches ich den Vereinigungen zur Herstellung von Schallen zur Seite fetze. Cs ist nur merkwürdig dabei, daß man hier immer zuerst an das Vieh denkt und nicht an den Menschen. Die Menschen — jährlich Hunderte von Familienvätern — kommen hier in den Bergen auf noch viel mannigfaltigere Weise zu Schaden und ums Leben, als das Vieh, und doch ist noch Niemand daraufgekommen, in den hiesigen Dörfern Vereinigungen für die Versicherung ihrer so kostbaren Eristenz, Lebensassccuranzen, zu bilden. So viel für heute von dem fürs Auge so unlieblichen ""d für die Alpenbewohner so verderblichen Steinrutschen. !lnd jetzt zu etwas Neuem. KobI, Alpenreisen, '. g 122 Adler, Geier, Raben, Sperlinge. Indem wir auf dem kleinen Fußpfad am Vrienzer See fortwanderten, gelangten wir zu dem Dorfe Ebligen, das in dieser Gegend seiner Adlerjagd wegen berühmt ist. Die Jäger des OrteS schießen die Adler in einer sehr wildrn Felsenpartie, die eine Stunde oberhalb ihrer Wohnungen in der Höhe des Bergrückens steckt, der den Vrienzer See umgiebt. Da ich schon viel von dieser Adlerjagd gehört hatte, so beschloß ich, den Rest des Tages zur Besichtigung dieser Felsenpartie zu verwenden, und wir luden einen jungen Mann, den man uns als den glücklichsten Adlerjäger des Dorfes bezeichnete, ein, uns zu begleiten. Wir stiegen mit ihm durch die Wiesen-und Waldregion zu jener wilden Felsenpartie hinauf, die unsere Theaterdecorateure sehen müßten, um ihre Wolfsschluchten im „Freischützen" naturgemäßer darzustellen. Ich will hierbei darauf aufmerksam machen, daß man fast keinen der dichterischen Ergüsse, zu welchen die interessanten Thaler und Vergpartieen der Alpen so zahllose Dichter begeistert haben, lesen wird, ohne darin den „König der Vögel," den Goldadler, oder den „Tyrannen der Hasen, Lammer und Murmelthiere," den Lämmergeier, oder den „horstenden Aar" und die Felsen, welche jene gewaltigen „Segler der Lüfte" umstiegen, erwähnt zu finden. Es mag daher wohl etwas Wunder nehmen, zu hören, wie es mich Wunder nahm, zu sehen, daß hier in den schönen romantischen Thalern der Alpen mehr Raben, Elstern, Sperlinge und solches auf der ganzm Erde bis nach China und Japan hin gemeines Vogelvolk gefunden wird, als jene Könige und Herren der Lüfte. In der That, ich sehe hier jeden Abend, fast zu meinem Aerger, lange Züge von Raben, eben so von Alp zu Alp ziehen, wie ich sie in meiner unromantischen Vaterstadt von Kirchthurm zu Kirchthurm flattern sah, und die Seltenheit der Adler. 123 hungrigen Elstern und naschigen Sperlinge hüpfen hier eben so in den Zweigen meiner Väume, wie an ganz gewöhnlichen Flecken der Erde. Einen Adler bekam ich hier noch nie anders zu sehen als tobt, worin ich vermuthlich das Schicksal der meisten jener adlerbesingenden Dichter theile. In der That halten diese Vögel sich von den Menschen so fern, daß ihre oft besungenen Horsten oder Nester nur von sehr wenigen —> selbst unter den eifrigsten Jäger» — geschaut wurden. Und selbst um sie auf ihre» Ausflügen durch die Thäler und über die Verge zu gewahren, muß man schon ein besonderes Glück haben. Sie nisten fast immer nur in den höchsten und unbewohntesten Gebirgspartieen und halten sich während des Sommers auch nur innerhalb der Grenzen dieser Gegenden auf. Nur im Winter, wo die Murmelthiere sich in ihre Höhlen verkriechen, wo die Gemsen, Hasen und andere Thiere sich in tiefliegende Gegenden herabziehen und die hohen Weiden vou Schafen und Ziegen verlassen sind, kommen auch die Adler und Lammergeier in tiefere Thäler herab, ihre Nahrung zu suchen. Im Sommer haben sie, wie man sagt, die höheren Verggegenden in Districte abgetheilt, deren jeder von einem anderen Paare gleichsam beherrscht und bejagt wird. Die unteren Gegenden aber besuchen sie, wie es scheint, im Winter ohne eine solche Districtabtheilung. In unser Thal sollen sowohl aus den Gletscherthälern der Jungfrau, als auch aus dem Wallis und sogar aus Graubündien Adler herüberfliegen und hier Jagd machen, ohne sich deswegen gegenseitig zu bekriegen. Der Winter ist daher die eigentliche Zeit der Jagd dieser Thiere, da sie sich nun mitten unter die Menschen hinabwagen. Wie aNe Thiere in der Natur haben sie nun ihre Lieblingsplätze, zu denen sie jährlich ganz regelmäßig wiederkehren. Die Jäger hier in der Umgegend haben mir mehre solcher Plätze bezeichnet und 6* 124 Wohnplätzc der Adler. mir auseinandergesetzt, warum dieselben von den Adlern anderen vorgezogen werden. Vorerst lassen sie sich lieber auf der Sonnenseite eines Verges als auf der Schattenseite nieder, was bei den Eulen gerade umgekehrt ist. Der Adler liebt bekanntlich die Sonne, deren Strahlen seine Augen nicht blenden, und deren Licht seinen Blicken Alles deutlicher enthüllt. Namentlich sucht er die sonnigen Höhen im Winter auch der Wärme wegen auf. Die Dörfer, welche an der Nordseite der Verge liegen, haben daher immer weniger von den Adlern zu fürchten oder zu hoffen. Am liebsten Wahlen sie kahle Höhen und Felsen, welche mitten im Walde stecken, von denen sie wie von einem Wartthurm in der von Thieren bewohnten Waldregion hcrumblicken können. Oft sind solche Platze der Art, daß der Mensch ihnen da schwer beikommen kann. So ist hier z. V. ein Fels, an dessen Wänden häufig Adler erscheinen, aber selten geschossen werden, weil die Gegend zugleich von außerordentlich vielen Füchse» bewohnt wird, die alle dem Adler bestimmte Veize sogleich wegfressen. Einige wenige Platze giebt es nun, wo alle möglichen Vortheile zur Adlerjagd sich vereinigen, und daher erklärt es sich denn auch, warum die Bewohner einiger Dörfer einen besonderen Ruhm als Adlerjäger erreicht haben. Imganzen oberen Aarthal sind von jeher keine berühmteren Jäger gewesen, als die des genannten Dorfes Ebligen amVrienzerSee. Sowie nur aufAdler die Rede kommt, so werden gleich diese Leute citirt. Ihre Verge haben beständig im Winter warmen Sonnenschein. Der Schnee schmilzt frühzeitig weg, und zu gleicher Zeit sind sie so gestaltet, daß die Adler die auf ihnen hingelegte Veize leicht bemerken können. Vielleicht ist auch diese Adlerjagd ein Industriezweig, der ebenso wie jede andere Kunst zwar vielwärts getrieben werden kann, aber da, wo er einmal Wurzel gefaßt hat, am beßten Die Ebliger Adler^er. 125 und längsten betrieben wird. Dieser Leute Sinn ist einmal cms die Adlerjagd gerichtet. Sie wissen am beßtcn damit umzugehen, und auch die Adler, die hier auf den Bergen seit Jahrhunderten Veize gefunden haben, mögen sich deswegen immer hierher verlocken lassen. Hätte man sie an einem anderen Orle eben so fleißig gebeizt, so würde man sie wahrscheinlich auch dahin haben gewöhnen können. Die Ebliger Adlerjäger tragen Sorge, daß ihren Vögeln das ganze Jahr hindurch auf ihren Bergen der Tisch gedeckt sei. Selbst im Sommer hängen sie gefallene Ziegen oder Schafe, oder auch wohl ein Paar Stücke von einem Pferde hoch in die Bäume, von denen einzelne große auf dem erhabenen und weit umher sichtbaren Vergabhange stehen. „Die Adler," sagte mir mein Jäger, „machen im Sommer freilich wenig Gebrauch davon, weil sie anderswo bessere Nahrung finden können. Allein wir zeigen ihnen doch unseren guten Willen, und sie haben einen kräftigeren Geruch, ein schärferes Auge und ein besseres Gedächtniß, als man gewöhnlich denkt. Sie merken es sich, daß sie in unseren Bäumen etwas für sie Nutzbares gesehen haben, und im Winter in der Zeit derNoth kommen sie zu uns zurück." Die Veize wird aber dann (im Winter) nicht mehr an die Bäume gehängt, sondern am Boden befestigt. „Wir beizen dann am Voden," sagten dieLeute; und zwar wählen sie dazu ein möglichst flaches Vodenstück aus. Mit hölzernen Pflöcken nageln sie das Fleisch an den Rasen fest und zwar deswegen, weil der Adler sich von dem flachen Boden nicht so leicht erheben kann. Wir sahen an einigen Orten, zu denen wir kamen, den Rasen mit halbverfaulten Ziegen gespickt. Auch baumelte noch in einem großen Tannenbaume ein Gerippe. Zuweilen braten sie auch wohl eine Katze und befestigen sie an den Boden. Das Fleisch der gebratenen Katzen soll der Avler in außerordentlich weiter Ferne 126 Die VeiMtze. wittern können, und es scheint, daß die Leute es für die beßte Veize halten. Die Stellen, wo sie das Fleisch auslegen, sind so gewählt, daß die Jäger sie von ihren Wohnungen am See aus erblicken können. Wie die meisten Jäger hier in den Bergen sind auch diese Adlerjäger gewöhnlich mit Fernröhren, die sie „Feldspiegel" nennen, versehen. Sie treten daher, wenn sie Adler erwarten, häufig auf die Lauben ihrer Häuser hinaus und beobachten ihre Veizplätze mit dem Teleskope; oder nach ihrem Ausdrucke: „sie spiegeln die Veizplätze." Sie haben zwar von da noch eine Stunde durch Felsen und Wälder zu klettern; aber, wenn der Adler sich einmal auf dem Fraße niedergelassen hat, so stiegt er nicht so leicht wieder auf, bleibt Stunden lang darauf sitzen und giebt den Jägern alle nöthige Zeit, ihn zu beschleichen. Die Ebliger schießen alle Arten von großen Raubvögeln, kleine Fischadler, die am Vrienzer und Thuner See sehr häufig sind, Steinadler, große Königs' oder Goldadler und auch Lämmergeier, welche beiden letzteren die seltensten und edelsten sind. Wenn sie einen großen Königsadler oder Lämmergeier geschossen haben, so Pflegen sie damit in ihrem Dorfe herumzugehen und ihn zu zeigen und empfangen dann von manchem Ziegen- und Schcifbesitzer, der ein solches gesürchtetes Raubthier nüt Freuden todt erblickt, einen Vatzen. Zuweilen verkaufen sie ihn auch an Frauen, die damit von Dorf zu Dorf herumziehen und den Hirten ihren Feind für Geld zeigen. Welche Gefräßigkeit und Verwegenheit diesen Vögeln innewohnt, mag man daraus schließen, daß die hiesige Landesregierung für dic Erlegung eines solchen Lämmergeiers oder Königsadlers nur um die Hälfte weniger „Schützgeld" (Schießprämie) bezahlt, als für einen Varen, nämlich 20 Schweizerfranken, wahrend Die Lammelgeier. 12A für die Erlegung eines Aaren 40 Schweizerfranken bezahlt werden. Ein Wolf und ein Luchs sind nur auf 30 Franken taxirt, also nur ein Drittel höher als jene gefiederten Wölfe. Für einen Fuchs erhalten die Jäger gar nur einen Schweizerfranken, also A> Mal weniger als für einen Adler. Vielleicht ist indeß die Schädlichkeit der Naubthiere nicht die einzige Rücksicht gewesen, die man bei den Bestimmungen jenes Tarifs genommen hat, und man hat auch wohl die Schwierigkeit, sie zu erlegen, dabei angeschlagen. Die Lämmergeier werden von allen als die schlimmsten und grimmigsten ausgegeben, und die Königs« adler scheinen ihnen wenig nachzustehen. Obgleich sie nur durch ihre Federn groß erscheinen und ihr ganzes Muskel- und Knochengebaude mit sammt Schnabel, Krallen und Federn kaum ii> Pfund wiegt, so ist doch kein Thier in den Alpen so groß, dem sie nicht unter Umstanden zu Leibe zu gehen wagten. Sie stürzen sich, wie es scheint, auf alles Lebendige herab, auf Hunde, auf erwachsene Menschen und sogar auf Ochsen und Kühe. Noch neulich zeigte mir ein Jäger seinen großen, starken Hühnerhund und dabei einen Adler, den er hatte ausstopfen lassen. Dieser Adler war hoch aus der Luft auf den Hund herabgestoßen, der Jäger aber hatte ihn erlegt, noch ehe er seine Beute erreicht hntte. Sein Hund hatte sich dabei, als er veS Adlers gewahrt, erschreckt zu seinem Herrn zurückgezogen. Von den Ochsen und Kühen haben mir mehre Jäger versichert, daß, wenn sie etwa an gefährlichen Stellen zwischen Felswänden und Abgründen grasten, nicht selten Königsadler oder Lammergeier auf sie herabgeschossen seien, weniger jedoch, um sie direct anzu« greifen, als, um sie durch den Stoß und ihren mächtigen Flügel-sHlag zu erschrecken, zu verwirren und wo möglich in den Abgrund hinabzustürzen, wo sie sich ihrer dann bemächtigen 128 Kinder von Geiern geraubt. könnten. Von Abenteuern, die er mit Adlern und Lämmergeiern bestanden, kann fast jeder Gemsjäger der höheren Alpengegenden erzählen, wie sie ihn, wenn er sich in gefährlichen Situationen befunden, umflogen oder, wenn er auf Felsspitzen ausgeruht, in seinem Schlafe molestirt hatten. Die Leute setzen dann bei dem Vogel sehr gewöhnlich die für einen Geier sehr raffinirte Absicht, sie in die Tiefe zu stürzen, voraus. „Sie wollen uns in solchen Fällen herabfliegen," sagen sie. Zuweilen mag es eben so viel Dummheit undNeugierde als Berechnung und Verwegenheit bei den Geiern sein; denn in den Gegenden, in welchen sie gewöhnlich leben, bekommen sie selten einen Menschen zu sehen und können daher seine Kraft und Gefährlichkeit nicht tariren. Daß der Lämmergeier unerwachsene Menschen wirklich angreift und fortschleppt, mag zwar von Vielen noch als eine bloße Sage betrachtet werden. Allein, wer unter den Alpenbewohnern selbst eine Zeit lang gelebt hat, dem kann kein Zweifel darüber bleiben. In demselben Orte, in welchem ich jetzt wohne, lebte noch bis vor wenigen Jahren eine Frau, die als sechs« jähriges Madchen das Schicksal, von einem solchen Vogel entführt zu werden, erlebt hatte. Er hatte sie eben auf einem Felsen niedergesetzt, als benachbarte Hirten das Geschrei des Mädchens vernahmen und es noch zur rechten Zeit aus den Klauen des Thieres erretteten. In Mürren zeigte man mir eine unzugängliche Felsenpartie, welche diesem hohen Bergdorfe gerade gegenüberliegt und an der man noch lange den rothen Rock eineS kleinen Mädchens gesehen hat, das ein Lämmergeier dort verzehrte. Er hatte es in der Nähe jenes Dorfes gepackt, über das tiefe Lütschiner Thal hinübergeschleppt und an den besagten Felswänden bis auf die Kleider verzehrt. Gin dritter Fall dieser Art wurde mir in einem Dorfe am Vrienzer See von einem Knaben erzählt, den ebenfalls einGeier entführt hatte und dessen Bestrafte Verwegenheit. 129 Schädel und Knochen man zwischen den Felsen erst nach mehren Monaten wiederfand. Vin Jäger, der sie entdeckte, packte diese traurigen Reste in seinem Schnupftuche zusammen und überbrachte sie den Aeltern. Dieß sind dre! Falle aus meiner Nachbarschaft, die sich innerhalb der letzten 100 Jahre ereigneten. Sollte man einmal auS allen versteckten Thälern der Alpen alle Fälle zllsammmrechnen, so möchten wohl auf jedes Jahr immer einige kommen. Der Verwegene überschätzt seine Kräfte oft; so geht es auch dem Lämmergeier. Voreinigen Jahren, so berichtete mir mein Jäger von Gbligen, habe sich ein Geier auf ein großes fettes Schaf geworfen und dasselbe in die Luft gehoben. Da das Thier ihm aber doch zu schwer geworden, habe er sich mit ihm wieder niedergelassen, und weil er seine Klauen nicht schnell genug aus der Wolle habe befreie» können, so hätten sich die Schäfer mit Knüppeln über ihn hergemacht und ihn auf dem Rücken des SchafeS erschlagen. Man erzahlt sich oft von ge-fangenen Tigern oder Löwen, wie sie ihre Tatzen so fest in das Fleisch uon Menschen schlugen, daß man sie durch keine Gewalt losbringen konnte und gezwungen war, sie herauszuschneiden. Ganz etwas Aehnliches erzählte man mir hier vonden Klauendes Geiers. Ein Jäger, sagte man mir, näherte sich einst einem Geier, den er, ohne ihn zu todten, durch einen Schuß bloS zu Voden gestreckt hatte, unvorsichtig. In dem Augenblicke aber, als er ihn ergreifen wollte, hob sich das Thier auf und schlug seine Fange so fest und krampfhaft mdieWadendesIagers, dasi keine Gewalt im Stande war, sie loszubringen. Man mußte dag Vein des Geiers abschneiden und nachher alle Krallen einzeln aus den Wunven hervorziehen. Um mir einige Anhaltspuukte in Bezug auf die Häufigkeit des Vorkommens der großen Aoler und Lämmergeier zu geben, erzählte mir der Adlerjäger, welcher mich begleitete, als etwas Großes, daß er jeden Winter wohl 2 6" 130 Hoher Flug der Adler. oder 3 große Raubvögel schösse. Ich kenne hier Jäger, die fast den ganzen Tag auf der Jagd liegen nnd doch, obgleich sie keine Gattung Thiere von ihrer Verfolgung ausschließen, nur zwei Mal in ihrem Leben das Glück hatten, einen Adler zu schießen. Weil der Königsadler und der Lämmergeier sich den Rang in den oberen Lüften eben so streitig machen, wie der Löwe und der Königstiger auf der Grde, so habe ich die hiesigen Kenner solcher Dinge oft befragt, welcher von beiden Vögeln ihren Beobacht-ungen zufolge in höhere Regionen sich erhebe. Und darnach scheint es mir, daß sie fast alle glauben, der Königsadler stiege höher als der Lämmergeier. Ein Jäger im Grindelwald sagte mir, er habe einen Königsadler über die drei Spitzen des Wetterhorns, des Mettenhorns und des Nigers hoch wegfliegen sehen. Diese Spitzen sind fast alle über 12000 Fuß hoch, und die Luft muß daher dort schon merklich verdünnt sein. In einer ziemlich berühmten, in Norddeutschland geschriebenen Naturgeschichte der Vögel lese ich in dem Capitel über das Fliegen derselben, wie der Verfasser sich bemüht, den Vrocken als Maßstab für die Bestimmung der Höhe, zu welcher Vögel sich erheben, zn benutzen. Dieß muß uns hier in den Alpen sonderbar erscheinen, wo wir täglich Vögel nicht nur, sondern auch Schmetterlinge, Vienen und Mücken über Verge hinwegfliegen sehen, die zwei bis drei Mal höher sind als der Vrocken. Auch die wilden Gänse, Enten, Störche und andere Zugvögel, welche jährlich über die Alpen in südliche Länder ziehen, erheben sich, selbst wenn man zugeben muß, daß sie. wie der Mensch, auf ihren Wanderungen meistens dem Laufe der Thäler folgen und die niedrigen Verg-päsft aufsuchen, doch jedes Mal mindestens 7000 Fuß hoch; denn so hoch sind im Durchschnitt die niedrigsten Pässe oder Thore, welche sich in der hohen Alpenkette befinden. Ich sagte oben, daß die Raben hier, wir anderwärts, Der Vergrabe. 131 Viel zahlreicher sind als die Adler und Geier, ebenso, wie überall der kleinen Plagegeister mehr sind als der großen. Es wird daher nicht bedeutungslos erscheinen, wenn ich noch hinzusetze, daß die Hirten und Alpenbewohner in ihren Gebeten viel häufiger an den Schaden, den die Naben zu thun im Stande sind, als an jene Könige der Lüfte, welche die Poeten immer im Sinne und Munde führe», denken. Der Spruch, welcher sonst nach einer alten frommen Sitte alle Abende bei Sonnenuntergang von einem Sennhirten laut im Gebirge ausgerufen werden mußte und bei dessen Anhörung die anderen Hirten verstummend die Hände falteten, lautete, wenigstens in hiesiger Gegend, so: V'hüt Gott All's Vor des Wölfen Zahn, Vor des Naben Schnabel, Vor des Luchsen Biß, Vor aller Macht der Finsterniß V'hüt Gott All's! Es ist dabei freilich besonders auf eine Gattung großer Raben angespielt, welche hier sehr häufig ist und von den Leuten der „Vergrabe" genannt wird. Dieser Nabe ist häufiger und fast so stark wie ein Geier, denn er fällt wie dieser auch kleine Lämmer und junge Ziegen an. Indem wir so im Gespräche auf der Ebliger Adlershöhe uns gegenseitig mittheilten, was wir von den Beherrschern der Lüfte gehört hatten, war der Abend herangekommen, und ich hätte mir die Flügel eines Vogels gewünscht, um auf einem sehr kurzen Wege mein Nachtquartier in Vrienz zu erreichen. Doch sollte uns die Ruhe, die unserer dort wartete, noch durch einen ziemlich mühsamen und langwierigen Vergpfad, den wir hinabklettern mußten, versüßt werden, und wir kamen dort zur Zeit des Abendessens hungriger als Adler und Raben an, denen auch in 132 Captatio benevolentiae. den rauhesten Gebirgen die Reisen so mühelos und leicht sind, wie dem Menschen nnr in den Ebenen, wo rr Eisenbahnen bauen kann. V r i e n z. Der bekannte Isaac Walton schrieb vor 200 Jahren in England ein Vuch über das Angeln der Fische, welches nicht sowohl der Fische als der Meditationen wegen, die darin enthalten sind, fast von jedem gebildeten Englander gekannt und geliebt ist*). Dieser gnte alte Mann, obwohl er innner etwas Nützliches und Interessantes vorbringt, entschuldigt sich fast bei jedem neuen Gegenstande der Betrachtung, die er beginnt, bei seinem Leser"), daß er so viel seiner Zeit in Anspruch nehme, und er bittet ihn alle Augenblicke auf die höflichste Weife um Erlaubniß, noch diese oder jene Mittheilung machen zu dürfen. Obwohl diese Art von höflicher <ü«pl»lio bonLvulentiao ein wenig alt-modig ist, und mit Recht von uns, den neueren Schriftstellern, nicht so viel Zeit und Papier damit vergeudet wird, weil wir ein viel leselustigeres und lesegeduldigeres Publicum haben, als die alten, so komme ich doch zuweilen auf Gegenstände zu reden, bei denen eine solche vorläufige Entschuldigung noch ganz an ihrer Stelle sein möchte. Ich will den Leser daher hier, wo ich mich wieder daran mache, ihm von einigen so unbedeutenden Gegenständen zu erzählen, wie es die Dinge, die ich in Vrienz beobachtete, nämlich alte Käfe und aus Holz geschnitzte Spielsachen zu sein scheinen, im Voraus um etwas Nachsicht freundlichst ') Der Tltcl seines berühmten Buches ist: „The complete angler, or the contemplative man's recreation" (der vollständige Angler, oder des meditirenden Mannes Erholung). **) Oder vielmehr eigentlich bei selnem Schüler, dem er seine Belehrungen über die Kunst des Angelns mittheilt. HundertMnge Käse. 133 ersucht haben, indem ich ihn zugleich bitte, zu bedenken, daß selbst solche Dinge, wenn wir sie mit anderen Erscheinungen combiniren, uns zu lehrreichen Betrachtungen führen können. Ich hatte viel von den alten hundertjährigen Käsen der Schweizer gehört, ohne je einen gesehen zu haben. Hier in Vrienz wurde mir dazu die erste Gelegenheit geboten. Ich hörte von einem Manne, der einige uralte Käse besäße, und ich besuchte ihn, um mich durch den Augenschein von diesem Umstände zu überzeugen. Man findet solche Vorräthe alten Käses natürlich in der Negel nur bei den reichen Bauern und am meisten bei denen in abgelegenen, bloß Viehzucht treibenden Thälern. Zuweilen bleibt es nicht bei einigen Käsen; sondern je reicher derVauer ist, desto stolzer und größer ist sein Vorrath an dieser unnützen Waare. In dem Orte, in welchem ich wohne, hinterließ ein Mann, der vor einigen Jahren starb, eine große Quantität von verschiedenem Alter, darunter allein 12 Centner 95jährigen in 20 großen Scheiben, die in der Käsekammer des Verstorbenen viele Jahre auf den obersten Vreterreihen wie 20 Monde geschimmert hatten. Seine Frau, die aus dem an Viehzucht reichen Simmmthale gebürtig war, hatte sie bei ihrer Verheirathung dem Manne zugebracht. Sie ihrerseits hatte sie von ihrem Großvater geerbt, und dessen Großvater war der Stifter dieser Rari-tatensammlung gewesen, die nun nach dem Tode ihres letzten Besitzers unter viele Erben zersplittert wurde. DerKäse wird zwar, wie der Wein, mit den Jahren besser, jedoch nur bis zn einem gewissen Alter. Etwa bis zu seinem sechste» oder siebenten Jahre steigt er in Güte und Preis, wenigstens ist dieß bei manchen Sorten der Fall; denn einige sehr fette Arten, z. V. der berühmte Urserer Käse, können höchstens zwei Jahre alt werden, wonach sie auseiuanderflicßc». Vom siebenten oder 134 Todte Capitalien. achten Jahre an gewinnt aber selbst der magere Käst nicht mehr an Güte. Er trocknet bann völlig aus, sein Geschmack bessert sich nicht mehr, und im Handel geben ihm die folgenden Jahre kcinen größeren Werth und Preis. Es ist daher eine sehr schlechte Speculation, solchen alten Käse aufzubewahren, und man fragt billig, was die Leute dazu bewegen mag, ihr eigenes Interesse so schlecht zu fördern. Doch setzen sie nachher auch einen Stolz darein, solche Raritäten zu bewahren und einem seltenen Gast einmal ein Pröbchen davon vorzusetzen, wie man in Bremen einen solchen mit hundertjährigem Rheinwein tractirt. Es ist indeß merkwürdig, wie der Zeitgeist, der überall die Menschen vernünftiger speculiren läßt, in den Schweizer-Käse-kammern eben so aufräumt, wie in dem alten Bremer Rathsweinkeller und in allen den sonst so gewohnlichen Schatzkammern todter Capitalien. Der alte patrizische Rath zu Vern hatte sonst große Vorrathe von Korn aufgestapelt, um damlt in Hungerjahren dem Volke aufzuhelfen. DieseS Korn wurde auf eine eigenthümliche, in Vern gewöhnliche, Weise gedörrt und konnte sich so 20, 30 Jahre lang und, wie man mir sagte, auch langer conserviren. Der alte Nath hatte eigene feste Kisten dazu, in denen eö hermetisch verschlossen wurde. Die neue Regierung hat diese Kornmagazine, als zu viel Zinsen verzehrend, ab« geschasst und sucht die dann und wann nöthige Unterstützung der nothlcidendcn Classen auf andere Weise zu bewirken*). So wie in anderen Schweizercantonen, so hat auch in Vern die alte Regierung in früheren Jahrhunderten sehr bedeutende Schätze in baarem Gelde und Gold-und Silberbarren zusammengescharrt. Dieses Geld lag Jahrhunderte lang als ein todtes und *) Viele halten freilich die Kornvorräthe der alten Regierung für zweckmäßiger und bedauern ihre Aufhebung. Käse als Nahrungsmittel. 135 unbenutztes Capital in den Kisten des Rathes. Ueber seine Größe herrschte ein großes Geheimniß, und selbst nur wenige Herren vom Regimcnte waren mit seinem Belange bekannt. Man sagt allgemein, es seien 40 Millionen Franken gewesen, was, seitdem die Franzosen bei ihrem Einbrüche in die Schweiz jene Kisten leerten, allgemeiner bekannt wurde. Die neuen Regierungen von Vern haben nun keine solche todte Schätze wieder zu sammeln versucht und legen ihre Ersparnisse nützlicher an. Es scheint mithin, daß sowohl die Pnvatökonomieen, als auch die Staatshaushaltungen in der Schweiz sehr lange an einem solchen alten Scharr- und Sparsystems festhielten, und daß auch die alten Käse als eine Frucht der zum Sprüchwort gewordenen schweizerischen Sparsamkeit zu betrachten sind. Man hat mir mehrseitig gesagt, daß dieNauern sogar ihr geräuchertes und gesalzenes Fleisch zuweilen sehr lange — zehn bis zwölfIahre — zu conserviren verständen und sich, obgleich es zuletzt so ungenießbar wie Holz wird, nicht entschließen könnten, sich von diestn alten versteinerten Vorräthen zu trennen. Jetzt, wie gesagt, werden solche Falle nur seltener. Die Leute werden gescheiter und minder ängstlich, und hätte ich nickt in Vrienz wirklich hundertjährigen Käse gesehen, so hätte ich die ganze Sache für eine Sage gehalten, da ich zuvor schon viele Dörfer, wo ich solchen Käse finden sollte, besucht hatte, ohne ihn zu finden. Käse ist in diesem Hirtenlande ein viel wichtigeres Nahrungsmittel als bei uns. Die Leute genießen ihn hier, wie in einigen hollandischen und deutschen Marschgegenden, nicht blos zum Wohlgeschmack, sondern als Speise zur Sättigung, oft statt de9 Vrotes. In zahllosen kleinen Bergthälern kennen sie fast gar kein Brot, wie ich schon bei Gelegenheit meiner Excursion nach Murren zeigte, und Käse und Kartoffeln ist das Gericht, welches ihnen dort drei Mal im Tage aufgetischt wird. Und selbst in den 136 Constitution der Küsecsser. größeren Thalern, in welchen Vrot gebacken wird, leben alle ärmeren Classen von derselben Nahrung. Das Drittel der Bevölkerung, das im Sommer auf die Bergalpen auswandert, lebt dort fast ausschließlich von Käse und Milchspeisen. Für die Armen, welche keine eigenen Kühe haben, ist daher der hohe oder niedrige Preis des Käses eine fast eben so bedeutsame Frage, wie^in anderen Gegenden die Frage nach dem Preise des Brotes oder der Kartoffeln. Da Milch- und Käsesfteisen hier, so zu sagen, die Basis der Nahrung zahlreicher Menschenclassen sind, so kann man sich denken, daß daraus eine eigene Constitution und somatische Disposition der Leute hervorgegangen ist. Ein hiesiger Arzt hat mir gesagt, daß man bei der Wahl der Heilmittel sehr viel Rücksicht darauf nehmen müsse. Narkotische Sachen und sehr starke Mittel, Calomel, Opium und dergleichen, ertrügen diese von Milch und Käse genährten Hirten nur in sehr geringen Quantitäten, worüber sich, wenn sie hier zum Besuch kämen, besonders die englischen Aerzte, die den von Vier, Porter, Rostbeaf und Weißbrot genährten John Vull zu behandeln gewohnt wären, sehr wunderten. Auch eigenthümliche Krankheiten und Krankheitsformen gehen aus dieser Nahrungsweise hervor. Der weiche frische Käse, den man im Sommer aus den Alpen genießt, ist allerdings nicht so schädlich. Auch der gute fette Käse wäre es weniger; doch dieser geht meistens auf Handelswegen ins Ausland, und die Schweizer behalten für sich nur den schlechten, trockenen und mageren Käse, so daß man in diesem großen Kaselande sehr selten ein gutes Stück Käse zu essen bekommt, aus eben dem Grunde, aus welchem man in manchem guten Weinlande für gewöhnlich keinen guten Wein bekommt. Jener schlechte, trockene, scharfgesalzene Käse, der sehr wenig nährenden Stoff enthält, soll deui Blute eine ähnliche Schärfe mittheilen Die Scharröthe. 137 wie das gesalzene Fleisch, das die Schiffer auf ihren langen Reisen zuweilen im Uebermaße genießen. Und es sollen daraus ebenfalls wie bei den Matrosen scorbutischc Krankheiten entstehen, bei denen sich die Schärfe manchmal auf die Augen, sehr häufig in die Beine und auf andere Körpertheile wirft. Auch das Zahnfleisch leidet dabei, und die Zähne werden wackelig. Selbst der Name dieses Uebels, welches man hier „Scharröthe" nennt, erinnert an den Namen des „Scharbocks." Mehre abgelegene Bergthäler wurden mir genannt, in welchen „Scharröche" und Käsegenuß sehr allgemein seien. GS ist daher auch schon von vielen Menschenfreunden darauf hingedeutet worden, daß der Gemüsebau, namentlich die Anpflanzung von Rübe», Wurzeln und anderen antiscorbutischen Gewächsen hier mehr befördert werden sollte. Vielleicht wäre es auch gut, wenn man ihnen daö Wassertrinken lehren könnte. Denn so wunder-lich es klingt, daß die Leute in diesem Lande der klarsten Quellen meistens eine entschiedene Abneigung und ein Vorurtheil gegen daö Waffertrinken haben, so wahr ist es doch. Sie halten fast durchweg das Waffel für sehr schädlich. Man meint, dieser Glaube habe sich daher unter den Leuten verbreitet, well sie eS meistens zur Unzeit trinken, nämlich auf ihren Bergtouren, wenn sie sich durstig und erhitzt über die erste beßte Quelle hermachen, wo sie dann gewöhnlich üble Folgen vom Wassertrinken empfinden. Ihr vornehmstes Getränk ist Käsenulch, die sie „Süfi" (Gesäuf, d. h. Getränk) nennen, so wie der Käse „Spise", d. h. „Speise" genannt wird. So viel vom Käse und was damit in Verbindung steht. Der zweite Punkt, von dem ich bei Gelegenheit von Vrienz sprechen wollte, ist die Holzschneidekunst, die in diesem Orte mit besonderem Geschick geübt wird. Ich habe hier und in 138 Die Holzschnitzer von Vrienz. der Nachbarschaft mehre Holzschnitzler besucht, deren Pro-ductionen mich sowohl durch ihren Geschmack, als durch die Sauberkeit ihrer Arbeiten entzückten und mir bewiesen, daß es den hiesigen Bergbewohnern durchaus nicht an künstlerischen und mechanischen Talenten fehlt, wenn man sich nur die Mühe geben wollte, ihre Industrie zu wecken und zu fördern. Der größte Theil dieser Hirtenthäler war bisher völlig ohne alle Industriezweige. Die Hirtengeschäfte, im Sommer das Hüten des Viehes und die Käsefabrikation, im Winter das Tränken der Thiere und ihre sonstige Pflege, beschäftigen sie das ganze Jahr hindurch. Zum Theil sind dieß ziemlich bequemliche Arbeiten, die, namentlich im Winter, nicht alle Stunden des Tages ausfüllen. Es wird daher viel Zeit in Müßiggang zugebracht, der zum Theil ein gezwungener genannt werden kann, da weder die Umstände noch ein erfinderischer Geist passende und rentirende industrielle Beschäftigungen in Schwung gebracht hat, wie es deren z. V. im schwabischen Schwarzwalde oder im sächsischen Erzgebirge so viele giebt. Die Holzschneidekunst ist die einzige, welche in neuerer Zeit einiges Terrain gewonnen und einige Blüthen und Früchte getrieben hat, und von der, wie gesagt, Brienz eine Art von Hauptmittelpunkt geworden ist. Diese Kunst ist für das Land die natürlichste; erstlich, weil die Leute in ihren Bergen eine große Auswahl von Holzarten haben, und zweitens, weil sie sich an eine schon lange hier geübte Kunst, nämlich an die Holzarchitektur, anschließt. Die so malerisch gebauten Verner Holzhäuser haben ohne Zweifel die nächste Veranlassung zur Uebung jener Kunst gegeben. Sie sind ebenso wie in Norwegen überall an den Gesimsen, Fensterbrüstungen und Dachrändern mit zierlichen Holzschnitzereien geschmückt. Auch habe ich in alten Hauswirth- Blumen aus Holz geschnitzt. 139 schaften wahrgenommen, daß diese Holzverzierung schon frühzeitig auf die Möbeln, auf Schränke, Tische und Stühle, sogar auch auf einige Werkzeuge, wie Schaufelstiele und Hacken, übergegangen war. Die vielen fremden Reisenden, welche diese hübschen Häuser sahen, wünschten Copieen davon mit' zunehmen, und so bemühten sich die Leute zunächst, ihre Wohnungen en miniatur« in Holz nachzubilden. Diese reizenden kleinen Nachbildungen der Verner Vauergehöfte, Sen« nerhütten ,c. bilden noch jetzt ein Hauptproduct der Holzkünstler, und man verfertigt sie in allen Grüßen so hübsch, daß die Copieen fast appetitlicher aussehen als die Originale. Man ist aber dabei nicht stehen geblieben «nd verfertigt reizende Körbchen, Kästchen und hundert andere Dinge aus Holz auf eine bewundernswürdig zierliche Weise. Auch hat man sich schon zu höheren, rein künstlerischen Leistungen erhoben, und zwar sind es Blumen und Vlumenbouquets, welche den Leuten hier besonders gut gelingen. In Nachbildungen des menschlichen Körpers sind sie nicht so ausgezeichnet, wie die Holzschneider von Verchtesgaden und vom Thale Gröden in Tyrol, was daher rühren mag, daß sie hier durchweg protestantisch sind, wahrend in jenen katholischen Gegenden die Nachfrage nach Christus- und Heiligenbildern die Leute frühzeitig auf eine andere Vahn bringen mochte. Ich habe hier Vlumenbouquets gesehen, die Alles leisteten, Was ein Holzschneider darin leisten kann. Besonders reizend fand ich die Nähkästchen für Damen, auf deren oberer Seite ein hölzernes Vlumenbouquet liegt. Die Holzkünstler wissen die verschiedenen Arten von Blumen nicht nur sehr naturgetreu nachzubilden und nicht nur die Vlumenbouquets geschmackvoll zu componiren, sondern auch, was ich noch mehr bewundere, den Blumen ganz die Gestalt zu geben, die sie an- 140 Die Vrienzer Vlumenbouquets. zunehmen pflegen, wenn sie, halb niedergedrückt, auf etwas Flachem liegen. Und dabei lassen sie hier und da ein dem Vouquet entschlüpfendes Vlättchen ein wenig über den Rand des Kastens hervortreten, oder sondern auch ein Blatt von einer zerfallenden Rose völlig ab und legen es für sich hin, und scheinen noch manche andere kleine effectvolle Kunstgriffe der Natur oder den Blumenmalern abgelauscht zu haben. Auch setzen sie, wie diese, kleine Insccten und Schmetterlinge auf ihre Blumen. Nur Thautropfen können sie nicht daran hangen, da der glanzlose Stoff, in dem sie arbeiten, das Holz, dazu gar keine benutzbare Eigenschaft darbietet. Es ist eine der reinlichsten und für die Zuschauer reizendsten Bild-arbeiten, die es giebt, und in dieser Beziehung ist die Arbeit des Bildhauers in Marmor, der unter dem Meißel staubt, und im Thon, der schmierig und schmuzig ist, wahrhaft unappetitlich dagegen. Der Stoff, in dem sie arbeiten, ist schönes weißes Ahornholz, das bei jedem Schnitt seine immer hübsche, zart geäderte Oberfläche darbietet. Ihre Messer sind auf zwanzigerlei Weise gestaltet, einige sehr spitz, um tief in die Kelche der Blumen hineinzudringen, einige gekrümmt, um hinter den Rücken der Blumen zu kommen und sie aus dem kleinen Blocke zu lösen, — denn natürlich werden die Bouquets immer aus dem Ganzen geschnitzt, — andere besonders fein, um die feinen Staubfäden und Vlattadern zu gestalten, noch andere wieder breiter, um die größeren Flachen der Blätter zu glätten. Dafür fangen auch diese Vrienzer Blumenbouquets jetzt schon an, selbst in Amerika und in der Türkei berühmt zu werden. Ein Kaufmann, der, wie es Viele thun, jährlich die verschiedenen Districts der Alpen, in denen die Holzschneidekunst blüht, bereift, und mit dem ich zusammentraf, sagte mir, daß er nach den genannten Landern Die hölzerne Architektur. 141 die größten Quantitäten sende. Er habe Depots dieser Waare sowohl in Trieft als in Marseille und Paris, und sogar in Martinique in Westindien. In Norwegen, Rußland und den Alpen finden sich die vornehmsten Waldbewohner von Europa und dahcr auch die Leute, die am geschicktesten mit der Art und mit dem Holze umzugehen wissen. Hier in meiner Nähe sehe ich fast alle Tage Knäbchen von 5 oder 6 Jahren mit dem Veile so geschickt arbeiten, daß es eine wahre Freude ist, ihren kühnen Schlagen zuzusehen. In der Hand der Russen ist das Veil ein wahres Factotum. Daher kommt auch die frappante Aehnlichkeit der hölzernen Architektur in jenen drei so weit von einander entlegenen Ländern. In den Dörfern mancher großen Walddistricte Rußlands giebt es Holzhäuser, die den berühmten Schweizerhäusern ganz ähnlich sehen. Die Balken sind ebenso übereinander gelegt, Valcons oder Lauben laufen auf gleiche Weise herum, und die Holzschnitzzierathen an den Gesimsen, Einfassungen und Rändern fehlen in Rußland so wenig wie hier. Dasselbe ist es in Norwegen, wo die Holzhauser ganz nach denselben Principien gebaut werden. Eine norwegische kleine, einsame Berghütte sieht frappant aus wie eine Schweizer-Sennhütte. Um in Norwegen die Aehnlichkeit noch größer zu machen, kommt noch hinzu, daß man dort auch die Dachschindeln auf gleiche Weise wie in der Schweiz mit großen Steinen beschwert und befestigt. Ich mag noch gelegentlich bemerken, daß eben dieser Bauart der Hauser wegen auch eben in jenen drei Ländern ein Haus eine so bewegliche Sache ist. Von Rußland und Norwegen war es mir längst bekannt, daß die Hauser dort weit transports werden. Aber auch in den Alpen habe ich jetzt bemerkt, daß die Häuser zuweilen von einem Fleck zum anderen geschafft und wie Zelte bald hier, bald da aufgestellt werden. Die Russen wie die Nor- 142 Holzschnltzenbe Gegenden. weger schnitzen mit großem Geschick außer ihren Häusern auch noch eine Menge anderer Dinge aus Holz, die wir aus Thon, Stein, Metall oder anderem Material machen. Aber die Norweger aNein haben schon seit alten Zeiten die Holzschnitzerei auch als eine schöne Kunst geübt, und man sieht in den Museen von Kopenhagen und Christiania Schnitzwerke von norwegischen Bauern ausgeführt, die zum Theil bewundernswürdige Meisterstücke sind. In Rußland ist mir nur das Troitzkoi-KIofler bei Moskau und seine Nachbarschaft als ein District bekannt, in welchem sich jene Kunst als eine Volksindustrie unter den Bewohnern verbreitet hat. Man schnitzt dort jedoch hauptsächlich nur Spielsachen für die Jugend, wie in einem Theile des Erzgebirges und wie bei Nürnberg. In Deutschland sind die Bewohner dieser letztgenannten Gegenden seit lange ihrer zierlichen Holzarbciten wegen in aller Welt berühmt und verdienen es jetzt noch mehr zu werden, da in neuester Zeit sich ihr Geschmack auf eine sehr merkliche Weise gebessert hat. In den Alpen namentlich kenne ich die drei obengenannten Thäler als holzschnitzende Gegenden: das Grödener Thal in Tyrol, für dessen Products das benachbarte Votzen der Hauptmarkt ist, das Thal von Berchtesgaden, in welchem fast die ganze Bevölkerung für Wien, sowie für Berlin, Paris und Amerika zierliche Sächelchen schnitzt, und dann die Gegend von Vrienz, wo dieser Kunstzweig erst in der allerjüngsten Zeit emporgeblüht ist, und wo er vielleicht die Veranlassung dazu sem wird, daß hier bald auch noch andere Industriezweige und Erwerbsquellen daneben Wurzel schlagen werden. M e i r i n g e n. Ich wünschte, der Leser möchte sich entschließen, jedes Mal, bevor er mit mir einen Schritt weiter reist/ ein Capitel des Nutzen des Nelsens. 143 obengenannten Isaac Walton zu lesen und sich dadurch mit dem geduldigen und langmüthigen Geiste eines englischen Fisch« anglers zu erfüllen. Dann könnte ich sicher sein, daß er auch diese kleine Reise an den Ufern der Aar hinauf mit mir zu seiner Befriedigung zurücklegen würde. Isaac Walton geht so still und vorsichtig die grünen Ufern der englischen Flüsse entlang. Jeden Fisch, den er fängt, hält er stundenlang in der Hand, be« trachtet ihn auf dem Rücke» und auf dem Bauche, an dem Schwänze und der Schnauze und contemplirend conversirt er lange mit sich selber oder mit seinem Begleiter, erzählt diesem, wie der Fisch lebt, zeigt ihm genau, wie er gestaltet ist, und lehrt ihm, wie man ihn am beßten und schmackhaftesten zubereite. Ebenso wie Isaac Walton mit den Fischen, oder wie ein Botaniker mit den Blumen, möchte ich, als einer, der nach Eigenthümlichkeiten der Menschen und der Lander angelt, es mit jedem Menschen, der mir begegnet, oder überhaupt mit jedem interessanten Phänomene, das mir aufstößt, machen, und ich möchte, daß mir dabei nur solche Leser als Begleiter folgten, die auch den complete nnFler oder ttw contemplalivs mnn'» reoreMon mit demselben Interesse zu lesen im Stande sind, mit welchem Andere Novellen und Romane lesen. Und in der That, wenn wir nicht so reisten und wenn wir uns nicht bemühten, jede Erscheinung genau, allseitig und in ihrem Zusammenhange mit den übrigen Erscheinungen, die Vrienzer Holzblumen z. V. in ihrem Zusammenhange mit den norwegischen und russifchrn Holzhäusern, oder die hundertjährigen Schweizerkase in ihrem Zusammenhange mit dem Bremer Rathswemkeller und dem berühmten, uon den Franzosen geleerten Verncr Gold- und Sil« berschatze zu betrachten, — würde uns nicht der Hauptnutzen unserer Reise entschlüpfen? Rousseau lobt das Votanisiren und sagt, er sühse sich nie glücklicher, als wenn er stille, harmlose 144 Menschenstudien. Blumen auf dem Felde suche und über sie meditire. Ich glaube, daß ihn die Blumen selbst eigentlich weniger glücklich machten als daS Meditiren über sie. Wenn ich über Menschen und ihre Angelegenheiten meditire, so fühle ich mich eben so glücklich; denn mache ich die Menschen blos zu Gegenständen meiner Betrachtung, sehe ich sie nur als Gemälde, die ich copiren will, als Themata meines Nachdenkens, alsRälhsel, die ich errathen will, vor mir, so verwandeln sie sich gewissermaßen selbst in eben solche stille und harmlose Blumen, und ich empfinde dasselbe Glück, wie beim Votanisiren, oder vielmehr ein noch viel höheres Glück, da die Angelegenheiten des Menschen uns mit viel mehr Theilnahme, Mitleiden oder Freude erfüllen müssen als die stumme Naturkunde. Daß man in der Regel das Studium der Naturgegenstände, der Blumen, der Fische ic. so viel accurater betrieben hat als das des Menschen, daß man es nicht müde wird, genau zu beschreiben, wie eine Tulpe, wie eine Forelle gestaltet, gefärbt und gekleidet ist, wie eine Rose oder eine Erbse Wurzel schlagt, wie sich Blüthe und Frucht bei ihr entwickelt, wie ein Lachs oder ein Hering sich bewegt, wie er springt, schwimmt und auf welchen Wegen er wandert, — während man beim Menschen, es sei denn in Romanen, eine solche Methode selbst jetzt noch sehr selten anwendet, kommt wohl daher, weil alle jene und andere Dinge bei den Thieren und Pflanzen so unveränderlich und von der Natur für ewige Zeiten fest bestimmt sind, wahrend beim Menschen ANeS so willkürlich und veränderlich scheint, — weil wir in der Natur ewig wiederkehrende Typen haben, die durch genaue Beschreibung festzusetzen sich also der Mühe lohnt, weil sie bleiben, wahrend beim Menschen, der immer sich zu ver< wandeln scheint, sich eine solche Mühe kaum lohnen will. Ich sage scheint, denn was mich betrifft, so glaubeich, daß Das Oberhaslithal. 145 beim Menschen deö Unveränderlichen und Typenhaften fast eben so viel ist als in der Natur, und daß man immer noch gar nicht methodisch genug mit ihm verfahren ist, um dieß recht deutlich zu erkennen. — Mir kommt der Mensch immer vor wie ein uraltes Thema von wenigen Grundtönen, aber nnt zahllosen Variationen. Seine Betrachtung hat, wie es mir scheint, daher ein doppeltes Interesse, weil er immer der alte und doch auf der Oberfläche immer neu ist. In der Natur sehen wir bloß eine beständige Wiederholung uralter Themas ohne Va, riationen. Es giebt jetzt eine sehr gute Chaussee im Thalgrunde der Aar bis Meirmgen hinauf. Allein wir Fußgänger haben das Privilegium, daß wir an solche Staatsbahnen nicht gebunden sind und uns unseren eigenen Weg Wahlen. Da ein dichter Nebel in der Tiefe aller Thaler lag >md da ich in einer Höhe von 1000 Fuß schönes Wetter vermuthete, so beschloß ich, an den hohen Seitenwänden des Haslithales über den Wallenberg und die Dörfer des sogenannten Hasliberges nachMeinngen hinauf« zugehen. Dieß ist eine wundervolle Promenade, wie Jeder einigermaßen wird begreifen können, der mir erlaubt, ihm zu sagen, wie das Oberhaslithal gestaltet ist. Es ist dasselbe ein flacher grüner, eine halbe Lieue breiter Wiesenboden, in dessen Mitte die Aar zum Vricnzer See hinablauft. Auf beiden Seiten dieses tiefen, grünen, ganzlich unbewohnten Streifens erheben sich waldige schroffe AbHange, von denen mehre hübsche Wasserfalle herabfallen, bis zu einer Höhe von ungefähr 800 bis 1000 Fuß. Auf der Südseite des Thales nun geht es von diesem Absätze ziemlich rasch zu den höchsten Hörnern der zu beiden Seiten das Thal einfassenden Bergrücken empor. Auf der Nord--, d.h. der Sonnenseite dagegen liegen die höchsten Gräte, welche das Hasliland von Unterwaiden trennen, weiier Kohl, Ulpnn'liscn. I. 7 146 Ziegenmarft in Brienz. zurück. Es giebt da noch mehre schroffe Felsabfatze, mehre breite Terrassen und grüne Wiesenräume, und zwischen durchaus diesen Terrassen mehre Dörfer und menschliche Ansiedelungen, von denen man zu den Nachbardörfern dann wiederum durch waldige und schroffe Felsgehänge sich hinaufarbeiten muß. Man kann sich denken, wie viele hübsche Bilder und Ueberraschungen, wie uiele anmuthige Abwechselungen von Wildniß und Anbau, von Ebene und Felscoulisse, von Wald und Wiese sich bei einem so gestalteten Terrain dem Wanderer darbieten muffen. Ich glaubte durch ein großes Amphitheater mit vielen Logen — in jeder Loge ein Dorf — zu gehen. Dabei fanden wir wirtlich den herrlichsten Sonnenschein oben; der Nebel verdeckte unS freilich die Tlefe des Thales, aber die Sonne zeigte uns um so heNer die Gipfel der Netterhörner, die sich gerade vomHasli« berge malerischer als von irgend einem anderen Standpunkte aus darstellen. ES sollte in Vrienz den anderen Tag ein Viehmarkt fein, und wir fanden daher viel Leben und Lärm in den Bergen. Ueberall begegneten uns Hirten, die ihr Vieh von den Alpen herabgeholt hatten, um es nach Brienz zu treiben, oder wenigstens in der Nahe ihrer Wohnung zu halten, damit sie es am anderen Tage beiZeitm fortbringen konnten, oder wohlhabende Viehhändler, die mit vollem Beutel zu Markte gingen, um gute Einkaufe zu machen, — weit mehr aber arme Leutchen mit Ziegen. Denn es war hauptsächlich ein Markt für diese Viehgattung und also auch für die Armen des Landes, welche die vornehmsten Ziegenbesitzer sind. Wir sahen manche kummervollen Gesichter, sowohl bei denen, welche mit Ziegen zum Verkauf heradkamen und welche uns traurig versicherten, die große Nothund die hohen Preise des Viehs zwangen sie zum Verkauf-Sie hätten Geld nöthig und müßten sich deßhalb von ibren guten Gin Geishnt. 147 Ziegen trennen, mn wieder ein paarZehrPfennige zu hauen,— als auch bei denen, welche mit der Absicht, Ziegen einzukaufen, kamen, und die uns versicherten, da ihr letztes Thierchen gestorben und sie ohne Ziegenmilch nichi leben könnten, so müßten sie sich nun von ihren mühsam zusammengesparten Batzen trennen, um wieder ein Zicklein zu gewinnen. — Man hat bei solchen Veranlassungen häufig Gelegenheit, die Sorgen und Hoffnungen, welche die Gemüther der kleinen Leutchen des Landes bewegen, näher kennen zu lernen. Ein Mensch kam mit einer ganzen kleinen Heerde von 15 Ziegen vom Verge herab, von denen er, wie er sagte, der Besitzer und Herr sei. Er habe, sagte er, nichts als Ziegen und eine kleine Hütte in seinem Besitz, er ziehe Ziegen auf und verhandele sie, wenn ihm die Preise gefielen. — Als ich dieses Menschen ansichtig wurde, fielm mir die Worte Theokrits in einer seiner Idyllen ein: ___„ein Geishirt, Keiner auch hatt' ihn „Sehend verkannt, so schien er ein Geishirt völlig von Ansehn." Seine Hosen hingen in zahllose Fetzen und lange Faden aufgelöst auf seine Kniee herab, und ebenso die Aermel seiner Jacke bis auf die Ellbogen. Was daran mangelte, hing vermuthlich an den Dornbüschen und Fclsenspitzen, zwischen denen diese Ziegenhirten sich beständig hindurchwmden müssen, um ihren Thieren zu folgen oder sie von gefahrlichen Stellen zurückzuholen. Um die Schultern hatte er ein wildes, mehrfach geflicktes Ziegenfell gehängt, wie es die Hirten hier, in den Pyrenäen und im alten Griechenland des Theokrit zu tragen pflegen. An der Seite hing ihm eine lederne Tasche mit Salz, die sogenannte ,.Löcktasche", die den hiesigen Hirten so nöthig ist, wie den Jägern das Pulverhorn und den Fischern die Köderbüchse. Denn Salz (von ihnen „Lock'' genannt) ist das Zaubermittel, 7* 148 Bcrner Bauerntracht. mit welchem sie ihr Vieh ohne Mühe überall hinlocken und hin« gewöhnen, wohin sie es zu haben wünschen. Stecken sie ihre Hand in Salz und lassen sie die Thiere daran riechen, so folgen ihnen ganze Trupps barscher Rinder wie gehorsame Kinder. Wünschen sie die Ziegen oder Kühe in einer Höhle oder sonst an einem geeigneten Platz zum Melken zu versammeln, so geben sie ihnen dort einige Male Salz zu lecken, und die Thiere kommen dann alle Abende zur bestimmten Stunde herbei. Hätte ich die Absicht gehabt, die genannten Idyllen jenes Griechen zu lllustriren, ich hatte diesen Ziegenhirten auf der Stelle portrai-tirt und Ware sicher gewesen, mein Werk durch ihn zu zieren. Es giebt sonst unter den Schweizern, namentlich der hie« flgen Gegend, außer den Geishirten und Geisbuben sehr wenig Malerisches. Die Männer haben hier gewöhnlich ein höchst unkleidsames Costüm, das in Form und Schnitt eine ungeschickte Nachahmung der französischen Kleidung der höheren Stände zu sein scheint und die schmuzig gelbe Farbe des Lehms hat. Nur hie und da in der Schweiz sieht man zuweilen einige alte Manner, welche das alte Schweizernationalcoftüm noch nicht abgelegt haben. Der gewöhnliche Schweizer ist als Alpenstaffage gar nicht zu gebrauchen. Die Frauen dagegen, die hier wie anderswo noch an dem Nationalcostüm festgehalten haben, geben dem Maler weit mehr Trost und Freude. Ihr Sommercostüm mit dem kecken kleinen Strohhut, mit den langen Haarflechten, mit de» weiten Aermeln, mit dem von schneeweißem Tuche bedeckten Busen, mit dem knappen rothen Mieders, ist in ganz Europa bekannt und wird tausendmal in allen europäischen Zuckerbackereien, in allcn Kunstladen und auf hundert dn!« oo8tum6s zur Schau gestellt. Ihr schwarzes Winter-costüm mit den silbernen Ketten, mit dem einfach um den Kopf gewundenen Haar, mit der engen, züchtigen Halskrause, mit der . Die Stidterticicht. 149 sammetnen Haube, deren breiter und reicher Spitzenbesatz ihnen sehr kleidsam Stirn, Wangen und Kinn umkräuselt, ist weniger bekannt. Selbst die wohlhabendsten Mädchen und Frauen dieser Gegenden hangen diesem alten Costume an, und ich fand noch nirgends eineNeigung unter ihnen, es mit der französischen Kleidung zu vertauschen. Diese nennen sie die „Städtertracht" und jene die ,,Vauerntracht", wobei man zugleich bemerken möge, daß das Wort „Bauern" den üblen Nebenbegriff, den wir mit ihm verbinden, nicht hat. In Sachsen wollen Leute, die offenbar nichts als ehrliche Bauern sind, „ Oekonome n" oder „Gutsbesitzer" genannt werden. Hier aber nimmt ein hübsches, französisch und englisch parlirendes, Schiller, Göthe, Dickens und Eugen Sue lesendes Mädchen keilte» An« stand, uns zu sagen, daß sie sich am liebsten in „Bauern» tracht" kleide.' Bauer hat hier mehr die Bedeutung von Landbewohner, während wir uns dabei gleich einen der Nachkommen der ehemaligen Leibeigenen vorstellen, dle hier in der Schweiz zum Theil gar nicht elistirten, zum Theil sehr frühzeitig abgeschafft wurden. Gewöhnlich denkt man an die negativen Eigenthümlichkeiten eineö Landes viel weniger als an die positiven, und daher will ich hier, wo ich a»f die Bauern zu reden gekommen bin, bemerklich machen, in wie hohem Grade im Beruer Oberland« im Vergleich mit früher Alles nivellirt ist. Von Thun auswärts giebt es im ganzen Aarthale, sowie auch in den Thälern der Lütschine, der Kander und der Simme, nichts als Leute vom Bauernstande. Viele Schloßruinen in diesen Thalern zeigen, baß sonst hier alte Barone, deren Name» auch die Geschichte uns noch aufbewahrt hat, hausten und Hof hielten. Noch vor 20 bis 30 Jahren gab eö wenigstens einige patrizische Familien, die als Beamte in diesen Gegenden wohnten und kleine 159 Abstammung der Schweizer. Centralpunkte gebildeter Gesellschaft waren. Ihre jetzigen Nachfolger sind meistens von bäurischer Abkunft und missen nicht, was das heißt, „ein angenehmes Haus machen". Nur im Sommer ziehen einige patrizische Familien an den Thuner See, und vann durchströmen müßige Leute aus halb Europa diese Thäler, die jetzt im Winter sich in ihrem Primitiv-Zustande befinden. — In den Thälern von WaNis und Graubündten woh« nen noch viele alte Edelleute mitten unter den Hirten und Bauern. Unter den hiesigen Bauern selbst aber, namentlich unter denen des Oberhaslilhales giebt es noch Geschlechter, deren Alter sehr hoch hinaufgeht, und die vermuthlich, obgleich sie völlig verbauert sind, auf dieses Alter noch gewisse Ansprüche einer höheren Achtung gründen. Viele haben noch das Wort« chen „von" vor ihren Familiennamen. So wurde ich zum Beispiel mit einem „von Weißenflue" und dann mit einem „von Bergen" bekannt, die mir beide erzählten, wie ihre Geschlechter noch von den Schweden abstammten, welche zuerst dieses Land besetzt hatten, und wie sie wohl wüßten, daß diese selben Na« men ihrer Familien noch jetzt in Schweden und in Deutsch« land gefunden würden. Der Glaube an ihre Abstammung von den Schweden ist unter den Oberhaslern ganz allgemein. Und da mir an dieser uns leider so unwahrscheinlich überlieferten Sage eben jener allgemein im Volke verbreitete Glaube das Merkwürdigste ist, so will ich über diesen Punkt noch einige Beobachtungen, die ich machte, mittheilen. Nicht nur jeder Prediger und Gebildete in diesen Gegenden weiß von dieser Sage, die, wie bei Johannes von Müller zu lesen ist, dahin geht, daß zur Zeit einer Hungersnolh (das Jahr Christi kennt man nicht) 6000 Schweden und Friesen sich den Rhein hinauf gckämpft und nach Erreichung der hiesigen Bergthäler, die ihrem Vaterlande so ahnlich gesehen, hier firirt hätten, — sondern Die Schwedensage. 151 auch fast alle Vauern glauben fest daran. Ich fragte manchmal mit Fleiß einige, die mir gar nicht danach aussahen, als wenn sie etwaS von dieser Sage wissen könnten, und zu meiner Verwunderung fand ich sie sehr wohl damit vertraut. Leute, die solchen Geschlechtern, wie dem von Bergen angehören, sprechen mit großer Vorliebe und mit lautem Eifer von ihrer schwedischen Herkunft. Johannes von Müller, der, wie gesagt, ebenfalls an diese Sage glaubte, und der selbst erzählt, wie die Mütter wehklagend ihre unmündigen Kinder aus Schweden fortführten und wie jene ßoW unterwegs den Grafen Peter von Franken schlugen, sagt, daß die Schweden die Eanlone Schwvtz, Unterwalden und alle Theile des Verner Oberlandes, so wie auch das Saanenland nahe am Genfer See besetzten. Indessen ist es bemerkenswerth, daß weder in Unterwalden, noch auch in den westlichen Theilen, im Saanenlande, im Sinnnen-thale u. s. w., die Sage so lebendig, so allgemein ist, wie im Oberhaslithale, wo der eigentliche Sitz dieser Sage zu sein scheint, und wo auch das berühmt gewordene Ostfriesenlied gedichtet ist*), welches jene Sage in 80 Strophen besingt. Auch in Schweden ist die Sage —wahrscheinlich jedoch nurals ein Echo aus der Schweiz — bekannt, und es sind nicht nur in Upsala Dissertationen" über die nach der Schweiz ausgewanderte Echwe-dencolonie" geschrieben worden, sondern auch Gustav Adolph soll sich, als er im dreißigjährigen Kriege mit den Schweizern unterhandelte, auf die Verwandtschaft der Schweizer und Schweden berufen haben, und Herr Wyß sagt in seinem Buche über das BernerOberland, als der abgefetzte letzte König von Schweden nach der Schweiz gekommen sei, hatten die Oberhaöler sofort eine „sauber hafte" Abschrift eines in ihren alten Gesetz- ') Von elnem Prediger zu Meiringen vor 300 Jahren. 152 Ursprung der Nhätier. sammlnngen eristirenden Verichts veranlaßt, um sie „zu landsmännischem Gruße" dem hohen Reisenden anzu« bieten. — Das Volk von Hasli trägt sich sogar noch täglich mit den Namen der ersten Anführer der Schweden herum. Sie sollen Restius und Hasius geheißen haben, sowie der schwedische Anführer, der in Schwytz blieb, Suiter genannt wird. Vermuthlich ist nicht mehr historische Wahrheit an diesen Namen, wie an den Namen des Königs Dan in Dänemark, des Helden Freso in Fliesland, des allen Teut in Deutschland und unzäh« ligen anderen Heldennamen, auf welche die meisten Nationen ihren Ursprung und Volksnamen zurückführen. Wenig« Meilen von den Schwytzern und Oberhaslern wohnen Leute, welche ihreHelden und ihren Ursprung weit aus dem Suden, wie jene die ihrigen hoch aus dem Norden hervorholen, die Graubündtner oder Rhätier nämlich, die einer ebenso allgemein geglaubten Volkssage gemäß von einem italienischen Anführer, Rhetus aus Etrurien, abstammen. Diese Sage wird indeß weit glaublicher, erstens weil bei einem großen Theil der Graubündtner sich noch ein uraltes italienisches Idiom erhalten hat, und zweitens weil sie das Ereigniß der Nebertragung dieser südlichen Colonie in eine sehr entfernte Zeit, nämlich ins Jahr 500 vor Christi Geburt zurücklegen, wo es immer möglich war, daß die Grau? bündtner Thaler größtenthcils noch unbewohnt waren. Vei jenen 6000 Schweden, die einen Grafen Peter von Franken am Rhein besieglen, die daher allerfrühestens doch erst am Anfange des Mittclalterö kommen konnten, begreift man nicht, wie sie sich ohne gewaltige Kämpfe, von denen die Geschichte uns gewiß einige Kunde anfbewahlt hatte, in den Besitz jener damals längst bewohnten Thaler, d!e ihnen zugeschrieben werden, setzen konnten. — Man beschreibt die Obei-Haöler gewöhnlich als auffallend große, langgewachsene, starke und blondhaarige Leute und bringt Gestörte Wlrthshausruhe. 153 auch dieß mit ihrer schwedischen Abkunft in Verbindung. Man kann in hundert Büchern lesen, wie dieß Giner demAnderen nachschreibt. Auch giebt es eine Menge skandinavischer Worte in dem Dialekte oer Oberhasler; doch finden sich dieselben Worte auch in anderen Schweizerdialekten. Ganz merkwürdig ist es, daß vie Kirche in Meiringen ähnlich gebaut ist, wie die Kirchen in Nordfriesland und Skandinavien. Ihr Thurm steht nämlich neben der Kirche, ganz von dem Gebäude derselben isolirt. Gegen Abend stieg ich ziemlich wider Willen aus den sonni--gen Höhen des Haslibergeö in das nebelige Thal hinab und wandte mich durch Meiringen zu dem freundlichen Wirthshause des Reichenbacher Bades, wo ich in Gesellschaft eines jungen Englanders, der sich mir freundlich zum Reisegefährten nach der Grimsel anbot, einen heiteren Abend verlebte. G u t t a n n e n. Die Ziegen, die Schafe und Kalber, die für den Vrienzer Markt bestimmt waren, und ihre Hirten haben mich diese Nacht zur Verzweiflung gebracht. Denn ich hatte ein Schlafzimmer, das dicht an der Landstraße lag, und die ganze Nacht trappelte und blökte ein wahrer Vieh- und Völkerwanderungsstrom an meinem Fenster vorüber. Es schien mir, als hätten die Verge alle ihre Ziegen- und Hirtenvorräthe in dieß Thal ergossen. Kaum hatte ich einen Trupp überstanden und glaubte nun die emge? tretene köstliche Nachtruhe zum Einschlummern benutzen zu tonnen, so hörte ich schon von Weitem wieder einige verwirrte Töne, die näher und näher kamen, und ich unterschied dann bald das Trippeln der kleinen Geislein und die hartstampfenden Verg-schuhe ihres Hirten. Zuweilen trabte ein Zug so vorüber, ohne 745 154 Das „Klrchet." weiteres Geräusch als das, welches von den Klauen. Hufen und Nägeln der zahllosen Füße ausging. Gewöhnlich aber war dieß Trampen und Trappeln vom Blöken und Brüllen der Thiere, die, so aus dem warmen Stall in die Finsterniß der kalten Nacht hinausgebracht, nicht wußten, wie ihnen geschah, — und dieß Vlöken und Brüllen wieder von den redseligsten Gesprächen der Weiber, Männer und Geisbuben begleitet, deren Beredtsamkeit ich trotz meines Aergers bewundern mußte, da sie so Vieles zu bemerken, zu discutiren, zu erwidern und zu repliciren fanden über einen so einfachen Gegenstand, wie es der Kauf oder Verkauf einer Ziege oder eines Schafes ist. Wir —^ mein junger Engländer, ich und unser Führer — machten u„S nach dem Frühstück auf den Weg in der Hoffnung, daß wir denAbend beiZeiten auf derGrimsel anlangen würden. Eine halbe Stunde hinter Meiringen wird das Haslithal durch einen Riegel oder Bergrücken, welcher quer durch geht, verschlossen. Dieser Niegel heißt „das Kirchet". Da die Aar sich durch diesen Rücken in tiefen Einschnitten hindurchwindet, da jenseits des Rückens sich wiederum ein reizender tiefer Thal-gnind eröffnet, da das Kirchet selbst mit schönen Laubbäumen besetzt ist und sich gleichsam als eine Galerie oder natürliche Nrücke, die auf beiden Seiten zwei hübsche Thaler hat, und deren Brückenköpfe hohe Alpenhörner sind, darstellt, so kann man sich denken, daß dieser Punct eine Menge höchst reizender und pittoresker Motive darbieten muß. In der That, es ist so zu sagen ein ganzes Nest von Naturbildern, und der Künstler findet hier eine Menge kleiner Winkel, die ihm Studien und Scenen der mannigfaltigsten Art darbieten, sowie das Auge und Urtheil des kritisirenden Theoretikers sich fast bei jedem Schritte aufgefordert finden, ihre Kräfte zu üben und den ästhetischen Werth jeder An> und Aussicht zu bestimmen Das Rendezvous der Maler. 155 Das benachbarte Meiringen ist überhaupt eins der vornehmsten Rendezvous der Landschaftsmaler der Schweiz, Deutschlands und Frankreichs geworden. Man findet im Sommer hier immer einige berühmte Künstler aus Genf, Paris oder München, welche Motive z,i Bildern für ihre Gemäldeausstellungen suchen, und eine Menge Anfänger, die der Natur einen neuen Zug abzulauschen sich bemühen. Es giebt in dem Thale von Vnenz bis zur Grimsel innerhalb eines so kleinen Bezirks so viel Sanftes und Wildes, so viel Liebliches und Grausiges, so viel Idyllisches und Grandioses, daß man selten innerhalb eines so kleinen Bezirks sich so vielseitig befriedigt fühlt. Auch sind hier wenige Felsen und Dörfer, ja wenige einzelne Vämne und Vaumgruppen, die nlcht schon ein Pinsel zu verewigen versucht und die nicht schon aufeinerGemaldeausstellung in irgend einer unserer Capitalen vom europäischen Publkum bewundert wurden. Da die Bevölkerung der Gegend und namentlich das weibliche Geschlecht sich eben so durch Schönheit hervorthut, wie die Natur, so verleiht dieß dem Haslithale einen neuen Reiz für die Maler, und man kann auch von den Jungfrauen von Meiringen, vonVrienz, von Interlakcn lc. sagen, daß von den das Schöne suchenden Künstlern ebenso Jagd auf sie gemacht wird. wie auf die Felsen und Väume, und es giebt wenige unter ihnen, die nicht, sei es in ihrem Nationalcostüm, oder in irgend einer Maskirung dem Schönheitslenncr des Louvre oder der Pinakothek bekannt geworden wären. Me paar Jahre erblüht hier die eine oder die andere Vlume, welche eine Zeit lang die Königin der Maler bleibt. Man hat mir hier in der Gegend mehre solcher Königinnen gezeigt, die aber jetzt längst dethronisirt waren. In Vrienz sah ich eine junge Schönheit, die eben in diesem Augenblick allgemein bewundert war. Sie 156 „Im Winter werden die Schweizer wieder Schweizer." hieß Stähli Väbi, und ein Verner Bildhauer hatte sie als Madonna berühmt gemacht. Wir ließen uns die nöthige Zeit, um die wundervolle Rie« senbrücke, das Kirchet, in allen Theilen zu genießen und zu studiren, und wir thaten dieß mit um so größerer Gemüthlichkeit, da wir jetzt auf unserem Wege durch keine nach Merkwürdigkeiten jagenden Reisenden gestört wurden. Wir fanden in den Verstecken und Wäldchen des Kirchct Niemanden als Vögel und Geisbuben, die ganz natürliche und angemessenste Bevölkerung der Schweizerberge. Auch waren diese Geisbubeu jetzt munter und sangen, hinter ihren Ziegen herwandelnd, sorgenlos ihren natürlichen Gesang. Sie bettelten uns nicht an, wie sie im Sommer gethan haben würden, und erwiesen uns Gefälligkeiten ohne Geld. bemerkte mein Englander, und dieß ist sehr wahr. Das Gewinn-und Geldsieber, das sie im Sommer bei dem Gindringen des Fremdenstroms und bei der dadurch veranlaßten Concurrenz ergreift, hört im Winter auf, und die Leute zeigen sich wieber ganz menschlich und idyllisch wie ein Bergvolk. Die kleinen munteren Gcisbuben bilden eins der poetischesten Elemente der schweizerischen Bevölkerung, und wenn man denen, welche versichern, daß alles Idyllische aus den Schweizerbergen längst verbannt sei, zu glauben geneigt sein sollte, so könnten einen diese Geisbuben allein auf andere Gedanken bringen. Ich kann dem Treiben dieser Burschen, denen ich auf allen meinen Spazier» gangen begegne, nicht ohne das größte Interesse zusehen. Ge« wohnlich sind sie auf ähnliche Weise mit malerischen Lumpen bekleidet, wie jener Ziegenhirt, den ich oben vorführte. Da sie bestandig im Freien leben, so haben sie meistens ein blühendes Ansehen. Sie müssen ihrem gehörnten Vieh auf allen Wegen Die Geisbuben. 157 und Stegen nachklettern, um es bald von einem schroffen Fels-bände herabzuholen, bald aus einer Schlucht hervorzujagen. Sie erlangen daher frühzeitig eine Gewandheit im Klettern, die jener der Ziegen fast gleichkommt. Gewöhnlich tragen sie einen Stecken als Scepter in der Hand, und dieß giebt den kleinen Burschen, auf denen schon so schwere Verantwortlichkeit ruht — denn jede Ziege ist ihnen aufs Gewissen gebunden — einen Anstrich von Geschäftigkeil und Würde, die mit ihrer Jugend sehr contrastirt. Oft schleichen sie einsam zwischen den Felsen einher, abwechselnd ein Liedchen pfeifend und ihrem zerstreuten Vieh zurufend. Aber meistens wissen sie Cameraden zu finden, und hausig sieht man ihrer drei oder vier beisammen, die sich bei einer Höhle oder unter einer großen Tanne ein Rendezvous gegeben haben, wo sie ein Feuer unterhalten und aNerlei Scherze und Spiele ausführen, die nur zu Zelten durch eine Ausgelassenheit, welche sich ihrerseits vielleicht auch ihre Ziegen erlauben, und welche sie, die Herren Geisbuben, nicht dulden dürfen, unterbrochen werden. — Die meisten Bewohner dieser Thaler sind einmal in ihrem Leben Geisbuben gewesen, und wir haben hier jetzt sogar bedeutende Staatsbeamte, Statthalter, Großräthe und dergleichen, welche einst Geisbuben waren, so wie es im englischen Parliament« ein Ixjnournlila member giebt, daS einst sliepllsrü, und ein anderes, das einst ein^aok tar (Matrose) war. — Die Thalbewohner der Schweiz sehen natürlich auf ihr Geisbubenleben mit derselben Zärtlichkeit und stillen Sehnsucht zurück, mit welcher die deutschen Gelehrte» auf ihr Gymnasial- und Universitätsleben Hinblicken, und ich kenne hier einige sehr hübsche Lieder, welche das poetische Leben der Geiö-buben in Versen sehr niedlich schildern, und welche von den Gro« ßen viel gesungen werden. — Die Gtisbubenzeit ist eS, m Welcher sie mit ihren Vergen und Thälern vorzugsweise vertraut l58 Krieg der Baumeister und Maler. werden, und in welcher sie ihr Vaterland so lieb gewinnen, und wahrscheinlich ist es eben diese Zeit, welche die Grundlage des so berühmt gewordenen Schweizer-Heimwehs ist. Die Ingenieure, Architekten, Straßen-, Eisenbahn-und Canal-Vauer liegen mehr oder weniger überall mit den Künstlern und Naturliebhabern in Krieg, sowie die Dampfschifffahrer mit den Fischern. Und auch hier auf dem Kirchet haben sie den Malern manche schöne Scene verdorben. Sonst waren die Abhänge des Kirchet mit schönen malerischen Granitblöcken bedeckt, die jetzt fast alle zu dem herrlichen Brückenbau bei Bern verbraucht sind weil sie den Architekten das beßte Material dazu zu liefern schienen. Wir sahen jetzt nur noch die kleinen Stein« brocket, welche die Architekten nicht hatten brauchen können, ander Stelle der malerischen Blöcke daliegen. Auch den Anhängern der Agassiz'schen Gleischertheorie ist bei dieser Gelegenheit ein Streich gespielt wolden. Denn auch der große breite Block, der ehemals hier auf der Spitze eines anderen Blocks schwebend lag, und den Agassiz als ein entschiedenes Monument von Gletscherwirksam-keit aufführt, ist jetzt verschwunden. Ebenso sind bei dieser Gelegenheit viele alte schöne Baume darauf gegangen. Doch sind der übriggebliebenen zum Glück noch mehr. Das tiefe Thal oberhalb des hohen Riegels des Kirchet war ohne Zweifel früher ein See, der über den Kirchet hinweg seinen Abfluß in die tieferen Gegenden hatte. Dieser Abfluß scheint Anfangs an der einen und später an einer anderen Stelle stattgehabt zu haben. Denn man verfolgt über den Nucken des Kirchet hin noch jetzt ein altes Flußbett, das nun trocken liegt. Wir gingen in diesem Flußbett hin, das nun mit Bäumen und Büschen erfüllt ist. Zu seinen Seiten ln den Felswänden sieht man Nischen, welche das Wasser auswusch, und Säulen, die es hie und da stehen ließ. Die Leute nennen dieses Flußbett die Lauter- Die finstere Schlauche. )59 Aarschlllcht, weil es nicht tief und überall am Sonnenlichte.liegt. Das zweite tieft Aarbett dagegen, in welchem der Fluß noch jetzt stießt, heißen sie die finstere „Aarschlucht" oder kurz „die finstere Schlauche". Diese Schlucht ist eins der merkwürdigsten Naturwunder der Schweiz. Durch eine Nebenschlucht, die wie die Hauptschlucht selbst vom Wasser ausgewaschen ist, steigt man in die Tiefe hinab, und wir fanden unten, daß auch hier die Winterreise einige besondere Vortheile vor einer Sommerreise darbot. Im Sommer ist gewöhnlich die ganze Schlucht unten mit Ueberstuß von Wasser gefüllt, und man thut nur einen Vlick hinein. Jetzt b edeckte das Wasser den Voden kaum halb, und wir konnten an den Seiten hinauf- und hinabgehen und uns überall umsehen. — Der Voden der Seitenschlucht ist mit großen Granicblocken bedeckt, zwischen denen hie und da das machtige Wurzelwerk eines uralten Vaumes eingequetscht ist. Der Vaum selbst ist längst verschwunden, aber die Wurzelknollen find wie versteinert und liegen vermuthlich schon seit Iahrhun« derten zwischen den Steinen. Lange Eiszacken hingen nun von den Wurzeln wie von den Blöcken herab, und die Oberfläche des Holzes wie der Steine war mit demselben Eisfirniß überzogen. — An den Scitenwänven der Schlucht find große, tief ausgeschwemmte Nischen, einige so regelmäßig und glatt, wie riesige Steinbecken, welche der Meißel des Bildhauers glättete. — Die Hauptschlucht, in die man hervortritt, mag etwa 50 Schritt breit sein. Da aber die Seitenwande zugleich über 300 Fuß hoch sind, so glaubt man, nach oben blickend, nur einen schmalen Spalt zu sehm, durch welchen der blaue Himmel hineinblickt. Der Spalt ist gerade bis zu der Tiefe des Thales oberhalb hinabgearbeitet, und man blickt durch denselben hindurch, wie durch ein gewaltig hohes und schmales Thor, in dicß grüne Thal hinein. Leider erlaubte eS uns die Aar trotz ihrer jetzigen Klein« 160 Das Sägen und Feilen beS Wassers. heit noch nicht, ganz durch dieses Thor ins Thal hinauszutreten. Auf der anderen Seite sieht man das untere Thal nicht. Denn die Schlucht macht hier nach unten eine Windung und scheint sich dort in tiefere Abgründe zu verlieren. Der Anblick und die Anordnung des Ganzen übertrifft, glaube ich. Alles, was es dieser Art nuch in der Natur geben kann. Dem Geiste schwindelt, wenn er an die Reihe von Jahrhunderten denkt, welche nothig waren, damit das so weiche, so theilbare und nach« giebige Wasser diese feste Felsenpartie durchsagen konnte. Mir wird schon übel, wenn ich die Menschen mit Pulver, Meißel und Hammer in Bergwerken oder bei Chausseebauten sich langsam und mühselig durch einen Felsen hindurcharbeiten sehe, und doch geht ihre Arbeit in Vergleich mit der des Wassers so schnell, wie ein Windhund im Vergleich zu einer Schnecke. — Das hohe Alter des Geripps unseres Globus frappirt und ergreift unö bei keiner Formation mehr als bei solchen vom Wasser ausgegrabenen Schluchten. Zwar sind die Felsenformen, ihre Ecken und Winkel oben zum Theil noch Producte einer viel alteren Arbeit. Aber wir sehen den Hammer nicht mehr, der diese Figuren so oder so zurecht meißelte. In dieser Schlucht dagegen legen wir die Hände in die Nischen, die das Wasser höhlte, und wir haben die Säge, welche den Spalt aussagte, den Fluß nämlich, noch dabei. Ja die Arbeit selbst, da der Fluß nicht aufhört zu stießen und zu graben, geht «och fort. Gs bleibt kein Zweifel, daß er und er allein in dieser Werkstatt der Werkmeister ist, und es wird handgreiflich, daß er, so wie er jetzt hier wirkt und schafft, so durch Tag und Nacht, durch Winter und Sommer, durch die ganze Zeit vor und nach Noah, durch alle Jahrtausende vor und nach Adam wirken und schassen mußte.— Es ist entsetzlich, welche unabsehbare lange Reihe von Jahren unser Globus als ein todter, unbewohnter, seelenloserKloß durch DieLammi. 161 die Weltenräume irren mußte, bevor die munteren Geisbuben und andere genießende Menschen seine Oberfläche zu beleben begannen. Man muß sich leider aus der finsteren Aarschlucht auf demselben Nege, auf dem man hereinkam, durch die Nebenschlucht zurückziehen, noch einmal die Höhe des Kirchet passiren und dann wieder zu dem ebenen Thale hinabsteigen. Es eröffnete sich uns hier die Aussicht auf einen solchen flachen, grünen Thalkessel, wie sie den Reisenden noch oft wieder erfreuen, wenn er schon glaubte, in den Schluchten und Schroffen das Gnde der Welt und aNer Thäler erreicht zu haben. Diese kleinen Flächen grüner frucht- und bewohnbarer Landstückchcn, die man überall, wie kleine Oasen, mitten in der höchsten Gebirgöwildniß findet, bekommen gewöhnlich von den Bergbewohnern besondere Na« men, die für die Situation charakteristisch find. Der Kessel, welcher vor uns lag, so wie das darin nistende Dorf, hieß „Im Grunde". Hier Passirte mir im Wirthshause etwas Wun» derlicheö. Ich sah dort nämlich ein recht hübsches Bild von einer Verggegend, die mich im Vilde außerordentlich reizte. Die Felsen waren so wild gebildet, ein steiler Pfad schlangelte sich so kühn an ihren Seiten hin und setzte auf einem schmalen Nrückchen über einen so unergründlichen Spalt, daß ich bei der Betrachtung des Bildchens vom Verlangen ergriffen wurde, doch auch noch einmal in meinem Leben zu dieser interessanten Bergpartie zu gelangen, die der Unterschrift zufolge „die Lammi" heißen sollte. Da ich noch nie von dieser „Lammi" gehört hatte, so verlegte ich sie an irgend ein entferntes Ende der Alpen und beschloß sogleich, gelegentlich einmal dahin zu reisen. Ich zeigte Meinem Reisebegleiter das Bildchen mit der Bemerkung, daß, so weit ich auch schon in die Alpen gestreift, ich doch nie zu einem so interessanten Bergpfade gekommen sei. Er lachte mich aus 162 Ober- und Unter-Hasli. und bemerkte mir, die „Lammi" wäre ein Felsenweg auf dem „Kirchet", und wir wären soeben darüber hergekommen. Vermuthlich hatte ich die kleine hier vom Maler sehr pikant darge« stellte Scene übersehen, oder wir hätten gerade eine andere Beleuchtung gehabt, als die hier auf dem Bilde gewählte. — Ich konnte mich kaum überreden, und doch mußte ich es nach einigem Besinnen glauben, daß ich cbcu selbst auf diesem so reizend gemalten Wege gegangen war. Ich erkannte dabei sowohl, wie leicht es den Malern wird, uns etwas Hübsches vorzudichten, als auch wie oft wir gerade nicht in der Stimmung uns befinden, die malerischen Momente zu erkennen, oder Licht und Wetter nicht in der Disposition sind, sie uns zu zeigen. Das Aarthal vom Kirchet aufwärts wird von Ebel und vermuthlich nach ihm von den meisten Chartenzeichnern das Oberhaslithal genannt, und das Thal von Meirmgen heißen sie dann „UnterhaSli". — Hier im Lande habe ich mich vergebens bemüht, zu erkunden, ob diese Benennung mit der bei den Einheimischen üblichen übereinstimme. Es scheint mir nicht so. Von einem „Unlerhasli" habe ich nie reden hören, und ich halte es für ausgemacht, daß die Leute gewöhnlich nur das Thal von Mei» ringen bis zum Kirchet mit dem Namen „Hasli" oder auch „Oberhasli" belegen, ohne dabei an den Gegensatz eines Unter« hasli, nach welchem ich immer vergebens fragte, zudenken. Gewöhnlich wird durch einen solchen Thalabschnitt, wie das Kirchet ihn macht, eine ganz andere Art von Thalformation eingeleitet. Und dieß zeigt sich denn auch hier in dem Thale von Guttannen oder dem obersten Qucllenstücke des Aarthales. Die Berge sind hier zu den Seiten so wild und rauh, daß an ihre Bebauung nicht mehr gedacht werden kann, und daß es hier dann keine Bergdörfer mehr giebt. Alle die kleinen Dörfchen, die noch da sind, drängen sich ganz unten tief in den Rinnen des Thales in Färbung des Wassers der Aar. 163 der Nähe des Flusses zusammen. Dieses Thal ist wie ein kleiner von Menschen spärlich bewohnter Landstreifen zu betrachten, der sich mitten in eine gigantische Wildniß hineinzieht. Denn zur Rechten und Linken in der Gletscher- und Eiswelt wohnt weit und breit keine Seele. Das Thal bietet nun nirgends mehr ein so großes flaches Stück dar, wie daö Thal von Meiringen ist. Vielmehr ist es mehrfach durch solche Riegel wie das Kirchrt verbarri-cadirl, und der Weg führt dann sehr malerisch über solche Barricade« hinweg, die von der Aar wieder durchsägt sind. Zu-« weilen aber haben selbst für ein so kleines Wesen, wie der Mensch es ist, die gigantischen, Alles erfüllenden Gebirgsmassen nicht Raum genug im Thale gelassen, und an einer Stelle ist man genöthigt gewesen, längs der Seite eines schroffen Felsens einen kleinen Fußweg auszusprengen. Die Wanderer laufen hier in dieser hoch über der Aar schwebenden Felsengalerie fort wie die Katzen in den Dachrinnen unserer Häuser. In der Tiefe zog sich die Aar zuweilen schaumend und wie weißer Schnee über die Felsen hin, zuweilen sammelte sie sich in großen weiten Felsenkesseln wie in einem stillen Becken. Die Farben, welche der Fluß in dieser Zeit besonders in den Kesseln darbot, waren so schön und blendend, daß, hätte sie ein Maler auf einem Gemälde darstellen wollen, alle Nelt geschworen hätte, dieß wäre Uebertreibung und Unnatur. An minder tiefen Stellen war eö das reizendste Smaragdgrün, und bei den tieferen Kesseln dunkelte dieß Grün zu einem tiefen schöne» Blau, das mein Auge mehr reizte als das des Himmels und dem Blau der Gletscherspalten an Glanz, Energie und Frische völlig gleichkam. Da das Wasser natürlich an den Nandern der besagten Kessel und an den Ufern des Flusses nicht so tief war, so gab eö die leisesten Uebcrgänge auS dem zartesten 164 Die Flüsse im Winter. bis ins tiefste Vlaugrün. Dabei ist die ganze Aar hier mit schönen mächtigen Blöcken von weißem Granit gefüllt. Dieser Granit ist so rein und weiß wie Marmor und bildet eben so wie dieSchaummafstn bei dem Punct, wo der Fluß sich in kleinen Absätzen herabstürzt, den hübschesten Contrast zu dem blauen Wasser. Zuweilen liegen solche Blöcke unterhalb der Oberfläche des Wassers, das noch einige Fuß über sie hinweggeht und einen wundervoll zarten und beweglichen Schleier flüssigen Krystalls über ihre marmornen Oberflächen hinwirft. Es ist gut, daß um diese Jahreszeit keine Maler hierher kommen, sie würden sonst, in Verzweiflung über die Feinheit der Natur und die Grobheit der Kunst, ihre Pinsel und Paletten zerbrechen. Man steht die hiesigen Flüsse so schön nur im Winter. Im Frühling, wenn aus allen Graben und Vergschluchten die wilden Gewässer herabstürzen, sind sie meistens trübe und oft tagelang vollkommen schwarz. Im Spätsommer, wenn die Regen nicht mehr so häufig sind, kommt die grüne Farbe wieder mehr hervor, doch ist es dann kein klares Smaragd', sondern ein lrübeS, weißliches Milchgrün. Das Weiß ist in diesem Grün so vor« herrschend, daß man sich kaum überreden kann, daß nicht kalkige oder sonst färbende weiße Stoffe den Gewässern beigemischt seien. Man findet weder bei Saussure, noch bei Ebel, noch bei sonst einem anderen Alpensorscher eine genügende Aufklärung über die Ursachen dieser Färbung der Alpengcwässer. Die all« gemeine Meinung der Leute scheint mir die zu sein, daß die Flüsse ihr weißliches Grün, welches der Grundton ihrer Färbung ist, von den Gletschern und dem geschmolzenen Eise und Schnee erhalten. Im Winter, wenn kein Gletscherwasser in die Flüsse kommt, ist die Farbe klarer. In den Pyrenäen und in Norwegen sollen die aus den dortigen Gletschern hervorströmenden Flüsse ganz dieselbe Farbe haben wie hier. Die Verggewässer Die Ritzli-Lawinen. 165, anderer glelscherlofer Gegenden haben dagegen ganz andere Farben. Die in Schottland sehen alle bräunlich aus, vermuthlich in Folge der Moore, welche die Verge bedecken. Die Ge« Wasser mancher deutscher Gebirge haben eine schnmzig gelbliche Farbe, weil der größte Theil des Bodens, aus dem sie fließen, auS Thon besteht. In den sächsischen Sandsteingebirgen haben die Flüsse ein ganz farbloses Gewässer. Die Schwarzwald-und auch die Iuragewasser, die so nahe bei den Alpen sind, sehen ganz anders aus als die Alvenflüfse. Zwischen Guttannen und der Felsengalerie, die ich erwähnte, ist ein Platz, wo von den benachbarten hohen Ritzlihörnern große Lawinen und unsägliche Massen von Steinen herunterkommen. Mit diesen Steinen sind wieder ganze Wiesenstrecken bedeckt. Die Thalleute haben sie immer, so wie sie fielen, aufgelesen und in große Hansen zusammengelegt. Dieser Haufen sind nun so viele und sie sind zugleich so angewachsen, daß sie einen wahren Irrgarten bilden, in welchem die Wiesen nur noch wie zahllose schmale Wege zwischen dem Steingemauer herumlaufen. Man kann sich denken, welchen melancholischen Anblick es gewähren muß, die Kühe hier ihr Futter auf einem sonst fruchtbaren Voden, ihrem von Steinen geraubten Eigenthum, so zusammenbetteln zu müssen. Daö Dorf Guttannen, von dem man bis zur nächsten Stadt nach allm Seiten hin 14 Stunden hat, liegt mitten in dem Vern'schen Sibirien und ist ein köstlich vereinsamter Platz, und man kann auch auf diesen Platz den Vers Ovid's anwenden: Vltei-iuz n'llül L8t,, ni8l lwn lwlntnlnlo ki-lßus. Nur im Sommer öffnen sich die Handelswege, welche aus Wallis und Italien zu ihm führen, für drei Monate. Dann kommen die Säumer mit Mauleselcaravanen aus dem Formazzathal oder, wie die Deutschen es nennen, aus „Pomma t" über die Grimsel herüber. 166 Gin Saumerweg. Diese Caravanen gehen nur bis Meiringen hinab und kommen von Domo d'Ossola. Vis zu beiden Orten auf den verschiedenen Seiten der Alpen führen Chausseen. Die Maulesel dienen also nur auf der Zwischenstrecke, wo keine Fahrwege mehr sind. Sie bringen Wein, Reis, Mais und Früchte, zuweilen auch etwas Seide aus Italien und tauschen dafür Käse und Kirschwasser aus dem Verner Oberlande ein. Es ist vermuthlich ein uralter Handel, und ich denke mir, daß vielleicht schon die alten Römer die Alpenkase, deren ihre Schriftsteller erwähnen, auf diesem Wege erhielten. Es ist noch bis auf den heutigen Tag ein sehr einfacher Tauschhandel, bei dem von beiden Seiten kein baares Geld gebraucht wird. Es ist dabei noch dieß merkwürdig, daß nur die von der watschen Seite die Säumerei betreiben, vermuthlich weil auf der Nordseite der Alpen Maulesel nicht so gut gedeihen, und diese doch die sichersten Thiere auf den abschüssigen Bergstegen sind. Die Deutschen „saumern" nickt. Sie tragen Alles, was sie fortzuschaffen haben, auf dem Rücken. Natürlich waren ehemals diese Saumerwege viel bedeutender und lebhafter als jetzt, wo nun in einer Reihe schöner Straßen jenen uralten Saumerwegen so mächtige Concurrenten erwachsen sind. Wir bekamen in Outtannen leider schlechte Nachrichten von dem Wetter auf der Grimstl. Obgleich es in unserer nächsten Nachbarschaft noch ganz heiter war, so wollten die Leute doch Kunde haben, daß es auf der Grimsel schon seit gestern stürme, schneie und tobe, und daß es wohl nicht lange dauern würde, bis das Wetter sich auch weiter herablasse. Uns fiel es schwer, dieß zu glauben, da wir nur noch zwei Meilen von der Grimsel entfernt waren und über uns ein Stück blauen Himmels hing. Allein in diesen engen, tiefen, winkeligen Thalern sieht man nicht weit, und es kann in ihrem versteckten Hintergrunde längst spuken und Verschiedene Form der Granit- und Kattbcrge. 167 wettern, ohne daß man ein paar Stunden weiter abwärts das Geringste davon merkt. Dann auch ist die Grimsel eine hoch gelegene Burg von Alpenhörnern, in der sich ein Wetter für mehre Tage einnisten und festsetzen kann, ohne daß es sobald weiter herunterkommt. — Wir wollten indeß doch unseren Plan, ohne die Sache selbst versucht zu haben, nicht sogleich aufgeben und setzten unsere Reise fort, nachdem wir bei einer freundlichen Wirthin in Guttannen uns Nachtlager, warme Zimmer und ein gutes Abendessen bestellt hatten, auf den Fall, daß wir zurückzukehren gezwungen sein sollten. Hinter Guttannen verändert sich bald die Scenerie zu den Seiten des Thales, und zwar in Folge des Auftretens einer neuen Gebirgsart. Das Thal verläßt jetzt die Kalksteinmassen, ausweichen alle die nördlichen Alpen bestehen, und schlleidet nun in die Granitlagm ein, aus welchen die Central-Alpen ge« bildet sind. Hiermit ändert sich nun nicht nur die äußere Form der Verge und der hohen Spitzen, sondern auch jeder abgestürzte Vlock hat eine andere Figur. Jeder Vruch, jede Höhle in den Vergen, jede Schattirung derselben, die durch eine Ecke oder Abschleifung im Gesteine entsteht, wird ganz anders. Natürlich sind auch in Folge dessen die Bäume aus und an den Vergen ganz anders gruppirt. Im Allgemeinen sind die Granitberge in ihren großen Außenlinien einfacher und großartiger gestaltet als die Kalksteinberge. Auch die einzelnen Blöcke, die aus ihnen herausfallen, sind gewöhnlich einfacher und schöner geformt als die Blöcke, welche aus den Kalkstcinbergen herabpoltern. Sie sehen mehr aus wie große Krystalle mit wenigen glatten Seiten. Auch die langen schmalen Felsabsätze, die sogenannten Felsbander, welche in den Kalkbergen so häufig sind, fehlen in den Granitbergen. Natürlich sind auch die Granit« felsen überall in sehr verschiedenem Zustande und bieten daher in 168 Der Weg über Granit. den verschiedenen Gegenden der Alpen ein sehr verschiedenes Profil dar. Hinter Guttannen sind sie besonders abgerundet. Es sind zu beiden Seiten des Thales, vorzüglich in der Nähe der sogenannten Handeck, zwei Reihen von sehr ernst aussehenden, dun-kelgcfärbten, hohen, stumpfen und schroffen Kegeln. Wie große, höchst interessante Grabmonumente, reihen sie sich zu beiden Seiten des finsteren Thales hin. Der Bergsteiger freut sich auch noch aus anderen Gründen, in die erhabene Granitwelt einzutreten. Denn seine Pfade werden hier viel leichter uud angenehmer. Der Granit ist auf der Oberfläche immer etwas rauh, und man glitscht nicht so leicht aus als auf dem Kalkstein, der eher etwas glatt und fettig ist. Auch schleift sich der Granit ebener ab und giebt daher flachere Wege, wahrend der Kalkstein immer Köpfe, Buckel und Uneben-heiien behält, die den Füßen wehe thu». Mich interessirt unter den verschiedenen abschleifenden Kräften in den Alpen der Fuß des Menschen eben so sehr, wie die Welle des Wassers oder das reibende Eis der Gletscher. Der Säumerweg führt zuweilen über ganz kahle Felsköpfe hinweg, und hier sieht man oft Fußstapfen in dasharteGesteinauSgetre-ten, indem hier seit uralten Zeiten ein Wanderer seine Füße denen seines Vormannes nachsetzte. Da, wo diese nackten und flachen Felsen zugleich abschüssig und geneigt sind, hat eine sorgsame Wegepolizei mit der Hacke einige kleine Stellen, die aber nur einen halben Zoll tief sind, aushauen lassen, damit die Menschen undSaunuhiere doch eimgeHaltplmcte gewinnen möchten. — Der Freund der Geschichte und der Antiquitäten muß solche Wege nach uraltem Schnitt, an denen noch keine neuere Kunst etwas gekünstelt und verändert hat, und die noch wirkliche Spuren von den Grsten, welche durch diese Wildniß gingen, an sich haben, mehr als alle schönen Kunststraßen und Eisenbahnen lie- Föhn und Vise. 169 ben. Auf solchen uralten Saumerftfaden gingen auch Hannibal und Cäsar und Pompejus und die Cimbern und Teutonen über die Alpen. Wir unserer Seits konnten leider, je höher wir ins Thal hinaufkamen, desto weniger von diesen eingehauenen Stellen pro-« fitiren; denn an den meisten von ihnen waren jetzt die Felsen mit Eis und Schnee bedeckt, und wir hatten Noth, uns darauf zu halten. — Je weiter wir kamen, desto mehr Spuren zeigten sich von dem schlechten Wetter, das auf der Grimsel herrschte. Kleine Wolken und Nebel flogen, selbst als wir in der Tiefe noch etwas Bise oder Nord hatten, mit außerordentlicher Hast über unseren Köpfen hin. „Der Föhn herrscht in den oberen Regionen", sagte unser Führer „und da ist sicher weiter hin schlecht Welter." — Weiler hinauf hörte die Vise ganz auf, und es kam uns ein warmer Stoß Föhnwind entgegen, der jedoch bald wieder von der Bise verdrängt ward. Als wir noch weiter stiegen, wechselten warmer Föhn und kalte Vife, Welle auf Welle, Schlag auf Schlag. Dieß war ein merkwürdiges Phänomen. Fast unwillkürlich hielten wir jedesmal, wenn die warme Föhnwelle uns traf und uns den Athem versetzte, etwas an. Meine Gefährten wollten sogar einen schwefeligen Geruch in der Föhnluft wahrnehmen. Ueber unseren Köpfen stand ein grauer Wolkenbogen, der die Gränze der Föhn- und Biseherrschast bezeichnete. Ueber diesem scheinbar ziemlich festen Bogen wurden einzelne Nolkenflockcn rasch hmweggetnebcn, so daß es also schien, als ob in den höheren Regionen der Föhn die Oberhand hätte. Der Thalwinkel nach der Grimsel zu war sehr finster, abwärts in der Ferne lächelte Sonnenschein. In vcr Nahe der Handeck begegneten wir drei Männern, welche thalabwärts gingen und uns sagten, es sei keine Möglichkeit durchzukommen. Gine Stunde weiter aufwärts schneie und K oh l, Alpenreise, l. y 170 Eturm auf der Höhe. stürme es schon. Sie selber wären am Morgen ausgegangen, um über die Grimsel ins Wallis zu zirhcn, wo sie kleine Einkäufe hätten machen wollen. Aber in Rätrisboden —- so heißt eine ebenfalls unbewohnte Partie des oberen Aarthals — hätte der Schnee sie dermaßen umwirbelt, daß sie keinen Fnß weit vor sich mehr hätten sehen können. Sie hatten sich daher entschlossen, zurückzukehren, und wären nur froh, wieoerimLich« ten zu sein. Da diese Leute Eingeborene und noch dazu Han» delöleute waren, welche Gewinnsucht trieb und die gewiß einige Gefahr nicht gescheut haben würden, so blieb uns nichts Anderes übrig, als die Passage für unmöglich zu halten und unseren Grimselplan aufzugeben. Wir beschlossen daher, bloß noch bis zur Handeck und zu den dortigen schönen Wafserfällen der Aar völlig hinaufzugehen. Es ist zwar unangenehm, auf die Erreichung eines Ziels, das man ins Auge gefaßt hat, verzichten zu müssen, indeß der Aufmerksame sieht leicht an jedem Puncte seines Weges einen Zweck erreicht, und ich nahm dießmal das sonderbare Wetter selbst, das uns hemmte, für ein solches Ziel. Das Wunderlichste dabei war mir die ausharrende Befestigung dieses Sturmes an einem Fleck, da er doch etwas ist, was einer Befestigung wenig fähig scheint. Man sollte denken, daß, wenn ein Sturm erst angefangen habe, aus dem einen Ende eines Thales herabzuwüthen, er auch bald nach unten, wie ein Wasserfall, hinabgeflossen sein müsse. Wir erwarteten jeden Augenblick, daß dieß geschehen und der Föhn über uns herfallen würde. Statt dessen blieben wir Stunden lang an der Gränze des Schlachtfeldes, wo Föhn- und Visenwellen immer abwechselten, der dunkle Wolkenbogen hielt sich immer über unserem Kopfe, ohne vor- oder rückwärts zu schreiten, und selbst in der folgenden Nacht und am anderen Tage, wo wir bestimmt Netterveranderung erwarteten, hatten wir immer ruhiges Leeres Wirthshaus auf der Handeck. 171 und helles Wetter, während die Nachrichten von der Grimsel traurig klangen. Ich hatte die ganze Zeit über den Vers Ovid's im Kopfe: „Alpestres Boreae nunc hinc , nunc flatibus Hlinc „Eruere inter se certant." Die Handeck ist wieder ein Thalabsatz oder ein Querrie« gel, der elne neue Abtheilung des Thales bezeichnet u«d barrica-dirt. Die Aar arbeitet sich in berühmten und malerischen Fällen über ihn hinweg. Weiter hin kommen noch mehre solche Riegel, von denen einer die „Höllenplatte." ein anderer die „böse Seite" heißt, und über deren kahle Felsenköpfe sich der Saumpfad nach Italien fortzieht. Da giebt es eine Menge solcher Platze, wie sie der Dichter im Sinne hatte, wenn er sagt: „Kennst du den Berg und seinen Wolkcnsteg? „Das Maulthier sucht im Nebel seinen Weg, „In Höhlen wohnt der Drachen alte Vrut, „Es stürzt der Fels und über ihn die Hluth." Oben auf der Handeck steht ein Haus, zum Frommen der Wanderer in diesen weit und breit unbewohnten und hülflosen Gegenden erbaut. Im Sommer wohnt ein Hirte darin, der die benachbarten Grassieckchen utilistrt und die Reisenden mit Milch erquicken kann. Jetzt aber war es unbewohnt. Die Thür stand auf, und wir nahmen für einige Augenblicke auf den hölzernen Väuken des Wohnzimmers Platz. In der Küche war ein Heerd in guter Ordnung. Solide Tische standen in, iedem der beiden Zimmer. Auf dem Voden gab es eine Reihe von Betten mit Heu. Gs macht einen eigenen Eindruck, dieß Alles in einer Wildnis, so gastfreundlich bereitet zu finden, ohne einen Wirth dabei zu sehen. Der unsichtbare Wirth ist hier 172 Schirmtannen. der hohe Stand Vern, der wie auch andere Cantonal-Regier-ungen an anderen einsamen Gebirgsplatzen solche stets offene Häuser unterhält, die dem Reisenden, wenn ihn ein unbesiegbares Nnwetter überfällt, wenigstens das Leben retten, und wenn er etwas Proviant bei sich hat und sich das Holz in der Nachbarschaft zusammensuchen kann, auch Gelegenheit zum Braten und Kochen geben. Hier auf der Höhe der Handeck (von 4600 Fuß) zeigen sich die letzten großen Tannen des Aarthales. Weiter hinauf verkrüppelt die Vegetation. Auch von diesen Tannen, die einzeln auf dem zerrissenen und felsigen Terrain vertheilt sind, sind die meisten studirl, copirt, skizzirt und gemalt von der Colonie derMeirin-ger Künstler, die bis hierher ihre Grcursionen ausdehnen. Wenige von ihnen haben sie aber zu so eigenthümlicher Zeit gesehen wie wir. — Einige dieser Tannen sind besondcrs groß und mit weit reichendem Gezweige, das in alten Zeiten wohl denselben Schutz gewähren mußte, den jetzt das Haus des Cantons Bern darbietet. — Solche hohe Tannen, deren Gezweige dachförmig herunterhängen, vertreten noch jetzt in vielen Vergwildnissen die Stelle eines Gasthauses oder Hospizes. Die Eingeborenen nennen solche Tannen „Schirmtannen" oder nach ihrer Aussprache „Schermtannen." Die Hirten und Geisbuben kennen die Schermtannen ihres Revieres nalürlich genau und flüchten sich oft mit ihren Heerden zu ihren Stämmen. — Wir arbeiteten uns im Schnee zu mehren der schönsten dieser Tannen hin. Ihre breiten Zweige waren mit dickem Schnee und Eis bedeckt und hingen tief auf die Erde herunter, so daß wir darunter wie unter einem festen Dach standen. In ihren Wipfeln sauste der Wind. Bald bog sie die Vife nach Süden, bald der Föhn nach Norden hinüber. Das weiße Leichentuch des Winters bedeckte den Voden. Nur zu den Seiten unseres Theaters waren die „Aus den Wolken fallende Wasserfalle." 173 dunkelen schroffen Wände jener Grabmonumente von Granit unbedeckt und schienen schwarz in dem grauen Lichte, das von der Seite der Grimsel, wo es stürmte, herunterfiel. Dieß Gemisch grauer, schwarzer und grell weißer Farben gab der ganzen Scenerie umher einen höchst melancholischen undtragischenCha-rakter, den nur ein Dichter, etwa ein Osstan, in einem Klageliede hätte auffassen können. — „Schauerliches Ahnen unendlicher Vergangenheit mischt sich zu dem Gefühle von Tod und Zerstörung in diesem finsteren, vielfachen Einsturz drohenden Geklippe," so äußert sich über diese oberen Aargegenden einer jener Schriftsteller, die auch, wenn sie in einfacher Prosa reden, immer einen Kothurn untergeschnallt zu haben scheinen. Nimmt man diesen Worten das Verschrobene, das sie haben, und schneidet man den Bombast, der in ihnen steckt, weg, so bekommt man eine Phrase, die wirklich die Eindrücke wiedergiebt, welche jene wilde und großartige Winterfcene auf unser Gemüth machte. Die Dichter und Reisebeschreiber haben so viel von Wasserfallen, „die aus den Wolken herabfallen", von „himmelansteigenden Felsmauern" und dergleichen gesprochen, daß der Fremde, der den Kopf davon voll hat, wenn er zuerst in ein Alpmthal tritt, sich die Augen reibt und vergebens sich danach umschaut, feine Phantasiebilder verwirklicht zu sehen. Die himmelanstei-gendeu Felsen und die sonnigen Höhen sind immer wenigstens einige tausend Klaftern niedriger, als er sie sich dachte, und bei den Wasserfallen, die er immer von einem der benachbarten hohen Alpenhörner herabstäuben zu sehen erwartet, ist er noch mehr desappointirt, wenn man ihn erst in ein buschiges Dickicht hinabführt, um den darin zerstückten Wasserfall aufzusuchen und von oben iu die Tiefe poltern zu sehen, und wenn man ihn dann m diese Tiefe selber hinabbringt und unter den Wasserfall so stellt, daß es nun, wenn er seinen Platz richtig getroffen hat, t74 Der Aar-Wasserfall. scheint, als käme der Fluß aus schwindelnder Höhe. — Auch das Wasser, das aus den Dachrinnen einer kleinen sächsischen Stadt mitten auf die Straße fällt, scheint aus der Wolke zu stürzen, wenn man sich gerade unter den Strahl stellt. — Die Wasserfälle der Alpen kommen in der That in Vergleich mit der Kühnheit unserer Phantasie uns immer feige und kleinlich vor. Da sind zuweilen die schönsten und höchsten Wände zur Seite, die einem Flusse, wenn er es wagte, sich von ihnen hcrabzuwer« sen, ewigen Ruhm über den ganzen Globus sichern würden. Statt dessen aber schleicht er sich zur Seite, wählt vorsichtig die tiefste Stelle und springt den möglich kürzesten Absatz hinunter, und um ihn großartig zu finden, muß man erst künsteln und sich in die rechte Stellung bringen. Für den Aar-Wasserfall giebt es hauptsachlich drei Puncte, die dem Beschauer einen imposanten Anblick darbieten, einen auf einer kleinen Brücke oberhalb des Falles, einen dem Falle gerade gegenüber an einer Stelle, zu der man längs der Felswand hingeht, und einen unten in der Tiefe der Schlucht selbst. Derselbe Schriftsteller, der von dem schauerlichen Ahnen der Vergangenheit und dem Gefühle von Tod und Zerstörung phantasirte, fährt in seiner herametrischen Prosa in Bezug auf diese Stellung unterhalb des Aarfalls so fort: „mit ermüdendem Nacken erhebst du dein staunendes Antlitz." Mich däucht, es liege etwas außerordentlich Komisches in dieser Einmischung des ermüdenden Nackens in den Panegyricus des großen Natur« Wunders. Der Winter ist nicht die Zeit, wo man die pittoreske Schönheit der Wasserfalle bewundern und beschreiben muß. Denn die Flüsse brauchen dann, da die großen Flußllrnen, die Oletscherhühlen. austrocknen, oft nur ein Fünftel, ja kaum ein Zehntel des Wasser- und Schaumquantums, das sie im Sommer fortwälzen. Desto vortheilhafter aber war die Jahreszeit, um Die beiden Aarkeffel. 175 die wunderbaren Aushöhlungen, welche das Wasser imHinabfal-len zu Stande gebracht hatte, zu untersuchen, undvondenenman im Sommer wenig gewahrt, weil dann Alles überdeckt ist. Ich bemerkle einen dicken Wasserstrahl der Aar, der in ein Steinbecken hinabfiel, welches ungefähr in der Mitte der ganzen Höhe stand und auö dem er zur Seite wieder hinausschlüpfte. Dieses Becken hatte zwei Abtheilungen oder Kessel, die durch eine Felsbrücke von einander geschieden waren. Das Ganze sah also ungefähr so aus: Der Wasserstrahl stürzte sich in denKefsel «hinein und strömte unter der Felsbrücke b, die er im LaufederZeitvöllig unterminirthatte, hinweg, in den Kessele. In diesem drehte er sich, beständig kreisend und wie kochendes Wasser aufwallend, herunter und floß dann bei 6 weiter. Me Theile dieses Doppelbeckens waren sehr rundlich und glatt abpolirt. Da jetzt soviel davon gesprochen wird, wie Gletscher und Wasserfalle Felsen und Steine zu bearbeiten vermögen, so glaubte ich, jeneS Product einer Wasserarbeit sei derAlifzeichnung werth. Im Sommer wird Niemand etwas davon gewahren, weil dann Alles in Wasser und Schaum gehüllt ist. Vei dem Aarfall tritt der seltene Fall ein, daß zwei Flüsse, die Aar und der Aerlenbach, ihre Gewässer abgesondert in denselben Abgrund hinabstürzen, und zwarso, daß ihr Schaum sich ver« mischt und ihre Strahlen, wie Pfeile in dieselbe Scheibe, in den tiefen kleinen Kessel unten hinab fliegen.— Dieser Umstand gab natürlich poetischen Gemüthern zu hundert Vergleichen und Anspielungen Veranlassung. Vald sind eS zwei Liebende, die sich, an dieser Welt verzweifelnd, vereint in den finsteren Abgrund 176 Soiree in Guttannen. stürzen. Vald ist es eine stürmische Hochzeit, unten aber in der Tiefe sieht man die jungen Vermählten ruhig in ihrem Vrautbette liegen. Vald ist die Aar eine mächtige Fee, eine furchtbare Zauberin, die den munteren Jüngling (den Aerlenbach nämlich) von seinen Bergen herablockt und. ihn umarmend, erdrückt, indem sie sein verschwindendes Dasein für immer an das ihrige bannt. Vald stnd beide männlichen Geschlechts. ES sind ein Paar kühne kampflustige Hirten, die mit einander ringen. Keiner ist starker als der andere, und beide fallen zu Voden. Die Alpenthäler haben — besonders im Winter — wie tiefe Canäle immer nur einen Ausweg. Kommt man da nicht durch, so muß man denselben Weg wieder zurückkehren. Wir zerbrachen uns den Kopf, ob wir nicht rechts oder links irgendwo zur Seite entschlüpfen könnten, nm auf einem neuen Umwege in unser Winterlager zu gelangen. Aber überall wiesen uns unzugängliche Höhen und verschneite Pässe ab, und wir mußten bis Interlaken an demselben Faden rückwärts spinnen. -^- Die erste Nacht blieben wir in Guttannen in unseren reservinm Betten, und wir hatten daselbst einen so comfor-tablen als interessanten Abend. Obwohl im Winter in diesen Thälern nicht geschlachtet wird und kein anderes als gesalzenes oder geräuchertes Fleisch, meistens Ziegenfleisch, zu haben ist, so hatte unsere Wirthin doch mit Hülfe von Eiern, Butter, Mehl und einer kräftigen Neinsupfte ihr Möglichstes gethan, uns neben den gesalzenen Zlegen-Cutelletten noch einige schmackhafte Entremets zu verschaffen. Und außerdem fehlle es nicht an Gesellschaft für den Abend. Auch dieß ist ein Vortheil für den Winterreisenden, daß er wenige oder gar keine Fremde, dagegen desto mehr Einheimische in den Wirthshausern findet. Der Winter ist für die Gebirgsleute die gesellige Zeit, die Abende sind lang, und da sind die Thalherbergen immer voll von Wanderern, die früh- Gin Cretin. 177 zeitig einkehren, von Jägern, die für heute nicht weiter wollen, von Straßen- oder Vrückenarbeitern, die ihren Feierabend gern verplaudern. Wcil der Spätherbst die Zeit ist, wo man Wege, Brücken und andere Bauten ausbessert, so wie der Frühling die Zeit, wo sie zerstört werden, so fanden wir eine Meng? von letztgenannten Arbeitern in unserer Herberge vor. In einem interessanten Lande haben die Leute interessante Schicksale. Und jeder von diesen Leuten hatte, außer seiner zeitweiligen Anstellung als Vrückenarbeiter, noch andere, interessantere Aemter bekleidet. Der eine war V^.Agassiz's Begleiter auf der Jungfrau gewesen, der andere hatte Jahre lang, Winter und Sommer, als Knecht auf dem Grimsel-Hospiz gedient, der dritte war ein passionirter und berühmter Gemsjager, der vierte hatte sowohl in Neapel als auch in Holland als Schweizergardist gedient und war ein sehr erfahrener Kriegsmann. Ein Individuum in unserer Gesellschaft interessirte mich aber mehr als Alle. Dieß war ein alter, fünfundsechszigjähriger Cretin, bei dem ich manches Cha« rakteristiscye wahrnahm. Der Kretinismus stellt sich in so ungeheuer vielen Phasen und Formen dar, daß fast jeder einzelne Cretin ein Fall für sich ist und einer besonderen Betrachtung und Darstellung fähig wäre. Die Wirthin hatte uns ihren „Hans" — so hieß der Cretin — schon am Morgen, als wir zur Bestellung unseres Nachtlagers bei ihr einkehrten, vorgestellt und uns erzählt, daß es ein armer alter Mann sei, der gar keine Verwandten auf dieser Welt mehr habe, und dem daher einige wohlwollende Familien aus Mitleid wechselweise im Laufe des Jahres Dach und Nahrung gäben, so daß er drei Monate in diesem Hause, drei Monate in jenem u. s. w. wäre, wofür er einige häusliche Arbeiten leiste. Es ist hier häufig, daß die Wohlhabenden sich der Armen auf diese Weise annehmen. Sie nennen solche abwechselnd bei Diesem oder 8" 176 Talente der Cretins. Jenem verpflegte Arme „Umgänger", ES scheint dieß eine in der Schweiz sehr weit verbreitete Sitte zu sein. Denn auch Saussure erwähnt von den Bewohnern von Chamouny etwas Aehnliches. Die häuslichen Arbeiten, die HanS seinen Wohlthatern leisten kann, beschränken sich, wie seine Herrin mir sagte, bloß auf fol--gende. Er kann erstlich Kartoffeln schälen, zweitens Bohnen und Erbsen aushülsen, drittens Wolle kratzen. Man muß dabei wissen, daß die Verlheilung der Arbeit bei den Cretins so groß ist, wie bei den Fabrikarbeitern in England. Was sie lernen, lernen sie alle in ihrer Art perfect, aber es ist nur sehr wenig, was sie auf einmal begreifen können. Der eine ist bloß auf das Wasserholen eingeübt, der andere bloß auf Holzspalten, und jener Hans nur auf Kartoffel schälen, Erbsenaushülsen und Wollckratzen. Ich sagte, die Arbeiten, welche die Cretins einmal übernommen haben, machen sie in ihrer Art gewöhnlich sehr gut. Davon gab Hans mir ein frappantes Vei-spiel. Wir hatten schon am Morgen sein sorgfältiges Verfahren beim Schälen der Kartoffeln bewundert, wie er sie mit allen fünf Fingern der Hand festhielt, wie er die Schale stückweise abnahm und jedes Stück vorsichtig bei Seite legte, wie er dann jedes Auge der Kartoffeln — ,md wie viele haben sie deren nicht in diesen schlechten Kartoffeljahren — sorgfaltig ausbohrte und dann den Knollen noch einige Male rechts und links drehte, um zu sehen, ob er noch etwas daran vergessen. Auf diese Weise waren wir freilich mit unserer Reise nach der Handcck eben so schnell fertig, als er mit seinen Kartoffeln, aber sie wurden doch gut. — Die meisten Reisenden sehen gewöhnlich nur mit Schrecken und Widerwillen aus diese unglücklichen und freilich nicht hübschen und ansprechenden Creaturen. Allein es giebt viele Cretins, deren Hülflosigkcct, so wie ihr sanftes und frommes Wesen in hohem Grade die Gefühle dcs Mitleidens Der bescheidene Cretin. 179 und der Zuneigung in uns erregen, wenn wir nur die Geduld haben, uns zu ihnen herabzulassen. Unser Hans hatte bald die erste Scheu der neuen Bekanntschaft überwunden und ließ sich schnell herzu, ganz vertraulich mit uns zu schwatzen. Die Wirthin, die ihn selbst weder beim Kartoffelschälen, noch bei seinen anderen Arbeiten antrieb, gab ihm auch ein gutes Zeugniß und sagte, er sei sehr vertraglich, ordentlich und reinlich in seinen Kleidern, und als Zug seiner Delicatesse erzählte sie uns am Abend, er habe zu ihr gesagt, er wolle sich heute Abend nicht an seinen gewöhnlichen Platz auf den Ofen setzen, weil er sehe, daß Gesellschaft im Haust und er daher wohl im Wege sei, und er würde sich gewiß auf sein Heulager zurückgezogen haben, wenn wir ihn nicht zurückgehalten hatten. choisAm anderen Morgen beim Frühstück war er wieder bei uns und bot uns eine Prise an. Denn seine Schnupftabaksdose enthielt allen Stoff zu denjenigen Luius- und Gttra -Genüssen, die er sich erlauben dürfte, und nach denen er Verlangen sühltS. Gr erzählte uns, daß er auch gereift sei; er sei oft genug weit weit „bergusi und bergafi" (bergauf und bergab) gegangen bis nach Bern und noch weiter. Er raisonnirte sogar über sich selbst und sagte.' „Ja ich bin so gering erschaffen worden auf der Welt, daß ich nichts Rechts arbeiten kann. Aber einige Sache» habe ich doch erlernen können." — Ich fragte ihn, ob er lese« könne, und gab ihm ein Buch in die Hand. Er nahm es unv sagte: „Ja mit dem Lesen kann ich schon fort. Der Herr Pfarrer hat mich darin unterwiesen, und der hat mir auch des Herrn Abendmahl gegeben."— Er sprach dieß Asses ungefähr auf dieselbe Weise, so langsam und gepreßt wie Herrn Philipp's Sprech« Maschine in London, und wir mußten immer wohl aufpassen, wenn wir etwas verstehen wollten; denn seine Aussprüche zu wie« verholen oder Erplicationen, wie er das Gesagte meine/ zugeben, 18t) Der betende Cretin. war er durch aNe Fragen ebenso wenig wie ein Orakel zu bewegen. Wir fragten ihn, ob er auch bete. „O ja," sagte er, „alle Morgen bete ich auswendig und alle Abend auswendig 's ganze Jahr um, und alle Sonntag lese ich auch ein Gebet. Gr holte dann ein altes, zerlumptes Buch aus der Tasche hervor, aus dem er uns Gebete vorlas, wieder in dem Tone der Sprech» Maschine. Sehr andächtig nahm er dabei seine Mütze vom Kopfe und faltete seine lurzgesingerten Hände. — Wir theil-» ten ihm ein Paar Eier und Zubehör von unserem Frühstück mit. Damit zog er sich auf den Ofen zurück und verzehrte sie auf eben die langsame und sorgfältige Weise, auf welche er die Kar« toffeln geschält hatte. Nach einer halben Stunde endlich bewegte er sich langsam wieder vom Ösen herunter, zog seine Mütze ab, stellte sich vor uns hin und sprach dreimal: „Der liebe große Gott im Himmel vergelt's Ihnen", und zwar mit einer so ernsten und frommen Miene, mit einem solchen Aufblick nach oben, daß wir wohl sahen, wie ernstlich er es meinte, und daß wir ihm gern begreiflich gemacht hätten, daß sein frommer Dank und die häufige Nennung des Namens Gottes bei dieser Gelegenheit fast ein wenig übertrieben sei. Uebrigens machte mir dieser arme Tropf, mit seinem emzk^ gen LlMls, der Schnupftabaksdose, mit seiner einzigen Kunst, dem Wollkratzen und Kartoffelschälen, mit seiner einzigen Lecture, dem Gebetbuche, und mit seinem einzigen Gedanken, dem Gedanten an Gott, einen wunderbar tiefen Eindruck, uud ich be« greifejetzt völlig den Doctor Guggenbühl, der bei dem Anblick eines betenden Cretins so ergriffen wurde, daß er gelobte, sein ganzes Leben der Erziehung dieser Vemitleidenswerthen zu widmen. — Wie wunderbar, daß dieser Mensch mit seinen geringen Mitteln und Gaben vermuthlich eine glücklichere Existenz hat als mizäh-ligegroße Geister, die im Vergleich mit ihm als Wesen erscheinen, Die Rothhörner. 181 über welche Fortuna ihr ganzes Füllhorn ausgeschüttet hat. Da erkennt man recht, was Christus sagt. daß das Himmelreich ein Erbtheil der Einfältigen und Sanstmüthigen ist, und daß Gott sich auch in dem Munde der Simpeln ein Lob zubereitet hat. Erwachsene haben oft bemerkt, daß sie zuweilen wieder von den Kindern lernen müssen. Man könnte auch von den Cretins noch Vieles lernen, und ich wüßte außer dem Hans von Guttannen hier im Gebirge noch manchen anderen guten Tropf, an den ich zuweilen denken werde, wenn Mißmuth oder Unzufriedenheit mit meinem Schicksal meine gute Laune oder meine Dankbarkeit gegen Gott trüben wollen. 3. Besteigung des Brienzer Rothhorns. Es giebt eine Menge Hörner in den Alpen, die den Namen „Rothhorn" bekommen haben. Es giebt auch „Schwarzhörner", „Weißhörner", „Grünhörner", aber die rothe Farbe hat mehr als irgend eine andere zur Bildung von Vergnamen gedient. Das Rothhorn, welches ich Gnde November von Vrienz aus bestieg, liegt an der Gränze der drei Cantone Vcrn, Unter« Waiden und Luzern, deren Granzsteine sich an seinen: Gipfel befinden. Es ist über 7200 F„ß hoch und führt also den Wände« rer bis nahe an die Linie des ewigen Schnees. — Man hat von Vrienz aus 4 Stunden aufwärts zu steigen. Dic erste Hälfte kann man reiten. Allein ich überließ mich bald Meinen eigenen Füßen, weil die Wege schmal und die Abgründe m Gränze der Vegetation. zu den Seiten unabsehbar waren. Es schwindelt einem zehnmal mehr auf dem hohen Rücken des Pferdes, und dazu ist seine Bewegung nichts weniger als angenehm. Die Thiere rutschen oft mit ihren Hufen von einem Steine auf dm anderen herunter, und weil sie, um sich und den Reiter emporzubringen, immer recht fest einsetzen, so erschüttert bel solchem Abrutschen immer ihr ganzes Knochengebaude und vas d,s Reiters auch. Wir hatten uns nach anderthalb Stunden über allen Nebel unv die Wolken hinausgehüben und genossen mm in derHöhe des lieblichsten Sonnenscheins. Wir warfen unsere Mäntel, die wir im Thale sehr nöthig gehabt, auf die Pferde und sandten sie mit ihrem Führer nach dem Dorschen Schwanden zurück, wo sie bis zum Abend uns erwarten sollten. Bis zu einer Höhe von 5000 Fuß gab es noch überall mehr oder weniger Wald. Da aber hörte alle Bewaldung auf, und zwar fielen zu meiner Verwunderung die Baume außerordeutlich schnell von einer sehr schlanken Hohe zu kleinen und krüppligen Zwerggestalttil herab. Auch kamen, nachdem die Tanncnbaume verschwunden waren, nicht etwa noch erst Wachholderbüsche, Rhododendren und andere Gesträuche, einen allmaligen Abfall der Vegetation bildend, sondern gleich nach den letzten Tannenbaumen kamen sofort kahle Grasstächen, die sich an dem ebenfalls überall kahlen Gipfel des Verges emporlehitten. Die äußersten höchsten Ränder der Wälder sind immer sehr interessant, wie alle Gränzen und Uebergangsgegcnden. — Da die Bäume hier mit den Winden und den Lawinen in nächste Berührung kommen, so sind sie in dieser Gegend des vornehm* sten Angriffs und Widerstandes besonders zerzaust und zerrissen. Der Wald ist decimirt und gelichtet, wie die vorderen Reihen einer Schlachtordnung. Nur kleine Trupps gehen vielleicht unter dem Schutze eines Vergabhangs noch weiter vor. Manche Die Legtannen. 183 große kräftigt Stämme sind, von, Winde, vom Blitz? oder von Lawinen verstümmelt, in ihrem Wüchse gehemmtund zeigen allerlei traurige Figuren. — Mehr noch als die heftigen Ereignisse schadet die allmälig wirkende, aber jedes Jahr wiederkehrende Last des Schnees, der sich auf die Zweige der Bäume legt und sie oft ganz zu Boden drückt. Aber das Leben wehrt sich auch am Boden noch. Hundertmal sieht man den Fall, daß eine Tanne wie eine dicke Ranke über einen Felsen hinabbiegt, aber mit der äußersten Spitze ihres Gipfels wieder zum Himmel aufstrebt. Die Schweizer nennen diese Tannen „Legtannen". Vielleicht ist es eine eigene Gattung, welche eben durch das Hinkriechen am Boden befähigt ist, sich ihr Leben zu fristen. Die äußersten kleinen Tannenbüsche werden ganz erstaunlich borstig und struppig. Ihre zahllosen Aeste, die sie nahe zusammenhalten, bilden ein so dichtes Gezweige, daß Wind, Schnee und Kälte kaum hindurchdringen können. Sie haben dieselbe Art der Verästelung wie eine Menge siibirischer Büsche. Es ist interessant zu sehen, wie das Leben sich niedrig hinwindet, wie es sich concentrirt und in sich krampfhaft zusammenhält, um sich zu conserviren. Die Kälte macht diese Bäume so, wie sie sind, und nur so, wie sie werden und sich bilden, können sie der Kälte widerstehen. Es ist, als wenn die Kälte in ihren Angrissen auf das Pflanzenleben sich selber durch diese Angriffe Gränzen fetzte. Sie will die Bäume zerstören, und eben bei diesen, Bemühen macht sie sie gerade zum Widerstände fähig. Eben so zerstört das Polarklima ein gut Theil von der Wärme und Energie der Menschen, die sich in der Nähe der Pole niederließen. Aber eben durch diese Zerstörungen machte sie den Menschen auch wieder fähig, in ihrer Nähe auszuhalten. Am Rande der Waldregion kamen wir »och durch ein Paar Sennhüttendörfer, die etwa eine halbe Stunde weit aus- kW4 Vergziegcn. einander lagen. Bei jedem standen etwa 20 bis 30 Sennhütten auf einem Bergvorsprunge dicht neben einander. Alle waren jetzt natürlich leer und verlassen und die Dacher mit Schnee bedeckt. Nur einige halbwilde Ziegen vertrieben wir aus einer der offenstehenden Hütten. Und weiter oben im Verge fanden wir noch ein ganzes Rudel von 25 solchen unbewachten Ziegen. Die armen Leute lassen ihre Ziegen hier so lange ihre Nahrung suchen, bis der Schnee Alles verdeckt hat. Dann muffen die Thiere eingefangen werden, was zuweilen ein sehr mühseliges Geschäft ist, besonders wenn der Schnee sehr Plötzlich einfiel. Auf der anderen Seite des Thales, der Schattenseite, hatten die Leute ihre Thiere schon vor 3 Wochen einfangen müssen, während sie hier auf der Sonnenseite jetzt noch beinahe 6000 Fuß hoch steigen konnten. Ich pflückte hier sogar noch einige blaue Gentianen. Die Ziegen hatten das Bißchen Quellwaffer in der Nähe der Hütten ganz trübe gemacht, und wir stillten unseren Durst mit dem Schnee von den Dächern. Veim Ersteigen eines hohen Verges, wie bei jeder Lebensaufgabe, thut es sehr gute Dienste, wenn man sich mehre Abtheilungen macht. Man kommt weit, wenn man sich das Ziel immer so nahe als möglich steckt, und so einen großen Verg muß man immer stückweise unter die Füße bringen.— Ich lasse zuerst den Gipfel immer ganz außer Acht und hefte das Auge nur zunächst auf jenen hochstehenden Vaum. Habe ich mich bis zu ihm hinaufgearbeitet, so fasse ich diese oder jene Sennhüttengruppe, die 500 Fuß höher liegt, ins Auge. Vin ich dort angekommen, so schaue ich zu einigen in der Ferne gra» senden Ziegen auf und male mir das Glück aus, welches ich, bei ihnen angelangt, genießen werde. Vald erreiche ich sie und blicke nun auf die Ziegen, auf die Sennhütten und auf die vereinzelten Bäume, die ich noch vor wenigen Dienste des Vergsteckens. 185 Augenblicken alle so hoch über mlr sah, triumphirend zurück. Allmälig, attmälig kommt mir nun auch der Gipfel schon so nahe, daß ich anfange mit ihm zucoquettiren. Ichsehe, daß dieser Unerbittliche, der, man mochte stundenlang marschiren, nicht wich und wankte, nun doch auch sich nachgiebig zu nähern beginnt. — Ebenso ist es auch bei anderen Lebensaufgaben die beßte Politik, sich die Ziele immer so nahe als möglich zu stecken und das Leben wie einen solchen Nerg stückweise unter die Füße zu bringen. Verzweiflung ergreift uns, wenn wir, immerfort arbeitend, nach einem entlegenen Ziele steuern und keinen merk« lichen Erfolg wahrnehmen. Ich erfuhr wieder mehre Male unterwegs, welche treffliche Dienste, wenn er richtig gebraucht wird, ein Alpenstock leistet, und begriff die Reisenden nicht, die sogar in gedruckten Schriften dieses Instrument für überflüssig erklärt haben. Zuweilen kamen wir an hohen steilen Abhängen hin, die mit rutschigem Schnee oder ganz kleinem und lockerem Steingeröll bedeckt waren. Setzte ich an solchen Stellen den Stecken nach der inneren Seite zu an den Voden und hob ich mich ein wenig mit ihm, so fnhl»ach der Auflösung solcher Nebelmeere im Herbste etwas sinkt. In den kleinen Bedrängnissen und den erfreulichen Erlösungen, welche das Reisen herbeiführt, liegt eben ein HauPtreil des ReisenS. Die Reisen legen Entbehrungen auf und erfreuen dann wieder mit Fülle, sie führen uns auf einsame Pfade und bringen uns dann wieder in große Gesellschaften. Der Reifende darbt und fastet und trifft wieder reichliche Mahlzeiten, er schwitzt und arbeitet, steigt und klettert, mehr als der friedlich Gefahr und Rettung. 2l)1 Daheimblelbende. Aber er ruht sich auch luxuriöser cms als dieser, sei es auf weichem oder hartem Polster. Er kommt in ein wenig Gefahr und wird gewöhnlich glücklich daraus errettet. — Wir hatten kaum eine halbe Stunde unseren finsteren Pfad weiter getappt, als wir auf einmal von unten einen langen Jauchzer hcraufklingen hörten, wie die Alpenbewohner ihn ertönen zn lassen pflegen, wenn sie sich untereinander in dcn Vergcn ein Zeichen geben wollen. „Das ist der Führer unserer Pferde", sagte mein Gefährte, indem cr den Nuf mit einem noch lauteren Jauchzer erwiederte. Ich schritt nun immer fleißig fort und lauschte mit Vergnügen der häufig wiederholten und wechselnden Jauchzer der beiden Leute. Zugleich freute ich mich nicht wenig, daß ich bei dieser Gelegenheit die gewisse Entdeckung zu machen glaubte, woher ill allen Alpenländern, in Steiermark, in Tirol wie in der Schweiz, dieser Gesang durch die Fistel, das sogenannte Jodeln seinen Ursprung genommen habe. Ohne Zweifel von diesen Jauchzern, bei denen die Stimme in die Fistel übergeht, um desto weiter gehört zu werden. Alle jodelnden Lieder sind daher zum Theil weiter nichts als musikalisch weiter ausgesponnene Jauchzer. Die Töne kamen uns immer näher, und nach einer halben Stunde erkannten wir ein Lichtlein unter uns, zwar noch trübe im Nebel schimmernd. Wir liebkosten den Mann genug dafür, daß er für uns auch so sorgfältig auf eine Laterne bedacht gewesen, und er erklärte uns, er wäre ausgegangen, um unsere Leichname zu suchen, weil er fast gefürchtet habe, es könne unsere Rückkehr ohne ein Unglück so lange sich nicht verzogen haben. Wir kamen nun schnell zu einer Hütte des Dörfchens Schwanden hinunter, in der unsere Pferde standen. Ueber 9" 202 Nachgenüffe. dein flackernden Feuer des Heerdes, an dem wir uns niederließen, hing ein großer Kessel mit Käsemilch oder Molken, den» gewöhnlichen Abendessen in diesen Bergdörfern, und die guten Leute labten uns damit, indem sie uns in weiten hölzernen Schüsseln reichliche Quantitäten davon vorsetzten. Wie dergleichen erquickt, wie das Feuer, wie die Menschen und ihre Hütten wieder das Herz erfreuen, erfährt auch nur der Reisende. Meine beiden Führer nahmen nun jeder eine Laterne in die Hand, und nun ritten wir den Nest rasch hinab, noch über manchen Stock, Stein und Block — es ist erstaunlich, wie selbst die kleinen Reste des Verges von solchen Bergen noch zu thun geben! — und kamen glücklich in Vricnz wieder an. — Mir war die Phantasie durch all das Herrliche, was ich in wenigen Stunden genossen, noch zu sehr anfgeregt, als daß ich mich sobald darüber hätte beruhigen können. Ich träumte die ganze Nacht von Vergen, Thälern, Kuppeln, Gletschern, fernen Landern, Wolken und Sonnenuntergängen. Es wogte dieß Alles in mir durcheinander, als wäre ein Meer von Farben in mir zum Wallen und Stürmen aufgeregt. — Dieß hätte jeder begreiflich gefunden, der gesehen, was wir geschaut. Allein, was mir merkwürdiger war als dieß, war der Umstand, daß ich ebenso fortwährend von Blumen und anderen schönen Naturgegenständen träumte, und daß ich auch für diese schönen Blumen mit einer unsäglich wohlthuenden, aber sehr phantastischen Liebe im Traume erfüllt wurde. Besonders erinnere ich mich einer Tulpe, die mir im Traume erschien, und deren Wesen, Form und Farbe mich mit so inniger Kraft bezauberte, wie dieß sonst nie der Fall gewesen. Ich schloß daraus, wie innig wohl Alles in der Natur zusammenhänge und wie jede schöne erha- Der Vergpfad ain See. 203 bene Naturscene, sic sei welcher Art sie wolle, uns nicht nur für sich allein gewinne, sondern auch unseren Sinn für alles Schöne in der Natur erwecke, stärke und erhöhe. — Dieß fühlte ich auch am anderen Tage, als ich auf dem kleinen Vergpfade au» Vrienzer See hin meinen Ausflug beendigte. Immer schwelgte ich in der Erinnerung an den herrlichen Abend und stellte mir das weite Nebelmeer, die Farbenstraßen, den Purpurschimmcr auf seiner Oberfläche, den eisigen kleinen Nosensee, die glühenden Bergreihen und die erbleichenden und dahinsterbenden Gipfel, und alles Andere tausendmal uor die Seele. — Dabei aber ergriff und genoß ich auch die mannigfaltigen Scenen unseres Pfades, der bald hart am See, bald hoch über ihm, bald durch Dörfer, bald durch Fluren, bald in den Ebenen, bald dicht an schroffen Felsen dahin schlangelt, mit gesteigerter Begierde und mit geschärfter Aufmerksamkeit. — Alles, die Bäume, ihre Stellung, ihre Verästelung, die Felsen, ihre Färbung und Gestaltung, der See selbst, seine Beleuchtung und seine Ufer, Alles schien mir mm noch genauerer Betrachtung und Erwägung würdig. Mir geht es gerade umgekehrt als vielen anderen Menschen, die, wenn sie etwaS Erhabenes gesehen haben, dann gegen das Kleine gleichgültig werden. 6. Ausflug nach Murren. Wir hatten eine Tour ins Gebirge zu den höchst gelegenen lneuschlichen Wohnorten der Schweiz beschlossen, zu den Dörfern Mürren und Gimmelwald. Sie liegen auf einem et- 294 Der Pfad nach Murren. was über 5000*) Fuß erhabenen Plateau unterhalb des noch 4000 Fuß höheren Schilthorns. Unsere Thäler steckten wieder seit mehren Tagen im Nebel, und da wir nicht genau wissen konnten, welche Physiognomie indeß das Wetter auf den höheren Bergen haben möchte, so wurde auf einer der Spitzen der Nachbarschaft für uns geroacht, und da eines Morgens bei Zeiten die Nachricht herunter kam, daß die Nebel sich in der Tiefe ruhig verhielten und keine Miene machten, sich zu heben, so waren wir bald auf dem Wege und fanden schon im Thale von Laubrunnen, wohin uns ein rasches Waglein brachte, einen so schönen heiteren Herbstmorgcn, daß wir unsere Reise zu den Bewohner» der Höhe alsbald mit frischem Muthe antraten. Wir erhoben uns auf einem schmalen Vergpfade, der sich an den westlichen Felswänden cmvorwindet. Es sind dieß dieselben Wände, von denen der Staubbach herabrauscht. — Das Dorf Murren liegt noch 1500 Fuß höher als die Rinne, aus welcher dieser Vach in die Atmosphäre hinausstürzt. Dieser schmale kleine Vergpfad, der mehr als die Hälfte des Jahres mit Schnee und Eis bedeckt ist, ist die einzige Straße, welche die Mürrener mit der übrigen Welt in Verbindung setzt. Auf dieser kleinen Straße schaffen sie alle ihre Bedürfnisse herauf, und auf ihr bringen sie ihre Waaren hinunter. Da sie keine Kirche oben haben, so ist es auch ihr Kirchenpfad. Auf ihm steigen die geschmückten Brautpaare hinab, um sich die Weihe deS Priesters zu holen, und auf ihm kommen die Trauerprocessionen herunter, die Einen, der ausgelitten, im Thale zu Grabe tragen wollen. Zuweilen ist ») Nur in Granbündten giebt es mehre Dörfer, die noch einige hundert Fuß höher liegen. Kirchgang der Hochaebirgoleute. 205 der Weg so verschneit mib ungangbar, daß sie ihre Todten nicht herabschassen können. Sie stellen dann die Leichen oben an einen kalten Ort, lassen sie einfrieren und bestatten sie erst bei besserem Wetter. Es giebt mehre hochgelegene Orte in den Alpen, welche zum Winter so abgeschlossen sind, daß sie ihre Todten einfrieren lassen müssen. Aber an hohen Festtagen, besonders an dcn sogenannten Lommunioussonntagcn *), da mögen Wetter, Wind und Schnee stürmen, wie sie wollen, es wird dennoch Bahn geschasst; denn an diesen Tagen ist der größere Theil der Gemeinde gewohnt, znm heiligen Abendmahl ins Thal zu gehen. Es ist zu Weihnachten oder Ostern zuweilen schon vorgekommen, daß die Männer mit Schaufeln und Hacken vorangingen und den Mädchen und Weibern Vahn schufen. Es muß ein erheben-derAnblicksein, eine solche sonntäglich geschmückte und vom frommen Eifer getriebene Gemeinde zu sehen, die sich von dcn Höhen durch Eis und Schnee zum Gotteshause hindurchgrabt. — Aber auch an gewöhnlichen Sonntagen kommen diese Bergbewohner auf ihrem mühevollen Wege fleißiger zur Kirche herab als die Thalleute, die das Gotteshaus in ihrer Mitte haben. Schwierigkeiten reizen den Menschen, wie eS scheint, überall dazu, das Gute und Schöne aufzusuchen. Wo ein tröpfelndes Gewässer unseren Weg kreuzte, war Alles mit Eis überzogen, und alle kleinen Brücken, die wir passirten, waren mit Eiszapfen behängen. Es gab hundert Stellen, wo der geringste Fehltritt auf glatter Eisbahn uns unmittelbar in den Abgrund gesandt hatte. Wir blickten häufig auf das Thal unter uns zurück, das einen reizenden An- *) So nennt man hier dcn ersten Weihnachts -, Öfter - und PsingWnntag. 206 Der Staubbach. blick darbot. Die Wiesen waren noch von ziemlich frischen Grün. Die Vämne aber warm alle von Kopf bis zu Fuß schneeweiß von dem Nebel, der sich in der Nacht daran krystallisirt hatte. Im ganzen Thal und auf allen bewies'ten Vergabhangen gegenüber bis auf die höchsten Alpenwiesen hinauf waren solche Vaume vertheilt, die sich wunderschön auf dem grünen Teppiche der Grasab-hänge und des Thales abhoben. Da die Sonne lieblich dazu schien, so hatten wir mitten im Winter das üppigste und reichste Vild des Frühlings vor uns. Das Plateau, welches mit tausend Fuß hohen Wanden ins Lauterbruuncnthal schroff absetzt, heißt der Platschberg — vielleicht weil der Staubbach und so viele andere kleine Gewässer an ihmherabplatschern? — ES ist daS breite Piedcstal der Pyramide des hohen Schilthorns. Als wir an dem steilsten Abhänge hinauf waren, gingen wir quer durch den Staubbach. Er sieht da oben, bevor er seinen weltberühmten Znltonwrtnlo ausführt, so gewöhnlich aus, wiejedeö andere Verggewasser. Ganz alltäglich, als hätte er nichts Anderes im Sinne, als wie er seinen Weg durch alle die Felsblöcke und Vaumwurzcln fände, lief er unter unseren Füßen hin. Einige Schritt aber davon, an der Stelle, die er sich auser« sehen, führt er einen genialen Coup aus, der ihm einen Namen über dm Erdboden verschafft hat. So macht auch wohl mancher Mensch durch einen einzigen brillanten Gedanken oder eine geniale Erfindung sein Glück. Das Dorf Murren liegt auf einer kahlen GraZfläche am äußersten Rande der Walvregion. Einige hundert Fuß unterhalb des Ortes fanden wir einige Aewohner mit Holzfällen beschäftigt. Man muß das Holz hier bergan tragen, wahrend es sonst immer bergab wandert. Ehemals soll es anders gewesen und der Wald noch weit über das Dorf hinausgegangen sein. Jetzt sieht man oberhalb des Orts nur noch ein kleines, sehrgelich- Bannwälder. 207 tetes Waldchen stehen, dessen Gehölz aber geschont wird und bei schwerer Strafe nicht gefällt werden darf, damit es das Dorf vor den Lawinen schütze. Es ist ein sogenannter Bannwald. Manfindct solche kleine Wäldchen, derm VäumeunterdemVann stehen, oberhalb sehr vieler Alpendörfer. Zuweilen sind solche Bannwalder der einzige Trost und die alleinige Hoffnung der Dörfer, denen sie angehören. Und ich gedachte bei ihrem Anblick zuweilen des angefressenen Erdhügels, den ich auf einer der friesischen Inseln gesehen und von dem die Insulaner ebenso Schlitz gegen die Meereswellen hofften. — Ein Forstmann hat mir gesagt, daß es schon eine sehr alte Sitte in der Schweiz sei, dergleichen schützende Walder in Bann zulegen; ihm seien Wälder bekannt, von denen cs nachgewiesen sti, daß sie schon 200 bis 300 Jahre im Bann stehen. Der Schutz solcher Wälder geht indeß nicht so weit, als wohl mancher Fremdling sich einbilden möchte. Für große Lawinen, die auch nur 400 odcr 500 Fuß oberhalb deS Waldes losbrechen, sind sie bedeutungslos, denn diese würden durch den Wald, Alles vor sich niederwerfend, hindurchschießm, wie eine Kanonenkugel durch ein Regiment Soldaten. Doch ist auch das ost schon sehrschätzenswerth, daß solche Wäldchen wenigstens erstlich den Schnee, der unter den Bäumen selber liegt, völlig firiren und dann auch auf eine kleine Strecke in ihrer Nachbarschaft die Lawinen aufzuhalten vermögen. Können sie auch in großen Nöthen nicht vor dem völligen Untergange retten, so schützen sie doch die unterhalb liegenden Felder und Wiesen vor dem Verderben durch Steingerüll, das von den kleinen Lawinen bestandig mit herabgeführt wird. Die Lage von Murren ist wirklich einzig in seiner Art. Es sind etwa 40 Haushaltungen, die, ohne regelmäßige Straßen zu bilden, in einer lockeren Gruppe auf dem kahlen, etwas abschüssigen Vergplateau nebeneinander liegen. —> Rund umher erhebt 268 Hochgebirgs - Scenen. sich ein gigantisches Amphitheater von Vergmassen, dessen Anblick Alles, was eine Feder zu seinem Lobe sagen kann, an Pracht und Interesse übertrifft. Es ist die nordwestliche, schroffer abfallende Wand desjenigen hocherhobenen Theiles der Erdrinde, welche die neueren Geologen jetzt die Finsteraarhorngruppe zu nennen pflegen. Hier in Murren, diesem 5000 Fuß erhobenen Centrum jenes Amphitheaters, wo man jenen Abhängen ungefähr gerade in der Mitte gegenüber ist und folglich das Ganze von oben bis unten am beßten übersieht, ist der wahre Punct für das Studium jenes Abhangs itsseinem Zusammenhange, besonders an einem Tage, wie er uns heute leuchtete, und an dem die Luft so durchsichtig war, dasi wir jede Eisnadel, jeden Vusch und Steinblock, die Physiognomie jedes Felsens so deullich rings umher erkennen konnten, wie in einem hellerleuchteten Theater die Toilette jedes Zuschauers. Man muß dabei in Kürze etwa Folgendes vor Augen haben: Die Finsteraarhorngruppe ist, wie es scheint, die großartigste Erhebungsmasse, welche in der Schweiz vorkommt, wenn man dabei nämlich nicht auf die Höhe der äußersten Spitze, sondern auf die colossale Erhebung der ganzen Vodenmasse sieht, auf welcher diese Spitzen stehen*). Nach Norden lind Westcn fallt sie mit einem gewaltigen und unersteiglichen AbHange ab. Diese Himmelsgegend ist es, welcher der Eiger, der Mönch, die Jungfrau und das Vreithorn ihre schroffste Seite zukehren. Nach Süden und Westen, wohin sie sich allmäliger absenken, lassen sich von diesen Bergen große meilenweite Eisfelder herab, die am Ende in den längsten Gletschern, welche die Schweiz besitzt, in die Thaler auslaufen. Solche mäch- ♦) Le massif du Finsteraarhorn, sagt Jquv <2t-ubet, est le plus puissant de tous et celui, qui exerce {'influence Ja plus prdpond^-rante sur le relief du sol Helv^tique. Visige Hochthäler. 209 tige Gletscher sind die Aletsch-Gletscher, die Vicscher-Gletscher, die Aar-Gletscher, die langen, weitreichenden Eisflüssen gleichen. Von der nordwestlichen Seite, zu der wir hier hinaufblicken, können weder solche breite Eisfelder, noch solche lange Eisflüsse herabkommen, weil die Felsterrassen hier in kurzen Absätzen sehr bald zu den niedrigen und wärmeren Thalern hinabspringen. Es giebt an der Wand dieses Amphitheaters hin zwar auch eineReihe von Einschnitten, in welchen Schnee und Eis sich eingenistet und Gletscher gebildet haben; aber so wie diese Gletscher sich zu ihren kurzen Thalern hervordrängen, so treffen sie gleich auf neue Abgründe, und statt als ruhige Gisströme allmälig ins Thal hinabzufließen , bröckeln sie an diesen Abgründen stückweise ab und hören völlig auf. Man blickt von Mürrm aus in diese eisigen Hochthäler, wie in einen Halbzirkel mit Eis gefüllter Kasten hinein. In ihrem Hintergrunde zeigt sich ein Eisfeld. Vorn aber am Ausgange des Thales steht man das dicke Ende dieses Feldes vielfach abgebrochen in Spalten und Nadeln zerrissen. Solche Gletscherthaler sind das Rothlhal, das Thal des Schmadrigletschers, das Thal des Stüfisteins. Alle diese Thäler sind sehr schwer zu ersteigen, und sie werden selbst von Gcms-jagern nur selten besucht. Das berühmteste und wildeste von ihnen ist das Noththal, weit und breit im Verner Oberlanve bekannt, als der Sitz des wilden Jägers und vielfachen anderen Spuks. Es soll sich in dieser Gegend zuweilen ein wildes Nau» schen und Lärmen in den Lüften vernehmen lassen, das aus dem Roththalc kommt. Sogar Naturforscher haben dieses Getose vernommen und geglaubt, die Ursache liege in noch unbekannten physikalischen Verhältnissen. Das Volk, das diese natürlichen Verhältnisse noch wmigcr entdecken kann als die Ge-lehrten, wendet sich dabei an die Poesie. DaS Roththal, sagt man, sei sonst ein schönes blumiges 210 Das wilde Noththal. Alpenthal und von Menschen und Heerden bewohnt gewesen. Allein der Besitzer und Herr desselben habe durch seinen übermüthigen und gottlosen Lebenswandel des Himmels Strafe auf sich gezogen. Der Strafengel sei gekommen nnd habe das ganz« Thal verwüstet, den Gras- und Vlumenteppich mit ewigem Eise überzogen und den bösen Herrn zu einem unstätcn Herumtreiben auf der Grde verdammt, auf der er weder sich selber noch Anderen Ruhe lassen tonne. — Man höre zu Zeiten ein wildes Tosen, Rauschen und Lärmen aus dem Thale hervorkommen, das weithin über die Verge durch die Atmosphäre zöge und sich bis in die ebene Schweiz, bis an die Aar, bis nach Bern und Freiburg verbreite, und dann wüßten die Leute wohl, es sei der Herr vom Roththale, der durch die Luft glnge. — Auch hier, wie bei den Bannwäldern, mußte ich wieder memer friesischen Insulaner gedenken, die ahnliche Erzählungen von gottlosen Bewohnern der vom Meerc verschlungenen Inseln haben, wie diese Bergbewohner von ihren mit Eis überzogenen Alpenthälern. Auch sonst ist das wilde Noththal, das ganz mit Mblöcken, Gletscherthürmen und schroffen Felsabhangen erfüllt ist, noch vielfach in üblem Rufe. Es spielt hier dieselbe Rolle, wie der Blocksberg im Norden von Deutschland, oder wie die Gingange zur Unterwelt bei den Griechen. Gs ist der Versammlungsplatz aller Heren und der Verbamumgsort aller bösen Geister und zum Oespensterlcbl'u verdammten Menschenseelen. — Vor unseren Augen lag es jetzt im milden Sonnenschein, und mit seinen bläulich herüberwinkenden Glswänden sah eö eher lockend als gräßlich aus. Aber die, welche auf schwindeligen, mühsamen Wegen selber zu diesem Thale emporklommen, sprechen mit Furcht und Entsetzen von seinem wilden Anblicke. Von den übrigen Eiökammern macht sich die des Cchmadrigletschers am bemerkbarsten. Der Bach, dem er den Ursprung giebt, stürzt sich, so wie er unter den Die Gestalt der Jungfrau. 211 Eishöhlen hervorkommt, in einem viel bewunderten Wasserfalle von den Felswänden herunter. Im Sommer sieht man diesen Fall als eine schaumige bewegliche Säule. Jetzt erblickten wir statt dessen nichts als einen weißen starren Streifen an dem Abhänge, denn die muntere Welle war selbst an den schroffen Abhängen in festen Winterschlaf verfallen. — Aehnliche Scenen bot uns der Stüststeingletscher dar. Der Tschingelgletscher aber, der im hintersten Winkel des Lütschinenthales liegt, war nur m seinen höchsten Theilen sichtbar, über die ein jetzt nur für geschickte Steiger gangbarer Pas; inS Walliö hinausführt. Die ganze Architektur der Jungfrau überblickt man von Murren aus eben so schön, wie von der Höhe der Wengernalp. Ich sage die Architektur; denn ein solcher gigantischer Verg, wie dieser, ist nicht etwa nur eine einzelne Pyramide, sondern er hat wie eine gothische Kathedrale oder wie ein Palast sein Fundament, sein Souterrain, seinen Sockel, seinen 6orps <1o lu^is, seine Haupt- und Nebenschiffe oder Flügel, seine oberen und unleren Etagen, seinen vornehmsten Dom und seine kleineren und kleinsten Kuppeln und Thünnchen. Ich müßtc dem 3eser ein so unerschöpfliches Interesse für die Sache zutrauen, wie ich selber dafür habe, wenn ich ihm es zumuthen sollte, hier eine detaillirte Beschreibung jenes ganzen Baues zu lesen. Jedoch der Reisende, der Alles in Natur vor sich hat, weidet sein Auge tausendmal an denselben Dingen und kommt von jedem Anblick stets von Neuem entzückt zurück, wahrend der Leser, der nur ein schwaches Bild davon leicht überdrüssig wird. Schon die bloße Anführung immer derselben Namen wird des Lesers Ohr überdrüssig, wahrend das beim Reisenden wegfallt. Die Souterrains der Jungfrau möchte ich das tiefliegende Thal von Lauterbrilnnen und dann das schroff eingeschnittene M2 Der Iungfrauengletschcr. Trünnuletenthal nennen, das uüt dem ersten sich unter einem rechten Winkel vereinigt. Ans beiden Thalern erheben sich schwindelnd ansteigende Felswände, die gewissermaßen den Sockel oder das Piedestal des Felsgebäudes bilden. In dem inneren Scheitel jenes Winkels bäumt sich dieses Piedestal zu einer gewaltigen Va-ftion empor, welche den Namen des klnnen Mönchs erhalten hat und der Jungfrau zn Füßen sitzt. Von der Tiefe des Souterrains aus scheint dieser Mönch sein Haupt in die Wolken zu erheben. Von unserem hohen Standpuncte aus aber bemerkt man wohl, daß er der Jungfrau nur zu Fußen sitzt. —> Einzelne Spitzen erheben sich aus der Mauer jenes Sockels, gleichsam wie kleine Valkone des Palastes oder wie die äußersten Thürmchen der großen Vurg. Vom Lcmterbrunnenthale aus steigt das cyklopifche Gemäuer bald zu neuen Schroffen empor. An der Seite des Trümmletcn-thales aber macht es eine Pause, und es zeigt sich hier eine, wenn auch nicht stäche, doch weniger geneigte Terrasse an der Mauer hin. Wie die Terrassen der Schlösser mit Vlumen oder Bäumen besetzt zu sein pflegen, so ist diese mit Gislagen und Eispyramiden geschmückt. Gs ist der Jungfrauen- oder Kühlalinergletscher, der sich eine Stunde lang über diese schiefe Terrasse hin ergießt. Wellenförmig geschweift wie ein gekrümmtes Füllhorn liegt er am Verge hin. Der Zipfel dieses Füllhorns ist oben an dem Felsengrate im Schnee befestigt, der die Jungfrau mit dem großen Mönche verbindet, und nach unten rossen buntgestaltete Eis» wände, Eisblöcke, Eisspitzcn, Eishöhlen und anderes Spielwerk für die Kinder der Berggeister daraus hervor. Weiter nach dem hoheu Centrum der Vurg erhebt es sich nun abermals, und es stellt sich da die eigentliche Hauptmasse des Gebäudes, der wahre Kern des Ganzen dar. Auf ihm sitzt der schöne Dom deS großen Eilberhorneö, das man der Kuppel deS Die Silberhörncr. 21A Chors oder dcm Dache einer Nebencapelle der Hauptkirche vergleichen köllNte. Diese vem Auge so gefällige Spitze ist sthr regelmäßig gebaut, auf beiden Seiten sehr gleichförmig gewölbt und völlig glatt. Sie ist Winter und Sommer mit tiefem Schnee bedeckt, der die ganze Oberfläche und alle Abhänge deS Berges so vollständig überzieht, daß nicht die geringste Schattirung von dunkler Farbe das Weiß unterbricht. Es scheint eine große Kuppel al«Z purein Schnee gedrechselt zu sein. Im Sommer schmilzt am Tage der Schnee auf der Oberfläche zusammen; in der Nacht aber gefriert das Geschmolzene, und wenn die Sonne danu darauf scheint, so blinkt die glatte Kuppel, als wäre sie übersilbe«. Daher der Name. Man hat sie auch wohl die Brust der Jungfrau genannt, da sie noch tief unter dem Gipfel des Berges sitzt. Und damit dann doch Alles passe, hat man noch ein zweites Silberhorn entdeckt, das sich nicht weit davon befindet. Ganz vollständig wird die Sache indeß dadurch doch nicht, weil dieses zweite Silberhorn unendlich viel kleiner ist. Im Sommer kommt es einem zuweilen vor, als ware das große, schöne, runde, leuchtende, fleckenlose Silberhorn wic ein riesenhafter Halbmond mitten zwischen die dunklen Felsen eingekeilt. An den Seiten der Silberhörner giebt et? noch eine Menge Absätze und Terrassen. Es sind hochgelegene kleine Gletscher, die sich von Stuft zu Stufe hinabschieben und bei jedem AbHange abbröckeln und eine Eiswand bilden, die wie ein blauer Streifen mitten m der weißen Schneemasse erscheint. Hätte Einer recht lange Beine, so könnt? er diese Absätze gleichsam als die letzte Treppe betrachten, die nun zu der obersten Spitze des ganzen Gebäudes, zu dem Gipfel der Jungfrau hinaufführt. Wie es indeß bei allen Dingen ein Letztes und ein Allerletztes giebt, z.V. bei den Thürmen erstlich eine dünn auslaufcnde Spitze, dann noch eine goldene Kugel und endlich das äußerste Endchen des 214 Daö einsame Müircn. Kreuzes, so sieht man auch auf dem bereits sehr geschmälerten Gipfel der Jungfrau noch ein äußerstes Höckerchen sitzen, das den Schluß und Endstein des Ganzen bildet. In der Wirklichkeit mag dieses Höckerchen, das man von Murren und auch aus dem Thale von Interlaken allenthalben deutlich ertennt, freilich ein wahrer Stcincoloß sein, der dem Ersteiger noch manches Fuß-und Kopftuch verursacht. Solchen Bauwerken derselben Architekten, die auch den Offa auf den Pelion häuften, solchen .gigantischen Bastionen, einem solchen Amphitheater gegenüber, sageich, standen wir hier oben auf dem Rande unseres Platschbergeö und waren entzückt. Unser Auge und unser Geist fanden Nahrung nach allen Richtungen. Der Eiger und das Wetterhorn, die Hühnlihörner und die Kette des Faulhorns, die verschiedenen Alpenwiefcn an ihrem Fuße, die vielen Pässe und Grate zwischen ihren Spitzen trugen ihrerseits nicht wenig dazu bei, dieses Vergnügen noch zu erhöhen. Da wir in die Souterrains der tiefen versteckten Thäler nicht hinabblicken konnten, so sahen wir ausier unserem Dörfchen Murren keinen menschlichen Wohnort, und diese Dorfleute schienen «ns in dieser Vcrgwüste versteckt und verloren, wie ein kleines Mausenest mitten in einer Nuinenstadt. Nur hie und da sahen wir auf einer Alpe einige kleine schwärzliche Puncte im Schnee, die wir durch das Perspectiv als verlassene Sennhütten erkannten. Wie der Mensch, der in einer solchen Entlegenheit zur Welt kommt und aufwächst, beschaffen sein möchte, war natürlich ein Hauptgegenstand unserer Wißbegierde, und wir traten in ein Haus, bei dessen Bewohnern unser Führer uns als bei gute» Freunden bekannt machte. Wir fanden die Aeltern und die erwachsenen Töchter beim MittaMiahle, d.h. bei Kartoffeln und Käse. Denn wie in Schweden Kartoffeln und Knackebrot, wie in Irland Kartoffeln und Vuttermilch, wie in Sachsen Kartoffeln Kartoffeln und K5se. 215 und Kaffee, wie in Holland Kartoffeln und Haring, so bilden hier Kartoffeln »nd Käse die Hauptnahrung der Armen. — Die Kartoffeln sind auf diesen Höhen erst neuerdings eingeführt worden, aber sie gedeihen so gut, daß sie selbst in diesen Jahren der allgemeinen Kartosfelseuche hier weniger gelitten haben als in den Thalern. Ehemals hat man hier oben auch Getreide gebant, nnd ich habe es selbst in den alten Kirchenbüchern vonLauterbrunncn gelesen, daß noch uor 300 Jahren ein Theil der Einkünfte des Predigers auf den Kornzehnten in Murren angewiesen war. Jetzt aber ist längst alles Kornfeld in Wiese verwandelt; die Leute behaupten, in Folge des schlechten Klimas. Doch trägt vielleicht auch die allgemeine Ausbreitung und Zunahme der Viehwirthschaft, die in der ganzen Schweiz bemerkbar ist, einen Theil der Schuld. — Brot ist hier jetzt eine solche Seltenheit, daß es nur als Leckerbissen, oder als Nahrung der Kranken betrachtet wird. Sonntags, wenn die Leute aus der Kirche im Thale wieder heraufkommen, bringen sie sich wohl ein Vrot mit. „Es ist nur auf den Fall, daß Eins krank werden sollte, oder zum Labsal für die kleinen Kinder", sagten sie uns. Ihr ganzer Vorrath bestand in einer trockenen Rinde, die sie, sorgfältig in Papier gewickelt, in der Vorrathskiste versteckt hatten. — Auch Kirschwasscr giebt es hier oben so wenig, wie Vrot oder Kirschen. Doch bringen die Madchen zuweilen ein Flaschchen ebenfalls am Sonntage nach der Kirche mit herauf, um die von ihnen begünstigten Burschen gelegentlich damit zu tractiren. Der Effect, den wir auf die beiden Töchter des Hauscö machten , war wirklich merkwürdig. Sie hatten wohl nur sehr selten Menschen von unserer Figur und Fassung gesehen, nnd vielleicht seit manchem Monat gar keinen. Sie lächelten und lachten daher von dem ersten Augenblick, wo wir hereinkamen, nnd konnten auf keine unserer Fragen eine Anttuort hervorbringen, weil sie zu 216 Gesunvhcitozustano. viel mit dem Unterdrücken ihrer Lachlust zu thun hatten. Vine von ihnen lief geradezu laut herausplatzend zur Thür hinaus. Wir konnten uns auf keine Weise erklären, wo das Komische in unö steckte, denn wir hatten weder eine Narrenmütze auf dem Kopfe, noch eine Harlequinsjacke auf vem Leibe, noch einen Zopf im Nacken. Aber kurz wir mußten zugeben, daß wir hier auf Murren eine eben so sonderbare Nolle spielten, wie diese guten Verg-bewohner in unserer Stadt gespielt haben würden, denn auch noch andere Mädchen, denen wir begegneten, bissen sich auf die Lippen, und kleine Kinder, die wir freundlich anredeten, fingen laut an zu schreien, als stäche sie eine Viene. — Man hat gefragt, waS zwei Menschen, die nie ihres Gleichen gesehen, bei dem ersten Zusammentreffen chun, ob sie sich anfeinden oder liebend umarmen würden. Nach diesen Mürrener Erlebnissen schien es mir sehr wahrscheinlich, daß sie keins von beiden thun, sondern sich nur einfach gegenseitig auslachen würden. Dem Franzosen oder Engländer, der plötzlich aus der Mitte seines Vaterlandes nach Deutschland kommt, geschieht ganz dasselbe, und eben so dem Deutschen, der zuerst in Paris oder London auftritt. Wir hatten einen Arzt unler uns, dem es ebenso daran lag, den Gesundheitszustand der Menschen auf diesen Höhen zu untersuchen, wie mir daran gelegen war, andere Bemerkungen zu machen. Wir ließen daher den Connuuns-Präsidenten zu uns bitten und wanderten, von ihm eingeführt, von Haus zu Haus, um in allen Familien die Kranken zu sehen und namentlich die Mütter über die Iugendkrankheitcn ihrer Kinder zu vernehmen. Diese Untersuchung stimmte unsere hohe Idee von der Gesundheit dieser Höhen etwas herunter. Wir hatten unö eingebildet, wir würden hier nicht nur äußerst frische Kinder, sondern auch hundert- oder hundertzwanzigjahrige muntere Greise, wie man deren wohl in russischen Dörfern sieht, finden- Mmmelwald. 217 Allein die Kinder sehen nicht anders aus als unten, und von Men, die es höher als 80 Jahre gebracht hätten, konnten wir nichts vernehmen. — Eine Mutter, die wir fragten, ob ihre Kinder schon Krankheiten gehabt hätten, antwortete uns: „Ach Herr, Krankheiten aller Galtungen." „Verknüpfte Kinder" (so heißen hier die skrophulösen und rhachitifchen Kinder) fand «infer Freund hier besonders viele. Wir sahen eine Frau, die kaum 70 Jahre alt war und dabei erstaunlich kümmerlich, so völlig ergraut, zerschrumpft und faltig war, daß wir sie auf den ersten Anblick wohl 30 Jahre älter geschätzt hätten. Wir sprachen mit einem Manne von 45 Jahren, den wir auf 60 geschätzt hatten. Auch der ganze Menschenschlag schien mir bei Weitem nicht so kräftig und kernig, wie der Reisende ihn wohl in einigen Thalern von Oberbaiern und Tyrol findet. Cretmen» hafte Krüppel giebt es aber natürlich in dieser Hohe nicht mehr. Auch brauchen die Leute gegen ihre KrankheitennurHausmittel. Sie sind krank und sterben ohne ärztliche Hülfe, und ihre Wel» ber gebären ohne allen anderen Beistand, als welchen die Nachbarn zu leisten vermögen. ^— Als wir sie fragten, wann der letzte Arzt hier gewesen, lauteten die Antworten sehr verschieden. Der eine erinnerte sich des Doctors So und So, der vor 30 Iahreu, der andere des Doctors So und So, der vor 15 Jahren einmal hier gewesen. In einer Höhe von etwa 600 Fuß unterhalb Murren ist wieder ein solches Fleckchen Erdreich, auf dem Menschen haften können, und auf diesem Fleckchen liegt das erwähnte Schwesterdorf Murren's, Gimmelwald. Der Blick auf diesen Ort von oben herab ist wirklich einzig, und könnte ein geschickter Künstler diesen Anblick malen, so würde es wirklich ein höchst effectreiches Gemälde gcben. Man sieht tief unter sich ein scheinbar sehr kleines Graöplaleau, das aber doch „och4500Fuß Kohl, Alpenreisen, l. 10 218 Die Kartoffelgärten. hoch ist und nach allen Selten mit unnahbaren Felswänden in die Tiefe abfällt. Diesem Plateau sieht man einige schwarze Puncte eingesprenkelt, und diese Puncte sind die zerstreuten Häuser von Gimmelwald. Es scheint, als hatten Lilliputter sich angebaut im Lande der Riesen. Nings irrt der Vlick umher an den gewaltigen Mauern, vergebens nach einem menschlichen, freund-nachbarlichen Echo suchend. — Der ganze Horizont zeigt nichts als mit ewigem Eise und Schnee vermauerte Pforten und Thüren. Als wir auf dem Wege nach Gimmelwald aus Murren hinaustraten, fanden wir hart an dem Felsenabhange des Platschberges hie und da das Erdreich aufgebrochen. Dieß feien ihre Kartoffelgärten, sagten die Leute. Es waren sehr unregelmäßig gestaltete Landstückchen, ohne Einfassung und Zaun. „Wenn die Weiber hier die Kartoffeln pflanzen", sprach unser Führer, ,.so wehen ihre Tücher und Röcke über den 2000 Fuß hohen Abhang hinaus!" In der That, diese Bergbewohner befinden sich selbst bei den gewöhnlichsten Arbeiten in den außergewöhnlichsten Situationen'. — Weil Neideland bei ihnen das Wichtigste ist, so darf von der Wiese ja nichtö aufgebrochen werden, und die Weiber müssen ihre Kartoffeln da pflanzen und ernten, wo für die Kühe das Erdreich zu schlecht oder die Lage zu gefährlich wäre. Da wir in Murren den Schulmeister nicht zu Hause gefunden, so war nun in Gimmelwald, wohin unS ein reizender Alpenpfad hinabführte, die Schule das Erste, wonach wir fragten. Die Schulmeister sind die Depositare mancher interessanten Kunde, namentlich in solchen entlegenen Winkeln, wo außer ihnen kein einziges der Bildung geöffnetes Auge wacht. Im Ganzen ftorirt aber das Schulwesen auf den Verner Gebirgen nicht sehr. Die Gemeinden sind arm und die Schulmeister nur Das Verner Sibirien. 219 kümmerlich besoldet, ihre Stellen daher nur von denen gesucht, die anderswo nicht unterkomme» können. Dieß gilt von allen Schulen im Verncr Oberlande mehr oder weniger, am meisten von den am höchsten gelegenen. Dieß ganze schöne Berner Oberland, das die Fremden am liebsten von allen Schweizergegenden besuchen, ist für die Einheimischen, namentlich für die Schullehrer, die Prediger, die Beamten, das Verner Sibirien. Wie Rußland Denen, die in Sibirien eine Zeit lang gedient haben, gewisse Vorlhrilc im Avancement zugesteht, wie Dänemark den auf entlegenen Inseln, z. V. auf den friesischen Halligen, stehenden Predigern solche Vortheile gewahrt, so gewahrt der Staat von Vern sie auch den in den Thal-und Vcrgverstecken Angestellten. Jede Versetzung eines Predigers oder Schullehrers aus den hinteren Thalwmkeln, wo die poetischen Wasserfalle rauschen, und in welche die imposanten Gletjcher hinabsteigen, nach einem Puncte weiter ftuß» und thalabwärts ist ein Avancement für ihn. Auf diese Weise sind daher die Schullehrer- und Predigerstellen im Oberlande einem bestandigen Wechsel unterworfen, und die Sache der Aufklärung kann dabei nicht sehr gewinnen. In einem der entlegensten Dörfer dieser Oegcnden traf ich einmal einen alten fünflindsicbenzigjähng^n Schullehrer, der nur selber erzählte, er sei am Gndedes vorigen Jahrhunderts „provisorisch" in diesemDorfe angestellt worden. Weiler kein ordentliches Examen gemacht oder, wie er sich ausdrückte, nicht „patentirt" gewesen, so habe er selber geglaubt, er würde wohl nicht lange an seinem Posten bleiben. Indeß sei die Stelle jedes Jahr an einen eraminir«-ten Schullehrcr ausgrboten worden; da aber Niemand nach ihren böchst bescheidenen Gmolumenten verlangt habe, so habe sich kein Kandidat gemeldet und er sei aus diese Weise seit 50 Jahren provisorisch angestellter Schulmonarch in Vifcnflue geblieben. 10* 220 Gellert's Oocn und Lieder. Unser Schulmann in Glimmelwald war jung nnd rührig, auch „Patentirt", und machte uns mit den Culturverhaltnissen seines Orts recht gnt bekannt. Das Schulhaus fanden wir sehr nett eingerichtet und geräumig. Doch sind Lesen, Schreiben, Religion und etwas vaterlandische Geschichte die einzigen Gegenstaude des Unterrichts. Geographie hat man bisher noch nicht in den Schulplan aufgenommen. Zu unserer innigen Freude, ich möchte sagen zu unserem Entzücken, fanden wir aber hier eine reichliche Quantität von Giemplaren „der geistlichen Oden und Lieder" unseres alten herrlichen Gellert. Der Schulmeister sagte uns, daß jedes Kind ein Exemplar dieses Büchleins haben müsse. Einige seiner Schüler, meinte er, wüßten wohl alle 54 in dem Vüchelchen enthaltenen Lob- und Trostlieder auswendig und vergaßen sie in ihrem Leben nicht; keinen Schüler aber entließe er, der nicht wenigstens die schönsten in seinem Gedächtniß und seiner Seele aufgenommen hatte. Vei meinen spateren Fahrten bemerkte ich selbst, daß es in allen Schulen dieser Gegend ebenso sei. Gs werden in Bern jahrlich und zwar schon seit dem vorigen Jahrhundert viele tausend Gremplare vo>n jenem kostbaren Vüchelchen gedruckt und durch den ganzen Can< ion zu einem äußerst billigen Preise*) verbreitet. Für uns war dieß in der That eine Entdeckung, die uns mit unglaublich wohlthuenden Betrachtungen und erhebenden Gefühlen erfüllte. Wir konnten uns kaum entschließen, das herrliche Vuch, das wir aufgeschlagen in der Hand hielten, während der Schulmei" ster redete, wieder bei Seite zu legen. Wir mußten alle dies« wunderreinen Gesänge wie höchstwerthe alte Iugendbetannte, die wir zum Theil wohl lange aus dem Gesicht verloren, wieder begrüßen, z. V. das schöne! *) Gut gedruckt, sauber gebunden, kosten jene Lieder nur 10 Kreuzer (2^ Neugroschen). Gellert's Oden und Lleder. 221 „Gott, deine Güte reicht so weit, „So weit die Wolken gehen," und das fromme: „Ich komme vor dein Angesicht, „Verwirf, o Gott, mein Flehen nicht," und das nicht minder entzückende' „Mein erst Gefühl sei Preis und Dank, „Erheb ihn, meine Seele!" und alle die kindlichen, die herrlichen, die erhebenden, die tröstenden Lieder: „Er ruft die Sonn' und schafft den Mond, „Das Jahr darnach zu theilen," und das: „Nach einer Prüfung kurzer Tage „Erwartet uns die Ewigkeit," und das: „Nicht, daß ich'S schon ergriffen hätte, „Die beßte Tugend bleibt noch schwach," und alle die anderen. O darin liegt noch mehr Stoff zum Nachfinnen als im Föhn, in den Gletschern und den hohen Vergspitzen. Wie wunderbar ergriff es mich, hier in diesem entlegensten Winkel des Gebietes der deutschen Sprache alle diese herzerhebenden Worte und Verslein wiederzufinden, die ich am anderen Ende Deutschlands schon vor 30 Jahren gelernt. Diese Gellcrt'schen Lieder, hier erkannte ich's recht deutlich, sind einer der herrlichsten Schätze der deutschen Sprache und Literatur. Kann man den Landleltten, kann man der Jugend, kann man uns allen etwas Besseres, etwas mehr zum Herzen Sprechendes in die Hand geben? Kann nicht jedes dieser Lieder, wenn es zeitig dem Gemüth ein« gepflanzt wird, zu einem wahren Vaum des Lebens voll schöner Früchte, zu einem Stab und Stecken in uns heranwachsen? Diese Lieder werden auch neben den Psalmen Davids ewig bleiben, so lange noch vie deutsche Sprache bleibt, und so lange 222 Die Ceesinen-Alft. noch eine deutsche Seele Frömmigkeit empfindet. Welch himmlischer Freude müßte derGeist jenes herrlichen Dichters theilhaftig werden, wenn er jetzt eine Ahnung davon haben könnte, wie in ganz Deutschland, wie selbst hier in den an den Gränzen Welschlands gelegenen Thalern und Bergen die Kinder seiner Landsleute die Gedanken und Worte lernen und singen und als eine köstliche Gabe für ihren ganzen Lebensweg einsammeln., die ihm einst in einem einsamen Stübchen durch die Seele gingen. Wir riefen im Stillen tausend Segnungen auf den Namen Gellert, auf die deutsche Nation, die einen solchen Geist erzeugte, auf die Deutschen aller Lander, die solche Lieder hegen und pflegen, auf diese Bergbewohner, die ihre Kinder mit solchen Gesängen speisen, und auf die Verner Buchdrucker, die seit fast einem Jahrhundert diese Lieder verbreiten, herab, indem wir durch das wildeSeefinenthal unseren Weg zu den unteien Regionen hinun-tcrstiegen. Die schmalen Wege, die stellenweise mit glattem Eise bedeckt waren, so wie auch die Scenen um uns her waren wild und romantisch genug. Gs führt dieses Thal zu einer der höchsten und schönsten Alpen des Verner Oberlandes empor, zur Seefinenalp. Diese Alp liegt bereits der Schneeregion sehr nahe und hat nur einen sehr kurzen Sommer von 8 Wochen. Und selbst wahrend dieser Zeit, mitten im Monat August, fällt hier noch zuweilen Schnee, der daö Vieh in der Ausübung seineS Hauptgeschäfts, der Aesung behindert. Auch ist die ganze Alp mit vielfachem Sleingerött bedeckt. Dafür sind aber auch diejenigen Krauter, deren sie zwischen Schnee und Steinen habhaft werden können, um so köstlicher. „Mtttnera" und „Adcl-gras" finden sich dort reichlich. Die Hirten bewegen sich auf die höchste Stufe der Alp in 4 „Staffeln" oder „Lagern" hinauf, und auf dem untersten „Lager" verweilen sie nur 2 Tage, weil es dort nur für diese kurze Zeit hinreichendes Futter giebt. Ausbreitung der Bergbevölkcrung. 223 Das Seefinenthal mündet aus in das Thal von Lauter-brunnen, wo wir übernachteten. Am anderen Morgen wurde noch dem Prediger ein Besuch abgestattet, zu dessen Parochie unsere beiden Bergdörfer gehörten, weil wir vermutheten, daß er, im Besitze der alten Tauf-, Sterbe- und anderen Parochlal-documente, vielleicht noch einige Auskunft über die Dörfer geben könnte. Er zeigte uns mit der größten Gefälligkeit MeZ, was er besaß. Und da kam denn wieder ein sehr interessanter Punct zur Sprache, über den ich sonst Vorstellungen hegte, die gar nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmten, nämlich die Frage von der Art und Weise der allmaligen Verbreitung der Menschen durch diese Verge und Thäler. Ohne nähere Kenntniß dieser Alpen und der hiesigen Verhaltnisse wird man sehr geneigt sein, diese Frage sehr einfach zu finden und sie dahin zu lösen, daß die Menschen sich zueist im Norden und im Süden der Alpen, in der schönen Ebene des Po und in den fruchtbaren Cantonen der sogenannten ebenen Schweiz am Nhein, an der unteren Aar im Aargau und Thür-gau, am Vodensec, am Genferste u. s. w. festgesetzt und von da aus dann, allmälig Besitz ergreifend und Colonien gründend, sich in die höher gelegenen Thäler verbreitet hätten, — zuerst in die breiteren und offneren Thäler, dann an die kleineren und engeren und so, immer den Flüssen folgend, bis zu den Quellen dieser Flüsse, wo die Gletscher und der ewige Schnee dem Weiter-schreiten Gränzen steckten, — auf eine ähnliche Weise, wie das Blut, das in vollen Adern aus dem Herzen strömt und immer weiter m feinere und kleinere Arterien hineinvulsirt. Im Ganzen ist dieß auch wohl richtig. Aber es kann ein System im Ganzen richtig sein und doch nicht nur eine zahllose Menge Ausnahmen zulassen, sondern auch in gewissen Gegenden sich völlig entgegengesetzte Systeme entgegentreten sehen. 224 Gebirge als Vevölkerungs-Conductoren. Und so ist es denn auch hier in den Alpen der Fall, indem die Nuth der Bevölkerung nicht nur zuweilen plötzlich aus denThä« lern auf die Verge abspringt, sondern auch den Menschenwan-derungen in den Thälern aufwärts zuweilen eine entgegengesetzte Wanderung von den Bergen in die Thaler abwärts entgegentritt. Beides zeigt sich in der Vevölkerungsweift desjenigen Thales, in dem wir uns gerade jetzt befanden, und bei den Wohnorten, die wir so eben besucht hatten, den hohen Dörfern Murren und Gimmelwald, sehr auffallend. Nach dem Systeme der Wanderung von unten nach oben, die Thaler und Flüsse auf< wärts, sollte man erstlich vermuthen, daß das Thal von Lauterbrunnen seine ersten Bewohner aus dem großen Aarthale, mit dem es zusammenhängt, empfangen habe, und dann, daß die Leute zuerst sich in dem tiefen Thale angesiedelt hätten und erst später, zu der hochgelegenen Position der beiden oft genannten Dörfer emporgestiegen wären. Veidcs aber trifft hier nicht zu. Die Thalbewohner von Lauterbrunncn sind ein ganz anderes Geschlecht als die von Interlaken und der Aar, und ihre Traditionen machen es sehr wahrscheinlich, daß sie nicht von unten herauf, von den Seen von Vrienz und Thun, sondern von Süden her über die hohen Vergpasse aus dem Wallis und zwar aus dem Lötscherthalc gekommen sind. Diese Traditionen sind auf beiden Seiten dieselben, und es werden sogar eine Menge Geschlechtsnamen genannt, die in beiden benachbarten Thalern dieselben sind, die aber in anderen Thälern nicht vorkommen. Dieselbe Erscheinung, dieselbe Verbindung und Verschwisterung der Bevölkerung zweier benachbarter und hochgelegener Alpenthäler auf verschiedenen Seiten der sie trennenden Bergrücken und dieselbe Trennung dieser Bevölkerung von der Bevölkerung der mit ihnen zusammenhängenden Unterthaler findet man sehr häufig in den Alpen. S« haben z. V- Zusammenhang der Alpenweiden. 225 namentlich viele Hochthäler auf der italienischen Seite ihre Bewohner nicht von unten her, von Italien aus erhalten, sondern von oben her, aus den durch Alpenpafse mit ihnen verbundenen und mit Deutschen bevölkerten Nachbarthalern. Die Bevölkerungen folgten also nicht immer dem Laufe des Wassers und werden nicht immer durch die höchsten Rücken und Grate getrennt. Aus den, hinteren Ende eines großen Thales in das hintere Ende eines anderen großen Thales führt oft ein leichterer Weg als von der einen zur anderen Abtheilung eines und desselben grosien Thales. Man muß diese langen, großen Thaler besonders in ihren oberen Partieen sich nicht wie lange Wannen oder Canäle denken, sondern vielmehr als aus mehren stufenweise übereinander gesetzten Kasten odcrBeckm bestehend. Zwischen je zwei Becken ist dann ein Absatz, oft von schroffen wilden Felswänden, von denen das Wasser zwar in Kaskaden seinen Weg herabfindet, an welchen die Menschen aber ihre Wege nur mit Schwierigkeit bahnen. Eg giebt hintere Becken oder Thaler dieser Art, die im Winter von den unteren Thälern, mit denen sie durch dasselbe Gewässer, wie durch einen gemeinsamen Faden verbunden sind, zuweilen ganzlich außer allen Verkehr gesetzt werden. Und dieselben Thäler liegen zugleich zuweilen dem Bergrücken in solcl'cr Höhe eingedrückt, daß der Uebergang aus ihnen in ein der anderen Seile dieser Rücken eben so eingedrücktes Thal nicht sehr schwierig ist. Dieser Rücken wird daher zwar eine Wasserscheide, nicht aber eine Völkerscheide. Die ersten Bewohner dieser höchsten Verge waren ohne Zweifel Hirten, wie es die jetzigen noch sind. Hatten diese Hirten sich mit ihrem Vieh nun einmal von einer Seite her bis auf den äußersten Grat erhoben, so ergriffen sie auch leicht von den Alpen auf der anderen Seite dieses Grats Besitz, von denen sie oft nur durch eine schmale Wasserscheide geschieden 10" 226 Aelteste Gemeinden auf den Bergen. waren, und zu denen die von der anderen Seite heraufdringende Bevölkerung noch nicht gelangt war, weil sie die schwierige» Zugänge noch nicht überwunden hatte. Es steht ein Haus mit hohen Mauern und breitem Dache zwischen zwei Straßen. Aus beiden Straßen suchen Leute die ihrer Straße zugeneigte Hälfte des Daches zu erklimmen. Die, welche das Dach zuerst erreichen, werden sich leicht zu Meistern des ganzen Daches und seiner beiden Hälften machen, wenn auch das Regenwasser auf zwei verschiedenen Seiten abfällt. Auf ähnliche Weise erklärt es sich, daß die beiden Hälften der Dächer der Alpenkette oft von demselben Volksstaun» besetzt sind, während man nach der bloßen Abdachung und nach dem Ablauf des Wassers hätte schließen sollen, daß beide Hälften ganz verschiedenen Nationen hätten zufallen müssen. Auch der andere Umstand, daß in einem und demselben Thale nicht immer der weite und breite Thalgrund, sondern die an den Seiten des Thales liegenden Verghange und Terrassen zuerst von Menschen bebaut wurden, steht wohl nicht in Harmonie mit den gewöhnlichen Vorstellungen. So, um dieß gleich an dem uns vorliegenden Beispiele zu erweisen, ist nicht Lauterbrunnen, der jetzige Central- und Hauptort des nach ihm benannten Thales, zugleich auch die älteste Colonie desselben. Die hoch auf den Seitenwänden gelegenen Dörfer Murren und Gimmelwald, sowie die ähnlich gelegenen Dörfer Wengern und Eisenflue sind vielmehr bei Weitem alter. In den katholischen Zeiten hatten sie auf Murren und Gimmelwald eine eigene Kirche, und es ist dort noch jetzt eine Höhle, welche der „Kilche-Valm" (die Kirchhöhle) genannt wird. Die Kirche von Lauterbrunnen wurde viel spater gebaut. Noch mehr als dieß. Die Bewohner des Haupiortes Lautelbrunnen haben als solche gar kein Recht an den Alpenweiden, die zu ihrem Thale Die Thäler als Souterrains. 227 gehören. Um diese benutzen zu können, müssen sie sich das Necht eines Einwohners von Murren, Wengern oder eines anderen jener hochgelegenen Orte verschaffen, oder, wie sie hier sagen, sie müssen die „Bürgschaft" in jenen Orten haben. Wer uon den Bewohnern des Souterrains nicht „Burger" in einem der oberen Orte geworden ist, darf keine Kuh auf die Alpen treiben, weil alle Alpen ohne Ausnahme im Besitz jener höher gelegenen, alteren und pri'uilegirtcn Orte sind. Der jetzige Hauptort des Thales ist also in mehrfacher Beziehung von jenen seinen Nebenorten abhangig. Und eben dieselben Verhältnisse zwischen den Bewohnern des breiten Thales und denen der benachbarten Verg- und Thalgelände finden auch noch anderswo statt, und zwar so häusig, daß man sagen kann, daß fast in allen Thalern (natürlich nur in den engeren Hochgebirgsthälern) die jetzigen Hauptorte jüngere Pflanzungen sind, als die auf den Seiten liegenden Bergdörfer. So sonderbar dieß auf den ersten Anblick scheint, so erklärt es sich doch eben so wie das zuerst gedeutete Phänomen sehr leicht aus der Natur der Sache. Ich nannte oben das Thal von Lauterbnmnen ein Sou« terrain, und in der That eS hat, wie viele solche von gewaltig hohen Felsen eingetastete Thaler, ganz die Natur eines Kellers. Die Sonne kommt m der schlechte» Jahreszeit nicht viel hinein. Die Luft ist darin feucht und kalt. Wiesen giebt es nicht auf dem schmalen Grunde, und in alten Zeiten mochten die wilden Gewässer, die sich durch das Thal stürzen, mit ihrem Steingeröll, mit ihrem Sumpfboden vielleicht das ganze Thal ausfüllen. Es war sehr natürlich in einem solchen Thale für Hirten, was die ersten Einwanderer ausschließlich waren, ein sehr unpassender Aufenthalt. Die schönen Wiesen lagen alle oben. Um ihnen möglichst nahe zu sein, um aber zugleich auch das rauhe Klima des oberen Firstes des Gebirges (des Dachrückens) zu 228 Der Vergschutt in den Thälern. vermeiden, sudelten die Ginwanderer ihre Dörfer nicht in der Tiefe des Thales selbst, aber natürlich auch nicht auf dem Grat des Gebirges, sondern in der Mitte zwischen beiden, oberhalb der schroffen Thalabhange an und ließen das wüste, finstere, kalte, an Sumpf und Steintrümmern reiche Thal unbewohnt. Demnach diente hier im Inneren des Gebirges der bequemere, fruchtreichere Bergrücken der Colonisation eben so znm Leiter oder Conductor, wie die Flußgelande und die schiffbaren Ströme anderswo. Es war gewissermaßen, um bei dem obigen Bilde stehen zubleiben, eine Verbreitung über die blumigen Dächer weg, mit Vermeidung der tiefen, engen Straße, ähnlich der über die Dacher wandernden und verkehrenden Bevölkerung in den orientalischen Städten. Später wurde auch das tiefe Thal bewohnbar. Vieles hat dazu das von den Bergen herabstürzende Stemgetrümmer beigetragen, das sich in mehr oder weniger schwach geneigten Halden an die schroffen Felswände der Seiten anlegte. Diese Halden, die man in allen engen Thalern, namentlich auch in dem von Lauterbrunnen, an die Felsen gelehnt sieht, beschrankten erstlich die in dem Thale fließenden Gewässer und zwangen sie, in einem engeren Bette sich zusammenzuhalten. Sie besetzte» sich allmälig mit Gras und Bäumen und wurden die vornehmsten Anhaltepuncte für den Anbau der Menschen und für die Ansiedelung von Dörfern. Man findet in den Alpen viele tausend Dörfer, die sich auf solchen Steintrümmerhalden oder Schuttkegeln mit ihren Gärten und Hausern ausgebreitet haben. Zuerst mochten sich in der Mitte des Thales Handelsleute oder Wirthe ansiedeln, um den Verkehr der Hirtendörfer auf beiden Seiten unter einander mit der Welt außerhalb ihrer Berge zu vermitteln. Dann als die Bevölkerung stieg, mochte auch Ackerbau dazu kommen und so am Ende ein Ort entstehen, Bergabwärts rollende Bevblkerungsfluth. 229 der nun alö Centralpunct bei steigendem Verkehr, bei verbessertem Ackerbau, bei Vermehrung des Anbaues im Thale, sich natürlich bald zum Hauptorte emporschwingen nnißte. Jetzt wandte sich das Matt in vieler Hinsicht. Die kleinen Kirchen oder Kapellen oben auf den Bergen gab man auf und baute eine Hauptkirche nn Thale für asse Bergdörfer desselben. Anfangs hatte man auch oben in dem fruchtbaren Alpenboden Getreide erzeugt. Da man dieß nun in dem fruchtbar gewordenen Thale bequemer bauen konnte, so hörte der Ackerbau oben auf, und man holte das Vrot aus dem Thale, von dem man dieses und manches anderen Artikels wegen abhangig wurde, während dagegen die alten Weideverhaltnisse und Alpenbcrcchtigmigen dieselben blieben. Die immer größere Wohnlichkeit der Thäler, vielleicht die zunehmende Bequemlichkeitsliebe der Leute, gewiß aber die in den höheren Vergregionen um sich greifende Verwilderung scheinen in neuester Zeit sogar die Bewohnerschaft der Verge und Hochthäler mehr auf die niederen Thäler zurückzuwerfen. Das Bau- und Brennholz wird oben rarer, das Klima rauher, die Alpen werden minder ergiebig. Dieß bewegt die Leute, wenn sie auch ihre Bürgschaft oben behalten, die Thaler zu suchen. Die Schullehrer sagten uns oben, daß der schulpflichtigen Kinder jcht weniger seien als früher. Unten erzählte man uns, daß jetzt viele wohlhabende Familien aus den oberen Dörfern für den Winter se auf dem Voden, auf welchem das Eis liegt, sondern '" einer tiefen Kluft abfließen. < m^j Diese Kluft ist eines der merkwürdigsten Naturwerke, bas n,an sehen kann. Sie soll 200 Fuß tief fein und ist babei im Ganzen durchschnittlich etwa 10 Fuß und stellen« 6°hl, Alpenreisen l ,< UM Merkwürdige Kluft. weist nur 2 oder 3 Schuh breit. Sie sieht aus wie ein Steinspalt, den ein Erdbeben veranlaßt hat. Aber es ist wahrscheinlich, daß sie nur das Werk der abfließenden Gewässer des Gletschers ist. Man behauptet, das Wasser des Gletschers führe einen sehr eckigen und scharfen Sand unter dem Eist hervor, und dieser vom Wasser getriebene Sand habe diesen Spalt allmalig eingesägt. Es geht dieser Spalt, wie eine Schlange am Voden sich windend, etwa eine Viertelstunde vom Gletscher abwärts. Dann flacht er sich nach und nach aus, und das Wasser fließt am Ende in der Tiefe des Thales ganz auf der Oberflache des Vodenö in den Rei-chenbach. In nicht großer Entfernung vom Gletscher setzten wir über diesen Spalt auf einer Brücke. Der Vlick hinab, den uns das Mondlicht gestattete, ist einzig in seiner Art. Man kann nicht bis auf den Grund hinabsehen, weil die Wände unregelmäßig ausgewaschen sind und die Heruor-ragungen von beiden Seiten sich hie und da beinahe berühren. Man hört die Gewässer daher nur aus der untersten Tiefe heraufrauschen, und Steine, die wir hinabwarfcn, wurden ein Dutzend Mal von der einen Seite auf die andere hinübergeschleudert, ehe sie den Voden erreichten. Im Winter ist der ganze Spalt mit Schnee und Eis verstopft. Hie setzt sich nicht nur bis dicht an den Rand des Gletschers fort, sondern sie geht auch noch weit unter dem Gletscher weg, so daß dieser wie ein Deckel darauf liegt. Gerade vor dem Gletscher macht der Spalt eine Krmnmung und läuft eine kleine Strecke längs des Gletschers hin, so daß die Eis-mauern desselben wie durch einen tiefen Festnngsgraben durck sie begrenzt werden. Längs dieses Grabens sind daher die besagten Mauern sehr schroff; denn wenn sie sich über de« Spalt hinüberschieben und so ihre Unterlage verlieren, s" Die Gletscherzunge. 243 brechen sie ab, und es stürze» bestandig große Blöcke in den Spalt hinein. Wir sahen, indem wir an dm Nand des Spaltes traten, mehre große Eisblöcke, welche nicht ganz den Boden erreicht hatten, zwischen dm Wanden eingekeilt. Ein gewaltiger Block war dicht an der Oberfläche stecken geblieben. In der Mitte aber hatte sich eine lange und dicke Zunge deö Gletschers, ohne abzubrechen, ganz über den Schlund hinübergeschoben, so daß dadurch cine prachtvolle Krystallbrücke gebildet wurde. Die äusserste Spitze oder Nase dieser Brücke, welche zugleich der alleräußerste Alislauser des Gletschers war, lag diesseits des Spaltes, im Sommer vermuthlich zwischen Gras und Blumen, so daß wir ung ihr nähern und sie betasten konnten. Der Kamm dieser Zunge stieg jenseits des Spaltes sehr rasch aufwärts, so daß schon in der Entfernung von wenigen hundert Schritten die Glet-» Ichermasse sich wie eine hohe dachförmige, nach beiden Seiten hin abfallende Masse darstellte. Die Zunge war mir um so interessanter, da sie wahrscheinlich den äußersten Ausläufer des eigentlichen mittleren Rückens des Gletschers bildete. Man kann es bei allen Gletschern bemerken, daß sie gegen den Auögcmg hin sich dachförmig bildeten, und daß in der Mitte ein freilich gewöhnlich sehr unregelmäßiger, aber doch erkennbarer höherer Grat bleibt. Wenn du in deiner Phantasie dir alle die Elemente welche ich dir einzeln gegeben habe, den finsteren, unergründlichen Spalt, aus dem ein wildes Eisgewässer herauf-^, die glimmernden Eisblöcke, die darin stecken, die mäch-^e Krhstallbrücke, die darüber hinwegschlüftft, die zerrissenen letschermauern, d!c den Spalt auf der anderen Seile gar-» ""en, zu einem Ganzen zusammenstückst, — wenn du dlr an« weiterhin die gewaltigen Eismassen vorstellst, wie sie, 11* 244 Mitternacht auf elnem Gletscher. sich übereinander ballend, emporsteigen zu den Höhen der Wetterhörner, — wenn dn daS Wetterhorn dazu nimmst, das im Mondschein flimmernd so deutlich neben uns liegt, daß wir die verschiedenen Partieen seiner höchsten Spitzen genau erkennen können,—wenn du dann denkst, wie da oben aufdemhöch» sten Gipfel dieses prächtigen Verges vielleicht ein ähnlicher Eiszacken in die Luft ragt, wie dieser, den wir mit der Hand berühren, und welcher der äußerste Anfang jener langen Eiskette ist, von welcher dieser das unterste Ende ausmacht, — wenn du weiter die beschneiten Väume und Wälder, die, ohne ein Zeichen deS Lebens von sich zu geben, zauberisch ruhig dastehen, betrachtest und deine Blicke rückwärts in das Neichenbacher Thal hinabsendest und jenseits desselben wieder hinauf zu den Wäldern und kahlen Gipfeln und dem aus der Ferne blickenden sogenannten blauen Gletscher der Faulhornkette hinaufschickst, und wenn du nun durch diese stille Einöde am blauen wolkenlosen Himmel den Mond dahinschiffen siehst, — so hast du ein so großartiges Vild vor deiner Einbildungskraft entfaltet, wie es kein Maler malen kann, und wie es unter den günstigen Umständen, unter welchen ich es sah, zu genießen, nur selten Jemandem zu Theil wird. Ich mag behaupten, daß unter den hundert« tausend Fremden, die jährlich in die Schweiz kommen, so viele Gourmands für Naturgemlß und pittoreske Pikanterieen auch darunter sein mögen, doch nur wenige sich solche alpi-nische Wlnter-Mitternachtsscenen betrachtet haben. Man hat sehr viele Bemerkungen über die Farbe des Gletschereises gemacht, jedoch nur über die, welche es in» Sonnenscheine zeigt. Ich war begierig, wie es sich damit beim Mondenscheine verhalten würde. Da der Himmel seine blaue Farbe beim Mondenscheine behält, so dachte ich, daß Msfarbe im Mondenschein. 245 dasselbe auch beim Gift der Fall sein möchte. Allein, obwohl wir am anderen Tage im Sonnenscheine das Eis so dunkelblau fanden, als wäre es gefärbt, so sah es jetzt im Mon-denscheine vollkommen farblos aus. Die Spalten, die am Tage wie Azur schimmern, zeigien jetzt nur todte, farblos« Schatten, und die äußere Flache des Eises hatte die gewöhnliche weiße Eisfarbe. Auf der Oberfläche des Gletschers in verschiedenen Entfernungen gab es aber einige sehr helleuchtende Puncte, wie große leuchtende Krystalle oder Glasscheiben. Ich vermuthe, es waren Eiszapfen, in denen das Mondlicht auf eine eigenthümliche Weise reffectirt wurde. Einen vorüberpilgernden Wanderer, oder ein Haus, das sie erreichen, oder ein bewohntes Thal, in das sie hinabkommen, mit einem jodelnden Jauchzer zu begrüßen, ist den Leuten hier so in der Natur, daß auch mein Führer, als wir uns wieder unserem Nosenlaui-Vadehause gegenüber befanden, eS nicht unterlassen konnte, dem Hause einige laute Jauchzer zuzuschicken, obwohl es Mitternacht war, und obwohl dort Niemand mehr wachte, der uns hätte antworten mögen. Die Sonne erhob sich am anderen Morgen erst ein Viertel nach 10 Uhr, ergoß dann aber auch auf einmal ein ganzes Meer von Wärme über den Gletscher ins Thal hinab. Sie blieb indeß nur sehr kurze Zeit sichtbar; denn nach einer Stunde kam schon der Riesenschatten der Well- und Wetterhörner mit mächtigen Schritten anmarschirt, und nach 1H Stunde hatte dieser Schatien wieder das ganze Thal verschlungen. Die Leute erzählten unS, daß nach zwei Wochen die Sonne "ur noch mit einem halben Auge über den Gletscher auf einen Augenblick hervorgucken und dann auf längere Zeit völlig verschwinden werde. Wir benutzten die angezeigte kurze 246 - Das Blau des Gletschereises. Tageslange, um den Gletscher noch einmal mitten in der Pracht des Sonnenlichts zu sehen, waS uns einen hohen Genuß gewährte. Gs ist oft bemerkt worden, daß die Gletscher im Winter sehr viel verlieren. Gs ist dieß namentlich in Bezug auf ihre Umgebung wahr. Denn da diese auch ihr Winterkleid anhat, so ist der Contrast nicht so lieblich, wie im Sommer, wo rund um die starren Eismassen Alles grünet und blüht. Wns aber die Gletscher selbst betrifft, so gewinnen sie eher im Win- Die Herren unter dem Schirme oer Bauern. Grund ausbleibt, den trifft noch heutiges Tages die Straft, daß er ein ganzes Jahr hindurch bis zur nächsten Landsgemeinde rechtlos bleibt, niemanden verklagen, nicht als Zeuge vor Gericht erscheinen kann u. s. w. Die Sitzung eröffnete der regierende Landamman mit einer Anrede, worin er Gott um Beistand und Segen bei den Verhandlungen bat, worauf das Volk mit entblößtem Haupte fünf Vaterunser und fünf Ave Maria betete. Hinter dem Stuhle des Landammans stand ein Landmann mit einem Schirm, um ihn vor Regen und Sonnenschein zu schützen. Auch hinter jedem Landesvater oder Nathsherrn breitete ein brauner Ge< birgsmann aus freien Stücken seinen Schirm aus und hielt ihn während der ganzen Verhandlung über dem Haupte irgend eines der Herren, die sich das auch ganz ruhig gefallen ließen. „Niederträchtige sclavische Liebedienerei!" hätte mir gewiß ein Neu-schweizer ins Ohr geraunt, wenn einer neben mir gesessen. Als eine „ehrwürdige, rührende, alte, patriarchalische Sitte" legte man die Sache hier aus. Mit der Initiative der Landleute zu Gesetzesvorschlägen, diesem wichtigsten Rechte aller Versammlungen, sieht es etwas mißlich aus. Sie haben diese nämlich nur unter folgenden sehr beschränkenden Umständen. Uni einen Vorschlag in der Versammlung thun zu können, müssen sieben ehrliche Manner zusammentreten und sich verbürgen, daß dieser Vorschlag den Wünschen von sieben uder mehr verschiedenen Geschlechtern ge» nehm sei; auch müssen sie diesen Vorschlag „des Siebengeschlechts" wenigstens einen Monat vor der Landsgemeinde den „regierenden Herren des Raths" vorlegen und können ihn erst dann, wenn diese nichts dagegen thun, an die Volksge-meinde bringen. Die Räthe erlangen auf diese Weise von Allem, was unter dem Volle vorgeht, Kenntniß und können Abdankung der Staatsbeamten. ZU ihre Maßregeln treffen. Es hatte sich dießmal zu einem, ich weiß nicht welchem, wichtigen Vorschlage ein „Siebengeschlecht" gebildet. Allein es war dem Landrathe gelungen, ihn schon zuvor durch Sprengung des Sicbengcschlechts zu hintertreiben. Er hatte zwei Geschlechter bewogen, von dem Verlangen abzustehen, und die fünf übrig bleibenden konnten dann nicht so schnell ihre Zahl gesetzmäßig completiren. Tie Urncr, welche außer Landes weilen, müssen zu Zeiten ihre Bürgerrechte von der Polksgcmeinde wieder bestätigen lassen, und dieß Mal waren mebre auö Amerika, Italien und anderen Ländern mit solchen Gesuchen eingekommen. Darunter wurde auch der Name des berühmten urner Bildhauers Imhoff in Rom ausgerufen, und diese Kuh- und Ziegcnhirten bezeugten ihren Respect vor den Künsten und Wissenschaften, indem sie erklärten, daß sie nichts dagegen hätten, daß ihr geschickter Landsmann noch ferner in der Fremde weile, ohne seine Bürgerrechte in seiner Gebirgsheimat zu verlieren. Nach Beseitigung einiger anderer Vorschläge legte der bisherige Landamman sein Amt nieder, nachdem er zuvor von den Geschäften des Landes und von der befolgten auswärtigen sowohl als inneren Politik Rechenschaft abgelegt hatte, und setzte sich darauf, feinen Präsidentcnstuhl verlafftnd, unter die anderen Etlandammanner oder, wie sie hier heißen, Altlandam-männer. Danach bleibt das Land eine halbe Stunde lang ohne Oberhaupt, und der Landschreiber, der allein im Ringe steht, fordert die Herren der Reihe nach zu Vorschlagen für einen neuen Landamman auf. Wenn der Abtretende nur erst ein Jahr im Amte war, so schlagen sie ihn gewöhnlich wieder vor. Zumdrium oder vierten Male wird aber selten derselbe Landamman wieder gewählt. Ehen so danken auch die übrigen großen Staatsbeamten, die Säckelmeister, Vannerherrcn u. s. w. ab und werden 3l2 Die Wahlen. gewöhnlich zum zweiten Male, nicht aber zum dritten Male wieder gewählt. In der Regel sträuben sich die Gewählten mit Hand und Fuß gegen ihre Wahl. Laut lassen sie ihre Prote-stalionen und ihre Klagen über die drückende und unerträgliche Bürde der Aemter erschallen. „Ihr wißt, ich bin ein Kauf-„mann, und was hat ein Kaufmann nicht Alles in seinen Geschäften zu thun, um sich und die Seinigen in diesen traurigen „Zeiten durchzubringen. Ich bin ein Vater von 7 Kindern. „Welche Noth und Sorge machen sie mir. Nun wollt Ihr, „daß ich auch noch die Sorge für Euch dazu übernehmen soll! „Was versteht auch ein Kaufmann von der hohen Politik. Ihr „wißt es selbst am beßten, wie wenig ich davon verstehe. War „ich nicht selbst schon oft in verschiedenen Aemtern? Und habe „ich meine Unkunde nicht deutlich genug an den Tag gelegt? „Der Herr Altlandamman IX. ?<., der mich vorgeschlagen hat" — damit wendet er sich an den besagten Herrn (der in der Rathsherrnrobe neben ihm auf derselben Vank sitzt), scheinbar ganz bitterböse und spottend, als wollte er das alte deutsche Sprüchwort: „keine Krähe hackt der anderen die Augen aus," auf der Stelle Lügen straftn, — „der Herr Altlandam-„man N. A. hat gut reden. Er betreibt ein Geschäft, das ihm „fast nichts zu thun macht. Gottes Segen strömt auf sein „Haus in Fülle hernieder. Auch ist er ein gescheiter Mann. „Ich erinnere Euch daran, wie er diese und jene Geschäfte des „Landes klug betrieb. Ich schlage dabcr den Herrn Altlandam-„man A. 5>. vor." Diese Protestationen sind ganz stereotyp und bei allen schweizerischen Volksgemeinden Sitte. Man steht die Leute zuweilen bei Nennung ihres Namens wie vom Vlitze getroffen. Wüthend springen sie auf, arbeiten wie Telegraphen mit Händen und Füßen. Man muh sie festhalten und mit Gewalt in den Ning bringen. Sind sie aber erst einmal gewählt, Die herrschenden Familien. gig hat man sie in dm Ring gebracht, ihren Widerstand überwunden, sie auf den Präsidentenstuhl hingesetzt, so sind sie auf einmal still und geduldig wie ein Löwe, der sich überwunden sieht und sich in seine Gefangenschaft ergiebt. Sie nehmen dann auf einmal eine ganz andere Haltung an, ihre Stimme ändert sich, wird würdevoll und befehlend, und sie treffen dann ihre Anordnungen mit Geschick und halten ihre Antrittsrede mit einer Geläufigkeit, als hätten sie sie vorher ausgearbeitet, was denn auch zuweilen der Fall sein mag, da nicht selten der ganze Hergang längst unter den Machthabern vorher abgemacht war, oder diese wenigstens schon im Voraus wußten, wie die Sachen kommen würden. Man muß einmal in die Kirche nnd auf den Kirchhof von Aliorf gehen, da kann man lernen, ob die Schmidts, die MuhcimZ, die Lussers und die anderen alten Familien des LandeS trotz ihres Slräubens gewußt haben, das Regiment in ihren Geschlechtern zu erhalten. Man findet dort seit Jahrhunderten Landammänner und andere Oberbeamte fast nur aus 6 oder 7 Geschlechtern. Sie wissen wohl, daß sie das Scepter, das sie jährlich auf der Landsgcmemde weit von sich werfen, immer mit allerlei Faden wieder an sich ziehen können. Allerdings ist es wahr, daß sie bei ihren Aemtern viel Lasten und Geschäfte zu übernehmen haben und dafür höchst winzige Sümmchen als Gehalt beziehen, allein die Vortheile kommen ihnen dafür auf anderem Wege zurück. Das Gouverniren hat seine eigenen Neize. Man eröffnet dabei auch den Seinigen allerlei Carriörcn in der Welt. Man kann sich mancherlei Privilegien bei der Schifffahrt auf dem Vierwald-stätter See und auf derSt.-Gotthards-Straßc conserviren. Das eifrige Ausschlagen der Ehre ist aber wahrscheinlich eben dazu nöthig, um sie vom urner Volke zu erlangen. Veim römischen Volke war es gerade so. Auch Cäsar Augustus schlug die Im- Kohl, Alpenreisen. I. 14 314 Wahl der kleinen Beamten. peratorenkrone auS, die er gern haben wollte. Wer auf allen Markten und Straßen ausschreit' „Ich will nicht, ich will nicht Kaiser werden!" hat beim Volke schon einen Stein im Vrete, das da denkt, es thue einen rechten Fang, wenn es einen solchen Widerspänstigen zur Annahme einer Sache, die er nicht mag, zwingt. Nachdem die großen Aemter wieder besetzt waren, kamen die kleineren, die der Weibcl, Schreiber, Läufer, Vuttel-mayer u. f. w., an die Reihe. Hier drehte sich aber das Blatt geradezu um. Auch die Candidate«, die zu diesen Aemtern sich meldeten oder darin bestätigt sein wollten, mußten in den Ring und selbst eine Rede zu ihrem Gunsten halten. Da diese kleinen Leute und ihre Familien fast ganz von dem geringen Solde, den sie beziehen, abhängen, so waren denn ihre Reden wahre Schmeichelreden und Klagelieder. „Die hochgeachteten, wohlregierenden Herren Landammanner, die gelehrten gnadigen Herren vom Rathe, die hohe souveraine Landsgemeinde, die lieben getreuen Eidgenossen und Landleute" wurden darin in jammerndem Tone so hausig angeredet und mit Honigworten so süß becomplimentirt und die Candidaten, zum Theil alte Männer mit entblößtem Haupte und zitternden Knieen, offenbarten so viel aufrichtige Besorgnisse um die Erfüllung ihrer Wünsche, daß ein Bettler, der vor einem Kaiser auf den Knieen liegt, sich kaum devoter und ergebener zeigen kann als diese freien Manner vor ihren bäurischen Landöleuten, und daß mir es alle Mal durch daß Herz schnitt, wenn ein Candibat, der wie ein armer Sünder mitten im Kreise stand, durchsiel und stumm und roth im Gesichte abgeführt wurde. Wie in allen schweizerischen Volks- und Rathsvcrsamm-lungen geschah die Abstimmung durch das Aufheben der Hände oder, wie man in der Schweiz sagt, durch das „Handmehr." („Er Das Handmehr. H^h ist durch daö Handmehr gewählt worden/') Um die Anzahl der aufhebenden Hände zu schätzen oder im Fall, daß das Handmehr nicht augenscheinlich überwiegend ist, sie genau zu zahlen, stehen dem Präsidenten in jeder Versammlung zwei Handzahler oder „Abmehrcr" zur Seite, denen dieß Geschäft übertragen, und deren Ausspruch, daß die Stimmenanzahl sich für diese oder jene Seite entschieden habe, geglaubt wird. „Wem es also wohlgefällt, daß ^. IV. unser „Säckelmeister fei, der hebe die Hand auf!" ruft der Landamman. Dann zahlen die Abmehrer, hier in der Landsge-meinde die Weibel. „Herr Großweil'el, habt Ihr ein Mehr?" fragt dann wieder der Landamman. „Ja, Hcrr Landannnan," ruft der Großweibel, nachdem er mit den Weibeln Rücksprache genommen, „der Herr A. ^. ist zum Säckelmeister gewählt!" Vei einigen Wahlen, wenn ein besonders beliebter Mann genannt war, wurde dann auch dazu gelärmt und geschrieen. Und als ihnen ihr Landamman Schmidt ;u>n Tagessatzungsgesandtcn vorgeschlagen wurde, streckten sie alle ihre Hände zum Himmel und schrieen, jodeten, jauchzten und pfiffen dazu. Im Ganzen konnte ich nur, soll ich sagen, die Ruhe, Ordnung und den Tact, mit denen die Landleute sich bei dieser Versammlung benahmen, oder soll ich sagen, daS Geschick und dle Klugheit, mit denen die Führer einen so stürmi« schen Gesetzgeber, wie es ein auf einen Haufen versammeltes souveraines Volk ist, bewundern. Man denke, daß Niemand die völlig unbeschrankte Souverainetät der Versammlung bestreitet, daß ihre völlige Macht und Freiheit, Gesetze zu geben, welche sie will, jedem bekannt ist, daß unter den Leuten natürlich sich eine Menge roher, ungebildeter und turbulenter Menschen befindet, und daß dennoch stürmische und wirklich !4* 316 Fünfhundcrtjahnge Dauer einer Verfassung. gefahrliche Landsgemeinden in der Geschichte der Urcantone etwas sehr Seltenes sind. Ich sage wirklich gefährliche, denn stürmisch und lärmig sind sie fast alle. Nur dann und wann einmal hat sich das Volk erhoben, die Bänke und Tische der Rathsherrm umgestürzt und durch Acclamation »der ohne Beobachtung der gewöhnlichen Ceremonien einen Land-amman erwählt oder ein Gesetz nach seinem Sinne gemacht. Es ist, wie mir es scheint, ein höchst merkwürdiges und von den schweizerischen Geschichtschreibern nicht genugsam hervorgehobenes Fattmn, daß diese Urcantone mit der scheinbar gefährlichsten und wandelbarsten Verfassung von der Wel^, bei der das ganze Volk immer zur Wahl seiner Herren und zur Gebung neuer Gesetze auf einem und demselben Forum versammelt wird, ja der zufolge nicht nur alljährlich alle Beamten ihre ganze Gewalt in den Schooß des Volks zurücklegen, sondern auch alle alten und neuen Gesetze, alle alten Gewohnheiten und Alles, was durch die Gewalten des Landes je durch das Mehr entschieden ist, für einen Augenblick suspendirt werden, indem alle diese Dinge bei jeder Landsgemeinde dem Volke zur Bestätigung vorgelegt werden, sich doch unveränderlich seit mindestens 500 Iah-len immer unabhängig und auch immer bei derselben unwandelbaren Verfassung erhalten haben. Wie wechselnd und schwankend zeigten sich nicht die italienischen und griechischen Demokraten. Wie oft ergriff ein Volkstribun oder ein Tyrann die Zügel. Wie häufig war ihr Wechsel zwischen Demokratie und Aristokratie, und Anarchie und Ochlokratie, und Oligarchie und Despotie. Diesen lieben, getreuen schweizerischen Landleutcn wird alle Jahre, so zu sagen, das ganze Staatsgebäude zn Füßen gelegt. Sie können, da sie dem Gesetze nach so unabhängig wie der Schach von Persien sind, Die Getreuen. 317 das Gebäude zusammenstoßen, oder wieder auf sein altes Postament stellen, wie sie wollen. Fünfhundertmal haben sie, indem sie sich und den Gewohnheiten ihrer Väter auf eine seltene Weise getreu blieben, das Letzte gethan, man kann sie daher wohl mit einigem Rechte die Getreuen nennen. Nie hat sich in diesen kleinen Hirtenstaaten dauernd Anarchie festgesetzt. Nie hat ein Dictator auf längere Zeit überwiegende Macht erlangt. Nie ist EinHerrschaft unter ihnen erzeugt worden. Obwohl sie nichts weniger als immer friedliche Hirten waren, vielmehr wahrend ihrer ganzen Existenz recht blutige Kriege führten, ja sogar Eroberungen machten, so hat doch nie eine pratoriamsche Obergewalt oder das despotische An-sehn eines Feldherrn bei ihnen die alte Volkssouveraimtat zerstört. Sie waren sogar leidenschaftliche Soldaten und dienten Jahrhunderte lang in den Armeen aller Lander. Ihre Landsleute wurden Generale, zuweilen Provinzialgouverneure bei unumschränkten Konigen. Kehrten diese Herren aber in ihre Gebirgsthäler zurück, so suchten sie dort nicht auf dieselbe Weise militärisch zu regieren, wie sie es im Auslande gewohnt waren, sondern sie mischten sich wieder unter die Handaufheber der Landsgemeinde oder bequemten sich wenigstens, diesen, wenn sie etwas durchzusetzen wünschten, auf dem Wege der Klugheit die Sache plansibcl zu machen. Wie die Römer, hatten auch die Urner, Schwyzer und Unterwaldcner ihre eroberte» Provinzen, die sie als Unterthanen sehr willkürlich regierten. In Rom nnterdrückten die aus den Provinzen zurückkehrenden Gouverneure die Freiheit. In diesen schweizerischen Cantonen fand dasselbe nicht statt. Sie unterdrückten ihre Provinzen durch strenge Landvögte, wußten sich aber ihre eigene Freiheit gegen dieselben zu erhalten. Eben so bewundernswürdig, wie diese Conservirung ihrer Freiheit 318 Alte und neue Zeit. im Innern, ist die Vertheidigung ihrer Unabhängigkeit nach außen, die sie sich in einer ununterbrochenen Reihe helden-müthiger Siege bis auf die neuesten Zeiten erhalten haben, gegen die Oestreicher, gegen die Burgunder, gegen die Franzosen, gegen alle ihre Nachbarn. Gedachte man der bewundernswerthen Siege, welche die Urschweizer selbst noch im Anfange dieses Jahrhunderts über die übermüthigen Franzosen davontrugen, so konnte man wohl auch jetzt eine glänzende That zum Schutze ihrer alten Institutionen gegen die Angrisse aus der Neuschweiz von ihnen erwarten. In der That waren auch aNe Führer des Eon-Verbunds voll von Hoffnung auf die schönste Entfaltung alter Thatkraft. Man fachte die Erinnerungen an alte Siege, welche die Urschweizer irgendwo erfochten, wieder an. Jeder Fleck, wo die Unterwaldener ein Corps Franzosen vernichteten, oder wo die Urner den Oestreichern mit Aufopferung folgten, oder wo die Redings Anno 1815 den alten Schweizersinn zu unerhörtem Widerstände belebten, oder wo die Weiber eines Dorfes sich erhoben und einen Trupp Feinde im Weitermarsche hemmten, oder wo ein Madchen des Landes eine Heldenthat verrichtete, wurde mir auf meiner Reise gezeigt und angepriesen. Man triumphirte und jubelte im Voraus, als müßte sich dieß Alles jetzt eben so wiederholen. Auf jedem Landmanne mit dicken Waden ruhte unser Auge mit Entzücken, und wir sahen darin im Voraus einen Helden und Sieger. UeberaN wollte man nur den beßten Geist für die gerechte Sache erblicken. „Hier sind die Leute gut," hieß es, „sehr gut!" „Hier in diesem Thale sind sie eraltirt gut!" Die Urschweizer haben sich zum ersten Male verleugnet. Sie haben ihre Führer im Stich gelassen. Sie haben sich zum ersten Male willig und schlaff in ihr Schicksal ergeben und Schweizer Bettler. 319 den Strom der Ereignisse ohne Widerstand über sich ergehen lassen. 3. Maderanenthal. Im Hauptthale von Uri, in der Nähe der großen Straße über den St. Gotthard trifft man aus viel Gestndel; alle Leute betteln hier, wie in allen den Thälern der Schweiz, welche von Fremden beständig besucht werde«. Diese Fremden werden von den Einwohnern durch die Bank für immens reich gehalten. Von ihnen glauben sie in einem Augenblicke mehr erhalten zu können, als sie sich durch mühsame Arbeit in einem ganzen Tage zu verdienen vermögen. Was ist natürlicher, als daß die armen Arbeiter diesen Reichen gegenüber erschlaffen, die Hand ausstrecken, und daß sich am Ende die Gewohnheil des Vettelns ausbildet. Srlbst die, welche ihre eigenen Landsleute und Etandesgenossen anzubetteln nicht nöthig hatten, verlieren dem „reichen" Reisenden gegenüber alle Scham, weil sie ihn hoch über sich erblicken. Und so gewöhnen sich selbst die Wohlhabenden ans Vetteln, wodurch sie natürlich am Ende wirklich an den Bettelstab kommen, da nur Energie >,nd Arbeit vor diesem bewahren können. Auf diese Weise haben denn die Reichen, wie in England und wie überall, statt Wohlhabenheit Armuth um sich her erzeugt, und es sind allmalig nicht wenige der vielbesuchten Thäler in ihrem Wohlstande geradezu ruinirt worden. Wer den Bettlern, den großen Landstraßen und dem, was an ihnen Unangenehmes hangt, entfliehen und gute Sitten, zufriedene Bergbewohner, alte Schwei- 320 „Ausbürger." zer finden will, der muß die kleinen hohen Seitenthäler auf« suchen, in denen die Leute noch, oft gar nicht weit von den verderbten Hauptthalern, nach der Väter Gewohnheit leben und einen unverdorbenen Zustand vor des Reisenden Augen entfalten. In Uri wählte ich mir dazu das Madcranenthal, das sich vom Neußthale aus nach Graubündten hinzieht. Eg eröffnet sich zwischen den beiden malerischen Alpenhörnern, der Windgelle und dem Vristenstock, und ist im Hintergründe mit Gletschern ausgefüllt, die sich uomClaridengrat herabziehen. Wir (ein Ralhsherr von Uri, der obengenannte Freund von mir und ich) fuhren bis Amsteg im Renßthale zu Wagen. Von da aus ging es zu Fuß seitwärts zu den Höhen. Welche wundervolle Gebirgsscenen boten sich hier unserem Blicke dar! Welche kühne Gestaltung ver Vergmissen! Welche Terrassen! Welche Hochwicsen und zum Himmel aufstrebende Gipfel! Wie fanden wir die Leute hier so gefällig, so natürlich, einfach und freundlich. Wie wohnten sie, um ihre Kirchen in Dörfern versammelt, so wundervoll malerisch und schön! Wir besuchten die Wohnung des Pfarrers des Hauptorts und fanden hier, wie überall bei den katholischen Pfarrern, eine gastliche Aufnahme. Viele von den Familien, die dieses Thal bewohnen, stammen aus dem benachbarten Graubündten. Wir erkannten solche gleich an ihren Geschlechtsnamen. Obwohl einige schon seit Urgroßvaters Zeiten hier wohnen, so haben sie sich doch mit den Urbewohnern des Thales immer noch nicht völlig amalgamiren können. Sie gelten noch immer für Fremde. Um in Amerika als ein Einheimischer zu gelten und aller Bürgerrechte theilhaftig zu werden, genügt für jeden Fremden ein Aufenthalt von wenigen Jahren. In diesen schweizerischen Futternot!) im Frühling. 321 Urcantonen giebt es Familien, deren Väter vor 300 Jahren einwanderten, und die dennoch für „Ausbürger" gelten, die noch immer nicht auf der Landsgemeinde mitstimmen können und noch keinen Theil haben an dein Eigenthum der Nation. Keine Republiken in der Welt sind in Vezug auf die Fremden von einem so engherzigen Geiste beseelt gewesen, wie diese schweizerischen Cantone. Daher haben denn auch keinem Staatöweftn die Fremden von jeher so viel Noth bereitet, wie dem schweizerischen. Den Frühling trafen wir hier oben eben bei der ersten Arbeit. Die Wiesen waren mit ganz zartem und frischem Grün wie mit einem grünlichen Flor überzogen. Leider hatte der lange Winter das Gras sehr zurückgehalten, und es war daher Futtcrnoth in diesen Höhen. Das Heu vom Herbste und die anderen Wintervorräthe waren völlig erschöpft und der nenc Segen des Jahres erst im Keimen. Wir begegneten daher vielen kleinen Rinderheerden, die auS den höheren Dörfern herabkamen. Sie sollten in das Hauptthal von Url geschafft werden, wo das Gras schon üppig stand und blühte. Es tritt in diesen Hochgegenden gewöhnlich eine solche Heu-und Viehfutternoth im Frühlinge ein, und man kann daher diese Frühlingswanderungen der Rinderheerden in tiefere Thaler hinab als etwas Regelmäßiges betrachten. Im April ist in der Regel das meiste Vieh des Landes, das bis dahin noch oben mit Heu erhalten wurde, in den niedrigsten Thälern concentrirt. Im Mai und Juni beginnt es dann wieder seine Wanderungen nach oben von Vcrgstaffel zu Vergstaffel, den segenövollen Schöpfungen des Frühlings folgend. Der Vristenstock, von dem die Vristenlawine („die Brist-Laui") herabkommt und oft die Chaussee bei Amsteg gefährdet, ist einer der Schweizerberge, die so häufig portratirt si»d. 14" 322 Ein urner Landschaftsmaler. wie die Physiognomiken unserer Könige. Er hat dieß seiner geographischen Stellung zu verdanken, denn er blickt gerade aus de,n Hintergründe des Reußthales zum Vierwaldstätter-See hinab, und man sieht ihn von diesem See und uon Flnelen und Altorf aus überall als Ziel- und Schlußpunct der Aussicht. Auch ein urner Maler, der Oberst M., so hörte ich, hat einen Theil seiner Farben diesem Verge gewidmet, und bei meiner Rückkunft nach Altorf besuchte ich diesen trefflichen Mann. Er wohnt auf einem kleinen Besitz-thume in der Nahe von Altorf. Es ist ein solches bescheidenes hübsches Gütchen, wie sie in der Schweiz, dem Lande der kleinen Güter und Vermögen, häufig sind. Wir fanden ein nettes Häuschen mit freundlichen, wohnlichen Zimmern, von einem reizenden Gärtchen umgeben, mitten in der wundervollsten Vergscenerie. Es lag auf einer kleinen Anhöhe mit der Aussicht auf das herrliche Reußthal und den See der Vierwaldstatte. In einem Seitenflügel des Gebäudes hatte der Besitzer sich ein geräumiges Atelier eingerichtet, in welchem wir viele treffliche Werke und Studien von ihm fan« den. ,,Sie sind ein glückseliger Mensch," sagte ich ihm, „Sie haben erstlich, was Horaz und so mancher andere Dichter sich wünschte, ein kleines, aber gutes, ein bescheidenes, aber Sie über alle Sorge erhebendes Besttzthum. Dazu haben Sie, was Zimmermann in seinem Werke über die Einsamkeit für das Herrlichste halt, eine gute, liebenswürdige Frau, eine blühende Familie. Endlich haben Sie, was jedem Noth thut, ein Talent, eine Leidenschaft für etwas Höheres, eine Arbeit, eine Bestimmung. Sie sind Landschaftsmaler, und als solcher besitzen Sie ein Atelier, um das Sie hundert unserer Künstler in unseren Hauptstädten beneiden würden. Denn es liegt mitten zwischen einer herrlichen Fülle von Original- Ueberfülle von Naturschönheii. 323 landschaften. Sie brauchen nur treu zu copiren, was Sie von ihre» Fenstern aus sehen, um eines unsterblichen Namens sicher zu fein." „Und doch," sagte mir melancholisch lächelnd mein Freund, „vermisse ich tausend Dinge, um glücklich zu sein. Meine Kunst, die mich beseelt, verdirbt mir auch den Schlaf meiner Nachte. Ich bin in Verzweiflung, wenn mir meine Versuche nicht gelingen. Und daß dieß fast nie geschieht, sagt mir jeder Vlick aus meinem Fenster auf die herrliche Natur, die um ullch herum aufgestellt ist, und die ich in ihrer Schönheit nie erreiche. Ihre Künstler, die nur zu Zeiten in die Alpen kommen, hier der Natur einige Züge ablauschen und dann fern von hier in Ihren Hauptstädten, von warmer Erinnerung und Phantasie elektrisirt und begeistert, darnach arbeiten, haben es besser als ich. Ich stecke hier in der Ueberfülle von Naturschönheit, wie eine Viene in einem Honigfaß, und gehe darin unter. Von ganzem Herzen sehne ich mich zuweilen nach den dunkeln Straßen Ihrer alten Städte, wo die Künstler das Schöne nur naschen und mühsam erjagen, wie es unsere Natur will und gebietet." 4. Kloster Gngelberg. Zum Vierwaldstatter-See münden Thäler und Flüsse von allen Seiten heraus. In jedes dieser Thäler dringt eine Vucht oder ein Arm des Sees hinein, und an der Spitze jeder dieser Vuchten liegt ein kleiner Hafen und Handelsort. Das große Hauptthal der Reuß aus dem Süden bildet den Canton Uri. Zwei andere Thaler im Westen umfaßt dee Canton Unterwalden. Das eine dieser unterwaldener Thäler, das 324 Periodischer Fremdenzug. von Sarnen und Lungern, hatte ich schon früher bereist. Zi» dem anderen, in welchem das berühmte Kloster Gngelberg verborgen ist, machte ich mich jetzt auf. Ich fuhr mit dem Dampfschiffe bis auf die Mitte des großen Sees zurück. Hier nahm uns ein kleines Boot auf und brachte uns zu dem reizenden Hafenorte Vekkenried. Hier übernachtete ich in Gesellschaft einer englischen Familie, die so eben aus Italien gekommen war und mir die neuesten Nachrichten von den Fortschritten des Frühlings am Comersee mittheilte. Sie wollte einige Tage von den Strapazen, die ihr der Uebergang über den St. Gott-hardt verursacht hatte, ausruhen. Diese aus Italien zurückkehrenden Wanderer sind gewöhnlich die ersten Ankömmlinge in der Schweiz. So wie die hohen Alvenpässe nur einigermaßen passirbar sind, kommen sie, die italienische Hitze fliehend, an. Ihre Anzahl steigt bis in den Juck und Juli. Im Herbste geht dann umgekehrt der Hauptzug aus Norden nach Süden. Am anderen Morgen setzte ich meine Reise zu Fuß nach Stanz, dem Hauptorte von Unterwalden, fort. Ueberall, wo ich hinkam, wanderte ich allein in diesen schönen und blühenden Thälern. Der große Strom der Schweizerreisenden kommt erst im Juli und August ins Land, weil dann die oberm Verggegenden ihre schönste und genießbarste Jahreszeit haben. Wenige wissen, daß es auch im Frühjahre eine herrliche Reise-Periode giebt. Gewöhnlich tritt im Mai eine lange Zeit das schönste Wetter ein, und dann zeigen sich, wo nicht die Berge, doch die Thaler in ihrem reizendsten Schmucke. Alle Schluchten undThaler sinddann mit Blumen gefüllt, und auf allen Wiesen grünt und blüht es. Die berühmteste und ausgezeichnetste Malcrschule der Schweiz hat sich in Genf unter den Auspicken von Töpfer, Maler der Urcantone. Professor Wyrsch. 325 Didey und Calame entfaltet. Aber auch diese schweizerischen Urcantone sind in neuerer Zelt die Pfleger und Erzieher mchrer Künstlcrtalente geworden. Es sind mehre Bildhauer und Maler auS ihnen hervorgegangen. Imhoff und Muheim aus Uri nannte ich schon. Hier in dem kleinen Stanz fand ich eine ganze Reihe von Künstlern, die mich in ihren Ateliers herumführten. Einige von ihnen sind in der ganzen Schweiz bekannt, so Paul de Schwanden, welcher Engel, Eremiten und Heiligenbilder für viele Kirchen und Kirchhöfe seines Vaterlandes gemalt hat. Sein Genre nähert sich der Düsseldorfer Schule. Vei dem Obersten Zelgcr, der ein ausgezeichneter Landschaftsmaler ist, «erbrachte ich einen sehr augenehmen Abend. Der Oberst M. in Nri war sein Schüler. Beide, Lehrer und Schüler, eiferten nun, von edlem Ehrgeiz getrieben, mit einander in Producirung trefflicher Werke ganz so wie Didey und Calame in Genf. Neulich hatte ein reicher Zürcher einen hohen Preis ausgeboten für das beßte Alpenbild, das ein schweizerischer Maler ihm liefern würde. Beide, M. und Zelger, concurrirten. Sie hatten zwei Vildrr von genau derselben Größe gemalt, hatten auch denselben Berg dargestellt, nur hatte der eine die Südseite, der andere die Nordseite aufgefaßt. Beide Bilder gefielen dem reichen Herrn gleich gut, und erzählte daher jedem Maler denscl-ben Preis. Der berühmteste Maler aus dieser Gegend war aber Professor Wyrsch, der als blinder Greis bei dem Einfalle der Franzosen im Jahre 1798 in Unterwalden seinen Tod fand. Seine trefflichen Gemälde findet man noch in vielen schweizerischen Kirchen. Außer den Genannten lebt in diesem kleinen Thale noch ein halbes Dutzend fleißiger Künstler. Ich besuchte von Stanz aus die Höhe des Bürgen, eines ganz für sich dastehenden, rund umher von dem Zusammenhange ZW Das Engelberger Thal. mit anderen Erhebungen abgetrennten Verges. Auf der einen Seite ist er vom See umgeben, zudem er schroff hervortritt; auf der anderen von den reizenden kleinen Ebenen von Stanz und Vuochs. Dieser Verg ist reich an landschaftlichen Studien für einen Maler. Oben ist er ziemlich flach und mit Wiesen, Wohnungen und einigen Dörfern besetzt. Wir besuchten den Pfarrer in dem Hauptorte, der uns mancherlei Unter» haltendes von den eigenthümlichen Sitten dieser einsamen Bergbewohner erzählte. Am anderen Tage reiste ich von Stanz durch das Engelbei-gerThal zu dem Kloster, das ihm den Namen gab. Zuerst führte mich mein Weg durch mehre reizende Dörfer, deren malerische Häuser von blühenden Väumen beschattet waren. Der untere Theil des Thales hört bei Krafenort auf, wo die Klostermönche ein Sommerhaus und einen Garten besitzen, wo sie einen Theil der schönen Jahreszeit zubringen. Hier beginnt die Waldstufe des Thales, durch welche ein zweistündiger Weg hindurchführt. Es war ein schöner warmer Tag nach einer Regennacht, und von allen hohen Vergen der Thalseite stürzten die malerischsten Lawinen herunter. Nach zweistündiger Waldwanderung trat ich wieder ins Freie hinaus in das obere oder hintere Thal der Aa, das sich hier zu einem länglichen abgeschlossenen Kessel erweitert und ganz in die innerste Tiefe einer hohen Gebirgsgegend sich zurückzieht. In der Mitte der Wiesen des Thales liegt das berühmte Kloster, ihm zur Seite der Hauptort mit freundlichen Gasthausern. Die Gebirgswelt rund umher ist hier so außerordentlich und großartig, wie selbst in der Schweiz nur an wenigen Puncten. Es ist nicht häufig, daß man in den Alpen auf sehr ungewöhnliche und außerordentliche Bergformen trifft. Häufiger sieht man ganze lange Reihen von Bergen, wo der eine wie der andere Ungewöhnliche Vergformen. 327 aussieht. Hier in dem Panorama von Engelberg frappinen mich aber ganz ungewöhnlichen Formen. Einer der hiesigen Verge z. V., der „Henmberg," stellt sich folgendermaßen dar. Er bildet im Ganzen eine ziemlich regelmäßige, thurm» artige Pyramide mit mehren Stufen. Zuerst kommt unten ein breites Piedestal, dann weiter oben grünes Wiesenland rings herum, mm ein enger zusammengezogener schroffer Fcl-senzirkel, darauf wieder Wiesenland u. s. w. ES sieht etwa aus, wie die auseinander gezogenen Abtheilungen eines Per-spectivs. Endlich oben auf der Spitze ist der Verg, statt zugespitzt zu sein, eingedrückt. Diese Eindrückung ist mit Gras ausgefüllt und stellt sich wie eine tieft grüne Schüssel dar. Die Einwohner haben sie, wie es scheint, mit emem Hühnernest ver< glichen und daher wohl den Verg Henncberg genannt. Es ist eine ganz kleine Alp, die etwa 30 Schafe und einige Kühe nähren kann. Die Wege, welche zu diesem Alpenncste führen, sollen sehr gefährlich sein, und mein Führer, ein Engelberger, versicherte mir, daß nur vie allerbeßten Vergkletterer es wagen könnten, da hinaufzuklinnnen. Im hohen Sommer schaffen sie das Häuflein Vieh hinauf, das dort unbewacht seine kleine Grasschüssel beweidet. In dem nach außen abfallenden Felsen ift es wie in einem Stall eingeschlossen. Da die besagte Schüssel etwas schief dem Verge eingedrückt und nach vorne geöffnet ist, so tann man von unten aus hineinblicken. Eine andere interessante und ungewöhnliche Vergform die« ses Thales ist ein tiefer Vergeinschnitt, den die Mönche linis muncli genannt haben. Eö ist ein stacher, ziemlich breiter Wiesenboden, der wie ein eine halbe Stunde langer Saal, ohne Bedachung gerade ins Gebirge hineingreift ,md dann plötzlich am Fuße der steilen Felswände aufhört, ohne sich, wie das sonst bei fast allen Thälern der Fall ist, mit einem allmälig 328 Kloster Gngelberg. verlaufenden Einschnitte darin zu verlieren. Man geht überall auf dem ebenen Boden des Grundes bequem hin und trifft nach aNen Seiten hin auf die höchsten schroffsten Wände, mit Ausnahme einer Seite, wo der Saal nach demHauvtthale zu geöffnet ist. Ich traf selten in den Alpen auf ein so außerordentliches und großartiges linis munäi wie dieses Engelberger. Auch der Titiis, der Hauptberg dieser Gegend, hat eine ganz eigenthümliche Gestalt. Er schwillt auf der einen Seite mit einem sehrbreiten, fast flachen Nucken oder Kopfe an. Oben auf der Kuppel bietet sich eine bequeme Flache dar, auf die man von der besagten Seite leicht hinaufgelangt. Auf der anderen Seite aber fällt er Plötzlich ganz senkrecht ab, so daß es aussieht, als hätte man eine Halbkugel durch einen Hieb senkrecht durchgeschnitten. Das Engelberger Wiesenthal ist selbst ein ?iin8 munäi und durch Felsen, Gletscher und Wald von aller Welt abgeschnitten. Es ist ganz ein solcher Erdwinkel, wie Mönche und Eremiten ihn sich wünschen könnten, und es wäre geradezu ein Wunder, wenn man in dieser schönen und dazu an fetten Wiesen reichen Vergeinsamkeit kein Kloster fände. Es steht denn ein solches hier auch schon seit 800 Jahren, ein Venedicti-nermönchskloster mit einem ehemals gefürsteten Abte an der Spitze. Dieser Engelberger Abt war sonst der eigentliche Sou-verain des Thales und ist noch, obgleich er manches seiner Sou-verainetätsrechte verloren hat, in vieler Beziehung der eigentliche Landesberr. Die Hauvtalpcn rund umher gehören den Mönchen, von denen die Thalbewohner in vieler Beziehung abhängen. Eben daher auch sind diese stets in Opposition uno Streit mit ihnen. Daher hörte ich gerade hier die unfreundlichsten Aeußerungen gegen Kloster und Mönche, und daher ist, mit einem Worte, die ganze Bewohnerschaft des Engelberger Thales mehr Liberalismus der Klostregebiete. 329 oder weniger antimönchisch und liberal gesinnt. Man kann die allgemeine Bemerkung machen, daß überhaupt alle die von Klöstern abhängenden Gebiete in derUrschweiz von liberalem Geiste belebt sind. Sie kennen die Mönche aus der Nahe. Sie sind am meisten von ihnen gedrückt und daher ihre eifrigsten Gegner. Aus demselben Grunde erklart sich vielleicht auch eine andere allgemeine Bemerkung, die mir bei meiner Neise durch die Schweiz auffiel, nämlich die, daß die sogenannten Unterthanengebiete der Schweizercantone, welche einst von den Schweizern unterjocht und beherrscht wurden, jetzt alle eine liberale Färbung haben. So sind die sogenannte March und einige andere ehemalige Unterthanendistricte des Cantons Schwyz der Hauplsammelplatz der Liberalen dieses Cantons. So ist das ganze Rheinthal, das einst ein viel unterdrücktes Unterthanenland war, jetzt der am vollständigsten liberale Theil des Cantons St. Gallen. So ist das ehemals von urner Landvögten unterdrückte Tefsin jetzt ganz auf der liberalen Seite. So wurde in dem von berner Landuögten beherrschten Waadt die Revolution mit besonderer Freude begrüßt, und es ist immer seit seiner Befreiung eine Hauptstütze des schweizer Liberalismus gewesen. Den Unterthanen in allen diesen Landstrichen prägte sich ein solcher Haß gegen Willkür und Despotie ein, daß sie die entschiedensten Anhanger der Freisinnigkeit wurden und blieben. Auch der alte eingewurzelte Haß gegen ihre ehemaligen Unter« drücker bewog sie von jeher, eine politische Farbe anzunehmen, die der Ansicht der letzteren entgegengesetzt war. Am meisten unzufrieden fand ich die Engelberger Klosterleute mit dem großen Käsehandel, den seit langen Zeiten die Mönche betreiben. „Sie sollen ja eigentlich nur für uns beten," sagte mir Einer von ihnen, „und statt dessen sind sie viel eifriger beim Verhandeln der Käse. Als große Kapitalisten vor 330 Käsehandel. Heimathliebe oer Urschwcizer. uns Kleinen bevorzugt, wissen sie auf allerlei indirecte Weise uns zu zwingen, daß wir ihnen unsere Käse zu billigem Preise abtreten. Diese speichern sie dann auf und bringen sie zu den höchsten Preisen wieder an." Der Engelberger Käse ist berühmt und ebenso die Engelberger Käsefabrikanten undAelpler. Sie, so wie überhaupt dieUnterwaldener werden häufig alsMilchwirth-schafter und Meiereiaufseher nach Deutschland, Rußland und anderen Ländern berufen. Doch ist dieß fast das einzige Geschäft, das sie zuweilen ins Ausland führt. Denn im Allgemeinen ist es eine sehr auffallende Erscheinung, daß Unterwal-den sowohl, wie die ganze Urschweiz fast gar keinen Antheil an der schweizer Auswanderung nimmt. Uri, Schwyz, Nnter-waldenundWallis stehen in dieser Beziehung in dem größten Contraste zu ihren Nachbarcantonen, Graubündten, Vern, Zürich, Waadt, Genf, Tessin, aus welchen letzteren namentlich fast immer die Hälfte der Bevölkerung auf der Wanderschaft ist. Außer ein paar Dutzend Kästfabrikanten befindet sich fast Niemand aus jenen Nrcantonen im Auslande. Auch in der übrigen Schweiz trifft man die Urschweizer äußerst selten. Der Grund dieser Erscheinung muß wohl zum Theil i« den Verhältnissen und bürgerlichen Beschäftigungen, zum Theil in dem Charakter und in den Gesetzen der Nrschweizer gesucht werden. Sie waren von jeher Sonderbündler und Sonderlinge. Sie wünschten nie etwas Weiteres, als frei auf ihren Bergen nach ihren alten Gewohnheiten zu lebe» und von der übrigen (auch der schweizer) Welt ungestört zn bleiben. Da der Hauptreich" thum ihres Landes die Alpen waren, so betrieben sie einfache Hirtengeschäfte, hatten fast gar keine anderweitige Industrie, und so entwickelten sich bei ihnen keine Talente, die sich in der Fremde hätten geltend machen können. Das einzige Handwerk, das sie neben ihrem Rinderhüten bei Vertheidigung ihrer Verge Der liberale Abt. 331 gegen die Oestreicher noch gelernt hatten, war das Kriegerhandwerk, und dieß brachte sie denn in alten Zeiten auch häufig in die Fremde, von wo sie aber doch immer wieder in ihre Heimath zurückkehrten. Durch Entwickelung der Industrie und bürgerlicher städtischer Geschäfte kann die Bevölkerung in einem Lande übermäßig anwachsen. Die Alpenwirthschaft, die in der Ur-schweiz nach altem Herkommen regulirt ist, befördert dieß Anwachsen der Bevölkerung nicht sehr. Sie blieb bis jetzt in den Urcantonen in viel höherem Grade als in der übrigen Schweiz stationär. Und so fehlte auch von dieser Seite ei» in anderen Landern so mächtiger Impuls zur Auswanderung — Neber-uölkerung. Jetzt freilich wird auch in dieser Beziehung wohl Vieles anders werden. Ich besah mir die inneren schönen Gebäude und Räumlichkeiten des klon» HnFewlum (deS Verges der Engel), ihre berühmten Manustripte, ihre Bibliotheken und andere tleine Sammlungen und machte auch die Bekanntschaft des damaligen Abtes, der mir selber sagte, daß man ihn in der Ulschweiz für einen liberalen Abt ausgeschrieen hätte. Er unterschreibe sich, sagteer, so.- äl)!)g8 I.. (d. h. der fünfzigste Abt des Klosters Rons ^n^ewsum), und dieß deute und lese man so: ^ddgzl^ibe-rul>8. Die Mönche sahen damals mit beständiger Vesorgniß zum Iochpasse hinauf, dem einzigen 7000 Fuß hohen Passe, der ihr rund umher umzingeltes Thal mit dem Canton Bern verbindet. Sie fürchteten von daher ein Eindringen der Nerner, und in ihrer Angst, wenn es hieß: die Berner kommen, hatten sie schon mehre Male die Schneegefilde des Passes besetzen lassen. In der Rüstkammer des Klosters sah ich dicke, mit spitzen Nägeln beschlagene Kolben und Haufen von Morgensternen, die alle erst in den neuesten Tagen nach mittelalterlichen Modellen gefertigt waren. Sie sollten zur Bewaffnung des Volkes dienen. Ich Z32 Kloster - Rüstkammer. Kloster - Disciplin. ärgerte mich damals nicht wenig über diese gräßlichen Waffen, die ich bisher blos auf den bildlichen Darstellungen der alten Schweizerschlachten gesehen hatte, und die man nun aus alten Rüstkammern in unsere friedliche Neuzeit wieder herübergeholt hatte. Nun seit dem haben wir uns auch in Deutschland schon an den Anblick mancher antiker Waffengattung, an Piken, Hellebarden, Sensen u. s. w., wieder gewöhnen müssen. Die äußere Zucht in diesen Klöstern ist eine sehr strenge und ihre Verfassung eine völlig despotische. Der Abt regiert die Mönche fast ganz so unumschränkt wie ein römischer lütter l'ginlliuL. Sie betrachten ihre Klostergenossenschaft ganz wie eine Familie. Daher nannten sie mir auch gewisse im Kloster aufbewahrte Raritäten, „Familienstücke." Der Abt verordnet „ach seinem Gutdünken Disciplinarstrafen. Ohne seine Genehmigung oder seinen Befehl darf Nichts im Kloster geschehen. Die Mönche dürfen ohne seine Erlaubniß nicht einmal ausgehen. Und dabei müssen sie auf ihren Spaziergangen in der Nähe des Klosters immer einen gewissen vorgezeichneten Weg im Thale verfolgen. Ich kam daher, wenn ich mit den Mönchen spazieren ging, immer wieder auf denselben Strich. In das vor den Thoren des Klosters liegende,Dorf mit mir zu gehen, konnte ich sie auf keine Weife bewegen; dieß war ihnen ganz untersagt. Sie scheuen dort allerlei weltliche Verführungen und Reibungen, die Wirthshäuser, die Abneigung der Dorfbewohner u. s. w. DieVenedictmer sondern sich überall so vornehm von ihren Klosterleuten. Welcher Unsinn, wenn man bedenkt, welche Rolle fromme Mönche eigentlich ihrer ursprünglichen Bedeutung und Bestimmung nach in einem solchen einsamen Thale zu spielen berufen waren. Die Capuziner, die sich ungescheut überall mit dem Volke vermischen, sind daher auch der populärste Mönchsorden in der Schweiz. Die Nciuchknechtc. 333 Die Bewohner des Thales von Engelberg gehören zum Cantone Unterwalden ob dem Walde. Weil sie aber von den übrigen ,/ll»n^lvnni" (so haben die Mönche das dcntsche „Obwaldler" ins Lateinische übersetzt) durch gewaltig hohe Verge getrennt sind, so bilden sie ein mit dem Staate nur sehr lose zusammenhängendes Anhängsel. Sie haben ihren eigenen Gemcinderath und gehen selten auf die Sarner Landsgcmeinde. Unter 2000 Besuchern der letzten Landsgemcinde waren nur 6 Engelberger gewesen. Sie verhallen sich also zu ihrem Staats« ganzen eben so wie die Bewohner des Thales Urseln zu ihrem Hauptcantone Uri. Es giebt bei vielen Schweizer-Cantonen solche angehängte und abgeschlossene Thaler, die eigentlich kleine Republiken für sich bilden. Man muß nicht nur die ganze Schweiz, sondern auch fast jeden Canton wieder als ein Conglomerat verschiedener kleiner conföderirter Staatswesen bertachten. 6. Am Vierwaldstatter-Sce. Bekkenried. Am zweiten Mittage verließ ich Engelberg, um zum See zurückzukehren. Zum Begleiter und Führer hatte ich einen kräftigen Mann, der, wie er mir sagte, ehemals eine Zeit lang „Ra u chknecht" im Kloster gewesen sei. So nennt man hier die Knechte, welche die schwere und grobe Arbeit verrichten. Und da des Klosters Besitzungen fast überall an die Region der Wolken, Stürme und des ewigen Schnees gränzen, so mag diese Arbeit manchmal rauh genug und jener Name sehr bezeichnend sein. Cr hatte seitdem bei einem Wirthe ge- 334 Klostertyrannei. dient. Ich merkte bald, daß er mit der Klosterwirthschaft im Thale nicht sehr zufrieden war. Und je weiter wir von Engel-derg uns entfernten, und je dunkler der Abend herabkam, desto freisinniger wurden seine Reden. „Diese Mönches sagte er, „unterdrücken unser Thal ganz. Niemand kann gegen sie aufkommen. Sie haben den Verkauf aller Dinge in Händen. Nicht nur die Käse, sondern auch das Heu, das der Arme auf seiner Wiese gewinnt. die Seide, die er trampelt, die wenigen Früchte, die er erntet, kaufen sie billig zusammen und speichern sie auf in ihren Vorrathskammern. Kommt Noth und Theuerung, so verkaufen sie sie entweder im Auslande oder auch den Armen des Thales selber zu hohen Preisen. Das Geld, das sie gewinnen, leihen sie dann wieder den armen Thalbewohnern. Diese sind alle ihre Debitoren und daher ihre Unterthanen. Nun frage ich Sie, mein Herr: Was sind die Mönche? Sie sind ihrer Bestimmung nach die Knechtschaft des Herrn. Und was hat dieß nun mit Käsehandel und Capitalien zu thun? Sie sollen beten! Das ist ihr Geschäft. Nun ja, dafür sollen sie auch gut zu essen und trinken bei uns haben. Dieß gebe ich zu. Aber den Verkauf und all das überflüssige Geld, das brauchen sie doch nicht. Wir haben in unserem von aller Welt geschiedenen Thale uns bisher Alles von ihnen gefallen lassen. Wir haben sie sonst oft genug mit Waffen und Fausten gegen die Fremden vertheidigt. Jetzt haben sie wieder Piken und Morgensterne für unS machen lassen und wollen sie uns in die Hand geben, damit wir in der Noth ihren Klosterhof beziehen und bei einem Angriffe ihre Schatze bewachen und vertheidigen. Aber sie mögen sich in Acht nehmen mit ihren Waffen. Wir werden uns nicht mehr für sie aufopfern. Neulich nannten sie mich im Kloster einen „faulen schlechten Schwarzen." „So zu heißen und das zu sein, ist mir lieber," antwortete ich ihnen, „als Euren Schwarze und Notl,c. 335 „guten Rothen" zugezählt zu werden." „Gute Rothe/' so nennen sie, mein Herr, immer ihre Anhänger und Leute. Ja es hat sich was mit dem gut. Vöse sollte es heißen. Denn wissen Sie, mein Herr, warum sie Rothe genannt werden? Weil sie nach Blutvergießen begierig sind. Die Mönche und Priester und die großen Herren, die mit ihnen in Verbindung stehen, haben immer aNen Vürgerzwist und alles Blutvergießen in der Schweiz angezettelt. Uns Liberalen glauben sie einen Tort anzuthun, wenn sie uns die „Schwarzen" schelten. Aber wir haben ihr Scheltwort als einen Ehrentitel für uns angenommen! Wir dürfen uns aber freilich noch nicht überall so laut aussprechen, wie ich es hier mi! Ihnen thue. Denn die Uebermacht ist gegen uns. Die Sache der Schwarzen ist bei uns noch im Keimen. Es geht nur noch so schlau und lau im Lande herum. Aber wenn wir uns erst erklären dürfen, so glaube ich gewiß, daß sich unter 10 Engelbergern 9 als eifrige Schwarze erweisen würden." Als ich mich bei den späteren Ereignissen in der Schweiz der Rede dieses Engelbcrgcr Rauch-knechts erinnerte, sah ich, daß sie ihn nicht Lügen straften, und konnte mir es zum Theil erklären, wie beim Angriffe auf den Sonderbund so wenige Heldenthaten für die gute, alte, rothe Sache verrichtet wurden. Eine Reihe reizender Dörfer durchwandernd, über manche im Frühlingsschmuck wundervoll prangende Höhen hin kamen wir endlich um Mitternacht, nach sechsstündigem Marsche, wieder am See in Vekkenried an, wo ich mir am anderen Tage ein kleines Voot miethete, um die Wasserreis? zum Cantone Schwyz ganz nach meiner Lust und Laune einrichten und ausführen zu können. Der See und seine herrlichen buntgestalteten Ufer lagen im schönsten Frühlingssonnenscheine vor mir. Nach allen Seiten 336 Ufer des Nierwaldstätter - Sees. boten sich die reizendsten Scenen im anmuthigsten Wechsel meinen Blicken dar. Diese Mannigfaltigkeit der Bilder ist es, die den Vierwaldstätter-See vor allen anderen auszeichnet. Die meisten anderen Seen haben eine weit gleichförmigere Gestalt, und die Ufer der meisten sind wie die Seilen langer Thaler von zwei gleich hohen Vergrcihen eingeschlossen. Dieser See dagegen ist eine Composition von vielen Thalern, die aus allen Richtungen zu ihm herantreten. Daher sind seine Ufer bald völlig schroff, hoch und unzugänglich, bald bilden sie ein anmuthiges Hügelgelande. Dann wieder eröffnet sich ein breites Thal, das wie ein Füllhorn mit Früchten und Vlumen seinen Reichthum an Dörfern und Fruchtgarten bis nahe an die stachen Ufer des Sees ausschüttet. Der See selbst zieht sich mehre Male eng zusammen, du fahrst durch ein Thor, dann wieder breitet er sich aus, und deine Blicke ruhen in einem bequemen Becken. Rund herum aus der Ferne blicken von allen Weltgegenden her die Spitzen der hohen Alpenhörner über die lieblichen Scenen des Vorgrunds herüber. An den Seiten der schroffen Seeufer giebt es die wundervollsten Verstecke, große und kleine Verg-kefsel und Austiefungen der Felswand. In der einen liegt ein Dorf, in der anderen ist blos für eine Fischerwohnung Platz, oder es findet nur ein halbes Dutzend Schäfchen darin Nahrung, die in das von Felsen umschlossene Grasgartchen gesetzt sind, wie Eanarienuögel in einen Käfig. Wenn man bedenkt, wie nNe diese Scenen entstanden sind, so begreift man es nicht, wodurch sie auf die Seele des Menschen einen solchen Zauber zu üben vermögen. Blinde, wilde Naturgewalten, Feuer und Wasserzerstörungen sprengten und furchten diese Klüfte und Thaler aus. Aus Nebel und Wolken traufte dieß spiegelnde Naß zusammen. Die Stürme oder auch die dummen Vögel führten die Gesame der Die Republik Versau. 337 Pflanzen herbei, welche mit Grazie die Felsen bekleioen. Ein alter Fischer, der nur an den kärglichen Gewinn dachte, den er aus den Fischen ziehen möchte, und sich auf nichts weniger ver« stand als auf Aesthetik, hackte sich ein ebenes Plätzchen zurecht und baute seine Hütte so schlecht und recht, wie es seine Mittel erlaubten. Vei allen diesen Dingen war keinesweges die Absicht, ein schönes Naturbild zu schaffen. Und doch ist aus diesen chaotisch durch einander greifenden Wirkungen eine Reihe solcher Bilder entstanden, die Alles übertreffen, waö des Menschen Phantasie, Absicht rmd Kunst hätte schaffen können, ja die unsere Maler sogar nur getreu nachzuahmen Mühe genug haben. Ich besuchte zuerst auf dem nördlichen Ufer die kleine Re« Publik Gersau, die jetzt zum Cantone Schwyz gehört. Drei schwierige Fußsteige und dann die Voote des Sees verbinden sie mit der übrigen Welt. Die ganze Republik steckt in einer klei« nen Vergschlucht zwischen zwei Bergen, die der „Urmistock" und dle „Hochfluh" heißen. Es wohnen etwas über 1000 Menschen darin. Sehr lang und wahrlich nicht uninteressant ist die Ge« schichte der Kriege, welche Jahrhunderte hindurch diese Hand voll Leute für die Erhaltung ihrer Republik kämpften. Endlich hat die neuere Zeit ihnen sie gelehrt, sich m das Schicksal zu finden, daß sie nun dem Cantone Schwyz, der gegen diese Duodez Republik ein Riese ist, angehören müssen. Es soll aber auch jetzt noch eine Partei alter Unzufriedener geben, die noch immer für die Souverainetät des Senates und Volkes uon Gersau schwärmen. Neben dem eigentlichen Hauptorte Gersau, einen Büchsenschuß davon liegen noch einige Weiler und Wohnungen. Die Bewohner derselben sollen zu allen Zeiten Streit und Partei gemacht haben mit den Bewohnern des Marktes selbst und mit diesen immer anderer Meinung gewesen sein. Sie haben oft Hohl, Alpenrtisen. >. 15 335 Die Fische im Vienvaldstätter? Sec. Conspirationen und Reuollttionsstürme in diesem Glase Wasser angezettelt. Unendliche Theilbarkeit scheint die Haupteigen-fchast der alten Schweizerzustände gewesen zu sein. Wie in Griechenland auf jedem Eilande ein kleiner Inselherzog sich zum Souveram auswarf, so blühte hier in jeder Berg Höhlung eine eigene kleine Republik empor. Von Gersau ging ich wieder auf das südliche Ufer des Sees hinüber, wo eine sehr einsam, aber höchst malerisch gelegene Fischerwohnung mir winkte. Der alte Fischer, der unS daraus entgegentrat, nahm uns gastfreundlich ans, und ich hielt auf dem einzigen Grasplatze neben seinem Hauschen, zwischen seinen Netzen und Fischgeräthen mein Mittagsmahl. Der Alte unter« hielt uns von seinen Fischen. Am meisten mtercssirte mich, was er unS dabei von einer gewissen Gattung von Fischen mittheilte, die man hier „Treichen" oder „Trcischen" nennt. Diese Fische leben in dergrößten Tiefe des Sees. Die Fischer holen sie 120 bis 140 Klaftern tief herauf und haben dazu Netze, die an unsäglich langen Stricken herabgelassen werden. Nur ganz selten, wenn sie laichen wollen, kommen diese Fische auf eine kurze Zeit ans Ufer. Wie alle an tiefes Wasser gewöhnte Fische, sterben sie sogleich, wenn sie an die Oberstäche kommen und blasen sich mit Luft auf. Wir befanden uns hier bei unserem Fischer nicht weit uom Rütli, in der Nahe des Vorgebirges, um das sich der Vier« walbftätter-See, dessen Hauptlichtung aus Westen nach Osten geht, herumwendet, um zwischen schroffen Felsen in einen langen Sack nach Süden auszulaufen. Dieser lange Sack heißt der See vou Altorf. Er ist der gefährlichste Theil des Sees, weil die Föhnstürme, welche über den St. Gotthard durch das Reußthal herabkommen, gerade seine ganze Lange bestreichen, und weil nirgends an den schroffen Felsen andere Land- Das Thal von Schwy;. ggI oder Aussteigeplätze zu finden sind, als solche, bei denen nur ein gewandter Tell sich retten konnte. Der Föhn ist ans diesem Stücke des Sees oft so heftig, daß nicht einmal die Dampfschiffe die Fahrt wagen. Er treibt dort zuweilen die Wellen haushoch gegen die Felsen empor, wahrend zur selben Zeit das Wasser auf dem westlichen Slücke des Sees sich in ungestörter Ruhe spiegelt. 7. Schwyz. Vom „Schwibbogen," so hieß das reizende Platzchen am See, wo meine Fischerhütte stand, setzte ich dann nach Vrunnen hinüber, dem kleinen Haupthafen des Cantons Schwyz. Alle diese kleinen hübschen Leeorte besitzen ihre eigenthümlichen Reize, und jeder hat daher auch seine besonderen Liebhaber. Und diese besonderen Liebhaber sind gewöhnlich Mitglieder der englischen Nation. InGersau, in Bekkenried, in Stanz, in Brunnen, fast in jedem dieser Orte hörte ich von irgend einem Engländer, der treu dem Platze anhinge, und der jedes Jahr so regelmäßig, wie ein Storch in seinNest, zu seinem Lieblingsplatze zurückkehre. Das Thal, das bei Brunnen mündet, ist ein großer weiter Keffel, in dessen Hintergrunde die malerischen Centralberge des Cantons Schwyz, die beiden Mythen, stehen. Am Fuße dieser Verge, bis tief in den Kessel hinein liegt der Flecken Schwyz in der Mitte eines weiten Vergftanoramas, das zu dem Schönsten gehört, was man in der Schweiz sehen kann. Weit und breit ist in den Alpen keine bequemere Thalweitung als hier in diesem Kessel von Schwyz. Natürlich mußte sich da eine ge- 15* 34l) Schwyz und Schwel;. drängte Bevölkerung ansammeln und allmälig ein Hauptort con-centriren. Hierher an die stachen Gestade des schönen Sees herab kamen die Leute aus den benachbarten Thälern, ihre Waaren zu verkaufen, ihre Angelegenheiten zu besprechen. Daher wurde dieß Thal auch in politischer Beziehung ihr Hauptthal. Alle Thäler, die zwischen dem Vierwaldstätter«, dem Zuger- und dem Ggeri-See liegen, schlössen sich an. Und end-lich eroberten sie auch die Thäler bis an das südliche Ufer des Sees von Zürich. Noch jetzt hat der Canton Schwyz diese Gränzen. Das kurze, breite, schöne, runde Thal von Schwyz ist also der eigentliche Kern dieses Cantons. Man kann es zu» gleich auch die Wiege der ganzen Schweiz nennen. Denn die schwyzer Männer, an Zahl die überlegenen unter den ersten Eidgenossen, waren immer die Hauptführer der alten Schweiz. Sie haben die bedeutendsten Männer, Charaktere und Helden der Urschweiz ftroducirt, und die Beschlüsse ihrer zahlreichen Landsgemeinden waren in den Angelegenheiten der Urcantone meistens maßgebend und entscheidend. Die nächste Veranlassung zur Entstehung der Eidgenossenschaft wurde auch vondenSchwy-zern gegeben. Sie entwickelte sich aus dem Streite der Schwy-zer mit den Aebten von Einsiedeln um den Besitz oder die Benutzung einiger Weiden. Daher ist denn auch der neuere Name Helvetiens, „die Schweiz," auö dieser Wiege des Landes hervorgewachsen. Die Eidgenossen nennen sich noch heutiges Tages nicht „Schweizer," sondern „Schwyzer." Der Name Schweiz rührt von den außereidgenössischen Deutschen her, die vermutblich geglaubt haben, das ursprilllglich helvetische „y"m „ec" zurück-verwandeln zu müssen, weil umgekehrtdie Schweizer aus unserem „ei" gewöhnlich ein „y" machen. ES ist vielleicht nicht Allen bekannt, daß dieser allbekannte Name des Landes, eben so wie Die Residenzdörftr. 341 die ursprüngliche Bevölkerung von Schwyz und von anderen Urcantonen aus Schweden stammen soll. Im mittelalterlichen Latein lautet der Name beider Länder beinahe ganz gleich-„8u«lin" oder „8iMu." Der Hauptort des Cantons Schwyz ist nur ein Hauptdorf, wie es denn überhaupt in der ganzen Urschweiz gar keine Hauptstädte giebt, sondern nur Haupt- und Resideuzdörfer. Die eigenthümliche Neigung der Deutschen, zerstreut zu wohnen, von der schon Tacitus spricht, und gegen die Heinrich der Vogler mit Städte- und Vurgzwang anging, hat sich, wie so vieles Andere, in diesen schweizer Urcantonen am längsten lebendig und folgenreich erwiesen. Sie haben immer eine Abneigung gegen Burgen, Vefestigungswerke, Stadtmauern und Städte gehabt. Wie die Englander ihre Kriegsschiffe die wooäon >v»IIs von England nennen, so sagen diese Schweizer, ihre Verge seien ihre ihnen von Gott gebauten Festungen. Gegen die Städte und Bürgerschaften der ebenen Schweiz haben sie, obwohl sie Bündnisse mit ihnen eingingen, immer eine gewisse Abneigung gehegt. In ihren eigenen Landen haben sie bis auf den heutigen Tag nie eme Stadt dulden wollen. In Dörsern und Weilern zerstreut an den Vergabhangm, an des Waldes Rand, an den Ufern der Seen und Flüsse und wo sonst die Natur eine Gelegenheit bietet, zu wohnen, ist ihre Freude. Nichts desto weniger hat sich aber doch in jedem Cantone aus dem ganz natürlichen Bedürfnisse nach einem Einigungs- und Centralpuncte des Staats ein Dorf als Hauptort ausgd darüber Vieles gelesen. Allein ich habe mich so daran gewöhnt, Alles so viel wie möglich mit eigenen Altgen zu sehen, daß eigentlich solche Dinge nicht für mich zu eristiren scheinen, wenn ich sie nicht an Ort und Stelle beobachtet habe. Ich muß immer die Leute selbst haben reden hören, ich muß verschiedene Specimens der Par-teiungen und Nacen selbst gesehen und gleichsam mit Händen betastet haben. Dadurch gewinne ich Beispiele, auf die ich dann bei dem Lesen der geschriebenen Geschichte und beim Studium der Geographic und Politik zurückkomme. Ich freute mich daher nicht wenig, in meinem Führer über den Haken einen Parteimann und zwar einen sehr decidirten Klauenmann zu entdecken. Unterwegs, wo sich Gelegenheit lot, ließ ich mir von ihm immer die politische Farbe der Leute, die «ins begegneten, oder bei denen wir einkehrten, angeben und beobachtete sein eigenes und seiner Gegner Venchmen und Gespräch dabei. Bei den Iägervölkern in Nordamerika drehen sich bekanntlich alle Interessen ihres Stcuns oder ihrer Genossenschaft um ihre Jagdbezirke. Um gute Jagdbezirke zu erobern, führen sie blutige Kriege. Ein an Wild mehr oder weniger reicher Wald bestimmt ihre Politik. Vei ihren Friedensschlüssen handelt es sich um die Abtretung dieses oder jenes Hirsch-, Vüffcl- oder Värengeheges. Aus den verschiedenen Ansichten über die Ve-nutzungsweise dieser oder jener Wildniß entspringen alle ihre Streitigkeiten und Parteiungen. Die Urschweizer sind durch und durch Hirtenvölker, und daher dreht sich bei ihn?» fast Alles um die Benutzung ihrer Alpen- und Vergweiden, die ihre hauptsächlichen oder einzigen Reichthümer sind. Die Streitigkeiten darüber gehen hoch in ihre Geschichte hinauf, und das Factum, Z.'tl) Schwyzer Communismus. daß die verschiedenen Racen auf den grasigen Höhen der Verge vielfach ineinander greifen, beweist unö, daß die Leute hier, den Grasweiden folgend, vielfach mit einander stritten. Ein Streit um die Bestimmung der Weidegranzeu war es vor 500 Jahren, der die Schwyzer mit dem mächtigen Abt von Einsiedeln zerfallen «nd sie ihre Eidgenossenschaft stiften ließ. Ueber die Bestimmung der Alpengranzen und Weideberechtigungen giebt es mit allen Nachbarn noch bis auf den heutigen Tag Gränzdifferenzen. Der gemeinsame Besitz von Alpen ist die Grundlage ihrer Dorf- und Gemeindeverfassung. Und aus ihrer Alpenwirthschaft endlich gingen auch jene beiden Hauptparteien hervor, in welche die Bevölkerung gespalten ist, die Horn- und die Klaueninäntter, welcke die Landsgemeinden und das Land zu verschiedenen Zeiten der Geschichte, namentlich aber wieder in diesen letzten Jahren stürmisch bewegten. Nur sehr wenige Alpen sind in den Cantonrn Schwyz und Uri besonderes Eigenthum von einzelnen Gemeinden, Corpora» tionen und Privatpersonen, wie dieses in den meisten übrigen Schweizer-Cantonen der Fall ist. Fast die gnnze Masse des hohen Wiescnlandes in Url und Schwyz ist gemeinsames Eigenthum des gesammten Landes oder Volks. Jeder freie Landmann kann so viel Vieh auf die Alpen treiben, als er will und als er besitzt. Dieß scheint eine Art von sehr billigem Communis-mus zu sein, der allen Bürgern gleiche Rechte giebt. Allein, so wie eine freie Staatsuerfassilng ohne freie Presse eine Illusion wäre, so ist auch jener Communismus der Weiden ohne ihn begleitende Gemeinschaft der Heerden eine Täuschung. Er kommt bloß den Reichen zu Gute. Während diese ganze Heer» den von Rindern auf die Staatsalpen treiben und sie dort unentgeltlich füttern, können die Armen von ihrem unblschränkten Rechte, so viel Vieh, als sie wollen, auf die Alpen zutreiben, Horn- und Klauenmänner. 335 nicht den mindesten Gebrauch machen. Nur sehr Wenige be« sitzen 20 bis 30 Kühe, und diese haben den Hauptvorthcil vom Staate. Die meisten besitzen nicht einmal eine Kuh, sondern bloß eine oder ein Paar Ziegen, die sie kümmerlich mit am Wege zusammengesuchtem Futter in der Nähe ihres Hauses nähren. Es giebt Tausende, die auch nicht einmal die Vortheile des Besitzes einer Ziege genießen. Und alle diese besitzlosen Proletarier der Urcantone, die in der neueren Zeit an Zahl beständig gewachsen sind, machen daher der jetzigen Staatsverfasslmg den Vorwurf, daß sie die Classe der Reichen auf eine ungerechte Weise begünstige und indirect Privilegire. Sie wünschen eine Abänderung des alten Zustandes durch Aufhebung der Staatsgemeinschaft der Alpen und durch gleichmaßige Verthcilung derselben an alle Bürger zu Privatdesitz. Seit unserer Vorvater Zeit, sagen die Proletarier, gehören uns die Alpenwiesen so gut wie jedem anderen Bürger. Da wir aber nie den Besitz einer Kuh erschwingen konnten, so haben wir nie von unserem Eigenthum, das von den Reichen benutzt wurde, Gebrauch machen können. Heben wir also diese unvortheilhafte Gemeinschaft auf, und nehme jeder seine kleine Alpenwiese selbst in die Hände, damit er sie auch ohne Kuh verkaufen oder sonst benutze» könne. Die reichen Viehbcsitzer, die wohlhabenden Bauern, die großen Herren, widerstreben aber diesen Forderungen, und so hat sich denn das ganze Land in zwei Theile gespalten, in Rinderheerden besitzende Reiche und in Ziegen besitzende Proletarier oder, wie sie hier genannt werden, in Horn- und Klauen-manner, welche Namen eben von dem Besitze des Hornviehes (der Ochsen, Kühe) und des Klauenviehes, mit welchem letzteren Ausdrucke hier besonders die Ziegen und Schafe bezeichnet werden, herrühren. Die Ziegen- oder Klauenmanner haben mm schon, um ihre H52 Concessionen der Hornmanncr. Forderungen durchzusetzen, mehre Landsgemeinden sehr stürmisch gemacht, und man kann sagen, daß dieser Streit bereits seit 15 Jahren die Länder Uri und Schwyz ebenso spaltet und belegt, wie jetzt der Kampf zwischen Reichen und Proletariern in allen anderen Staaten Guropa's, wo er aus ähnlichen Zeit-verhaltnisstn, obwohl nicht überall aus Ziegen- und Hornvieh«-besitz hervorgegangen ist. Die Zahl derKlauenmänner in Schwyz ist ebenso wie die aller Proletarier in anderen Ländern und wie die der Chartisten in England immer im Wachsen begriffen, und sie arbeiten dahin, auf der Landsgememde einmal das „Mehr" für ihre Vorschläge zu bekommen. Auf einer der letzten, wegen dieser Verhandlungen sehr stürmischen Lnndsgemeinden sollen sie schon beinahe die Hälfte der Stimmen für sich gezählt haben. Es sollen auf derselben bei der Abstimmung über den Vorschlag der Theilung der Alpen 4300 Hände dafür und 48N0 dagegen sich erhoben haben. Wenn alle Armen anf der Seite der Klauenmänner ständen, so würden sie längst gesiegthaben. Allein bei ihren jetzigen Verhältnissen hangen natürlich noch sehr viele Arme von den Reichen ab und werden daher aus Furcht auf die Seite der letzteren hinübergezogen. Visher haben die Hornmänner den Klauen-lcuten nur Kleinigkeiten zugestanden, einzelne Brocken zu ihrer Befriedigung hingeworfen. Das höchst unbedeutende Weidegeld, das die Reichen für jedcö Ninrerhaupt, das sie auf die Slaatsalpen treiben, bezahlen, ist allmälig etwas erhöht worden, und diedaraus hervorgehenden Summen sind zum Nutzen des Staates vermenvet oder unter alle Staatsbürger vertheilt worden. Dieß hat den Armen Wohlgefallen, und viele von ihnen, die an der völligen Durchsetzung der Mpenthcilung verzweifeln, dringen vorerst nur auf eine abermalige Erhöhung jenes Weidegeldes, eben so wie unsere Commmiisten und Nicht- Theilung der Alpeuwiesen. Z'iH besitzer im übrigen Europa, m Ermangelung einer allgemeinen Vertheilung der Outer, wenigstens auf eine höhere Grund- und Einkommensteuer dringen. Uebrigens kehrt auf jeder Landsgemeinde der Vorschlag zur Theilung der Alpen, den irgend ein Volkstribun vorbringt, eben so wieder, wie der Vorschlag Cato's, daß Carthago zerstört werden müsse. Und am Ende wird er wohl auchebenso, wie dieser, einmal durchgesetzt werden. Ob dieß nun, wenn es geschieht, eine wirkliche Wohlthat für das ganze schweizerische Hirtenvolk wäre, wird selbst von Manchen, die den Armen und dem Ganzen wohlwollen, bezwei-» felt. Diejenigen Armen, welche an der Theilung participiren, werden zwar, dieß scheint gewiß, einen vorläufigen Vortheil davon haben, indem sie ein kleines Stückchen Wiesenland an irgend einem entfernten Vergabhange bekommen werden. Dieses Stück Land werden sie entweder mit einer oder zwei Kühen beWeiden lassen, oder sie werden es verkaufen und das gelöste Geldsümm-chen vergeuden. Uno so wird eine solche Alpentheilung vermuthlich dieselben Folgen haben, wie dielte« »Fi-ni-iu« derVolks-tribunm in Rom: Demoralisation, Lurus und Arbeitsunlust. Die Armen werden dadurch nicht besser und auch nicht auf die Dauer reicher werden. Vermuthlich werden große Capitalists sich auf den Alpen große Gebiete zusammenkaufen, und die Armen daher nur ihre Herren wechseln. Statt der früheren alten reichen Bauern und Herrenfamilien werden sie diese Geld-manner über sich auf den Alpen dominiren sehen. Die erste und nächste Wirkung der gleichmaßigen Vertheilung der Alpen, so meinen die Hornmänner, wird aber eine völlige Vernichtung der bisherigen Viehwirthschaft und in Folge dessen auch des . jetzigen großen Vieh- und Käsehandels sein. Es gehen jetzt jährlich 4000 bis 5000 Rinder von der sehr ausgezeichneten und daher gesuchten fchwyzer Ninderrace allein nach Italien, und 35,4 Grundlage der Alvcnwirthschaft. der Käsehandel ist für das Land mindestens eben so bedeutend, wie für Vordeaur der Weinhandel. Großartige und gute Viehzucht und ebenso Käseproduciion ist nur möglich, wenn beide wie bisher auf großartige Weise und durck vereinte Kräfte betrieben werden. Die Ginrichtung und Eristenz dieses ganzen Handels des Landes beruht wesentlich auf der bisherigen Alpenwirthschaft. Wird diese umgestürzt, werden die Alpen vertheilt, werden die Kräfte zersplittert, bekommt jeder Besitzer sein Stückchen Weide und seine Kuh darauf, so wird auch jener Handel aufhören und dem Lande die Haufttquelle seiner Wohlhabenheit entzogen werden, durch die namentlich auch eine große Menge der Armen direct oder indirect Vortheile bezieht. Das scheinbare Unrecht der ausschließlichen Benutzung der Alpen durch die reichen Heerdenbefitzer ist also ein Vortheil für Alle. Ich will glauben, daß hierin viel Wahres ist. Der beßte Ausweg, um Alle zu befriedigen, wäre demnach inSchwyz eine Erhöhung des Weidegeldes, so wie der beßte Ausweg im übrigen Europa, um den Nachtheilen der Gütervertheilung zu entgehen, eine Erhöhung der Einkommen- und Lurusstcuern wäre. Es ist merkwürdig, wie alle Bewegungen, die den großen Völkerocean Europa's durchzucken, auch in diesen kleinen Vevölkerungs-tropfen, die an den Gipfeln der Alpen hangen, in diesem Na-tiönchen und Cantönchen der Schweiz sich wieder abspiegeln. Man sollte ihre Zustande häufiger studiren. Vieles erkennt man im Kleinen besser und kann es dann zum Verständniß des Großen bequem gebrauchen. Mein Schwyzer, der mich über den Haken führte, war ein sehr decidirter Klauenmann. Er war sehr erbittert über die „reichen Vuern," und die schwachen Einwände, die ich ihm, von den angedeuteten Gesichtspuncten ausgehend, machte, wollten ihm gar nicht in den Sinn. Sein Thema war immer: Frühlingsanfang auf ocn Höhen. 355 „Ah was, dc richen Vuern und de „Herrn" welle Asses haben. Und das solle sie nicht, und unsere Alpen müssen getheilt werden." Letzteres war sein beständiger Refrain, den er am Schluß jeder Rede wiederholte, wie Cato sein „Oal-llln^inem etc?." Obwohl ein milder herrlicher Maitag von allen Bergen herablächelte, so wanderten wir doch oben am Gebirge stundenlang in so tiefem Schmnze, wie er nur beim ärgsten Regenwetter sein kann. Wir fanden hier oben noch die Schneeschmelze im Beginn ihrer Arbeit. Erst in den Thalern und an den tiefen Abhängen hatten die Wege einige Consistenz gewonnen. Auf den höchsten Höhen starrt um diese Zeit noch AlleZ in Eis, aber die mittleren, auf denen wir wanderten, waren in einem Zustande chaotischer Auflösung begriffen. Auf allen Wegen und Wiesen rieselten Schneewasserbache herab. Alles Erdreich war erweicht, und überall lagen kleine oder große Schneefelder mit Schmuz vermischt. Als wir auf der anderen Seite des Passes in die Wälder des Alpthales hinabkamen, fanden wir hier die Bäume noch 5 Fuß hoch im Schnee stecken. Hier in diesen finsteren Wäldern erwachen die Blumen mehre Wochen später zu frischem Frühlingsleben, als auf den freiliegenden Wiesen. Auf den letzteren fanden wir einzelne befreite Strecken mitten zwischen den, Schnee schon ganz mit Blumen bedeckt. Es giebt hier oben eine Blume, die sogar unter dem Schnee keimt, ungeduldig seine Decke durchbohrt und über der weißen Winlerdecke mit einem zierlichen blauen Glöckchen erblüht. Meistens sehen indeß die Wiesen, wenn sie zuerst vom Schnee befreit sind, sehr widerlich aus; das Gras, das 6 bis 7 Monate lang bedeckt war, hat seine Farbe völlig verändert und ist von der Last platt niedergedrückt. Einzelne Keime, die schon unter dem Schnee trieben, haben nur eine matte Farbe gewinnen könne», wie Kellerpftanzen, denen daS Licht entzogen war. 35,6 Frühe Blüthe aus bcn Men. Daher bemerkt man denn auch des Frühlings in den Alpenlhä-lern von unten aus einen graulichen Streifen zwischen dem bereits grünen Thalgrunde und den noch mit Schnee bedeckten Höhen. Man sieht diesen grauen Streifen zwischen dem von der Tiefe aus nachrückenden Grün und dem sich nach oben mehr und mehr zurückziehenden Schnee sich immer weiter nach oben walzen. Es ist eine beachtenswerthe Erscheinung, daß die Wiesen von jenem melancholischen Wintergrau zum Frühlingsgrün um so schneller übergehen, je höher sie liegen. Die Gräser und Krauter raffen sich in diesen Höhen viel rascher und mit viel energischerem Wachsthums auf, als in der Tiefe, gleichsam wie schnell sich entfaltende Springfedern, die von einem großen Gewichte gedrückt wurden. Man sieht das junge Grün zuweilen dicht am Rande deS Schnees. Und einige Pflanzen dringen, wie gesagt, schon farbig durch den Schnee selbst hindurch. Man hat dasselbe an den Bäumen beobachtet. Je höher in den Alpen der Standpunct eines Baumes ist, desto schneller folgt seine Vlüthenzeit der Zeit der Schneeschmelze. Man weiß, daß in manchen Thalern zwischen der Zeit der Schneeschmelze (des Win-terendes) und der Kirschblüthe nur 14 oder 16 Tage liegen. Dabei ist es merkwürdig, daß die Blüthen beiden höheren Vau-men immer früher kommen als die Blatter, so daß die hochstehenden Kirschbaume schon zuweilen in voller Blüthe stehen, ohne ihre Vlätterknospen nur noch einigermaßen entwickelt zu habm. Es ist bekannt, daß in den nördlichen Gegenden unseres Welttheils die Pflanzen sich auf ganz ähnliche Weise beeilen, den vom Schnee verkürzten Sommer elwas auszudehnen. Was mögen aber die Ursachen dieser Erscheinung sein? Ich habe darüber die Werke der Physiologen über die Alpenpflanzen sowohl, wie die über die Polarpftanzen vergebens befragt. Auf der Höhe des Haken, wo ein Wirthshaus steht, ist Die beiden Mythen. Z,'>7 man den beiden Mythen ganz nahe. Man ist, so zusagen, mitten unter ihnen. Und ich untersuchte durchs Fernrohr den Van dieser beiden hübschen Pyramiden mit Wohlgefallen. Sie stehen sehr isolirt und sind wie ein schönes Vergpaar, gleichsam ein Doppelgestirn, aus weiten Fernen sichtbar. Nach Norden, Nordosten und Nordwesten hin haben sie keine höheren Verge vor sich liegen. Selbst der Rigi ist niedriger. Im Jahre 1800 stand einmal die eine dieser Pyramiden in Rauch und Flammen wie ein Vulkan. Das Holz auf seinen Abhängen war in Feuer gerathen und brannte mehre Nächte hindurch, den Bewohnern selbst der entfernten Cantone Zug, Zürch und Unterwalden ein prächtiges Schauspiel darbietend. Aus allen Gegenden lief man zum Löschen herbei. Vor einigen Jahren erregte der andere dieser Berge einen fast eben so großen, aber voreiligen Alarm im Lande. Ein Gelehrter wollte nämlich entdeckt haben, daß die Pyramide dieses Kalkberges auf einer schlüpfrigen und bröckeligen Unterlage von Thonschiefer ruhe und daß sie im allmäli-gen Hinabrutschen begriffen sei. Diese Idee erregte in dem schönen lieblichen Thale von Schwyz, in das sie hinabgleiten sollte, einen eben so großen Schrecken oder„panio," wie die Engländer sagen, wie in London dadurch erregt werden würde, wenn Giner bewiese, daß die Bank von England wackelig sei. Der Credit des Mythen hat sich indeß wieder gehoben, und man hat sich überzeugt, daß er wahrscheinlich doch fester steht, als man dachte. Mitten an der Pyramide des großen Mythen zieht sich zwischen seinen schroffen Felswänden eine schmale Grasbank hin. Von ihr holen die Schwyzer das Gras mit Ueberwindung von eben so vielen Schwierigkeiten »nd mit derselben Todesverachtung, wie die Norweger die Eier von den Felsen ihrer Küsten. Mühselig klettern die Mäher zu jener Bank hinauf, die so steil steht, daß sie sich nicht einmal mit Hülfe ihrer Fuß- 358 Die Salznoth. eisen dort halten können. Sie schlagen Pflöcke ein und binden sich während des Mähens mit langen Stricken daran, also ähnlich wie es unsere Thurmdecker machen. Von Zeit zu Zeit verunglückt doch immer Giner bei diesem Wagestücke. Gin Graf Reding erzählte mir, daß, so lange er denken könnte, dieß mochte etwa 30 Jahre sein, er schon 4 hier verunglückte Männer gerechnet habe. In den 1000 Jahren der Existenz dieses Landes hatte demnach die Ginheimsung des Fuders Heu dieser einen Grasbank dem schwyzer Volke vielleicht 130 Männer gekostet. Es giebt viele Tausende ähnlicher Grasbänke in den Alpen. In dem Wirthshause auf der Höhe des Haken fanden wir einen klelnen verfrorenen Burschen, der aus einem Bergdorfe Nberg 2 Stunden weit über den Schnee herbeigelaufen war, weil ihm die Wirthin etwas Salz versprochen hatte. Das Salz, dieses nothwendigste aller Lebensbedürfnisse, ist in der Schweiz überall sehr rar. Und die armen Leutchen und die Bettler kann man in einigen Verggegenden mit einer Prise Salz ebenso erfreuen, wie in anderen Ländern mit einer Hand voll Rauchtabak. Zuweilen sparen sie sich selber das Salz ab, um es nur ihrem Vieh geben zu können. Unser kleiner Vettler bekam auf unsere Fürsprache ein ganzes Veutelchen voll Salz, das er nun seiner Mutter als eine große Wohlthat bringen konnte. Sie hatte, sagte er, seit 8 Tagen nur in Wasser gekochtes Kraut ohne Salz gegessen. Bei dieser Salzfülle würde nun auch die Ziege reichlichere Milch geben. Die Noth in diesem theueren und noch dazu spät eingetretenen Frühlinge war in den oberen brotarmm Gebirgsgegenden allgemein. Ihr Vieh hatten die Leute schon seit 3 Wochen „in den Voden'^ gethan, „des Füt« terns wegen." Und die Menschen, die sich von unter dem Schnee hervorgeklaubten Krautern und von Schnecken nährten, waren noch schlimmer daran als ihr Vieh. Auffallend war es mir, Wirkung des Hungers. 359 daß unser Kleiner ein so dickes volles Gesicht hatte, und daß ich dasselbe an allen Kindern bemerkte. Ich zeigte dieß einer bettelnden Frau, indem ich hinzufügte: „So groß kcmnEuere Noth wohl nicht sein, da Euere Kinder ja alle so bausbackig aussehen, wie der Vollmond." Diese arme Frau belehrte mich aber so: „Ach, der Herr hat wohl nicht so viel Erfahrung über die Wirkungen des Hungers gemacht, wie wir in unserem armen Ge» birge. Wir füttern unsere Vuben jetzt schon seit 6 Wochen mit Milch und Wasser. Das macht sie so dick, aber nicht bausbackig, Herr, sondern bloß aufgedunsen. Je mehr sie hungern, desto ausgeblasener werden sie. Aber das fallt bald wieder weg, wenn sie zu besserer Nahrung kommen. Dann essen sie wie die Wölfe und werden immer magerer wie die Schemen. An den Wangen kann der Herr nicht gut sehen, ob einen Vuben hungert oder nicht. Aber schauen sie nur die Handchen an, wie mager die sind, wie eingefallen zwischen den Fingern." Ich setze diese Belehrung hier hin, weil mir eine Irlanderin einmal dasselbe sagte, und weil reiche reisende Wohlthäter davon vielleicht Gebrauch machen können, um Täuschungen zu entgehen. 9. Im Alpthale. Gegen Abend ließen wir uns aus den schneegefüllten Waldern auf die grünenden Wiesen des kleinen Nlpthales herab, das von sehr armen Leuten, die jetzt alle mit ihrem guten Priester Hunger litten, bewohnt wird. Ich traf diesen trefflichen Mann, dem ich empfohlen war, bei der Anordnung seiner kleinen Kirche für den Abendsegm. Gr müsse, sagte er mir, jetzt Alles bis 360 Der katholische Priester. aus das Kerzenanzünden selber ordnen und putzen, weil sein einziger Kirchengehülfe krank sei, wie denn die Mehrzahl seiner Thalgenosfen aus Hunger krank darnieder liege. Er ließ mich auch den Maischmuck seiner Kirche näher betrachten, den Maienaltar, die bekränzte Mutter Maria darauf ic. Er hatte dieß 'Alles nach seinem Geschmacke, so weit es seine Mittel ihm erlaubten, selbst so angerichtet. Die kleinen Räume der Kirche waren mit Vlumen förmlich angefüllt. Den ganzen Monat Mai hindurch laßt er diesen Schmuck und den Malenaltar in der Mitte des Tempels so bestehen. Der lieblichen Mutter Maria ist der Frühlingsmonat insbesondere gewidmet. Nachdem ich dem Abendsegen mit der kleinen, dürftigen, aus ihren Hütten herbeiströmenden Gemeinde beigewohnt, lud mich mein priesterlicher Freund m seine kleine hölzerne Wohnung ein, die er recht artig und seinen frommen Beschäftigungen angemessen eingerichtet hatte. Im Ganzen findet man überhaupt bei den Armen unter den katholischen Priestern weit nettere und saubrere Wohnungen als bei den Armen unter unseren protestantischen Predigern. Vei jenen sieht man überall die säubernde Hand einer alten erfahrenen Hauswirthin, die ihnen zur Seite zu stehen pflegt. Auch neigen die Hagestolzen von Haus mehr ;u (oft pedantischer) Ordnung. Vei dem protestantischen Pre-diger merkt man überall die unartigen und unordentlichen Kinder durch, die bei dem katholischen Priester ganz fehlen. Mit ihnen ist der letztere auch einer Menge von anderen Sorgen quitt, und er kann seine kleinen Habseligteiten daher bequemer zusammenhalten, als der erstere, der oft in der Fülle seiner Sorgen Alles so gehen und stehen laßt, wie es eben mag. Mein Freund war aus der berühmten Familie Tschuoi, und ich sagte ihm daher, daß mir sein Name theuer sei, da sein aller Vorfahr, der bekannte schweizerische Geschichtschreiber, langst Verbannungen, Proscrivtionen, Einkerkerungen. 36l. von mir verehrt wurde. Diese Familie Tschudi stellt in Glarus ungefähr dasselbe vor, was die Familie Reding inSchwyz, und sie hat sich bis auf die neueste Zeit in der Achtung des Volks er« halten, wenn auch nicht bei solchen eifrigen und feurigen Priestern, wie mein Freund deren einer war. Da in Glarus die Partei der Protestanten, der Radicalen und „Gottlosen" die Oberhand behielt, so hatte ihr Sieg die Verbannung, Proscribing oder Ein-kerkerung von mehren ihrer Gegner zur Folge, wie denn fast jeder Sieg einer Partei über die andere in der Schweiz dieselbe Folge gehabt hat. In fast allen Cantonen traf ich auf meiner Neise auf Leute, die da, wo sie gerade waren, frank und frei herumgingen, die sich aber im Nachbarlhale nicht sehen lassen durften, ohne sofort vom Blitze der Gesetze und vom Anne der Gerechtigkeit wie Verbrecher getroffen zu werden. Mein Freund z. B. war im Alpthale wenige Stunden von seinem Vaterlande entfernt. Seit 6 Jahren war dieß ihm aber so unerreichbar wie China gewesen. Er hatte dort eine alte Mutter, die selbst sich nicht mehr über die Verge bewegen konnte, die er sich sehr zu sehen sehnte, die cr aber nie zu besuchen gewagt hatte, aus Furcht, sofort erkannt und arretirt zu werden. Im Alpthale, wohin er geflohen, hatte man ihm wenigstens ein kleines Amt gegeben. Hatte er einige Meilen Weiler reisen wollen, so hatte man ihm eine fette Pfründe verschafft, wie er mir aus einem bischöflichen Hirtenbriefe bewies. Wäre er noch ein paar Meilen weiter gereist, so hatte man ihn vielleicht gesteinigt, und wieder ein paar Meilen weiter in einem anderen Cantone vielleicht im Triumphe auf den Schultern getragen. Statt indeß diese abenteuerliche Reise, wie sie damals ein Mann von entschiedener Meinung durch die bunte Schweiz hätte machen können, zu unternehmen, blieb mein Freund ruhig bei seiner Gemeinde im Alpthale. Er habe seine kleine und arme Heerde lieb, Hohl, Alpcnitisck I. 16 362 Der Schwerer in ocr Fremde. sagte er, und könne sie unmöglich selbst für eine Aussicht auf eine großartige Stellung verlassen. Auch fühle er sich hier seinem Vaterlande näher. In Stimme, Physiognomie, Körperbau und eifrigem Wesen glich dieser arme verbannte Priester ganz dem Vilde, das wir uns von unseremvr. Martin Luther machen. Wenn er von der Willkür und Härte der in Glarus herrschenden protestantischen Partei sprach, so klagte, predigte und protestirte er wie Lucher gegen den Papst. Und mir siel dabei ein, daß Luther, wenn er uicht selbst den Protestantismus gestiftet, wenn er die Protestanten wie Tschudi in feinem Vaterlande schaltend und waltend vorgefunden hatte, vermuthlich ebenso wie Tschudi seine ganze Redekraft und Energie gegen sie gerichtet haben würde. Meines guten Priesters Vetter, auch ein Tschudi, war unter dcm vorigen Könige von Neapel Gouverneur von Sicilien gewesen, und fein Bruder General in spanischen Diensten. Vei den schweizer Alpenhirten, die in die Heere aller Könige der Welt eintreten, ging noch bis auf die neueste Zeit herab der Wunsch, irgend wo eine schöne Insel als Statthalterschaft zu erlangen, die Sancho Pansa so oft vergebens von seinem Herrn und Ritter verlangte, nicht selten in Erfüllung. Wenn diese durch Auswanderung in alle Welt versprengten Schweizer-Familien sich am Ende ihres Lebens einmal wieder auf ihren Bergen und Thälern zusammenfinden, so erscheint der eine Bruder in der Mönchskutte, der andere vielleicht mit der Schürze und unter ihr mit der gefüllten Geldtasche eines Pariser CafetierS, und der dritte in der Marschallsuniform oder als Gouverneur von Sicilien. Der kleine wilde Alpbach durchschlängelt das Alpthal. Die bei den schönen Maitagen heftige Schneeschmclze hatte ihn zu einem brausenden Strome angeschwellt. Der Abend dämmerte schon, als wir, mein schwyzer Klaucnmann und ich, auf einem schwankenden Stege über ihn setzten, um zu dem Kloster der in dieser Ewige Anbetung. Hgz Einsamkeit dem Herrn dienenden Waldschwestern (0oo kumu-lnntes «orores g^lvostl-sis) zu gelangen. Ich hatte gehört, daß die Nonnen dieses armen Klosters (Kloster Au ist es genannt) feit einiger Zeit, seit dem Zuge der berner Fieischaarcn gegen Luzern, „die ewige Anbetung" bei sich eingeführt hatten. Sie beteten, hieß es, in ihrer Kirche Tag und Nacht. Da mir diese Form des Gottesdienstes etwas Neues war und die ihr zum Grunde liegende Idee wohl gefiel, so wollte ich mich selbst uon dem Hergange dabei überzeugen. Der Abt von Ginsiedeln hat mir später gesagt, daß die sogenannte ,.ewige Anbetung" eine französische Erfindung der Neuzeit oder vielleicht nur die Erneuerung einer alten Sitte der katholischen Christenheit sei, und daß sie sich zuerst in einigen Klöstern Südfrankreichs, dann aber auch hie und da in der Schweiz, besonders in den Sonder-bundscantonen verbreitet habe. Sie besteht darin, daß einige Mönche oder Nonnen, die sich unter einander ablösen, beständig Tag und Nacht, Jahr aus, Jahr ein in dem Gotteshause laut betend anwesend sind. AIs die Freischaaren vor 3 Jahren den besagten Angriff auf Luzcrn machten, mit der Absicht, den Eonderbund aufzulösen und das sogenannte Pfaffenregiment in den Urcantonen zu sprengen, wurde die Bevölkerung in den katholischen Urcantonen im höchsten Grade alarmirt und erschüttert. Sie betrachteten jenen Angriff üon der radicalen, protestantischen Schweiz her als einen Angriff auf ihre Religion, und obgleich er zurückgeschlagen wurde, so glaubten sie doch zu cr-kenncn, wie wesentlich die Gefahr sei, die ihnen von daher drohe, und sahen ein immerdunkleres Gewitter sich um sie her gestalten. Sie wurden daher im höchsten Grade ernst und fromm gestimmt. Die Kirchen der Thäler und die Waldcapellen und Klöster wurden seitdem häufiger als je besucht. Vtt- und Wallfahrten winden zur Rettung des Vaterlandes und des Glaubens in allen !6* 364 Die Waldschwestern von der Au. Theilen des Landes unternommen. Und da regten sich auch die dem Herrn dienenden armen Waldschiuestern «on der Au. Sie schickten eine Deputation zum Abte von Einsiedeln, von dem ihr kleines Kloster abhängt, und baten um die Erlaubniß, in diesen schlimmen Zeiten die „ewige Anbetung" bei sich einführen zu dürfen. Der Abt, ein kluger, aufgeklärter Mann, wollte ihnen dieß nicht sogleich gestatten. Er stellte ihnen vor, daß ihre Zahl nicht groß sei, daß daher die Reihe zum Kirchengcl'ttc jede von ihnen im Laufe des Tages sehr oft treffen würde, daß ihr hoch in den Vergen gelegenes Thal einen langen Winter habe, daß sie in den kalten Winteniächten einen sehr schweren Dienst haben und daß sie demnach bald ihre 'Kräfte erschöpfen und sich aufreiben würden. Allein die eifrigen Nonnen ließen sich nicht bedeuten und wiederholten ihre Bitte. Endlich gad der Abt so weit nach, daß er ihnen die ewige Anbetung auf einige Monate gestattete, um ihre Kräfte zu prüfen. Am Gnde der Probezeit kamen die Nonnen wieder und erklärten, nun, da sie die Sache selbst kennen gelernt, seien sie noch viel eifriger als zuvor, eine so erbauliche Gottesfurcht habe sich aller bemächtigt, und in der ganzen katholischen Urschweiz hätte ihr Unternehmen so viel Lob und Anklang gefunden, daß sie nun und nimmermehr von der ewigen Anbetung lassen würden. Und der Abt sah sich genöthigt, ihnen diese Institution definitiv und für immer zuzugestehen. Nicht bloß unter den Nonnen und Mönchen der Klöster, sondern auch unter Privatpersonen bildeten sich damals Vereine zur ewigen Anbetung. So hörte ich von einer unter Domestiken in Freiburg gestifteten Gesellschaft dieser Art. Fünfzig Mägde waren zusammengetreten und hatten ausgemacht, daß fortwährend einige von ihnen in einem kleinen gemietheten Locale anwesend sein und dort beten oder in religiösen Schriften lesen sollten. Sie konnten es aber nicht Kloster Au. 365 durchsetzen und mußten ihren Verein wieder auflösen. Andere Vereine hatten sich wieder unter anderen Bedingungen gebildet z.V. einer, dessen Mitglieder sich gegenseitig gelobten, daß jeder von ihnen täglich wenigstens eine Stunde zu irgend einer beliebigen Tageszeit in der Kirche beten wolle. Das kleine Kloster Au liegt auf kahlen Wiesen im hohen Alpthale, am Rande des Fichtenwaldes, dessen dunkle Regionen gleich oberhalb des Klosters beginnen. Es ist eine sehr arme Schwesterschaft. Die Nonnen haben nur freiwillige Gaben der Pilger, ein klemes Stückchen Wiesexgrund, ein Fetzchen Wald zu ihrem Unterhalte, und sie müssen selbst mit der Milch ihrer Kühe sehr genaue Wirthschaft führen, damit täglich einer Jeden davon ein Paar Löffel voll zu Theil werden. Ich traf den Landmann, den sie als Oekonom über ihre Wirthschaft gestellt hatten. Er zeigte mir das kleine kahle Gartchen, das ihreinziger Erholungsund Vergnügungsort ist. ES stand ein halbes Dutzend kleiner Obstbaume darin, und es war mit einem solchen rohen hölzernen Verschlage umgittert, wie die Schweizer ihn auf ihren Al-Vcn zur Umzäunung ihrer Viehweiden zu machen pflegen. „Zu Zeiten können unsere Nunnen in diesen Garten kommen," sagte mir der Wirthschafte!, „und oft ist der ganze Winkel voll von ihnen/' Trotz ihrer Armuth übten sie noch Gastfreundschaft und hatte» jetzt schon seit Jahren noch io fremde Schwestern bei sich aufgenommen, die aus anderen Klöstern der Schweiz vertrieben waren. Die kleine Kirche lag dicht neben bcm Hauptgebäude, und ich trat hinzu, um der ewigen Anbetung der Wald-schwestcrn für eine Stunde beizuwohnen. I love, where spreads the village lawn, Upon some knee-worn cell to gaze, Hail to the firm unraoving cross, Aloft, where pines their branches toss! And to the Chapel far withdrawn, That lurks by lonely ways. 366 Betrachtungen in stiller Kirche. Ich denke mir, Wordsworth muß das Kloster Au und seine Kapelle im Sinne gehabt haben, als er diese Verse schrieb. Die Kirche war, da es indeß Nacht geworden, schon dunkel, und nur ein einsames Lichtchen schimmelte vom Chor herunter, wo zwei verschleierte Nonnen saßen, die abwechselnd laute Gebete sprachen und sangen und von Zeit zu Zeit gemeinschaftlich in den stets wiederholten Refrain einstimmten - „Laßt uns ewig beten! Laßt uns ewig beten!" Ich konnte indeß nur die Köpfe der Nonnen sehen. Da ich außer den beiden Beterinnen der einzige Mensch in der Kirche war, und da auch die Einsamkeit der Gegend umher und die Stille des Orts mich in ernste Stimmung versetzten, so überließ mein Geist sich willig der Versenkung in fromme Betrachtungen. Ich gedachte der römischen Vestalinnen, die auch einst Tag und Nacht das heilige Feuer unterhielten, wie dirse Nonnen die Flamme des Gebetes. Ich erinnerte mich mancher ahnlicher Institutionen bei dem Gottesdienste anderer Kirchenlehrer und fand, daß die Idee eines ununterbrochen fortgehenden Gottesdienstes zum Zwecke der eigenen Heilignng sowohl, als zum Zwecke der beständigen Fürbitte für die Mitmenschen eine sehr alte sei und sich eigentlich in alle» Culten zeige. Cs ist gleichsam eine menschliche Nachahmung des ewig forttönenden Hallelujahs der Engel. Zugleich kam mir der Gedanke, wie weit wir Protestanten uns von dieser so natürlichen Idee entfernt haben, die wir noch nicht einmal, wie doch die Katholiken überall, die Gotteshäuser zu allen Zeiten des Tages offen erhalten, sondern sie die Woche über verschließen, als Ware uur zu bestimmten Zeiten das Bedürfniß, in GotteS Haus zu treten, in uns lebendig, als wäre es nicht heilsam, daß die Pfcr-ten der Gotteshauser wie die des Himmels stets offen ständen. <üs Asyle der Gnade und der Erbauung für die Bedrängten und für die, welche da dürstet. Die Glocknerinnen. Iß7 Als es 9 Uhr schlug und dlc Stunde abgelaufen war, hörte ich eine Bewegung und ein Geräusch im hinteren Klostergange. Lautlos und mit leistn Tritten kamen alle Nonnen des Klosters, die Aebtissin an der Spitze, auf das Chor der Kirche. Drei von ihnen ergriffen die Stricke der Kirchenglocken, deren helle Klänge nun bald in die Nacht des Thales hinaus erschallten. Man sagte mir, die Nonnen seien zu arm, um sich einen eigenen Glöckner zu halten, und sie müßten dieß Geschäft daher immer selbst verrichten. Da sie oben hinter der Balustrade des Chors verborgen waren, so sah ich bloß immer, vom Scheine der Kerzen hell erleuchtet, die zarten Fraueuhande, die mit den dicken Stricken in die Höhe fuhren und die geschwenkten Glocken wieder niederrissen. Während des Geläutes stimmten sie nun alle einen allgemeinen Chorgesang an. Danach zog sich der große Haufen mit leisen Tritten wieder zurück, die beide» abgelösten Nonnen mit sich nehmend. Zwei andere blieben und setzten nun wie die vorigen den Doppelgesang: Laßt uns ewig beten, wieder fort. So kam ich denn erst spät in der Nacht in einem der vielen das Kloster Ginsiedeln umgebenden Wirthshäuser an. 10. Kloster Einsiedeln. Dieser wundervolle und weit und breit in der Christenheit berühmte Wallfahrtsort liegt am Eingänge des Alpthales auf einem weiten Wiesengrunde, der beinahe so hoch über dem Meere erhaben ist wie die Spitze unseres norddeutschen Brockens, nämlich nahe an 3000 Fuß. Das weite und bequeme, aber kahle und kühle, ziemlich reizlose Thalbecken, dessen Mitte das Kloster ein« 368 Lage ilnv Bauart von Einsiedeln. nimmt, ist rund umher von maßig hohen Bergen umgeben über deren Pässe aus allen Weltgegenden Straßen zum Kloste herbeiführen. Das ganze Thal ist, sozusagen, klösterlich organi-sirt und wie eine Kirche ausgeschmückt. Die Wege sind stundenweit hinaus mit Heiligenbildern, Kreuzen und Capellen besetzt, und auf der Höhe jener Passe, des Haken, des Ezel, des Katzenstricks:c., stehen kleine Kirchen, die vom Kloster unterhalten werden, und die den Pilgrim mahnen, daß er nun in das ehrwürdige Thal von Einsiedeln selber hinabsteige. Mit jedem seinerSchritte mehren sich die Gegenstande der Verehrung, bis er endlich des großen herrlichen Klosters selber und des goldenen strahlenden Bildes der Himmelskönigin, die über seiner hohen Front errichtet ist, ansichtig wirv. Bei dem Anblicke der großartigen Gebäude, die zu Einsiedeln gehören, der herrlichen Fronte, welche die Kirche darbietet, des weiten Platzes vor dem Eingänge, der breiten Treppe, die dazu hinaufführt, und des reichen Inhalts dieser Kirche, so wie beim Anblicke der schwarzen Mutter Gottes, welche hier verehrt wird, und des fast nie aufhörenden Zuströmens von Pilgern aus allen Weltgegenden fielen mir die Tempel von Salsette, die ägyptischen Tempel am Nil und die heiligen Orte an den Quellen des Ganges ein. Denn Ginsiedeln ist in der That so großartig und ergreifend, daß man es unwillkürlich nur mit den heiligsten und berühmtesten Tempeln und Wallfahrtsorten der Welt in Verbindung bringt. „Da sieht man recht," pflegen die Mönche von Ginsiedcln zu sagen, wenn sie den Fremden auf die herrlichen Kuppeln und Saulenportale der Kirche und auf die Palast» artigen Klostergebäude aufmerksam machen, „da sieht man recht, was für ein machtiger Vamn mit Gottes Segen aus einem kleinen Korne erwachsen kann, das ein frommer Mensch einst ausstreute. Vor taufend Jahren war dieß ganze lichte Thal ein Der Einsiedler Meinrab. IW wilder, undurchdringlicher Wald. Der gottesfürchtige Mein rad, der Sohn eines Grafen von Sulgen, zog sich in diesen Wald zurück. Seine hölzerne Hütte, in welcher er Gottes Wort und die Kirchenväter studirte, stand auf derselben Stelle,, auf der sich jetzt das Kloster erhebt. Sein frommes Vlut hat den Voden gedüngt. Zwei gottlose Manner erschlugen den Märtyrer. Aber die Raben des Waldes verfolgten die Mörder nach Zürich und verriethen sie durch ihr Geschrei, wie einst die Kraniche des Ibycus, dem Volke. Jetzt ist nun die Wildniß überall auf jenem Flecke beseitigt. Es stehen so viele Kreuze im Thale als ehemals alte Tannen und Fichten, und auf der Stelle der hölzernen Zelle Meinrad's erheben sich diese wundervolle Cathedrale und ein Palast, in dem statt eines Eremiten die gefürsteten Aebte wohnen. Sogar Herzöge (z.V. ein Herzog Thietland von Schwaben) und Königssöhne (z. V. Gregor, ein Sohn Königs Eduard III. von England und Schwager Kaisers Otto) verschmähten es nicht, Aebte von Einsiedeln zu werden, und der Ruhm des Ortes verbreitete sich nicht nur durch ganz Deutschland, sondern auch nach Ungarn, Italien unk Frankreich. Und noch bis auf diesen Tag herab strömen die Frommen zum Gebete zu unserer Waldstatt heran, und von dieser heiligen Stätte aus sind dann wieder seit einem Jahrtausend der ganzen Christen- und Menschheit unzählige Wohlthaten und Himmelsgnaden zugeflossen/' Es sollen periovenweise hier jährlich nicht weniger als 300,000 Pilgrime erschienen sein, und es fragt sich, ob demnach Einstedeln nicht von allen Wallfahrtsorten der europäischen Christenheit der allerbesuchteste ist. Nur Loretto in Italien und St. Iago in Spanien sollen noch mehr Pilgrime zu sich heranziehen als Einsiedeln. Die meisten von diesen kommen aus der Schweiz, aus den angränzenden deutschen Ländern Baden, 16" 370 äbda« Rm5l6Ien5!«. Würtemberg, Tyrol, dann aus Frankreich und zuletzt auch manche aus Italien. Man findet darunter alle Classen der Gesellschaft, auch manche durch höheren Rang und Bildung ausgezeichnete Personen. Die Aebte und Mönche sind also an den Zustanden in diesen Ländern immer fthr betheiligt und suchen dort stets einige Verbindungen aufrecht zu erhalten, um gelegentlich vielleicht auf Hindernisse, die sich dem fortlaufenden Strome der Pilgerfahrten entgegenstellen, hinwirken zu können. So sollten z. V. kürzlich in Würtemberg Verordnungen getroffen werden, um das Zuströmen der würtembergischen Unterthanen nach Maria Einsiedeln einigermaßen zu beschränken, weil sich die Ansicht verbreitet hatte, daß den Leuten dort nur Aberglaube in den Kopf gesetzt würde. Allein die Aebte hatten das Glück, daß der König von Würtemberg sie bei seiner Schweizer-reife besuchte, und cs gelang ihnen, ihn zu überzeugen, daß die Pilgrime in Einsiedeln weder Aberglauben noch sonst etwas Schädliches oder Unsittliches lernen, sondern sich dort nur christlich erbauen könnten. Dem Könige mit einem Worte gefiel der Ort, und so wurden jene Anordnungen zurückgenommen. Wie der Neotor ml>ssnMou8 die Oberaufsicht und Polizei über die ganze Stadt Orford hat. um dort Alles zum Zwecke der Beförderung der Studien der jungen Leute zu ordnen, so hat der ^bbu» Linsilllens!« auch hier Alles im Auge, übt eine öffentliche und geheime Polizei über den Flecken, der sich neben dem Kloster angelegt hat, über die zahlreichen Wirthshäuser, über die Wege und Straßen, die zum Kloster führen, und beachtet dann, wie gesagt, auch noch weiterhin die Vorgange in entfernten Landern und sucht sie so zu gestalten, daß alle Canale, die zum Kloster führen, immer offen bleiben, daß die Pilgerschaft stets im Gange erhalten, und daß nirgends der Welt ein Aergerniß gegeben werde. Pilgerfahrt nach Gwfiedeln. 37!. Wie die Mohammedaner wenigstens einmal in ihrem Leben nach Mekka wallfahrten müssen, so glauben auch die Einwohner der katholischen Schweiz und mancher Districte deutscher Länder, es fei ihnen die Wallfahrt nach Einstedeln eben so nöthig. Viele thun ein Gelübde, so oder so oft in ihrem Leben dahin zu pilgern. Der Kreuzgange oder Processionen ganzer Gemeinden oderPfarrelen nach Einsiedeln finden Hunderte im Lauft des Jahres Statt. Ehemals schickten zuweilen große Städte (z.B. einmal Basel), wenn sie durch Pestilenz oder Krieg in Bedrängniß kamen, ihre ganze Bürgerschaft mit sammt ihrem Magistrate nach Einsiedeln. Auch der Rath und Bürgermeister von Zürich ordnete einen alljährlichen Auszug der Bürgerschaft nach Einsiedeln an „zur Ehre des allmächtigen Gottes, semer „würdigen Mutter, der Jungfrau Maria, und des ganzen himmlischen Heeres und auch zum Trost aller christgläubigen Seelen, damit der ewige Gott uns, unsere Stadt Zürich und unsere „Landschaft ewig in seinem göttlichen Gnadenschutz habe, uns „verlye gut Wetter, behüte die Frucht und vor allem Uebel „uns beschirme." Ja, auch deutsche Kaiser (z. V. einmal Carl IV.) sind wohl in Begleitung vieler Fürsten und Bischöfe nach Vinsiedeln gepilgert. Zur Zeit der französischen Revolution war Ginsiedeln ein Sammelplatz für die französische hohe Geistlichkeit, wie es Coblenz für den Adel, die Herzöge und Fürsten war. Hier residirten der Primas von Frankreich, der Erzbischof von Paris und hunvert andere französische Geistliche. Da von hier eben so wie von Coblenz aus gegen Frankreich intriguirt wurde, so behandelten daher später die Franzofen, als sie 1798 in der Schweiz einrückten, das Kloster auch nicht glimpf-Nch. Die Conventualen wurden vertrieben, viele Reichthümer consiscirt und das tausend Jahre lang verehrte Marienbild (die Mönche sagen indeß: „nicht das rechte, ächte") nach Paris 372 Menge der Wallfahrer. geschickt. Später wurde Alles wieder, so gut es anging, in den alten Zustand gebracht. Nach einem Verzeichnisse über die in jedem Jahre ausgetheilten Communionen wahrend der letzten 20 Jahre, das ich habe, scheint es, daß die Zahl der Pilger bis auf unsere Zeit sich fast immer gleich geblieben ist. Sie schwankt nur zwischen 150,000 und 190,000. „Wahn und Täuschung," sagt dabei ein Einsiedelnscher Schriftsteller, „können unmöglich der Grund eines „so ausgebreiteten und fortdauernden Zutrauens der Völker gegen „unseren Onadenort sein. Wahn, Tauschung und Aberglaube „lösen sich in der Zeit selbst auf. Die Wallfahrten zu unserem „übergebenedeiten Gottesbilde dauern aber seit undenklichen Zei« „ten bis jetzt gleichmäßig fort. Es müssen doch wohl also die „Wallfahrer in Einsiedeln etwas erfahren und gefunden haben, „das sie zu dankbarer Ueberlieferung der Wohlthat vermochte „und in ihren Nachkommen ähnliches Zutrauen erzeugte, wo» „durch denn die Wallfahrt von den Vätern auf die Kinder durch „alle Geschlechter fortlebte. Das, was aber die Wallfahrer „aus allen Weltenden mit solcher Sehnsucht nach unserer Wald-„statt heranzieht, ist erstlich die Herrlichkeit deS Ziels, das hier „an Ort und Stelle so besonders wirksame Andenken au die hoch« „begnadigte Jungfrau und Mutter Gottes Maria, und dann „die Neise zu diesem schönen Ziele selbst. Die Entfernung von „der Heimath und den zerstreuenden Alltagsgeschäften, der ein-« „same und beschwerliche Weg, mancherlei kleine Vorfälle auf „der Reise, in denen die Vorsehung sich nicht unbezeugt läßt, „sind für den Wallfahrer außerordentliche Erweckungen und Gelegenheiten zum Nachdenken über sich und zur Fassung ernster „und heilsamer Entschlüsse. Es geht stinHaufttbeftreben bei der „langen Pilgerfahrt zu unseren Bergen hinauf dahin, sich zum „würdigen Empfange der Vuße, des heiligen Abendmahles und ^ Grweckung zur Andacht. Z7Z „zur reinen Anbetung der reinen Jungfrau von Einsiedeln zu be-„reiten. An Ort und Stelle wirken dann eben so wunderbar „erhebend der Anblick der herrlichen Wallfahrtskathedrale, der „feierliche Gottesdienst, die Gegenwart der zahllosen frommen „Pilger aus allen Weltenden, der ungewöhnliche Gewissensrath, „die vielen und wichtigen Erinnerungen, die sich an diesen gereihten Ort knüpfen, das ehrwürdige Alter der frommen „Stiftung, die sonderbare Erhaltung des Orts, vor Allem aber „die gleich in der Urzeit durch höhere Weihung allda beglaubigte, „wahrend Jahrhunderten immer gepflogene, durch unlaugbare „Wunder und besondere Gnadenbcweise bestätigte, von allen „weisen Mannern empfohlene und von zahllosen Menschen „geübte Verehrung und Anrufung der Mutter Gottes. Dieß „Alles muß nothwendig in redlichen Wallfahrern Innigkeit und „Vertrauen rege machen. Wer immer auch mit den mnerrn „Gesinnungen der Wallfahrer vertraut zu werden Gelegenheit „gehabt, kann es bezeugen, daß das Andenken an Maria und „das Zutrauen auf ihre Fürbitte oder Mitbitte kräftig wirkt und „den Glauben und die Hoffnung auf Gott machtig erhebet und „stärket. Es ist diese Wallfahrt und Anbetung eines jener Er-„weckungsmittel der Tugend und Frömmigkeit, deren die Vorsehung in der leblosen Natur, im Menschenleben und in den „äußeren Anstalten der Religion so viele gegeben hat. Immer» „hin aber bedarf der Mensch nach der Einrichtung seiner Natur „in Allem des Außerordentlichen zur Erweckung. Und wer „wollte laugnen, daß er dessen nicht eine große Fülle an unserem „Gnadenorte fände." Es sind beständig zahlreiche Schriftsteller in Einsiedeln thätig, den Pilgern erbauliche Predigten, fromme Lieder, Er« zählungen von der Stiftung des Klosters und von den dort geschehenen Wundern, Heilungen und Errettungen zu schreiben 374 Einsiedelnsche Literatur. und in die Hände zu spielen. Diese schriftstellerische Thätigkeit, diese höchst merkwürdige Literatur geht wohl zunächst von den Mönchen des Klosters selber aus. Dann aber giebt es in dem dasselbe umgebenden Flecken eine Anzahl von religiösen Vuchbin« dern und inspirirten Poeten anderer Art, welche den von den Mönchen dargebotenen Stoff wieder auf ihre Weise zurechtkneten und so eine Unzahl kleiner bedruckter Papierblättchen, Vrochür-chen und Vüchelchen zu Tage fordern. In der Umgebung des Klosters und insbesondere unter dem großen Porticus, der sich um den freien Platz vor der Kirche herumzieht, haben sie eine Reihe von Kaufladen etablirt, in denen sie die Producte ihrer frommen Muße und nebenher eine reiche Auswahl von hübschen Rosenkränzen aus venetianischen Glasperlen, von Kreuzen, Muttergottesbildern und Amuletten aller Art darbieten. Die Messe mit diesen Dingen dauert ununterbrochen das ganze Jahr fort und soll jährlich ein Capital von mehr als 200,000 Gulden umsetzen. Ich kaufte mir hier einen ganzen Haufen der sonderbarsten Curiositaten zusammen, die, wenn ich sie ohne Um< ständlichkeit beschreiben könnte, werkwürdige Documente für den Sinn und Geist dieses Wallfahrtsorts und für den Un^ sinn, der noch in den Köpfen der Lcute steckt, abgeben würden. Zur Probe will ich wenigstens eines beschreiben: M ist ein kleines Packetchen in der zierlichen Form eines Villetdout, das der Pilgrim in die Westentasche stecken kann. Auswärts ist ein Vjld der Einsiedelnsche», Mutter Gottes darauf geklebt. Wenn ich es aufmache, so finde ich das Papier in 9 Abtheilungen gefaltet. Auf der mittleren Abtheilung liegt ein papierner Deckel mit der heiligen Taube. Hebe ich diesen Deckel auf, so ist darunter als eigentlicher Kern des Ganzen ein kleines thöner« nes Miniaturbild der Mutter Maria mit einem ruthseidenen Vande angeklebt. Um sie herum liegen einige getrocknete schweizer Einsiedelnsche Amulette. 375 Alpenblumen. Auf den anderen Abtheilungen sind wieber kleine Nebenbilletdour eingeschachtelt und festgeklebt, die man alle besonders öffnen muß und deren jedes seine eigene kleine Überraschung birgt — das eine ein Pülverchen getrockneter und vermuthlich geweihter Krauter, das andere ein Paar aufs Gerathewohl gewählte Vibelverse, mit den Zeichen der vier Evangelisten zur Seite, das vierte ein Bild des sogenannten „glückseligen Hauskreuzes," das von oben bis unten mit lauter unverständlichen Zeichen und Buchstaben bemalt ist, das fünfte einen lateinischen Spruch, den der Schwarzwälder Pilgrim ebenso wenig verstehen kann wie der beßte Lateiner, z. V. so: In vii'tuto 1nW3 LiFni — Vil-i lNistra ot n moiko — Nontem 8anotgm llonorem Deo ?l>trino liborationom 8lme!a ^Anliul or» I>,'0 nol)l8. Das Oanze ist ein Gemisch von Sinn und Unsinn, von Bildern, Räthseln, Blume», Amuletten, wie es nach dem Glauben der Fabrikanten dieser Dinge dem Geschmacke und der Stimmung der Pilger angemessen ist. Bei der Lecture dieser Sprüche und bei der Untersuchung des Geistes dieser Elnsiedelnschen Wallfahrtsliteratur mußte ich oft des ?!>ilippu8 ^ui-LolusIIleopIil-aswsLombaslus?ai-aoLl8U3 gedenken, der hier in Einsiedelei geboren wurde und in der Nahe eine Zeit lang lebte und dessen Geist hier gewiß noch spukt. Auch die Dichter, sagte ich, haben sich herbeigelassen, allerlei Verse zum Frommen der Pilger zu schmieden und dabei auf alle Falle, Verhältnisse und Umstände, in die ein Einsiedelnscher Wallfahrer kommen kann, Bedacht zu nehmen. Sie haben „Grußlieder an die gebenedeite Jungfrau bei der Ankunft in Einsiedeln," „fromme Lieder, während der Anwesenheit in Ginsiedcln zu singen," „Rcise-lieder während der Pilgerfahrt" und „Abschiedslieder von der wunderthätigen Mutter Gottes." Diese Lieder, welche sich an In virtute hiijus signi — Viri silistra et a morbo — Mentem Sanctam Honorem Deo Patriac liberationem Sancta Agalha ora pro nobis. Das Oanze ist ein Gemisch von Sinn und Unsinn, von Bildern, Räthseln, Blume», Amuletten, wie es nach dem Glauben der Fabrikanten dieser Dinge dem Geschmacke und der Stimmung der Pilger angemessen ist. Bei der Lecture dieser Sprüche und bei der Untersuchung des Geistes dieser Elnsiedelnschen Wallfahrtsliteratur mußte ich oft des ?!>ilippu8 ^ui-LolusIIleopIil-astusLombaslus?ai-aoLl8U3 gedenken, der hier in Einsiedeln geboren wurde und in der Nahe eine Zeit lang lebte und dessen Geist hier gewiß noch spukt. Auch die Dichter, sagte ich, haben sich herbeigelassen, allerlei Verse zum Frommen der Pilger zu schmieden und dabei auf alle Falle, Verhältnisse und Umstände, in die ein Einsiedelnscher Wallfahrer kommen kann, Bedacht zu nehmen. Sie haben „Grußlieder an die gebenedeite Jungfrau bei der Ankunft in Einsiedeln," „fromme Lieder, während der Anwesenheit in Ginsiedcln zu singen," „Rcise-lieder während der Pilgerfahrt" und „Abschiedslieder von der wunderthätigen Mutter Gottes." Diese Lieder, welche sich an 376 Einsiedelnsche Poesie. die Mutter Gottes selber richten, klingen fast alle wie Herzens-ergüsse von Verliebten: Schau', Maria'. Mutter meln, Laß mich Dir befohlen sein. Ach, es muß geschieden sein Von Dir und Deinem Kindelcin! O Du gnadenreiches Vild! O Maria! Mutter mild! Ach wie schwer scheid' ich von Dir! Ach wle gerne blieb' ich hier. Meine Zunge ist zu schwer. Meine Augen sind voll Zährn. Nicht mehr hell ist meine Stimm', Gute Nacht, ich Urlaub nimm. Niemand glaubt's, o liebes Kind! Was ich in meiner Seel' empfind' Für Betrübniß und Verdruß, Weil ich von Dir scheiden muß. Vale ist ein schmerzlich's Wort, Nach dem Vale geht man fort. Vale! Vale! tausend Mal, Vale! Vale! ohne Zahl. Mit einigen Modifikationen könnte Shakespeare ei» solches Lied auch den Romeo beim Abschiede von seiner Julie haben sprechen lassen. Doch führe ich diese Lieder nicht an, um sie lächerlich zu machen, sondern um dem Leser die eigenthümliche Stimmung und Geistesverfassung anzudeuten, in der sich vielhundert-tausend nach Ginsiedeln Pilgernde Menschen befinden, und die jene Dichtungen sehr gut aussprechen. Auch die mohammedanischen Pilger nach Mekka tragen sich mit kleinen beschriebenen Wundcrthaten der Mutter Maria. 377 Zetteln herum, in denen vom Propheten auf ganz ähnliche Weise gesprochen wird. Nur gehen dabei die Mohammedaner noch genauer auf die Physiognomie, die Augen, die Farbe der Haare, die blendende Weiße seiner Zähne, die Korallen seiner Lippen, die Schönheit seines Bartes ein, was sie Alles mit Worten um so genauer beschreiben, da sie es dem Gebote des Korans gemäß bildlich nicht darstellen dürfen. Es wäre wohl interessant, auch die Kloster--, Tempel- und Pilgerfahrtsliteracur der indischen Wallfahrtsorte und der tibetanischen Klöster zu vergleichen. Eben so interessant für den Geist der Religion und des Glaubens des Volks sind die zahllosen Votivtafeln, die in der Kirche selbst aufgehängt und mit denen die Wände zu den Seiten der Eingangsthüren ganz bedeckt sind. Vei ihrer Lecture fand ich, daß keine Art von Noth und Unglück auszudenken ist, das nicht durch die Fürbitte der Himmelskönigin ein Ende erreicht hätte. Die ganze Natur, alle Elemente und alle bösen Geister scheinen ihr zu gehorchen. Sie errettet aus den Händen der Raubmörder, sie macht Blinde sehend und Lahme gehend. Sie heilt die Pestkranken und schützt selbst das Vieh vor Viehseuchen. Sie errettet aus Wassersnöthen und nimmt unter ihre Obhut die Hütte des Armen in Lawinengefahr. Durch sie warb die Schlacht von Villmergen gewonnen, und sie gab den Katholischen den Sieg bei Cappeln. Sie bekehrt die Sünder, erleuchtet sie auf eine ganz plötzliche und wunderbare Weise und entreißt sie „dem Rachen des brüllenden Löwen." Auf ihre Fürbitte werden die Feuersbrünste gedämpft und den Stummen die Zungen gelöst. Die unheilbarsten Kranken erhielten durch ihre Gnade die Gesundheit wieder. Sie deckt ihren Schutzmantel über die Mühle des „Xaver Schmidt von Schlettstadt," so daß mitten in der Schlachtdie Haubitzen und Kugeln ohne Schädigung darüber wegfahren. Sie heilt die „Ursula Feriol aus Nouge- 378 Die Pilgnme. „mont, Departement du Doubs, von den schmerzlichsten Zuckungen „und Krampfen, die sie Jahre lang Tag und Nacht Plagten, ,,und macht dabei das Wort des heiligen Cyprianus wahr, der „da spricht: „Diejenigen haben Zutritt zu dem Herrn und Könige, „deren sich die Mutter annimmt." Eie heilt auch den „Johann Seidel von seinem Magenübel/' von dem er so sehr geplagt war, daß er weder Speis, noch Trank zu sich nehmen konnte, und der „nun zur Beförderung derAndacht und zur Verherrlichung ihres Namens" und als ein Denkmcll,,seiner wunderthatigen Erhörung" und „seiner innigsten Dankbarkeit" diese kleine Tafel hier aufhängt. Der Psycholog wie der Aesthetiker können an diesen mit Votivtafeln bedeckten Wanden eine reiche Aernte machen. Weit größere Theilnahme erregen noch die Pilgrime und ihre Aeußerungen und Gespräche selbst, die Innigkeit ihrer stillen und mit vielen Seufzern unterbrochenen Gebete vor allen zahlreichen Altären der Kirche und namentlich vor der mittleren Marmorcapelle, aus welcher das schwarze, gefirniste Bild der Mutter von Einsiedeln auö reichen« Gold-, Edelstein- und Lampenschimmer mysteriös hervorblickt, die ehrerbietige Frömmigkeit, mit der sie sich dem Gotteshause nahen, ihre langsamen, unsicheren und scheuen Schritte, mit denen sie auf der Treppe zur Kirche emporschreiten, die Gewissenhaftigkeit, mit der sie, den heiligen Brunnen vor der Kirche umwandelnd, aus jeder seiner 14 Quellen trinken. „So gewissenhaft aber," bemerkte mir ein Bewohner EinsiedelnZ dazu, „sind hier immer „nur „die weiten Leute," die aus Deutschland oder Frankreich kommen. Die Schweizer trinken von diesen Quellen nicht/' Es war jetzt noch nicht die Hauptsaison der Pilgerfahrt eingetreten, und ich konnte daher jedem der einzeln herbeischleichenden Frommen mehr Aufmerksamkeit widmen. Die meisten schleppen ihren beßten Festtagsstaat hundert Meilen weit mit her und Prasentiren Wahl des Abtes. 379 sich dann in der ganzen Pracht desNationalcostüms ihres DorfeS. Man kennt hier in Einsiedeln daher einen guten Theil derCostüme des südlichen Deutschlands, des östlichen Frankreichs und der mittleren Alpen. Die Heiligenbilderkrämer vermochten mir jede Landsmannschaft anzugeben. Ich könnte daher einem Costum-maler, der für die bezeichnete Gegend Europa's Sammlungen machen wollte, gar nichts VessereS rathen, als daß er sich auf einige Monate in Einsiedeln ftire. (5r könnte nirgendswo ein so vollständiges Album über die Costume der bezeichneten Gegend Europa's anlegen und füllen wie hier. Die Venedictiner von Einsiedeln hatten sich vor einigen Monaten einen neuen Abt gewählt, da sie den alten durch den Tod verloren. Vei einer solchen Nahl geht es ähnlich her wie bei einer Papstwahl. Auch schließen sich während der Dauer derselben die Mönche ganz von der Außenwelt in einer Art Conclave ab. Ebenso finden sonst noch einige Ceremonien bei der Eröffnung des Wahlresultats und der Erklärung des Gewählten an das Volk des Thales statt. Doch kommen jährlich mehr und mehr dieser Ceremonieen in Wegfall. So hatten bei dieser letzten Wahl die Landammanner und Herren des Cantons Schwyz, als sie der Sit'n dcn vereinigten Staaten von Nordamerika, mit vergleichenden Blicken auf das englische und französische Untersuchungsverfahren von Dr. O. Th. Tittmann. gr. 8. broch. I Thlr. Neise zu Lande um die Welt in den Jahren l 8 4 l und 1842. Von Georg Simpson, Ober Mlc.jico. Nach dem Tagcbnche des Amerikaners Iostas Gregg bearbeitet von M. D. Lindau. Zweite Ausstab e. 2 Theile. Mit Titelkupfern nnd Karten. ». broch. 2 Thlv. Wilde Scenen in Wald und Prairie mit Skizzen amerikanischen Lebens. Aus dem Englischen des AmeriklNicvs Charles Fcnow Hoffmann von Fr. Gerftiicker. 2 Vändc. !'.'. I'i-och, 2 Thlr. O:. Büchner, die Auswanderung und Insicdclmig ill vereinigten Colomccn für Bemittelte und Ulldemitlelle, oder praktische Andeutungen. U'ie die Auswanderung am zweckmaßiss? sten gercgett, die Beschaffung der nöthigen Mittel für Unbemittelte erreicht, überhaupt der beste Erfolg für solche gesichert werben kann. Mit einem Grundriß/ ». broch. I« Ngr. H. W. Haystarth, Buschleben in 3lustralien. Aus dem Englischen von M. D. Lindau «, l'loch. l !ihlr. lü Nssr. Truck bcr Tcui'iicr'schcu Ofiüzin in Tresden.