V^^F/, Alpenreisen von I G. K o h l. Dritter Theil. Leipzig, Arnold« sche V ll ch h andl u n g. «851. Alpenreisen. Alpenreisen von A V. Kohl. Dritter Theil. Leipzig, Arnoldische Buchhandlung. 1851. Naturansichten aus den Alpen. Bon I. V. Kohl. Leipzig, Arnoldische Buchhandlung. Inhalt. Seite. i. Die Schneedecke in den Alpen...... < Die eigenthümliche Gestaltung der Alpen in Bezug auf Schnee- und Eisbildung. — Sommerschnee. — Das Einschneien der Thäler. — Stufen und Grade desselben. — Keine ununterbrochene Schneedecke in den Alpen. — Oasen im Schneeoceane. — Verschiedene Tiefe und Zunahme der Schneedecke. — Einwirkung des Windes auf die Schnecbildung, — Schneegcsimse und Schneebrücken. — „Schneewechten" und „Fohnen-fchilde." — Metamorphosen der Schneedecke. — Wichtigkeit der verschiedenen Zustände des Schnees, — Herstellung und Zerstörung der Schneedecke. — Verdunstung der Schneekrystalle. — Schneeschmelzung. — Pflanzenwuchs vor Vollendung der Schneeschmelze, — Schneeinseln und Grasoasen, — Unwegsamkcit der Gebirge zur Zeit der Schneeschmelze. —Zerbröckeln, Zusammenbrechen und Abfall der Schneedecke. II. Die Lawinen............ 20 Falsche Vorstellung von der Entstehung der Lawinen. — Ursachen deS Schneeabfalls. — Verschiedene Arten der VIII Inhalt. Seite. Lawinen. -^ Staub- oder Sturzlawinen. — Lawinenstürme. — Gefahren und TodeSarten in Folge von Staublawinen. — Grund- oder Rutschlawincu, — „Schlipfe." — Entstehung der Grundlawineu. — Vrüche, Brandungen und Wellenschläge derselben.— „Lawinenzüge." — Die beiden Hauptpunkte der Lawinengefahr. — Negelmaßigknt der Lawinen, — Eigennamen von Lawinen, Jahreszeit des Lawinenfalls, — ,,Lawinen-sorge." — Mächtigkeit der Lawinen, — Tageszeit des Lawinenfalls. — Sturz- und Fallphänomeue bei den Lawinen. — Verwüstungen der Lawmen. — Lawinen-dunner. — Lawinen-Scala, — Gis- lind Gletscher-lawmen. ^- Verwüstungen durch Glctschcrlawinen. — „Gisschlag." — Eisguirlauden und Visstalaltiten, — Eisberge bei Wasserfällen. — Schutzmittel gegen die Lawinen. — Bannwälder. — Nebelsiandc bei denselben, — Einzelne Bäume als Schuh gegen Lawinen. — Gleichgültigkeit der Nlpenbewohner gegen die Lawinengefahr. '— Das Pittoreske der Lawinen. — Anblick einer Staublawine. — Anblick einer Grundlawine, — Malerische Effecte der Lawinenverwüstnng. -Herabgestürzte und vielfach zerbrochene Baumstämme. — Phantastische Gestalten der Schneemassen. — Die Schneehöhltn der Verggcwässer, — Nechtsstreitigkeiten in Fulge von Lawinenverwüstungen. III. Die Gletscher........... 58 Verschiedener Gebrauch des Wortes „Gletscher/' — Mittel- und Ausgangspunkt der Gletschcrbeobachtung. — Zunahme des Glttscherstudiums. — klanwßnc!« moul,onn6V8. — Urschrammcn, Nsschriftzeichen. — Die Agassiz'sche Gletscherhypothese. - Agassiz's Gletscher-Observatorium. — Die Gletscherwissenschaft noch in den Kinderschuhen. — Die Frage wegen der Po-lirfähtgkeit der Gletscher. ^- Die Grdwärme und die Gletscher, — Der Zustand der Gletscher in den verschiedenen Jahreszeiten. — Grade der Schmelzbarkeit des Gletschereises. — Schnecmeere. — Gwiges Gis eine poetische Floskel, — Eisbildung aus Schnee, — Schneeeis im Gegensatze ;u See- undFlußeis. — Stufenleiter des Gletschereises. — Nertheilung der verschiedenen Schnee- und Eisarten. — Abbrechen und Inhalt. ix Seite. Herabstürzen des Gletschereises. — Parallele zwischen den Gletscherstrbmen und den Flüssen, — Die Wasserfalle nnd die Gletschcrrascaben. — Glctscherlöcher. — Schnelligkeit des Laufs der Flüsse und der Eis-ströme. — Regelmäßigkeit der Gletscherbewegunq. — Bewegung der Gletscher im Sommer und im Winter. — Fluß- und Gletscherquellen. — Haupt- und Nebenflüsse, Haupt- und Nebengletscher. — Moränen. — Vcntralmoräncn. — Spaltungen der Gletscher-strdme. — Gravitationstheorie der Gletscher, — Dilatationstheorie der Gletscher, —- Plasticitäts- oder Duc-tilitätstheoric der Gletscher. — Combination der Gletschertheorien. — Das von den Gletschern fortgeführte Bergmatenal. — Seiten- und Ccntralmoränen. — Oletschertische, — Wiedercrscheinen von in die Gletscher hineingefallenen Gegenständen, — Reinheit und Klarheit des Gletschereises. — Front-Moränen. ^ Zu- und Abnehmen der Gletscher. — Einwirkung der Gletscher auf den Thalboden. — Stcmzerreibung. — Gletscherhöhlcn. — Eisgänge. — Karrenfelder. — Wunderliche Cisgestaltungen. — Eigenthümliche Farbe des Gletschereises. — Wmtergäste unter Frühlings-kindern. — Die Gletscher und das Menschenleben — Der Gletscher Kindheit und Jugend. — Sorgen und Mühen im Gletscherleben. — Zertrennung und Rc-conftiuiiling. — Ende des Gletschers. IV. Die Alpenseen...........109 Das Becken- und Kesselnetz ocr Alpen. — Immer noch fortschreitende Verkleinerung der Alpenseeen. — Die Schweizer Sceen »qilgo inoaßmw«. — Periodische Anschwellungen der Seccn, — Temperatur der Seeen. — Fischwanderungen. — Die physikalische Beschaffenheit der Naturgegenstände und die Aesthetik, — Die Nuhe der Alpenscecn. — Contrast des Ebenen und des Zerfurchten, — Berg und See, Mann und Geliebte. — Die Spiele und Kämpfe des Windes über den Sceen. — Die Bergseeen und der Ocean. — Die Alpenseeen die Kehrichtmagazine der Alpen, — Schmuzstreifen.— Milchweiße, grüne und blaueSeeen. — DaS Blau der Sceen und das Blau dcs Himmels. — Die Farben-Nuancirungen der Nlpenseeen. -Nebelschichten. — Schneegestöber. — Der ästhetische Werth der Bergseeen von der Höhe ihrer Lage ab- X Inhalt. Seite. hängig. Gletscherseeen. — Die Pnnschlwwlen der Ncrqriestn. — „Todter See," „Herensee," „Moossee." — Die einsamen kleinen Hochseem, — Die „Wald-seeen." — Ernster und wilder Charakter derselben. — Ihre Wasserfalle. — Ihre Fischer- und Hüttendörfer. — Die größeren Alpeuseeeu und ihre Ufer. — Die Seeen die Gammel- und Ausgangspunkte der Vegetativ, - Die Schlösser. Villen, Dörfer, Städte der Secnfer. — Individueller Charakter der Seeen. — Charakter des Garda- und dee Oenfersees. — Verschiedenheit der Seeufer nach ihrer Himmelsrichtung. — Kein Alpeusee dem anderen gleich V. Die Luftströmungen in den Alpen . . . 1i2 Sichtbarwerden der Luft in den Winden. -^ Verbind«-ung der Welttheile durch die Winde. — Die großartigsten Vewcguugsphänomene des Erdballs. — Einförmige Luftbewegungen in den Ebenen, — Concentric ung der Luftströmungen in den Gebirgen. — Tägliche Winde in den Bergen. — Entgegengesetzte Nacht-nnd Tagwinde. — Thalwinde. — Die Ora unv die Breva. — Luftriesel au den Wänden der Thäler. — Metscherluft. — Glctschcrbise. — Gletschergebläse. — Luftstöße der Lawinen, — Unaufhörliche Winde in den Pässen. — Windstille Kessel. — Die Berg-spitzen als Windleuker. — Obere und untere Winde. — Winde mit veränderter Richtung. — Längen- und Seitenwinde der Thäler. — Spaltung der Luftströme durch Felsenvorsprünge. — Windvereinigungen. — Ginfluß constanter Luftströmungen auf Klima und Vegetation. — Die Luftströmungen mit den Wasserbewegungen verglichen. —Thalabwärts streichende Winde heftiger als thalaufwärts wehende. — HerrschendeNiude in der Lombardei, im Rhonethal und im Vecken der schweizerischen Ebene. — Aufgehen localcr Luftströmungen in den allgemeinen, — ,,Ioran" und „Vife," Brcva" und „Tramoutana," — Die Wüste Sahra, Sibirien und der atlantische Ocean als Quellen großer Luftströme. — Die Alpen als ceuttaler Damm gcgcn die Wiude. — Die Alpeu der Vereinigungspunkt großer Luftströmungen, — Vorherrschen der Querwinde bei Gebirgsrücken. — Ueberwiegcn des Nord- und Südwinds in den Alpen, — Die Bise und der Föhn. — ..Gletscherbise" und „schwarze Bise." — Der „kalte Inhalt. Xl Seite. Föhn." — Der „Geistödter." — Wolkenbildung beim Zusammentreffen von Föhn und Bise. — Wolkenbänke, Wolkenhauben, Wolkenmäntel, Wolkenspiele. — Der Föhn ub der Vise. — „Der Föhn fömmt nicht ahi." — Stärke und Heftigkeit des Föhns. - Die Fbhnwäch-ter. — „Der Föhn hat aufgeschunt." — Die Föhn-schütte, — Der „Dimmcrföhn" und der,.helle Föhn," — Bestäubung der Alpcngipfel durch den Föhn, — Der Föhn als Wohlthäter der Gebirge, als Schnee-und Mszerstörer. — Kolgen unzeitigen Eintreffens des Föhns. — Vernichtung der Obstblüthen, — Der Föhn als Traubenreifer, Frühlingsbote, Vlüthentrei-ber. — Einwirkung des Föhns auf die Thierwelt. — Die Thiere verkünden des Föhns Ankunft. — Gin-ftuß des Föhns auf den Organismus des Menschen. — Sehr weit verbreitete Föhnstürme, — Der Föhn und der Sturm in der politischeu Welt Europas. VI. Das Reich der Töne in den Alpen ... 194 Die Stille der Ebenen. — Lärm in den Gebirgen, --Das geschwatzige Nasser. — Plätschern und Rauschen der Bäche und Eascadcn. — Lärmen und Ve^ wegung im Frühling. — Die polternden und donnernden Lawinen, — Eigenthümliches Brausen in den Thälern vor einem Sturme. — Gehcimnißvolle Töne in dm Felsspalten und Höbleu. — Schweigsamkeit der Thierwelt in den Alpen. — Die Cuadeu, Grillen und Heuschrecken. — Das Jodeln. — Der Kuhreigen. — Das Alpenhorn. — Das Rinderglucken-gelänte. — Abnahme der Starke der Töne mit der Höhe der Berge. — Abschwächung des Donners auf den Alpengipfeln, — Lautlose Stille auf den höchsten Alpenhöhcn. VII. Der Gang der Sonne und des Mondes in den Alpen...........209 Gleichmäßige Beleuchtung der Ebenen. — Mischung kräftiger Lichter und Schatten in den Bergen. — Licht- und Schattenseite der Alpen. — Contrast der Licht- und Schattenseite der Berge. — Dauer des Sonnenscheins in den Thälern und Bergen. — Die lichten Höhen. — Ewige Schatten. — Mittagsund Abendhörner, — Bergpfeiler als Sonnenuhren. XU Inhalt. eite. — Sonnen- und Lichtpforten. — Doppelte Tage. — Schicksale der Sonne auf ihrer Wanderung in den Bergen. — Der Mondschein in den höheren Regionen. — Sonne nnd Mond bei den Dichtern und Malern. — Lichtergüsse und Lichtstrahlungen iu den Gebirgen. — Lichtseecn nnd Lichtcaseaden. — Lichtreflere. — In-dividualistruug der Schatten in den Gebirgen. VIII. Die Farben der Felsen.......228 Farbenpracht der Mineralien. - Transparenz der Gesteine. — In Dunkelheit verborgene Farbcnstosse. — Gluth und Frische der Farben im Innern der Erde. Verwischung derselben anf der Oberfläche. — Frisch» gefärbte Felsenbruche. — Dunkle Wände. — Schwarze Felse». — Blaue Felsen, — Gestreifte Bergabhange. — Nach ihrer Farbe benannte Verge. — Veränderung der Farben der Felsen durch die Lust. IX. Veredelung auf den Höhen......239 Die gepriesenen Futterträuter der Alpen. — Der Honig der Höhen feiner als der der Thäler. — Die Iirbelnußtanne und die Lärche. — „Vergpserde" und ,.Bergrinder." — „Gratthiere" und „Waldtbiere." — Der Steiubvck. — Der Königsadler. ^ Die Fische der Hochseeen. — Auf den Höhen wenig Krankheiten. — Ueberlegenhcit der Bergbewohner über die Thalleute. — Hausindustrie, Frömmigkeit, Eittciircinheit und Freihtitsliebe der Gebirgsbewohner. - Die Veredelungsfähigkeit der Luft auf den Höhen. - Licht und Elektricität in den oberen Regionen. X. Das Bild der Zertrümmerung des Berggebäudes in den Alpen......'.249 Zertrümmerung von Anfaug nn. — Urtrümmer uud späterer Bergschutt. — Einstmaliges gänzliches Verschwinden der Alpen. — Die an der Zertrümmerung der Gebirge arbeitenden Gewalten. — Erdbeben in den Alpen! — Einwirkungen des Lichts. — Einwirkungen des Donners, -^ Ginftuß oer Temveraturver-ändenmgen. — Mechanische und chemische Einwirkungen der Luft. — Heftige und plötzliche Wirkungen des Nassers. — Wirkungen von Schnee und Eis und Inhalt. xill Seite. der Lawinen, — Die 'Steinabsprengungm der kleinen Gskeile. — Die Abzugsfanale des Bergkehrichts. — Die Sansragcn. — Olebirgezerstörenber Einfluß der Pflanzen. — Die Wirksamkeit der Menschen bei der Zertrümmerung der Alpen. — Die durch die Berg-zertrümmenmg hervorgebrachten Scenen. — Die Quellen der Trümmerergüsse. — Trümmerwüsteneien. — Trümmerumgebene Hochalpensecen. — Die Betten der Berggewässer. — Nischen und Grotten der Wildbachbetten. — Wanderung der Felsblocke. — Die Steindämme der niederen Thäler. — Gewalt der angeschwollenen Bergströme. — Erdbrüche. — Staub-, Sand- und Schuttausströmungen. — Bergstürze. — Die Vorboten derselben. — Lange Vorbereitungen, plötzliche Uusbrüche. — Bergsturz-Phänomene. — Wett Weggeschleuberte Felsblöcke, — Ueberschwemm-ungen die gewöhnlichen Begleiter der Bergstürze. — Wieder angebaute und besiedelte Bergstürze. — Die Blockgemäuer und ihre Namen. — Verderblichkeit der Bergstürze für den Menschen und seine Werke. — Unglucksfälle in Folge von Bergstürzen. — Die Schutthalden. — Schwierigkeit ihrer Besteigung. — Die Steinbrocken der Alpenwiesen. —Verwüstungen der Steinfälle in den Walbregionen. — Steinstraßen durch Walbungen. — Die Zerstörungen der Bergstrome in den ebenen Thälern. — Von Blöcken umringte Bäume und Erdsseckchen. — Die Lichtseite der Bergtrümmer. — Die Bildung der Schutthalden. — Bebauung und Vefiebelung der Schuttberge. ^ Langsames Verwittern der Alpen. — Verschiedene Schnelligkeit der Verwitterung. — Die Uralpen leichter verwitternd als die Kalkalpen, und diese wieder leichter verwitternd als die Vorberge. — Die Perioden der Verwitterung. — Blick in die Zukunft der Alpen. XI. Die Mythen der Alpen...... . 297 Die Mythen und Sagen meistens durch Naturphänomene hervorgerufen. — Die Berggipfel die Vermittler zwischen Göttern u. Menschen. — Die Gipfel der Schauplatz der meisten griechischen und indischen Mythen. — Die Berge den Menschen heilig. —Dürftigkeit der Mythologie der Alpen. — Sagenlose Urzeit derselben. — Die Alpen kein Ausgangspunkt eines Neligwnscul-tus. — Hncules Grajus. — Der reiche poetische XIV Inhalt. Seite. Stoff oer Alpen unbenutzt geblieben. — Steincultus der Alten. — Keine Steinmetamorphosen, keine personisicir-ten Nerze in den Alpen. — Contrast der Natur mid der Mythen in Griechenland nnd den Alpen. — Ursachen der Dürftigkeit der Alpenmythen. — Erzreiche Gebirge sagenreicher als crzarme. — Spuren von Sonnendienst in den Nlpen. — Gletschcimythcn. — Die Sage vo,n Glärnischhirten. — Die Blümlisal-pen. —Das verlorene Paradies in den Alpen. — Das goldene Zeitalter der Hirten. — Die Vorstellungen der Hölle bei den verschiedenen Völkern. ^ Dante's Gishölte nnd die Gishöllen der Alpen. — Die Hül-lenthäler. — Metscherdanaiden. — Alpinischcr Tan-talus. —- Die Drachen der Alpen. Der Stollenwurm der Alpen verglichen mit dem Carbunculo der indischen Nndcnbewohncr. — LawincnlcitendeBerggeister. Thorspaltende Vergricsen. - Thor mit seinem Hammer, Roland mit seinein Schwerte und Hercules mit seiner Keule. — „Teufelskarrwcg." — Die Iwergbevölkcrung des Gebirgsinnern. — „Berg-männli" und „Bergwibli." — „Iwerggeschmeide." — Die fahrenden Schüler aus Venedig. — Verdrängung der guten Naturgeister durch das Christenthum. — Al-penüngethümc. — Wasscrgcspcnster, — Der „Hakenmann." — Die Alpen ohne Schwindclgottheiten, — Die Verwitterung der Alpen als Bildnerin kolossaler Felsensigurcn. — Sagen von der Zauberkraft gewisser Thiere. — Unglück verkündende Vögel. — Der böse Hirte und die wilde Heerde. — Nolle der Berg. gipsel in den christlichen Legenden. — Christliche Pilgerfahrten zu den Alpenthälcrn. — Mythische und bildliche Vorstellungen von Natntphänomcncn der Redeweise der Aelpler zu Grunde liegend, -- Hin-deutungm auf die Geisterlehre der Alchymisten in Bezug auf die Alpenmythen. , Xll. Miscellen. 1) Fernansichten dcr Alpen......3ä2 Die Berge als Wegweiser und Wetterpropheten. — Die Berge die Beherrscher weiter Gebiete. — Beschränkung des Gesichtskreises der Alpen. — Ausdehnung desselben. — Die Ansichten der Berge und ihre Eindrücke.— Isolirter Anblick einzelner Vergkcgel. — Anblick ganzer Bergketten. — Anblick der Berge ans Inhalt. xv Seite. der Vogclperspective. — Die richtigen Standpunkte zu Ueberschauung dcr Berge. — Der Jura der günstigste Ansichtsftunkt der Alpen. — Künstlich errichtete Aussichtspunkte. 2) Der Mensch und sein Wirken in der Alpenlandschaft.........^,2 Die Staffage dcr Landschaft- und Blumenmaler. — Die Bedeutung der Nebendinge in Kunstwerken. — Der Mensch der einzige Gegenstand in der Natur, der keiner Staffage bedarf. — Der Mensch der wahre Arzt der Natur. — Die Menschenwerke das Salz und die Würze der Natur. - Das Ringen des Menschen mit der Natur. 3) Die Zeitalter in den Bergen . . . , 37N Respectables Alter der Stoffe in den Ebenen. — Maßstäbe zur Chronometrie der Alpen. — Von Flüssen aus-gegrabene tiefe Schluchten. — Unermeßliches Schalten und Walten der Ieit, — Chronologie der Erd-bildungscpochen. — Leises und allmaliges Schaffen der Natur. Langsames Erwachsen der Berge. 5) Was die Natur nicht geleistet hat . . 371 Uebertriebeue Vorstellungen und Enttäuschung. — Diese Täuschung findet nur bei dem Kolossalen statt, nicht bei dem Lieblichen und Anmuthigen. —> Unsere Giu° bildnngen gegenüber drr Wirklichkeit. — Die Neulinge in den Bergen. — Gewöhnung an richtige Beurtheilung der Größenverhältnisse. — Alle Nature schilderungen bleiben hinter der Wirklichkeit zurück. — Die Tunnels und Höhlen der Alpen nichl lang und tief genug. — Die Wasserfalle zu niedrig und zu wasserarm. — Versänmte Gelegenheiten zu nnposan^ ten Caseaden. — Die Felswände nicht steil, die Klüfte nicht schroff und furchtbar genug. — Die Berge nur Variationen auf die Gestalt einer Pyramide. 8) Eine Lawinenschü'tte.......387 Die Lawinenschneekegcl. — Die Eishöhle. — Glet-schereisstücke im Lawinenschnee. — Der herabstürzende Eissplitter. — Bildung der Eishöhlen. — Die GiS-wan'oe der Höhle. — Die Schichtung der Eismasse. 6) Die Gemsen...........394 „Die.Thierle." — Verbreitung und Häufigkeit der XVI Inhalt. Seite. Gemsen. — Die „Gratthiere" und die „Waldthiere." — Bastarde von Ziegen und Gemsen. — Menschen-schen der Gratthiere. — Beschleichung der Gemsen. — Die Gemsziegen vorsichtiger als dieGemsböcke. — Die „Führgeis." — Elasticität der Gemsen. — Schwerfälligkeit derselben auf ebenem Boden. — Gemsen und Hunde. — Kriegslisten der Gemsjäger. — Das Trinken von Gemsblut. — Feinde der Gemsen. — Die Gemscnlager unter den Schirmtannen. — Verhungerte Gemsen. — Der Pelz der Gemsen im Sommer u»d im Winter, — Liebe der Kälte und der frischen Luft bei den Gemsen. — Seltenheit der Gemsen in der Gefangenschaft. — Die Gemsenkiinde ein noch unerschöpftes Thema. I. Die Schneedecke in den Alpen. Auf einem bestimmten Erdflecke fallen die atmosphärischen Niederschläge desto häufiger als feste Eiökrvstalle oder als Schneeflocken zu Boden, je höher dieser Erdflcck in der Atmosphäre emporragt, und je entfernter er zugleich vom Aequator ist. Da die Alpen ein Gebirgsland darstellen, das ziemlich weit in die gemäßigte Zone hinauftagt und zugleich in der Atmosphäre bedeutend hoch emporsteigt, so ist der Eisniedcrschlag in ihnen eiue sehr gewöhnliche Erscheinung, und alle Phänomene, welche als Folge eines so beschaffenen Niederschlagt betrachtet werden können, die beschneiten Bergpyramiden, die Schneestürme, die Echncefclder, die Gletscher-bildung, die Lawinen :c. !c., sind daher in den Alpen be» sonders einflnßreich. Da ein häufiger Wechsel der Temperatur das Schmelzen nnd Abfallen sowohl als auch das Umbilden des Schnees zu Eis befördert, nnd da die Alpen als ein an der Gränze eines kalten und eines warmen Landes, Deutsch» lands und Italiens, von Westen nach Osten gestrecktes Gebirge einem solchen Wechsel in hohem Grade ausgesetzt sind, so zeigt sich auch hieraus, wie groß die Rolle sein muß, welche Schnee und Eis in ihnen spielen. «olil, Alpenreisen. >ll. j 2 Die eigenthümliche Gestaltung d. Alpen in Vezug aufSchnee u.llis. Auch die eigenthümlichen Gestaltungen des Felsgebäudes in den Alpen, die tief sich hcrabsenkendcn Einschnitte in den Bcrgmanern, befördern die Anhäufung von Schnee und Eis. Die Pyrenäeen liegen zwar mit den Alpen ungefähr in derselben Zone, erstrecken sich auch wie sie von Westen nach Osten, allein sie sind bedeutend niedriger und also keinem so großen Schneefalle ausgesetzt. Die skandinavischen Alpen steigen von Süden nach Norden und erdulden daher keine so großen der Bildung der Schnee- und Eisphänomene günstige Temperaturwechsel. Die Anden in Süd-Amerika gehen ebenfalls von Norden nach Süden und haben zudem häufiger als die Alpen ebene Hochplateaus, auf denen Schnee und Eis sich nicht so leicht erhalten können, wie in den Eiskellern, welche sich in den tiefen Schluchten der Alpen darbieten. — Dasjenige Gebirge, welches sich in Bezug auf Großartigkeit und Reichthum an Eisphanomcncn den Alpen an die Seite stellen läßt, ist der Hnnclajah in Ostindien, der überhaupt anch sonst noch vielfache Gelegenheit zu Vergleichnng mit den Alpen darbietet. Jedes Jahr bildet sich ein großer Schneeteppich über alle Gipfel und Thäler der Alpen hin, und jedes Jahr wird dieser Teppich von der Sonne und den Winden wieder zerrissen und bis auf einige Neste völlig aufgelöst. Bestaudia, zerbröckelt er in den Lawinen, und beständig spinnt er sich in den Gletschern und zahllosen Bächen, die aus ihm hervortreten, ab. Sowohl die Bildung dieses Sneeteppichs selbst als auch seine Zerstörung ist eine Quelle sehr interessanter Erscheinungen, und wir wollen hier zunächst jene, dann diese betrachten. Bei der großen Höbe, welche die Alpen haben, ist iu Sommerschnee. — Das Einschneien der Thäler. I ihnen, ebenso wie in den Polarländern, keine Zeit des Jahres ganz ohne Schncefall. Doch wird derselbe in der Höhe des Sommers auf ein cngcrcö Gebiet beschränkt. Gewöhnlich sind auf der Nordseite der Alpcn alle Berggipfel und Thäler, die nicht über 6000 Fuß hinausgehen, 3 bis 4 Monate vor allem Schnee völlig sicher. Ausnahmsweise sieht man jedoch auch sie selbst im Juli nud August zuweilen beschneit. Dieser Sommerschnee, der oft mitten in der warmen Jahreszeit einfällt und die hochgelegenen Alp-Wiesen nnd ihre frischen Kräuter überschüttet, bringt den Hirten und ihrem Vieh nicht selten viel Noth nnd Schrecken. Man sieht sie dann znwcilcn mitten im Sommer die Flucht ergreifen und von allen Seiten aus den Bergen in die Thäler hinabcilen. Da sie meistens so lange als möglich oben bleiben, und der Schnee gewöhnlich unerwartet auf einmal erscheint, so ist am Ende der gnten Jahreszeit ein solcher allgemeiner Nnckzng der Hecrden und ihr plötzliches Erscheinen in den Thälern etwas sehr Gewöhnliches. Von jenen hohen Spitzen aus, wo er nie zu schalten aufhört, macht dann der Schnee gegen das Ende der warmen Jahreszeit nach und nach Ausfalle in die niedrigeren Gegenden, die er so zu sagen stoßweise nnd in verschiedenen Absätzen erobert und am Ende ganz bedeckt. Die Alpenbe« wohner ucnnen dieß das Einschneien der Thäler. Es ist interessant, in einem großen und tiefen Alpen-thale die verschiedenen Stufen und Grade des Fortschritts dieses Einschnciens zn beobachten. Zncrst in einer der letzten Wochen des Spätsommers erscheinen wohl auf einmal alle Gipfel der Seitcnwande ein wenig weiß besprenkelt und geben die erste Mahnung an den nahenden Winter. 1* z Stufen und Grabe des Einschneiens. Eines Morgens sieht man sogar alle Hochwiesen bis zu einer oft sehr scharf gezogenen Linie herab mit einem dünnen Schneeschleier überzogen. Unter ihm schimmert das Grün der Gräser mit gedämpfter Farbe dnrch. Doch rollt die Sonne das dünne Tuch noch leicht wieder auf, wäscht den Schnee wie Seifenschaum von allen Gipfeln ab und laßt die grünen Wiesen oft auf mehre Tage wieder frisch hervortreten. Alle Invasionen in der Welt müssen, bevor sie festen Fuß fassen, erst häufig versucht werden. So wird auch der Schnee erst öfters aus dem Felde geschlagen, bevor er, bei jedem neuen Angriffe immer weiter um sich greifend, endlich das ganze Thal und überhaupt das ganze Alvcnland mit einer gleichförmigen und ununterbrochenen Schneedecke überzieht. Nach den hohen kahlen Grasgipfeln greift er znnächst in die oberen Waldregionen ein, betüpfelt die Zweige aller Tannen und Fichten und streut weiße Tinten in ihre dunklen Schatten. Der grüne Streifen im Grunde des Thales zieht sich immer enger zusammen, und endlich fliegt ein Echncewettcr hcran, das dann auch die Obstgärten und Gründe des Thales bepudert. Und so stellt sich denn im Winter ein dicker tiefer Schneemantel her, der den größten Theil der Alpen, Berge, Thäler, Schluchten und Ebenen überzieht. Natürlich sind die Zeiten und Perioden der Vollendung sowohl als der Dauer dieses Schncemantels für die verschiedenen Thäler, je nach ihrer Lage und Gestalt, je nach ihrer Oeffnuttg gegen Süden oder Norden sehr verschieden. Die höheren und nördlichen Thäler schlummern schon längst unt« der Wintcrhülle vergraben, während in den tieferen und südlichen noch warme Tage das Herz erfreuen und Keine ununterbrochene Schneedecke in den Alpen. g den Uebcrrest der bunten Farbenpracht des Sommers gleich einem erglimmenden Fencr anfachen nnd unterhalten. In den lieblichen Thälern anf dem Südabhange der Alpen an den Ufern des Garda-Sees, des Lago maggiore, in den Thälern von Mcran und Trient herrscht ein so mildes Klima, daß der Schnee hier, wenn er fällt, sehr bald wieder hinweggenommen wird. Ja selbst über die Thäler der sogenannten ebenen oder nördlichen Schweiz vermag sich der Echnccmautel unr selten auf längere Zeit auszubreiten. Wir müssen daher die Schneedecke, die im Winter, wie ich sagte, alle Thäler und Gipfel der Alpen überzieht, in der Regel als ein sehr zerrissenes und vielfach lückenhaftes Gewand betrachten, und ganz ohne alle Unterbrechung, nnd als vollständiges weißes Kleid zeigt sie sich vermuthlich nur dann und wann für wenige Tage oder Stunden. Den Anblick von Thalern, die mit Schneeflocken voll« kommen bedeckt und gefüllt sind. so daß alles Land von der Thalsohle bis zu den Bergspitzcn eine weder dnrch Mauern oder Hecken, noch durch Felsblöcke unterbrochene, gleichsam glatt auögehobclte Wanne darzustellen scheint, genießt man nur in den höchsten und nördlichen Gebirgsgegenden, in denen die Menschen oft 7 Monate lang so zu sagen unter dem Schnee wohnen, der ellenboch auf den Dächern ihrer Häufer lastet, der in hohen Mauern vor ihren Fenstern steht, unter dem sie sich Straßen und Verbindungskanäle von Thür zu Thür ausgraben müssen. So wie die Verschiedenheit des KlnnaS, so ist auch die Steilheit vieler Bergwände eine Ursache davon, daß sich in, ben Gebirgen nie ein so unnntcrbrocheues Winterkleid herstellt, wie in unseren Wenen. , Manche Felswände und selbst auch manche Grasabhänge V Oasen im Schnee-Oceane. sind so schroff, daß die Schneeflocken kaum oder doch nur unter besonderen Umständen darauf haften können. Und selbst wenn sie anch zuweilen mit einem dünnen Schneeschleier überzogen werden, so nimmt die Sonne sie an diesen steilen Wänden schneller wieder hinweg, als in der Ebene. Es giebt daher fast überall in den Alpen einzelne Felsenklippen, Gräte und abschüssige Wände, die wie Inseln oder Oasen ans dem großen Schnee-Oceane hervorragen. Selbst mitten im Winter nnd sogar in den höchsten Gebirgen findet man' solche gewöhnlich kahle Wände. Nur wenn der Wind fenchten Schnee gegen sie antrieb nnd dieser dann vielleicht noch durch daranf eintretende Kälte fizirt wurde, erscheinen anch ihre dunklen Wände von einem graulich schimmernden, halbdurchsichtigen Schnccüberzug bedeckt. Dieser dünne Ueberzug giebt dann dem Anblick solcher Felsen einen eigenthümlichen Neiz und bietet weit mehr malerische Effecte dar, als die grcllwcißc dicke Schneedecke, wie denn überhaupt alle halben Tinten in malerischer Be-zichnng immer Vorzüge vor den vollen und grellen haben. Ich sah so die hohen Wände, welche das Wctterhorn, Finftcraarhorn, der Eiger und die Inngftan dem Norden zuwenden,, und die gewöhnlich völlig kahl sind, während mehrer Tage mit einem solchen reizenden matten Echneetone lasirt. Er gewährt denselben Neiz, wie diejenigen zarten Schneetüchcr, mit denen im Herbst beim ersten Einschneien der Thäler die Wiesen wie mit dünnen Schleiern überzogen sind. Will man eine Jahreszeit bestimmen, in welcher das Echnecfcld der Alpen seinen größten Umfang erhalten hat, so kann man als solche den Monat Februar annehmen, wo der Schnee am häufigsten feucht fällt nnd daher überall haftet, und wo zu gleicher Zeit die meisten Thaler mit ungc- Verschiedene Tiefe und Zunahme der Schneedecke. 7 heueren allmälig angesammelten Schneelasten gefüllt sind, die nnn von diesem Monate an nach nnd nach wieder abnehmen. Die Art und Weise, wie die Schneemassen in den Ber> gen sich anhäufen, ist nicht nnr in Bezug auf die spätere Bildung der Lawinen nnd Gletscher, sondern auch in Bezug auf die Hcrvorbringung malerischer Effecte nnd sogar in oko» nomischer Beziehung mehrfach wichtig, und man muß sich daher verwundern, daß dieser Gegenstand bisher noch so we» nig zusammenfassend betrachtet wurde. Freilick ist es nicht leicht, ein überschauliches Bild aller der aus dem Schnccfall hervorgehenden Zustande uud Scenen zu entwerfen. Im Ganzen kann man sagen, daß diese Scenen in den tieferen Gegenden minder interessant sind, und daß sie mit der Höhe an Interesse nnd Mannigfaltigkeit zunehmen. In den tiefen Thälern und Niederungen, wo die Nie» derschlägc nur selten als (>is hcrabkommen, ist die Schneeschicht gewöhnlich nur wenige Zoll oder höchstens einen Fuß tief, wogegen in den oberen Gegenden, wo 6, 7, 8 Monate lang nur Eiskrystallc vom Himmel fallen, und in einigen Thälern selbst im Sommer Regen selten erscheint, sich oft eine Schneedecke von einer allgemeinen Tiefe von 7 bis 8 Fuß herstellt. Doch läßt sich die Tieft oder Dicke dieser Schneedecke und ihre von unten nach oben fortschreitende Zunahme schwer bestimmen, da die Regelmäßigkeit des Schnee» falles von den Winden und anderen Verhältnissen so häufig gestört wird. Zuweilen schlägt allerdings der Schnee in großen Mas» sen vollkommen ruhig nieder. Bei dieser Art von Schnee« fall giebt es dann eine Menge interessanter und malen" scher Bilder. Dabei überziehen sich alle Gegenstände mit ß tnmvirkimg des Windes auf die Schneebildung. entsprechenden Decken und Kuppeln. Alle Dächer der Häu> scr bekommen ihre Schnee-Perrücke, alle Felsen und Steinspitzen ziehen ihre Schncemützen über. Auf allen Terrassen, Vergköpfen und Felsbändern liegen ganz gleichförmig gebildete Schneckissen, wie zarte Eiderdunen gehäufelt. Keine Stange eiuer Hecke hat der Alles anwcißende Maler vergessen, und selbst dem kleinsten Zweiglein jedes Baumes hat er sein Portiöuchen Weiß zugetheilt. Dieser interessante Zustand der Landschaft nach einem ruhigen Schnec-fall wird indeß selten hergestellt und dauert in der Ncgcl nicht lauge, da gewöhnlich der Schnee mit mehr oder weniger heftigem Winde auffallt, der dann wieder die Quelle einer Menge anderer eigenthümlicher Echncebildnugen wird, die bei stiller Luft sich nicht zeigen können. Da, wo in Felsenspalten, in engen Passagen, oder auf hohen Gipfeln der Wind sehr heftig ist, wird der Schnee bestandig herausgefegt, nnd der Boden bleibt dort kahl. Dagegen setzen sich die hier fortgehobenen Flocken lünter geschützte Wände, in den Kesseln und Klüften zusammen und Hänsen sich dort zuweilen in außerordentlichen Massen auf. Zuweilen, besonders in den höheren Gegenden, ähnelt der Schnee in seiner Gestalt dem Hagel, erscheint körnig und rundlich. Wo er in dieser Form fällt, kann er sich nur dann in Massen halten, wenn er von einer festen Unterlage unterstützt ist. In der Negel aber besteht der Schnee aus eiuer Menge kleiner Nadeln und Krystalle, die ineinander greifen, sich zu Flocken und Ballen verweben, und in diesem Umstände ist dann die Möglichkeit gegeben, daß der Schnee sich auch ohne feste Unterstützung in die freie Luft hinausbauen und allerlei oft sehr phantastisch gestaltete Gebilde zn Staude bringen könne. Schneegesimse nud Schneebrücken. V Besonders da zeigen sich solche Gebilde, wo heftige Wind-strömuug mit plötzlich eintretendem Schutze scharf absetzt, also z. B. auf den langen Kanten schroffer Fclscngräte. Der Wind führt über sie den Schnee rasch hinüber nnd läßt ihn jenseits des Grates, wo unmittelbar nnter ihm völlige Windstille oder wohl gar ein rückschlagendcr Gegcnstrom herrscht, fallen. Die Schneeflocken werden da an die Kante des Gra-ies angesetzt, nnd so wachsen denn hier zur Seite große nnd lange Schnecg esim se in der Richtung des Windes hinaus, die wie Vordächer oder Schirme nach der dem Wind entgegen» gesetzten Seite hinüberragen. -^ ^ ^ Der rückschlagendc Wind arbeitet nnd wirbelt dann wieder in diesen Sehneegestaltcn, höhlt sie ans, wöll't, schärft sie, Ichneidct Zacken ein und gestaltet sie so gar mannigfaltig. Oft sitzen sie wie große Schnörkel und schneckenartig gedrehte Säulenkapitäler an den Felsen an. s« Ueber enge Felsenklüfte und über die breiten Spalten der Gletscher legen sich ans dieselbe Weise Schneeb rücken hin, die oft so breit und fest werden, daß Anneeen darüber weg-marschircn könnten. Diese Schneebrnckcn erleichtern vielfach das Bereisen der Gletscher, sind aber zngleich eine Qnelle von neuen Gefahren, da es znwcilcn schwer ist, ihre Stärke und Zuverlässigkeit zu erforschen. Dieselben Gefahren bieten jene Gesimse an den Gräten, Berg/ und Felskantcn, an denen häufig die Wege vorübcrfnhren, und wo der Wanderer oft nicht beurtheilen kann, ob cr ans eine ftcischwebcnde Flocken-wasse oder anf von Fels gestützten Schnee tritt. Man hat für alle diese vom Winde veranlaßten Schnce-Iebilde in den verschiedenen Alvcngegcnden verschiedene Namen. Hie nnd da nennt man sie Schnee lehnen, anderswo Schnee-w echten (von wehen). Sind es dach- oder schildartige Schnee» <0 „Schneewechten" und „Föhuenschilde". gesimse, so heißen sie auch wohl (wie z. B. in Uri) Föh» nenschitde. Es ist nicht leicht, diese Schneewechten und Föhnenschilde in der Nähe zu untersuchen, weil sie sich gewöhnlich in den unzugänglichsten Gegenden ausbilden und dann selbst noch diese Gegenden unzugänglicher machen. Doch sieht man mit dem Persvectiv oft ganze lange Gräte mit einer Garnitur solcher Föhnenschilde befetzt. Zu» weilen ragen sie von hervortretenden Felsköpfen wie die Hüte von Pilzen hervor. Häufig sieht man sie gekrümmt, gebäumt und nach unten zu in sich selbst zurückgezogen, frappant so, als wenn in der Brandung eine große Mcereswelle überschlägt. Zuweilen wieder scheinen sie Gewölbe halb zerstörter Höhlen zu sciu. Es ragen auf diese Weise mitunter, auf der einen Seite an der Kante des Berges und unten durch breite allmälig aufsteigende Gewölbe gestützt, Schneemassm von 100 Fuß Vrcite und vielen Centnern Schwere in die freie Luft hinaus. Nicht selten entstehen solche Schneegesimse und Gewölbe auch dadurch, daß der Wind sich in große» bereits daliegenden Echnecanhäufungcn einbohrt und so gewaltige Schnee-Höhlen ansschleift. Noch Niemand hat die Schnecwechten und Föhnenschilde eines besonderen Studiums gewürdigt, obwohl sie vermuthlich geeignet wären, noch manche Aufschlüsse über die Eigenschaften des Windes sowohl als auch des Schnees zu geben. Sie bieten auch eine sehr malerische Seite. Ihre Formen sind kühn und gefällig durch die vielfach verschlungenen Bogen» und Wellenlinien. Sie gleichen aus Marmor gemeißelten Trümmern und Vaustücken. Metamorphosen der Schneedecke. N Wäre das Wetter im Winter durchweg anhaltend kalt und trocken, und wäre der Uebergang vom Herbst zum Winter und vom Winter zum Frühling schroff und plötzlich, so würde der Schnee während der ganzen Dauer seiner Existenz locker, körnig und krystallinisch bleiben und dann im Frühling auf einmal in Wasser zergehen. Da indeß jeder Winter als eine Neihe von Wintcrperioden anzusehen ist, da selbst in den kältesten Monaten wieder wärmere Negcnperioden einfallen, und da selbst in den höchsten Gegenden die Zeitabschnitte, während welcher das Barometer beständig unter dem Gefrierpunkte steht, doch immer nur wenige Wochen lang sind, und zwischendurch Negcn, Sonnenschein oder mildere Luft eintritt, so erleidet die jährlich sich anlegende Schneedecke im Laufe des Winters gar mancherlei Metamorphosen und geht durch sehr verschiedenartige Zustände. Ist das Wetter anhaltend kalt und trocken, so bleibt der in dieser Zeit gefallene Schnee locker und körnig, und man sieht alle Berge von einem glanzlosen Weiß bedeckt. Gewinnt die Sonne abcr einmal größere Gewalt, so schmilzt sie die Krystalle der Oberfläche zusammen und überzieht die höchsten Schneegipfel mit einer glänzenden, spiegelglatten Kruste, die man selbst in weiter Entfernung au der erhöhten Licht-Ausstrahlung erkennt. Auf diese glänzeude Oberfläche fallen dann in einer abermaligen Schlechtwctter-Periodc frische Massen von Schnee, die zum Theil abstürzen, zum Theil liegen bleiben, oder auch wieder wie die vorigen übcrcist werden. So bilden sich dann zahlreiche Schnc (schichten, bei deren Durchgrabung man die beständigen Wechsel der Nacht- und Tagestemperatur, so wie die verschiedenen wöchentlichen oder monatlichen Wetterveränderuugen ebenso erkennen kaun, wie in 12 Wichtigkeit der verschiedenen Zustände des Schnees. der Schichtung der Erdrinde die verschiedenen Perioden der urzeitlichen Zustände. Ganz eben so wie die Sonne, nur noch in erhöhtem Grade, wirken die Regentage und die Föhnwinde, die zu Zeiten einfallen. Sie zerstören nicht nur zuweilen ganze Schneelagen, sondern tränken auch die Neste, die besonders in den Vertiefungen, Felsenklüften uud zahlreichen Vergrinncn stecken bleiben, mit Wasser. Abermalige Kälte läßt diesen wässerigen Schnee gefrieren, und so setzen sich dann feste Eis-maffen in den Thalern der Wildbache, in den Einschnitten der Gräte und zwischen den Felsen an. Oft überziehen sich dabei ganze weite Abhänge und Felder mit einer festen Mskruste, auf die dann später wieder frischer Schnee herabfällt. Von dem im Herbst zuerst gefallenen Tchnce bleibt dabei oft wcmg übrig, hie und da nur eine unbedeutende Spur. Und man kann daher im Frühling, wo nun die Haupt-zerstönmg der Winterschneedecke beginnt, zwischen altem und ganz altem, neuerem und ganz frischem Schnee unterscheiden. Wir werden weiter nnten sehen, daß es wichtig ist, diesen Unterschied aufzufassen, um die Entstehung verschiedener Arten von Lawinen zu begreifen. Auch für die Bcrgbcsteigcr und überhaupt für verschiedene Gattungen des Transports in den Gebirgen haben die beschriebenen verschiedenen Zustande des Schnees keine geringe Wichtigkeit. Die Jäger, die Pilger und Reisenden, die Schmuggler, die Handelsleute, welche im Winter in langen Karavanen die Waaren aus einem Thale in das andere auf dem Nucken tragen, nehmen immer Nücksicht darauf. Zu Zeiten machen sie ihre Neise in der Nacht anf dem Herstellung und Zerstörung der Schneedecke. 43 gefrorenen Schnee, um den gefurchteren erweichten Zustand, in welchem sich während des sonnigen Tages seine Oberstäche befindet, zu vermeiden. Die glatten, festen, abhängigen Schneefeldcr benutzen sic, um, ans Schlitten daranf hinunterrutschend, ihre Reise zu verkürzen. Die Thaleinschnitte und Rinnen der Wildbäche, in denen sich, wie ich sagte, Schnee und Eis festsetzte, dienen überall ün Winter zum Trausport des Laubes, des Heues und insbesondere des Holzes von den Bergen. Daher ist in den Alpen, wie in Rußland, der Winter die vornehmste Zeit des sonst so schwierigen Holztransports aus den Wäldern. Hie und da kommen eutlcgene Bergbewohner mit ihren Waaren, die sie zu den größeren Ortschaften der Thäler führen, stuudeuwcit auf Schlitten hcrabgcrutscht. Die Geologen haben von dem Felsgebäude der Alpen bemerkt, daß die Perioden seines Aufbaus und seiner Zerstörung sich nicht genau von einander scheiden lassen, da theilweise gleich bennVau selber auch schonZerstörung begonnen habe. Aus dem eben Gesagten geht hervor, daß sich dasselbe auch von der Herstellung und der Zerstörung der winterlichen Schneedecke der Alpen sagen lasse. Auch hier greift Beides, Schaffen und Zerstören, von vornherein vielfach durcheinander. Wie man aber im Ganzen die Wintermonate December, Januar und Februar als die vornehmsten Schöpfer der Schneedecke betrachten kann, so kann man anch im Ganzen die Frühlingsmonate März, April und Mai als die Hauptperiode der Zerstörung ansehen. Scharfer als die Perioden der Schneezerstörnng lassen sich die verschiedenen Arten derselben bezeichnen. Es sind dieß erstlich der Abfall der Schneemassen von den Bergen, ) Auch Windlawmen genannt. ") Hie und da auch Schleiflawinen genannt. Staub« over Gturzlawinen. 23 Die erste Veranlassung zu einer Staublawine wird meistens durch den Einsturz eiues jener lockeren Schucegebilde gegeben, das entweder seiner eigenen Schwere erliegt oder vom Wind umgeworfen wird. Da in jenen lockeren Gebilden die schweren Massen zuweilen so genau balancirt sind, daß die geringste Kraft ein Ucbergcwicht zu geben vermag, so kann man es sich einigermaßen deutlich machen, wie selbst die unbedeutende Lufterschüttcruug, welche durch Töne erregt wird, Schneeabfälle und Lawinen veranlassen kann, und warum die Reisenden in den hohen Berggegenden sich zu Zeiten sogar daö Tprecheu versagen und ihren Maulthieren die Glocken abnehmen. Da uuter dem abstürzenden Stück sich meistens noch viele andere auf ähnliche Weise schwebende Schneemassen befinden, so werde» nun auch diese übergeworfen, und so setzen sich dann mit Blitzesschnelle an einem ganzen Abhänge hin znweile» große Schneelasten auf einmal in Bewegung. Gibt es auf ihrem Wege steile Felsabsätze vou bedeutender Höhe. so stürzen sie hier mit einer wachsenden und außerordentlichen Kraft herab. Die sinkende Stanbmasse breitet sich, au den Felsen zerschellend, weit ans nnd treibt die Luft, die sie wie ein Blitz spaltet, vor sich her und zu den Seiten auseman« der. Der Luftfturm, der, wenn die Schueemasse sehr groß war, biedurch veranlaßt wird, ist vou unbegreiflicher Stärke. Seine Wirkungen scheinen selbst dem, der sie mit Augen sah, fast unglaublich. Es werden, wenn die Lawine durch bewaldete Bergab» hänge hindurch fuhr, zu beiden Seiten Hunderte, ja Tau» sende von Bäumen niedergeworfen. Im Frühling des Iah-les 1847 fiel z. B. cinc Staublawine vom Nothhoru bei Vrieuz, deren Luftzug zu beiden Seiten 2l)0l) Tcmniubäume gz. Lawmenstürme. umbrach. Der Wind war selbst am Fuße des Berges, wo er in die Obstgärten der Dorfbewohner einbrach, noch stark genug, über WO große Wallnuß- und Kirschbänme fortzureißen. Der Qucrdurchschnitt des ganzen Streifens, den der Wind, durch die Waldregion fahrend, gebrochen hatte, betrug stellenweise eine Viertelstunde. Von mehren Sennhütten und Häusern, die er unterwegs getroffen, fand man nichts wieder als hie nnd da zerstreute Breter. Einige Baume waren vom Sturme aufgehoben und über ein hart am Brien-zer See liegendes Dörfchen binweg in den Tee hinansge« schleudert worden. Einem solchen Lawincnsturmc entgeht nichts, selbst nicht die Vögel, die man zuweilen erschlagen auf dem Schnee sin« det, oder die mitten im Fluge, vo,n dem scharfen Luftzüge er» stickt, durch den Wind entfübrt werden nnd in die unteren Tbä'ler todt binabfallcn. Die Steine und Fclsstücke, welche der Lawinensturm mit fortfuhrt, werden oft weit hiuausgc« schlendert und in cngen wilden Thälern zuweilen den cntge« ssengesetzten Bergseiten zugeworfen. So findet man z. B. im hinteren Thale der A^ar auf dem Wegc zur Orimscl in einer Höbe von 709 bis 800 Fuß auf der Westseite große Stein-blöcke zerstreut. Dieselben wurden von den Lawinen, welche im Frnhjabr von den Bergen der Ostseite abfallen, dorthin geworfen, indem sie dalxi einen weiten Satz über das tiefe Aarthal l'inwcgmacbten. Es ist nickt selten, daß die Staub» lawmen so, indem sie ein Tbal quer durchsetzen und Schnee, Steine, Wind auf die entgegengesetzte Bergseite hinanftreibe», auch bier noch Zerstörungen in Wäldern und Wohnungen anrichten. Der Brienzer Tee ist < ^ englische Meilen breit. Lawinen, die auf seiner Nordseite abfielen, haben zuweilen Gefahren und Todeöarten In Folge der Staublawinen, Z5^ noch in den Dörfern auf der Südseite durch den voraufge» schickten Luftzug die Fenster der Häuser erschüttert. Den Menschen, welche eine Staublawine über sich ab» stürzen seben, gibt man den Rath, sick schnell mit abgewand» tein Gesicht an den Boden oder sonst einen festen Gegenstand zu klammern. Jedoch kommen die Lawinen gewöhnlich nüt solcher Geschwindigkeit nnd erwecken dem Gemüthe eine so große Bestürzung, daß jener Nach selten befolgt werden kann. und die meisten auch nach übcrstandeucr Gefahr kaum mehr Ne» chenschaft zu geben wiffeu, wie das Ganze zuging und was sie selber zu ihrer Nettuug unternahmen. Im Frühling des Jahres 18i7 stürzte eine große Staublawine vom Niesen*) herab nnd fuhr durch eine Naldpartie, in der 16 Forstleute beschäftigt waren. Sechs «on ihnen standen innerhalb der Schuß- und Ttnrmlinie. Daö Schicksal dieser sechs war folgendes. Einer wurde vom Winde ergriffen und fortgeführt, nnd als er wieder zu sich kam, fand er sich m einem Busche. 300 Schritte von seinem früheren Standpunkte entfernt. Zwei andere, Vater nnd Sohn, hatten sich auf den Boden geworfen nnd dort angeklammert. Auch hatte der Sohn den alten Vater au den Beinen gepackt, um ihn noch sicherer zu befestigen. Man fand sie nachher in dieser Lage unter einem von der Lawine herabgeführten Baume erschlagen. Zwei andere waren in der Angst ihres Herzens in eine hohe Tanne geklettert, der eine weit hinauf, der andere nicht so hoch. Der Sturm brach die Tanne in der Mitte ab und entführte ienen mit der Krone des Baumes und erschlug ihn. Dieser blieb au dem Stumpfe hängen. Den sechsten fand man unter einem Haufen zusamrnengewehtcr Bäume wimmernd, *) Schöne Vergpyramid« am Thun« See. 26 Grund- oder NuNcklawinen, wo er zwischen Nesten und Stämmen eingeklammert war. Nachdem man sich vermittelst Axt und Säge anf mühsame Weist Zugang zu ihm verschasst hatte, zog man ihn mit zerbrochenem Rückgrat hervor. Diese Facta mögen eine Vorstellung von den mancherlei Gefahren und Todcsarten geben, welche den Menschen bei Lawinen betreffen. Daß Personen und auch andere Gegenstände vom Winde aufgehoben und unverscbrt an einer entfernten Stelle im Schnee wieder niedergesetzt werden, ist sebr häufig. Fast in jedem Tbale wird dein Reisenden crzäblt, wie eine Lawine einen Wanderer, oder anch ein Fuhrwerk mit Kutscher, Pferden nnd allen darin Sitzenden ergriffen und in einem Nu auf die andere Seite des Flusses gesetzt habe, ohne daß dabei auch nur ein Riemen zerrissen sei, oder wie ein hölzernes Haus von seinem Bauplatze mit sammt den Bewohnern aufgehoben und eine Strecke zum Dorfe hinansgetricben wurde, ohne daß dabei dem Hause oder den Bewohnern eiu Leid geschehen, und Aehnliches mehr. Die G ru n d- oder N u tschlawine n sind gewöhnlich nicht so schlimm wie die Staub- oder Sturzlawincu, weil sie sich in engeren Grenzen zusammenhalten, weil sie weniger rasch sind, nnd mithin auch meistens nicht so viel Luftzug erregen oder, wie die Aelvler zuweilen sagen, nicht so viel „Gang" haben. Als schwächsten Grad einer Grundlawine kann man den Vorgang bezeichnen, wenn sich eine dmcl' Regen sehr erweichte Schneedecke auf einer nicht sehr steilen Halde all' mälig ill Vewegnng setzt und halb fließend, halb rutsckend gemach hinabschiebt. Zuweilen geht dieß so langsam vor sich, daß man die gleitende Bewegung der Massen nur an „Tchliv^," Entstehung der Gnmdlawine«. ^7 den Schneehaufen erkennt, die sich vor Bäumen, Felsen und anderen Hindernissen aufthürmen. Die Aelpler nennen diese schleichenden Schneelagen in einigen Gegenden (z. B. Uri) „Schlipfe" (von schlüpfen), in anderen (z.B. im Berner Obrrlande) „Suo gi-Schnee"^). Obwohl solche Schlipfe langsam sind, so hat doch die große schwere Masse oft Kraft genng, Bäume umzustoßen und sonstige Zerstörungen anzurichten. Sind die Abhänge steiler, ist der Boden, auf welchem der Schnee ruht, bei plötzlich eintretendem Thauwctter von kleinen Wasserströmen, die unter der Schneedecke weggehen, lehr Müpfrig geworden, und ist diese demzufolge auslangen Strecken von ihrer Unterlage getrennt, so bildet sich dann eine eigentliche Grundlawine. Die ganze feuchte Schnecmasse rutscht plötzlich und heftig in die Tieft hinab. Meistens entstehen die Grundlawinen auf jenen hohen und steile,, Graoabhäugen, aus denen im Sommer die so» genannten „Wildheuer", mit eisernen Spitzen unter den Füßen, auf eine mühsame Weise das Wilohcn ernten. Auch kommen sie von den von Kühen beneideten Alvcnwiesen herunter. Wird der Schnee gerade in dem Momente, wo er mit Wasser hinreichend geschwängert nnd auch vom Boden siclöst ist, von Erschütterungen getroffen, so reichen sehr unbedeutende Ereignisse und Anstöße hin, sie zu veranlassen. Mir ist unter anderen folgende Entstehung einer Grundlawine näher bekannt geworden: zwei Waldarbeiter gingen uütteu über ein fcnchtes Schneefeld, daS auf einer steilen Wiese lag, hin und sahen plötzlich die ganze Schnecmasse *) Von „Snogi" (sprich: suki). Eö ist cine Art Scheltwort, womit nian im gemeinen Lebeu eiuen trägen, langsamen Menschen bezeichnet. 28 Vmche, Brandungen. Wellenschläge der Gnmdlawineu, unter ihren Fußen, gerade von der Linie an, die sie watend durch den Schnee gezogen hatten, sich in Bewegung setzen. Sie hatten dieselbe gleichsam mit ihren Füßen abgeschnitten. Das obere Feld blieb noch so lange hangen, bis sie sich anf die Seite gereitet batten. Die Lente beobachteten zugleicb gena«, ans wie wunderbare Weise sick die Schneeschicht fortbewegte: es erhoben sich in il'r, wie es etwa in einem brei< ten hinabsinkenden Tuche geschehen würde, lange und große Wellen. Diese Wellen brachen nnd überstürzten sich. Da, wo das Schneetuch rascher sank, entstanden andere Brücke und gleichsam Brandungen, bis endlich das Ganze an einen Abhang gerieth, wo Alles zerbröckelte und polternd zusammenfiel. Diese Brüche, Brandungen und Wellenschläge kann man bei den Grundlawinen, bei denen ganze breite Schneeflächen wie auf ein gegebenes Zeichen sich auf einmal losreißen, als gewöhnlich betrachten. Meistens baben alle Arten von Lawinen einen ebenso regelmäßigen und von altersher ihnen vorgezeickncten Ablauf, wie die Berggewässcr, und nur wenn die Schneemassen sehr groß sind, brechen sie sich zu Zeiten neue Bahnen und wer» den dann zerstörend. Alle Gebirgsseiten sind nämlich mit tiefen Schluchten oder Felsthälern, welche man „Nawinen" oder „Gräben" nennt, gefurcht. Die Einschnitte mögen theils gleich von Vornherein in den Bergen gebildet sein, theil? wurden sie dnrck allerlei zerstörende Kräfte später noch weiter und tiefer auSgegraben. In diesen Schluchten sammelt sich und stürzt abwärts Alles, was von den Bergen herunter kommt. Durch sie werden die wilden Gewässer und die Regengüsse abgeführt. In ihnen poltern beständig die abbröckelnden Steine nieder. „Lawinenzüge." 29 In ihnen schleift der Mensch das gefällte Holz thalwärts. Und in eben diesen Gräben endlich schießen auch die Lawinen hinab, insbesondere die Grundlawinen, welche begreiflich mehr von der Gestaltung des Terrains abhängen als die Staublawinen, die freier dnrch die Lüfte fahren, zuweilen auf selbstgewählten Bahnen gehen und daher auch schwerer zu berechnen nnd zu vermeiden sind. Die besagten Einschnitte oder FelSgräbcn haben natür» lich wie andere Thaler ihre Nebenthäler, die in sie ausmnn« den, und o6en bei ihrem Ursprünge sind sie meistens in ei» nem Halbkessel von einer Menge von Wänden und Abhängen umstellt, die Alles, was sie fallen lassen, in den Graben, zu dem ihre Abtiefungen hinzielen, thalwärts senden. Fällt nun von jenen Abhängen ein großes Schneefeld herunter, so wird es gewöhnlich in einem solchen Graben wie in einem Trichter aufgefangen lind fortgeführt. Der Schnee löst sich in zahllose kleine und große Brocken auf, die in dem Thale wie ein wilder Bcrgftrom weiter fließen. Die Bergbewohner nennen dann ein solches Felscnbett auch wohl einen „Lawincnzug" und sprechen von bedeutendem oder geringem „Inzng" eines solchen Bettes, wenn sie an» deuteu wollen, daß eine Lawine von Seitenthälern viel oder wenig Zufuhr von Schnee bekomme. Je weiter nach unten, besto mehr drängt sich Alles in einen einzigen engen Kanal zusammen, wobei die Schnecmassen sich oft zwischen den Felsen hindurchqnetschen müssen. Ganz nnten, wo der Lawinenzug in das wettere Nodenthal ansmündet, kann sich der herabpolternde Schnee wieder ausbreiten und legt sich da ge» wohnlich in großen Hausen zur Rnhe. Man sicht aus dieser Darstellung, wie man seine Idee bvn dem steten Wachsen der Lawinen zu modificiren, und 30 Die bcidcu Hauptpunkte der Lawinengefahr. wie man sich dieselben oben gewöhnlich breit und weit ans« gedehnt — znweilen sinken Schueefeldcr von 2000 Fuß im Quadrat anf einmal in die Gräben hinab —, in der Mitte in den Felsengräben als enge und schmale Schneeströme, in der Mündung aber wieder als breite Ablagerungen zu denken hat. Danach ist es auch erwiesen, daß die beiden Hauptpunkte der Gefahr oben an der Quelle, wo bei dem ersten Aulauf? der Lawine die Hochwalder hausig zerstört werden, und dann unten bei der Müudung sind, wo die Schneemasseu oft zwischen die Häuser der Dörfer und die Obstgärten der Bewohner einbrechen. In der Mitte kann mau sich oft ganz nahe zu dem Lawineugraben hinanstellen uud den Schnee abfließen sehen, versteht sich, wenn es keine Staublawine ist, die herabstürzt, wenn der Graben nicht etwa zu steil abschießt und die Grundlawine daher keinen zu star« ken Luftzug oder „Gang" hat. Zuweilen sind die Einschnitte indeß schon dermaßen mit Schnee und Eis gefüllt, daß dann die nachfolgenden Lawinen wohl ihre gewohnte Bahn verlassen und neue Einschnitte durch die benachbarten Walder brechen. Wenn sich das Phänomen an derselben Stelle im nächsten Jahr wiederholt, so können dann solche Waldeinschnitte auch für die unteren Gegenden gefährlich werden, die Lawineuzüge sich bis unten herab ganz neue Bahnen brechen und auf diese Weise Lawinen au Orten erscheinen, wo sie Jahrhunderte lang zuvor nie erschienen sind. Man muß es festhalten, daß auch in den scheinbar wil< besten Naturereignissen mehr Regel, Gesetz und Wiederholung ist, als man von vornherein dabei vermuthet. Nicht nur die Figuren der Verge, der Einschnitte, der Felsgrate, Rücken und Spitzen bleiben der Hauptsache nach Jahrtausende Neqelmäßissfeit der Lawinen. 31 !ang dieselben, sondern auch in der Bewegung der Winde, die dnrch Felsen hinsausen, herrscht, wenn auch nicht eine solche Beständigkeit wie bei Men starren Formen, doch eine proste Regelmäßigkeit. Der Hauptsache nach werden sich da-ber im Laufe der Jahrhunderte die so zerbrechlichen, scheinbar so willkürlichen nnd phantastischen Schneegebilde immer wieder auf dieselbe Weise reproduciren. Aus jenem Orate wird sich in den folgenden Wintern ungefähr ein eben sol-cbos Schneegesimse hinüberlegen, wie es sich in den vorher-stehenden Wintern daselbst bildete. Auf ienen Spitzen werden sich beständig wieder solche Perrückcn. Kappen, Föhnen» schilde anfchürmen, wie sie seit den Urzeiten dort erschienen. An einem anderen Punkte werden sick die eingefallenen Schnee» brücken immer mehr oder weniger auf dieselbe coustante Weift gestalten und wiederherstellen. In dieser Schlucht wird der Wind, so wild er sich zu gebärden scheint, jeden Winter den Schnee so und so viel Fuß tief aufhäufen, jener Engpaß abcr, durch den die Winde beständig pfeifen, und diese schroffe Wand, an der nichts haften kann, werden zu allen Zeiten kahl und schneelos erscheinen. Die Punkte, wo der Schnee abzubrechen pflegt, werden im Laufe der Zeiten daher immer mehr oder weniger dieselben sein. oder nur in einem engen Spielraume varüren. Man sieht daraus, daß die Lawinen der Hauptsache nach schon in ihren Quellen reguUrt und gewissen constanten Wie« derholungen unterworfen sind. Uebersieht man die Sache im Großen und im Ganzen, denkt man an die Millionen La« ^inen, welche überall in den Alpen jahraus jahrein abbrechen, ^° kann man behaupten, daß im Allgemeinen der Schnee der Hochgebirge ebenso regelmäßig und auf ebenso bestimmten Wegen abstürzt und abstießt, wie es ihre Gewässer thun. 33 Eigennamen von Lawinen. Aus diesen Verhältnissen erklärt es sich denn auch, daß in den Alpen viele, besonders bedeutende Lawinenzüge ebenso ihren Eigennamen haben wie die Flüsse. Als Beispiele will ich nur einige unter Tausenden anführen. Am Eiger im Vcrner Oberlande gibt eS eincn Lawinenzng, der die „Schaf» lawine" heißt; im Lutschineu-Thal hat man die „Burglawi» ne." Da die Lawine selbst sdie Schneemasse) nur eine sehr vorübergehende und intermittirende Erscheinung ist. so haftet denn ein solcher Name meistens nur an dem Thal oder an der ganzen Berggegend, von der sie loszubrechen pflegt. Ge» meiniglich erhalten die Lawinen wic die Gletscher ihren Namen von dem Berggipfel, von dem sie herabstürzen; oft aber erhält anch umgekehrt ein Berg seinen Namen von der Lawine. So heißt ein Berg und ein Lawinenzug am Brienzer See die „Breitlawine." Zuweilen erhalt auch ein an der Mündung des Lawincnzuges liegendes Dorf seinen Namen von ihm, wobei das Wort Lawine oft in „Laune", „Launen" oder „Laui" corrumpirt wird. Beispiele geben die Dörfer „Burglaunen," „Trachsellaunen," „Nosenlaui^ und zahllose andere. Weniger regulirt als der Ort ist die Zeit des La-wineusturzes. Doch wird man auch hier bei näherer Be< trachtung mehr Wiederkehr und Regel gewahr werden, als man zuerst vermuthet, und man kann im Ganzen behaupten, daß jede Lawine sowohl ihre mehr oder weniger bestimmte Tages- als auch ihre Jahreszeit hat. Es kommt dabei be» sonders erstlich auf die Höhe an, in welcher der Lawinenzug sich befindet, und dann auf das Verhältniß seiner Lage zur Sonne. Je höher ein Tbal liegt, desto später falleil seine Lawinen im Frühling, und je mehr eine Bcrgseite nach Jahreszeit des Lawinenfallö. 33 Norden gekehrt ist, desto länger bleibt der Schnee auf ihr haften. Die Bergbewohner wissen die Zeit der Schneeauskehr oder des Lawinenfalls bei jedem Thale ziemlich genau anzu« geben. Wenn ein Thal von Osten nach Westen streicht, so ist mi sehr bedeutender Unterschied zwischen dem Thalgelände, das nach Süden blickt, und demjenigen, das nach Norden gerichtet ist. Auf jenem benutzt jeder milde Sonnenschein die Gelegenheit, den Schnee durch Abfall eben so, wie durch Abschmelzung zu beseitigen. Es fallen fast den ganzen Winter hindurch kleine Lawinen und die großen schon sehr frühzeitig, etwa Vude Februars, wahrend auf dem von der Wintersonne nicht beschienenen Thalgelände sich große Massen Schnees au» häufcu, die vielleicht erst nach Monaten abstillen. Natürlich spielen außer der Erhebung über dem Meere und außer dem Verhältniß zur Sonne noch gar manche andere Umstände bei der Frage, wann die Lawinen in dieser oder jener Gegend sich lösen, eine Nolle, z. B. die Steilheit des Lawineuzuges uud seiner Inzüge, die soustige Beschaffenheit des Terrains, ob dasselbe feucht, ob quellenreich ist oder mcht :c. Einige Berge liegen Pässen gegenüber, aus denen häufig warme Winde sie anwehen, andere dagegen solchen Bässen, auö denen die kalten Winde unmittelbar auf sie ein» bnugen. Genug, jedes Thal, jedeö Gelände, jeder Berg hat seme Zeit, die aber nach der Beschaffenheit der Witterung deS wahres modisicirt wird. Noch interessanter und auch wichtiger ist aber, daß auch lebcr einzelne Lawiueuzug seine Zeit hat; denn da. burch erhalten die Bewohner die Gewißheit, daß, wenn der ihnen benachbarte Lawincnzug sich einmal glücklich entladen hat, es Kohl., Alpenreisen, lli. 3 I^ ,.Lawinei!sm'sse," - Mcicbtisikeit oer Lawinen, dann für dieß Jahr nüt der Gefahr oder, wie sie sich aus« drücken, mit der „Lawinensorge" vorüber sei. Es giebt zwar, wie ich sagte, namentlich in den höheren Gegenden, Echlnckten und Felseinschnitte, in denen fast das ganze Iabr hindnrch Schnee herabpoltert und Lawine» beständig fließen. Man sieht sie im Tonnner fast nach jedem Tchneefalle und im Winter bei jedem wärmeren Wetter darin erscheinen. Allein die großen Massen Schnees in den größeren Lawinen« rinneil befestigen sieb uiebr nnd werden nicht von jeder Wet-terverändenmg afficirt. Sie erwarten den starken Sonnenschein und die großen Regen des Frühlings, und es stürzt dann Alles, was zu einem nnd demselben Lawinenznge gebort, nachdem es seine Reife erlangt hat, auf einmal ab. Ein ganzes Lawinensvstem, von der Tbalsohle, wo es ausmündet, bis zn dem Gipfel des Berges, wo sein Ursprung ist, entladet sich zuweilen anf einmal innerhalb einer Viertelstunde. Es mögen nachher bei wieder eintretendem Schneewetter noch manche kleine Lawinen in dieselbe Rinne hineinfallen; allein die Hanptreinigung ist geschehen, nnd bis in dic tiefen von Menschen bewohnten Gegenden kommen dann dnrch dieselbe Rinne keine neuen Ergüsse mehr. Es gibt, wie man sich denken kann, gewisse Lawinenznge, die sehr lang sind, nnd um welche oben sebr große Schncefelder herurnbängen. Sie werden bedeutende Massen abführen. Andere sind fürzer und haben kleinere Lawinen. Im Ganzen wird in jedem Iabr die Masse, welche eine Lawine abführt, sich ziemlich gleich bleiben. So kommt, um ein Beispiel anzuführen, in jedem Frühling eine große La--winc vom Ritzlihorn ins Ober-Haslithal herunter, Sie bleibt nie aus; sie fällt immer bis in den Boden des Thales und schüttet selbst große Schneemassen in die Aaar und über den Tageözeit des Lawinenfalles, 38 Fluß hinaus, der sich darunter seineu Weg bricht. Sie bil« det jedes Jahr eine Schneebrücke über diesen Fluß. Es versteht sich aber, daß ausnahmsweise mancherlei zu< sammentreffende Umstände die Masse der Lawmen vergrößern oder verringern können. Sehr häufig hört mau von den Bergbewohnern versichern, daß diese oder jene große und gefürchtete Lawine alle 100 Jahr iu ganz besonderer Größe und von außerordentlichen Störungen begleitet falle, ebenso wie hie und da die Bewobner des holländischen und friesi» schen Mceresstrandes an hundertjährige Perioden der großen Ucberstnthungeu glauben. Ich sagte, daß die Lawinen ebenso ihre Tageszeit ha« ben, wie ihre Jahreszeit, jene wird allein vom Stande dc< Sonne bestimmt. Des Nachts fallen in der Regel die Lawinen seltener, weil dann selbst im Sommer auf den Berghohen Frost eintritt, der den Schnee fesselt. Die wahre Zeit der Lawinen ist der Tag, nnd zwar die Mitte des Tages. Man kann meistens für die verschiedenen Gehänge jedes Berges, je nach dem Gange, den die Sonne, ihn umwan« delnd, nimmt, die Stunde bestimmen, wo der Schnee am lockersten ist und die Lawinen am häufigsten sich lösen. An ben nach Osten gewendeten Abhängen eines Verges stürzen ble Lawinen meistens Vormittags, an den mittäglichen Berg« seilen zwischen !2 und 3 Uhr, an den nach Westen gekehr-^n beginnen sie erst gegen Abend zu fallen. Ncbennmstände bedingen diese Stunden sehr verschiedentlich. Die Bergbewohner und Alpcnfi'chrer, welche diese Nebcnumstäude so wie die durchgreifende Regel zu berechnen verstehen, wissen gewöhnlich 5^ Ort, wo, nnd die Zeit, zu welcher Lawinen drohen, ^emlich genau anzugeben und richten darnach ibre Rei« sen ein. 3* Iß Sturz- und Fallphänomene bei den Lawinen, Es gewährt einen interessanten Anblick, wie oft die ge-ringfte eintretende Erkältung der Luft, entweder in Folge einer plötzlichen Witterungsveränderung oder beim Untergang der Sonne, auf einmal alle Quellen der Lawmen verstopft. Kaum Hort die Sonne oft nur in Folge einer vortretenden Wolke auf, einen Berg zu bescheinen. so steht auf einmal Alles in dem noch eben so bewegten Gebiete dee Schnees still. Alle den Einsturz drohenden Schneegehänge werden plötzlich wieder an den Felsen befestigt, alleö Erweichte erstarrt, alle kleinen von der Sonne in Bewegung gesetzten Wasser- und Schnee» riesel hören auf, nnd die Lawinen, die man noch vor wem» gen Minuten überall in Bewegung sah, sckeine» wie an die Felsen genagelt. Ich deutete an, daß die verschiedenen Arten von Lawi-nen sich häufig unter einander vermischen, und daß iu einel und derselben Lawine große Massen Schneestaubes, mächtige Blöcke gefrorenen Schnees nnd auck halbflüssige Schncemassen zugleich herabkommen können. Aber die Lawinen verbinden sich auch noch mit anderen Sturz- und Fallphänomenen, so mit den Erdschlipfen, mit den St ein rieseln, die sie auck selbst zum Theil veranlassen, und sie werden oft durch alle diese fremdartigen Stosse, die sie noch mit sich führen, besonders gefährlich. Ich bemerkte, daß die großen Lawinen häufig durch heftige Regengüsse veranlaßt werden. Sie verbinden sich daher nicht selten auch mit den wilden Waldgewässern stürzen mit ihnen zugleich in den Rinnen herunter und sind von Ueberschwemmungen begleitet. Da sind c6 dann gleichsam die Flußgötter, welche auf ihrem Rücken Schneelasten bergab tragen. Zuweilen verstopfen die Lawinen, wenn sie sich irgendwo festsetzen, den Flüssen den Weg und veran» lassen so verwüstende Aufstauung und Austretung des Nassers. Verwüstungen der Lawinen. 37 Auf manchen hohen Berghäuvteru nnd Terrassen ist die Erde morastig, besonders im Frühling, wo sich Alles mit Nasser vollsaugt. Zuweilen breclien diese Moraste für sich selbst ans nnd bilden die sogenannten Kothlawinen; zuweilen aber werden sie von den Schneelawinen veranlaßt, wo dann Schnee, Steine, Morast und Wasser zugleich wie ein Uavastrom herabstürzen; zuweilen reißen die Lawinen die Ra« senuarbe der steilen Alpenwiesen, über die sie binschleifeu, ans. Selten kommt irgend eine große Lawine ohne alles Erdreich herunter, und unten angelaugt sehen sie fast alle schmuzig aus; mituuter, nachdem der Schnee weggcschmolzen, sind dann die Wiesen nnd Felder, auf die sie herabfielen, mehre Fnß hoch mit wüstem Erdreich, Schlamm und Steinblöckeu bedeckt und für einige Zeit unbenutzbar geworden. Diejenigen Lawinen, welche durch Wälder gingen nnd Baume mit herabbrachten, haben auch uoch das Holz als einen Bestand« theil ihres Materials. Gewölmlich werden die iu den Sturz verwickelten Bäume auf eine unbarmherzige Weise zersplittert und zerstückelt; besondere da, wo dir Felsen schluchten, durch welche sie von den Lawinen herabgerissen wurden, sehr wild und eng waren, findet man das Holz oft auf eiue fast un» begreifliche Weise zermalmt. Der Schnee ist mit einer Menge von Blättern uud kurzen Blöcken vermischt: die Zweige sind wic mit Messern zerhackt, und die ganze Schneemassc ist mit grüner Farbe und mit dem Geruck der Tannennadeln ge-tränkt, so daß man bei maucken Lawinen fast sagen könnte. ^ sei von den Bäumen weiter nichts geblieben als einige Evlitter, der Gernch und die Farbe. Nach dem Gesagten kaun man sich einen Begriff von bem Aufruhr machen, den solche große Sckncestürze in der Atmosphäre hervorbringen müssen. Aber auch die kleinen 38 3awinendonner. Lawinen machen Lärm genug, und ihr gewöhnlicher Beglei» ter ist ein weithin schallender Donner. In der Ncgel eröffnet diesen Donner ein lauter und erschütternder Schlag, weil gemeiniglich eine ganze Eis- oder Schneeschicht auf einmal niederschlägt, und diesem Schlage folgt dann ein langer vielfach modulirtcr Nachhall, der jetzt ein wenig verstummt nnd daun wieder sich lauter erhebt, je nachdem der Schncestrom über mehr oder minder schroffe Abhäuge hinwegging. Man hört oft ganze Berggchänge beständig vom Lawincndonner ertönen und sucht mit den Augen vergebens die sichtbaren Spuren davon. Entdeckt man den Schncestrom endlich in der Ferne an irgend einem AbHange, so begreift man kaum, wie ein scheinbar so kleiner Sturz eine so gewaltige Wirkung hervorbringen konnte. Zuweilen vernimmt man diese Kano« nade aus den Wolken erschallen, welche die Spitzen der Berge mit sammt ihren Lawinen verhüllen. Mitunter liegen die Abhänge, deren Lawinendonncr das ganze Thal durchtobt, tief im Hintergrunde desselben verborgen. Im Thale von Interlaken vernimmt man deutlich den Donner der Lawinen, welche von der Jungfrau herabfallen. Der Gipfel dieses Berges ist in gerader Linie etwa vier Stunden entfernt. Die großen Oisblöcke, die eompacten Schneeklumpen, welche in der Säule jeder Lawine auf die Felsen wie Donnerkeile herabschlagen, machen die Stärke dieses Lawinendonners einigcrma» ßen begreiflich. Bei den heftigen Staublawinen kommt dann noch das Sausen und Pfeifen des Windes binzu. das sich aber in der (Kntfernnng vermuthlich auch nur wie ein Donncrschlag darstellt, da die ganze Erschütterung der Luft nur einige Momente dauert, und dieß Element beinahe so plötzlich wie beim Blitze gespalten wird. Den Schneestaub, den die Wirbelwinde, die „lourmsn- ^awiucn-Tcala. 39 wL" oder „Guxeten"*) der Alpen aufheben und wieder fallen lassen, könnte man als die zarteste Form einer Lawine, als den ersten Anfang dazu betrachten. Von ihm zu den eigentlichen Staublawinen, zn dem gleitenden halbflnssigen Schnee, zn den feuchten Schneeballen nnd zu dem Stürzen des gefrorenen Schnees übergehend, würde dann das in den Lawinen fortgetriebene Material immer gröber. Und endlich an dem äußersten Ende dieser Seala erscheinen die reinen Eis law inen, die ans dem von den Gletschern abbröckeln« den nnd in die Tiefe rutschenden Eise gebildet werden. In den Gletschern gehen bekanntlich beständige Verän» dcrnngen vor sich. Sie schieben ihre Eismassen in den Thä' lern, in denen sie liegen, weiter. Dabei stürzen die Eisspitzen und Gletscherthürme, welche sich auf der Oberfläche des Gletschers ausgebildet haben, häufig ein. Ebenso fallen fortwährend die Höhlen der Gletscher zusammen, bilden sich von Neuem und stürzen wieder znsammen. Die Sonnenstrahlen schmelzen am Nande der Gletscher oft allerlei phantastische Eissignreu aus, die nach einiger Zeit zusammenbrechen und sich dann wieder gestalten. Da die Gletscher sich meistens in die tiefsten Thäler ein» senken und^ da ruhig innerhalb der steilen Seitenwände ein< gekisttt liegen, so beschränken sick dann meistens alle jene Veränderungen in den Gletschern nnr auf einen kleinen Raum, die Eiöblöckc, Pyramiden, Spitzen, Höhlen nnd Splitter fal» len in sich selbst zusammen und bleiben in der Nähe deö Gletschers liegen. Viele Gletscher hängen indeß sehr hoch in den Bergen, ") In den französischen Alpen heißen die Schnee-Wirbelwinde „'lourmonte»", ^ den deutschen „Guzeten." z.y Lie- und Gletscherlawiocn. weit über den bewohnten Thälern erhaben, namentlich anf den steilen Seiten der Alpenkolosse. Hier trifft es sich nun oft, daß ein von oben herabdrängender Gletscher kein tiefes Thal findet, in welches er sich allgemach herabsenken könnte, vielmehr in seinem Fortschreiten Plötzlich auf einen schroffen Felsenabsatz trifft. Da schiebt er dann seine Eismassen so lange vor, bis sie unter ihrer eigenen Last abbrechen und hinabstürzen. Zuweilen fallen sie dabei anf eine flache Fcl-senterrasse hinab, bleiben daselbst liegen, ballen sich im Laufe der Jahre zu einem großen Eisklumpen zusammen, der am Ende einen neuen Gletscher bildet, welcher nun seinerseits wieder wächst nnd sich vorschiebt, bis anch er an einen Ab« gründ gelangt, wo er abermals abbricht und seinen Ueber« schuß in die Tieft fallen läßt. Auf diese Weise haben dann solche hohe Gletscher wohl drei bis vier und mehr Absätze oder Terrassen, auf denen sie abbrechen, zerstört werden und sich von Neuem gestalten. Hatten diese Gletscher eine unbegrenzte Kraft des Wachsthums, so würden sie am Ende doch in die Tiefe hinabkommen, sich da fortsetzen und irgendwo mit dem Menschen collidiren. Allein es ist offenbar, daß solche hochlicgende Gletscher an den schroffen Seiten der Berge nicht soviel Nahrung an Lchneezufuhr empfangen können als diejenigen Met» scher, die sich aus mächtigen flachabgedachten Schneefeldern in längeren Thälern allmälig hinabziehen. In der Regel werden sich daher solche Gletscher, nachdem sie einige Absätze hinuntergespnlngen sind, bald aus Mangel an Zufuhr erschöpfen. Ihre Zersplitterungen finden daher meistens nur in einer Gegend statt, in welcher der Mensch nichts mehr zn suchen hat. Sie stürzen ihre Blöcke von den schroffen Wanden hinab, ballen sie zusammen, verschmelzen sie in einander Verwüstungen durch Gletscherlawinen. 41 und zertrümmern sie wieder in einem ununterbrochenen grausen Spiel, das nur die Berggeister in der Nähe betrachten können. Sehr viele von den Lawinen, welche die Reisenden in den Alpen bewundern, sind solche l5is- und Gletscherlawinen, die natürlich im Sommer, wo die Gletscher am meisten sich ausdehnen und wachsen, am häufigsten sein müssen. Ks gibt Abhänge und Felswände, an denen fast fortwährend Eis» splitter herabrutscben. Zuweilen geschieht es, daß einzelne Gletscher durch ungewöhnlich starke Schneeznfuhr bedeutend über ibre Grenzen hinauswachsen nud so sich Abgründen nähern, von denen sie sicli soust zurückhielten. Nicht selten wachsen sie über diese Abgründe lnnaus. brechen an ganz ungewohnten Stellen ab nnd richten dann bedeutende Verwüstungen an. So wird von verschiedenen Schriftstellern ein kleines Dorf in Granbünden citirt, das am Ende des vorigen Iahr-bunderts durch eine solche Gletscherlawine zerstört wurde. Es lag dieses Dorf an dem Fuße einer überaus steilen nnd hohen Felswand. Auf den höheren Bergterrassen oberhalb dieser Felswand lagen die äußersten Ausläufer eines Glet» schers, der bisher nur an den Rand dieser Wand herange» rückt war. Seit einigen Jahren aber hatte er — in Folge von Ursachen, die in den höheren Bergen zn entdecken gewesen wären, — seine Massen immer weiter vorgeschoben und hing mit ihnen am Ende drohend über den Köpfen der armen Thalleute, welche die Gefahr nicht abznwenden wußten. An einem bellen warmen Früblingstagc verfinsterte sick vlötzlicb der Himmel über ibucu, nud eine große Partie des Gletschers, die sich abgelöst hatte, siel zerschmetternd auf das Dorf herab, das er mit dem größten Theile seiner Einwoh« 42 „Eisschlllg." ner vernichtete. Zu den sehr bekannten durch Gletscherabbrüche herbeigeführte,: Unglücksfallen gehört auch noch die Wasseranschwcllung, die in dem Bagnc-Thale im Kanton Wallis durch Gletscherlawinen veranlaßt wurde und einen großen Theil dieses Thales verwüstete. Ueber diesen merkwürdigen Vorfall und die Versuche zur Beseitigung seiner üblen Folgen sind mebre sehr interessante kleine Schriften erschienen. Da die herabstürzenden Eisblöcke der Gletscher entweder selbst mit Schnee bedeckt sind oder doch meistens auf beschneiten Felswänden und Abhängen herabfallen, und da sie zum Theil auch selbst unterwegs in Splitter und Staub ans« gelöst werden, so bieten, aus der Ferne gesehen, diese Lawinen ungefähr denselben Anblick dar, wie alle übrigen. Wenn wir unter dem Capitel Lawinen alle Arten fallenden Schnees und Eises begreifen wollen, so müssen wir hier auch noch des sogenannten „Visschlages" erwähnen, worunter die Forstleute der Alpen das Falleu der gro^ ßen Eiszacken und Säulen verstehen, die sich im Winter an den Felsenwänden anhängen, und dcrcn Abfall im Frühlinge, wenn anch nicht zu den großen Plagen, doch zn den ,,^o-tites mj5«l-68" des Lebens in den Alpen gehört. Die vielen kleiucn und großen Wasserfalle der Alpen verwandeln sich im Winter in eine Menge starrer und zum Theil sehr pittoresker Eisgebildc. Selbst an den steilsten Felswänden stellen sich Eisstalaktitcn empor, die hie und da wie Tannen auf einem kleinen Vorspnmge wurzeln. Gewaltige Eiszapfen hangen an den überstehenden Felsen herunter und gewähren, Säule neben Säule stchcnd, de.n An» blick riesenhafter Orgelpfeifen. Es gibt einzelne Felswände, die dermaßen mit solchen Visguirlanden und CisstalaMten. H,^ Eisgehängen garnirt sind, daß sie von schaulustigen Reisenden ebenso wie andere Alpenwunder besticht zn iverdcn verdienten. Eine solche Felswand ist z. B. die „Eisflne" oder „Eisen-ftue" im Thale von Lauterbrunnen. Von dieser Wand tröpfeln im Sommer dicht neben einander mehre kleine Staubbäche herunter, die dann im Winter die ganze hohe Wand mit sehr bunt gestalteten und mannigfaltig untereinander verbundenen Eiöguirlanden schmücken. Allen Absätzen der Fels« wand setzen sie große Allongcperrücken von Eis ans. Hier stellen sie große Eisbäumc hin, dort wieder eine Reihe von krystallenen Kerzen. An einigen Vorsvrnngcu werden rieseu« hafte Garnituren hingezogen mit gewaltigen Troddeln, deren Dimensionen man nach Klaftern bestimmen muß. Wenn im Frühling nun sonnige Tage kommen und die Felsen sich erwärmen, so brechen diese Sänlen, Zacken und Klumpen überall ab und stürzen in die Tiefe, indem sie unterwegs unter einem Donner, der dem der Lawinen ähnlich ist, an den Felsen zerschellen. Die Eisbrocken fallen zuweilen mit solchem Gewicht und solcher Heftigkeit in die Walder, daß die Bäume nnter ihnen znsammeubrechen. Die unter qnellenreichen Klippen liegenden Waldungen haben immer mehr oder weniger von diesem Eisschlage zn leiden. Gewöhnlich haben die Eismas-fen sich schon seit Jahrhunderten durch die Waldungen eine Bahn gebrochen, auf der sie daun jahraus jahrein hinabrollen. Allein Wind, Regengüsse und andere Umstände wirken anf diese unregelmäßigen Gebilde gar vielfach ein. Die Hauptmassen kommen nicht immer an denselben Stellen zu hängen, und es werden daher zuweilen andere Bäume und Waldgegenden angebrochen. Dann ereignet es sich auch, daß die Eisblöcke im Herunterfallen an einem Punkte ins Stocken 'Hi Eisberge bei Wasserfällen. gerathen und daselbst gefrierend einen glatten Vorsprung bilden. Gleiten nun andere Massen zn diesem Vorsprunge nach, so gewinnen sie ans demselben neue Kraft und gelangen dann, indem sie von ihm ricochetiren, zn solchen bisher u«angegriffenen Waldpartiecn, zu denen sie ohne Beihülfe des Vorsprungs nicht hätten gelangen können. Einzelne Waldparticcn werden von solchem Eisschlage wie von Kartätschenfeuer beständig beschädigt und decimirt, «nd gerathen zuweilen in einen sehr traurigen Zustand. Auch bei dem Van der Chausseen macht der Eisschlag hie und da bedeutende Tchutzwerke uöthig. Da im Winter, besonders gegen das Ende desselben, oft warmes und kaltes Wetter abwechseln, so legen sich die abstürzenden Eisblöcke, Eiöhaubeu und Zapfen unter manchen Wasserfallen, wo sie nicht auf einem zu großen Gebiete zerstreut werden, zu großen Haufen an. Diese Haufen werden durch das weiterhin auf sie herabstürzende Wasser vermehrt, das sich als Cement in die Zwischenraume setzt, und das Ganze gefriert dann zu einem oft sehr bedeutenden Eisberge, der jenen aus Lawinenschnee entstandenen Eisbergen ähnelt, znsammen. Diese Eisberge bleiben bei manchen Wasserfällen bis in den Juni und Juli hinein liegen, ehe sie von Sonne und Wasser gänzlich verschmolzen sind. Solche Eisberge sieht man dann oft am AbHange der Berge wie weiße Kirchen oder Tempelruinen mitten im Grün der Pflanzen liegen. Die meisten zerstörenden Naturereignisse m den kolossalen Alpen sind so großartig und unwiderstehlich, daß der Mensch mit feinen schwachen Kräften wenig dagegen vermag und gewöbnlich sogar uocb weniger versucht, als er wohl vermöchte. Anch der v orbeng eude n und schüßendeu Mittel gegen Bchntznüttel gegen die Lawinen, 45 die Lawinen gibt es sehr wenige und nicht sehr erfolgreiche. Ist eine Lawine erst einmal in Bewegung, so ist nichts im Stande, sie zu hemmen, wie man nach dem, was wir oben über ihre Gewalt sagten, leicht begreifen wird. Man muh sie daher wo möglich in der Höhe in ihren Quellen anpreisen nnd zu verstopfen suchen. Dieß geschiebt hie und da wirklich mit Erfolg. In einigen Gegenden, wo über den Dörfern solche steile Niesen und Schneefelder schweben, wie wir sie oben beschrieben, begeben sich die Leute, wenn sie wiffcn, daß bedeutende Schnecschichten angehäuft sind, hinauf nnd heften durch eingeschlagene Pflöcke diese Schneeschichten an den Boden. Wenn sie diese Pflöcke auf dem ganzen Felde richtig und in gehöriger Anzahl vertheilen, so gelingt es ihnen dann oft, das Abrutschen des Schnees zu verhüten und ihn so lange festzuhalten, bis Föhn oder Sonne ihn beseitigt haben. Dieses einfache Mittel wird namentlich in manchen Thälern des Wallis angewandt, nnd man könnte sagen, daß, so wie Lawinen oft durch sehr unbedeutende Umstände veranlaßt werden, sie ebenso durch Kleinigkeiten ge< hemmt werden können. In beiden Hinsichten sind die politi-scken Ereignisse, die Erneuten und Völkeremvörungen mit ihnen zu vergleichen. Statt der Pflöcke werden zum Schutz der Waldungen auch hie und da Verhaue gemacht. Die Forst» leutc schlagen am höchsten Rand einer Hochwalduug, welche gerade von einer Lawine bedroht wird. die äußersten Bäume um und bilden daraus an der Waldgrenze eine Barricade. Eine solche Barricade ist zwar nicht im Staude, einer großen direct gegen sie anfahrenden Lawine zu widerstehen, allein sie kann doch kleinen Schneeabfällen, welche zuweilen durch oft wiederholte Abrisse den großen allmälig den Weg bahnen, begegnen oder doch diesen großen in die Flanke fallen und Htz Pannwälder. ihre Richtung in etwas abwenden oder wenigstens Seitenbeschädigung verhüten. Es heißt bei den Lawinen wie bei allen Feinden: cli-vkw ot, mipora. Könnte man auf einem großen Felde, von dem zerstörende Lawinen abzufallen pflegen, nnr alle zehn Schritte einen Strauch pflanzen, der die Kontinuität der Schneemafse unterbräche, so wäre damit oft schon geholfen, weil dann die ganze Masse nie anf einmal zum Losrntschcn kommen könnte. Man begreift daher, wie wichtig bei hohen kahlen Flächen die Bcpflanzung mit Bäumen ist. Mn paar Hundert auf einem solchen Felde hie und da zerstreuter Bäume können da oft die Schutzengel ganzer Waldungen, die wciter unten liegen, werden. Daher ist es denn auch eine alte Sitte in den Alpen, das Aushauen solcher hochgelegenen Wälder, die an bedrohten Stellen liegen, zu verbieten oder, wie man hier sagt, solche Wälder „unter den Bann" zu legen und sie zu „Bannwäldern" zu machen. Man findet oberhalb vieler Alpendörfer solche „Bannwälder", in denen seit Jahrhunderten kein Holz gehauen ist. Allein so heilig diese Bannwälder auch gehalten worden und so wichtig sie zuweilen sind, so ist doch gar Mancherlei bei ihnen zu erinnern. Erstlich sind sie mehr verbütcnd als schützend. Sie verhüten es, daß sich auf dem Boden, den sie bedecken, und in dessen nächster Nachbarschaft Lawinen bilden. Auch halten sie wohl die kleinen Lawinen zurück. Gegen größere Lawinen, die aus höheren Gegenden kämen, vermöchten sie keinen Schutz zn gewähren. Ist der Berg einigermaßen steil, so würden schon Lawinen, die aus einer Entfernnng von 700 oder 800 Schritt herankämen, eine unwiderstehliche Gewalt haben und durch den Bannwald, wie Kanonenkugeln dnrch eine Schaar Soldaten, mit Leichtigkeit hinfahren. Die Bann» Uebelstände del den Bannwäldern. 47 wälder sind daher nur da wichtig und wirksam, wo durch ihr Verschwinden ein neues Lawinenfeld gebildet werden lönnte. Zweitens ist bemerkenswerth, daß in neuer Zeit die meisten Bannwälder, eben in Folge des Bannes, der sie eon< M'viren sollte, in sehr betrübten Zustand gerathen sind. Die der Forstwissenschaft unkundigen Vorfahren glaubten genug zu thnn, wenn sie die Bänme in solchen heiligen Wäldern gar nicht berührten nnd sie sick selbst überließen. Dadurch aber gebiethen eben diese Wälder in Verfall. Die großen Bäume erlangten ein hohes Alter nnd singen am Ende an zu faulen nnd abzusterben. Unter ihrem dichten Schatten vermochte sich in der vom Menschen nnbeachtctcn heiligen Wildniß kein neuer kräftiger Anwuchs zu entwickeln, und so ist es denn gekommen, daß viele jener Bannwälder jetzt aus lauter alten fanlen Bäumen bestehen und als Befestigungen gegen die Lawinen ganz untüchtig geworden sind. Man hätte lesser gethan, diese Wälder, statt sie in den Bann zu thun, forstwirtschaftlich zu behandeln, die jungen Bäume recht groß und stark werden zu lassen, sie aber im hohen Alter wegzuhauen nnd für neuen Anwuchs zu sorgen. Endlich war daö starre Festhalten an gewissen Bann« Wäldern auch deswegen nicht gut, da die Lawinengefahr, so constant sie im Ganzen ist, doch sick mannigfaltig ändert und bald dieser, bald jener Punkt mehr bedroht wird. Wie die wilden Ströme, welche zwar im Ganzen in denselben Ufern fließen, aber dock je nach Umständen im Laufe der Zeiten bald dieses, bald jenes Ufer mehr angreifen, so müssen auch die Lawinenzüge immer beobachtet und je nach den in ihnen cintretmden Veränderungen anch die, Schutzmittel gegen sie modificirt werden. Manche Dorfschaft hielt Jahrhundert. 48 Einzelne Bäume alö Schutz gegen Lawinen, lang an ihrem alten Vannwalde, wie an ihrem Hort und ihrem Heil, und bei einer spater angestellten Nachforschung ergab sich dann zuweilen, daß der Wald nicht nur untauglich, sondern anch völlig überflüssig geworden war, da sich die drohende Gefahr nach einer anderen Seite hingezogen hatte, und daß es besser sei, die alten Bäume ganz wegzuhauen. Wer die Bauart der kleinen Bergdörfer näher studirt, findet außer diesen Bannwäldern, jenen Verhackeu und Pflöcken anch uoch wohl andere kleine Vorrichtungen getroffen, welche darauf abzielen, Schutz gegen Lawinenbeschädigung zu verschaffen. Im Ganzen ist es zwar auffallend, daß diese Dörfer meistens immer da liegen, wo große Lawinen ausmünden und daher die Lawinen, welche die tieferen Thäler erreichen, weit häufiger ans den Menschen und seine Anlagen als ans unbebaute Flecke hinzielen. Es erklärt sich dieß wohl anö dem Umstände, daß meistens in der Welt da, wo die größten Gefahren drohen, auch die größten Vortheile zu finden sind. An dein Ansgange wilder Vergschluchteu haben die Lawinen die Steinfälle, die Berggewässer gewöhnlich auch seit uralten Zeiten sehr viel Erdreich aufgehäuft, den Boden erhöht und so den ersten Anlaß zur Gründung eines Dorfes an solchen Punkten gegeben. Die Schluchten, in denen die Lawinen hernnter fahren, sind zugleich als Bergstraßen für Herabführung des Holzes zu benutzen, und oft fließen zugleich Gewässer in ihnen, welche am Ausgange die Anlage einer Mühle oder eines sonstigen Etablissements erlauben. Wie ganze Dörfer ihre Bannwälder conserviren, so sieht man wohl einzelne Hausbesitzer darauf halten, daß dieser oder jener dicke alte Baum hinter seinem Hause nicht weg« geschlagen werde. Solche Bäume haben zuweilen ganze Mcichgültigkeit der Alpt'nl'cwol'nn' gegc!l d. Lawinengefahr. ^9 Hauswirthschaften gerettet, indem sie sich den äußersten Aus-laufern und Nebenarmen einer Lawine mtgcgenstcmmten und sie zum Stillstand brachten. Nicht selten legen sie auch ihre Schennen und Etallungen gegen die Seite, von welcher Lawinen mit Schaden drohen, zum Schntz ihrer Wohnhäuser vor. Können jene Oebände anch keine Lawine hemmen, die es ernstlich auf Zerstörung des Dorfes abgesehen hat, so hindern sie doch kleine Beschädigungen, fangen den ersten Wind auf, schützen die Fenster vor dem Zerbrechen und sind bei vielerlei Nebcnereignissen ein kleiner Schutzwall. Dieß ist das Wenige, was ich von den verschiedenen Mitteln, die der Mensch gegen Lawinen ergriffen, in Erfahrung bringen konnte. Im Oauzen kann man sagen, sind die Bergbewohner gegen jene schreckliche stets drohende Gefahr ziemlich gleichgültig uud arglos geworden, und namentlich ist, wie bekannt, in allen Gegenden der Schwcizcralpen die Waldwirthschaft und Banmanpftanzung, das wirksamste Mittel gegen Lawinen, sehr vernachlässigt, und ans jedem Thale schallen dem Reisenden Klagen über die stets wachsende Lawinennoth entgegen. So hatten wir denn die Ursachen, die verschiedeneu Formen und Wirlnngen dieses merkwürdigen Naturphänomens und endlich anch seine unheilvolle Beziehung zu den Werken der Menscheuhaud betrachtet. Die Lawinen gewähren aber auch noch eine Beziehung, auf die wir hier zum Schluß hindeuten wollen. Ich meine ihre malerische oder ihre ästhetische Seite. Die Lawinen bringen höchst pittoreske Effecte hervor und bewirken übcrhanvt vermittelst Auge und Ohr in der Seele des Menschen gar mannigfaltige Sensationen. Ich habe sie noch selten in einem Werke über die Alpen von die« Koli l. Alpcmcisc». lll. i HO Das Piltovtt'kc der öcnvinm, ser Seite gewürdigt gesehen. Selbst in einem, im Uebrigen schätzcnswerthen Aufsätze des bekannten Autors und Malers Töpfer über das Malerische der Hochalpenlandschaft ist der Lawinen als eines pittoresken Elements der Alpen nicht gedacht. Auch haben, wie es scheint, die Hochalpenmalcr die Lawinen noch gar nicht in ihre Bilder aufgenommen, was vermuthlich dader kommt, weil sie gewöhnlich nur zu einer Zeit stndirend und skizzircnd in die Verge wandern, in welcher die meisten Lawiueneffectc nicht beobachtet werden können. Man sagt, die Lawinen seien für den Maler ein zn vorübergehendes Phänomen. Aber der Blitz, den doch die Künstler läng( hundertfach behandelt haben, ist noch vicl vorübergehender, und dann sind viele der dnrch die Lawinen veranlaßten Scenen in der That lange danernd und bleibend. Zuerst die Lawine selbst. Man Postire sich an einem sonnigen Frühlingstage einigen jcncr Bergkoloffc gegenüber, etwa auf den Gipfel eines Hügels oder Felsen mitten im Thale, von wo man über die nächsten niedrigen Gegenstände hinwcgblicken kann nnd eine freie Ansicht der schroffen Gelände nnd Wände auf allen Seiten gewinnt. Wer die Lawinen einigemal gesehen hat, wird bald von einer so großen Leidenschaft für ihre Beobachtung ergrissen, daß cr sich an einem solchen Platze, wo cr sich zu seiner Bequemlichkeit ein Feuer anmacht, gern für einen ganzen Tag festsetzt, wo möglich in der Gesellschaft eines gntcn Freundes oder Buchs, nm die Zwischcnräume auszufüllen. Die gewöhnlichste Form, unter der alle Gattungen von Lawinen sich dem Auge darbieten, ist die eines Nasserfalls. Allein da sie wildere Wege gehen nnd von heftigeren Explosionen begleitet werden, so sind sie auch viel mannigfalti- Anblick einer Staublawine. 51 ger als die Wasserfälle und obwohl von mehr vorübergehender, doch von viel stärkerer Wirkung. Das erste Losreißen eines Schueefeldes von den Höhen, so wie ich es oben beschrieb, gewahrt man selten, weil der Donner, der dabei losbricht, immer einiger Zeit bedarf, bis er zu dem Ohre des Beobachters gelangt und ihu aufmerksam macht. In der Regel fließt die Lawine, wenn das Auge sie findet, schon in ihren Gräben und Schluchten, oder ist bereits mitten auf ihrem Wege zur Tieft. Die brillantesten Formen bilden die Staublawinen, theils weil in ihnen der Schnee am reinsten ist und mit den dunkeln Felsen und Fichtenwäldern am angenehmsten con-trastirt, theils weil sie gewöhnlich die kühnsten Sprünge machen und ihre Staubwolken das Schauspiel noch ver» größern und vcrmannigfachen. Oft, wenn das Bett der Lawine durch vorliegende Felsen verdeckt ist, erkennt man sie nur an dieseu Wolken, die, so wie der Schnccstrom hinabfahrt, aus immer ticfereu Gegenden aufsteigen. Mitunter stellt sich das ganze volle Schauspie! dem Zuschauer von vorne dar', dann sieht man, wie die Schueemaffeu gleich einem ausgeleerten riesigen Mehlsack über die Abhänge weg sich frei durch die Lüfte herabschwingen, wie sie auf ciue untere Felscnstnft schlagen, zerplatzen und nnter stets aufdampfenden Wolken in viele Arme und Acrmchen vertheilt weiter stießen. Die Arme trennen und verbinden sich wieder mehrfach nnd ziehen anf diese Weise viele breite und schmale, zarte und zarteste Staubfäden über die Felsen hin. So Plötzlich aber das ganze Schneefeld auch in sein Bett herabsinken mochte, so vermag cs doch den ganzen Inhalt des Felsen-canals nicht auf einmal auszuschütten, und cs dauert oft einige Minuten — bei sehr großen Lawinenzügen H2 Anblick einer Gruudlawinc. wohl eine Viertelstunde — bis in dem ganzen Lawinenthal-system wieder Ruhe eintritt. Der Schnechrom wird nach und nach schwacher, seine verschiedenen Fäden immer dünner, bis es am Ende nur noch ganz fein nnd halbdurch-fichtig über die Felsen hin stäubt, was zuweilen noch länger so fortgeht. Die Grundlawinen, die wegen der Feuchtigfeit des Schnees langsamer gehen, kann man gewöhnlich am längsten verfolgen. Man sieht sie oft hoch oben im Gebirge ans verschiedenen Schluchten znglcich heranstürzcn. Man erkennt durch das Ferurohr die in dem wilden schroffen banale hin-abpolternden nud mit Steinen, Erde und Holzsplittern vermischten kleinen nnd großen Schneebälle, deren Anzahl Legion ist. Dn hörst das Gcpolter nahen. Jetzt entzieht sich dir das ganze Schauspiel, das Lärmen hört auf. Dn glaubst, die Lawine sei irgendwo stecken geblieben. Aber sie läuft indeß langsamer auf dem minder stark geneigten Nncken einer Terrasse hin, wo du sie wegen der nabcn vorstehenden steilen Wand nicht gewahren kannst. Auf einmal erscheint, uüt erschreckendem Donner hervorbrechend, ihr dichter Vortrab dir zn Häupteu ganz nahe. Dn siehst ihn einen Augenblick hart an dem Rande des kleinen Hügels, auf dem du dem Lager gewählt hast. Ein langer Schlepp folgt ihm wie ein Waldstrom nach nnd rauscht einige Minuten wie ein prachtvoller Wafferfall vor dir nieder. Obgleich die Wasserfälle das Gemeinsame haben, daß sie alle ohne Ausnahme zcrschänmcudcs Wasser sind, so weiß doch jeder der Natnrästhetik einigermaßen Kundige, wie verschieden sie sind und wie jeder seinen eigenen Charakter bewahrt. Man kann ganz dasselbe anch von den Lawinen bemerken. Obgleich sie alle den Wasserfällen gleichen, so Ma^nsclie (fssctte der ^an'io^lvcrwilüuüg, Z.'Z sieht mau doch laum zwei, dic ganz dasselbe Schauspiel dar^ bieten, und fast jede überrascht das Auge und den Oeist mit neuen und eigenthümlicheu Entwickelungen und Effecten, Man könnte sie wie die Wasserfalle in gewisse Klassen briugen. Doch würde ein näheres Eingeben auf diese Elassisi-eirnng ei» so warmes Interesse für die Sache bei dem Leser voraussetzen, wie es nur Die haben können, dic diesem Phänomen ihre besondere Aufmerksamkeit gewidmet und diejenige Leidenschaft für die Lawinen gewonnen haben, von der ich oben sprach. Wir gcwölmlichcn Reisenden seben die Lawinen immer nur tu einer gewissen rcspectvollcn Entfernung. Ganz andere Dinge von den Eindrücken dieses Phänomens auf das Gemüth des Menschen wissen aber die Bergsteiger zu berichten, die sich einmal selbst in dem Sturm einer Lawine befanden, oie mitten uuter den zusannucnkracheuden Bciumeu lagen nnd die ihr Donner ganz in der Nahe umtobte, oder dic Dorfbewohner, welche der Lawiucnsturm selbst mit Nacht nnd Graus umhüllte, und die dann auö deu Trümmeru ibrer Habe gerettet wurden. Es ist Schade, daß Salvator Nosa, der sr manche wildromantische Scene malte, so manche Landschaft uus im to-bcudcu Gcwittersturmc darstellte, nicht einmal eine Lawine in der Nahe zu sehen bekam. Er würde dabei vermuthlich manches interessante Thema für seiuen Pinsel zu gewinnen gewußt haben. Malerische Effecte und Ansichten anderer Art stellen sich dar, wenn man die Orte der Zerstörung großer La-wineu besucht. Da sieht mau die zertrümmerten Eennhütten und Schcucru wie Kartenhäuser glatt au deu Boden gedrückt. Da kommt man zu Felsenterrassen, welche ehemals ibrer üi Herabgestürzte lind vielfach zerbrochene Baumstämme. ganzen Ausdehnung nach mit Bäumen besetzt waren. Der Lawinensturm hat sie alle bis auf die Wurzel wie mit einem Messer abgeschnitten und die ganze Reihe hinabgestürzt. Zahllose Baume*) siud auf den Kopf gestellt und strecken in allerlei Attitüden ihre Wurzeln zum Himmel auf. Andere sind zwei-, dreimal an ihrem Stamme gebrochen, vermuthlich in Folge verschiedener Luftstöße, welche die in Absätzen kommenden Schneemaffen aushauchten. Diese Luftstöße sind so unbegreiflich scharf, daß sie, wie ich sagte, gleich sausenden Messern schneiden. Den beßten Beweis davon liefern die jungen hohen schwanken Bäume, die man oft bloß oben in ihrer Krone abgeschnitten findet. Ihrer Elasticität und geringen Widerstandsfläche wegen bleiben diese jnngcn kleinen Tannen sonst in iedem Sturme stehen. Unter dem Anblick solcher Scenen klettert man oft zwei Stnndcn in einem verwüsteten Lawinen-Thale hinauf. Oft ist der Ausmündnngsplatz einer Lawine an wilden malerischen Effecten reicher als alles Uebrige. Die gewöhnlichen kleinen Lawinen bieten hier zwar weiter nichts als einen Haufen schmuzigcn braunen Schnees dar, der zur Verunstaltung der Landschaft zuweilen noch bis in den Sommer hinein liegen bleibt; aber was im Kleinen häßlich ist, wird im Großen zuweilen malerisch. Das Material, das die großen Lawinen ausschütten, bedeckt in der Tiefe des Thals, wo es liegen bleibt, zuweilen cine Fläche von 100 bis 200 Schritt Breite, von 500 bis b00 Schritt Länge und von 20 bis 30 Fuß Höhe. Die dicken geschwärzten Schneeballen, die zu Tausenden ans ^1, *) Ich besichtigte in einer Gegend des Bcvncr Oberlandes die Wirkungen einer Lawine, die nach der forstauttlicben Schähnng über 1800 Tannenbänme umgerissen hatte. Phantastische Gestalte» der Schiu'omassen. 55 der Schlucht hervorfnhren, bilden da ebenso phantastische Gestalten von mancherlei Form, wie die Gletscher an ihren Ausgängen. Hie und da haben sie sich zu hohen Pyramiden übereinander gehäuft, die verfallenen Thürmen gleichen. Dort steht man lange und tiefe Furchen in ihnen gezogen, die von einem im Schnee fortgeschleiften Felsen herrühren. Zuweilen wurden die Schnecmassen dnrch irgend eine Verengung des steinigen Terrains, wie das gehackte Fleisch in der bekannten Wurftmaschinc unserer deutschen Hausfrauen hindurchgetrieben, nnd man sieht daher lange dicke wurstähnliche Massen über einander hinausgeschoben*). Haben sie nn Thale, wie daö gewöhnlich ist, einen See oder einen Flnß erreicht, so bilden sich längs dem Ufer desselben hohe, schroffe Schnecmanern, ans denen abgerissene Baumstümpfe und andere solche Dinge über das Wasser hin hervorragen. Die ganze Masse ist mit zahllosen verstümmelten Tcmncnbäu-men, Holzsplittern, Steinen, Wurzeln nnd Staub gemischt. Große Wallnuß- und andere Fruchtbaume liegen oben auf, welche,- da sie erst unten cMgcrissen wurden und daher keine so lange zertrümmernde Reise wie die Tanncnbänmc zu machen hatten, noch ,ihr ganzes Gezweige haben. Da die Schneeblöcke oft unausgefüllte Klnsty zwischen sich l«M lassen, so ist es sehr nnbeqncm und zuweilen gefährlich, m -diesem Nuin herumzuklcttern. Die Thalbcwohner, deren l5ommunicationswege dnrch solche Lawinen unterbrochen wm» den, ebnen und brücken mit Spaten nndBretcrn bald wie- *) So sah ich einc Lawine, von der nn Tbcl! in cinen laugen, liefen Mn Menschenhänden ausgemauerten (Nrcibm qcratbcn war. Dic im Graden sortsscscliol'cnen Massen hatten alle dic Gestalt detz-seN'en augcnommen und zeissten sie in ilnv'!! iricder hinaliögc-drängten Partieeu. KH Die ^chueehohlen der Berggewässcr. der fleine Wege über diesen Schutt hinweg. War das Thal, in welches die Lawine stürzte, eng, und warf sich die ganze Maffe direct in den Fluß des Thales, so bohrt sich dieser dann einen Weg darunter weg, und es entstehen große breite Echnecbrücken. Diese Schncebrnckcn dauern oft noch bis tief in den Sommer hinein, wahrend schon Alles ringsumher grünt und blüht, und die Menschen und das Vieh benutzen sie lange zum Uebcrgang über den Fluß. An denjenigen Orten, wo der von Lawinen aufgehäufte Schutt gar nicht wegschmilzt, entsteht dann eine Maffc, die zwischen Schnee nnd Gletschereis die Mitte halt. Mitten durch solche Massen hindurch stießt gewöhnlich ein wildes Berggewässer, das ans derselben Schlucht kommt, aus der die Lawinen hervorbrachen. Dieß (Gewässer hat meistens eine große lange Höhle, die zuweilen o<) Fuß Höhe und eine noch größere Breite hat, ausgearbeitet ^). Die Wände dieser Höhlen bestehen aus gefrorenem Schnee. Auf ihrer Oberfläche zeigt sich eine Mosaik vou grünlichen Eisl'Iöckcn und dicken Steinen, die in der Maffe festgefroren sind, und hie und da hängen lange Viszacken herunter. Da diese Massen und Höhlen gewöhnlich in einer etwas höheren und kälteren Gegend hängen bleiben, so bieten sich meistens aus ihren Oeff-nnngen schöne Aussichten auf das Thal dar. ^i Dieß Alles, däucht mich, reicht hin, um zu beweisen, wie reichen Stoss zur Beschäftigung das Studium der Lawinen auch dein Maler zu lieser» im Stande wäre. ^n Mil'1? ,ni6 Wie dem Maler, so könnte man endlich auch dem Nechts- *) lnne solche Hohle befindet sich z. B. im lnnreren ^mucrbrun-nen-Thale in dein ^awincuschutte. der ans dcm hchcn Aoth-Thale hervorgestoßen wird. Ich werde milcn eine »ciherc Schilderung von ihr zu geben versuchen. NtchlZsttciligkciten in Folqe von sawnielwcnvsistnnqcn. 57 gelehrten noch etwas über die Lawinen sagen. Denn bei der grotesken Zerstörung und Vernichtung des (5igentbnms der Menschen, welche die Lawinen veranlassen, wird man es begreiflich finden, daß in der Regel bei dem Sturze einer sehr wilden und schädlichen Lawine allerlei Nechtöstreitigkeiten über die Fragen entstehen, ob der Eine seinen Wallnnßbaum reclannren kann, der seinein Nachbar daö Dach eingeschlagen hat, ob der Andere auf Entschädigung dringen darf bei den höheren Wald Besitzern, deren Banmstämme seine Wiese aufpflügten, ob der Beschädigte ein Pfandrecht an diesen Bäumen habe, ob diese höheren Waldbesitzer, wenn sie dnrch schlechte Waldwirthschaft nnd Vernachlässignng der gehörigen Vorsichtsmaßregeln die Entstehung von Lawinen verschuldeten, dem Beschädigten nicht auch für den ganzen ^Schaden, den der Schnee veranlaßte, verantwortlich sind :e. Indeß sckeint es mir, daß diese Fragen nach den verschiedenen in den Lawinen-Thälern herrschenden Rcchtsgewohnhciten theils so verschieden, theils so wenig genügend beantwortet werden, daß man davon kein allgemeines Bild geben kann, und wir wollen ev daher bei den obigen Bemerkungen, die wir dem Naturforscher, dem Bergreisenden, dem Künstler über die Lawinen vorlegten, bewenden lassen. lll. Gletscher. , Das Wort Gletscher wird in den Alpen in mehrfacher Vcdeutnng gebraucht. Gemeiniglich versteht man darunter die großen bleibenden Eismassen, welche sich von den höheren Gebirgen in die Thäler binabsenken. »5 '/l?1i /i^ Da, wo man die Alpen aus einiger Cntfernnng siebt, nennt man aber nickt bloß jene grosien Eiszapfen, sondern überhaupt die mit Schnee und Ms brdeckten Gebirge selbst „Gletschers In diesem Sinne nehmen die Leute das Wort, wenn sie z^ V. fo sprechen: „die Gletscher (i. e. die weißen SchneeaMrgc) sind heute sehr delltlich zu sehen." Weil die ganze Reihe von Echneebcrgen eine ununterbrochene Kette zu bilden scheint, so fassen die Vergbewobner sie ancb wohl als ein Ganzes auf und sprechen von ibi im Singularis: „der Gletscher" In diesem eolleetivischen Sinne sagen sie z. B.: „Im Gletscher sind heute viele Lawinen gefallen." oder: „es bläst ein kalter Wind aus dem Gletscher herab," indem sie dabei nicht an diesen oder jenen bestimmten Gletscher, sondern an die ganze mitten in den Gebirgen als Kern steckende Eis- und Schneemaffe denken. Verschiedene Anwendung des Wortes „Gletscher." Hg So wird z. B. im Verner Oberlande vom gemeinen Mann die Gruppe der Schnecberge „Jungfrau", „Eiger", „Mönch" mit Uebergehung dieser Eigennamen auf eine sehr bequeme Wcise bloß „der Gletscher" oder „im Gletscher" bezeichnet. Das Volk plagt sich überall nicht gern viel mit Eigennamen für jedes Ding, und man kaun eine solche Bezcich-nungsart als allgemein in den Alpen betrachten. In einigen Theilen der Alpen, z. B. in Uri, heißt „Gletscher" vorzugsweise das durch Winterkaltc gebildete Eis, das sich in deu Schluchten, Gräben der Felsen und in den Betten der Waldbäche festsetzt und diese oft ganz ausfüllt, das aber im Sommer wieder wcgschmilzt. Dort haben sie dann für das sogenannte „ewige Eis" der eigentlichen Gletscher einen audcren Namen. Endlich gebrauchen die Bergbewohner anch noch das Wort „Gletscher", um damit das Material, aus dem die Gletscher bestehen, — das Gletschereis — zu bezeichnen. Die Leute, welche im Sommer das Eis der Gletscher in die heißen Thäler herabbringen, sprechen z. B.: „Wir haben Gletscher geladen", und der, den du beauftragt hast, ein StüÄ Eis vom Gletscher abzuschlagen, fpncht, weun er cs >dir bringt: „Hier ist Gletscher, Hn'r!" "! ^i/^' Vielleicht ist das Wort Gletscher eine Umbildung des französischen „^eier" nnd also ebenso romanischen Ursprungs, wie der Name für jenes andere der bedeutendsten Echneephanomene der Alpen, für die Lawinen^), Diese beiden romanischen Wörter haben sich auch in der gebildeten Welt aller germanischen Völker allgemeine Aner- ^'Vermuthlich von ^av.-mcü,^' »dcr ^vlillmcüilv^', vm, „gvgior^ abzuleiten, dac> nach dem Dittilmuaive der französischen Oy Mittel- und AttsgangsMukt der ^lctschcrbcobachtinlq. kennung verschafft, obgleich in einigen deutschen Alpen-Provinzen (Tyrol, Stciermark) eigenthnmliche deutsche Benennungen für Lawinen und Gletscher existiren. Dieß ist nm so anffatlcndcr, da doch in dem größten Theile der von Lawinen und Gletschern bedrohten Alpen-Thäler die deutsche Sprache bcvrscht. Da die Romanen selbst auch noch viele andere Benennungen für die Gletscher nnd Lawinen haben, z, B. in den italienischen Alpenthälern, in den Pyrenäen ic., in denen dem Volke die Worte Lawine und Gletscher nicht bekannt sind, so entsteht die Vermutlnmg, daß jene nnu ganz europäisch gewordenen Worte aus den französischen Thälern der MlMt-Blanc-Gruppc hervorgegangen find. Man kann überhaupt diese Gebirgspartic als den Mittel- und Ausgangspunkt des ganzen in neuerer Zeit so bedeutend gewordenen Enthusiasmus fnr die Kenntniß und Beobachtung sowohl, als fnr den Oennß der Hochalpen-Phänomene betrachten. Hier in den Thälern von Chamonnix schlugen die ersten Wellen der großen Flnth nach Naturgenuß begieriger Reisenden an, welche dann allmälig auch die deutsche Schweiz erreichte, die jetzt auf Tyrol ihr Augenmerk richtet und vielleicht einmal in noch weiter östliche Alpen eindringen wird. Die Mout-Blanc-Oruppe war auch der Mittelpunkt der meisten Excursionen des ersten großen Entdeckers und Be-fchreibers der Hochgebirge, Saussure's. Ev eutwarf die ersten Akademie ancb ,,<«>>'« üvilwr" oder ,,sgj,'k liekconäi'«" bedeutet. ^vül gegenwart ihres Eises. Es wäre aber wichtig, daß sie in Bezug auf die Orte, wo sich keine Polirnngeu und keine Steiildeftosite befinden, ebenso hellsichtig wami. Wenn alle unsere Thaler, Bergseitcn und Ebenen mit einer sich stets hin- und hcrschiebenden Gletschermasse bedeckt waren, so müssen sich die Fclspolirungcn nicht nur hie und da an einzelnen Orten, sondern sie müssen sich aller Orten finden. Wollte man einmal den Eis-Theoretikern mit einer Aufzahlung aller der Punkte, wo sich keine Polirungen finden, wo sich aber ihrer Theorie nach solche finden sollten, entgegenrücken, so würde man sie vermuthlich damit in nicht geringe Verlegenheit sehen können. Sind diese langen Thäler wirklich mit Gletschereis angefüllt gewesen, so muß es begreiflich gewisse Punkte in dem vielfach gekrümmten Thale mit einspringenden und ausspringenden Winkeln gegeben haben, an denen die Polinmg der Felsen besonders stark war, es muß andere Punkte gegeben haben, an denen sie schwächer oder ganz unmöglich sein mußte. Die Evdwärme und die Gletscher. 67' Um zu beweisen, daß ein solches Thal wirklich dereinst von einem Eisstromc durchstoßen war, genügt es daher nicht, daß man an seinen Vcrggehängen hie nnd da Politur nachweise. Vielmehr ist das Wichtigste, daß man dic Existenz einer solchen Politur an den rechten Orten nachweise. Man muß sich wundern, daß es noch keinem Glaeialisten geglückt ist, auch nur ein einziges Thal so vollständig zu stndiren und darzustellen, daß daraus die Nothwendigkeit einer einstmaligen Alisfüllung mit Eis klar nnd unwidersprechlich hervorgehe. Eine der umfassendsten kritischen Darstellungen eines Thales enthalten die Nachrichten Charpentier's über das Rhone-Thal, das er vorzugsweise studirte. Allein anch seine Angaben sind fern von Vollständigkeit. Die Frage, ob die Erd warme dic Gletscher unten abschmelze oder nicht, ist eine viel bestrittenc nnter den Glet« scherforschern. Uni sie beantworten zu können, müßte man zu alleil Jahreszeiten gar mancherlei Kreuz- und Qucr-Sva-ziergänge unter den Gletschern gemacht haben. Agafsiz und seine Reisebegleiter haben einmal im Winter einen Ausflug zu einem Gletscher gemacht. Sie finden an demselben eine Höhle, in die sie etwas hincintreten können. Sie sehen, daß hier keine Abtrövfeluug statthat, sind entzückt nnd nehmen nnn als ausgemacht an, daß die Erdwänne gar nicht im Stande sei, die Gletscher abzuschmelzen, — ein Satz, der eben in ihr System paßt, — obgleich es tausend Punkte an einem Gletscher geben kaun, wo aus allerlei Ncbcnumständcn keine Abschmelzung stattfindet, während sie im Ganzen dennoch möglich ist. Es Ware eben so wichtig, den Znstand der Gletscher im Winter, im Frühling, im Spätherbst, wie ihre Beschaffenheit im Sommer zu kennen. Agassiz abcr und seine Freunde sind nur ein einziges Mal im Winter (im Monat März) 6* 68 Der Zustand der Oleischer in den verschiedenen Jahreszeiten. 2 Tage auf einem Gletscher gewesen. Auch Saussurc hat nur einmal eine kurze Winter-Excursion in die Gletscher gemacht. Fortgesetzte Winter-Beobachtungen über die Gletscher hat einmal ein Prediger im Grindelwald angestellt. Jetzt machen solche Beobachtungen nur die von Herrn Agassiz auf dem Aaargletscher angestellten „G ri m se l - Knecht e." Wir sind also mit den Gletschern, welche 8 Monate des Jahres, unter tiefem Schnee vergraben, unsichtbar und unzugänglich sind, fast in einem eben so schlimmen Falle, wie mit dem Monde, dessen eine Hälfte uns ganzlich verborgeil ist. Die Beschaffenheit des Eises und Tchnees auf den höchsten Berggipfeln ist vom größten Interesse fnr die Beurtheilung der Gletscher. Man kennt aber diese Beschaffenheit nnr sehr oberflächlich ans einigen wenigen fluchtigen Ezcnrsioncn zn jenen Berggipfeln, auf denen Niemand lange weilen kann, und zn denen selbst nur sehr wenige äußerst kühne Gelehrte nur dann nnd wann einmal aufzuklimmen wagten. Eanssure blieb lange darüber in Zweifel, ob es auf der Spitze des Montblanc wirklich Ms gebe und geben könne, oder nicht. Anch nnscre ncnesten Glctschcrforscher sind noch weit davon entfernt, die Beschaffenheit, Bildnngswcise nnd Structnr jenes Giftfe leises deutlich zn kennen, was doch fnr die Gletschertheorie so änßerst interessant sein müßte. Man begreift, wie wichtig es bei der Beurtheilung der Gletscher sein muß, die Grade der Schmelzbarfeit der verschiedenen Arten des Eises, des lockeren, des compacten, des oberen, des unteren Eises, des Eises der Gletscher und des Eises der Flusse und Seen zu wissen nnd einigermaßen genau zu bestimmen. In einem der Agassiz'schen Reiseberichte findet man gelegentlich in einer Anmerkung die Frage aufgeworfen, ob das Gletschereis vielleicht weniger leicht schmelze Made d?v ^chmelzbarkeit deö stUstschcvcifts. 69 als gewöhnliches Eis. Auch über cinc solche Frage, sage ich, erschrickt man. Denn von Lenten, die nnsere Erde mit Eis überziehen nnd diesen Eisschleier wieder verschwinden lassen, die beständig sich damit abgeben, zu erforschen, wie viel hier, wie viel dort an einem Gletscher abgcschmolzen sei, sollte man mit Necht voraussetzen, daß sie längst Pröbchen aller möglichen Gattungen Eises in ihren Laboratorien zusammengetragen und eine Stufenleiter der Schmelzbarkeits-Gradc des Eises entworfen hätten. — Dieß ist aber noch nirgends geschehen. Man könnte noch ans eine Menge anderer kaum berührter Punkte des Gletschertcrraws hindeuten, doch mag das Angeführte hinreichen, um den Leser fühlen zu lassen, daß die Gletscherkunde annoch eine ganz jugendliche Erscheinung ist, nnd daß diese Phänomene so zn sagen erst angefangen haben, sich dem Auge der Wissenschaft zu entschleiern. Ständen alle Berge, wie dieß allerdings einige thnn, als spitze schroffe glatte Pyramiden oder Kegel in der Ebene, jo würden im Frühling die Echneemassen überall von ihnen abfallen nnd an ihrem warmen Fuße wegschmelzcn, und es würden sich keine Gletscher bilden können. Da sich aber die Berge so zu sagen unter einander die Hand reichen, da sie sich zu Gruppen nnd Ketten dicht aneinander reihen und schon in der Nähe ihrer Gipfel in einander verschmelzen, so werden auf diese Weise große Hochebenen nud Plateaus gebildet, nnd zwischen ihnen ziehen sich Hochthäler hin, die oft auf meilenweite Länge hoch über der Schneegrenze erhaben bleiben, bevor sie sich in tiefere, wärmere Gegenden herablassen. Diese falten Hochebenen und Hochthäler nun sind die 7t) Schneemeere. — Ewiges Eis eine poetische Floskel. Hauptreservoirs des oberen Schnees. Auf und in ihnen Haufen sich die von den Gipfeln abstürzenden Schneemassen stockend an nnd bilden dann große Schncemcere, welche die Dichter „das tausendjährige" oder auch wohl gar das „ewige Eis der Höhen" nennen, was indeß, wie wir hier gleich Anfangs bemerken können, nur eine dichterische Floskel ist. Ewiges Eis giebt es weder in den Gletschern, noch selbst anf den höchsten Gipfeln der Berge. Das Gletschereis ist wie Alles einer steten Metamorphosirnng unterworfen, und nichts ist dort ewig als die fortdancrnden Verdunstnngs-, Schmclznngs- nnd Gefrierungs-Processe, die Alles beständig durcharbeiten und zerstören, wiederherstellen nnd crnencrn. Jedes Schneemeer und jeder Gletscher, obwohl dieselbe Form darbietend, ist nach hnndert oder zweihundert Jahren in Bezug auf sein Eis nnd seinen Schnee so wenig derselbe, wie ein Mensch nach 7 Jahren in Bezng anf sein Blut, Fleisch und Gebein. Die höchsten Berggipfel sind zuweilen von allen Seiten sehr schroff und steil, und dann kann sich auf ihnen, wie wir oben zeigten, nie viel Schnee und Eis danernd halten. Sie liegen als nackte Felseninscln mitten in dem Schncemecrc, das ihren hohen Fuß umgiebt. Meistens aber sind sie nnr an einigen Seiten steil, während sich von den anderen Thäler oder breite Einsenk-ungcn nnd Abdachungen bis zn ihrem Gipfel hinaufziehen. Dann sind auch wohl diese Thaler, Einsenkungen und Wände mit Schnee überdeckt. Und an ihnen drängen und fallen dann die obersten Eis- und Schneemassen herab, welche die Znfuhr der Eismeere nnd unteren Gletscher bilden. Wie also die obersten Quellen unserer Wasserströme von den höchsten Berggipfeln kommen, so kommen von diesen lMbildimg aus Schnee. 71 höchsten Gipfeln anck die uranfänglichen Quellen der Eis-ströme, welche wir Oletscher nennen. Wie ans lockerein losem Schnee compactes Eis werden könne, lehrt uns im Winter unserer nordischen Regionen die tägliche Erfahrung. Der Schnee ans unseren Dächern nnd Straßen wird, wenn er lange liegt nnd im Lanfe mehrer Monate mancherlei Wetterpbänomene über sich ergchen läßt so eompaet und fest, daß wir ihn mit Eisen nnd Beil wegarbeiten mnssen. Die zarten kleinen Eisblättchen, ans denen der Schnee besteht, bilden beim Niederfallen zunächst eine sehr locker gebaute Schicht, die, so lange es kalt bleibt, sich in dieler Lockerheit erhält. Wird die Schicht durch neuen Schncefall sehr hoch, so mögen nnter der schweren Last die nntcren feinen Krystalle zerbrechen nnd sich zn dichteren Schichten zusammendrängen. Regnet es später auf die Schneeschicht, oder schmilzt die Sonne die Oberfläche weg, so sickert das Wasser durch die vielen Zwischcnraume in die Tiefe, nnd die unterste Schnecschicht füllt sich mit Waffer, das sie wie ein Sä'wamm aufsaugt. Fällt dann wieder Frost ein, so gefriert die mit Wasser gefüllte Schnecmasse, nnd es entsteht Eis. Da dieses Eis sich nnter anderen Umständen gebildet hat, als das Eis anf der Oberfläche der Flüsse oder Seeen, so hat es anch eine andere innere Strnetnr. Man muß es von diesem unterscheiden und kann ihm den Namen Schnee-Eis geben. Die Eisrindc anf den Seecn und Flüssen entsteht ans einer Menge dünner flacher Eiskrystalle, die sich gleichsam wie die Blätter eines Buches aneinanderlegen und allmalig eine dicke Masse bilden. Man kann sagen, es sei blätterig 7H Schneeeis und See- uud Flußeis, oder geschichtet. Das aus dem Schnee hervorgehende Gletscher-Eis dagegen entsteht aus einer Menge zusammenwachsender Körner, es ist körnig gebildet. Anch die Ursachen und die Entstehnngswcise dieser Körnigkeit des Gleschcreiscs können wir an unserem gewöhnlichen Schnee beobachten. Jede kleine Schneeflocke hat ihr Centrum, iu welchem alle ihre Krystalle zusammenlaufen, und das daher gleichsam als ein etwas stärkerer Knoten der Wärme langer widersteht. Zuerst schmelzen nur die Spitzen, und indem sie von der Wärme gleichsam aufgerollt werden, legt sich ihre Feuchtigkeit an das Centrum als Tropfen an, wv sie daun wieder zu einem Körnchen gefrieren. Das Waffer, das sich in die Tiefe der Schneemasse zieht, folgt der Attraetionskraft der kleinen Schueekrystalle, die, sich einander berührend, Brücken bauen. Die Feuchtigkeit, in ihrem Fortgangc von Brücke zu Brücke, läßt die in einem Punkte concentrirten Krystalle zusammenschmelzen und vereinigt die durch die Kälte gebildeten Körner durch neue Brücken. So wird die ganze lockere Schneemasse, die Anfangs aus lauter zarten Blattchcn und Nadeln bestand, allmälig eine bröcklichc Maffc von Eiskörnern, die sich einander bloß an einzelnen Punkten durch jene Brücken berühren und Zwi-schenramnc zwischen einander lassen. Wiederholt sich das Schmelzen, das Eindringen des Wassers und das ihm folgende Gefrieren, so brechen wohl zwischen manchen kleinen Körnern die Brücken ein, und es bilden sich aus ihnen große Körner, indem wie bei dem Hagel sich mehre zusammensetzen, die dann kleinere Zwischen- Stufenletter des Gletschereises, 73 räume zwischen sich lassen. Die feinkörnige Masse wird all-malig eine mehr nnd mehr grobkörnige. Die Eanälc und Zwischenräume, U'elcbc Anfangs noch in dieser Masse bleiben, verengen sich aber immer mehr. So entsteht dann, als nächster Grad nach jenem körnigen Schnee eine Eismasse, die voll von Blasen ist. Anch die Blasen füllen sich allmälig mit Feuchtigkeit nnd Eis, nnd «s bildet sich am Ende eine vollkommene, einige, eomvacte, dichte Eismasse von körniger Strnctur. Die Ucbergäuge nnd Metamorphosen sind zwar außerordentlich mannigfaltig, nnd es gibt eine unzählige Menge von Graden, sowohl der Fein- und Grobkörnigkeit, als auch der Blasigkeit des Eises. Doch kann man der Hanptsache nach folgende Stufen feststellen: lockere Schnecmasse, — körnige Schnee masse, — blasiges Eis, — compact cö Gletschereis. Für die körnige Schnccmassc haben die Alpeubewohner einen besonderen Namen. Die deutschen nennen sie „Firn," die französischen ,/>^vö". Beide Benennungen sind auch in der Wissenschaft von den Gletscher-Theoretikern aufgenommen. Es kommen zwar in allen Gegenden und auf allen Höhenstnfcu der Alpen alle jene verschiedenen Znstande der gefrorenen atmosphärischen Niederschlage vor. Es giebt in der Tiefe zu Zeiten lockere Schneemassen, und es giebt selbst auf den höchsten Gipfeln blasiges und auch völlig comvaetes Eis. Es ist indeß begreiflich, daß da, wo Abwechselung von Warme und Kalte am häufigsten eintritt, auch das eompaete Eis häufiger sein muß, hingegen da, wo die Kälte am aus- 74 Vertheilung der verschiedenen Schnee- und (Marien. dauerndsten herrscht, dcr lockere Zustand des Schnees das Gewöhnlichste ist. Man kann daher jeder Schnee-Metamorphose gewissermaßen ihre eigene Bergregion zuschreiben. Auf den höchsten Bergen kommen das ganze Jahr hindurch große lockere Echneefeldcr vor. Unter diesen liegt zwar auch Eis, dessen Quantität jedoch verhältnisimasiig minder bedeutend ist. Weiter nach unten, wo das Schmelzen und Gefrieren häusiger wird, werden auch die grobkörnigen Schnee- und die blasigen Gismassen hansiger. Noch weiter nach unten nimmt auch die Blasigkcit des Giscs mehr und mehr ab, und ganz in der Tiefe hängen überall die harten, compaeten, lrystallartigen Endcn der Gletscher herunter, ans die sich nur im Winter eine lockere Schneeschicht anflegt. Der Vergregion, in welcher der grobkörnige Schnee und das blasige Eis auf der Oberfläche am häufigsten ist, hat man auch wohl, so wie der Masse selbst, den Namen „Firn" gegeben. Doch ist der Gebrauch dieses Wortes begreiflich ziemlich vag. Die Bewohner einiger Theile der Alpen, wenn sie „vom Firn" reden, verstehen darunter alle die höheren mit Eis und Schnee bedeckten Gebiete, aus denen ihre Gletscher herabsteigen*). Die Gletschertheoretiker haben den Alpcnbewolmern darin nachgeahmt, nnd wenn sie von dein ,,Firne" oder von dein ,,nuv6" dieses oder jenes Gletschers reden, so verstehen sie darunter gewöhnlich diejenige Partie des Gletschers, in wel- *) Eo wie diese Gletscher selbst auö dem Firn hcrabtommen, so haben die ^cute auch in einigen Gegenden der Alpe» den Namen der Gletscher, die sie „Ferner" nennen', von „Firn" abgeleitet. Abbrechen und Herabstürzen des Gletschereises. 78 cher sich des Sommers auf seiner Oberfläche mehr grobkörniger Schnee und blasiges Ms als eompacte Eismasse zeigt. Die Schneeflocken Haufen sich, wie ich oben zeigte, indem sie mit ihren Krvstallnadcln sich aneinander hängen, so lange an, bis sie das (Gleichgewicht verlieren, zusammenbrechen und, dem Gesetze der Schwere folgend, in Lawinen abstürzen. Auch bei den in Eis verwandelten Schnceinaffcn der Gletscher sind solche plötzliche Bewegungen möglich. Wenn sie an irgend einem AbHange anschwellen nnd weit ohne stützende Basis hervortreten, müssen sie endlich, wie jede andere feste Masse zusammenbrechen nnd abwärts fallen. Sie thun dieß in den sogenannten Glctscherlawinen, von denen ich ebenfalls oben bereits sprach. Man hat aber neben diesem Abbrechen noch eine con-stanterc Bewegung in dem Gletschereise beobachtet. Man hat bemerkt, daß die Gletscher sich beständig und fast ununterbrochen fortschießen, daß sie gleich unseren Flüssen in ihren Betten stießen, >md man hat sie daher auch wohl mit Recht Eisströme genannt. Obwohl die Bewegnng dieser Eisströme nur in vielen, nicht in allen Stücken mit der Bewegung unserer Wasser-ströme übereinkommt, so ist doch nichts geeigneter, dem Unkundigen eine klare Vorstellung von der Bewegungswcise der Gletscher zu geben, als cine Vergleichung derselben mit den bei unseren Wafserströmen sich darbietenden Erscheinungen, und ich will daher diese Vcrglcichung, so weit es sich thun laßt, durchführen und alle gleichen PunM, die sich ans beiden Seiten zeigen, neben einander stellen. Znnächst hängen die Gletscher, wie die Flüsse, in hohem Grade von der Gestaltung des Bettes ab, in welchem sie sich ?ß Parallele der Gletscherströme und Flüsse. fortbewegen, sowohl von der Gestaltung der Ufer oder Sci-tenwände, als von der der Unterlage oder des Bodens. Da, wo das Bett bequem ist, dehnen sich die Flüsse zu breiten Wasserflächen und zuweilen zn Eecen aus. Dasselbe bemerkt man an den Gletschern. Sie füllen ganze große Bergkessel mit Eis aus nnd bieten an solchen Stellen große Eisflächen dar, die man gewöhnlich „Eismeere" lmoi'8 do. ßwos) nennt. Da, wo die Ufer der Flüsse eng zusammentreten, staut sich das Wasser anf, schlägt in Wellen hoch an den Wänden des Engpasses empor nnd nimmt gewöhnlich innerhalb solcher Verengungen oder doch vor ihnen eine große Tiefe an. Ebenso staut sich das Eis der Gletscher innerhalb der Felsenthore, durch welche es zuweilen hindurchzudringen sich ge« zwnugen sieht, anf, häuft Eisschollen und Eisthürme wie Wellen an den Pfosten dieser Thore empor und !,at dort anch eine größere Tiefe oder Dicke, die zuweilen der Tiefe der Seeen gleichkommt nnd mehre Hundert Ellen beträgt. smd Winter. 81 scher im Winter minder beweglich. Eo wie aber im Sommer der Saft in die Bäume tritt und sie treiben uud wachse» läßt, so treten dann auch die Gewässer in die Gletscher durch tausend große uud lleine banale ciu und bringen ^'cben in sie. Eo wie die Banmsäftc sich als Holz abscheu, so setzen sich die Gletschergewässcr überall als Eis cm und lassen den Gletscher anschwellen und wachsen. Doch ist die größere Neguugolosigkeit der Gletscher im Winter nie völliger Tod, denn wir wissen aus dcu neuesten Winterbeobachtnngcu, daß die Gletscher auch im Winter, obwohl langsamer fort« schreiten. Wie in Vezng auf ihre Bewegung, so kann man die Gletscher auch in Bezug auf ihre Entstehung, Znsammensetzung und Vergrößerung mit den Flüssen vergleichen. So wie die Flusse ihre Q.uclleu, so wie sie ihre Zuflüsse, ihre Nebenflüsse und ilnc Hauptadern haben, so haben dieß Alles auch die Gletscher. Wie sie bewegen sich die Gletscher durch Tystcme von Thalern hin, die wie die Aeste eines Baumes von kleinen zu großen Ninuen und endlich zu einem Hauvtstammc zusammenlaufen. Wie die Quellen der Flüsse, so sucht man die der Gletscher auf den höchsten Bergspitzen nnd sagt z. B: dieser oder jener Gletscher steige von diesem oder jenem Hörne herunter, was denn nichts weiter heißt, als daß von dem bezeichneten Hörne dem Gletscher die entlegensten Zuzüge kommen. Die oberste dnuue Spitze eines Berges selbst kann im-wer natürlich nur sehr wenig Eismasse zur Bildung eines Gletschers beitragen. An den Wänden des Thales, das bis Kohl, Apl'm-cisl'n, lll. 6 82 Fluß- und GktschenMllcn. zu diesen obersten Spitzen aufsteigt und sich dort verliert, gibt es aber eine Menge kleiner Rinnen, Einschnitte uud Thäler, die ihren Schnee in dem tieferen Thale aufhänfcn und daraus auf die von uns beschriebene Weise Eis entstehen lassen. Diese obersten Lawinenzüge sind bei den Gletschern dasselbe, was bei den Flüssen dic ersten Waldbache und Regenrinnen sind. Wie die Flüsse, auch wenn sie schon groß geworden sind, noch immer Qncllen nnd kleine Bache an ihre» Seiten aufnehmen, so nimmt anch der Gletscher ans seinem ganzen Laufe noch immer Schnccmaffen auf, die überall von den Seitenwänden auf ihn herabstürzen und das Material, das er fortwalzt, vermehren. So wie es Flüsse gibt, die nicht aus schmalen, dünnen Wasserfädcn allmälig zn breiten Etrömen anwachsen, viel» mehr ans mehr oder welliger großen Wafscrbassins (Seeen) schon als ziemlich starte Ströme hervortreten, so gibt es auch Gletscher, die sich nicht allmälig aus einem Lawinen» thale, den Schnee zn Eis verdichtend nnd immer mehr Lawinenthäler in sich aufnehmend, vergrößern, sondern die gleich als mächtige Eisströme ans einem hochgelegenen Eismeere heraustreten. Es giebt in den oberen Gegenden viele Hochplateaus, die von schroffen Wänden nmstellt sind, und auf die sich alle Lawinenzügc von diesen Wänden, Eis nnd Schnee aufhäufeud, herablassen. Man darf demnach nicht immer bei jedem Gletscher einen kleinen Lawincnzug als seinen ersten nnd ursprünglichen Anfang suchen. Zuweilen lagern sich auch ans breiten, bequemen Kuppen oder au uicht sehr schroffen Wänden große Eismaffcn an und schieben sich allmälig in die Thäler hinnnter. In solchen Fällen hat dann ein Haupt- und Nebenflüsse, Hanpt- und Nebcngletschcr. 83 Gletscher gleich von vornherein eine sehr breite mächtige Quelle. Die Vereinigung mehrer kleiner Gletscher zu einem großen geht ganz auf ähnliche Weift vor sich, wie die Vereinigung mehrer kleinen Flüsse zu einem großen. Man kann hier, wie bei den Flüssen von Haupt- und Nebenflüssen, so von Haupt- und Nebeuglctscheru reden. Wie die Gewässer zweier Flüsse, wenn sie vereint in dem Thalc weiter strömen, zuerst nebeneinander hinfließen und erst nach einiger Zeit sich vermischen, so thun es auch die Eismasscn zweier sich vereinigender Gletscher. Sie drängen sich in dasselbe Thal hinein, der eine bleibt auf der einen, der andere auf der anderen Seite dieses Thales. In der Mitte treffen die Eismassen zusammen und schieben sich eine Zeit lang nebeneinander hin. Daß dem so ist, erkennt man dentlich auf der Oberstäche der Gletscher, so wie man an der Farbe der Flüsse erkennt, daß es bei den Flüssen so sei. Die Oberfläche jedes Gletschers hat ihre Eigenthümlichkeiten. Das Eis des einen ist schnulziger, das des anderen weißer oder bläulicher. Der eine ist rauher, der andere glatter. Die Ober» flache des einen Gletschers bildet diese, die des anderen jene Eisfiguren häufiger aus. Wie man nun die Gewässer eines röthlichen und eines gelblichen Flusses noch nach ihrer Vereinigung nebeneinander hinfließen sieht, so erkennt mau auch noch den fchmnzigen oder den weißlichen, den ranhen oder deu glatten Gletscher nach ihrer Vereinigung in demselben Thale. Dann kommt bei den Gletschern ein besonderer Umstand hinzu, der dieß Phänomen noch deutlicher bezeichuet. Von ben schroffen Uferwändcu aller Gletscher nämlich fallen beständig Steine auf das Eis herab, die sich an dem Ufer auf 6* 84 Moränen. demselben anhäufen und zuweilen dort lauge Stcinwalle bilden, welche man „M o räue n" nennt. Diese Eteinwälle wer« den vom Gletscher getragen nnd bei seinem Weiterfliegen mit fortgenommen. Sie bleiben natürlich so lauge am Uferrande des Gletschers, bis dieser sich mit einem anderen verewigt. Tritt dieß ein. so kommt daim begreiflich Alles, was diese beiden Gletscher an idren inneren einander zugekehrten Uferseiteil trugen, i>, die Mitte des umgebildeten großen Gletschers. Die beiden inneren Eeiteu-Moränen vereinigen sich hier also und bilden einen laugen Steindamm, der in der Mitte auf dem Nucken des Gletschers liegt und von ihm weiter getragen wird. Man sieht diese mittleren Stcindämme, die nun „ Centra l-M oränen" genannt werden, sich als lange Linien auf den Gletschern hinziehen. Tritt dann in einen solchen Gletscher noch ein zweiter Nebcngletscher ein, so wirft er mit ihm noch eine solche Ceu-tral>Moräne auf. (5s giebt Gletscher, die auf diese Weise 3, i und mehr solche Eteiudämme auf ihrer Oberfläche habe», als Ieugen von ebenso vielen Nebengletschern, die in sie einströmten. Fließt aber der Gletscher auf diese Weist sehr lange fort, so vermischen sich am Ende die verschiedenen Eismassen, eben so, wie sich am Ende die Gewässer eines aus röthlichcn und gelblichen Nebenflüssen entstandenen Stromes vermischen. Die Eismasscn werden an den Thalwinkeln gebrochen, auf Abhängen zersplittert, von Spalten durchsetzt und zcr-stückt, poltern übereinander hin, verschieben sich ineinander, setzen sich von Neuem zusammen, nnd so wird denn Alles in eine gleichartige Masse verarbeitet. Die Steinwalle auf der Oberfläche verlieren dabei ihre lange beibehaltene Regelmäßig- Spaltung!, der Gletschcvströme. z^'; feit, breiten sich aus und zerstreuen sich zuletzt. Und die Spuren der verschiedenartige»! Beschaffenheit der zusammengeflossenen Gletscher werden unkenntlich und verschwinden zuletzt völlig. So wie die Gletscher gleich den Flüssen zusammenstießen, so können sie sich auch gleich den Flüssen iu Arme zerspalten. Es finden sich zuweilen mitten in den Metscherthalcrn einzelne hohe Felsspitzen oder ganze lange Felsbänke, welche sie nicht zu überfluthen vermögen. Hier wird der Eisstrom gleichsam gebrochen, er umgeht den Felsen zu beiden Seiten, die Arme vereinigen sich unterhalb wieder und umschließen so eine Insel. Zuweilen sind solche von ewigem Eise umgebene Inseln mit Bäumcu besetzt, z. V. die unter dem Namen „lui-clin" sehr befanntc Gletscherinsel der Mont-Blanc-Kette. Mitunter bieten sie wenigstens Schafwcidcn dar, wie z. N. der „Zäsenberg" im Eismeere der Finsteraarhornkette, auf dem mitten im Eise im Sommer 800 Schafe grasen. Endlich kommt, wie bei den Flüssen, zuweilen auch bei den Gletschern ein Ansfließcn in zwei Mündungen vor, so daß die getrennten Gletscherarme sich nicht wieder vereinigen, ein jeder vielmehr auf besonderen Wegen sich verläuft. Früher glaubte man. daß auch in Beziehung auf die Ursachen ihrer Bewegung die Gletscher den Flüssen glichen, daß die Eismassen wie das Wasser nur auf einem geneigten Boden in Folge der allgemeinen Gravitationsgesetze abwärts geführt würden. 86 Gravitationstheorie der Gletscher. Dieß dachten namentlich der alte Grüner, Saussurc und überhaupt alle Die, welche im vorigen Jahrhundert sich znerst mit den Gletschern beschäftigten. Man kann ihre Theorie von der Bewegung der Gletscher die Gravita-tionstheorie nennen. Als man in neuerer Zeit jedoch die Art und Weise der Bewegung der Gletscher genauer zn beobachten anfing, konnte man sich bei dieser Theorie nicht beruhigen. Nach ihr hatten die Gismassen sich nur da fortbewegen können, wo sie, vom Boden getrennt, ans einer schlüpfrigen Unterlage rutschten. Allein man bemerkte, daß die oberen Theile der Gletscher sich anch da noch bewegten, wo er unten an den Boden festgefroren war. Nach der Gravitationstheorie müßten die Gletscher um so schneller fortschreiten, je abschüssiger der Boden ist, ans dem sie sich bewegen, uud auf ganz horizontalem Boden müßten sie im völlig hergestellten Gleichgewichte ganz still liegen. Man bemerkte aber, daß sie zuweilen nicht nnr auf minder stark geneigtem Boden eben so schnell flössen, als ans abschüssigem, sondern auch auf horizontalem Boden sich weiter bewegten. Endlich nahm man wahr, daß die Gletscher nicht nur nach unten thalabwärts drängen, sondern sogar auch nach oben hin, gleich einem aus dem Innern anschwellenden Brodtcige im Backofen emporsteigen, ein Umstand, der sich nach den bloßen Gesetzen der Schwere gar nicht erklären läßt. slcharpcntier nnd Agaffiz untersuchten daher die Beschaffenheit des <5ises naher, entdeckten in ihm neben den großen Klüften, welche die Gletscher durchziehen, noch eine Menge kleiner und feiner Spalten und Röhrchen und glaubten nun Dilatationstheorie der Gletscher. 87 in ihnen eine Erklärung der Ausdehnung und Fortbewegung des Eises gefunden zu haben. Sie setzten nämlich voraus, daß alle diese Röhrchen und Gänge, die das Gletschereis wie einen Schwamm durchziehen, mit einander zusammenhingen, — daß sie sich bei Regcuwetter und beim Abschmelzen der oberen Eisschichten am Tage mit Wasser füllten, daß dieses Wasser in den kalten Nachten gefröre, nnd daß dann in Folge der bei diesem Gefrieren eintretenden Ausdehnung sich die ganze Masse nach oben, wie nach unten ausdehne und auf diese Weise insbesondere nach der Seite hin, wo das Thal einen freien Aus-gang läßt. weiter schiebe, eben so wie bei dem allbekannten Experimente mit dem Gefrieren des Wassers in einer Flasche, das Eis aus dem Halse dieser Flasche hervorwächft. Man nannte diese Theorie der Gletscherbewegung die „Dil a-tat ions thcorie", nnd wäre sie in der Natur gegründet, so könnte man mit ihr manche Erscheinungen erklären, welche bei Annahme einer bloßen Gravitation eiu Räthsel bleiben, namentlich das ununterbrochene Fortbewegen der Gletscher auf minder abschüssigem Poden und ihr Anschwellen von unten her. Allein es stellten sich bei fortgesetzter Beobachtung der Gletscher wieder manche Resultate heraus, welche doch auch aus dieser Dilatationstheorie nicht zn erklären waren. Da sie wesentlich auf einer Abweckseluug des Schmelzens nnd Geftierens beruhte, so müßten nach ihr die Gletscher in der kalten Jahreszeit, wo eine solche Abwechselung nicht stattfindet, stille stehen. Eben so müßten sie im Sommer des Nachts, wo das Gefrieren und Ausdehnen stattfindet, schneller gehen als am Tage. Es fand sich aber, daß die Gletscher auch im Winter nnd auch in den heißesten Eommertagen sich äußerst constant fortbewegten. 88 Plasticitäts- oder Ductilitätstheone der Gletscher. Iu dem auch stellte sich heraus, daß die Abwechselung der Temperatur auf der Oberfläche uur eium sehr geringen Einfluß auf das Inucrc der Gletscher haben könnte. Im Inneren der Gletscher, die oft mehre Hundert Fuß dick sind, herrscht wahrscheinlich Tag und Nacht und vermuthlich auch Winter und Sommer eine eben so gleichmäßige Temperatur, wie in den unteren Regionen der tiefen Wasserseeen. Die Tagcswärme und die Nachtkälte driugcn vermuthlich nur auf wenige Fuß tief von oben herein. Die ganze Masse bis auf den Boden hinab nimmt nicht den geringsten Theil an ihrem Wechsel. Es konnte durch sie daher höchstens nur die oberste Eisschicht verändert uud verschoben werden. Nun ist es aber ausgemacht, daß auch die allcruntersten Eisschichten sich fortbewegen. Zudem blieben die Dilatationstheorctiker den Beweis schuldig, daß wirklich das Eis bis in die Tiefe von einem wie unser Artcncnsystem zusammeuhangenden Netz von Röhren und Spalten durchzogen sci. Sie ließen daher auS diesen und anderen Grüudeu ihre Ansicht wieder fallen, und nnn tauchte eine andere Theorie auf, die sogenannte „Plasticitäts- oder Ductilitä'tstheorie", als deren Hauptvcrfcchter ein EngländerNamens Forbes aufgetreten ist. Nach feiner Ansicht besitzt das Eis in großen Massen, so spröde und fest es in kleinen Particen zu sein scheint, eine gewisse Dehnbarkeit, Dmtilitat oder, wie er es nennt, Plasticität. Er hält es für dickflüssig, etwa wie zähes Theer. Und die Eisströme uud ihre Bewegungen wären daher am, beßten mit den dickflüssigen Lavaströmeu der Vulkane zu vergleichen. Durch künstlich veranstaltete Experimente die Eigenschaft zu erweisen, die nach dieser Annabme dem Eise beigelegt Combination der Metschcrtheoneen. 89 wird, ist schr schwer, da inan dazu so großartige Experimente machen müßte, wie nur die Natur sie iu den Gletschern selber macken konnte. Indeß ist es denkbar und wahrscheinlich, daß das Ms bei aller seiner Eprödigkeit, die es in kleinen Theilen zeigt, doch in großen Massen einen gewissen Grad von Dickftüssig-keit besitze, nnd mit dieser Eigenschaft ließe sich dann die Beständigkeit der Gletscherbcwcgnng dnrch alle Tages- und Jahreszeiten hindurch begreifen, so wie sich daraus anch die grosie Aehnlichkeit der Bewegung ihrer Maffen mit der Bewegung des Wassers in den Flüssen nnd endlich auch ihr Fortschreiten anf sehr wenig abschüssigem Boden erklären ließe. Dabei ist es jedoch immer möglich, daß stetlenweisc die Gletscher auch dnrch Spaltcnbildnng, dnrch Füllnug dieser Spalten mit Eis und eben so durch Abrutschen und Fortglitschen weiter gefördert werden können. Uud eine Combination aller jener genannten Theoriecn der Gravitation, der Dilatation nnd Plasticität trifft dadcr vielleicht das Rechte nnd erklärt Alles. Die Flusse lösen eine Menge Material, Erde, Sand, Steine, von den Bergen ab; auch stürzen viele Steine, die auf andere Weise ~ vom Negen, vom Frost, von den verwitternden Einflüssen der Luft — gelöst wurden, in ihre Betten hinab. Dieß Alles fuhren sie in ihrem Lanfe thalwärts, verandern seiuc Gestalt auf mehrfache Weise und dc-poniren es theils in ihrem Bette, tbeils an den Ufern, theils an der Mündung. Auch hierin gleichen die Gletscher den Flüssen. Dock muß inan bei ihnen zweierlei Material unterscheiden, erstlich 90 Das von den Gletschern fortgeführte BenMatcrlal. das, welches von oben her auf sie herabfällt und welches fie auf ihrer Oberfläche mit sich forttragen, und dann das, welches sie mite» am Boden abreißen und mit sich fortschleifen. Bei den Flüssen, die der lockeren Natur des Wassers gemäß alles schwere Erdmaterial untersinken lassen, besteht dieser Unterschied nicht. Bei ihnen giel't es bloß Grundmaterial, sei es, daß es von oben herabfiel, oder daß der Fluß es selbst unten in seinem Bette löste. Die Betrachtung der Beschaffenheit und der verschiedenartigen Schicksale des von den Gletschern fortgeführten Bergmaterials ist für den Gletsckerforscher und für die ßrgründung dos Wesens nnd des Wachsthums der Gletscher von der höchsten Wichtigkeit. Ja man kaun sagen, daß auf seiner Untersuchung die ganze Gletschertheorie und die aus ihr gezogenen großen Konsequenzen vorzugsweise bernhen. Auf das von oben herabfallende Material deutete ich schon oben gelegentlich hin und sagte, daß die Lawinen und die an allen Bcrgaohängen beständig stattfindende Abbröckelung von Steinen fortwährend eine Menge Fclsblöcke von verschiedener, zum Theil außerordentlicher Größe auf dem Gletscher anhänften. Einige dieser Blöcke, die große Säße machen, springen mitten auf den Gletscher hinauf und liegen auf ihm zerstreut und vereinzelt herum. Die meisten aber fallen auf sein Ufer und bilden dort jene hohen Trümmerwälle, von denen ich schon sagte, daß man sie Seiten-Moränen nenne. Man darf natürlich nicht erwarten, daß diese Seiten-Moränen stets die Figur eines regelmäßigen Walls baben. Der Gletscher schließt sich nicht überall eng an seine User an. Da, wo er sich um schroffe Felsecken henlmzwängt, drängt er sich zwar oberhalb sehr dicht an diese Felsen an, gleich unterhalb der (icke aber, wo der Gisfsuß h^-H h^ Teitcn- und Central-Morancn, 91 Felsen eine andere Richtung bekommen hat, steht er oft weit vom Ufer ab, und es bilden sich hier zwischen dem Gletscher und seineu Ufern große und ticse Klüfte^), die sich erst unten, wo sich der Eisstuß allmälig wieder anschmiegt, schließen. Bei solchen Klüften wcrdcn natürlich die Seiten-Moränen zerstört. Die Steine fallen in die Tiefe oder zer« streuen sich. Nur da, wo sich der Gletscher mit seiner ganzen Masse eng an seine Ufer anschließt — und freilich ist dieß wohl der häufigere Fall —, legen sich die Steine wieder zn solchen regelmäßigen Wällen auf. Ich zeigte schon, auf welche Weise bei der Vereinigung zweier Gletscher aus diesen Seiten-Moränen die „ssentral-Moräucn" entstehen und wie diese auf dem Rücken des Gletschers fortgetragen werden. Bei sehr großen Gletschern sind solche Central-Moränen oft cyklopischem Gemäuer ähnliche Wälle, aus coloffalen Fclsblöcken znweilen bis zn einer Höhe von l)9 Fuß und mit einer Basis von mehren hundert Fuß ausgemauert. Sie haben gewöhnlich zur Unterlage ein hohes Eispie» destal, das sick) von dem Gletscher aus erhebt und die Steine trägt. Dieß Picdestal entsteht in Folge der Abschmelzung nnd Verdunstung des Eises auf der unbedeckten und den Sonnenstrahlen ausgesetzten Oberfläche des Gletschers. Da, wo dieselbe von Steinen bedeckt wird, kann keine Verdunstung nnd Abschmelzung statthaben, nnd es bleibt dabcr unter den Moränen ein mehr oder weniger hoher Eisrückcn bestehen. Dasselbe hat unter jedem jener großen einzelnen zer- *) Im .kkim'n sieht man solche Klüfte auch l'eim Wasser entstehen, wcnn es sich rasch nm einen Vorspnmg dvebt. 92 Gletschertische. streuten Steine statt. Man sieht sie oft auf hohen Eissauleu' Stümpfen ruhen. Die «Ästheoretiker haben diesen Steinen den passenden Namen „G letsch crti s ch e" beigelegt. Zuweilen hängt ein großer Block an der Spitze langer (iisthnrme. Wie eine Pisangfrucht sitzt er anf der Krone des frvstallenen Pal-menstaunncs, bis er am Ende herabfällt und neue Abenteuer aufsucht. Kommt der Gletscher mit einer solchen Moräne auf dem Rücken in einer Gegend an, wo er in vielen Spalten und Schrunden sich zerklüftet, so löst sie sich dann wohl völlig auf. Einige Steine stürzen in die engen Spalten lnnunter und bleiben zwischen ihren Wänden stecken. Andere mögen, wenn die Spalten ganz durchgehen, bis auf das Bett dec« Gletschers gelangen. Andere wieder bleiben in allerlei Stellungen oben auf dem Nucken und den Spitzen der durch die Spalten entstandenen Eismauern, (5ispvrauuden und Thürme so lange stecken, biö auch diese einstürzen. Die Steine, welche den Boden des Gletschers völlig erreichten, theilen dann die Schicksale des auf der Unterlage hingeschleiften Grundmaterials. Alle Felsblöcke aber, alle Steine und Steinchen, der Sand, Grand und das Erdreich, das den Boden nicht völlig erreichte, sondern im Eise selbst, in Löchern und nach unten sich verengenden Spalten stecken blieb — und dieses Schicksal hat bei weitem die größere Hälfte — kommen allmälig wieder hinauf und erscheinen, freilich oft erst nach langen Jahren, wieder auf der Oberstäche. Die Bergbewohner, welche dieß Wiedcremvorkommen alles in den Gletscher hinabfallendcn Materials schon längst beobachtet haben, sagen, der Gletscher dulde keinen Schmnz und keine Steine, er gebe Alles wieder von sich, etwa wie Wicdcreischeiuen in die Gletscher hinabgefallcner Gegenstände. 93 die Raubvögel das Gewölle und die Kühe jene bekannten Haarknanle. Man hat in neuerer Zeit angenommen, daß jenes Wie-dererscheincn der in die Gletscher hinabgefallenen Gegenstände sich allein aus der Verdunstung und Abschmelzung des Eises auf der Oberfläche erkläre. Diese räumt jedes Jahr eine Eisschicht von einer gewissen Dicke weg, und sie muß endlich auch zu der Eebicht gelangen, in welcher der Stem oder sonstiges Material stecken geblieben ist. Jedoch wird der Stein zugleich mit der ganzen Eismasse fortstießen. Jedes Jahr wird er durch das oben stattfindende Abschmelzen sich der Oberfläche etwas nähern, i^des Jahr aber auch etwas weiter fortgetrieben sein und so also vielleicbt je nack der Tiefe, zn welcher er hinabsank, einige Hundert oder einige Tansend Schritte nnter dem Orte seines Abfalls wieder ans Tageslicht kommen. Aus ebeu dieser Abschmelzung von oben und diesem beständigen Wicderzntagekommen des in den Gletscher hinab-gefallenen Materials hat man auch ein anderes Phänomen, nämlich die außerordentliche Reinheit und Klarheit des Gletschereises, erklären wollen. Die Gletscher steigen durch lange schmnzige Thäler herab, in denen sie Stosse aller möglichen Art in sich auf« nehmen. Ansicr jenen oft erwähnten Steinen und sselsblocken, stürzt sich in sie noeb eine so große Menge anderen Materials. Zuweilen fallen Sand- und Erdmassen auf sie herunter. Bäume mit ilnen Nadeln nnd Blättern stürzen in ihre Spalten. Bei Regengüssen ergießen sich schmnzige Ströme über sie hin nnd verbreiten sich in ihren Nissen. Man sollte dcn^n, alle diese Stoffe müßten am Ende im Gletscher zn einem sehr bunten Konglomerate zusammen« 94 Reinheit und Klarheit des Gletschereises. gefrieren und diese ungefähr einen solchen Anblick gewähren, wie ihn die von mir oben beschriebenen Lawinenschütten haben. Statt deffen aber kommen die Eismassen der Gletscher, nachdem sie Jahre lang durch so schmuzige Thäler geschritten und so viele fremdartige Stoffe in sich aufgenommen haben, unten in den tiefen Thälern in ungetrübter Klarheit an. Diese Klarheit ist so groß, daß man selbst mit dem Vergrößerungsglase in einem Stück Gletschereises kein Sandkörnchen, kein fremdartiges Ständchen entdecken kann. Nur auf der Oberfläche zeigen sich hie lind da Steine, und an der unteren Basis der Gletscher frieren anch wohl Schmuz-, Grand- und Sandmassen zusammen. Diese merkwürdige Ungetrübtheit des Gletschereises bloß aus dem oberflächlichen Abschmelzen der Gletscher, das alle in die Gletscher hinabgefallenen Gegenstande wieder ans Tageslicht bringe, genügend zu erklären, scheint fast unmöglich, denn es wird durch diesen Proceß eigentlich kein Eis rein, als das, welches verdunstet nnd also nicht mehr cxistirt. Es geht ja beständig von Neuem Schmuz in den Gletscher hinein, aus den ununterbrochen fortstürzenden Lawinen, Stein« rinnen, Erdschütten, Waldbächen, schmuzigcn Ncgenwäffern. Wird dieser Schmuz anch beständig wieder an die Oberstäche gebracht, so erneuert sich doch fortwährend die Einwanderung des Materials, und wird der alte Schmuz stets ausgestoßen, so kommt doch auch stets frischer hinein. Gin Gletscher könnte demnach dnrch jenen Proceß so wenig rein werden, wie ein Mensch, der sich zwar fortwährend wüsche, aber zugleich auch m jedem Augenblicke wieder beschmnztc. Wollten wir auch annehmen, daß das Gletschereis seine Klarheit nicht erst unterwegs erhalte, sondern dieselbe gleich aus den oberen Regionen, wo es aus völlig unbeflecktem Front-Moiänen. 9V Schnee sich bildet, mitbringe, so ist doch dagegen zu erinnern, daß, wie wir gesehen haben, viele Gletscher sich in ihrem Fortschritte an schroffen nnd felsigen Stellen völlig auflösen, in Blöcke zerbrechen, die in tansend Splitter zerschellen, und sich weiter unten erst recomponiren. Fast alle Gletscher haben solche schroffe Stellen, wo sie wenigstens zum Theil auf diese Weise zerbröckeln. Wie kommt es, daß sie dann wenigstens nicht an solchen Stellen die vielen trübenden Elemente, die auf sie herabkommen, sich einverleiben? Ich muß es gestehen, daß es mir auf alle Weise ein Räthsel bleibt, wie aus znm Theil sehr schnulzigen und mit allerlei Material geschwängerten Schnee- nnd Wasscrelemcntcn eine solche Eismaffe hervorgehen könne, die so klar und trans» parent ist wie Krustall nnd Diamant. Den größten Theil des Materials, das der Gletscher auf seiner Oberfläche empfängt und mit sich fortträgt, läßt er am Ende ganz vorne an seiner Mündung fallen, ebenso wie dieß die Flüsse thun. Der Gletscher schmilzt hier ab, und die Trümmer nnd Blöcke, die er trng, gleiten an seincu Abhängen herunter nnd legen sich rund um seinen Kopf herum als hohe Steinwällc oder Moränen auf, die man nun „Frollt-Moränen" (Stirnmoränen) nennt und die wie ge.« wältige Nnnzeln vorn das Haupt des Gletschers umgeben. Die Bergbewohner haben dafür verschiedene Namen. In einigen Gegenden heißen sie „Gandeckcn." (zndigt der Gletscher jahrelang an demselben Flecke, so werden diese Stirnmoränen bei fortgesetztem Abfall neuer Steine zuweileu sehr hoch nnd gleichen der zusammengestürzten Mauer einer gigantischen Stadt. Sie gewähren wieder ein sehr bestimmt gczcichnetes Bild, welches der mit Fels« 96 Zu- und Abnehmen der Gletscher. blockstudicn beschäftigte Alpenbesteiger in sein Album und sein Gedächtniß aufnehmen muß. Da diese Etirnmoräncn den Endpunkt der Gletscher bleibend bezeichnen, so sind sie das beßte und sicherste Mittel, um auf die so oft aufgeworfene Frage über das Zu- oder Abnehmen der Gletscher einige Antwort zu erhalten. Man hat nämlich bemerkt, daß die Gletscher in einem Jahre schneller nnd mächtiger wachsen und auf ibrer Oberfläche uud an ihrcn Endstücken nicht gleichmäßig schnell abschmelzen, so daß also dieses Endstück sich demnach verschieben muß. Dieß findet besonders iu kalten, regen- und schneereichen Jahren statt. In heißen uud trockenen Jahren dagegen hat die Abschmclzung das Uebergewicht über die Zunahme, nnd es muß sich dann die äußerste Spitze der Gletscher etwas znrückziehen. Da oft eine Neihc von falt»nassen und wiederum eine Reihe von trocken-heißen Sommern auf einander folgt, so können die Gletscher jahrelang im Zurückziehen oder jähre» lang im Vorschreiten begriffen bleiben. Weil solche klimatische Einflüsse sich gewöhnlich auf einem sehr weiten Gebiete geltend machen, so werden vermuthlich alle Gletscher der Alpen in einer bestimmten Periode immer zugleich wachsen oder zugleich abnehmen. Doch lassen sich auch Ereignisse denken, welche bloß diesen oder jenen Gletscher allein auftrciben, in derselben Zeit, in welcher ein anderer aus anderen Ursachen zusammenschrumpft. Man hat sogar zuweilen einzelne Gletscher in sehr heißen und trockenen Jahren bedeutender vorschreiten scheu, als sie es iu kalten, nassen Jahren thaten, was sich denn aus dem ausnahmsweise eintretcuden Nachdrängen großer Eismasseu von obcn und aus Vcräudcrungen und Verschiebungen in den obersten Eisdecken erklären mag. Zu. und Abnehmen der Gletscher. 97 Ueber alle diese für die Alpenlandschaften so wichtigen Ereignisse hat man die verschiedenartigsten Ansichten. Bei den Alpenbewohnern selbst, die gern Alles auf Perioden zurückführen, findet man vielfach den Glauben verbreitet, daß die Gletscher 7 Jahre wuchsen und dann wieder 7 Jahre abnähmen; ein Glaube, dessen Wurzel vielleicht nur in der Bibel in den 7 fetten und 7 mageren Jahren Acgyptcns zu suchen ist. Einige Naturforscher haben geglaubt, die Gletscher wüchsen jetzt beständig, weil überhaupt das Klima der Alpen und ganz Europa's in ei.ur fortschreitenden Verkältung begriffen sei. Die Moränen an der Spitze der Gletscher geben in dieser Beziehung hie und da den sichersten Aufschluß. Wenn ein Gletscher sich zurückzieht, so verläßt er seine alte Moräne und führt eine ncnc an der Stelle auf, bis zu welcher er, zurückgeht, Man sieht auf diese Weise manche Gletscher an ihrer Spitze von mehren parallelen Steiuwatlen umgeben. Bei einigen erkennt man 6 bis 7 hintereinander. In solchem Falle ist dann begreiflich die äußerste, von dem Gletscher entfernteste Moräne die älteste, die innerste, dicht vor dem Eise liegende aber die jüngste, und man kaun dann schließen, daß seit dem Bau jener äußersten Moräne der Gletscher sich im Ganzen zurückgezogen und bei diesem Rückzüge so viele Etill-standscpochen gehabt baben muffe, als Stcindevositionen oder Moränen vorhanden sind. Schreitet der Gletscher dagegen vor, so drängt er gegen seine Moräuen au, wirft sie über den Haufen und schiebt sie vor sich her. Schreitet er andauernd vor, so vereinigt er am Ende alle seine Moränen zn einem einzigen großen Walle, und begreiflich läßt sich daher bei solchen Gletschern, die nur von einer Moräne nmzingelt sind, nicht entscheiden, ob sie Ä"I>l, Alpenreisen, lll. ^ 98 Einwirkung der Gletscher auf den Thalboden. beständig an derselben Stelle still gestanden haben, oder seit langer Zeit vorgeschritten find. Wären alle Gletscher der Alpen seit einer längeren Zeit, etwa seit einigen Iabrhunderten, in constantem nnd bedrohlichem Anwachsen begriffen, wie dieß (5inige glauben, so mi'ißte jeder von ihnen nur eine einzige Moräne haben. Da wir aber, wie gesagt, bei vielen 2, 3, nnd sogar 6 nnd 7 Moränen finden, so ist dieß Beweis genug, daß viele Gletscher auch in den neuesten Zeitperioden noch zurückgeschritten sind. Ist eS schon schwer, die Oberfläche nnd Außenseite der Gletscher zn beschreiten und die dort eintretenden Ereignisse zu beobachten, so ist es doch, wie gesagt, noch viel schwieriger, ihre Basis, die sie bedecken, in Augenschein zu nehmen. Nur wenige Reisende haben es gewagt, sich in die Höhlen und Spalten der Gletscher hinabzulassen und diese versteckte untere Seite des Eises zu untersuchen, und nur selten ziehen sich die Gletscher selbst so weit zurück, daß man die Wirkungen, welche sie auf den Thalbodcn ausübten, in Augenschein nehmen kann. Hie und da drangt sich der Gletscher fest an diesen Boden an, und an solchen Stellen reiben dann die Nismassen in ihrem ununterbrochenen Fortschritte beständig an dem Gestein nnd bringen an ihm diejenigen Polituren, glatten Wände, abgerundeten Köpfe hervor, welche für die Gletscherforscher so interessant sind, da sie ans ihrem Vorhandensein auf ehemals vorhandene Gletscher schließen. Da, wo die Eismassen fest an den Boden andrücken, werden kleinere und bröckliche Steine häufig zerrieben und im Verlaufe der Zeiten ganz zu Grand und Staub ver- Steinzerrelbung. Gletscherhvhlm. 99 wandelt. An seinem Rande stößt oft der Gletscher große Massen solchen feinen Steingruscs hervor. Diese vom Gletscher fortgetriebenen Steinchen zeichnen häufig in jene polirten Wände lange Striche und Schrammen ein, welche die Richtung andeuten, in der der Gletscher sich fortbewegte, nnd die daher wiederum den Glctscherforschern als Anhaltepunkt bei ihren Forschungen dienen. Tritt dem Gletscher auf dem Boden ein aus dem Thale hervorstehender Kopf entgegen, so drängeu sich die Eismassen von obenher überall dicht auf denselbeu heran, und so von dem Kopf emporgetragen, schleifen sie darüber hinweg nnd bilden dann natürlich anf ihrer unteren Seite eine Höhle, die sich oft sehr lang unter dem Eise fortsetzt, weil die in der Schwebe gehaltenen Eiömafsen erst nach einiger Zeit sich wieder anf den Boden herablassen und so die Höhle zerstören. Diese so entstandenett Höhlen haben ganz die Form des Felskopfes angenommen, der sie veranlaßte. Da, wo der Fels einen Einschnitt oder eine Vertiefung hatte, bekommt die Höhle einen langen Leisten oder Eisbalkcu. Es erfolgt hier ganz dasselbe, wie wenn man etwas erweichten Thon oder Kitt über eine gewisse Form hmwegtnebe und drückte. Andere Aushöhlungen an der Unterseite der Gletscher entstehen durch das Wasser, das beständig aus seinen Spalten und Klüften hcrabrieselt und, sich am Boden sammelnd, unter dem Eise weiterströmt. Da, wo es fließt, schmilzt es das Eis vom Boden weg, zuweilen, wenn es ruhig fortläuft, nur wenig. Da aber, wo es tobt, schäumt nnd spritzt, greift es weiter nm sich und schmilzt weite Gewölbe aus. Zuweilen werfen sich diese Wasserriesel alle in ein vereinigtes Bette, zuweilen aber je nach der Gestaltung des Bodens gehen sie 7* shl) Eisgänge. in viele kleineAdern und Zweige auseinander, die sich trennen und wieder verbinden. In dcm letzteren Falle entsteht dann durch Wegschmelzung ein ganzes Eystem sich verbindender Höhlen, und da ruht der Gletscher gleich einem Kellergewolbe nur noch anf einer Menge dicker Säulcnstümvfe oder Piedestalc von Ms, oder vielmehr da bewegt er sich wie eiu Tauscndfuß auf solchen Eisstumpfeu fort. Da, wo die Gewässer sich einen Durchweg bahnen, dringen ihnen auch sogleich die Lüfte nach und strömen mit ihnen in denselben Gängen und Höhlen. Diese Lüfte, welche durch die Adern des Gleschcrs braujen, haben in der Regel eine höhere Temperatur als das Eis, besonders dann, wenn ein heißer Föhn sich über den Gletscher und durch sein Geklüfte hin ergoß. Sie tragen daher vielleicht noch mehr als das Waffer zur Ausbildung der großen Eishöhlen bei, die zuweilen am Ausgauge der Gletscher mit einem Gewölbe von 50 nnd mehr Fuß Höhe erscheiuen. Alle diese Eisgänge und Eishöhlen find natürlich sehr veränderlich. Sind sie bis zu einer gewissen Höhe ausgebildet, so stürzcu sie wieder zusaiumeu, verstopfen sich nnd zwingen Wasser und Luft, ihre Arbeit von Neuem zu beginnen oder sich einen ganz anderen Ausweg zu bahnen. Auf ganz ähnliche Weife wie die untere Seite des Eises selbst, wird auch die Oberfläche des Thalbodens, auf dem der Gletscher fortrutscht, allmälig zerfressen. Hie und da polirt der Gletscher nicht die Wände glatt, sondern schneidet vielmehr in die Erdrinde ein und bildet so zn Zeiten tiefe Scharten und Furchen in dem Felsen ans. Das in den Eisspalten abtröpfelnde oder bcrabbrausende Wasser bohrt Löcher in die Felsen und arbeitet Rillen in ihnen aus, oder „karrt sie aus," wie die Aelplcr sagen. Dadurch entsteht Karrenselder, 101 dann unten ein buntes Gewirr von Furchen, Steinnicken nnd Felszacken. Zuweilen findet man auf den Hochalpen solche auf höchst wunderbare Weise zerfurchte oder zerfahrene izerkarrte) kahle Felsenparticen. Die Aclpler nennen sie „Karrenfelder," nnd man glaubt, daß sie von Schnecmaffen und Gletschern, welche sie einst bedeckten, in diesen Zustand versetzt worden sind. Wenn das Wasser sich in einer starken Ader sammelte und das Gestein nicht zu bart war, werden solche Furchen oft zu mehre hundert Fuß tiefen Schluchten ausgeweitet. Mitunter setzt sich eine solche Schlucht oder ein solches enges Flusitbal noch außerhalb des Gletschers fort, tritt aus ihm hervor und giebt dann Anlaß zu manchen höchst malerischen Secnen. Das Eis des Gletschers liegt wie eine krystallene Decke oder Brücke über der finstereu Kluft. Zu Zeiten stürzen Felsen oder grosic (Ablocke in die Schlucht hinab oder bleiben in bockst malerischen Situationen zwischen ihren Wänden hängen. Dem Zwecke unserer Arbeit gemäß haben wir hier nur so viel von den Resultaten unserer Forsckmna, über das Wesen der Gletscher beibringen wollen, als dazu nöthig war, um ihren malerischen und poetischen Werth in der Landschaft richtig windigen zu können. Dieser Wertb ist von jeher so hoch angeschlagen worden, daß man sagen kann: die Gletscher sind geradezu als das aller-cigenthümlichstc, am meisten pittoreske uud poetische Phänomen der Alpeil gepriesen worden. Und wenn Mannigfaltigkeit der Form uud Gestalt, Schönheit und Anmnth der Farbe, sowie Eigenthümlichkeit des Stoffs, die zu anregenden und gefälligen Gegensätzen mit der Umgebung führt, die Haupt- 102 Wunderliche Visgestaltungen. erfordernisse sind, die ein Ding dazn qnalificircu, einen hohen und bedeutungsvollen Rang in der Landschaft einzunehmen, so nmß man den Gletschern vor allen anderen diese Qualification zugestebcn. Das Eis, obwohl cinc scste Masse, wird doch ohne Schwierigkeit von Luft lind Wasser bearbeitet. Es wirft Spalten, die sehr bald als ungeheuere gähnende Klüfte sich darstellen. (5s zerschellt beim Fall leicht in tausend krystallene Stückchen. Es zerschmilzt bei jedem Hauche der Luft, und dieser wird es daher nicht schwer, vielfache Höhlen in ihm auszubohren. Ein jeder der zahllosen Pfeile, welche die Sonne auf die Gletscher herabsendet, trifft sein Iiel und hat seinen Effect. Sie gleichen daher einer ungemcin bunt zerschossenen Zielscheibe. Zacken, Säulen, Thürme, Wellenberge, Eisthore von allerlei Größe lind Figur bilden sie unschwer in diesem Stoffe aus, und diese wunderlichen Gestaltungen regen unsere Phantasie zu mancherlei Vergleichen auf. Wie krystallene Kronen erblickt man sie zu Zeiten auf dem Gipfel eines Vorsprungs. Gleich eiuem künstlich gezackten Spitzenbesätze schlingen sie sich um die Schultern hoher Bergkolasse. Wie grünliche wogende Meere, die ein Zauber plötzlich mitten in ihrer Bewegung erstarren machte, füllen sie die weiten Hochebenen zwischen dm Gipfeln. Wie ein Zuckerüberzug ein Gebäck, so incrustircn sie alle diese Felder und Spitzen. In den Tiefen ballen sie sich zu dicken Haufen zusammen, und an jedem AbHange bröckeln sie ab und bilden längs seines Randes eine blanke Mauer von Eis. Trittst du ein in ihre Thore und Höhlen und blickst du rückwärts iu die Gefilde hinab, so rahmt sich dir ein lieb« Eigenthümliche Farbe des Gletschereises. 1HZ lich warnies Bild in einen kalten Bogen von Eis ein, und steckst dn mitten zwischen den Zacken und eisigen Wogen, so erscheinen dir Theile des blumigen Bildes zwischen diesen krystallenen Pfeilern und Kluften. Die eigenthümliche Farbe deö Gletschereises ist dem Ange höchst wohlgefällig. Keiner der anderen Stoffe, aus dem das Gebäude der Alpen gemauert ist, theilt sie mit ihm. In kleineren Stücken zeigt es freilich so wenig Färbung als anderes Vis. In größeren Partieen aber schimmert es von einem reizenden Meergrün. Im Winter und in deu höheren Gegenden, wo die Oberfläche des Eises mit weißem Schnee bedeckt ist, erscheint aber diese Farbe nur an den schroffen Eiswä'nden, wo der Gletscher abbricht. Man sieht dann aus der Ferne überall dieses sanfte Aquamarin-Grün partieen-weise aus der großen Masse hervorschimmern. In der Nähe verwandelt sich dieses Grün in ein schönes Blau, uud bringt man das Auge ganz dicht an eine Glctschenvand hinan, so glaubt man in eiue durchsichtige, hellschimmernde, tiefblaue Masse zu blicken. Dasselbe zauberische Blau schimmert aus allen tiefen Spalten herauf. Die Höhlen scheinen mit blauem Lichte ringsumher erfüllt. Mehr noch als im Sommer ist dieß im Winter der Fall. Der Frost und die daraus entspringende Trockenheit des Eises scheint die Farbe noch zu erhöben und intensiver zu machen, wie man denn auch von der grünen Farbe des Wassers bemerkt hat, daß sie im Winter frischer und stärker ist. Es ist eine von Vielen gemachte Beobachtung, daß einige Gletscher ein viel tieferes Grün und Blau zeigen als andere. Bei manchen dagegen scheint die Färbung der Eismasse ins Graue oder Schwärzliche hinüber zu spielen. Im Winter, wo in den hohen Gebirgen Alles unter 194 Nintergastc unter dcn Frühlingökindcrn. einförmiger Schneedecke ans gleiche Weise versteckt ist, können die Gletscher eben so wenig wie andere Oberflächen-Phasen in anregenden nnd gefälligen Kontrast mit ihrer Umgebung treten. In der warmen Jahreszeit aber, wo sie als die einzigen Repräsentanten nnd Ucbcrrcstc des Winters mitten zwischen den lieblichen Werken des Sommers zurückbleiben, geben sie zn solcher Contvastlning die mannigfaltigste Gelegenheit. Sie senken sich tief in die Region der Wälder und Wiestnkräntcr Innab. Blumen sprießen an ihrem Rande auf, Bänme grünen an ihren Ufern, nnd zuweilen stürzen große (5isblöckc auf die Moose, Gräser und mitten zwischen blühende Gesträuche hinab, als höchst fremdartige Ninter-gaste mitten in der Gesellschaft der Kinder des Frühlings. Die Dichter haben unzahlige Male anf sehr anmutbige Weise den Lauf eines Flusses, die verschiedenen Wechsel dieses Laufs und sein endliches Verschwinden im Meere mit dem Verlaufe nnd Wechsel des menschlichen Lebens verglichen. Ebenso oft haben sie dc-u klaren nnd ruhigen Wasserspiegel eines von festen Felsen nmschlossenen Sees dem Zustande einer in sich beruhigten Seele, sowie wildranschendc Flnß-strömungen nnd Wasserfalle entgegengesetzten Gemüthszuständen verglichen. Auch sind von ihnen viele andere Naturerscheinungen: Sonnennntergänge, Felsenabgründe, friedliche Thäler, weiße Schneefeldcr, hohe Berggipfel?c. :c. zu Vergleichen vielfach benutzt worden. Das Innere der Alpen ist indeß so reich an bedeutungsvollen Scenen aller Art, daft man wohl sagen kann, die Dichter finden hier noch immer neuen Anlaß zu noch völlig nnbenutzten Bildern nnd Parallelen uüt dem menschlichen Leben nnd Gemüthe. Der Metscher Kindheit und Jugend. 105 Namentlich sind unsere in neuerer Zeit so zu sagen erst entdeckten Gletscher, in denen sich jetzt auch die Maler ein reiches Feld zur Ausbeute eröffnet habcu, noch wenig zn dichterischen Zwecken benutzt wovdcu, obwohl ein zweiter Hebel mit ihrer Hülfe eine nicht minder anziehende Natur-Epopöe zu Stande bringen tonnte, wie er sie uns mit Hülfe des Wassers in seinem reizenden Gedichte, „die Wiese", gab. Wunderbar wie der belebende Same des Uranns fallen die Schneeflocken vom Himmel auf die Berge herab. In den hochgestellte» Wiegen der Alpen ballen und gestalten sie sich zn dem Anfange eines lebendigen Gletschers, der von ge-hcimmßvollcm Leben beseelt sich regt und, nach unten drängend, seine Lcbcnsrcise beginnt. Anfangs ist die Masse noch locker, wie das Gewebe der Seele eines Kindes, und die Farbe unbefleckt und weiß, wie das jugendliche Herz. Nahe dem Himmel, auf freier beneideter Höhe thronend, spüren die Gletscher noch nicht die sorgenvolle Enge der tiefen Thäler. Reizend ist ihr l5rröthen im Strahle der Mor-gensonnc, und in flammenden Farben erglühend, jubeln sie im Lichte der Abendsonne gleich einem Neigen tanzender himmlischer Kinder. Wärme und Frost wechseln ab, und viele Regenthränen fallen nach und nach auf das lockere Wesen hinunter. Vs zerschmilzt, es gestiert und nimmt so eine festere Bildnng an. wie der junge Mensch, den die Vegegnisse bald freudig, bald traurig erschüttern. Oben auf den jugendlichen Gipfeln war das Eis weit verbreitet in unbestimmter Gestalt. Jetzt in die Thäler hinabsteigend nimmt es zwischen den Felsenwändcn eine bestimmtere Gestalt, einen geregelteren Lauf an. Oben jnbelten die Schneeflocken in keckem Uebcrmuthe in den Lüf- 106 Sorgen und Mühen im Metscherlebeu. ten, jetzt erscheinen sie gefesselt an den Boden in der soliden Krystallmasse verschmolzen. Nun stürzen gleich den Sorgen und Nöthen des Lebens die Felsenblöcke nnd Schnttmassen anf den Rücken des armen Gletschers herab, nnd je weiter er schreitet, desto höher häuft sich diese Last, die er aber Anfangs inmitten der Blüthe seiner Jahre noch kraftig trägt. Auch andere Gletscher nahen sich ihm von den Seiten nnd verbinden ihre Substanzen mit der seinen, wie anch im Leben andere Menschen erscheinen und, indem sie ihren Nachen an unser Lebensschiff heften, ihre Sorgen nnd Lasten zu den nnsrigen fügen. Hie und da bedeckt der Schutt den Gletscher wohl ganz, doch wo man die Steinlast hinwegräumt, trifft man wieder den klaren und ächten Krystall, so wie man auch, wenn man nur tief ins Herz einschlägt, trotz aller Schlacken, die das Leben ansetzte, auf einen schönen, fleckenlosen Kern stoßt. Viel Unedles nnd Fremdes will sich in die Spalten und Klüfte des Gletschers hinabsenken. Allein gleich wie eine kräftige Seele sich beständig regenerirt und gleichsam in Gott sich stets von Neuem gestaltet, so weist anch der Gletscher den Schmuz und das Geröll von sich, wirft es hinaus und stellt sein Inneres wieder rein und untadelhaft her. Selten nnr ist der Weg, auf dem der Gletscher wandert, glatt und eben. Die Wände des Thals sind eng. Felsenköpfe nnd Abgründe stellen sich ihm auf seiner Bahn entgegen, und langsam, mühselig, Schlünde füllend, Brücken und Gewölbe bauend, fchleppt er sich hindurch. Kaum ist sein Fortschritt bemerkbar. Es ist eine lange und schwierige Arbeit wie das Leben des Menschen. Oft seufzt es in der Tiefe des Krystalls, oft donnert es, sein innerstes Gebein erschütternd, durch seinen ganzen Zertrennung und Neconstrmrung. 1Y7 Bau. Dazu durchstoßen ihn noch die Wasserströme, die er selber erzeugte, und nagen im Innern an seinem Marke, so wie die Leidenschaften und das heiße Blut in den Adern des Menschen. Es giebt schroffe Wände und tiefe Abgründe, die der Gletscher nicht überwinden kann. Er zerbröckelt in Stücken und scheint der Auslösung nahe. Unten aber sammeln sich dicsc Brocken wieder, ballen sich von Neuem, und sich wieder verbindend, werden sie abermals von Leben beseelt, und der Gletscher setzt nach dieser Regeneration in der Tiefe seine Reise fort wie oben. So trifft auch uns Menschen zuweilen im Leben eine erschütternde Krankheit, ein vernichtender Schlag. Unser Ende scheint nahe. Unser Glück scheint zu verfallen, die Welt zu entschwinden, Alles in Verzweiflung zn zerscheitern. Und doch sammeln wir dann wohl die Brocken unseres Lebens von Neuem und gestalten uns aus den Trümmern einen anderen Zustand, den wir dann noch eine Zeit lang fortführen. Zuweilen wiederholt sich solche Zertrennung und Re-construirung, zuletzt kommt dann aber doch das wirkliche Ende. — Die Runzeln an der Stirn des alternden Gletschers mehren sich. Die Lasten, welche er, wie Atlas die Weltkugel, leicht auf seinem Rücken trug, läßt er nun matt und müde fallen, und kaum versucht er eö noch, sie mit seinem Fuße fortzuschieben. Seine ganze Fignr bietet einen minder reizenden Anblick dar, denn sie ist vielfach von Staub und Schutt bedeckt. Die heiße Sonne der Tiefe saugt begierig alle Lebenskräfte weg, von oben und innen drängen keine neuen Lebensmassen nach. Der Fortschritt stockt, und indem die unter- 108 Ende dc5 Gletschers. minireuden Gewässer ein Gewölbe nach dem anderen zusammen-stürzen lassen, tritt endlich völlige Auflösung ein. „O zerschmölze doch/' sagt Shakespeare, als hätte er unsere Gletscher dabei vor Augen gehabt, „dieß allzufeste Fleisch/' — Es schmilzt, nnd in einen lebendigen rauschenden eilenden Fluß verwandelt eilt es zn den Blumen der Flur, zu den warmen und reizenden Regionen einer anderen Welt. So wird auch unsere Seele einst, dem Gletscher dieses irdischen Leibes nnd Lebens enteilend, von einem rascheren Fortschritt beflügelt, zn einer schöneren Welt sich lnuüber-schwingen. Auf diese Weise, sage ich, könnte einmal ein Dichter die Parallele des Menschen- nnd Glctscherlebcns durchführen. Und dabei wäre noch der Vortheil, daß das Epos auf eine viel ansprechendere Weise schlösse, als bei dem Vergleiche mit dem Flusse. Der Fluß verliert sich am Ende in den großen Ocean, ein Umstand, der nur auf ein Verschmelzen unseres Geistes in eine allgemeine Weltseele gedeutet werden kann. Dieß ist eine für jede menschliche Individualität unheimliche Vorstellung. Beim Gletscher dagegen geht das Bild so schön und vielvcrheißend zn einer herrlicheren und freudenreicheren Welt über. Freilich steht dabei die Wiege der Kindheit etwas kühler und minder lieblich, als wenn man das Bild des unter Blnmen entqnillcndcn Flusses festhält; anch ist dabei das ganze irdische Leben so rauh nnd eisig. Uud es ist mir daher auch charakteristisch, daß ich die (5hre der ganzen (Erfindung dieses Vergleichs einem kaltsinnigen Engländer überlassen muß, der mich zuerst auf die Aehnlichkeit zwischen Gletscher- und Menschenleben aufmerksam machte. IV. Alpenseeen. Im Ganzen ist die Form dcr Erh ebnn gs masse der Alpen vyramidalisch. Die nach allen Weltgegendcn hin ablaufen-den Flüsse setzen dieß anßer Zweifel. Allein wie die Spinne in ihrem Netze radiensörnüge Hauptfäden anlegt nnd diese dann wieder durch Qnerfadchcn verbindet, so gehen anch überall in den Gebirgen von den Hanptästcn Nebenzweige aus, welche Qncrdammc oder Niegel von einem Hauvtastc zum anderen hinüberschicben. Dnrch diese Qncrriegcl, die von Zeit zu Zeit in den großen sowohl wie in den kleinen Thälern erscheinen, werden diese dann so zn sagen in eine Menge Kasten, Becken oder Kessel eingetheilt. Sowohl ganze große Erhebungsmassen, als auch die einzelnen Particcn dieser Massen und selbst die Oberflächen dcr höchsten Plateaus, Nucken und Gipfel sind wieder nach diesem svumewcb- oder netzartigen Modell angelegt, haben Vertiefungen, Kessel und Becken, die man gewissermaßen als die Maschen jenes Netzes bezeichnen könnte. 110 Das Becken- und Kesselnetz der Alpen. In jedem Thale der Alpen, in welchem man empor reist, bemerkt man eine Menge solcher Becken, die gleich den sogenannten Kasten eines Schlcusenwerks übereinander stufen« weise aufgestellt sind. So wie die Maschen des Spinneuge-wcbcs nach dem Centrum enger werden, so werden auch die Maschen jenes Gebirgsnetzes nach den mittleren Höhen zu immer kleiner. Einst waren vermuthlich diese Becken sämmtlich mit Waffer angefüllt, und die Erhebuugsmafse der Alpen zeigte daher eine zahllost Menge von Seeen, in denen überall ihre wilden Haupter sich spiegelten. Jedes dieser Becken ergoß seinen Ucberftuß über seine nnteren Querriegel hinweg in das nächste Becken nach unten. Allmälig aber sind nun viele solcher Qnerriegel durchgesagt worden nnd viele Seeen ausgelaufen. Wir blicken daher an zahllosen Orten in den Alpen in ehemalige Seebetten hinab, in denen nun statt des krystallenen Wassers blumiges Gras schimmert und statt der Fische Menschen wohnen. Viele Seeen wurden zwar nicht völlig beseitigt, aber doch bedeutend verkleinert, einige trennten sich zu zwei verschiedenen Becken, und wir besitzen daher in den meisten der jetzigen Alpenseeen nur noch Theile nnd Ueberreste ehemals größerer Wasserbecken. So sind z. V. all die kleineren Eeeen der ebenen Schweiz nur noch Theile eines gewaltigen Sees, der einmal das ganze große Sandsteinbecken zwischen den Alpen nnd dem Jura ausfüllte und der nach seinem Ablaufe nur noch in jenen Eeccn wie eine Ueberschwemnnmg in kleinen Pfützen und Tümpeln stehen geblieben ist. Immer m'ch fortschreitende Verkleinerung der Seeen. m Im Ganzen kann man annehmen, daß diese in den Urzeiten begonnene Verkleinerung der Secen noch jetzt beständig fortgeht. Sowohl die Natur als anch die Menschen arbeiten daran fortwahrend weiter. Die Flüffe sägen noch immer an den Riegeln, welche die Sceen anfstauen, erweitern nnd vertiefen die Canäle. welche diese verbinden. Auck füllt die Natur die Seecn mehr und mehr aus, indem sie fortwährend Steinmaterial in ihnen absetzt. Ebenso haben die Menschen in neuerer Zeit eine Menge Arbeiten unternommen, um der Natnr bei diesem Bestreben zu Hülfe zu kommen. Es ist merkwürdig genug, daß die Landwirthe erst in neuerer Zeit diese ihrer ästhetischen Eigenschaften wegen so vielfach bewunderten Bergseeen in natioualöko-nomischer Hinsicht als arge Wüsten erkannt haben, die man beseitigen muffe. Jetzt aber hat sie in der Schweiz, wie in Deutschland und Rußland eine wahre Seeen-Austrock-mmgs-Lust ergriffen, und es ist icht fast kein Wasserbecken in den Alpen, lei dem nicht eine Niedrigerlegung, wo nicht ausgeführt, doch versucht, oder wenigstens projectirt wäre. Wie die hohen Berggipfel, so werden dereinst also auch diese hübschen Alpenspiegel verschwinden, und somit Bild und Spiegelbild untergehen. Sanffure hat einmal eine Rundreife zu den hauptsächlichsten Seeen der Schweizer-Alpen gemacht und in einige von ihnen ein Senkblei und ein Thermometer geworfen, um ihre Tiefe und die Temperatur ihrer Gewässer zu bestimmen. So kostbar und dankenswcrth die Rcsnltate dieser Saussure'schcn Beobachtungen sind, so unvollständig sind 412 Die Schweizer-Seeen ayun,« inco^nitae. sie doch, da sie nur so zu sagen über einzelne Punkte einzelner Wasserbassins einiges Licht verbreiten und ohnedieß auch nnr fur die jedesmaligen Zeitmomente, in denen jener Reisende seine Beobachtungen anstellte, Geltung haben. Aber die Samenkörner der Seeenknndc, welche der emsige Saussurc ausstreute, sind nichts weniger als üppig treibend aufgegangen, und man kann — wunderbar genug! >— die meisten der Alpen-penseeen noch gcradezn wo nicht lßrriie, doch 3yu3e incaßlü-t26 nennen. Die Gestaltung des Bodens der Sceen, seiner Austief-ungen und Erhöhungen ist noch so wenig genügend erforscht, daß wir kaum von einem Seeboden ein solches Relief haben verfertigen können, wie wir es von vielen Bergpartieen besitzen*). Ueberall sindet man noch unausgemessene Stellen. Die Fischer wissen mehr Eiuzelues davon, als die Gelehrten Zusammengefaßtes, uud von der Tiefe vieler Stellen der Seeen geht sowohl bei jenen als bei diesen nnr eine dunkle Sage herum. Von der Art und Weise, wie die Secen beständig sich vermittelst der in sie mündenden Flüsse füllen und wieder entleeren, wie sich die Gewässer erneuern, haben wir eine eben so unvollständige Vorstellung. Nicht einmal von solchen Seeen, wie vom Genfer oder Züricher, an deren Ufern ganze Colonieen von forschenden Gelehrten, ganze Akademicen und Universitäten sich niedergelassen haben, können wir angeben, wie die Gewässer der Flüsse Rhone nnd Linth sich darin vertheilen, welche schnelle oder langsame Bewegungen der Was- *) Nur der See von Nenfchatel ist in dieser Hinsicht genau dargestellt. Periodische NnsckweNnngcn der ^ceen. <^Z sennassen sie in dem Vasstn verursachen, welche Strömungen und Rückströmungen, wie und nach welchen constcmten Gc> setzen sich da Alles rückwärts und vorwärts und von unten oder von oben allmälig drängt und verschiebt. Ohne Zweifel giebt es für jeden See gewisse grosie lange Perioden, innerhalb deren einmal seine ganze Wasserquantität, selbst die krystallene Welle, welche jetzt ruhig geschichtet und comprnnirt in seinem tiefsten Grnnde liegt, völlig aus-geftosscn oder verdunstet ist. Es wäre sebr interessant, dieß Alles zn kennen. Allein wir wissen, wie gesagt, nichts von jenen Ausfticsiungö-, Ver-duustnngs- und Erneucrnngs-Perioden, Alle Seecn der Alpen haben mebr oder weniger regelmäßig wiederkehrende Anschwellungen ihrer Gewässer. Obgleich diese Anschwellungen häufiger als irgend ein anderes Seephänornm beobachtet fiud, so besitzen wir doch keineswegs vergleichende und nmfassendc tabellarische Uebersichten über die relative Vennehrung oder Verminderung der Wassermasse in den verschiedenen Jahreszeiten. Und manche Arten der Anschwellungen der Sceen, die-nicht so handgreifliche Ursachen haben, wie es die vom Regen oder von dcrSchnecschmelze herrührenden sind, blieben unsvoll-kommen rä'thselhaft. Dergleichen noch unerklärte nnd plötzliche Ansflutlnmgen oder Anschwellungen, von deueu ewige Gelehrte geglaubt haben, daß sie von Schwankungen nn Luftmcere oder von dem wechscluden Drucke der Luftsäule über den Wasser-Ansammlungen herrühren, finden wir fast bei allen Alpcnsecen. Ueber die Temperatur der Seeen in den verschiedenen Regionen ihrer Gewässer sind unsere Veobachtnngen unvergleichlich weniger zahlreich, als über die Temperatur in den KuHI, Alpenreisen. !U. 8 41 i Temperatur der Seeen. Mischwandernngen. verschiedenen Luftschichten. Wir haben keine vergleichenden Uebersichten der Temperaturen der verschiedenen Sccen je nach ihrer Höhe, Größe, Tiefe nud geographischen ^agc, Und doch wäre dieß Alles so äußerst wichtig, um darnach die Thier- nnd Pflanzenwelt dieser Wasserbecken beurtheilen zn können. Man glaubt indeß erkannt zu haben, daß alle Seeen in einer gewissen Tiefe eine gleich niedrige Temperatur besitzen. Was wir von den Wanderungen der Fische in den Al-pmsecen wissen, wie diese Wasserbewohner sich im Winter aus allen benachbarten kalten Flüssen in die wärmeren Sceen zu< sammcnziehen, — wo sie sich dann an dieser oder jener geeigneten Stelle versammeln, — wie sie auch auö höheren Seeen in tiefere hiuabwandern, — wie im Sommer aber alle wieder die Flusse und höheren Gewässer erklimmen, — wie manche Gattungen sogar aus dem adriatischen Meere und aus der Nordsee bis zu den Seeen der Alpen sich hinan wagen, — die Kunde von diesem Allen ist sehr dürftig. Noch Niemand hat jene Fischwanderungen in den Alpen, so reich an Interesse sie sind, eines speciellen Studiums oder wenigstens einer Darstellung gewürdigt. Die Untersuchung der ästhetischen Rolle, welche die Eceen in der Berglandschaft übernehmen, hangt natürlich ganz von der Untersuchung der physikalischen Rolle, welche sie daselbst spielen, ab. Denn die Sensationen, welche die Naturgegenstände auf uns machen, die Stimmungen, in welche sie uns versetzen, sind nur ein Product ihrer physikalischen Beschaffenheit. Wir werden uns von den Eigenthümlichkeiten, dem Grade lind den Ursachen jener Sensationen daher um so besser Rechenschaft gehen können, je deutlicher wir ihre physikalische Beschaffenheit erkannt haben. Die Wissenschaft ist überall in gewisser Hinsicht die Die plwsif, Bosch affcnbcit d. Naturgegenftände n. d. Aessl'Nit, 119 hülfreiche Dienerin der Pbautasie, nnd diese gewinnt dnrch jene immer neue Blüthen nnd Genüsse. Wenn ich z. B. anf der Oberfläche eines Sees rudere und weiß, daß der flüssige Krystall noch Hunderte von Klaf» tern nnter nur liegt, so empfinde ich ein l'öhereö Vergnügen, als wenn ich überzeugt bin, bloß über eine überschwemmte Wiese dahinzuschiffen. Indem ich in Gedanken in die Tiefe tauche, erblicke ich mich und meinen Kal'N gleichsam wie einen Acronauteu in unermeßlicher Höhe schwimmen. Wenn ich die wundersamen Bewegungen der Strömungen nnd die noch merkwürdigeren der Fische nicht kenne, so entgeht mir dadurch ein Theil des phantastischen Genusses, den mir ein See gewähren kann. Sie kennend aber folge ich in Gedanken den stillen Zügen der Wasscrbewohner und schaue, wie sie hier iu dunkler Tiefe gleich den Alpenrindern von den Nixen, ihren Hirten, bald hier, bald dort, bald höher, bald tiefer in regelmäßigem Wechsel auf die Weide getrieben werden. Welchen Vortheil hat nicht Schillers Phantasie ans der naturwissenschaftlichen Kunde des Meeresgrundes fur die Wassergemälde, die er in seiuem Taucher aufstellt, gezogen. Man kaun es dcmnack auch für den poetischen Genuß der Alpensceeu uud für ihre Aesthetik nur bedauern, daß sie physikalisch noch so ungenügend untersucht sind. In ihren Liedern „vom Wasser, das rauscht", „vom Wasser, das schwoll," singen uns die Dichter von der geheimen Anziehungskraft, welche der Anblick des Gewässers auf die menschliche Seele übt, und auf seinen Wanderungen erlabt sich jeder Reisende an dem Anblicke, wenn inmitten der Gebirge plötzlich die Aussicht sich weitet und sich ihm die 8' 116 Die Ruhe der Alpeuseem. Spiegelfläche eines klaren Sees darbietet. Ja man braucht nur den bloße», Namen „Alpeitsee," „Gebirgssee," zu nennen, und man kann sicher sein, daß alle Zuhörer sick etwas ganz Reizendes dabei denken. Man sehnt sich, seufzt, und doch so selten fragt eine Stimme dadei: warum? So selten sucht Einer einmal die Frage zn erörtern: worin bestehen denn eigentlich die zauberischen Reize, welche diese Seeen auf unser Herz und Auge üben? So völlig gc-heimnißvoll und unerklärlich, wie die Dichter ihn zu machen wünschen, ist dieser Zauber doch wohl nicht. Den Anwohnern der Sceen sind diese ihre Sceen so werth, wie ihre Alpenspitzen. Und von den Waadtländern und Genfern ist es bekannt, daß sie ihren „Lcman" fast anbeten, daß sie in der Fremde die tiefste Sclmsucht, hcrzftes-sendes Heimweh nach ihm empfinden, daß seine spiegelblanke Fläche ihnen in ihren Träumen gleich einer b'iUl, moi-ßlmn erscheint, und daß sie vor Entzücken weinen, aus die Kniee fallen, daß ein leises Dankgcbet über ihre Lippen gleitet, wenn sie, aus der Fremde zurückkehrend, auf den Höhen des Jura zuerst das klare Auge ihres Heimathsees erblicken. Was, frage ich demnach mit Recht, ist es denn, was uns bei den Seeen mit solcher Freude, mit solcher Lust, mit solcher Liebe und Sehnsucht, mit solchem Zauber und solchem Heimweh erfüllt? — Und bei der Beantwortung dieser Frage, die ich per» suchen will, scheint es mir denn zuerst bemerkenswert!), daß das bewegliche uud unruhige Element, in den Wasserbassins der Seeen sich sammelnd, der Repräsentant der anmutbigsten Ruhe wird. In ihnen ist der flüssige Krystall zu vollkommenem Stillstände gelangt nnd hat überall ein befriedigendes Gleichgewicht gcfnnden. Sie bieten mitten in den vielfach zerklüfteten Gebirgen eine vollkommen ebene Fläche dar, auf Kontrast des Ebenen und des Zerfurchten. 447 der unsere Seele und unser Auge ausruhen, und die mitten zwischen den gewaltig hohen Wellen der Berge auch dann noch flach und eben erscheint, wenn ein Wind ihre Oberfläche kräuselt. Die festen bewegungslosen Erdstoffe, die sich gleich Meereswogen anfthürmen, die in geneigten Felsen wie die Brandung des Oceans überstürzen, die ihre Oberflache in finstere Falten ziehen, sind bier das Element der Unruhe nnd der leidenschaftlichen Aufregung, nnd um diese Anfregnng zu dämpfen, flieht unsere Seele zu dem weichen Schooße der Nymphen und Wassergöttcr, die dort in der Tiefe, auf Wie-scngrund gebettet, vor Sturz nnd Fall geschützt sind. Diesen Dienst der Beruhigung, diesen lieblichen Contrast des Ebenen mit dem Zerfurchten, diese Paarung, wie Schiller sagt, des Rauhen mit dem Milden gewähren uns die Bergseeen. „Könnt' ich doch den Ausgang finden, aus dieses Thales dunklen Gründen," seufzt die Seele, die zwischen den Bergen nach Licht, nach Weite und Freiheit begierig Nch sehnt. Nnd öffnen sich dann da die Thore, treten die Riesenmauern des Thalkerkers zurück, dringt Licht nnd Lnft in Fülle herzu, winkt ein flacher freier Secspiegel ihr entge» gen, so athmet sie inbelnd auf. Mit scharfgezeicbneten Linien umgiebt der Seespiegel den Fnß der Felsen und Wände, die sich ans ihm, wie aus einem nach dem Winkelmaße geebneten Boden, emporheben, nnd in alle Scklnchtcn nnd Bnsen eindringend, zeigt er genau ihre Gestaltung, wie ein knappes Gewand die Formen einer Schönen. Es scheint, als träte der Waffergott dem wilden Plu-tu<^ mit der Friedenspalme entgegen, den Balsam des kry- 5^8 ^era, nnd 3ee, Manu nnd Geliebte. stallenen Bergnektarö gießt ?r ans dle Wunden, die dieser der Gaa schlug, und alle Klüfte überziehen sich mit einer lä« chelnden Miene nnd erfreulichem Glänze. Gleich einer besänftigenden Geliebten ruht der See am Vusen des rauben Berges. Dieser dunkelfarbig, runzelig nnd narbig dnrch die Felsen, bärtig und baarig dnrch das Ge< strüpp, — jene bellsckimmernd, nninter und glatt, — dieser eckig und schroff in seinem Gliederbau, —- jene rundlich nnd anmuthig in jeder Bewegung, — er anstecht stehend und gleichsam geharnischt, wie ein Wacbter, der um sich schaut, mit gespannten und markigen Muskeln, — sie zu seinen Füßen liegend und mit aufgelösten Gliedern zu ibm aufschauend, in ihrem Auge sein Angesickt abgespiegelt, wie eine Gattin, die ihrem Manne vertraut. Gleich wie die Seele der Frauen, gleich wie das Element der Luft, durci' Sanftmuth und Zartheit zugleich und durch Beweglichkeit war auch das Wasser bestimmt, uns durch seine vollkommene Nuhe zugleick und seine leichte Erregbarkeit zu erfreue», — und allerdings dnrch die letztere auch zuweilen z» erschrecken. Gleich wie nur die feine Seele der Frauen manche zarte Empfindungen und Eindrücke aufzunehmen fähig ist, die am Manne spurlos wie die Winde am Felsen vorübergehen, so ist das Nasser allein für die Einwirkungen der Luft empfänglich, und es ist derjenige Stoff in der Natur, durch dessen Vermittelung vorzugsweise die sonst stets unsichtbaren Windgöttcr sichtbar werden. In den gekräuselten Windungen anf der Oberfläche der Seecn seken wir sie daber wandeln. In den Wcllenbrand-ungen erscheinen sie uns in einen wallenden Mantel von Wasserftaub gehüllt. Sind es wilde Stürme, so peitschen sie Die Spiele und Kämpfe deö Windes über den Seeen. ^9 kräftig das Ufer mit mächtigen Wogen. Sind es sanfte ge-phyre, so kräuseln und schaukeln sie lieblich den ausgespannten Wasscrschleier. Von dcn hohen Ufern der Bergseeen übersieht man oft die meilenweite Wasserfläche auf einmal nnd kann bequem dcm Spiele der oft sehr verschiedenartig gerichteten Winde zuschauen. Man sieht oft zwei ans verschiedenen Winkeln des Seees, als wären zwei feindliche Flotten in denselben gelassen, gegen einander heranrücken. Die ausgcsandten Plänkler und Vorläufer machen Ausfälle und Kreuzfahrten gegen einander. Wo sie zusammenstoßen, spritzt der See in einer Welle hoch empor. Mitunter siebt man es von Weitem lange Zeit hindurch in einem Busen des Sees toben, schäumen und stürmen, während ein anderer Theil, von Felsen geschützt, sich der schönsten Ruhe erfreut. Dieß Schauspiel kann man z. B. zuweilen bei dem vielbusigen Vierwaldstätter See haben. Oft läßt sich, aus dem Innern der Gebirge hervorbrausend, ein Gewittersturm auf da6 eine Ende des Sees hinab uud fährt, als wäre es der wilde Jäger, mit seiuem Heer darüber hin. Du, an der Höhe eines Verges in ruhigem Sonnenscheine weilend, siehst dann, wie eine lange, hohe, schäumende Welle, wie ein Wasserdamm quer über den See sich heranwalzt, hinter ihr her ein schwärzlich gefärbtes Getümmel aufgeregter Wogen. M scheint ein doppeltes Gewitter zu sein. Das eine verschlingt oben den Himmel und das andere unten den hellen See. Zuletzt wird von icnem rollenden Wcllen-wall auch das letzte Stückchen Spiegel zertrümmert, und dcr ganze See tobt dann von einem Ende zum anderen in wilder Aufregung. Dieß sind zwar Schauspiele und Phänomene, wie das 120 . Die BerMeen und der Ocean. Meer sie auch und noch großartiger darbietet, allein das Eigenthümliche bei den Bergseeen ist, daß sie, als eingerahmte kleine Meere, alle jene Ereignisse gleichsam viel faßlicher und genießbarer geben, da hier Alles ans einem engeren und überschaulicheren Raume vor sich geht. Die Ereignisse ans dem Ocean sind gleich großen Völkerschlachten ans unübersehbaren Schlachtfeldern, die auf den Bergseeen aber gleich den Einzelkämpfen und Zwiegefechten von Helden, wo man nahe hinzutreten kanu. Die gewaltige Wassermasse im Oceane ist zu weit und wüste, um eine Individualisiruug zuzulassen. Die kleinen abgeschlossenen Secen aber haben weit mehr individuelles Leben, und man faßt sie leichter als Personen auf. Die Beziehungen, zu unserer Seele, die selber gleich einem beweglichen Gewässer in die Hülle unseres Körpers gefaßt ist, liegen daher näher, und eben daher ist auch der poetische Eindruck bei den Seeen stärker. Ein kleiner See, der still und glatt im tiefen Schooße eines wilden Gebirges liegt, erscheint uns gleich einer in sich selbst beruhigten Seele. Tobt er in zerstiebenden Wellen vergebens gegen seine Felsenufer an, so glauben wir einen Gefangenen zu erblicken, der vergebens an seinen festen Ketten rüttelt. So wie uns das Echo oft inniger rührt als die Töne selbst, deren Reflex es ist, so reizen uns auch Spiegelbilder oft mehr als das Original, welches sie copireu. Daher werden auch von allcn Naturfreunden und Dichtern die Bergseeen vielfach als reizende Spiegel gepriesen, in denen die Landschaft umher ihr Bild verdoppelt uud ihr Antlitz badet. Es giebt viele Diuge, die uns crst gefallen, wenn der Die Alpenseeen die Kehrichtmagazine der Alpen.

baraktev nock ernst und wild. Zuweilen gehen dnnkle Fichtenwälder, in denen sie versteckt sind, bis dicht an ihre Ufer, die noch hie nnd da d^ Tbeater wilder (Hebirgsscencn sind. Lawinen stürzen znweilen von den hohen Geländen herab, durchschneiden die Walder und fahren stürmisch nnd das Waffer aufregend über die Seeen hinaus. Frieren sie auch nie, wie jene Hochseeen zn, so bauen doch diese Lawinen im Wintcr zu Zeiten höbe (gaugopnufle d. Vegetation. wir die Orangen- und Citroncngärtcu der Isola-deltas und Isola-Madres mitten in den Seeen, und nicht die wasserlosen Thäler der Alpen, sondern die mit Wasser tief gefüllten Thäler des Benaco, des-Lago d'Ifto und Como sind diejenigen, welche die schönsten und südlichsten Produete der ganzen Alpeukette hervorbringen. Die Scecu sind überall in den Alpen die Eammel- und Ausgangspunkte der Vegetation. Im Frühling, wenn es in der Erde und den Wurzeln der Pflanzen sich lebendig zu regen anfängt, beginnen dann auch die Gräser und Blumen ihre Auffahrt gegen die kalten Höhen von den Ufern der Seeen ans. Dic erste Man-delblüthc im Süden erschließt sich am Garda-See, nnd derjenige Kirfchbaum, der im Norden zuerst seine Augen dem ncuerwachten Jahre öffnet, steht ebenfalls an einem der Sceen. Gewöhnlich sind alle die Teeen längst von einem schönen Kranze blühender Baume, grünender Krauter und farbiger Vlnmentcppichc eingerahmt, wenn landeinwärts noch die Gefilde öde uud winterlich erscheinen. Wie der Frühling alljährlich seinen Trinmvbzug gegen das Alpenland von den Seeen aus beginnt, so hat auch die Menschheit hier an den Ufern der milden Ecceu vermnth-lich ihren tausendjährigen knltivirungs- und Bevölkerungs-Feldzug zuerst begonnen. Am Leman, am Lago Maggiore, am Benaeo uud an deu anderen großen Eeeen finden wir die ältesten Niederlassungen der Menschen. Die Milde des Klimas der Seeen, die Vortheile der durch sie erleichterten Boden-Cultur und die Belebung des Verkehrs durch Schifffahrt lockten hier frühzeitig die Bevölkerung heran und ließen an ihren Ufern viele Markt-nnd Handelsplätze entstehen. Fast alle vornehmsten Handels- Die Schlösser, Villrn, Dörfer, Städte der Seeufer. 437 Plätze dcr Alpen liegen an den Ufern der großen Seeen so wic auch die Rathhäuscr, Forums, Schlösser nnd Residenzen dcr dic Alpen beherrschenden Republiken und Fürsten (Lu-zcrn, das Hanpt der Vierwaldstätte, Zürich, - Genf, die Residenz der Könige von Burgund, Chambmy, dcr ehemalige alte Sitz der savovisckeu Gebirgssürsten, — Como, die Hauptstadt einst mächtiger Herrscher ill den südlichen Alpen nnd andere). Wie die Handelsleute und Fürsten, so suchten auch die Dichter oder andere aus dem rauschenden Leben sich zurückziehende Naturfreunde vorzugsweise die Ufer dieser Ececn anf. Von den alten Dichtern Roms, die am Ufer des Oarda-Sees wohnten, bis auf Rousseau uud Voltaire berab, und von den Villen, welche Plunus und seine Zeitgenossen an den cisalpiuischen Sceen banten, bis zn den zahllosen Landhäusern lind friedlichen Palästen, mit denen wir jetzt alle Seeen der Alpen umringt sehen, hat es zu alleil Zeiten berühmte Schriftsteller-Residenzen uud reizende Lnsthäuser der Ncichcn au diesen Scccn gegeben, und s» sind denn die mit Villen, Dörfern und Städten reich besetzten Seenfer stets die vornehmsten Sammelplätze der Bevölkerung der Alpen gewesen. Wie wir die Seeen der Alpen im Allgemeinen iu gewisse Classen getheilt haben, so könnten wir auch noch wieder diese Klasse dcr großen Voralpenseen ic nach ihrem Cha» raktcr tn verschiedene Gruppen oder Classen abtheilen. Und am C'ude hat auch jeder emzclue See scinen ganz in» dividucllen Charakter, sein eigenthümliche Gepräge für sich. Am meisten hängt die individuelle Eigenthümlichkeit, die Physiognomie eineö Sees znnächst, ebenso wie die Physiognomie eines Berges von seiner Figur, von den Umrissen und 138 Individueller Charakter der Seeen. Grenzlinien seiner Gestalt ab. Im Ganzen kann man sagen, daß, je bunter und zusammengesetzter diese Umrisse sind, der See auch desto interessanter, desto reicher an Reizen, Bildern und Ueberraschungen sein wird. Man denke z. B. an den sehr complicirten Vierwaldstättcr-See. Fährst du auf der Mitte dieses reizenden Wasserstücks hin, so siehst dn bald hier, bald dort die Gewässer in ruhige Winkel sich zurückziehen. Dein Geist folgt den Windnngen dieses oder jenes versteckten Armes und landet wie ein Schiffchen in einem stillen Hafen. Häusig stellen sich Vorgebirge dar, die dir wie Conlis-sen das Hinterliegende verdecken, und deine Erwartung spannen, deine Hoffnung erregen. Denn alle Vorgebirge sind in dichterischer Beziehung lauter C,apö „der guten Hoff» nung" oder doch „der Erwartung." Du umsegelst sie und schaust endlich auf die stille spiegelnde Fläche, die hinter ihnen liegt. Wie die Figur an und für sich, so Pflegen dann bei solchen componirten Seecn anch die User selbst einen sehr bunten Charakter zu haben. An den langen Seiten der Arme pflegen sich schroffe Fels» wände zu erstrecken. Im Hintergründe aber, in den Buchten nnd Häfen, lassen sich freundliche Thäler und Ebenen zum Uferrande herab, in welchen der auf den Wogen Geschaufelte mit seinen Blicken ankert, und welche die lieblichsten Kontraste von Thal und Fels, von Wildniß nnd Flur, von Festland und Wasser veranlassen. Auf solchen vielarmigen Seeen verschränken sich zuweilen in Folge der Perspective und der optischen Täuschungen die Fclscnufer fo, daß mau an dem Ausgange verzweifelt, wie die Argonauten bei der Durchfahrt zwischen den zusam- Charakter des Garda- und dec« Genfer Sees. 1Z9 menklappenden Felsen am Pontus Enxinus. Man geräth in Furcht und Besorgniß. Aber leise und allmälig öffnet sich die Pforte, die Bahn erweitert sich wieder, ein neues ungeahntes Becken zeigt sich, und man segelt weiter zu neuen Überraschungen und Freuden, Viel ärmer an solchen mannigfaltigen Ueberraschungen, Erregungen und Vildcrn sind diejenigen Secen, welche ihre Wassernlasse in einem einzigen großen Stücke gesammelt haben, und die Alles in einer Linie zusammenfassen, die sich mehr oder weniger einem einförmigen Oval oder einer Kreislinie nähert. Der Neusiedler-See am Fuße der östlichen Alpen, der Khiem-See in Baiern, der Bodensec sind aus dieser Ursache minder reizend. Der Garda-Sec hat eine birncnfönnige Gestalt. Er beginnt im Innern der Alpen bei Niva wie ein breiter Fluß. An Breite nud Umfang wachsend, schlangelt er sich zwischen den Felsen deS südlichen Tyrols hin. Allmälig verliert er den Charakter eines Stromes, und meerartig erweitert er sich an seinem südlichen Ende. Zugleich mit dieser Erweiterung nehmen auch seine Ufer einen sanfteren Charakter an. Die hohen Felsen werden minder schroff, leise gebogene Hügel treten an ihre Stelle, und unten endlich ebnet sich Alles aus. Das fette Flachland der Lombardei und die blaue Wasser-Ebene des Sees gleichen sich mit einander aus, und dein Auge hüpft mit Leichtigkeit ans den Büschen und Bäumen des Landes zu den Wellen und Fischen des Sees hinüber, und umgekehrt von diesen zn jenen. Der Genfer Eee stellt einen gebogenen Halbmond dar. In der Mitte schwillt er meerartig an. Nach beiden Seiten hin aber schwindet er stromartig zusammen und krümmt sich, in die Gebirge seine Enden versteckend. 1 i>y Verschiedenheii d. Seeufcr nack ilner viinmelsrichtung. Die meisten Seem füllen langgestreckte Thäler ans, und gewöhnlich erscheinen sie daher als breite Ströme. Bald laufen sie mit ihrer Hauptrichtung von Norden nack Süden, bald von Osten nach Westen, bald in einer anderen Himmelslinie. Fast jeder hat eine etwas andere Richtung und daher auch eigenthümliche Modifieationcn des Klimas, die durch diese oder jene Winde, denen er besonders ausgesetzt wird, oder durch die verschiedenen Weltgegenden, denen seine Ufer sich eröffnen, bedingt werden. Dadnrch geschieht es, daß fast jeder See seine eigenthümliche Flora, seinen eigenthümlichen Acker- nnd Gartcuban gewinnt. Daher kommt es, daß manche, die dem Süden, Osten und Westen sich überall auf gleiche Weise darbieten, in allen ibren Küsten einen ganz gleichartigen Charakter zeigen, manche aber einen großen Unterschied zwischen ihren entgegengesetzten Ufern offenbaren, eine lachende, zahme, reichcultivirte, mit Häusern und Dörfern besetzte West- nnd Nordküste und dagegen ein anbaulose^, wild-romantisches Ost- nnd Südnscr. Wie die Umrisse der Gestalt und die Himmelsrichtung seiner Haupt-Ausdehnung, so ist auch die Höhe, welche die Seeoberflache über dem Spiegel des Meeres einnimmt, natürlich für seinen (5harafter sehr entscheidend. Hier bei den Seeen wirken oft wenige Fuß Unterschied eine weit bedeutendere Verschiedenheit in Klima, Vegetation und Beschaffenheit als bei den Thälern und Vergebenen. Der Garda-See z. B. liegt kaum 100 Fuß tiefer in die Berge eingesenkt als die übrigen Seeen der Lombardei, und doch hat er in Folge dessen eine ganz andere Flora, ein ganz anderes Wesen als alle die übrigen. Da fast jeder der großen Alpensteen seine eigenen Bedingungen der Erhabenheit über dem Meere, der äußeren Kein Nlponste dem auderm glcich. 144 Abgrenzung und Gestaltung, des Gebirgbanes der Küsten, der Richtung seiner Hanptausdelmnng besitzt, so ist demnach feiner dem anderen gleieb, Jeder bat, wie wir sagten, seinen ganz eigenthümlich individualisirton Charaktcr, seine besondere Scenerie, seine bestimmt gezeichnete Phusiognmnie. — Wir wolleil uns jedoch begnügen, hier nnr auf diese an Nc> traebtungen nnd Vehren fruchtbare Erscheinung anfmerksam gemaä't zu haben, ohne jedoch das Portrait jedc^ einzelnen Alpensecö detaillirt auszuführen. s. Die Luftströmungen in den Alpen. Obwohl in den Winden um unsichtbare Lnft strömt, so werden doch auch sic iu mehrfacher Beziehung ein Gegenstand für die Natnrmaler, unter denen sich bekanntlich sogar einige befinden, die wie der berühmte Peter de Molyn, genannt I6mp68t», ihre Beinamen von diesen unsichtbaren Lüften, welche sie so häufig mit Glück darstellten, bekamen. Die Winde' heben Staub, Sand, Schneeflocken, trockenes Laub, Nofcnblätter oder andere leicht bewegliche Substanzen empor, und indem sie ihnen dieselben Bewegungen mittheilen, welche die Luftwellen haben, werden diese Bewegungen, diese Luftwlrbel und Strömungen unserem Auge wahrnehmbar. Die Lust hüllt sich dabei in ein sichtbares Gewand. Gleichsam wie zu Statuen richtet sich der Har-inattan der Sahara in den wandelnden Sandwirbcln, welche über den Menschen zusammenstürzen, empor, und den Malern wird es so möglich, in ihren Bildern die schreckhafte Physiognomie dieses Wüstenwindes darzustellen. In dem Staube der Wüste, in dem Schaume der Wetten, welche die Orkane peitschen, in den Bä>mim der Sichtbarwerden der Luft in den Winden. 1H.Z Wälder, die sich unter dein Sturme beugen, in den schiefen Strichen und Säulen, welche entfernte Regengüsse, von den Winden aus ihrer senkrechten Falllinic getrieben, am Horizonte zeigen, deuten die Künstler vielfach die Bewegung der Atmo» sphäre an und reprodncircn dadurch in uns die Stimmungen, die in der Natur der Wind selber in uns erzeugt. Und wie die Künstler in ihren Gemälden, so tbnn es die Dichter in ihren Versen. Dans le sable echauffe, qui brille sur la greve, On voit les toiirliillons d'atornes, qn'il souleve, Montor, desoendre, errer, s'enlacer tour k tour, Commc a l'attrait cache d'un invisible amour, Dresser en touruoyiint lour brillante colonue, El daikser dans la sphere on le soleil rayonne. Die Nebe! und Wolken sind der vornehmste Stoff, mit dessen Gestaltung und Umgestaltung die Winde fast immer und überall bcschäftigt sind, ja man kann sie das alltagliche und eigentliche Gewand der Winde nennen. Aus der geballten oder zerrissenen, gefleckten oder gestreiften Gestalt der Wolken erkennen wir die Richtung, die Heftigkeit und den Charakter des in ihnen waltenden Windes el'enso, wie unter dem Faltenwürfe der Gewandung die Rundungen oder Winkel des eingchiMcn Körpers. Zuweilen fallen die Winde auch dadnrch in das Gebiet des Sichtbaren nnd des dem Natur-malcr Darstellbaren, dcch sie eine eigene Färbung der Landschaft veranlassen. Dieß tlnin sie nicht nur mittelbar durch luftfarbende Stoffe, die sie mit sich führen, wie z, B-. gcl> den oder röthlichen Sandstaub, trüben Nebel, dunkle Gewitterwolken, sondern auch gauz unmittelbar durcb sich selbst, wie z. B. die Föhnwinde, unter deren Anhauch sich die Landschaft, wie ich unten zeigen werde, zuweilen ganz blau l ii Die Verbindung der Wcltthcile durch die Winde. färbt, oder wie der Samum, bei dem alle Gegenstände und die Luft selbst einen feurigen, röthlichen Schimmer annehmen. Aus diesen Andeutungen geht also hervor, daß eine Natur anficht der Winde in unserem Gemälde der Alpen ganz an ihrem Platze steht, selbst weun wir das Wort Naturansicht buchstäblich auffassen nud nur auf das dem physischen Auge Wahrnehmbare deuten wollen. In das Element der Luft ist unser ganzer Globus eingehüllt. Im Gegensatze zn dem vielfach gesammelten und getrennten Wasser stellt die Luft einen zusammenhängenden und durch nichts unterbrochenen Ocean dar. Da sie in Folge ihrer außerordentlichen Flüssigkeit und Beweglichkeit überall hm nach rascher Ausgleichung strebt, so werden alle Ereignisse in diesem Oceane, alle Niveau-Veränderungen, alle Concentrir-ungcn oder Ausdehnungen, alle Erkältungen oder Erwärmungen, alle Spannnngcn oder Abspannungen, die an irgend einem Puutte eintreten, selbst an sehr entfernten Orten mit großer Schnelligkeit fühlbar. Die Luftphänomenc.treffen und verbinden daher die entlegensten Gegenden miteinander und machen sie oft fast in demselben Zeitabschnitte derselben Wohlthaten oder Leiden theilhaftig. Wahrend die langsamen Wasserströmungen ill dem großen Weltmeere viele Monate brauchen, um ihren Kreislauf zn vollenden, haben wir im Lufwceanc Orkane, die, über Land und Meer dahinbrauscud, in wenigen Stunden oder Tagen von einem Welttheilc zum anderen gelangen. Die Flüsse lassen unsere Phantasie nur in den Grenzen Du- gvp fertigsten ^ewc^unqorl'änomenc dee «nddallo. >45 eines engen Gebiets sich bewegen, Än ibren Quellen stehend gedenken wir nur der Länderrcihe, die sie bis zu ihrer Mündung verbinden. Und die Newobner der Münd' ung, die von Uebcrftuthungen leiden, haben die Ursachen dieser Erscheinung nicht weiter zu suchen als in den Gebirgen, von denen diese Flüsse herabquellen. Die Bewegungen im Lnftmcere dagegen bringen nns Kunde aus den entferntesten Landern, die sie miteinander verketten, und die Europäer oder Amerikaner, die voll ihnen berührt werden, haben die Ursacken ihrer Wirkungen vielleicht in Asien oder Afrika zu suchen. Schon die ganz alltäglichen und gewöhnlichen Phäno< menc nn Luftmeere sind von riesenhafter Ausdehnung, Da treten die Gewitter ans, die in wenigen Stunden Königreiche durchstiegen, da giebt es plötzliche (>'rhöhungcn oder Erniedrigungen der Temperatur oder Ausströmungen der Olcktri» citat, die in einer Nacht weite Landschaften mit deni' selben belebenden Tl'alic oder mit demselben zerstörenden Reift überdecken, oder auf Völfer der verschiedensten Sprachen und Sitten dieselben Regenschauer berabbringen. Da sind die merkwürdigen Passatwindc, das großartigste Bewegnngspkä-nomen der Erde, die unseren ganzen Globus nuikreisen und nach Ehrenberg's Untersuchungen den Staub der Wüsten und Gebirge Amerika's nnd Afrika s über Europa hinaus und bis in das Innere von Asien führen. Nebe» solchen weitgreifenden Phänomenen m der Atmosphäre giebt es aber auch eine Menge partieller Luftbe-wcgungen, die bloß von loealen Ursacken herrühren und sich auf ein sehr kleines Gebiet erstrecken. Wie es beim Wasser ''l l'>>! , ','Uv<'M'!>is,',>. II!. ,« ^ l»d ^a^wuldc. Idalwindc. ji9 unterhalb dieser Thore vermischen sich allmälig die verschiedenen Temperaturen der Luft, und die Strömung hört daher nach und nach auf, ebenso wie auch öei einem geheizten Zimmer die Luftströme vorzugsweise nnr in der Nahe der geöffneten Thüre wahrnehmbar sind. Diese regelmäßigen Nacht- und Tagwinde finden bei allen Thalern, sowohl bei den großen als bei den kleinen, statt, und selbst bei den Höhlen zeigt sich ein kühles Aushauchen während des Tages und ein ivarmes Einziehen der Luft während der Nacht. Allein uur beim Auogaugc großer Thäler, namentlich wenn bei ihrem Ausgangc Sceeu liegen, wo der Wind von den Schiffern benutzt werden faun. bat man diesen Thal< winden besondere Namen gegeben, wie der Mensch denn überall in der Natur die Phänomene nur dann benamt, wenn sie bedeutend genug worden, um ilim nutzen oder schaden zu können. So heißt z. B. auf dem Langen und dem Luganer-See der Nachtwind von den Bergen ,,'I'iv-mo', auf dem Garda-Sce aber „8avoi-y", Dagegen wird der kühle Tagwind auf den erstgenannten Seeen „Lreva", auf dem Garda-Sce „Ora". auf dem Geufcr-See ,.!e It^bül" genannt. In der nordöstlichen Schweiz beißt der Tagwind: „Rhciuwind", der Nachtwind dagegen: „Schönwind." Es würde sich kaum der Mühe lohucn, alle Namen, welche diese Winde auf den verschiedenen Alpenseecn haben, aufzuzählen. Doch sind sie auf der südlichen heißeren Seite der Alpen aus sehr begreiflichen Gründen bestimmter ausgeprägt al^ auf der nördlichen, wo die Tbaler nicht so stark erbitzt werden, Am meisten gekannt nnd willkommen sind dort die 150 Die Ora und dir Äreva Tageswinde, die Ora lind die Vreva, die gerade zur Zeit der größten Tageshitze die Temperatur kühlen und die er« hißten Stirnen der Felswände fächeln. Nei sehr ruhigem Wetter treffen sic so regelmäßig ein, daß man die Stunde ibrer Ankunft vorherbestimmen kann, die natürlich je nach der Länge der Tage variirt. In den längsten Sommertagen bläbt am (Harda'Sec regelmäßig um >2 Uhr Mittags die anmnthig fächelnde Ora die Vorhänge der Fenster auf uud strömt willkommen kühlend in die Zim-merränme, in denen um diese heiße Zeit die meisten Bewohner der Villen und Dörfer der Seenfer ruhen; der See, der am Morgen spiegelblank nud ruhig da lag, schänmt dann, und oft wird der Wind fo muthwillig und stark, daß das Nasser eine Weile tobt und braust. In allen Thalern der Welt, welche gegen Ebenen — mögen diese Ebenen nun Mecresfläche oder trockenes Land sein münden, streichen solche kühlende Mittagswinde aufwärts. Am regelmäßigsten und stärksten zeigen sie sich da, wo die Thäler so scharf begrenzt und tief eingcschnitten sind, wie in den Alpen die Seethäler, oder wie in Schottland oder Norwegen die langen schmalen FiordThäler. In diesen zieht die Hafgnl lSeekühle) ^ so nennt man dort den täglichen Thalwind ...... oft mit der Heftigkeit eines Sturmes aus nnd ein. Dieselbe von der Sonne bewirkte Luftströmung, welche in den Eingängen der Thäler sich als frische Bise oder als munterer neckischer Wind, zuweilen gar als Sturm darstellt, macht sich auch au den Abhängen des Inneren der Thäler als eine ganz sanft abfallende Luftbewegung fühlbar. An jedem warmen Sommertage kann man bemerken, wie ein kühler üuftfall längs der Felswände leise ins Thal hinabrie- Luftiiescl au den Wändeli dcr Tbälcv, Olnsc<'cr!uft. >;>! sclt, während in der Mitte des Thales die heiße Üuft auswärts strömt. Ioner bewegt sich abwärts, um diesen zu ersetzen. I« der Nacht und am Morgen steigen umgekehrt viele wanne Luftriesel längs der Thalwändc nach oben. Diese werden dnrch die felsigen Wände selbst erzengt, welche noch warm sind nnd sich nicht so schnell abkühlen, wie der feuchte Thalbvden. Oft sind diesc längs der Felsenwände anfstei-gendcu und absinkenden Lüfte so leise bewegt, dasi so zarte nnd empfindliche Sinne, wie die Gemsen nnd Gemsjäger sie haben, dazn gehören, nm sie wahrzunehmen. Die letzteren nehmen bei ihren Jagden immer darauf Rücksicht und suchen während der Hitze des Tages, wo die kalte Lust an den Wänden herabfällt, sich ihren Thieren von unten her zu nähern, sonst aber sie von oben herab zu erschleichen, damit ihnen feine Witterung zugeführt werde. Ein solches Absinken kalter Luft findet namentlich bei den nnt Ois gefüllten Thälern oder den Gletschern statt. Die Wärme, welche die Touuenftrahlen in der Luft über den Gletschern erzeugen, verbindet sich sofort mit dem Eise nnd Schnee, schmelzt beides und fließt an das Waffer gebunden hinab. Auf diese Weise und durch die bedeutende Verdunstung der Eismasscn kühlen sich jene Luftschichten beständig ab, werden schwerer und sinken daher längs der Gletscher ins Thal niederwärts, Man spürt diesen küblen Luftzug an den Gletschern hinunter an iedem rnhigen Sommertage, Die Aelpler nennen ihn die „Glctscherluft." Oft ist diese Gletscherlust weiter nichts als ein stilles und anmuthigcs Abfließen der kälteren Lnft Unter Umständen aber erreicht sie eine unbegreifliche Heftigkeit und Gewalt, nnd die Bewohner nennen sie dann die ..Gletscher« I öH ,.<Äletscherbise," „ Gletscherqedläse." ^uftstöße d. Lawine». bise", die als scharfer schneidender Wind in die Thaler b, inabfährt. Verschieden von dieser Olctscherlnft nnd Oletscherbise ist noch das sogenannte „Gletschergebläse". Mit diesem Ausdrucke bezeichnet man die kurzen, kalten Windstöße, welche, Schneestaub nnd Eistheilchen umherschlcudernd, znwei« len auö den Höhlen und Spalten der Gletscher sich Plötzlich hervordrängen. Sie werden dnrch verschiedene Vorgänge, z. B. durch im Innern der Gletscher zusammenstürzende Gisge-wolbe, veranlaßt. Viele Physiker haben den Gletschern und Schneefelderu der hohen Alpen einen sehr bedeutenden Einfluß auf die Abkühlung der Luft und der warmen Luftströmungen, welche sich über sie hinwegergießcn, zugeschrieben nnd sehr weitgreifende kalte Winde aus ihnen erklärt. Da indeß neben den Gletschern auch oiele kahle Felsmassen hoch emporgehoben sind, die als Leiter der Erdwärmc wieder erwärmend ans die oberen Lüfte einwirken, nnd da die Gletscher selbst im Verhältniß zu dem großeil Ganzen der mit den Alpen in Berührung stehenden Länder doch nur klein sind, so ist zu vermuthen, daß die von ihnen erzeugten kalten Winde, die Gletscher lüfte oder die Oletscherbisen, nur sehr engbeschränktc Localwinoe sind. Die kalten Winde, welche deu Bewohnern der Ebenen von den Alpen her zukommen nnd welche sie daher als von diesen erzengt betrachten, haben meistens ihre Kälte ans viel entfernteren Quellen empfangen. Andere den Alpen ganz eigenthümliche Luftströmungen oder Luftstöße werden durck Bergstürze und Lawinen erzeugt. Sie sind sehr kurz dauernd, anf einen sehr engen Raum beschränkt, aber dabei änßerst heftig. Sie entstehen dadurch, daß die fallenden Schneemaffen die Luft vor sich hcrschieben Nie aufhörende Winde i» den Pässen. Windstille Kessel. 153 und mit fortreißen, und vermuthlich sind diese Lawinenstürme oder Luftstvße die zerftörendften und stärksten, welche in den Alpen vorkommen. Wir haben sic bei der Betrachtung der Lawinen selbst umständlicher geschildert. Ill den kleinen Räumen unserer Häuser lind Zimmer bemerken wir fast immer bei dem Oeffnen einer Thür oder eines Fensters ein Aus- oder Einströmen der Luft, weil selten der eine Raum ganz in eben dem Grade erwärmt ist, wie der andere. Die Thäler in den Gebirgen kann man als eine Menge durch Oessuungen zusammcnbängendcr großer Zimmerraume auschen. Selten ist ein Thal ganz und gar in demselben Grade erwärmt oder abgekühlt wie sein Nach-bartbal, und es streichen fast beständig durch die Felsenthorc, Bcrgwandeinschnitte und Gebirgspässe, welcke diese Thäler miteinander verbinden, Lüfte bin und bcr. Da die schweren Lüfte, wclcbe, sich ausgleichend, ans einem Thale in das andere überströmen wollen, natürlich immer eben so wie das Wasser die niedrigsten Durchgänge wählen, so ist eo in den Pässen der Gebirge fast nie ruhig, und mau empfindet dort Wind, wenn es auf den Gipfeln, an deren Fuß sie herumfließeu, ganz windstill ist. Es erscheinen oft Tage, wo die Lüfte auf allen Höhen wie in der Tiefe aller Thäler schlafen, wo sie aber dennoch in allen Einschnitteil der Bergwände und in allen Paffen herüber- und hinüberziehen. Während daher die Pässe als die windigsten Flecke der Alpen bezeichnet werden könnten, sind dagegen manche tiefe, von allen Seiten geschützte Felsentbaler und Kessel als die 1H/l Die Bergsvitzen alo Wlndlenkev. ruhigsten zu betrachten. In del (Kbene, wo nirgends Schutz und überall Eingang für den Wind ist, giebt es in Bezug auf Luftbewegung weder so ungünstige, noch so bevorzugte Decke. Wenn die Berge durch ihre kalten Gletscher, durch ihre elektrischen Spitzen, dnrch ihre erhitzten Thaler vielfache locale Luftbcweguugen erzeugen, so ist dagegen ihre lHinwirkung auf die Veränderung der Richtung uud auf die Erhöhung oder Verminderung der Stärke der Winde, mögen sie nun in der Nabe erzeugt sein oder von Weitem herkommen, noch weit mehr in die Allgen fallend. Was zunächst die Nicktuug betrifft, so muß man die Gebirge als einen Irrgarten von Kanälen und Gräben betrachten, die untereinander zusammenhangen. Die ^uftströmc, welche sich in diese (5anäle hineinergießen, fließen dann in ihren Ufern ganz ebenso wie die Gewässer, nnr mit dem Unterschiede, daß sie, anders als diese, darin ebenso gnt bergauf a>s bergab steigen können. Wie es daher m jedem Thalc nur cine Hauvt-nchtung des Wasserlaufs giebt, fo giebt es in jedem Thalc auch nur zwei Hauptrichtungen der Luftströmung, eine von von obeu herunter und eine von unten hinauf. Mögen die Winde aus Westen, Osten, Süden oder Norden ins Thal fallen, ihre Richtung wird von den schroffen Felswänden gebrochen, verändert und mit der Richtung die-scr Wände in Parallelismus gesetzt. Auf diese Weise geschieht es, daß ein Südwind oder Höhn in einem Thale eine östliche oder eine westkche Richtung annimmt. Ja es giebt Tbäler. in welchen, da >',,' gegen Süden völlig verbarncadirt siud, der warme Südwind, ans allerlei Obere u. mm« Winde, Winde mit veränderter Richtung. ' Höhe und setzt seinen Weg fort, ohne seine Richtung zu verändern. Daher kommt ei«, daß oft in einem Ttüele eines lind desselben Thaleo ein ganz anderer Wind 168 Wmdvereüngungen. herrscht als in einem anderen Stücke. Oft wüthet im oberen Thale ein wilder Sturm, von dem das untere nichts erfährt. Wenn ein Seitenwind durch einen tiefen Paß gegen eine hohe, schroffe, ihm entgegenstehende Felswand Ml, so kann er, an dieser Felswand gebrochen, sowohl znr rechten als zur linken Seite abfließen. Natürlich wird dabei vorausgesetzt, daß die Richtung der Felswand und die des Passes sich senkrecht durchschneiden. So kann es kommen, daß in einem und demselben Thale Winde in ganz entgegengesetzten Richtungen auseinander fließen. Ich kenne ein Alpcnthal, in welches der Südwind mei' stens durch einen aus Osten gerichteten Paß einströmt; von einer entgegenstehenden großen Wand gebrochen und gespalten, gelaugt dieser Südwind ins untere Thal meistens aus Süden, ins obere aber aus Norden. Als umgekehrten und diesen Windspaltnngen entgegengesetzten Fall kann man dann die Vereinigung zweier verschiedenen Winde in dem Zillcr'Thalc betrachten. Da, wr zwei aus verschiedenen Weltgegenden kommende Thäler sich zu einem vereinigen, brechen oft zwei ganz verschiedene Winde ein und fließen dann, wie vereinigte Ströme, ein kalter Luftzug und ein warmer, oder ein feuchter und ein trockener, cdcr ein mit Wolken beladener und ein nebelloscr, neben einander hin. Die (Hebirgscanale, welche wir Thaler nennen, sind sr verschiedenartig gebant und zusammengestellt, daß in manche vorzugsweise bloß der Südwind gelangt, während es wieder andere Pässe und Felsenthorc giebt, durch welche fast das ganze Jahr hindurch »ur ein kalter Nordwind auf den ihnen entgegengesetzten Bergab hang fallt. Man kann sich demnach denken, welche Verschiedenheit in Klima, Vegetation und Nodenbesckaffenbcit durch dieses (liussusi n'ustanter Vnftströmunqen auf Klima ». Vegetation, 159 Zu- oder Ableiten der Winde hervorgebracht wird. Es giebt daher benachbarte Thäler, die bloß ihrer Lage und der dadurch bedingten Richtung ihrer Hauptlnftströunmgcn eiu so sehr verschiedenes Klima verdauten, als lagen sie weit auseinander. Ja es giebt einzelne Wände, Berge uud Bergtheile, die eine ganz verkommene und gedrückte Vegetation zeigen, weil sie von einem ausdörrenden Süd- oder einem kalten Nordwinde beständig angeblasen werden, der aus einem entgegen-gesetzten Thore anhaltend herbeiströmt. So sticht die Buche, welche den warmen Föhn nicht verträgt, gewisse Abhänge des Oottbarde,, die diesem Winde häufig ausgesetzt sind. Auch gedeiht an solcheu Stellen kein Haidekorn. Leider hat man über dcu Mnfluß localer eonstanter Luftströmungen auf das Klima nnd die Vegetation gewisser Lo-calitäten noch sehr wenige Beobachtungen geinacht, vermuth-lick weil die Winde als etwas Unsichtbares und wenig in die Augen fallendes von den Bewohnern der Alpen eben so wie von den reisenden Naturforschern häufiger übersehen wurden als das Wasser oder andere sichtbare Naturgegenstände. Wie durch die Thäler und (Hebirgseinschnitte die ur» sprungliche Richtung der Winde geäudert wird, so wird auch ihre ursprüngliche Oeschwin d igfeit durch sie vermehrt oder vermindert. Dieß geschieht auf dieselbe Weise wie beim Wasser, theils durcl, Verengung des Canals, in dem sie fließen, tbeilo dnrcl, den Äbdackungswinkel des Bodens, auf dem sie hinströmen. Ueberai!. wo die Winde, welche in der Mene wehen, in enge Thäler eintreten, entsteht ein Gedränge der strömenden Lufttbeilchen. liil) Die Luftströmungen mil dm Wasserbcwegungen verglichen, Man gewahrt daher bei jedem Vorgebirge in einem See, bei jedem Vorsprnugc einer Bergwand, in jedem Engpässe eines Tbales eine bedeutende Verstärkung des Lnftstroms, nnd die Engpässe, Passagen und Vorgebirge sind die fast ununterbrochenen Sitze dcr Winde. Auch dcr Abdachungswintel des Bodens, ans dem die Winde hinfließen, ist ohne Zweifel von eben so großem Einfluß auf die Stärke der Luftflüssc wie auf die der Nasscrströmc. Dieß deutet schon Sanssure an, wenn er ausspricht, daß die Mistrals in dem Nboncbecken zum Theil deßhalb so starl sein möchten, weil sie auf dem allma'lig geneigten Boden dieses Beckens zum Meere abwärts stießen. Auf die fließende Luft übt die Attraction der festen Massen eine eben solche Gewalt wie ans das fließende Wasser. Sie hangt sich wie dieses an dieselbe an. Je glatter daher der Boden ist, je weniger raul'e Oberfläche er bietet, desto schneller wird die Luft auf ihm tnngleite,,. Je mehr Felsen, Hügel und Unebenheiten es auf dem Boden giebt, desto mehr einzelne Abtheilungen des darüber hingleitenden Luft-ftromes werden gehemmt und zurückgewiesen werden, desto mehr kleine Oegenströme werden entsteden, nnd desto mehr wird die ganze Masse in ihrem fortschritt sich behindert fühlen. Ebenso werden die Lüfte um so schneller dahin gleiten, je abschüssiger dieser Boden ist, Daher die große Heftigkeit der Winde, welche von steilen Bergen, von schroffen Felswänden sich berablaffen. Streng genommen ist es daber der Luft nicht mehr und nicht weniger möglich, bergauf zu fließe«, als dem Wasser. Luftftröme von der geringen Tiefe und Breite eines Baches würden eben so schwer bergauf fließen können, wie ein solcher. Wasscrströnnmgen dagegen uou der großen Tiefe und Von den Alpen abhängende Windrichtung. <64 überhaupt von den Dimensionen der Winde im Luftoceane würden ebenso wie diese über Anhöhen sich hinweg zn bewe« gen vermögen. Die Luft fließt wie das Waffer, meistens nur der Schwerkraft folgend, doch werden ihr auch von anderen treibenden Kräften, von der Elektricität, von stoßenden Luftthcilen, Impulse mitgetheilt, durch welche sie die Schwerkraft überwinden kann. Dasselbe aber kann auch das Wasser thun, wenn es von anderen stoßenden Kräften solche Impulse empfängt. Daher erklärt es stch denn auch, daß in der Regel in allen Thälern der Alpen die aus ihnen hervorbrausenden Winde viel heftiger sind, als die, welche sich in ihnen von unten her bergaufwärts bewegen, daß z. A. die Nordwinde auf der Südseite der Alpen weit heftiger sind als auf der Nordseite, und daß das Umgekehrte für die Südwinde gilt, die auf der Nordseite heftiger sind. Man kann es im Ganzen als Regel annehmen, daß Winde, welche diesseits einer Bergwand oder eines Gebirges beginnen, jenseits viel empfindlicher waren. Außer dem Zeugniß des Herrn von Tscharner, der dieß für die Rhätischen Alpenthäler nachweist, könnte ich noch viele andere Beispiele für diesen Satz beibringen. Da die Winde in der Regel häufiger und stärker bergab strömen und also auch die Gesämc der Bäume häufiger bergab als bergauf führen, so hat man in diesem Umstände mit Recht eine Ursache des Herabdrückens der Vegetation und namentlich des Baumwuchseö in den Alpen gefunden. Wenn ich oben sagte, daß die Bergwände eines Thales die Luftströmungen ebenso rcgnliren wie den Wafferlauf und sie zwingen, der Richtung des Thales zu folgen, so gilt dieß nicht nur etwa von den engen, kleinen Bergthälern und Kohl, Alpemeism. lll. ^ <62 Herrschende Winde in der Lombardei. Felseneinschnitten, sondern auch von den weiteren, großen und breiten Alpenthälern, so z. B. von dem großen, 20 Meilen langen Hauptthale des Canton Wallis. Durch dieses ostwestlich gerichtete Thal blasen, wie schon der alte Scheuch-zer bezeugt, fast keine anderen Winde als Ost- und Westwinde. Ebenso bezcngt Herr von Tscharner für das von Enden nach Norden gerichtete Rhciuthal in den Rhatischen Alpen, daß dort hauptsächlich nur zwci Windrichtungen vorherrschen, der Unterwind oder Nord und der Oberwind oder Süd. In dem großen Thale des Wallenstadter und Züricher Sees, das aus Südost nach Nordwest gerichtet ist, giebt es nach dem Zeugniß des Dr. Heer nur Nordwest- und Südostwinde. Aus vielen anderen Zengnissen könnte ich für die großen Thaler des Inn, der Salzach, der Dran und Sau ganz dieselbe Doppclrichtung der Luftströmung erweisen. Aber auch selbst für die großen und weiten Thalebenen, welche zn den Seiten der Alpen liegen, gilt wiederum dasselbe Windgesctz. Auch in diesen großen Thalcbencn, in der lombardischen im Süden, in der schweizerischen und baierischcn im Norden, in der oftftanzösischen von Lyon abwärts, sind die Alpen als Dämme anzusehen, welche die Hallptrichtnng der Winde in diesen Gegenden regulircn. Aus den Beobachtungen, welche in Mailand und anderen Orten des Po-Thales angestellt worden sind, und die der treffliche Dr. Cattaneo in seinen ^olixiu nulul^ü o 6i-viü 5u !.-, I.ombui-Mli giebt, geht hervor, dast die Hauptrichtung der Winde im Po-Thale eine östliche und eine westliche ist, und daß diese Richtung mit der Längcnrichtnng desselben völlig übereinstimmt. Alle Luftwaffen, welche sich in dem adriatischen Meere von Süden nach Norden hinausschiebe», im Nhonethal, im Becken der schweizerischen Ebene. 163 werden von den Alpen, die iu ihrer ganzen Erhebung hier als eine Tlialwand wirken, aufgefangen, allmälig in die Richtung nach Westen herumgeworfen und so aus einem snd-nordlichen in einen ostwestlichcn Luftstrom, der längs des Fuße der Alpen hinfließt, verwandelt. (Kbenso wie in der Lombardei werden die Winde auch in dem Rhonebecken von Lyon durch die Alpen bestimmt. Die Hauptmasse der Alpen lauft hier von Süden nach Norden. Die aus Westen, Südwesten oder Nordwesten kommenden Luftströmc werden daher von ihnen znrückgebogen uud verwandeln ihre Nichtnng in eine südliche oder nördliche. Schon Sauffure weist nach, daß demzufolge fast das ganze Jahr hindnrch in allen Gegenden von Marseille bis Lyon entweder Südwind oder Nordwiud weht, welcher letztere bekanntlich in diesen Gegenden Mistral genannt wird. Die Alpen bilden mit dein ihnen parallel lanfenden Inra im Norden ein anderes großes Thal, das man die schweizerische Hochebene nennt. Dieses Thal ist ans Süd-westen nach Nordosten gerichtet. Demzufolge hat es, wie ich aus zahlreichen Beobachtungen nachweisen könnte, als vornehmste Winde den Nordost nnd Südwest. Da es gegen Südwestcn dnrch die hohen Gebirge bei Genf aber mehr geschloffen ist als gegen Nordosten, wo es keine solche Gebirge giebt, so waltet der Nordostwind entschieden vor. Er ist in dem genannten Thale der allergcwöhnlichste nnd am meisten gefürchtete Wind. Namentlich gewinnt er am Fuße des in scharfgezeichneter, langgestreckter Linie absetzenden Jura eine besondere Stärke und treibt hier die Wellen der dort liegenden Seeen, die er ihrer ganzen Länge nach bestreicht, zuweilen zu außerordentlicher Höhe auf. <ßz, Aufgehen der localen Luftströmungen in den allgemeinen. Die baierischc Hochebene ist eigentlich nur eine Fortsetzung der obengenannten schweizerischen. Da sie aber viel breiter ist und von dcm deutschen Jura in größerer Ferne begrenzt wird, also kein bestimmt ausgeprägtes Thal darstellt, so werden auch die Luftströmungen in ihr in geringerem Grade durch die Bergwände regulirt. Dasselbe gilt von der ungarischen Ebene im Osten. Hier verlaufen sich die Alpen überall allmälig und können daher nicht als Maner betrachtet werden und keinen so entscheidenden und leicht nachweisbaren Einftuß auf die Luftzüge üben. Von den oben erwähnten regelmäßigen in den Alpen» thälern streichenden Nacht- und Tageswinden pflegen die Schriftsteller zu bemerken, daß sie sich nur bei recht schönem und ruhigem Wetter zeigen, und daß sie eine Folge sowohl als auch ein Anzeichen von beständiger schöner Witterung seien. Dieß soll eigentlich weiter nichts bedeuten, als daß jene durch locale Ursachen erzeugten Bewegungen sich nicht zeigen können, wenn nicht im Uebrigcn weit und breit Ruhe in der Atmosphäre herrscht. Und man kann im Allgemeinen die Ncgel gelten lassen, daß jede locale Luftströmung von eiuer weiter greifenden Windbewegung in ihrer Entwickelung gehemmt wird nnd in ihr aufgeht. Wenu es recht ruhiges Wetter ist, so blasen die Höhleuwinde am stärksten. Dann streichen die Thalwinde, von der Sonne getrieben, fühlbar ans uud ein, dann schiffen kühlende Sylphiden leise von den Gletschern herab. So wie aber große Bewegungen in der Luftmasse sich erheben, verschwinden sogleich jene zarten und kleinen Windgötter und werden in der allgemeinen Strömung mit fortgerissen. „Ioran" lind „Bise/' „Brcva" n. ,.Tra>nontana." 165 Die Winde der kleinen Thäler worden von denen der großen Thäler zurückgebogeu, die Winde der Thäler von denen, die in der Ebene dominiren, beherrscht und die Winde, welche in den Ebenen der Alpennachbarschaft wehen, endlich dnrch weit herkommende große europäische Luftfluthen aus ihrem gewohnten Ans- nnd Abstreichen gebracht und zu anderen Richtungen veranlaßt. Die Alveubewobuer unterscheiden gewöhnlich sehr gut die kleinen localen Winde von den großen allgemeinen Luftströmungen und haben für sie meistens verschiedene Namen, auch wenn sie aus derselben Weltgcgeud herwehen sollten. So z. B. unterscheiden sie in der westlichen Schweiz im I',>y3 äo V55o, die Alpen übcrflnthct, so schiebt auch der heiße Südwind in der Ncgel nnr kleine warme Lnftströmc durch die Alpen, nnd solche große und allgemeine Fluthcn warmer Eüdlnst, wie die des Jahres 1842, in dem alle Länder bis an das baltische Meer hin schmachteten, sind nur selten. Wie die Alpen einen Orenzwall für die kalten Stom-unqen des Vorcas, der sich an ihnen bricht, nnd für die heißen Ergüsse des Anster, der an ihnen scheitert, bilden, so stellen sic endlich auch einen eben solchen Grenzwall dar für dic Feuchtigkeit und Nebel, welche der Westwind ans dem Ocean herbeiwälzt. Dieß gilt besonders von derjenigen Alpenkette, die vom Mont Vlane aus ihre Hauptrichtnng von Norden nach Süden nimmt nnd also der Richtung des oceanischen Westwindes gerade entgegengesetzt ist. Diese Nestwinde stoßen an der Nordwcstseite der Alpen an nnd entladen sich dort ihrer Rcgcnfüllc in dem Maße, daß sie dann ihren Weg über die Gebirge hinaus in die lombardischc Ebene hinab nnr noch als gereinigte, laue Schönwetterwindc fortsetzen. Es ist ein bekanntes Factum, daß in der Lombardei <68 Die Alpen der VereimgungspinM großer Luftströmungen. die Westwinde nie Regen bringen, und es läßt sich diese Erscheinung nur aus der beregten hemmenden Wirksamkeit der Alpen erklären, welche gleichsam die durch sie hinstreichende Atmosphäre abschäumen lind abklären. Die großen Regcnmaffe», welche in der Lombardei und am Südostfuße dcr Alpen niederschlagen, steigen alle aus dem adriatischeu Meere empor und werden durch die Ostwinde in's Land hineingeführt. Auch die große Trockenheit der ungarischen Ebenen, in denen es beinahe 50 Regentage im Jahre weniger giebt als in Deutschland und Frankreich, läßt sich aus dem Umstände erklären, daß die Alpen die regcnschwangeren Westwinde auffangen und wie ein gcgittertcs Sieb, das man in einem Wasserstrom errichtete, säubern. Ans diesem Allcu nuu ergiebt sich, daß die Alpen gleichsam als die Klippe aller Hauptwinde Europas anzusehen sind. Wie sie der Ausgangspunkt aller großen Wasserströme unseres Welttheils sind, so sind sie auch der Ver-einigungs- und Sammelpunkt aller großen Luftströmungen, und auf ihren viel umstürmtcn Gipfeln im Anhauche aller dieser Lüfte schwingt sich der Geist, die Ursache dieser Bewegungen erspähend, dorthin bis in das Innere von Afrika, wo die Sonne heiße Dünste kocht, und dorthin, wo Boreas seine kalten Fittige schwingt, und wiederum dorthin, wo in weiter Ferne der Ocean die Wolkenschiffe mit Wasser befrachtet. Zuweilen kannst du in einem und demselben Augenblicke die Folgen so entfernter Ursachen auf ein Mal verspüren, wenn warme Lüfte mit kalten und trockene mit feuchten vor deinen Augen abwechseln. Du siehst dann gleichsam Lybien und das Land der Hyperboräer in dieser gebirgigen Wegesmitte sich begegnen und zu deinen Füßen mit einander ringen. Die Querwinde die wichtigsten bet Gebirgsrücken. 169 Wir zeigten oben, daß für ein Thal diejenigen Winde die vorherrschenden und wichtigsten seicn, welche sich parallel mit der Längenrichtung des Thales auf- und niedcrbewegen. Bei einigem Nachdenken wird cs klar werden, daß für einen Gebirgsrücken gerade das Umgckebrtc gelten muß. In ihm sind keine Winde wichtiger als die, welche die Handlange des Gebirges quer durchschneiden. Sie werden in den Querthälern, Paffen uud Berge inschnitteu überall Ocffnuugcn finden, durch welche sie in das Iuucrc des Gebirges eindringen können. Denjenigen Winden dagegen, welche das Gebirge an seinen Endpunkten treffen, und die parallel mit seiner Lauge streichen, werden die vielen Berge als ebenso viele Hindernisse bei ihrem Fortschritt im Wege stehen, und sie werden daher nur die Endpunkte der Bergkette, die äußersten Grenzen, ihren Fuß bestreichen und in das Innere wenig eindringen. Versuchen wir dieß auf die Alpen anzuwenden, so zeigt sich Folgendes: Tie sind als eine Gebirgskette zu betrachten, die der Hauptsache nach aus Westsüdwest uach Ostnordost streicht. Und es werden demnach in ihnen die Nord- und Südwinde im Ganzen eine viel wichtigere Rolle spielen als die Ost-und Westwinde. Die Ostwinde finden nur in den östlichen Alpenthälern der Dran, Sau und einigen anderen Donauznflüssen, so wie in dem Po-Thale und in den Thälern derienigcn Poznftüsse, welche aus den Grajischcn Alpen kommen, einen offenen Zn-tritt. Die Westwinde aber finden hauptsächlich Zutritt in den Thälern der Nhonezuftüffe, die sich in den französischen Alpen nach Westen münden, nud in dem Thalc der Rhone selbst, so weit dieser Flnß in den Alpen fließt. Die Alpen sind nach Osten hin durch vorliegende Berg- 179 Uebcnviegcn dcs Nord- n. Tiidwindcs in den Alpen. ketten noch mehr geschlossen als nach Westen. Da finden sich zunächst die Gebirge, welche das adriatische Meer im Osteil umschanzen, dann die Karpathen, welche dm nngari« scheu Thalkeffel im Osten nmgeben. Nach Westen hin bietet Frankreich keine so bedeutenden Hindernisse dar. Man kann daher vermuthen, daß die oeeanischen Westwinde im Ganzen noch eine größere Nolle in den Alpen spielen, als ans weiter Ferne herkommende östliche Strömungen. Von dem Mont Blaue cm bis zu den Bergen in Illy-neu mündet eine ganze lauge Reihe der Alpenthäler von Norden nach Süden ans, und ebenso öffnen sich auf der Nm'dscite vom Genfer Eee bis nach Wien hin alle Alpen-thäler dirert von Süden nach Norden. Wic in diesen Thä« lern die meisten Alpeugewaffer entweder nach Enden oder nach Norden abfließen, wie die Bevölkerung theils aus Sü-den, theils aus Norden in diesen Thalern heraufftnthete, und wie auch die vornehmsten Etraßcnzüge der Alpenländer in dieser Richtung gehen, so muffen demnach anch die Lüfte hauptsächlich ans jenen Weltgegenden herbeiströmen nnd nach ihnen- hin abfliegen. Hicrans erklärt es sich denn, daß man in den Alpen vou allen 32 Winden der Windrose keine häusiger erwähnen hört als den Nord' und den Südwind, daß man dort von dem Ostwinde kanm und von, Westwinde vergleichsweise selten spricht. In Bergkette», die, wie die Vogesen oder der Ural oder die scandinavischen Gebirge von Norden nach Sü-den gerichtet sind, muß dieß gerade nmgetehrt sein. Um jedoch die Größe des (5i»flusses, Mlchen Nord- und Tndwind in den Alpen haben, ganz zu begreifen, muß man anch noch dieß erwägen: die auf denselben Breitengraden streichenden nnd sich begegnenden West- und Ostwinde, die Dic Vise imd der Fbbn. 171 also aus denselben Zonen kommen, werden in der Regel nicht in demselben Grade mit einander contrastiren als die Süd-und Nordwinde, welche Lüfte ans verschiedenen Klimaten nnd Zonen herbeiführen, Das Ineinandergreifen nnd Zusammenströmen der heißen Süd- lind der falten Nordwinde in solchen ostwestlich gerichteten Gebirg^fetten, wie es die Alpen sind, muß daher weit ^vößere Kontraste, weit auffallendere Phänomene herbeiführen, als das Ningen der Ost- nnd Westwinde in den nordsüdlich laufenden Ketten. Man kann sagen, daß entschieden die meisten Luftbewegungen in den Alpen sich als einen Kampf zwischen Süd- und Nordwind auffassen lassen, und wir wollen diesen beiden Winden hier eine besondere Untersuchung nnd Darstellung widmen. Wie wichtig die Nord- nnd Südwinde in den Alpen sind, zeigt sich schon darin, dasi sie überall einen eigenen Namen erhalten haben, denn, wie ich schon oben andeutete, nnr solche Winde erhalten bei den Völkern eitlen eigenen Namen, welche mit einer gewissen Regelmäßigkeit nnd Häufigkeit wehen und zugleich die Interessen der Menschen besonders energisch fördern oder gefährden. Der am allgemeinsten bei den Alpenvölkern verbreitete Name für den Südwind ist „Föhn" nnd für den Nordwind „Bise". Der Name Föhn gilt fast bei allen deutschen Bewohnern der Alpen, namentlich der nordwestlichen. Anch einige italienische, Alpcnstämme haben diesen Namen angenommen. So nennen z. V. anch die Tessiner den Südwind „>l I'ogi,". Gs soll eine Cornimpirnng des lateinischen Wortes l^vo-m'u5 sein. Der Name Bise für den Nordwind gilt bei allen stau- 172 Gang der Bise durch die Alpen. zösischcn Alpenbewohnern und ist von ihnen anf einen großen Theil der deutschen übergegangen. Hie nnd da heißt er in den Alpen auch wohl der „Beiswiud", und anderswo wieder der „Gregoriwind". In einigen Alpengegenden, z. B. im I^vs 6« Vlwcl, nennt man den Föhn anch schlechtweg bloß: ,, >o vent", während dagegen in einigen italienischen Thälern der Nordwind ,,'1 vonw", meistens aber ,,lg il^moMim»" genannt wird. Am Genfer See heißt der Föhn „W Vuu <^,il-6", und in Uri scherzweise anch wohl „ältester Landsmann". Die slavischen Alpenbewohncr haben wieder andere Namen für diese herrschenden Winde. Allein da in dem gebildetsten Theile der Alpen, in den Schweizeralpcn, die Namen „Föhn" nnd „Vise" vorherrschen, nnd da auch im übrigen Vuropa und in der ganzen wissenschaftlichen Welt diese Namen fast allgemein bekannt geworden sind, so wollen wir uns bei Betrachtung dieser Winde hier derselben bedienen. Wir mögen aber dabei noch gleich die Bemerkung vorausschicken, daß beide Namen vom Volke zuweilen ausnahmsweise auch anders gedeutet und gebraucht werden. Da die Bist als Nordwind meistens kalt ist, so nennt man hie und da anch jeden kalten Wind Bise, ohne dabei Rücksicht auf seine Richtung zu nehmen. So heißt der kalte Gletscherwind in einigen deutschen Thälern „die Gletscher-Bise", selbst wenn er aus Süden kommt. In solchen Thälern giebt man dann der eigentlichen Bise, die sich meistens mit vorausgehenden dunklen Gewölk ankündigt, das Beiwort „schwarz" und nennen sie „die schwarze Bise". Umgekehrt übertragen sie wohl den Namen Föhn auf locale Südwinde, welche durchaus nicht der aus den südlichen Die Geietödter. 173 Landern wehende eigentliche Föhn sind. So nennt man z. B. in einigen Thälern des Wallis den kalten, ans Süden wehenden Gletscherwind „den kalten Föhn." Die Bise dringt über die bairische, Hochebene in die Thaler der norischen nnd rhätischen Alpen ein, strömt in nordöstlicher Richtnng über den Bodensee zwischen Inra und Alpen in die ebene Schweiz nnd verbreitet sich dann ebenso wieder von Norden nach Süden in die helvetischen Alpenthäler. Sie erregt die heftigsten Stürme auf den bairischen Seeen und auf dem Bodensee und ist der am meisten ge-fürchtete Wind ans dem Neuenburger See, den sie zuweilen selbst für Dampfschiffe tagelang unschiffbar macht. Unter ihrem heftigen Anhauche klaren sich meistens die Alpenfetten von dem sie umhüllenden Gewölk ab. Sie vernichtet den Weinbau an den südlichen Ufern des Zürcher-Sccs und verschlechtert das Klima an der savoyischen Seite des Gcnfer-Sees, während die nördlichen Ufern dieser Seeen vor ihren Angriffen geschützt sind. In die oberen Thäler der Alpen hinauftollend, hält sie den Graswuchs dort zurück, läßt oft, wenn sie im Frühling als furchtbarer Widersacher des Föhn obsiegt, dic Blüthen der Bäume verdorren und tödtet dann selbst die Geisen, die zn frühzeitig im Mai anf die Berge gelassen wnrden, weßhalb sie denn auch in einigen Alpenthälern den Namen „der Geistödter" erhält. Ueber die Alpenrücken sich hinwälzend, stürzt sie dann in die warmen Südthäler, mit kalter Lnst einschneidend, als gefürchtetc Il-gmontana hinab und erregt dort auf den langen f74 Wolkenbilduug durch den Föhn. Seeen, die an dem Ausgange dieser Thäler liegen, noch schlimmere Stürme als in den nördlichen Wasserbecken. Der ewige Feind der Bise ist dcr Föhn, der ihr cnt-gegenl'läst, mit dem sie beständig ringt, von dem sie zuweilen zurückgeworfen wird, nnd den sie dann auch wieder ihrerseits zurückdrängt. Dcr gewöhnliche Erfolg beim Zusammenstoß zwischen dem Süd- nnd dem Nordwinde ist zunächst die Entstehung eines Wolkengebildes. Da dcr Föhn heiß und die Bise kalt ist, so werden die Wasserthcile, welche jener in durchsichtigem Znstaudc enthält, dabei conccutrirt nnd als ciue Wolke sichtbar, welche sich in den mannigfaltigsten Phasen nnd Gestalten zeigt. Zuweilen herrscht warme Föhnluft in deu oberen Regionen und kalte Bise iu den unteren. Dieß ist uameulich im Herbst häufig der Fall. Auch im Winter wird oft der Schnee oberhalb einer gewissen Höhenlinie überall von den Bergen weggenommen, während er unten iu den Thälern, wo kalte Nordluft einströmt, liegen bleibt. Die beiden Winde kämpfen dann nicht eigentlich miteinander, sondern fließen übereinander hinweg und berühren sich bloß in ihren Gvänzschichtcn. Zuweilen bleibt hiebci die ganze in verschiedenen Richtungen fließende Atmosphäre durchsichtig und klar. Zuweilen aber, wenn der untere Wind besonders kalt und der obere besonders warm und feucht war, bilden sich dann zwischen beiden Winden Nebel, die sich als eine weitausgedehnte Wolkenschicht darstellen. Diese Wolkenschicht geht im Herbst oft durch alle Al- Wolkmtappen, 175 penthäler, läuft gleich cincm Meere in alle Thalbuchten ein und bedeckt die Ebenen an dem Fuße der Alpen, von denen unr die Spitzen darüber Hinansragen, weit und breit. Dieser Zustand der Atmosphäre, wobei auf den Gipfeln der Berge ein Anhauch der italienischen odcr afrikanischen Luft, das schönste warme Wetter herrscht, wahrend in den Thälern Trübe, Dunkelheit und Kälte verbreitet sind, ist eine Quelle der interessantesten Erscheinungen nnd Genüsse. Kein Forscher hat noch bestimmt, nnter welchen NmstäN' den die beiden Luftströmc sich so von einander getrennt und übereinander schwebend zu erhalten vermögen, und welches dagegen die Umstände sind, nntcr denen sie, diese parallele Bewegung aufgebend, sich gegenseitig in ihre Gebiete fallen und kämpftnd mit einander vermischen. Wir wissen nur, daß in der That warme Südströme sich von der ganzen heißen Lnftmasse zuweilen abzweigen uud in das Gebiet des Nordwindes sich hinabsenkn, oder daß umgekehrt kalte Ströme in warme Thäler einbrechen und es versuchen, die südlichen Lüfte hier ans dem Felde zu schlagen. — Geschieht dieß, so nimmt dann die Wolke, welche an dem Punkte des Zusammenstoßes entsteht, nicht eine schichten-fvrmige, sondern eine dnich die Formation des Echlachttcr-rams sehr verschiedenartig modificirte Gestalt an. Zuweilen sieht man bei übrigens ganz hellem Netter ans allen niedrigen Pässen eines Thales langgestreckte und dunkle Nebelstrcifen oder Wolkenbänke liege». Es ist der kalte Nordwind, der in das warme Thal einströmt, und der, so lange er beim Einströmen kalt bleibt, die Wasscroünstc verdichtet. Da, wo er im Thale selbst sich mit der warmen Lnft desselben vermischt nnd seine Temperatur annimmt, hören dann auch die Nebel auf, nnd die Lnft ist klar. Findet das 476 Wolkenbänfe, Wolkenmäntel. Einströmen des Nordwindes nicht in den tiefen Pässen, sondern in höheren Regionen statt, so bilden sich Wolkenhauben aus den Spitzen der Berge. Eben solche Wolkenbänke und Wolkenhaubeu zeigen sich, wenn der Föhn in Thäler einbricht, in denen bisher der Nordwind herrschte. Die Erscheinung dieser Wolken an den südlichen Passen und Spitzen ist daher den Thalbewohnern auch das gewöhnlichste Anzeichen des nahenden Föhn. In der Regel giebt es in jedem Thale einen nach Süden gerichteten Paß oder Gipfel, auf dem diese föhnverkündende Wolke zunächst erscheint, und die daher den Einwohnern auch schon längst als Föhnbringer bekannt sind. Zuweilen wenn der in dem Thale blsher herrschende Wind dem andringenden Föhn Widerstand leistet, bleibt jene Föhnwolke wohl Tage lang auf der Höhe sitzen. Die Leute sagen dann: „der Föhn könne der Bise, die ihm entgegen« drücke, nicht Meister werden." Bald sitzt die Wolke stark concentrirt wie ein kleiner Hut oder eine Nebelkappe auf der Spitze des Berges, bald schwillt sie gewaltig auf und zieht sich wie ein grußer Wolkenmantel über den ganzen Berg hin; bald werfen sich Wolken auf Wolken herüber und legen sich wie ein dunkles drohendes Gewitter auf dem Gipfel hin; ba!d nimmt der in den oberen Regionen herrschende Wind einzelne Theile dieser Wolke auf und läßt sie wie Fahnen hoch in die Luft steigen. Es sieht aus, als sendete er versuchsweise einen Vortrab voran. Da oft der ganze Himmel weit und breit heiter ist, mit Ausnahme dieses einen Berges, auf dem der Föhn lauert wie ein unheimlicher Berggeist, der bereit ist, in das Thal hinabzustürzen, so gewährt jenes höchst mannigfaltige Wolkenspiel eine sehr poetische Unterhaltung und dabei auch einen sehr pittoresken Anblick. Der Föhn ob der Bise. 177 Noch mehr steigert sich aber das Interesse des Schauspiels, wenn man sich selbst in die Gegenden, wo die Winde und Wolken mit einander ringen, begiebt und den hohen Schauplatz dieses Kampfes in Person betritt. Ersteigbare Gebirgspässe, wie der St.-Gotthard, dicGrimsel, der Eplügcn, der Simplon u. a,, bieten hansig dazu Gelegenheit dar. Oft wird der Wanderer beim Ersteigen dieser Passe von einem günstigen Nordwinde begleitet und gehoben, wahrend über seinem Kopfe die Wolken schon ans Süden rasch heranfliegen. Mitunter steht oben über dem Thale ein nebeliger Bogen von Berggipfel zu Berggipfel wie eine Brücke. Dieser Bogen bezeichnet den Strich, wo die beiden Winde zusammenstoßen. Zuweilen hat sich der Föhu in den oberen Luftschichten schon längst zum Meister gemacht, und es wird unr noch in den unteren Regionen gckampft. Hier, wo der Kampf noch statt hat, entsteht dann Windstille, oder es wechseln kalte Luftstöße aus Norden nnd die warmen Lnftwellen des Föhns mit einander ab. Bald schlägt es ihm wie aus einem heißen Ofen, dessen Odem ihn zu ersticken droht, entgegen, bald fühlt er sich wieder vom Boreas ergriffen, der ihn kalt in dem Rücken faßt. Ze nach der Stärke des Föhns und je nach Umständen, deren Verhaltnisse nnd Ursachen unberechnenbar sind, dauert dieser Kampf längere oder kürzere Zeit. Zuweilen wälzt sich der Föhn sehr rasch in die unteren Gegenden hinab; zuweilen macht er sich nur in den oberen Regionen zum Meister; die Aelpler sprechen dann: „der Föhn ist ob der Bise." Zuweilen geschieht keines von beiden, indem sich der Föhn wieder zurückzieht. Der Wechsel der warmen und kalten Luftwellen hört dann nach und uach auf. Die Wolken Kohl, Alpenreisen. III. 1H 178 „Der Föhn kömmt nicht ahi." an den Bergen zerschmelzen, und es kommt Alles wieder in den vorigen Zustand. Gs ist, als hatte der Föhn nnr einen Versuch zum Eindringen gemacht, und als sei er aus dem Felde geschlagen worden. Hie und da haben die Leute den Aberglauben, daß bei zunehmendem Monde der Föhn von seinen Hohen nicht herabkommen könne. „Der Mond nimmt zu," sagen die Gcbirgsführer zuweilen dem Reisenden, der mit Bcsorgniß die drohende Föhnwolke auf der Höhe sitzen sieht, „da kömmt der Föhn nicht ahi" (herab)! So viel von den meteorologischen Anzeichen und Vor-länfern des Föhns. Ich will es nun versuchen, die weiteren Phänomene, die diesen merkwürdigsten Wind der Alpen begleiten, und seine Einflüsse auf die ganze Natur, auf die Pflanzen-, Thier- und Mmschcnwelt zu schildern. Der Föhn ist an keine Jahreszeit gebunden, vielmehr erscheint er nnd herrscht auch oft lange Zeit, besonders in den oberen Luftgcgendeu, sowohl im Winter wie im Sommer. In die Tiefen der Thäler dringt er jedoch mit besonderer Heftigkeit im Herbst und im Frühling, und im Frühling so hänsig, daß man ihm diese Jahreszeit vorzugsweise zueignen kann. Die Stärke des Föhns im Anfange seines Auftretens ist zuweilen außerordentlich, und es ist kein Mnd in den Alpen mit so heftigen Luftströmungen und Wirbeln verbunden wie er; daher wird auch kein anderer Wind von Denen, die durch Winde etwas verlieren tönneu, so sehr gefürchtet. Er zerscheitcrt die Schiffchen auf den Teeen, deckt Häuser ab, zerstört die Sennhütten und reißt Vänmc und Walder nieder. Sein Ranschen und Brausen vernimmt man in den Thälern schon, wenn die Luft unten noch ruhig ist. Vielleicht ist dieß Rauschen eine Wirkung des Kampfes, welchen der Stärke und Heftigkeit des Föhns. 179 Föhn mit der Bist besteht, vielleicht ist es nur ein Echo aus den höheren Bcrgregionen, wo der Sturm gegen die Gipfel und Felsen stößt, und wo er in den Wäldern die Bäume biegt und bricht. M 50M-6 NMg!886Ment, czu'uilL plaints 3000MPIZNS, Noulo 6»N3 l'uil' Ll 80!'t äes 08 60 l» monl3ZN6^ (ü'osl III lutlo äs» vsnt8 ciiii»8 I« «iol, o'kst le elioc 068 nuiiFL« Mu« contro I'öcouil du roo. Im Frühling vernimmt man dieß Brausen des Föhns, wenn es nach langem und kaltem Winter zum ersten Mal eintritt, mit Entzücken. Es ist ein, wenn auch etwas wilder, doch willkommener Vorbote der schönen Jahreszeit, ein lauter, ein warmer Gruß aus Italien. Die Brust hebt sich, man hofft, der Schnee werde nun schmelzen, der Blüthenflor hervorbrechen. Der Föhn gewinnt jene große Heftigkeit und Gewalt, die ihm iu der Ebene des nördlichen Italiens nicht immer eigen ist, meistens erst in den inneren und höheren Alvcn-thalcrn, und er verliert sie wieder, sobald er über die Alpen hinaus ist und in die Gegenden der sogenannten ebenen Schweiz eintritt. Das obere Walks, die schweizerischen Urkantone, das Haöli-Thal, die kleineren Thäler von Tessin und Graubünden sind in den helvetischen Alpen diejenigen Gegenden, in welchen er am heftigsten tobt. Doch fällt er zuweilen auch noch mit großer Gewalt auf den Gcn-fersee herab, wo man ihm einen eigenen Namen gegeben hat. In den längeren von Süden nach Norden gestreckten Thalern, wie z. B. im Thalc der Limmath, der Neuß oder der Aar, kaun man stufenweise die Abnahme seiner Stärke verfolgen. In den oberen Abtheilungen dieser Thäler haben die Leute die Dächer ihrer Häuser mit doppelt so großen Steinen 12^ Un sourd mugissement, qu'une plainte accompagne, Roule dans lair el sort des os de la montagne, Cost la lütte des vents dans le del, c'est le choc Des nuages jetes contrc l'eceuil du roc. Stärke und Heftigkeit des Föhns. 179 Föhn mit der Bist besteht, vielleicht ist es nur ein Echo aus den höheren Bcrgregionen, wo der Sturm gegen die Gipfel und Felsen stößt, und wo er in den Wäldern die Bäume biegt und bricht. 180 Föhnwächter. beschwert, um das Abdecken derselben durch den Föhn zu verhindern. In den hohen Thälern von Uri nnd Glarus, im Hasli-Thal u. s. w. darf in Folge alter Gesetze nnd polizeilicher Anordnungen, so lange der Föhn herrscht, weder Licht noch Fener im Ofen oder auf dem Heerde angezündet werden. Und die Dörfer dieser Thäler sind oft fünf bis sechs Tage lang in einer Art von Belagerungszustand, während dessen die Leute nichts Warmes genießen und ihre langen Abende in Dunkelheit verbringen müssen. Man hat dort eigene Föhnwächter angestellt. In den mittleren Theilen jener Thäler, obgleich auch da der Föhn noch häusig zerstörend ist, weiß man nichts von solchen Vorsichtsmaßregeln. An ihrem Ausgange aber, in der Ebene hat der Föhn alle Heftigkeit verloren, und dort erscheint er gewöhnlich als ein lauer nnd angenehmer Südwind, als ein wahrerFavonius in That und Namen. Indeß ist dabei auch noch dieß zu bemerkcu, daß er im Winter zuweilen auch in sehr tiefe Thäler hinabkommt, im Sommer aber, wo sich in der Tiefe eiue allgemeine Wärme hergestellt hat, mehr in den oberen lind kälteren Regionen wahrgenommen wird. Ich habe nirgend eine genügende Erklärung der Erscheinung finden können, daß der Südwind mehr als der Nordwind oder irgeud einer der anderen Winde in den Alpenthälern zu einer so großen Heftigkeit anwächst. Vielleicht liegt die Ursache in noch unerforschten elektrischen Verhältnissen des Südwindes. Es giebt noch keine geuanen und fortgesetzten Beobachtungen über die Veränderungen der elektrischen Beschaffenheit der Lust oder des Barometer- und Thermometerstandes, die bei eintretendem Föhn statthaben. Die Temveraturverändcrungen sind zuweilen erstaunlich „Der Föhn bat cmfgeschont." Die Föhnschtttte, 184 schroff, und man glaubt sich oft bei eintretendem Föhn aus einem hochnordischen Klima in ein tiessüdlichcs versetzt. Selbst mitten im Winter läsit der Föhn mitunter eine ganz ungewöhnliche Wärme.eintreten, die den Schnee selbst auf den höchsten Bergen schmelzt. So lange dcr Föhn heftig weht — und dieß thut er oft mehre Tage, in den höheren Alpenthälern zuweilen eine Woche laug — bleibt es gewöhnlich trockener. Oft, wenn er sich für mehre Wochen ganz zum Meister macht, stellt sich mit ihm dauernd schönes Wetter ein. Die Aelpler sagen dann: „der Föhn habe aufgcschont." Wenn er aber im Kampfe mit der Bise ermattet ist und diese ihn znr Nuhe gebracht hat, so fällt in der Regel eiu reichlicher Regen, im Winter Schnee. Die schweizerischen Gcbirgsleute nennen diesen Regen dann eine „Föhnschütte". Damit kühlt sich zugleich die Temperatur ab, und das Wetter nimmt dann wieder eine andere Wendung. Aus dem in den Alpen bestandigen Kampfe des Föbns und der Bise, die sich gegenseitig zwingen, ihre Wafserdämpfe in Regen oder Schneee fallen zu lassen, kann man vermuthlich die ungemeinc Häufigkeit der atmosphärischen Niederschlage in diesen Gebirgen herleiten. Eins der interessantesten Phänomene, die den Föhn begleiten, ist der Zustaud, welchen die Luft bei ihm annimmt. Obwohl er bei seinem ersten Auftreten die Luft meistens trübt, so beweist er dagegen, wenn er sich erst zum herrschenden Winde gemacht hat, gerade das Umgekehrte. Er macht dann die Atmosphäre zuweilen, selbst bei bedecktem Himmel, ganz besonders transparent, so daß man alle nahen sowie entfernten Gegenstände anffallcnd klar erkennt. In manchen Gegenden der Alpen, z. V. in dcr nordöstlichen Schweiz, unterscheidet man daher auch wohl zwei Arten von Föhn, den 18^ Der ,,D nineu und daun mit dem Föhn an der hohen Küste der Alpen an, eben so wie amerikanische und afrikanische Hölzer, Baumstämme und andere Pslauzeutheile mit jeuen westlichen Strömungeil des Oceans an deu Meercsusern des westlichen Europa's stranden. - Professor Ehrenbcrg hat sich Proben von diesem Sciroeco- oder Föhnstaube aus vielen Thälern 18z Der Föhn als Wohlthäter der Gebirge, und von vielen Schneegipfeln der ganzen Alpenkette verschasst, und es istvonihm nachgewiesen worden, daß zuweilen dnrch einen nnd denselben Föhn zn einer und derselben Zeit die ganze Bergreihe von Wien bis nach Savoyen mit einem leichten Staubschleier überdeckt wird. Er hat die Masse eines solchen Stanbniederschlags ans mehre tansend Centner kleiner Krystalle nnd Infusionsthierhüllen berechnet. Der Föhn wirkt anf das Land, ans die Pflanzen-, Thier-nnd Menschenwelt sowohl nachthcilig als wohlthätig ein. Faßt man indeß die großartigste seiner Einwirkungen auf die Natur ins Auge, die er in der Rolle als Schnee- und Eis-schmelzer ausübt, so muß man bekennen, daß dieser verschrieene Wind im Ganzen genommen der allergrößte Wohl' thätcr der Nlpcnländcr ist; denn es ist wahrscheinlich einzig nnd allein sein Verdienst, daß überhaupt in den höheren Alpenthälern noch Pflanzen, Thiere und Menschen exMiren können, und nicht längst Alles tief verschneit und vergletschert ist. Viele Menschen, indem sie betrachtende Blicke in den großartigen Hanshalt der Natur warfen, haben es als eine besonders weise Veranstaltung dieses Hanshalts gelobt, daß anf den hohen Bergen alle meteorischen Wasserniederschläge sich in compastcn Schnee und in Eis verwandelt deponiren, und daß daher von ihnen dort gleichsam ein Vorrath sich ansammelt, aus dem das ganze Jahr hindurch auch in regenlosen Zeiten die Quellen nnd Flüsse gespeist werden können. Würden oben ebenso wie nuten jene Niederschläge als flüssiger Regen herabkommen, so würde es bei jedem Regenguß unsägliche Ueberschwemunmg geben, die Gipfel der Berge würden trocken bleiben und in der heißen Jahreszeit nicht im Stande sein. die Thäler und Ebenen zn unterstützen. Indeß ist bei dieser heilsamen Ansammlung der Eis« und Schnee- alö Schnee- und Niözerstörer. 186 majsen auch wieder eine Gefahr. Da die Sonne oben wenig Energie besitzt, da dort wenig oder gar kein Regen fallt, so müßten bei steter Zufuhr von Schnee, Reif und Hagel die Eismassen sich am Ende erstaunlich anhäufen; die Gletscher würden sich immer mächtiger ausbreiten, in alle tieferen Thäler hinabdringcn und am Ende keine Gränze ihres Fortschrei-tens mehr finden. Es bedarf daher, um dieß zu verhüten, neben der schwachen Sonne noch eines stärkeren Mittlers, der das Uebermaß der Schnceanhänfung verhindert. Die Rolle dieses Mittlers nun ist dem heißen Föhn übergeben, der energischer und zugleich auch vorsichtiger den Schuee hinwegräumt, als Sonne, Regen oder andere Agen» tien. Indem er rasch und stürmisch, stets neue heiße 3uft< wellen herbeibringeud, über die hohen Eisfelder und die be> schneiten Berge hinstrcicht, befördert er in einem außerordentlichen Grade die Verdunftuug des Eises und Schnees und führt in kurzer Zeit ungeheuere Quantitäten in Gas verwandelt mit sich fort. Im Frühling zehrt der Föhn besonders gierig am Schnee, und dabei ist es eben sein Hauptvcrdienst, daß er ihn mehr wcgzehrt, als wegschmelzt. Der Schnee wird so von ihm, wie ich sagte, auf die vorsichtigste Weife weggeschafft, ohue Lawinen zu bilden, und obne die Gewässer auzuschwellen. Wenn man bedenkt, wie der Föhn so oft Tage lang mit heißem Athem über die großen Schneefelder hinfährt, und täglich davon fußdicke Schichten aufsaugt so mag mau sich leicht vorstellen, in wie hohem Grade er sich mit ftuchtcu Dünsten belastet, und wie es kommt, daß er dann gewöhnlich mit einem Regen endigt, den er über die Ebenen und Thäler ausschüttet. Auch die dmcte Einwirkung des Föhns auf die Ver- 186 UuzeitigcL U. 13 VI. Das Reich der Töne in den Alpen. In unseren Flachländern kann man im Ganzen genommen die Natur als still und geräuschlos bezeichnen, wie dieß Wilhelm Tell bei Schiller thut, wo er seinem Sohne von dem Lande erzählt, zu dem man gelangt, wenn man, von den Höhen immer tiefer steigend, den Strömen nachgeht, „wo man ftci sieht nach allen Himmelsräumen, „wo die Waldwasser nicht mchr brausend schäumen, „die Flüsse ruhig und gemächlich ziehu. Kaum hörbar gleiten die Ströme in den Ebenen durch die stachen Fluren, wo nirgends sich Gelegenheit darbietet zu rauschendem Ergnsse. Der Boden ist überall mit weichen Erdmassen gepolstert, und nirgends zeigen sich nackte Felsen, an denen irgend ein in der Natur Bewegtes lärmen oder schallen könnte. Hier ist es nun der Mensch, der lärmend in der Schöpfung auftritt, der statt der weichen Naturwege schallende Steinpstaster herstellt, der sogar den von Haus aus leise wandelnden Thieren klappernde Fußeisen anlegt, der für den Wind Straßenecken und Schlüssellöcher schafft, damit er heule, der Brückenpfeiler baut, damit das Wasser rausche. Dieser ge- Lärm seres Globus, in den die Nackt Alles versinken läßt, Als irdische Vorboten der Aurora erglühen sie wie Lucifer des Morgens zuerst, auf ihren Gipfeln gleich ebenso vielen Fackeln, entbrennend, — und Abends nehmen die Lichtgötter am spätesten von ihnen Abschied, und ihre leuchtende Gesellschaft ruht noch auf allen Hörnern und Zacken umher, wäbrcnd unten schon längst die Nacht ihren Schleier ausbreitete. Die alten Nömer und Griecken, welche die wunderlichsten Ewig« Schatten. H<5 und übertriebensten Vorstellungen von den Höhen der Berge hatten — Plinins bielt einige Berge 40 Milliaricn hoch — glaubten, daß es Berggipfel auf Erden gäbe, auf denen die Sonne nie unterginge, und die sich eines ununterbrochenen Sonnenscheins erfreuten. Während auf die besagte Weise den hohe Alpen be« wohnenden Hirten die Tageslänge etwas über das gewobn» lichc Maß, dessen wir in den Ebenen genießen, hinansge-dchnt wird, wird dagegen denen in den Thälern die Lichtfülle in allen fast nur denkbare Graden gekürzt. Einige werden von der Sonne direct nicht langer, ja sogar noch viel kürzer beschienen als die Polargegcndcn. Es giebt tiefe Thaler und Ortschaften in den Alpen, deren südliche Seitenwände so hoch sind, daß die niedrige Sonnenbahn des Winters oft 3 oder i Monate laug darunter bleibt, und die Bcwobner dieser Thaler genießen dann erst im Frühling des ersten lieblichen Anblicks der Sonne. Ja es finden sich sogar bewohnte und bebantc Erdflccke, die nnr ein einziges Mal im Jahre von der Sonne beängelt werden. In Schluchten und Felsspalten liegt eine Menge stets beschatteten Landes zerstreut, das dieses Glücks nie theilhaftig wird. Auch giebt es Höhlen, Spalten und Löcher in den Bergen, durch welche die Sonne nur an einem gewissen Tage und zn einer bestimmten Stunde dieses Tages einen glan< zeuden Pfeil zn schießen vermag. Die bäuerischen Urbcwohner des Landes sind viel genauere Beobachter solcher lichter Stunden und Tage in ihrer Nachbarschaft, als es die Gelehrten in Bezug ans die Ansammlung und Zusammenstellung dieser einzelnen Beobachtungen gewesen sind. AI6 Mittage- und Adendhömev, Bevgvseilcr als Smmemchreu. Denn während jene immer genau anzugeben wissen, wann auf dieser oder auf jener Spitze das Licht der Sonne erscheint, haben diese noch nichts für eine umfassende Bestimmung der Lichtverbreitung in den Alpen gethan. Zuweilen trifft es sich, daß eine markirtc Bergspitze gerade im Meridian eineö bewohnten Ortes liegt, nnd daß demnach die aufgehende Sonne von diesem Orte aus zuerst immer gerade über jener Spitze erscheint. Die Leute nenne» dann eine solche Spitze wohl ihre „Mittagsspitze," uud geht diese Benennung von einem Hauptorte auv, so wird der Name dann auch wohl von anderen Nachbarn adoptirt, selbst wenn sie nicht im Meridian jenes Bergen liegen. Daraus erklärt sich die große Menge natürlicher Meridiane in den Alpen, der vielen ,,l>il: Haller deutet aus ein solche? Pegegniß biu. wenn er in seiner (5popöe auf die Alpen singt: In der verdeckten Vuft schwebt ein bewegtes Noth, <5in Regenbogen strahlt durch die gcfpaltncn Kluft«'. Nnd anch Schiller beschreibt diesen ^ichtcffcct in seinem TeN: Da reisn ein schwarz« Fclfcnthor sich auf, Kciu Tag hat'o noch erhellt. Da geht Ihr durch, (5s führt (5»ch in cin sonnig Thal der Freude. ") Dante scheint hierauf anzuspielen in folgenden Versen: HllgiL m mldilo oiol 6uddia «i vecie 3o'l 6i clllll iluttl' 0 8^Ilg 2 lui «uoooü^, 22t Lichtresteze. Wolken keine Gegenstände, an denen es restectiren kann, in den Gebirgen hat es deren überall. Bald wirft eine sonnenbeschicnene Felswand einen roth lichen, bald einen grünlichen Schimmer in die Landschaft. Es gewährt dem Geiste Vergnügen, alle die völlig gesättigten Tiefschatten, die durch Reflexe gemilderten Halbschatten und die oft sehr feinen Uebergängc bis zum klaren Sonnenschein, die das Ange von einem Punkte ans überschaut, zu erkennen und zu sondern. Auch die Wolken, die bei uns ihre Lichter im weiten Nanme ohne Wirkung versenden, finden in den Bergen gleich überall Gegenstände in der Nähe, von denen die grünlichen, blauen, rothen, gelben Tone, die von ihnen ausströmen, im lieblichen Farbenecho zurückschimmcrn. Am auffallendsten sind die Lichtreflexe in den mit Schnee bedeckten Gisregionen, weil die dort herrschende weiße Farbe am wenigsten Strahlen verschluckt und selbst die feinsten darauf fallenden Töne zurückwirft. Wenn beim Sonnenuntergange die wundervollen Lichtre-stexe durch die Nebel des Horizonts auf die Alpengipfel fallen, so erglühen die mit Schnee bedeckten mit weit größerer Intensität als die übrigen. Zuweilen wirft dann ein Gletscher noch einen zarten Rosenschimmer auf einen anderen, welcher der directen Einwirkung der Abendröthe schon entzogen ist, und dieser reflectirt dann noch ein Mal wieder jenen zarten Schimmer. Wenn, wie es oft geschieht, eine Wolke einen grünlichen Schein auf die Landschaft nnter ihr wirft, so ergrünen die Gletscher und Schneeseldcr wohl mit einer so saftgrünen Farbe, daß nian glauben möchte, sie hätten sich mit Alpen« Lichwflexe. 2Z5 gras bedeckt, während die schncelosen Felsen dieses Grün nie so deutlich reftcctircn könnten. Oft sah ich im Winter in den Hochgebirgen noch schnee« bedeckte Kuppeln, die das mondscheinartige Licht, in dem sie schimmerten, von einem entfernten hellbclenchtetcn Glctscher-kopfe empfingen, nnd schätzte zuweilen die directe Entfernung, ans welcher das Licht zurückgeworfen wurde, auf zwei Stunden. Ich sage das mondschcinartige Licht. Dcuu alle diese reflectirten Lichter sind nicht bloß einfach schwächer als die di-recten Lichter, sondern auch in ihrem Wesen anders beschaffeu, ebeuso wie das reflectirte Mondlicht auch nicht blos schwächer, sondern überhaupt anders als das Sonnenlicht ist. Am zartesten zeigen sich in der Schneeregion die Reflexe bei langen viclgczackten nnd vielgcbrochcncn Schnee- nnd Eisabhängen, wo viele kleine mit Schuec gepolsterte Gipfel und Thäler aufsteigen, die alle ein sehr verschiedenartig kräftiges Licht sich im Kreuzfeuer einander zuwerfen. Wenn man einen solchen Abhang dann mit dem Perspective nntersncht, so erscheinen einem die Berge aus transparentem Porzellan gebacken. Die ganze Schnecmasse gewinnt etwas Durchsichtiges, nnd man glaubt alle dic feinen Nuancen und Uebcrgängc der Durchsichtigkeit wie anf einem jener dünnen Biscuit-Bildcr zn erkennen. In der Ebene, wo Alles eine einzige große Masse ist, wo das Licht sich nie theilt und individnalisirt, kann man kaum von Lichtgöttern in der Natur reden. Hier aber, wo überall partielle Lichtergüffe und Strahlensondernngen stattfinden, sieht mau so zu sagen die Lichtelfcn vor Angcn, von denen sich einige bald hier, bald dort aus sonnigen Höhen niederlassen, und von denen ganze Reigen mid Gruppen zuweilen sich um die Berge und Felsen schlingen. Will man beim ssuhl, Mcm'tiscn, lll. 1H IAß Individual!silnng der Schatten Lichterspiel an die Tänze der Elfen denken, so kann man dagegen die Bewegungen der Schatten in den Thälern und den Krieg, den sie nnter sich und mit dem Lichte führen, mit den Kriegen der Dämonen vergleichen. Denn auch die Schatten, die unsere Landschaft einförmig wie ein unabsehbarer Nachtmantel verhüllen, sind in den Bergen individua« lisirt und gestaltet. Von den Hohen aus sieht man die Schatten der Berge oft weit in die Landschaft hinausgezeichnet. Meilenweit werden sie in die Ebene hinausgeworfen, oder sie skizziren sich in großen Umrissen an eine benachbarte Nand, oder man erblickt ihre Gestalt auf der Fläche eines Sees, wo, so weit der Schatten reicht, das Wasser mit einer dunkleren Farbe getränkt zu sein scheint. Oft auch, wenn man sich auf einen höheren Standpunkt bcgiebt, sieht man ihre Profile auf einer Wolken- oder Ncbelschicht riesig projicirt*). Im Winter, wo die Sonne, kurze Kreise am Himmel schlagend, fast nur aus Süden blickt, sind die Schatten con-stanter. Ich sah zuweilen den ganzen Schattenriß eines Berges in der Schnecftache des ebenen Thales wit aus Papier ausgeschnitten. Die Winter- und erste Fruhlingssonne hatte immer denselben Schattenriß in den Schnee geworfen, und dieser hatte sich daher im Schutze des Berges höber an» gehäuft als da, wohin dessen Schatten nicht fiel. Die von ihm bedeckte Thalstelle war bis zum äußersten Ende seines Schattens noch mit Schnee bedeckt. Rundherum war Alles *) Ein englischer Dichter hat diese Schattenformen in den Ge» birgen beachtet und in folgenden Versen beumaen: There by twilight's softer lights, The mountain shadow bends. And sudden casts a partial night As black its form descends. in den Gebirgen. 227 weggeschmolzen. Der Berg war gleichsam in die Schneedecke hinein daguerreotvpirt. Im Sommer aber, wo die Sonne rechts und lints weiter angreift und bald im Osten, bald im Westen oder Nordwesten steht, da greifen auch die Schatten weiter auS und drehen sich im Laufe des Tages fast rund nm ihre Berg-kegcl wie nm ihre Centra hernm. Bei Sonnenuntergang gewabrt es ebenso viel Unterhalt« ung, alle die Schatten aus der Tiefe der Thäler heraus« wachsen zu sehen, als bei Sonnenaufgang die Lichter zu betrachten, wie sie sich allmalig vom Himmel herablassen. Die Schatten scheinen gleichsam anö der Unterwelt, aus den Schluchten emporzusteigen. Sie laufen Sturm gegen die noch hellbeschienenen Gelände des Gebirges, anfangs langsam, aber je höher sie kommen, desto schneller. (5in Bergdorf nach dem anderen, jetzt der untere, danu der obere Nald, bald auch die höchsten Sennhütten nud endlich die Gipfel der Berge versinken in den Schooß der Nacht, deren ausgestreckte Arme du in dem aufsteigenden Schatten zu erblicken glaubst. <»' Vlll. Farben der Felsen. Wenn wir uns eine Probenfammlung von allen den Stoffen, aus denen die Berge gebildet sind, anlegen, wenn wir diese Proben putzen, schleifen und poliren, so enthüllt sich uns in den Gesteinen eine Farbcuwelt, die durch Reichthum und Fülle der Schattinmgen dem, was wir in dem Thier-- und Pflanzenreiche zu bewundern gewohnt sind, völlig gleichkommt, wo nicht alles Andere in der Natur überbietet. Nicht aus dcil Kelchen der bnnten Blnmen, sondern vorzugsweise aus den dunklen Höhlen und Riffen holen sich für ihre Palette unsere Maler ihre glänzendsten und festesten Farben ans Tageslicht hervor. Im Innern der Berge stellt sich das reine Gold mit seinem bezaubernden sonncngelben Glänze dar; da zeigen sich das Eisen und das Kupfer, diese allverbreiteten Urheber vielfacher Farbenmischung; da schimmern d:e Silberstufcn, als wären es von des Mondes Scheibe abgebröckelte Splitter, die Pluto seinen Bergen einverleibte. Da röthet sich der Granit, als wäre er in Blut getränkt; da glüht der Porphyr wie Purpur und Feuer; da blendet der Marmor, makellos weiß, wie vom Himmel gcfal- Farbenpracht der Mineralien 229 leuer Schnee; da trauern die schwarzen Kohlenlager, die dunkelgrünen Hornblcndcschichtcn und andere Massen in tiefer Färbung. Die Kreide-, Thon' und Ockerartcn durchlaufen die ganze Scala der Farbentöne, vom reinsten Himmelblau bis zum zartesten Blauweiß, vom grellsten Gelb der Quitte» bis zum feinsten gelblichen Anfing, wie ihn ein Schmetterling auf seinen Flügeln tragt, — vom entschiedensten Tiefdunkei-brauu bis zum feinsten Carmoisin, wie eS die Elfen in die Blätter der Nrsen tröpfelten. Der Serpentin, der Schörl, der Malachit und viele andere ihrer in die Bergklüfte gebannten Unglücksgenossen äffen das Grün der Bäume und Gräser nach, als wollten die Gnomen, welche die Gebirge durchschlüpfe», auch auf ihre Weise das Vergnügen genießen, auf unterirdischen grünen Alpenwiesen zu wandern. Die Uebergäugc aus einem Farbenton in den anderen sind bei den Gesteinen oft so fein wie bei den Schattirungen der Morgenröthe, oft so contrastenreich, so schroff, wie auf dem Nucken des gefleckten Tigers, Da giebt es ganze Schichten buutgesprcnkelten Felsenmaterials, als wären da versteinerte Leopardenfelle aufgespeichert, rothe, blaue, gelbe, grüne Vin sprenkeln ngen en m.1886, so zart, so bestimmt, so gn'cgelt, als wäre jedes Pünktchen mit einem sorgfältigen Haarpinsel getüpfelt, wie auf der Kalkschale eines Vogeleis. Untersucht man den Gneiß, den Granit und alle die anderen zusammengesetzten Eteinarten genauer, so zcige» sie sich uns als aus ciuer Meuge kleiner Körnchen und Krystalle bestehend. Jedes derselben hat seine eigene entschiedene Farbe, 230 Transparenz der Gesteine, gleich wie die einzelneu Maschen und Kreuzstiche eines von Damenhand gefertigten Teppickgewebes. Schleift man den Marmor an, so kommen Gebilde hervor, die in Farbe und Zeichnung frappant den Pflanzen auf der Oberflache der <5rde gleichen. Grün gefärbte Stämme durchziehen den dunklen Felslcrn lind schlagen zu den Sei« ten in Zweige ans, als sollten sie Tanueubänme werden. Wie die Verästelung der Korallenbanme läuft das Ge< ader in den Felsen. Auch Blätter erkennt man und Blumenkelche, ja Früchte und Wurzeln sind deutlich nachgeäfft, oder vielmehr — vorgebildet. Denn noch ehe Bäume und Kräuter auf den Bergen wuchsen, rankten und keimten sie schon in den Eingeweiden der Erde. Sollte man nicht den» ken, die Kinder Pluto's hätten der Flora das Geheimniß der Pflanzenbildung verrathen und längst, vorber von allen den Kunstwerken geträumt, die jene Tochter des Apollo nach» lier im Sonnenscheine schön ausbildete. Nie reich an Farbenmannigfaltigkeit ist nicht die Klaffe der Edelsteine, der Quarze, der Flnßspathe, der Schwersvathe und aller der anderen krvstallisirten Massen, bei denen dann, um dem Auge und der Phantasie das Innere der Gebirge noch anziehender zu machen, die Transparenz hinzukommt. Da giebt es ganze ^ager halbdurchsichtiger, schimmern« der Stoffe, ganze Höhlen voll klarer Krvstalle, die so was« serhell sind, daß die Lichtelfen mit derselben Leichtigkeit durch ihre kieselfesten Massen, wie durch die lockere Luft hindurck» schlüpfen, — zahllose Räume, Klüfte und Spalten mit rötb« lichen, bläulichen, gelblichen transparenten Massen gefüllt, ganze Sandsteiugebirge. die nur verkittete Anhäufungen klei» ner gefärbter und durchsichtiger Quarztügelchen sind. In der Dunkelheit verborgene Farbenstosse. 231 Im nie erhellten Grund von unterirdischen Grüften Wölbt sich der feuchte Thon mit funkelndem Krystall, Daö schimmernde Gestein sproßt ans dcu dunklen Klüften. Blitzt durch die düstre Luft und strahlet überall. Kurz, wie man kein Theilchen dieser Berge abheben kann, das nicht seine Art zu brechen, seine Gesetze dcr Gestaltung, seine eigene Form hätte, so giebt es auch keines, das nicht die Lichtstrahlen in einem besonderen Maße durchließe und auf eine genau bestimmte Weise zurückwürfe, seinen eigenen Grad von Transparenz, seinen eigenthümlichen Farbcnton besäße. Die Gebirge erscheinen also gleichsam als ungeheuere Massen angehäuften Farbe < und Lichtstoffes, die sich bis in unergründliche Tiefen hinab von der sonnenbeschienencn Oberfläche zurückziehen. Es ist möglich, daß auch^ zu diesen Farbenmassen die Sonnenstrahlen behülflich waren. Vielleicht, daß alle diese in der Dunkelheit verborgenen Farbestoffe anch einmal, von der Sonne beschienen wnrden und in der That buchstäblich zum Theil nichts weiter sind als verdichtetes Licht. Vielleicht, daß, wenn die Erde sich fern von dcr hellen Sonne, der Quelle aller Färbung, im tiefen Dun« kel. der Neltnacht gebildet hätte, sie nnr bleiche, farblose Ge« bnge zeigen würde, ebenso wie sie dann nur mit grauweißem Baumlaub und farblosen Gräsern, Kräutern und Blumen bedeckt sein würde. Ich sage vielleicht, denn wir wissen es nicht. Allein eine wunderbare Vorstellig bleibt es doch, daß sich hier das Farbenreich so tief in den Schooß der Erde hinab erstreckt, daß auch hier Alles, weun auch nicht durch das Sonnenlicht, doch für dasselbe mit wohlgefälliger Form 232 Muth u. Frische der Farben im Innern der Erde, und anmuthiger Farbe geschmückt und dann mit ewiger Finsterniß bedeckt ward, gleich dem Leichnam eines Königs, der wie für einen Ballsaal gekleidet, nur Pracht beladen und doch begraben wnrde. Protcstirten denn nicht die Lichtgötter gegen diese unsägliche Verschwendung? Dem kundigen Geiste des Menschen, der sich in den Wnnschmantel der Phantasie hüllt, dann gleich den Gnomen durch die Felsen zu schlüpfen vermag und dort, wie sie, mit seinem eigenen Lichte die Finsterniß erlenehtct, erscheinen die Gebirge daher in der That gleich den unterirdischen Zaubcrpalästcn, wie sie in den phantastischen Märchen der Völker ausgemalt werden, und in denen die Zimmer von Lazur- und Purpurfarben leuchten, in denen die Wände mit Edelsteinen ausgelegt sind, und krystallene Säulen das Dach tragen. Schade nur, daß die Berge sich so nicht auch auf der Oberfläche darstellen, daß die krystallenen Berggipfel, die bnn-ten Fclsenteppichgcwebe, die grünen Steinwiesen, die versteinerten Blnmen und Bäume, die gcticgcrtcn, geäderten, getüpfelten, gesprenkelten, reizend gezeichneten Marmorlagen alle theils unter Schnee, theils unter Pflanzen und Pflan-zenerdc völlig versteckt sind, uud daß auch da, wo sie ihre nackte Natur enthüllen, unzählige farbevcrwischcndc Umstände dergestalt auf sie eingewirkt haben, daß sie zum Theil alles Farbenreizes entblößt wurden, und daß man im Ganzen von den Bergen, wie von der ganzen Oberfläche der Erde, wo sie unbedeckt ist, sagen möchte: „Nicht Licht nnd Farbe, sondern grauer Staub und Schmuz ist das Gewand, das sie anhaben." Zunächst bewirkt dieß die Rauhigkeit ihrer Oberfläche, die, indem sie die Lichtstrahlen verwirrt und die Transparenz der Verwischung derselben auf der Oberfläche. 233 Krystalle verdirbt, so auch die Reinheit der Farben trübt. — Wären die Berge überall in allen Thälern und Ecken glatt und polirt, so würden sie in ihren eigenen hellen Farben wie die polirtcn ägyptischen Königspaläste glänzen. Luft und Waffer aber, welche ihre Oberfläche beständig zerfurchen und zertrümmern, dampfen schon dadurch diesen Glanz. Die Verwitterung läßt die Steine in ihre Urbestant" theile zerfallen. An den Vergabhangcn, in den Staub- und Sandlagern werden diese Trümmer von sehr verschiedenen Felsarten mit einander gemischt, und dabei entsteht dann, wie aus jeder Mischung vieler verschiedenartiger Farben, ein bleicher und grauer Farbenton, mit dem sich dann mehr oder weniger alle Gebirgsarteu überziehen. Ich sage mehr oder weniger. Denn ganz wird allerdings die ursprüngliche Farbe der Felsen nicht verwischt. Sie ist vielmehr fast überall unter dem Schleier der Verwitterungsschicht, der bloß ihre Frische dämpft, mehr oder weniger wahrnehmbar und macht sich in der Landschaft bc-merklich und einflußreich, — seltener jedoch natürlich in großen als in kleinen Abschnitten der Landschaft. Zunächst, mn mit dem Kleinsten zu beginnen, in den Betten der Alpenftüffe. Hier werden die darin zusammengeführten Steine vom Nasser beständig polirt und abgestäubt, und die Dichter haben daher ja schon seit Tibullus Zeiten die Farbcnfülle der an bunten Kieseln so reichen Flüsse gepriesen. Sind diese Kiesel nun, wie es bei den Wildgewässtrn der Alpen, in welche sehr verschiedene Gebirge ihre Brocken warfen, große Blöcke, so entsteht daraus zuweilen ein wahres Mosaikpflastcr bunter Steine. Da kommst du zu Absätzen, wo schöne, glänzende, rothe, grüne und ge- Z34 Frisch gefärbte Felsenbrüch«. fleckte Steine, volirte Marmor-, Granit- und Porphyr» felsen aller Art nmherstehcn, — da siehst du blutrot!) schim« mcrude Nischen ausgewaschen im festen rötblichen Granit — da ragen mitten im Gesprudel der grünlichen Wellen weiß schimmernde Marmortafeln empor. Ebenso hell wie in diesen Flußbetten strahlen die Farben der Unterwelt da dich an, wo frische Brüche und Ab« lösungen an den Felswänden stattgefunden baben. Da zeigt sich, unter der grauen Oberfläche hervorstral" lend, die innerere Farbe des Gesteines, gleich wie aus einer Nundc, welche die Haut ritzte, die Farbe des Fleisches. Bald ist es nur ein schwarzer oder rother oder gelber Fleck, aus dem ein einzelner Block abstürzte. Bald aber sind es auch ziemlich lange Farbenstreifen, z.B. wcnn ganze Wände zugleich abfielen. Ich sagte: in den frischen Brüchen. Aber in diesen Alpen ist selbst das Tausendjährige oft noch frisch zu nennen, und so wie wir in Aegyptcn Säulen finden, deren Politur noch so unversehrt erscheint, als bätte erst gestern der Künstler die vollendende Hand davon gezogen, so finden wir auch in den Alpen frisch gefärbte Brüche, die schon vor tansend Jahren entstanden. Manche Bergpyramiden sind von frischklaffenden Wnnden, von schwarzen und rotheu Flecken wie getigert. Giebt es solche noch unverwitterte und unverfarbte Ab< brüche auf weiten Strecken, so geben sie zuwei!,u einem ganzen Thale einen charakteristischen Ton, Vs giebt ganze Thal' gebiete, die, weil sie in einer tiefschwarzen Steimnasse ansge-brochen und in sie eingesenkt sind, einen sehr düsteren Charakter erhalten. ^ Dunkle Wände. Schwarze Felsen. 235 ^Vboro tke rucle olisss »teop column ßlov» Witk lnarnluß lint c»l dlaclc. Da sieht man dunkle Wände aufsteigen, als wären es die Mauern des Erebos. Schwarze Felsen mit finsterer Stirne, wie die Könige der Mohrenvölker, treten hervor. Da liegen zuweilen ganze Bergzügc. sichtbar gehüllt in die Farbe der Traner, die den Massen etwas Melancholisches zwar, zugleich aber auch etwas Festes nnd Entschiedenes mittheilt. Die meisten kräftigen, saftigen Felsenfarbe» findet man im Innern der Urgebirge. Die Kaltlager sind weit einförmiger gran und matter gefärbt. Doch bieten auch sie eine Menge Schattirnngen des Grau, vom Schwärzlichen bis nahe ans Weiß streifende, dar. Zuweilen sieht man eine Abstuf' ung des Grau vom Dunklen bis zum Hellen an denselben Wänden und Gipfeln von unten nach oben. Durch diese Art von Färbung geschiebt ce dann wohl, daß die Berge höher erscheinen, als sie in der That smd. Fast überall sieht man die Felsenwände in den Alpen von einer unzähligen Menge farbiger Streifen, welche nicht von den Felsen selber herrühren, überzogen. Diese Streifen unterbrechen die einförmige Urfärbung der Massen und geben den Thälern zuweilen ein sehr buntscheckiges Allsehen. Schon die Richtung von oben nach nnten, welche alle diese zahllosen Streifen angenommen haben, läßt vermuthen, daß sie von färbenden Flüssigkeiten herrühren. Zuweilen sind es Feuchtigkeiten, die ans höher liegenden, zwischen den Felsen eingeklemmten, metallhaltigen Schichten bcrabträufeln, und die demnach eine rothe oder gelbe oder bläuliche Farbe herabführen und über die Felsen ausbreiten. In Nordame« rika am Erie-See giebt es eine viele Meilen lange Felsen- 236 Blaue Felsen. Gestreifte Vergabhäuge. wand, welche von solchen Farbmauswaschungen' die ver« muthlich von Eisen herrühren, beständig von hellblauer Farbe schimmern und daher die blauen Felsen heißen. Weit häufiger indeß sind solche streifige Färbungen der Thalwände vegetabilischen Ursprungs. Die Wafferabtröpfe-lnngen nämlich, welche an allen Felswänden aus ihren vie« len Fugen herauslaufen, geben innerhalb der Breite deS Strichs, auf dem ihr Ablauf stattfindet, Anlaß zur Entstehung einer Menge kleiner Moose, die, je nachdem sie trocken oder feucht find, und je nach ihrem Alter und der Jahreszeit dem Felsen fehr verschiedenartige Farben auflegen — gelbliche und hellbraune Streifen, wenn sie längst vermodert sind, röthliche oder braune oder grünliche, je nachdem sie noch mehr oder weniger frisch und jung find. Das Wasser wechselt immer, bald hier, bald da hervorbrechend, etwas seinen Strich nnd überläßt daher zuweilen früher hervorgerufene Moosstriche wieder der Trockenheit und Verwesung. Da, wo es eben jetzt fließt, sind alle Moose friscb nnd kräftig gefärbt, und es entstehen daraus jene viele» dunkeln Striche, mit denen die Wände der Thäler zuweilen wie die Rippen eines Zebras gestreift sind. Mitunter sind diese Striche so schwarz wie Kohle, und einige Thäler sehen dann fravvant so aus, als hätte ein vl-. Martin Luther eine ganze Reihe riesiger Tintenfässer an die Nande verschleudert. Im Winter, wo alles Wasser gefriert und die Wände durchweg trocken sind, zeigen diese vom Wassir und von vegetabilischen Stoffen herrührenden Farbenüberzüge die größte Mannigfaltigkeit, und die Felsen haben dann da, wo sie Nach ihrer Farbe benannte Berge. 237 zwischen den Schnecmassen hervorragen, cin sehr buntes Farbenspiel. Namentlich kommt dann cin sehr zarter hell« blauer Ton sehr häufig zum Vorschein. Ich sah im Win« ter ganze Wände mit Blau überzogen, die im Sommer diesen Ton der Felsen am Erie «See incht hatten. Wie diese blauen Erie-Felsen, so haben auch hier und da in den Alpen einige Bergpartieen ihre Namen von der Farbe ihrer Fclömassen erhalten. So giebt, es z. B. mehre ,,Schwarzhörncr," „Finsterkogcl," „Schwarzkogel," — viele „Wcißensteins," „Weißberge," „Mont-Vlanc's," einen „Weiß-bcrgstock" (in Unterwaldcn), — einige „Graustöcke," „Graucn-steinc" lz. B. einen im Kanton Appcnzell). Auch die „grauen Alpen" sollen nach einigen Etymologen ihren Namen von der Farbe ihrer grauen Häupter haben. Dann giebt es zahllose „rothe Wände," „Nothhörner," „Rosenfteine," „Rosenberge," z. Ä. cmcn in Appenzell, einen „Monte Rosa." einen Vcrg „la Rosa" taufenden sie bearbeiten, schaffen an ihrer Zertrümmerung weiter fort, und wenn man diesem Schaffen zusieht und dann den Ocean vor Augen hat, dem die Ströme, mit dem Raube der Berge beladen, zueilen, so ist die Frage, wohin es endlich mit der Zertrümmerung hinaus will, leicht beantwortet. Alle diese Gebirge werden einst ausgeglichen sein und als geebnete Flußdelta-Länder an den Küsten der Meere liegen. Schon jetzt haben ftne scheinbar so schwachen Kräfte Einstmaliges gänzliches Verschwinden der Alpen. Zgj so Außerordentliches geleistet, und fast erschrickt man vor der Annahme der Wabrheit, daß dieß oder jenes ihr Werk sei. Dennoch aber dringt diese Wahrheit sich uuabweislich auf. Man sieht tiefe Furchen in die härtesten Felsen geschnitten. Ja ganze Thäler sind offenbar von den Luft- und Wasscr-strömen ausgeschwemmt worden. Vergebens aber müht sicb unser Geist, eine Rechnung von den Millionen von Jahren zu machen, die zu dieser Arbeit nöthig waren. Wir greifen in die gewaltigen Lufträume, die nun leer sind und die einst mit Stein und Fels gefüllt waren. Wir müssen das Factnm annehmen, so sehr wir uns anch sträuben; Luft uud Wasser, diese scheinbar leisesten aller wirkenden Kräfte, babcn diese Massen allmälig verschwinden lassen. Ganz gemach werden überall kleine, kaum sichtbare Theilchcn von den Felsen hinwegge» nommcn. — Hie und da, wenn du durch die Berge wandelst, hörst du wohl einen Stein hcrabschlagen. Vs klingt wie der Schall von Aexten. Es ist einer von jenen zahllosen Abschlägen, unter deren Gehämmer die Berge zusammensinken. Welche Sensationen erregt uns nicht ein solcher polternder Stein, der einen Weg herabsticg, welchen er sicher nie wieder aufwärts wandern wird. Sein Schall ist gleichsam ein Knarren in dem Räderwerke der Natur, ein Nnck des großen unermeßlichen Zeigers, der auf dem Ziffcrblattc der Weltuhr läuft, oder vielmehr schleicht. Und da steht dann der lauschende Mensch in der Mitte zwischen dem Anfangspunkte dieser Arbeit, welcher nach dem, was bereits geschehen ist, unendlich hoch in die Wolken der Vergangenheit hinaufragt, und zwischen dein Ondpunkte, welcher nach dem, was noch auSgeebnet werden muß, uuendlich fern in dem Nebel der Zukunft liegt. Und wir in der Mitte zwischen diesen Extremen hören nun von Minute zu Minute die Steine 252 Die an der Zertrümmerung d, Gebirge arbeitenden Gewalten. niederschlagen, die uns den unsäglich langsamen Fortgang dieses unermeßlichen Werks begreiflich machen. Nur von Jahrhundert zu Jahrhundert vernehmen wir von einem großen Bergsturz, den man bedeutend nennt, weil er eins unserer Dörfer zerschmetterte, der sich aber zum Ganzen verhält wie ein kleiner abgebröckelter Ziegel zum Babylonischen Thurmbau. Wenn man das, was man mit einem sehr allgemeinen und poetischen Ausdrucke den nagenden Zadn der Zeit nennt, specieller betrachtet nnd sich einen deutlicheu Begriff von allen Gewalten machen will, welche an der Zertrümmerung und Plamrung der Niesengebäude der Gebirge arbeiten, so kann man sie, glaube ich, sehr beqncm in zwei Classen bringen und die, welche von innen und unten bcr an dem Fundamente rütteln, unterscheiden von denen, die von außen her die Spitzen und die Oberfläche augreifeu. Uud man hat sie, glaube ich, alle der Neihe nach genannt, wenn man die Erdbeben, die unterirdischen Feuer, die chemischeu uud mccha« nischen Wirknngen der Luft uud dcr Gewässer, die elektrischen Entladungen oder Blitze, die Licht- und Temvcraturwcchsel, die Gletscher, die Vegetation und eudlich auch die Arbeiten der Menschen als solche Gewalten bezeichnet, Das Fundament dcr Alpen scheint in jetziger Zeit bis zu einer sehr großen Tiefe hinreichend erkaltet und consolidirt zu sein, und wenn früber hier große unterirdische Höhlen ein« stürzten, oder ansbrechendc Dampfe und Gase Berggipfel hinwegschleuderten, so ist jetzt cine weitherrschcuoc Nnhe in der Tiefe eingetreten, und die das Fundament unterminiren-den Kräfte siud kanm in Anschlag zu bringen. Erdbeben in den Alpen soll man allerdings seit der Zeit, daß man Erdbel'cn in im Nlpcn, Einwirkung des Lichts. 253 anfing, sie zu verzeichnen, schon mehre hundert beobachtet haben. Allein sie scheinen nur selten so starke Schwankungen nnd Erschüttcrnngcu veranlaßt zn haben, daß dabei Berge gespalten nnd Felsgipfel aus dein Gleichgewichte gebracht worden wären. Vtan hört hänfigcr bloß von einstürzenden Kirch-thürmcn, gespaltenen Gartenmauern und zusammenfallenden Schloßruinen. Doch sind allerdings im Lande Glarus sowohl, als auch in anderen besonders häufig erschütterten Al» pengegcnden zuweilen Felsen herab gerollt nnd Berge eingestürzt in Folge von Erdbeben. Vulkanische Explosionen finden nirgends mehr in den Alpen statt, und ereignen sich irgendwo Senkungen durch zusammenbrechende Höhlungen, so geben dazu mehr die von der Oberfläche eindringenden Gewässer, als die ans der Tiefe heranf dringenden Bewegungen die Veranlassung. Die abschleifende, nagende, seilende, splitternde Thätigkeit der oberflächlichen Agentien kann man kaum einzeln und getrennt betrachten, weil sie fast alle zugleich wirksam sind und sich gegenseitig helfen und unterstützen. Doch müssen wir unserer Entwickelung wegen diese Trennung uns erlauben. Am mindesten auffallend, um mit dem Unbedeutendsten zu beginn.'n, sind die Einwirkungen des Lichts. Doch zeigt uns die Dagucrreotypie, wenn es nicht schon die Veränderungen thäten, welche die bleichenden, färbenden, vielfach die Säfte zersetzenden Sonnenstrahlen in den thierischen und vegetabilischen Organismen hervorbringen, daß das Licht auch auf der Oberfläche fester Körper Zersetzungen hervorbringt. Es giebt bekanntlich einen Stein, der sich im Lichte aufzehrt, den die Sonnenstrahlen gleichsam aufsaugen. Wenn wir 254 Einwirkungen des Donners, der Temperaturveränderungen. nur Zeit genug geben wollten, so würden wohl die Lichtstrahlen auch ohne alle Beihilfe anderer Kräfte ganz allein im Stande sein, diese Alpengipfel, diese Sonnensäulen, wie die Alten sie nannten, zn zersetzen nnd aufzuzehren Nicht viel mehr als die Einwirkungen des Lichts fallen bei unserer Betrachtung ins Gewicht die Einwirkungen des Donnerkeils Jupiters, von dcffen Gewalt die alten Griechen so poetisch übertriebene Schilderungen machten, deffen Schlägen aber die Berge spotten. Der Donnerer hätte mit seiner Waffe wohl so lange wie Helios mit seinen Strahlen zu arbeiten, wenn er nüt diesem schwachen Instrumente die Bauten seines erderschütternden Bruders allmälig zu zerstören gedächte. In die tiefen ausgehöhlten Alpcnthäler kommen die Blitze fast nie herab. Die hoben Berge sind die Blitzableiter derselben, und unter diesen giebt es vermuthlich wieder einige, bei denen die Elektricität vorzugsweise gern aus- und einströmt. — Wir finden daher an manchen Felsgipfcln wirklich die Spnrcn elektrischer Bearbeitung. Wir entdecken Kuppeln, die von Blitzen allmälig geglättet, abgerundet und überglast zu sein scheinen. Hie und da mögen auch Felsenzacken gleich Bäumen pom Blitze gespalten und niedergeworfen worden sein. Auch der bloßcW echscl derTempcratnrverhältnisse mag wohl mechanische Veränderungen in den Bergen zu erzeugen fähig sein. Im Sommer, wo so viel Wärmestoff frei wird, wo die Felsen sich erhitzen und die Thäler erglühen, sind gewiß die Spannungsverhaltnifse der festen Massen ganz anders als im Winter, wo Alles von Kalte starrt und zusammengezogen wird. Die heftigen und schroffen Uebergänge aus der Hitze zur Kälte und umgekehrt lockern vermuthlich die Cohäsion der Felsen allmälig, wenn auch nur auf der Oberfläche, da diese Mechanische ssmwirflmgen dcr Luft. 255 Veränderungen nicht schr tief eindringen können, und befördern so die Zerstörung. ^ Hie nnd da mögen die Fel' sen, wen» sie von Wärme geschwängert nnd gleichsam aufgeschwollen sind, sich berühren und drängell, lind dann wieder, wenn sie in dcr Kälte abmagerten, auseinander fallen. Was die mechanischenWirkungen der Luft betrifft, so sind sie an und für sich, d. h. insofern sie nicht die chcmi-schen unterstützen, ebenfalls vermuthlich nicht sehr zcrstörungs-reich. AeoluS ist tapferer im Umstürzen der Büumc und in seinen Angriffen anf die kleinen Menschenwerke als da, wo es sich um das Niederreißen von Gebirgen bandelt. Vielleicht haben nur wenige solide Blöcke in Folge eines Sturmes ihr Gleichgewicht verloren. Mittelbar aber trägt er dadurch, daß er Lawinen oder Waldbrüche und in Folge dessen auch Stein- nnd Erdfälle veranlaßt, allerdings viel zur Zerstörung der Verge bei. Uud eben so ist er mittelbar thätig dadurch, daß er die Felsen fortwährend abstäubt und ihre vom Zahne der Zeit zernagte lind zermalmte Oberflächenkruste in die Thäler nnd Flüsse entführt und so demselben neue Schichten darbietet. Ohne abstänbmden Wind und ohne abspielendes Wasser würden die Berggipfel bald vor allem Fortschritt ihrer Zerstörung sicher sein, da dcr Schutt ihnen dann selbst als Schutzpanzer gegen neue Augriffe diente. Wir haben in den Aipen, wie auch in dem Himalaja und an« deren Gebirgen, morsche Felsgipfel, die der Wind auseinan« der jagt. Viel wirksamer sind nun die ch c m i sch en E lnwirknnge n der Luft. Könnte man die Berge einbalsamiren und wie Mumien hermetisch verpackcu, so würden sie, wie die alten ägyptischen Könige, sich noch den spätesten Erdengeschlechtern Mh Chemische <5iuwiriungen der ?üft. mit derselben Physiognomie zeigen, wie uns Frühgeborenen. So aber, allen Winden und Luftzügen exponirt, verwittern sie allmälig, wie die Pfeiler unserer Brücken und Häuser. Die Luft, als das elastischeste und feinste aller Elemente, daS überall eindringt und die geringsten Poren benutzt, ist dabei vielleicht fast so thätig wie das Waffer. Sie strömt und wirkt in allen Höhlen, Rissen und Fugen und übt ihren Ginfluß bis in das innerste Mark der Grundfesten der Berge. Elektrische Wärme und Dunstausströmungcn vermittelt sie überall, und da sie selbst beständig ihre Zusammensetzungs-weise verändert uud von den Steinen bald dieses, bald jenes verlangt, bald ihnen dieses, bald ienes zurückgiebt, so fati-gnirt sie so zu sagen dadurch ihre (sohäsionskräfte und läßt sie sich lösen. Ost findet der Reisende auf den Berggipfeln große Felsblöcke, die ev ihrem Acußern nach für festes Gestein hält. Unter den Stößen des Alpenstocks aber zerfallen sie in Staub wie Leichname, welche nur noch ihre ehemalige Form, aber nicht ihre Festigkeit beibehielten. Manche Fclsartcn und Berge werden leichter von der Luft zersetzt, z.B. Thonschiefer, und man findet daher Gipfel, welche in einem rascheren Zusammensinken und Verfall begriffen sind als andere. Solche schnell sich auflösende und gleichsam verfaulende Berge haben die Alpenbewohncr dann wohl mit dem Namen Faulhörner bezeichnet. Im Grunde aber ist die ganze Alpenkette eine Reihe von Faulhörnern. Kräftiger, thätiger und energischer als alle anderen steinabschleifenden nnd felsenzertrümmernden Naturgewalten zeigt sich das Wasser, das sowohl durch seine auflösenden als durch seine mechanischen Eigenschaften zerstörend einwirkt. Heftige und plötzliche Wirkungen des Wassers. 357 Ganze Oceane twn Fluthcn, in kleinere gewichtig nie» Verschlagende Massen, in heftig auffallende Tropfen, in gleichförmig schießende Strahlen, in brausende Ergüsse aller Art zerspalten, sanken im 5/aufe der Zeiten auf die Alpengipfel herab nnd uuterwufchen beständig in nie rastender Geschäftigkeit ihr Gebäu. Durch Höhlungen aller Größe eindringend, sammeln sie sich iu der Tiefe, nnd die Souterrains durchflutheud, nagen sie überall an dem Fundamente, das hie und da weicht, und dessen Einstürze dann die Oberfläche folgt. Indem sie ganze poröse Erdschichten tränten, verwandeln sie sie in eine weiche, schlüpfrige Substanz, die dann der Schwere nachgiebt und in den sogenannten Erdschlipfen oder Schlammlawinen, Schlammftrvmen, Kothläncn in die Tiefe fällt. Zahllose Felsblöcke, ganze Wiesenftrichc und Bcrggclande werden dabei mit fortgeführt. Eö qiebt Höhen, die von sehr lockerem Material gcbant sind, und die nur so lange ibre ^age behalten, als der schwache Kitt, welcher sie zusannueuhält, trocken bleibt. Er« füllen nun lange anhaltende Negen die Eingeweide solcher Höhen mit Feuchtigkeit, so löst sich der Kitt, die Wildbäche schleifen einzelne Stützen, welche bisher noch das Zusammen» brechen hemmten, hinweg, und es entstehen dann, indem der ganze Berg so zu sagen auseinander schmilzt, die furchtbaren Bergstürze, die zuweilen viele Millioucu Kubittlaftern von Material hcrabbringeu und ganze Erdstriche in eine traurige Wüstenei verwandeln. Diese Wirkungen des Wassers sind heftig nnd ^plötzlich. Aber auch durch seine leisen und allmäligen Abschlcifuugen bringt es im Laufe der Jahrhunderte großartige und staunen-erregende Effecte hervor. Alle Felsluppen rundet der Regeu ««hl, AlpenrciM. lll. 47 258 Wirkungen von Schnee und Ms, der Lawinen. nach und nach ab. Große Nischen, Locher, Höhlen und Wölbungen von maniügfaltiger Gestalt waschen die Bäche im härtesten Gestein aus. Tiefe Kanäle und Schluchten bohren sie durch entgegenstehende Dämme. Ja ganze Thaler haben sie ausgeschwemmt und die Flanken ganzer Bcrgko-loffe pyramidalisch bearbeitet. Auch in seiner starren Gestalt als Schnee und Eis ist das Wasser den Bergen verderblich. Die zahllosen Gletscher, indem sie sich mit unermeßlich lastendem Gewichte in ihren Betten hinabbewegen, arbeiten gleich ebenso vielen gewaltigen Reiben in den Schluchten der Gebirge, stoßen Felscnspitzen ab, zerbröckeln die Steine, ans denen sie rollen, feilen die Thäler auö uud übergeben alljährlich eine gwßc Masse Bergmaterials den Strömen, die aus ihnen hervorsprudeln. Ebenso lassen die donnernden Lawinen die Erde in ihren Grundfesten erzittern. In ihrem oft wiederholten Anlaufe gegen die Felsen machen sie sie endlich wackelig nud bringen sie zum Sturze, sie reißen die Wicsengründc auf, fegen alles Geröll aus den Schluchten, die sie durchstreifen, theilen Blöcken, welche Jahrhunderte lang stillschlummernd da lagen, die geflügelte Eile der Pfeile mit, und oft kommen einzelne von ihnen mit so viel Banschutt, Schmuz und Trümmern beladen nnten an, daß eine Stadt genug hätte, ihre Wälle und Mauern daraus zu erbauen. Wie indeß im Staate nnd überall im Natur- und Men« schenleben die Summe der kleinen, oft unbemerkten Kräfte wichtiger ist als die derjenigen, welche lant und übermächtig in ZtemabsprenssMMii durcl, kleiiis «iskeils. Zzg dir Erscheinung treten, so ist es auch hiev wieder. Alle jene großen kolossalen (Netscher-Feilen und Reiben und alle diese gleich riesenhaften Meißeln stoßenden Lawinen bringen nicht so viel Material herab, M die zabllosen kleinen l> is keile, welche sich jeden Winter in die Ritzen und Fugen der Felsen sehen und dieselben, indem sie sich leise, aber nnn'idersteblich dehne», vergrößern nnd sprengen. Die Herbstregen füllen jeden Riß nnd jede kleine Höhlung mit Wasser-, der Winter läßt es gefrieren. Die so entstan» denen Keile weiten die Risse, halten sie aber auch zugleich, da sie ankleben, znsamme», Im Frühling aber, der sie hin-wegninnnt und alles kittende l5is löset, fällt der gespaltene Stein auseinander. Und in dieser Jahreszeit entladen sich dann die Berge vorzugsweise des im Winter losgebrochenen Materials. Es rollt nnd splittert dann von allen Abhängen. Alle Wege werden gcfabrlich, denn gleich den unverhofften Kngcln des versteckten Banditen sausen di? Steinsplitter auf den Wanderer herab, Wer im ersten Frnbjabv beim Beginn der Tchnecschmelze einige Alpcnthalev durchwandert I,at, wird das Bild nicht übertrieben finden, wenn ich sage, daß um diese Zeit alle Thäler von allen Bergen ans bombardirt werden und sich gleichsam im Belagernngsz» stände befinden. Weil das Wasser auf den Bergen ein allverbreitetes nud dabei energisches Element ist, so bringt es nicht bloß das, was es selber losarbeitete, sondern mich alles andere Material, welches sonst irgend wie gelockert wurde, in die Tieft hinab. Was die Blitze an einigen Gipfeln zerschmetterten, was 17* 250 Die Abzugskcmäle des Bergkehrichts. Die Saxisragen. die Lüfte zersetzten und an Ort und Stelle liegen ließen, was sonst der Temperaturwechsel lockerte und verwittern machte, das ergreift das geschäftige Wasser und fördert es weiter. Den Strömen übergeben die Lawinen, was sie herunterrissen, die Gletscher, was sie herabtrugcu, und die Fluthen schieben es weiter. Die Flußbetten werden daher auf diese Ncise die Abzugskanäle für ^llc Gattungen des Bergkehrichts, auch für den, welchen die Pflanzen erzeugen, und dem wir ietzt unsere Aufmerksamkeit zuwenden wollen. Es giebt bekanntlich eine ganze Klasse von Pflanzen, welche man Steinbrecher (Eaxiftagen) nennt. Es sind dieß kleine Gewächse, welche mit zähen Wnrzeln sich an die Oberstäche der Steine anheften und in die kleinen Ritzen eindringen, und die so allmälig das zarte Gewebe der Felsen mürbe zu machen und zu zerbröckeln im Stande sind. Im Grunde haben aber mehr oder weniger alle Pflanzen, selbst die großen Bäume dieselbe Kraft. Man könnte daher sie alle in größerem oder geringerem Grade als Saxi« fragen bezeichnen uud die Hochalpen als mit einem steinfressenden Manzengcwandc bekleidet betrachten, in dem sie stecken, und unter dem sie leiden, wie die Glieder des Hercules unter dem zehrenden Gewände der Dcjanira. Zahllose Arten kleiner Moose dringen bis zu den höchsten kahlen Spitzen der Berge hinanf. Hier überziehen sie die Felsen, nnd indem sie Jahrhunderte lang mit ihren grabenden, klammernden, saugenden Wurzeln darüber hinlaufe», verfaulen, abfallen und immer wiederkommen, tragen sie zur Wcgschleifung der Ecken nnd zur Zermürbung des Gesteins vermuthlich eben so viel bei als Wasser und Lust. Gebirgezerstörender Einfluß der Pflanzen. 26^ Wie sie schlagen auch mächtige Baume, Buchen, Eichen und Tannen, ibre Wurzeln iu die Spalten der Felsen, die sie wachsend und drängend erweitern und von der Hauptmasse losen. Oft sieht man Bäume, die mit ihren Wurzeln einzelne lockere Felsenspitzen umarmten und so mit ihrem ganzen Wüchse verwebten, daß sie dieselben vom Urfelsen trennten und nun gleichsam frei in den Armen halten. Ueberall stößt man auf Bäume, deren Wurzeln, als wären sie steinfressendc Schlangen, an den Felsen saugen, in ihre Spalten mit Gewalt eindringen und sie gewaltig um» schlingen. Sie scheinen RKsen zu sein, welche mit den Kindern Vulkans ringen. Nicht selten, wenn Aeolus, der ihre Wipfel gewaltsam schaukelt, sie unterstützt, gelingt es ihnen, der Gäa ein Kind zn entfuhren, und man sieht sie wohl mit einem verwachsenen Felsblock in den Armen in die Tiefe stürzen, Oft lassen sie die Steine erst fallen, nachdem ihre eigene Kraft gelöst ist. Aus der verfaulenden Wurzel rollt eines Tages der getrennte Block bergab. Wenn mau bedenkt, wie zahllose Schaaren vielwurzeliger Riesen» uud Zwergpflanzen beständig aus den Thälern zn den Gipfeln der Berge so zn sagen cmporstürmen, so kann man auch ihren gebirgezerstörenden Ginstuß nicht gering anschlagen. Doch darf man hiebei nicht übersehen, daß die Pflanzendecke auf eine andere Weise auch wieder conservirend, ja sog.n- vermehrend auf die Mafsc der Berge einwirkt, indem sie theils die Oberfläche der Berge bedeckt und vor den Angriffen der Luft und des Wassers schützt, theils durch ihren eigenen Etaub, den sie dem Fclsentrümmer beifügt, sogar noch die Masse vermehrt, Aus der Luft und dem Wasser ziehen die Pflanzen be« Hsi2 DieNil^amlcil dcv Menschen l'ci del ^crtrummeriln^ delAlpni. ständig Stoffe an, nnd sie sind gleichsam als zu Holz metamor-ptn'sirtc consolidirtc ^uft^ und Wassergebilde zu betrachten, die auf diese Weise aus dcu flüssigen Materien beständig feste Stoffe für die Berge heranziehen. Auch der Mensch endlich, seitdem er in die (Gebirge eingedrungen ist, hat mehrfach au der Beschleunigung des Zerfalls derselben gearbeitet. Und obwobl seine ganze Wirksamkeit in dieser Bezieduug nur als Pygmaenarbcit erscheint, so ist sie doch nicht unwichtig, wenn wir ihr nur eben so wie k>er Arbeit der Regentropfen eine hinlängliche Perspective von Zeit geben wollen. Seit Hannibal auf babuloseu Wegen über die Alpen ging, baben die straßenbauenden Römer und nach ihnen in ununterbrochener Reibe die von ihnen civilisirten Bergvölker, mit Brecheisen, Meißel, Hacke und Sprengpnlver die Thäler durchziehend, nicht aufgebort, Gipfel zu ebneu, rauhe Felsköpfc zu bahnen und Höhleu zu bohren, Es wurdeu banale gegrabeu, danut die Flüsse dae Oe« trüunuer d^' Gebirge desto schneller abfübrcn möchteil. Die Wälder wurden gelichtet, die Pflanzendecke ward vielfach auf» gerissen und zerstört, und auch so neuen Angriffen des Wassers und der ^nft auf die Tteine Vorschub geleistet. Ueberall auch werden Steine sorgfältig von den Wiesen und Aeckern zusammengelesen uud den Stromgötteru zur Weiterbeförderung übergeben. Könnte man Alles, was der Mensck in den Alpen jährlich losbricht und auskehrt, zusammcnsummiren, so möchte anck dadurch ein ziemlicher Ballen entstehen. Aus der Bergzertrümmenmg entspringende Scenen. ^^ Uebersieht man nun die stanze Thätigkeit aller dieser bergzerstörenden Elemente im Großen, so kann man sagen, daß sich ans den lwcksten von den Blitzen zerschmetterten, von den Moosen zernagten, von den Winden abgestäubten, von den Gewässern zerrissenen, von den Gletschern polirten, von den Eiökeilen zertrümmerten nnd zerklüfteten Felsgräten herab in allen Schluchten, Rinnsalen, Strombetten und Thälern ein unsäglich reichhaltiges und unerschöpfliches Getümmel von Trümmern in unmüerbrochener Wandernng hcrabdrängt. Die höchst verschiedenartige Zusammcnwürscluug nnd Anfblockung dieses Gctri'umners giebt zn der Entstehung der mannigfaltigsten Scenen Veranlassung, welche dem Naturforscher, dem Maler, dem ästhetisnendcn Vergreisenden, so wie auch selbst dem Nationalökonom vielfache Gelegenheit zn Genüssen, künstlerischen Werken und Beobachtungen geben. Wollen wir die aus dem besagten Verhältniß entspring' enden Scenen und Schauspiele auffassen und an unserem Geiste vorübergehen lassen, so können wir als die hauptsächlichsten und markirtesten etwa folgende bezeichnen: zerfallende und verwitternde Fclskövfe, ^ hochgelegene Trnmmerwüste-neien, — die Moränen der Gletscher, - Schutthalden, — Trünnuerströme, — große Bergstürze, — die Betten der Vergftüssc. Ich will es versuchen, die ästhetische Seite dieser mannigfaltigen Scenen der Ncihe nach darzustellen. Wenn man auf mühseligen Wegen in den mit Steinblöcken gefüllten Klüften der Berge sich höher und höher emporhebt, so kommt man fast überall am Ende zu irgend einem zerfallenden Gipfel, welcher die eigentliche Quelle dieses Trümmercrgusseö bildet. Bei kleinen Ergüssen ist es eine aus dem Walde oder aus der Gletschermassc hervorragende Lyz Die Quellen der Triimmerergiisfe. Tnimmenviistencien. sselsspitze oder schroffe Wand, welche absplittert und von welcher gleichsam wie die feindlichen Kugeln von einer Verschanzung die Blöcke ausgehen, — bei großen Ergüssen ge» langt man in noch höheren Regionen zn ganzen verwitternden Fclssvitzen nnd vielfach zerklüfteten Gräten und Wänden. Hier tritt man in die wahre Werfstätte des nagenden Zahnes der Zeit, und man erblickt da nackte Ruinen, aus-gefressene Gemäuer, über den Haufen gestürzte Pyramiden, gegen welche die Ruinen von Palmyra nnd Theben, nnd wo sonst »och die Barbaren Paläste zerstört haben mögen, wahre Kinderspiele sind. Mit vielfach verwundeten Armen greift Gäa znm Him« melsgewölbe empor, alö flehte sie um Gnade unter den Schlägen des unbarmherzigen Gottes. Gleich den Niobiden stehen die verstümmelten Felsen umher, von ewigen Stürmen gepcischt, von den mächtigen Pfeilen Apollos getroffen. Mau glaubt die von den Geiern gefressenen Glieder des Prometheus zu sehen. Jene kleinen sich eindrängenden Eisteile, die Nebel nnd Regentropfen sind die Thierchen, welche seinen Riesenleib zernagen. Ganze unabsehbare Felswüsten giebt es in diesen Regionen, von denen daun ^ gleich wie die Gletscherströme von den hohen Schncefelderu — Geröllströmc sich nach allen Seiten hin in die Tieft ergießen. Von dem niedrig herabhangenden Schleier der Wolken überstreift, gewähren sie den Anblick einer trostlosen Wüste, und die Seele fühlt sich von melancholischem Schauer nnd Entsetzen ergriffen. Ost sind es weitgedehnte Abhänge, die mit Millionen von Blöcken, als hätte es Felsen geregnet, bedeckt sind. Und Tlnmmennnqebenc Hochalpensecen. l, M'cm'enc». ll!, jH 27t Lange Vorbereitungen, plötzliche Ausbriiche. Die Natur ist langsam in allen ihren Vorbereitungen zn den schrecklichen Phänomenen, die sie uns schickt, -— selbst die Gewitter, die sich über unseren Häuptern sammeln, haben weitreichende Ursachen und Veranlassungen — dagegen ist sie oft wild uud plötzlich in den schlüßlichen Auöbrüchen der lange verhaltenen Wuth. Wenn alle Strebepfeiler allmälig unterspült, alle Spalten und Klüfte hinreichend geweitet, die Unterlagen voll« kommen zerwittcrt sind, dann gehört nur ein geringer Anlaß, oft nur ein mehrtägiger Regen dazn, um das Ganze zusammenstürzen zu lassen. Die lockeren Massen schwängern sich dann mit Wasser und bekommen das Uebergewicht, die Unter» lagen werden schlüpfrig und die letzten Säulen von den Regenbächen weggespült. Die Hirten und Jäger melden dann schon den Tag zuvor ins Thal hinab, daß sich bedenkliche Spalten an dem Berge geöffnet, daß einzelne Steine auf unerklärliche Weise sich in Bewegung gesetzt, und daß sie unterirdisches Donner« gerausch, als stürze die Erde in sich selber zusammen, vernommen hätten. Die Thalbewohncr trösten sich wohl mit der Hoffnung, daß sich noch ein Mal Alles wieder beruhigen werde, daß die Felsen noch ein Mal wieder für einige Iahrzehendc sich festsetzen und erst ihre späteren Nachkommen treffen werden. Allein nun ist endlich die Zeit gekommen. Sie sind selber die Auserwähltcn, die unter Trümmern und Grus zu Grunde gehen sollen. Anderen Tages fängt es allseitig an zu krachen und zu brausen. Die Sonne und der Himmel werden ersäuft in Dunst und Stanb. Die Erde erbebt, kehA das Unterste zn oberst, und die kleine Welt der Thalschaft versinkt in den Schooß der Urmutter Gäa. Berqsturz-Pbänoment. 275 Da natürlick kein Beobachter sick in die Nähe eines solchen Phänomens herbeiwagcn kann, so wissen wir zwar nicht genau, wie es dabei herzugehen pflegt, doch lehrt der Anblick der später zur Rübe gekommenen Massen Folgendes. Da alle Felsarten ohnedieß voll Haue auö von einer Menge Spalten zerklüftet sind, nnd da aucd keine Fclsart eine so zähe Cohäsion hat, daß sie einen langen Abhang herunter rollen könnte, ohne unterwegs in Trümmer zu zerfallen, so ist ein einziges großes und ganzem Bcrgstück, das sich gleich der abgesunkenen Hälfte des sogenannten gesprengten Thurmes auf dem Heidelberger Schlosse inö Thal gelassen hätte, <^twas, was in den Gebirgen gar nicht vorkommt. Der Hauptsache nach sehen die sogenannten Bergstürze in den Alpen nicht anders alls als vergrößerte Trümmer-und Gfröllstr ö me, Von dem Gipfel, wo der Berg abbrach, sieht mail einen mii Trümmern bedeckten Streifen, der an Breite zunimmt, inö Thal sich l inabziehl'ü. Nur sind dann viele Tausende von diesen Blöcken so hoch und laug wie Häuser, nnd unten ist der Streifen oft eine Stnnde breit. Da der ganze Marsch ans dem AbHange herunter zu» weilen zwei Stunden Weges betrug, so kann man sich denken, daß bei dem Zersplittern und gegenseitigen Anstoßen der Steine eine bedeutende Mengc von Wärme nnd Fcner ent» wickelt werden mußte. Funken und Flammen schlagen überall hervor, und fallen solche Ereignisse m die Nacht, so glaubt man einen leuchtenden Lavastrom zu sehen, Am Tage gewähreil denselben Anblick der auswirbelnde Felsstaub und der Ranch von den verbrannten Gestrüppen und Sträuchern. Im Ganzen liegt danu in einem solchen Bergbruche 18* 37ft Weit weggeschlenderte Felsblöcke. Block an Block. An den Seiten sind sie vereinzelter gesäet, in der Mitte dichter. — Hie und da aber scheinen die Massen sich überschlagen oder unregelmäßige Sätze gemacht zu haben. Denn mitten in dieser Wüste trifft man auf kleine flache Oasen, die ebene grünende Wiesen zeigen, auf denen uralte unversehrte Bäume wurzeln, und die keiner der Blöcke berührte, indem sie alle in Masse und mit hohen Sprüngen darüber hinwegsetzten. Zuweilen entziehen sich die Ursachen solcher Bewegungen aller Berechnung. Einzelne spitze Felsen werden dann in diesem Gedränge da, wo besondere Umstände zusammentrafen, zuweilen von solcher Wuth beflügelt, daß sie weit zur Seite hinausspringen nnd irgendwo in einer Wiese des Thalgrnndes gleich Pfeilern in den Boden fahren. Man sieht sie da noch jetzt mitten im Blumenteppiche stecken. Die Hirten und Ziegen finden nun Ruhe und Schutz im Schatten dieser einst so gefährlichen Geschütze. Es giebt einige solcher in den Thalgrnnd gleich umgekehrten Thürmen eingebohrten Felsen, die bei den Malern berühmt sind und ihnen schon zu manchem hübschen Farbengedicht Gelegenheit gegeben haben. Es kann in der Natur nirgend eine Störung eintreten, ohne daß dadurch auch andere entfernte Zustände affi-cirt werden. Es geht daher fast überall so wie bei einem Lawinen-Unglück, wo der Regen eine Masse Schnee, der Schnee einen Felsblock, der Felsblock einen Baum znm Sturze brachte, nnd dieser Baum endlich einen armen Wanderer erschlug. Die in zweiter Linie auftretenden Phänomene sind meist eben so schlimm wie das Hauptereigniß selbst. So bei den Bergstürzen die Schlammergüsse und Ueberschwemmun- Überschwemmungen d, gewöhnlichen Begleiter der Bergstürze. 277 gen. Die vom Regen erweichten Erdschichten werden dabei aufgerissen und strömen, mit den Wildbächen vermischt, eine breite Schlammmasse, über die Alpen und Berggelände hin. Zuweilen stockten solche Schlammassen wohl wieder an freien Plätzen zwischen den ummauernden Blöcken. Ein aus seinem Bette geschleuderter Bacharm verlor sich mit seinen Gewässern darin, und so entstanden dann Sümpft, wie man sie säst bei allen Resten von Bergstürzen ge-wahrt. In der Tiefe trifft die Trümmermasse gewöhnlich auf irgend einen See oder Fluß, den sie zum Theil ausfüllt und aufstaut. Und weitgrcifende Überschwemmungen sind daher die gewöhnlichen Begleiter der Bergstürze. Flüsse werden in tiefe Wasserbecken verwandelt, diese arbeiten sich allwalia, wieder einen Durchweg durch den verschütteten Trümmerdamm und richten dann noch oft gräßliche Verwüstungen in den unteren Thälern an. So haben sich denn zuweilen soche Bergstürze auf langen Strecken viele Meilen weit unterwlb fühlbar gemacht. Fiel die ganze Schuttmasse auf einmal in einen See, so wurde dieser in gewaltige Aufregung versetzt. Gin haushoher Flnthberg erhob sich, wanderte mit entsetzlicher Geschwindigkeit auf der Oberfläche des Wassers hin und zerstörte, an den Ufern zerplatzend, ganze Dorfschaften und Städte. Sowohl bei dem Goldaucr Bergsturze, als bei dem, welcher zur Zeit der Römer im Genfersee statthatte, kam dieß vor. Die von den Bergen verschütteten Gegenden werden alls unabsehbare Zeit der Einwirkung und Cultur des Menschen entzogen. Aber nach uud nach werden doch "278 Wieder aufbaute und besiedelte Bergstürze. wieder Gesäme herbeigeführt. Es grünt und sproßt in den engen Ränmen zwischen den Blöcken. Und die Ziegen deS Pan mögen nun da allmälig dürftige Nahrung finden, wo sonst keres ihre Mysterien feierte. Hie und da faßt ein Bäumeheu Wurzel, und mitten in dem Grans wagt es wohl ein Kirsch- oder Pflaumen stämmchen mit bellem Blütbenange in die Wildniß binausznschauen, So mag es geschehen, daß mit der Zeit sich doch die Zwischenräume wieder füllen, daß sich eine ebene Vrddecke über den Köpfen der Felsen herstellt, und daß dann neue Ansiedler sich über den Gräbern der alten anbauen, wie bei Hercnlanum nnd Pompeji. So steht ein Theil vcu M-ran in Tirol auf dem Grabe dc^ untergegangenen Majas der Römer. So giebt es bei Chiavenna im Gebiete des Comersees eine höchst merkwürdige Vlockmaffe, die wahrscheinlich auch von einem längst vergessenen Bergstürze herrührt und schon vielfach wieder verwischt ist. u dem heftigen Winter vom Jahre 17tli spalteten hie und da ganze Tafeln von Granitfelscn dergestalt auseinander, daß man nicht mehr anf den sonst ge' Die Perioden der Verwitterung, MI wohnten Wegen von einem Theile deS Gebirges zum anderen gelangen konnte. Viele Krystallhöhlen öffneten sich in diesem Jahre, nnd zahllose Thalgeländc wurden verschüttet. Die Gletscher wuchsen bedeutend nnd entführten ihre Gerölllasten rascher. Wie Alles in den Alpen, so mag daber auch die Verwitterung ihre Perioden haben. Im Ganzen aber läßt sich beweisen, daß sie Anfangs langsam, darauf immer zunehmend schneller bis zn einem gewissen Maximum der Schnelligkeit vorgehen mußte, daß sie dann aber wieder an Energie abnehmen, immer langsamer und schwächer in ihren Wirkungen werden wird. Bei den Anfangs mehr zusammenhängenden nnd geschlossenen Massen, welche die emporgetne-bcnen oder niedergeschlagenen Materien bildeten, mnßte natürlich der Angriff der Naturkräftc schwieriger sein. Hatten sie sich aber erst einmal eingcfressen, kleine Spalten, Nisse, Klüfte nnd Zacken gebildet, so war es dann leichter, diese zu vergrößern und zn vervielfältigen und das schon Zerkleinte noch mehr zn zerpochen. Vielleicht befinden wir uns gerade jetzt in der Periode des raschesten Zerfalls. Je mehr die kadlen hochragenden Gipfel beseitigt sein werden, je tiefer der nagende Zahn der Zeit zn den dickeren nnd breiteren Grundlagen der Berge bcrabkommen wird, desto langsamer wird er arbeiten. Die Gewässer nnd Winde werden dann minder heftig sein, die Gletscher nnd Schncemassen als zerstörende Agentien in den berabgeschmolzencn Höhen zn wirken völlig anfhören, die Pflanzendecke wird mächtiger nnd schützender werden, nnd in der ganzen Alpenkette die Ruhe und Unbcwcgüchkeit eintre« ten, die wir jetzt in unseren unzerstörbaren Rasen- und Wald» Hügeln beobachten. H96 Blick in die ^üliinft dcv Alpen. Wenn die Hochalpen dereinst, stets zerfallend, unter dem fressenden Odem der Winde, nnter den Keulen, Nei-ben, Meißeln nud Sassen dcö (5ises, unter den schleifenden Wellen der Nymphen, zn einem solchen anmnthigen Hü-gellandc herabgesunkcn sein werden, dann erst werden jene schrecklichen Bergstürze, jene FelMockergüsse nnd Steinströme, jene Erdschlipfe und Nicheten, jene Murren nnd Rüffenen, jene Flur- und Waldzerstörungen, dann wird dieser ganze Krieg, den die felsenschlendernden Giganten noch heutiges Tages immer mit den Menschen und den freundlichen Göttern der Ackcrftur fortführen, vollständig aufhören, „Dann tehret zurück der Friede dem Weltall." Die Mythen der Alpen. Mit Recht bemerkt Humboldt in seinem Kosmos, daß bei der Entwcrfung eines Gemäldes d^ Weltbaues arch die Betrachtung der Weise, wie die Natur von den verschiedenen Völkern aufgefaßt wurde, sehr lehrreich und bedeutungsvoll sei. Und er fügt daher dem genannten Werke auch eine Abhandlung über den Natursinn bei alten und mnen Na-nonen nnd eine Geschichte der Weltanschauung hinzu. Auch dem Natnrgcmälde der Alpen winde eine sehr wesentliche Licht' nnd Farbenauelle entzogen werden, wenn wir nicht zeigten, wie dieses Bild sick iu dem Tinne und Oeiste der sie bewohnenden Bergvölker abspiegelte, auf welche Weise es ihre Phantasie erregt und in Bewegung geseht habe. Die Theile dieses rcftcctirten Bildes studirend gleich Malern, welche eine Naturlandschaft aus dem Metattspiegcl coviren, — werden wir vermuthlich auch manchen feinen Zug des Originales selber erkennen. Durch dieselben Naturge-dcimnisse und Wnnder, die den simplen Bergbewohner mit Fnrcht oder Ehrfnrcht, mit Staunen oder Aberglanben erfüllen, werden anch wir forschenden Naturfreunde zu Unter- 298 Mptben u. Tagen durch Naturphänomene bervorgernfen. suchungen und Entdeckungen geführt. Ueberall, wo daS Naturkind anbetetet, da schwärmt und schwelgt in seinen Gefühlen oder malt, stndirt, schafft der gebildete Naturästhetiker. Das Volk wurde durch die Eindrücke, welche es von der Natur cmpsing, theils zu einer Menge anmuthiger Dichtungen, zu Liedern, in welchen es heitere oder erhabene Na-turphänomenc besingt, theils zur Grsinnung vieler bedcntuugö' voller und poetischer Mythen und Sagen veranlaßt. Vielfach können wir diese Sagen, diese Mytben, diese dichterischen Anschauungen des Volkes gleichsam als Wünschelruthe zur Entdeckung der Natnrschönhciten benutzen. Indem wir es unö vorbehalten, in einer anderen Abhandlung zu zeigen, wie in den biedern, der Gesangweise, der Musik der Alpenvölkcr sich ein l, '.'llpciü'ciscn, l!I. ^0 306 Der reiche poetische Stoff der Alpen unbemcht geblieben. geschrieben stand, denn als das Centrum, das Herz und den Anfangspunkt europäischen Lebens betrachtet zn haben. Ihr glückseliger Saturnns batte sein Reich in dem Sabincrgebirge, und alle ihre Faunen, Pomoncn und sonstigen Thal-, Wald-und Berggötter treten aus den Thalern und von den Gipfeln der Apenninen hervor, und erst später, von den auswandernden Etruskern gefördert und von einigen römischen Dichtern, die sich am Fuße der Alpen niederließen, verlockt, wagten sie auch an diesen nördlichen Bergabhängen Gefallen zn finden. Sogar der Heerd der nordischen Mythologie Enropa's findet sich nicht in den Alpen, sondern in den skandinavischen Granitbergen, ans deren Höhen, die weit schöneren Alpen verschmähend, Thor und Odin hausen. Ich weiß nicht, muß man auck voll den 6l>l, ^ul lala," oder liegt etwas in der Natur der Alpen selbst, was die Phantasie der sie bewohnenden Völker lahmte, oder war diese Phantasie von Haus aus minder schöpferisch als die der poetischen Hellenen, Italer und Odins-Mannen, — kurz die Alpen kommen mir vor wie eine ungeheuere Anhäufung großer Quantitäten poetischen Stoffs, der todt und unbenutzt liegen geblieben ist, da er hingegen von reger Phantasie und Dichtergabe wie von magischen Zauberstäben mannigfaltig hatte belebt und ausgebeutet werden können. Verehrten nicht mehre alte Völker manche große Steinblöcke bloß wegen ihrer ungewöhnlichen Lage, manche Felsen bloß ihrer außerordentlichen Gestalt wegen. Welche zahllose Gelegenheiten wären solchen Naturverehrern da nickt in den 3teimullus der Alten. Z^)7 alls so vielfache Art sitnirten und gestalteten Blöcken und Felsen der Alpen gegeben gewesen. Brachten nicht andere Völker Tteine, die ihnen ihrer auffallenden Farbe wegen merkwürdig und am Ende heilig wurden, in ihre Tempel und fabelten Wunderdinge von ihnen? Wurden nicht an jcden Aerolithen, ja an alle die verschiedenen Belemniten, kchiniten und Turmaliten besondere Sagen und Erzählungen geknüpft? Ließen nicht die Perser ans dem Feuersteine, weil er ein wunderbarer Qnell des Lichts nnd der Flamme zn sein schien, Götter hervorgehen? Wie ist nicht die Phantasie aller südlichen und orientalischen Völker von dem reizenden Lichte der gefärbten Edelsteine bethört nnd insvirirt worden. Haben sie nickt so zu sagen einen Gott in jedem dieser Edelsteine erblickt? Haben sie nicht tausend anmnthige Mythen und Märchen von den Berg-Prinzessinnen, ihren Schatzkammern und Geschmeiden erfunden? Hat nicht jede Pretiose ihre Bedeutung, ihre Zan» verkraft, ihre Heiligen, ihren Monat im Jahre, ilnen Stern am Himmel erhalten? Nun in den Alpen giebt es ganze Bergwände, die mit Granaten und anderen hübsch gefärbten Steinen gespickt sind. Ametlwst- nnd Fluß' und Schwer-spath-Adern durchziehen zahllose Berge. Aber diese rothgefärbten Adern, in denen die Griechen die Arterien eines vom Jupiter gebannten Enceladuö oder Polybotes erblickt tiatten, haben diese Alpenbewohncr ganz nnangeregt gelassen. Die berühmten Höhlen, welche mit dem klaren Berg» trystall gefüllt sind, wie die Schatzkammern eines Königs, sind den Alpen ganz eigenthümlich. Diese Krystalle sitzen seit der Zeit der Schöpfung da und sind noch beutiges Tages so makellos und glatt, daß Ialntausende sie nicht mit dem leisesten Anliauck von Rost trüben konnten. Zie wett« 20* 308 In den Alpen keine Steinmetamorphosen. eifern mit dem kastalischen Quelle an Reinheit und Klarheit und erscheine« dem Geiste als die schönsten Symbole ungestörter, unveränderlicher Festigkeit und heiterer Selbstzufriedenheit, welche die Erde erzeugte. Diese uncrregbarcn Gebirgsbewohner fragt aber ein reisender Dichter vergebens, welcher Fccenkönigin Besitzthum diese Geschmeide gewesen, wie ihr Schatzmeister geheißen, bei welchen Zanberfesten sie gedient haben, welche Künstler sie so schön geschliffen und bis auf die heutige Stunde, täglich sie putzend, bei solchem Glänze erhalten. Die Hellenen, die auch für den sonnengelben Bernstein die hübsche Sage von den Thränen der ihren Bruder beweinenden Heliaden erfanden, hätten über dieß Alles gewiß genügende Antwort gegeben. Niemand kann läugncn, daß die zahllosen Steinblöcke, welche die Naturgcwalten von den Gebirgen reißeu, fast wie gliederlose Rümpft von Thier- oder Menschenlciberu aussehen. Die Griechen uud auch die Perser und Indier haben sich bei dem Anblick solcher Steine mancherlei Sagen und Mythen ersonnen. Bald gehen lebendige Wesen aus diesen Steinen, welche Kopf und Glieder emporrecken, hervor, bald ziehen strafwürdige Menschen auf das Geheiß der Götter Arme und Beine gleich Schildkröten ein und bleiben als Steine still liegen. Bald nimmt Brama selber dic Gestalt eines Steiublocks anf Orden an. Bald säet Denkalion Steine aus, die als Menschen davon laufen. Die Alpcnbc-wohncr sind nie auf so kühne Hypothesen von dergleichen Steinmctamorphosen gerathen. Ja die großen Berge selbst haben wieder ebenso viel Aehulichkeit mit menschlichen Leibern wie die Stcinb rocken. Von weitem sehen sie wie eine Reihe Torsos aus. Der In dcn Alpen keine personisicirten Verge, IY9 Phautasic wird cs leicht, noch Hände und Füße anzusetzen. Die Griechen versonificirten bekanntlich ganze Gebirge, so deu Atlas, den sie als Weltträgcr darstellten, den Kithäron, das Gebirge Nodope, die sie als Nymphen erscheinen ließen, den Hänms, den sie als kühnen grüngckleideten Jäger bildeten. Auch die Hindostaner thaten dasselbe. Sie lösten in ihrer Phantasie die Kolosse des Himalaja vom Boden und ließen sie als Götter frei in der Welt einherwandeln und gleich fahrenden Rittern allerlei Fata und Abenteuer erlebten. Die Gemsjäger nnd Tennhirten sind nie darauf gekommen, in dcn grnngeklcideten Bergen ihr Ebenbild zu erblicken nnd verliebte Berge bei geliebten Nymphen, welche ihrerseits auch wieder Berge waren, Besuche machen zu laffen. Wie dürftig erscheint Das, was sie dieser Art doch noch ersonnen haben, gegen das Pbantasiespiel, das die Griechen und noch mehr die Indier mit ihren Bergen sich erlanbt haben. Man lese z. B. in dem indischen Schastras den Krieg der Niesen mit den Göttern. Angemessen der Anzahl von Berggipfeln, Felsen und Blöcken in den Gebirgen ziehen da ganze Schaaren von Niesen mit hundert Millionen Schlacht' wagen, mit hundertzwanzigtauscnd Millionen Elephanten und zehn Millionen schmalfüßiger Pferde gegen die Götter heran. Zahllos nnd doch alle gezählt und in den Schastras genannt sind die Namen der Wesen, welche die Götter dagegen auf« rufen. Die Riesen, in Rhinocerosse und Elephanten verwandelt, wühlen die Erde bis in ihre Grundfesten auf nnd schlendern Berggipfel und Felsen in die Höhe. Die Thäler und Gebirgskessel zeigen noch heute die Spuren ihrer Fußtritte und Wühlzähnc. Die Götter treffen sie mit ihren Pfeilen, nageln ihre Füße an dcn Boden, nnd so stehen sie 319 lll'ütrast d. Natur >l. d. Mvthen in Griechenland u. d. Alpen. noch da als zahllose Bergkoloffe; aus ihren nie heilenden Wunden strömt unaufhörlich das Blut in den Quellen und Bächen. Die neueren Reisenden, welche nach Griechenland kamen, haben sich, wenn sie den Olympos, den Helikon und den Parnassus erblickten, über das wenig imposante Aussehen dieser Berge, die von den alten Griechen mit solcher Herrlichkeit umgeben wurden, verwundert. Die Hippokrene und die ka> ftalische Quelle, welche nur in der Phantasie der Dichter zu flüssigem Krustall geläutert wurdeu, erscheinen höchst unbe« deutend neben den rauschenden <5ascaden der Alpen. Die weltberühmte Höhle der Pythia ist eine enge, durchaus nicht ungewöhnliche Spalte, wenn man fie mit den Klüften vergleicht, die den Busen der Alpen zerspalten und ans denen doch weder dem Krösus, noch der übrigen Welt je Mwas prophezeiht wurde. Eingänge zur Unterwelt hätte man dem Orpheus in den Alpen eine Menge zeigen können und weit ergreifendere und phantastischere, als sie die Alten an verschiedenen Orten des Erdbodens je entdeckt haben. Der Alpenreiseudc wird daher auf Schritt und Tritt aus umgekehrte Weise in Verwunderung gesetzt. Nie jener in Griechenland überall Gegenstande zu finden glaubt, dic nicht werth waren, so viele Dichter in Bewegung zn setzen, so sieht dieser dagegen überall den herrlichsten Stoff, den weder ein Hmneros, noch ein Hesiodus gefunden und aus« gebeutet hat. Vermuthlich ist, wie ich schon andeutete, an dem Mangel mythologischen Schmuckes in den Alpen eine im Verhältniß zu der der Himalaja- und Helikon - Bewohner wenig rege Phantasie nnd wenig tiefe Religions'Empfindung der Alpen« Ursachen der Diirfti^cit der Äspcmiwthcn. I^ ^ Völker scchnld. Manche Ursachen zur Erklärung dieser Erscheinung muß man aber iu der Natur der Alpen selbst finden. Und in dieser Hinsicht mögen mir zunächst bemerken, daß ihre Nanhcit nnd Unersteiglichkeit der Entwickelung der Nlpcnmythcn nicht günstig sein konnte. Einem Moses, der den höchste» Berg der Unigegend aufsuchte, um mit Gott zu verkehren, war es eben unmöglich, jene Jungfrauen, Glockners und Monte-Nosa's zu erklimmen. Sie sind alle der Reihe nach erst in den allerneuesten prosaischen Zeiten zu' ganglich geworden. Minder hohe Berge, wenn sie nnr in ihrem Gcbietskreisc dominnen, veranlaffen einen viel beqne» meren Verkehr zwischen Göttern nnd Menschen. In den Alpen dauert so zu sagen der Krieg, den die Titanen mit Jupiter und mit den von diesem begünstigten Menschen führen, noch heutiges Tages fort. Qfsa und Pelion und Qeta, die Zeus in Hellas schon vor der hellenischen Einwanderung längst wieder ausebnctc, stehen dort noch immer übereinander. Die höheren Alpeugcgcnden liegen weit nnd breit unter wüsten Eis- und Schneemasscn verborgen. Da konnte man sich keine anmuthigcn Götter- und Mnsensitzc denken. Tie erregten bei allen phantasicreichcn Völkern im Süden fast nur Furcht und Schrecken. Der Sage und Mythe, die das An-mnthige liebt, waren die Alpen daher zu rauh und gewaltig. Es gehörten Riesenhändc dazu, die nicht jeder Dichter hat, um in diesem Buche zu blättern. Einen zweiten Grund zur Deutung der in Rede ste» henden Vernachlässigung der Alpen von Seiten der Muthe und Poesie glaube ich in der Armuth der Alpen an edlen Metallen zu finden. Gewöhnlich sind diese es, welche den Menschen tief in das geheime Innere der Gebirge einführen. 34 Ä Erzreiche Gebirge sagmreicher als erzanne, Durch Silber- und Goldgier wird seine Ginbildungskraft mächtig in Bewegung gesetzt. Da entstehen dann die Sagen von den goldhntendcn Greifen, von ihren Kriegen mit den einäugigen Arimaspcn. Da lernt man die neckischen Kobolde, die großmüthigen oder neidischen Berggeister, die Berg-puken und Rübezahle kennen. Alle Erzgebirge sind daher vorzugsweise Anhaltspunkte für einen poetischen Aberglauben und für Gebirgs-Mythologie, so wie sie eben so später auch vorzugsweise die Ausgangspunkte einer hellen Erkenntniß des Verginnern und der geologischen Wissenschaft wnrden. Die Alpen haben vielleicht weniger Gold nnd Silber als irgend ein anderes Hochgebirge Europa's und selbst Salz und Eisen nur in ihren östlichen Theilen in Fülle. Auch hierin, sage ich, liegt vermuthlich ein Grund der Erscheinung, daß die alte Mythologie sich mehr mit Sagen von den weit-cntlegenen, aber goldreichcn ripaischcn Erzgebirgen, dem heu» tigen Ural, herumtrug als mit solchen von den benachbarten Alpen. Endlich aber ist die Armuth der Alpen an physikalischen Sagen und Mythen, in Bezug auf welche ein Dichter singt: Ausgcstorben trällert das Gesilde, Keine Gottheit zeigt sich meinem Blick, znmTheil in der That nur scheinbar. Und in dieser Beziehung wollen wir Folgendes bemerken. Die schönen Mythen der Hellenen, welche wir jetzt in den Erzählungen dcsOvidius oder Horaz so sehr bewundern, sahen vermuthlich im Mnnde des Schäfers vom Oeta oder des Jägers am Hämns nicht viel anders au«, als der einfältige Schnack vom Spuk im Walde, mit dem sich eine Schwoazerin ans Steiermark, oder ein GeiSbua Spuren eines ^'»mndienstes iu den Alpen. 3^3 in Tyrol, oder ein Gamsjäger in Appeuzcll noch heutiges Tages herumtragen. Die Volkssage ist überall ein roher Edelstein, der erst in geschickter Dichterhand fein geschliffen und gefaßt werden muß, nm geschmackvollen Lenten recht genießbar zn sein. Haben aber die Alpeubewohncr es häusig verabsäumt, den iu ihren Bergen ihnen dargebotenen Stoff zn verarbeiten, so haben die Dichter es wieder unterlassen, den von den Leuten wirklich vorbereiteten Stoff uoch fernerhin zu gestalten, alle Bruchstücke fteißig zn sammeln, alle angesponnenen Faden weiter ausznspinnen uud zu schönen Werkeu zu benutzen. Weun wir in dem Folgenden einen Versuch zu einer solchen Zusammenstellung machen wollen, so müsscu wir dabei noch beVorworten, daß wir aus Mangel an vollständiger Kenntniß aller dahin gehörigen Dinge vermuthlich wieder uur dürftige Brnchstücke von Bruchstücken geben. Zuerst will ich darauf aufmerksam machen, daß wir noch Spuren vou einer nralteu in der Nähe der höchsten Alveu blüh-eudeu Oötterverehruug habeu. Die Römer sprechen mchre Male vou Alpenvölkeru, welche die Sonnc anbeten, und ihre Schriftsteller nennen die hohen Gipfel am Urspruug der Nhone „Souncusäuleu". Mauchc dieser uatnrlichcn Son« uensäulen sollen geradezu von der Sonne den Namen haben, so z. B. der Adula in Graubüudcu vou „At-jula", d. h. Vater Soune, der Inlier ebendaselbst vou „Ioul" oder „Hyol", d. i. Sonne. Auch in anderen Theilen der Alpen giebt cö solche, dem Helios geweihte Berge. Auf manchen Hochpässen, wo jetzt christliche Kapellen stehen, finden sich auch Säuleu, dic mau für Ueberbleib-lel von Sonncnaltären und Sonncntcmpeln gehalten hat. Doch scheint es nicht, daß in den Sagen uud Traditionen 3j z Oletscherml'thcn, der Alpen noch einige Mvthen von dicscm weitvcrchrten Sonnengott versteckt seien, so natürlich es auch gewesen wäre, wenn diese Bergbewohner die Mythen von der Sonne, die auf ihren Berggipfeln und in ihren Thälern eine gar zu merkwürdige Rolle spielt, lange bewahrt hätten. Sehr viele mytbenartigc ^agen der Alpen knüpfen sich a>l die Gletscher, diese so interessanten nnd wunderbaren Naturphänomene der Hochgebirge. Meistens ist es die allen Völkern eigene und tief aus der Natur des Menschen hervortretende Idee vom verlorenen Paradiese, die hier sich unter dem Bilde eines ehemals schönen und fruchtbaren, später aber auf der Himmlischen (Heheiß zur Straft undankbarer Besitzer verwüsteten Hoch-Thales darbietet. In den Thälern des Monte Rosa, in der Nachbarschaft des Mont Blanc, auf verschiedenen Bergen im Berner Oberlande, in Tyrol, in Steicrmark, überall kommt diese Sage vor. Ucberall wohnten in jenen herrlichen Thä« lern die Menschen einst glücklich und in Fülle. Aber ihr Reichthum machte sie undankbar gegen die Götter nnd dann zur Strafe unglücklich. Die Hauptanlagc dieser Sage und die daraus hervor» gehende ^ehrc ist immer dieselbe, aber die Einkleidung stets verschieden. Zur Probe will ich sie so mittheilen, wie sie im Lande Maruö lautet. Eine „Prachtsalp", so erzählen dort die Lcntc, überzog mit einem Blumenteppiche ehemals den ganzen rauhen Glar-nisch. Ein junger leichtsinniger Hirte war ihr Besitzer. Er hatte eine alte Mutter uud eine Geliebte. Ncber die süßen Die Sage vom Märnisch-Hirten. gBerge in Spanien sind fast alle weltberühmten, durch frommes Leben, durch Tcm» pel« und Klosterban geweihten Orte hoch aus dem Nebel der Ebene emporgehobene Vergstätten. Fast bei jeder christ-katholischen Stadt ist eine benach-» barte Höhe zu einem Passionsbergc umgewandelt und zu Wallfahrten benutzt. AnS den sarmatischen Ebenen pilgern die Polen zu den heiligen Wallfahrtsorten in den Karpathen empor, aus den Donau'Niederungen die Ungarn zu den Klöstern auf den Höhen des Bakonyer Waldes oder zu den heiligen sieben Mönchspalästcn auf den Semlin'schcn Gebirgen. Die hohen Zinnen der Alpen werden, wie ich dieß oben ausführte, aus einem Hunderte von Meilen langen und breiten Ländergcbietc erblickt, und man sollte demnach vermuthen, daß diese mächtigen Göttcrsitzc, diese gewaltigen Tempcl-Pie-destale, diese fern schaueudcn Eremiten-Höhen auch in der christlichen Zeit für alle Ebenenbcwobncr weit und breit die heiligen Wallfahrtsplatze, die berühmtesten Kirchen und Klöster enthalten müßten. Wie die Völker Indiens zu den heiligen Ganges-Qucllen im Himalajagebirge cmporpilgern, so sollte man auch die Bewohner der schwäbischen, bairischen, ungrischen, lombardischen und bnrgundischen Flachländer auf einer beständigen Pilgerschaft zu den Kirchen und Einsiedlern an deu Quellen der Rhone, des Rheins und der Donau zu finden erwarten. In der That giebt es in den Alpen einige heilige Stätten, die wirklich aus allen den genannten Ländern Pilger sich zu heranziehen, so das weltberühmte Kloster» Einsiedeln in einem grasigen Hochthale an den Waldgränzen des 344 Mythische und bildliche Vorstellungen von Naturphänomenen Contons Schwyz, das fast ebenso berühmte Mariazell in den rhätischen Alpen. Aber diese Pilgerschaften scheinen doch in keinem Ver> hältniß zu der dominirendcn nnd Vhrfurcht erweckenden Höhe der Alpen zn stehen, nnd vennnthlich ist auch daran wieder hauptsächlich die Nnwirthlichkeit der hohen Gipfel schuld. Könnten wir den Alpen das Klima der Kordilleren in Mexico geben, könnten wir selbst ihre höchsten Gipfel noch den Ere-> nuten und Tempclbaucrn zugänglich machen, so würde man vermuthlich Passionsstationcn bis zur obersten Spitze des Mont Blanc binauf errichtet haben, so würde die europäische Christenheit anf den Gipfeln des Montc Rosa und der Jung« frau und der Finsteraarhörncr die vornehmsten Rendez vous zur Begehung ihrer Mysterien besitzen. Ich sagte oben, daß der Mangel an Phantasie, dessen man die Alpenbewohner bei dem Anblick der Dürftigkeit ihrer mythologischen Dichtungen beschuldigeu möchte, zum Theil nur scheinbar sei. Dieß wird noch flarcr, wenn man die gewöhnliche Redeweise und die Ausdrücke der Aclplcr, deren sie sich beim Besprechen der Naturphanomcne ihrer Gebirge bedienen, beachtet und die ihrer Redeweise und ihren Ans-drücken zum Grunde liegenden Vorstellungen studirt. Wenn du mit einem Gebirgsbewohner eine Zeitlang von irgend einem dieser Phänomene, z. B. von ihrem vielbesprochenen Winde, dem Föhn, geredet hast, wenn er dir gezeigt hat, wie jetzt eben der Föhn dort oben auf jener Bergspiße in graues Wolkengcwand gehüllt „sitzt", aus Italien herüber „lugend", wie er jetzt vom Berge auf den Gletschern der Redeweise der Aepler zu Grunde liegend. 345 ins Thal „herabfährt", wenn er dir erzählt hat, wie der heiße Föhn begierig ist, den Schnee „anfznsaugen" und zu „verschlucken," wie er in den oberen Gebirgen „tobt" und „wüthet," und wie er schließlich damit endet, daß er eine dicke Negcnmasse anf die Thalschaftcn „ausschüttet," - - so weißt du am Ende nicht mehr, ob ihr von einer todten Sache oder von einem bösen, aus dem Süden hervorbrechenden Riesen oder einer starken Gottheit gesprochen habt. Nenn zwei verschiedene Luftzüge sich einander begegnen, so blickt der Nelplcr hinauf und zeigt dir, wie der obere Wind mit dem unteren „ringt", wie jener diesen „drückt", wie dieser wieder den anderen „zurückwirft", und wie endlich der obere doch „siegt" und uun allein im Thale „regiert". Fast siehst du dabei deutlich die unsichtbaren Lüfte die Gestalt und Form zweier lebenden und streitenden Wesen gewinnen. Von seinem See sagt der benachbarte Bergbewohner: „erzürnt, er tobt, er speit Schaum," oder „er ist ruhig und still," als hätte dieser See eine Seele, Galle und ein Herz. Wenn im Frühling der See sich mit dem Blüthcn-staube der Fichten bedeckt, so spricht er: „er blüht," als wäre da ein Leben und Gestalten in ihnen, wie in dem Organismus einer Mauze. Wenn im Sommer um Mittagszeit die Wellen und Strömungen, die über Nacht in die Vbene hinausdrangen, nun umgelehrt, von den regelmäßigen Thalwinden getrieben, aus der Ebene ins Gebirge einwärts sich bewegen, so sagen die Leute: „der See wendet sich," oder „er wirft sich herum", als wäre er ein Mensch, der in seinem Bette sich von der linken auf die rechte Seite dreht. Die Secen haben in der Bildersprache der Aclpler ihre Launen, ihre Verstimmungen, sind sauft odcr schlimm. 346 Mythische und bildliche Vorstellungen von Naturphänomenen und haben fie dir lange von ihren Seeen gesprochen, so glaubst du am Ende statt Waffer und Wogcnschaum lauter launige Götter und Nymphen vor dir zu schaueu. Selbst von den todten, eisigen Gletschern sprechen sie, als schrieben sie ihuen Leben zu. Der Gletscher „gräbt Felsen aus" wie ein Arbeiter, „er wühlt iu der Orde" wie ein Maulwurf, der Gletscher „duldet keiueu Schmuz und kein Gestein" in seinem Inneren, „er leidt's nit", sagen die Aelpler, „und wirft Alles wieder von sich", als hätte er wie die Thiere ein Bedürfniß, sich zu putzen. Und wenn kalte, eisige Luft vom Gletscher ins Thal herun» terfährt, so sagen sie: „der Gletscher bläst", als hätte er einen Mund uud eine Lunge. Wenn eine Wolke sich auf eiuem Gipfel festgesetzt, so heißt es: „der Berg setzt seineu Hut oder seine Nebelkappe auf." Hängt eine Wolke lang an den Seiten des Berges herunter, so ist es sein „Degen," hüllt er sich breit darin ein, so hat er einen „Mantel" umgelegt, und auf diese Weise kleiden die Aelpler einen Berg fast ganz wie einen Menschen an. Felslinien und Absätze, die an ihm hinlaufen, sind seine „Gürtel" oder „Bänder". Fast alle in den Alpen gebräuchlichen Benennungen ver« schiedener Theile uud Formen der Berge sind von den Namen der Glieder lebendiger Organismen hergenommen. Die Gipfel sind „Köpfe," die Basis heißt der „Fuß," ein langer hoher Damm ist ein „Rücken," ein in den See vorspringender Fels „eine Nase", felsige Pyramiden und Spitzen heißen „Hörner" oder „Zähne." Kurz überall momdr» äiHeota des großen Riesen. Alles noch heutiges Tages fast so, wie in der Äsen Zeiten, wo die Erde lebte, die Gewässer daö Blut des der Hebewcise dtt Äelpltt zu Gwnde ttegend. M7 großen Riesen Umer waren, der Wald setne Hclare, die Berge seine Knochen, die Wolken das Gehirn und der Himmel die Hirnschale. Man findet überall in den Alpen in den versteckten kleinen Thälern einsam wohnende Leutchen, deren Hütten in der Mitte der Thalwildniß stehen, wie ein indianisches Blockhaus in der Mitte des Urwaldes. Tritt ein und sprich mit ihnen von dem Wildgewässer, das neben ihrer Pforte vor-überranscht, und von dem ihr Wohl imd Wehe in höherem Grade abhängt als von irgend einer sonstigen Macht der Erde. Dieser arge kleine Bergtyrann zerwühlt zn Zeiten ihre Felder, mitunter wirft er ihnen Felsen auf den Acker, oft ist er aber auch wieder milde und wohlthätig, bringt etwas fruchtbares Erdreich herunter und legt es auf dem Kopfe eines Felsen nieder. Voriges Jahr aber hat er ihnen ein Schaf weggenommen, und sie fürchten sehr, es könnte ihm einmal einfallen, auch noch ihre Hütte selber anzutasten. Bisher hat er sie noch geschont, aber alle Jahre wird er schlimmer. Kurz diese Leutchen klagen dir von dcm todten Elemente ganz wie etwa ein polnischer Leibeigener von seiucm harten Herrn. Vermuthlich war dieß in den griechischen und indischen Fabelbergen ganz ebenso, und aus einer solchen allen Bergvölkern eigenen Bildersprache und lebendigen Vorstellungsweise gingen dann erst mit Hülfe der Dichter, Maler und Bildhauer, die das Alles buchstäblich nahmen, die Götter und Mythen hervor, und die einfachen Naturkinder mochten sich dann selbst oft hinterdrein über die Schöpfung der Kunst verwundern, zu denen sie vielfach unschnldig Anlaß gaben. 343 Htndeutungen auf die Geisterlehre der Ich habe in der obigen Betrachtung vergleichsweise mehr» fach auf den Reichthum uud die Fülle der griechischen und indischen Gebirgs-Mythologie hingewiesen. Ich hätte auch noch auf diejenigen mythischen Phantasiebilder und Geister-schaaren hinweisen können, mit welchen im Mittelalter die Alchymisten die todte in den Bergen aufgeschloffene Erdrinde anfüllten. Zum Schlüsse will ich das Versäumniß hier nachholen, um dadurch den Reichthum an phantastischen und poetischen Anregungen, den die Alpen dar< bieten, noch fühlbarer zu machen, worauf es mir bei Schilderung der Alpennatur hier natürlich besonders ankommen muß. Jene ersten Begründer der noch jungen Wissenschaft der Chemie glaubteu in jedem neuen Stoffe, den sie entdeckten, in jeder neuen Kraft, die sie an ihm warnahmcn, gleichsam einen besonderen Gott zu erkennen. Die vielen Affinitäten, die Wahlverwandtschaften und Feindschaften, welche zwischen den Stoffen bestehen, alle die thätigen Kräfte einem im Geheimen wirkenden Wesen zuschreibend, bevölkerten sie das Innere der (5rde mit einer Menge von Erd», Metall-, Stein» und Glementargeistern, von welchen allen, wie einer ihrer gläubigen Schüler Namens Prätorius sagt, „der erste Phi-losophus der Heiden, Aristoteles, noch wenig Richtiges gewußt hat." Diese jugendlich entzückten Chemiker des Mittelalters glaubten nun wie Hl-. Faust deutlich zu erkeunen: ,,Wie spricht ein Geist zum anderu Geist, Wie Alles sich zum Ganzen webt, Kins in dem Andern wirkt und lebt! ,.n^2n,.. Wie Himmelskräfte auf- und uiedersteigen Alchymisten vorragen sieht. Wird dann der Schnee eines solchen Domes von der Mittagssonne blendend weiß oder von der Abendröthe feurig leuchtend gefärbt, so glaubt man in ihm einen zweiten Him» melskörper, einen aufgehende» Mond zu gewahren. Die plumpen irdischen Vergmassen scheinen in solcher Beleuchtung und Ferne sich dann gleichsam von der Erde 353 Isolirter Anblick einzelner Vergkegel. zu lösen und dem Himmel sich zu verschwistcrn. Ihre hohen, fernen Gipfel sind dabei selbst bei der heitersten Lnft von einem Dufte überzogen, der gleich einem graulichen Schleier vor ihnen liegt, und der dem Auge zauberisch erscheint. Es ereignet sich da das Umgekehrte von dem, was man, auf jenen Höhen selber stehend, gewahrt, wo man in demselben graulichen Flor der verdünnten Luft, welcher dort die niederen Gegenden überzieht, die Erde und ihre Gestaltungen unter sich verschwinden sieht, als blicke man von einem Pla» neten auf sie herab. Jeder, der einmal aus dem Inneren Frankreichs oder der Lombardei oder ans der Ocffnung eines Iurathales die leuchtende Kuppe eines Mont Blanc oder eines Monte Rosa so luftballonartig oder dem Monde gleich am Horizonte über alle Nebel und Hügel emporschwebcn sah, wird es erfahren haben, wie mächtig diese hohen Gipfel selbst noch aus so großer Ferne auf das Gemüth einwirken können. Man weiß nicht, ob man dabei mehr die Natur der Luft und Verge, oder die Einrichtung unseres Auges und die Operationen, welche unsere Seele dabei vornimmt, bewundern soll. Die ganzen großen Bergmassen sind dabei zu bloßen hellen Punkten in der Landschaft zusammengeschrumpft, ein Strohhalm, den wir in die Hand nehmen, verdeckt sie uns völlig. Dennoch aber hat die Ferne sie so eigenthümlich gefärbt, und dennoch faßt unser Auge die perspectivischen Verhältnisse so genau auf, und unser Geist macht seine Verech» nung dabei so richtig, daß man kaum sagen kann, jener Niese mache aus dieser Ferne einen minder tiefen und großartigen Eindrnck als in der Nähe. Jedoch, wie gesagt, es gehören besondere Umstände dazu, daß einzelne Gipfel sich so isolirt und dominirend dar« Anblick ganzer Bergketten. 359 stellen, und meistens werden wir bei Annäherung zu den Alpen ganzer Bergketten anf einmal ansichtig, und dieß ist allerdings dann ein Anblick, der die Seele noch vielseitiger anregt. Man überschaut da die ganze Rninenfülle, welche die nrweltlichen Kräfte im Lanfe der Zeitalter gestalteten, auf einmal nnd läßt die leichtbeschwingte Phantasie von Gipfel zn Gipfel schweben, in hundert Schlündc anf einmal blicken nnd alle die Thäler rasch dnrchschweifen, Schlünde, Gipfel nnd Thäler, die, wenn man nahe hinzutritt, der schwerfällige Fuß einzeln nnr mühsam beschreitct und durchforscht. Man Nest da, so zu sagen, in einer einzigen großen klaren nnd zusammenhängenden Pbrase Alles, was die Berge zu verkünden ha» ben, nnd was man nachher Zng für Zug mühsam buchstabiren muß. Im Grunde giebt es weder für einzelne Verge, noch für ein ganzes Gebirge einen Standpunkt, von welchem aus man es in seiner wahren Gestalt und Bildnng sähe. Die Perspective, welche Allcs wunderbar verkürzt und verkleinert oder erhöht und vergrößert, schasst auf jedem Punkte Täuschungen , welche fast unüberwmdbar sind. In der Nahe des Fußes eines Berges wird das Zunächstliegmdc so groß und sein Gipfel so hcrabgedrückt, daß das Kleine mächtig und das Kolossale unbedeutend erscheint. Nimmt man seinen Standpunkt in der Ferne, so wachsen dort freilich die ver-ticalen Höhen - Dimensionen zu ihrer wahren Riesengestalt empor, alle Horizontal - Verhältnisse dagegen schwinden und schrumpfen zusammen. Du glaubst da eine schroffe Wand zu sehen, wo in der That noch meilenlange, vielfach abgestufte Arme sich dir ent» gegenstre lossalen" reichen wir nur zu den kürzesten Lebensaltern dn kleinsten Natnrkinder, und dic Größe der Massen von Zeit« altern, die sich noch hinter ihnen aufthürmen, können wir gar nicht zur Empfindung unseres Geistes bringen, da wir schon bei dem Kleinen unseren Vorrath von Kraftberedtsamkeit verschwendet haben. W ist demnach unmöglich, auf eine würdige «nd an« gemessene Weise über das Schalten und Walten der Zeit in den Gebirgen zu reden, und könnte also anch überflüssig er« scheinen. Da aber bei jedem gerollten Steine, bei jedem verwitterten Blocke, bei jeder Felseneckc, bei jeder Gebirgs« schicht, bei jedem bearbeiteten Berggipfel sich doch wieder die Bemerkung aufdrängt, daß hier ein Product eiuer langanhal» tenden Thätigkeit vor Augen liegt, da wir in allen diesen großen Ruinen den nagenden Zahn der Zeit noch jetzt in beständiger Wirksamkeit sehen und da wir überall in den Gebirgen aus dieser Betrachtung einen großen Genuß ziehen, so ist eine solche Betrachtung doch unabweisbar. Und wäre das Resultat derselben auch nichts als ein bloßes Staunen, so ist doch auch in diesem Staunen ein ergreifendes, lehrreiches und heilsames, ja ein religiöses, frommes Element. Z74 khwnologie der Erdbildungsevochen. Man hat zwar zuweilen versucht, die Zeitraume gewisser Grdepochen genau zu bestimmen. Mau hat gesagt, daß seit der Steinkohlenbildung eine Million und dreimalhunderttau« send Jahre vergangen seien, und man hat berechnet, daß die Erdkugel, bevor sich aus ihrem heißen, gasartigen Ball der Granit niederzuschlagen anfangen konnte, schon fünfzig Mil» lionen Mal ihren Lauf um die Sonne vollendet haben mußte. Allein die Facits solcher Berechnungen zerplatzen gar zu oft wie Seifenblasen an irgend einem kleinen übersehenen Factum. Und im Ganzen muß man gestehen, daß die Chronologie der Erdbildungsepochen noch in dichte Wolken ge» MVt ist. Vermuthlich schießen wir bei ihrer Bestimmung immer zu kurz. Besonders haben die früheren Geologen, wenn sie auch nicht wie Moses Alles auf ein bloßes Wort des Schö< pfers ins Leben treten ließen, an viel zu kurze Zeiten glauben wollen. Sie haben entweder, weil sie vor der Annahme von Millionen von Jahrhunderten erschraken, oder weil das Bild gewaltiger Kampfe und ungeheuerer Anstrengungen ihre Phan« tasie mehr ansprach als langsame und allmälige Umgestalt» ungen, Feuer und Wasser furchtbar auf der Erdoberfläche wüthen lassen. Heiße Regengüsse, Plötzliche Erkaltungen, nngebeuere Aufspaltungen des Erdreichs, entsetzliche Hervorbrechung der glühenden Flüssigkeiten, gewaltige McereSergüsse und ftrö« mende Oceane von unwiderstehlicher Kraft beschäftigten viel» fach ihre Phantasie. Die kurzsichtigen und ungeduldigen Menschen haben mit einem Worte überall in den Bergen Resultate ungeheuerer Leiseö und allmäligcs Schaffen der Natur. Z^g Zerstörungen vor sich gesehen, und da ihnen diejenigen lang» sam auflösenden nnd umgestaltenden Kräfte, welche sie dort noch jetzt wirksam finden, viel zu viel Zeit zu verlangen schienen, so waren sie überall geneigt, an ganz übernatürliche und plötzliche Anstrengungen der Natur zu glauben. Eine ruhigere Beobachtung der noch jetzt thatigen Na-turkrafte hat uns auf der einen Seite etwas mäßiger und eine geistreichere, weniger buchstäbliche Auffassung der von unseren heiligen Büchern festgesetzte» Erdbildungsepochen aus der anderen Seite kühner gemacht. Wir haben es erkannt, daß wir von dem Zeitengott, der die ganze Ewig» feit hinter sich wie vor sich hat, uns ohne Scheu so viel Seklen erbitte» dürfen, als wir zu bedürfen glauben, und daß, wenn wir dieß thun, wir der Sache mehr Zeit lasse» könne» und gar nicht nöthig haben, solche gewaltige Anstrengungen vorauszusetzen. Auch von den Spaltungen und Zerreißungen der Glet« scher glaubte man, wie ich schon oben andeutete, sonst, daß sie plötzlich entständen. Man ließ die Eismassen in gewal» tigen Abgründen aufklaffen, ja man ließ gauze Abtheilungen dieser Oiöströmc auf einmal und gleichsam in Sprüngen hcrab-rutschen. Neue Beobachtungen haben aber gezeigt, daß alle Klüfte der Gletscher sehr klein beginnen und ganz allmälig sich weiten, und daß ihr Wachsthum fast mit derselben ebenmäßigen Langsamkeit wie das Wachsthum eines Baumes vor sich geht. Vermuthlich ganz ähnlich ist es mit den Spalten und Rissen gegangen, welche die Erdkugel bei ihrer Abkühlung durchfurchten. Anfangs waren es kleine schmale Nisse, und im Lause der Zeiträume klafften diese immer weiter und 376 Langsames Erwachsen der Berge. weiter auf, und die inneren Eingeweide der Erde quollen gemach daraus hervor. Noch jetzt biegt und bäumt sich die Erdrinde hie und da so zn sagen vor unseren Augen empor. Vermuthlich nicht viel schneller haben sich auch die Gipfel der höchsten Berge herausgehoben, nnd obgleich sie hie und da aussehen, als wären sie schnell zerworfen nnd umgestülpt wie Eisschollen, die eine unwiderstehliche Macht von unten auf zer» brach, und die darnach im erhärteten Schlamme so stecken blieben, wie der Zufall sie hinwarf, so ist es doch viel wahr« fcheinlicher, daß sie ganz gemach sich aufrichteten und mit der Langsamkeit von Niesenbäumen wuchsen. Es hat schon viel Irrthümer hervorgerufen, daß man der Natur in den Bergen eine große Leidenschaftlichkeit nn» terzulegen geneigt war und ihr leises Schassen hier so leicht übersah. Unverdrossen schwenkte sich der Erdkomet Millionen und Millionen Male um die Sonne, bis er sich zum Planeten verdichtete. Unverdrossen häufte er in fortgesetzten Nieder» schlagen aus seiner gasartigen Atmosphäre Krystalle auf Krystalle, und die Gnomen arbeiteten an den Granithaufen, wie die Ameisen an ibren Ameisenhaufen. Lange, unermeßliche Zeiträume brütete wiederum der Ocean über den Kalk« massen, die sich in lange dauernden Ablagerungen absetzten. Keine Zeit nnd Mühe ließen sich die Naturgewalten verdrießen, um die aufgewachsenen Massen wieder zu zertrümmern und am Ende zu den feinsten kleinen Sandkör' nern zu zerreiben und alls diesen Körnern und Kugeln dann wieder weithin ausgedehnte Länder verwachsen zu lassen. Viele von den Trümmern zerrieben sie nicht so sorgfältig zu feinem Sande. Sie begnügten sich, sie einige My- Uebertriebene Vorstellungen und Enttäuschung. 377 rdden von Jahren hindurch geduldig im Strudel der Wellen bin- und herzuwälzcn, bis sie sich zn runden Kugeln abschliffen. Dann umgaben sie sie wiederum im Laufe einer Reihe von Jahrhunderten mit festem Kitt und bildeten daraus die weitverbreiteten Nagelfluegebirge. Gleich der Penelope, welche, Ulysseus 10 Jahre lang erwartend, ihr Gewand wob und wieder auflöste, so arbeitete und zerstörte auch die Natur in Erwartung ihres Ulysseus, des Menschen, ihre Gebilde unverdrossen und componirte sie wieder von Neuem. t) WaZ die Natur nicht geleistet hat. Die Neisebeschreiber und Dichter haben uns so viel von „himmelansteigeudcu" Felseuwändeu, von „erhabenen" Gipfeln, die „über die Wolken hinausragen," von „donnernden Wasserfallen," die aus der Himmelsfeste selbst herabzu» steigen scheinen, von „gigantischen" Felseuthoren und ,,Un» terwcltspforten." von „unergründlichen" Klüften, von Eismeeren, von Eisthürmen vorgesprochen, daß unsere Phantasie von übertriebenen Vorstellungen, welche diese Phrasen in uns erregen, ganz erfüllt ist, und daß daher das erste Gefühl der Meisten, welche sich den wirklichen Alven zum ersten Male naben, ein Gefühl der Enttäuschung ist. Im Grunde geht es mit allen Dingen in der Natur so, mit den „rollenden hauscrhohen Wogen" des Oceans, mit den Schrecknissen der Wüste in Afrika, mit den Dimensionen der Peterskirche in Nom, kurz mit allem Großen und Erhabenen. Wir Schriftsteller und Künstler, welche 378 Die Tauschung nur bei dem Kolossalen. diese Dinge malen, verlieben uns während der Arbeit in unseren Gegenstand, wir wollen doch etwas recht Würdiges und Außerordentliches darstellen, das Gemüth unserer Leser erschüttern, und gehen daher mit unseren Worten etwas über das Maß der Wirklichkeit hinaus. Die Leser aber, deren Phantasie gleich der Phantasie aller Unerfahrenen unendlich willig und regsam ist, gehen nun auch ihrerseits wie iunge Madchen, die einen Nomanhelden studiren, noch über das Bild des Autors hinaus, und so gestaltet sich denn in ihnen ein Phantasiegemälde von der Gebirgswelt, das alle wirkliche Leistungen der Natur um ein paar tausend Ellen übertrifft, uud das sie auf einer wirklichen Neise durch die Berge, wie die Iugeud ihre Kinderschuhe, erst abgetragen haben müssen, bevor sie zu der rechten Erkenntniß und Würdigung und zu dem wahren Genusse des Erhabenen in der Natur gelangen können. Es ist indeß bcmerkenswertb, daß diese Täuschung meistens nur bei dcm Großen, Kolossalen stattfindet, weit selte» ner bei dem Lieblichen, Anmuthigen, Idyllischen und Zarten. Die Jungfrau, der Mont Blanc, der l)o»t cw WcN, diese Bergrieseu, erscheinen in der Wirtlichfeit keinem Reisenden so hoch, wie er sie sich dachte. Die Felsenthore sind nie weit. die Abgründe nicht klaffend genug. Der Monte Rosa ist viel zu niedrig, der St. Gotthard viel zu zahm. Die Was» serfälle haben dreimal weniger Schaum und Höhe, als man bei ihnen zu finden erwartete. Mit der Anmuth der Thäler iu den Voralpen dagegen zeigt man sich weit eher zufrieden. Die sogenannte ebene Schweiz oder die Voralpen iu der Lombardei, ihre Wald» ungen, ihre reizenden Hügel, ihre lieblichen Auen und lachenden Triften finden wir sogar über unsere Erwartung, ebenso Unsere Einbildungen gegenüber der Wirklichkeit. 379 wie die Heroen, die man uns schilderte, eher Gefahr laufen, uns zu dcsappointiren, als die milden und sanften Charaktere, die man nns darstellte. Dieß kommt entweder daher, weil es den Schriftstellern leichter ist, das Große, Heroische, das Schreckliche und Gräßliche darzustellen und noch furchtbarer auszumalen, als das Liebliche und Ansprechende noch reizen« der und anmuthiger zu schildern, oder daher, weil die menschliche Phantasie überhaupt noch mehr für das Schreckliche empfänglich ist als für das Liebliche und leichter damit in Uebertreibungen hineingeräth. Es ist leichter, der Höhe der Gebirge ein paar Klaftern hinzuzusetzen, als die zierlichen Blumen auf dem Felde noch ansprechender zu schildern, als sie sind. Wie die Kinder sich von den Königen einbilden, daß sie immer mit der Krone auf dem Haupte und dem Scepter in der Hand erscheinen, und sich dann wundern, wenn sie eine Majestät im Neberrock erblicken, so denken wir Leute aus der Ebene uns die Gletscher mit ihren ewigen Eiskronen und sonnenbestrahlten Gipfeln, nud so wundern wir uns, wenn wir sie dann viel alltaglicher finden. Es geht uns mit diesen Bergen und überhaupt mit allem Erhabenen in der Natur, wie mit den großen Männern Wir erwarten immer, sie müßten sich uns stets imposant, brillant auf dem Koturn darstellen, so handgreiflich groß, wie die Theaterhel« den. Und sehen wir dann wirklich große Leute vor uns, so erscheinen sie uns so natürlich, so gewöhnlich, daß wir erst wieder einen ganz anderen Maßstab für diese Art von Größe, wie sie unserer Phantasie nicht vorschwebte, gewinnen müssen, bevor wir von ihr ergriffen und erschüttert werden können. Auch das Erhabene in der Natur fallt nicht sogleich in die Augen; es frappirt nicht so überall und ist so zu sagen 380 Die Neulinge in den Bergen. nicht so grell und dick aufgetragen, nicht so Handgreissich, wie Unerfahrene meinen. Auch die Größe muß entdeckt, auf« gesucht, der Natur abgelauscht werden. Nir müssen unsere Blicke darauf einüben. Man findet daher, daß alle Neulinge in den Bergen zuerst eine hochfahrende Verachtung für Felswände, Abgründe, für alle Schauer und Schrecken der Gebirgsnatur zur Schau tragen, wahrend alle Erfahrenen um so mehr Respect vor diesen Dingen zu haben scheinen, in je höherem Grade sie darin bewandert und eingeweiht worden sind. „Mit Vergnügen höre ich ja, daß Sie eine von diesen Anhöhen dort, entweder die Jungfrau, oder das Finsteraar» Horn, oder das Schreckhorn, zu besteigen gedenken?" so redete ich einst, als ich auf einer Schweizerreise zum ersten Mal in das Innere der Alpen eindrang, einen sehr jungen Engländer, der mein Reisegefährte auf dem Dampfschiffe des Thuuer» Sees war, an. „Ich habe dieselbe Absicht für morgen. Ist es Ilmcn recht, so afsociiren wir uns! Wenn Sie wollen, so bleiben wir bei der Jungfrau. ES scheint mir. wir können sie am schnellsten erreichen." Mein Engländer war nicht weniger entzückt als ich darüber, einen Gefährten zu einer solchen Excursion gefunden zu haben. Und wir machten in Interlaten sogleich ernstlich Anstalten, um aus der Stelle unseren Plan für den morgenden Tag — es war der letzte October — inS Werk zu setzen. ,,Die erste Maßregel wird sein/' sagte ich, „daß wir uns ein paar tüchtige Führer verschaffen," Und gleich an dem Versuche zur Ausfübrung dieser ersten Maßregel schei' tcrte unser kühnes Vorhaben. Gute Führer für die Spitze der Jungfrau sind selbst am Fuße des Berges so rar wie die Steinböcke. Die Leute hier sprachen spöttisch und Nichtige Beurtheilung der Giößenverhältnisse. Zg^ zweiflerisch lächelnd von unüberwindlichen Schwierigkeiten, von fnrchtbarm Abgründen, Klüften und Eisfeldern. Wir aber, indem wir die Jungfrau, die vor uns lag und mit so leise aufsteigenden Linien anzuschwellen schien, anblickten, verstanden sie nicht. Mctu Engländer erklärte sie alle mit Verachtung für Feiglinge nnd „klack^ia!^" nnd schien entschlossen, die Reise sogar ohne Führer zu unternehmen. Wie wir die Leute, so lachten sie uns endlich offen aus, indem sie meinten, wir seien wohl noch nie in den Bergen gewesen. Später, nachdem ich die Geschichte der meisten Glct-scherbcstciguilgen gelesen und selbst einige wenige mühselig zu Stande gebracht hatte, konnte auch ich nicht ohne Lächeln an meinen uud meines Engländers damaligen Eifer zu> rückdenkeu. Vor allen Dingen muß erst das Auge sich an eine richtige Venrtheilung der Größenverbältniffc gewöhnen. Denn hier in den Alpenthälern, wo Alles so kolossal ist, geht es uns ebenso wie in der Peterskirche, wo man beim ersten Eintritt im Hintergründe kleine Engel und Miniaturfigürchen zu sehen glaubt, dann aber beim Nähertreten koloffale Nie» senstatncn entdeckt. Weil man unten am Verge steht, so erscheint alle Höhe in der Verkürzung. Je höher mau sich aber erhebt, desto größer wächst der Koloß des Gipfels aus dem Boden heraus. Die Ferne, in welcher die Spitzen liegen, giebt dem Ganzen einen ausgleichenden bläulichen Teint. Alle Abgründe erscheinen ansgcebnet. Erst wenn man sich mitten hinein begiebt, zerfällt Alles vor den staunenden Augen ill seine ihm eigene wilde Zerklüftung. Dann sieht man es mit Schrecken ringsum sich her gähnen, uud was mau unten etwa für nicht ganz bequeme Stufen einer natürlichen, etwas ruinirten. 382 Alle Natlllschildcumgen hinter der Wirklichkeit zurückbleibend. Treppe hielt, stellt sich nun als eine unüberwindliche Reihe von Niesenabsähen dar, über die Jeder, der nicht Siebenmeilenstiefeln tragt, mühselig sich hinaufarbeiten muß. Auch in dieser Beziehung sind die Berge genau ein Abbild des Lebens, das auch beim Antritt seiuer Reise jeder Jüngling für eine angenehme Promenade hält, die leicht zu den höchsten Freuden und Gcnüffen emporführt, und das erst der Erfahrene als rauhe, schwindelige Bahn erkennt, auf der nur einige Auserwählte es mit Mühe zn etwas Bedeutendem bringen, Wer dann spater auf wiederholte» Reisen die Schrecken der Natur näher kennen lernte, in weffen Brust die Flamme der Leidenschaft für das Große in den Gebirgen, die jeden Ulpeureisenden allmälig zu ergreifen pflegt, angefacht ist, der kommt wohl am linde zu der Einsicht, daß kein Na-turschilderer noch der Natur genug gethan. Er sieht, daß wir Autoren uns bloß bombastischer Worte und oft hohler Phrasen bedienten und daß wir das Schöne und Große doch im Grunde nie so schön, ergreifend und groß malten, wie es in der Wirklichkeit ist. So erkläre ich mir ungefähr den Gang unserer Ideen und die Geschichte unserer Empfindungen auf einer Reise zu den Gebirgen, unsere zuerst wunderbar und ganz vag entzündete Phantasie, unsere unbestimmten, auf Alles gefaßten Erwartungen und unsere schließlich? Befriedigung mit dem, was die Natur geleistet hat. Ich sage: mit dem, was die Natur geleistet hat. Allem da ist noch ein Punkt, den ich bisher nicht berührt habe, und über welchen überhaupt alle Naturfreunde ein auffallendes Stillschweigen beobachten, obgleich ich glaubt, daß auch er der Untersuchung werth ist, weil er in der Ge« Die Tunnels und Höhlen nicht weit und breit gtnug. HgI schichte unserer Illusionen und Enttäuschungen eine nicht unbedeutende Rolle spielt, ich meine den Punkt über das, was die Natur nicht geleistet hat. Man denke sich einmal ein kleines Gebilde, wie es etwa ein Stück lockeren Brotes oder Schwanuns mit allen seinen Löchern und Gängen und Höhlen darstellt, Millionen Mal vergrößert, so daß ein Berg von gleicher Form daraus wird. Ein solcher Berg müßte in der That ein achtes Wunder der Welt sei». Er kommt aber in der ganzen Natur nicht vor, obwohl man doch nicht sagen kann, daß es der Natur unmöglich gewesen wäre, ein solches Gebilde hinzustellen! denn vermochte sie es, einige Höhlen zu bewerkstelligen, so bätte sie eö ja auck vermocht, einen Berg so mannigfaltig zu durchlöchern, wie es ein Wespennest ist. Man denke sich einen natürlichen Tunnel von kolossalen Dimensionen, mit mehre Hundert Fuß hohen Wänden und in einer Länge von einigen Stunden, Einen solchen Tunnel zu bilden, wäre ja den Riesenkräften der Natur eben keine große Sache gewesen. Und wir hätten dann in der That ctwas Außerordentliches gehabt. Aber ein solcher Höhlen» gang kommt nirgends in der Ocbirgswclt vor. Alle natürlichen Höhlen und Tunnels sind Verhältniß-mäßig sehr klein und sehr versteckt, schwierig zu bereisen und mehr beengend als erhebend. Wie interessant wäre es, wenn einmal die Gcbirgswände, welche zwei Thäler trennen, von einem hohen Thorwege durchbrochen wären, durch dessen beide Eingänge man in zwei verschiedene Thalwelten hinabblickte, einem Thorwege, wie ihn unsere Phantasie so leicht ausmalen kann, wie die Wirklichkeit ihn uns aber niemals giebt. Man hat viel Wesens von den Wasserfällen in den Alpen gemacht und ihre unendliche Mannigfaltigkeit beschrie« 38i Die Wasserfalle zu niedrig und zu schwach. ben. Da weist man auf einen hin, der auf einer glatten Flache hinabstürzt lind, von ihr zurückgeworfen und in einem Saltomortale rieochettirend, einen in jedem Augenblicke erneuten Wasserbogen bildet. Es ist die Cascade Pelerin im Chamounix. Da ist ein anderer, der in einem einzigen Satze von einer hohen Felswand niederfällt und sich in einen Schleier von Stanb auslöst. Man nennt ihn den Staubbach. Da ist ein dritter, der Gießbach am Thuncr-Sce, der in 6 bis 7 Absätzen vom Berge hinabsteigt und Cascade über Cascade bildet, und eiu vierter, der seinen weißen Schaum in einen finsteren Schlund hinabwirft, und etwa noch ein fünfter oder sechster, die wieder andere Variationen zeigen. Allein man ist im Grunde genommen bald am Ende mit der Aufzählung der Reihe dieser Variationen. Hätte man dieß herrliche Clement des Wassers der Natur aus der Hand genommen und es der menschlichen Phantasie, nachdem man sie in eine mächtige Göttin verwandelt, übergeben, so hätte diese noch ganz andere Wunderdinge damit zu Staude gebracht. Fast alle Wasserfälle, die ich sah, waren meiner Phan« taste, wenn ich ihr die Zügel schießen ließ, zu niedrig. Fast alle hatten mir viel zu wenig Schaum und Wasscrfülle. Wie Feiglinge suchen sie sich immer die bequemste Stelle aus, um in die Tiefe hinabzukommcn. Da sind in den Thälern oft die herrlichsten Felswände, von denen die Cascade» mit einem magnisiken Satze herabstürzen könnten. Sie thun es aber nicht; um sie zu finden, muß man in einen engen Einschnitt des Thales hineinkriechen, und da steht man sie denn vorsichtig auf vergleichsweise bcqnemem Pfade herabkommen und höchstens bei einem kleinen Absätze, der Versäumte Gelegenheiten zu imposanten Cascaden. 385 im Verhältniß zum Ganzen sehr winzig ist, endlich nothgedrungen einen kecken Sprung wagen. Man hat sich fast in allen Thälern über alle die vor« beigelaffencn Gelegenheiten zur Bildung höchst imposanter Cascade« zu ärgern, und doch wäre es der Natur eine Kleinigkeit gewesen, die Umstände znr Erzeugung einer solchen richtig zu leiten und zn ordnen. Und dann, um eine Cascade bewundernswürdig zn finden, muß man gewöhnlich erst recht nahe zu ihr hingehen, und um den rechten Eindruck, den die Kenner an ihr loben, zu empfangen, mnß man sich erst so oder so stellen. Soll ich erst solche Veranstaltungen treffen, soll ich erst eine gewisse Lage annehmen, damit die Natur wie eine construirte Elek-tnsirmaschine auf mich wirke, ergreift sie mich nicht mächtig, freiwillig und trifft sie mich nicht wie der Blitz, so geht der Hanptcindrnck dabei verloren. Ich mag kaum anfangen, die Bilder von Wasserfallen aufzustellen, wie meine Phantasie sie sich ausmalen kann, weil die Wirklichkeit gegen sie mir so handgreiflich arm erscheint. Aber z. B. was würde man zu einer drei Ellen dicken Cascade sagen, die aus dem Gipfel eines freistehenden Berges wie der Wasserstrahl aus dem Schädel eines Walisisches hcr-vorschössc in einem hundert Fuß hohen Bogen? Sie würde gewiß alle Reisende befriedigen. Und wäre sie eine Unmög» lichkcit? Es dürfte nur ein großes stets wohlgenährtes Was' serbassin auf einem benachbarten noch höheren Berge existiren und aus diesem Bassin eine unterirdische Nöhre in die Spitze des ersten Berges hinanfführen, so wäre der über» kochende, schäumende, spritzende Vulkan da. Aber so groß« artig hat die Natur nie gedacht und gearbeitet. «uhl, Alpenreisen, lli. 25 386 Die Felswände nicht steil, die Klüfte nicht furchtbar genug. Oder was sagt man zu folgendem Bilde? Ein mächtiger Wasserstrahl kommt von einem hohen Bergplateau herabge« schössen. Am AbHange trifft er auf ein enges tiefes Thal, über das er, von der Gewalt des Falls beflügelt, hinübersetzt. Der gegenüberliegende niedrige Berg ist so gestaltet, daß er ihn aufnehmen nnd auf seinem abgewendeten Rücken hinabgleiten lassen kaun. Wir in der Tiefe des Thales sehen den perlenden, krystallenen, schäumenden Bogen, ohne daß ein Tropfen zu uns herabkommt, über uns. So etwas, sage ich, wäre der Mühe werth gewesen. Aber, wie gesagt, keine Spur davon in der Natur, die unsere unbändige Phantasie der Lahmheit anklagt und der Kargheit. Dasselbe ist es im Grunde mit den sogenannten „him« melansteigenden" Felswänden und den „ grausenerregendcn" Klüften. Im Großen und Ganzen genommen sind die Berge nicht kühner aufgetemvelt als unsere Obelisken und Pyramiden. Sie haben fast alle recht breite Piedestale, allmälig erheben sie sich, nnd ihre Gipfel liegen so gut fundamentirt und gesichert, wie die Dächer unserer Häuser. Da steht nichts auf dem Kopfe, nichts neigt sich beängstigend schief wie der Thurm von Pisa. Nur bei dem kleinen Geröll und den abgefallenen Blöcken kommt zuweilen so etwas vor, aber me im Großen. Zum Theil haben schon die vulkanischen Urgewalten weit weniger wild und phantastisch, als vielmehr vorsichtig und vernünftig ihre Gebäude gebaut. Und nachher haben dann auch neptunifche uud atmosphärische Gewalten mit Hülfe der Schwerkraft Allcs mehr ausgeglichen, polirt und abgeschlissen und die extravaganteren Urwelt-Formen etwas alltäglicher gemacht. Die Berge sind auf diese Weise sehr einförmig gewor» Die Berge nur Variationen der Pyramiden-Form. Iß7 den. Sie gewähren fast alle nur Variationen auf die Ge« stait einer Pyramide. Man könnte sich ja da noch kubische und kuglichte und dann noch mannigfaltige andere Zusammensetzungen aus allen diesen Formen denken, wie man sie etwa in einer Collection von complicirten Krystallen vor sich sieht. Die Stufen, die Absätze, die schroffen Wände, welche eine große Reihe von Bergen darbietet, sind im Verhältniß zur ganzen Gcbirgsmasse nur klein, etwa wie die Unebenheiten, AuSfrcsslmgm und Nitzungen, Scharten und Breschen an einem alten Gemäuer. Da ist nirgends in der Kette ein Berg zu finden, der so gerade durch auseinaudcr gehauen wäre, wie etwa die Kreuzritter in der Schlacht zuweilen die Türken auseinander spalteten von dem Scheitel bis auf die Fußzehen. Und so etwas will ich doch vor mir haben, wenn vom größten Styl des Grotesken in der Natur die Rede ist. Wenn ich meinen Kopf erst nahe an eine Felswand hinanlegen und in dieser Stellung an ihr emporblicken soll, um sie „hi mm elan steig end" zn finden, so kann ich das» selbe Experiment auch mit einer Gartenmauer machen. Sie erscheint mir auch „himmclanstcigend", wenn ich, mich dicht an sie anlehnend, an ihr hinaufblicke. 5) Eine Lawinenschüttc. Ich zeigte oben, welche ungeheuere Massen von Schnee die Lawinen an ihren Ausmündungspunkten auf eiuen Fleck zusammenzuschieben vermögen. Auch diese Lawinenschneekegel widerstehen oft der Hitze des Sommers, und da im Winter 25' 388 Die ^awiuenschncekcgel. und Frühling die Lawine auf derselben Stelle neuen Schutt hinzufügt, so bilden sich hier oft enorme Quantitäten von Schnee, welche mehr oder weniger lange Lcbcnsperiodcn haben. Eine Reihe kalter Jahre baut au ihnen, Schntt auf Schutt legend und sie vergröbernd, fort. Gin paar darauffolgende wanne Jahre aber nM namentlich große Ucberschwcmmnngen benagen sie wieder und zerstören sie zuweilen völlig. Dann uud wann erreichen diese Lawinenschneckegel eine» solchen Umfang, daß sie den Gletschern ähnlich werden, von denen sie sich jedoch noch wesentlich unterscheiden. Ich will einen solchen Kegel, den ich in einem tiefen Thale des Vcrner Oberlandes besuchte, naher beschreiben, theils weil die dabei vorkommenden Erscheinungen an und für sich interessant sind, theils weil sie als Uebergangs-Phänomene manche Eigenthümlichkeiten der Gletscher zu erläutern im Staude sind. Der besagte Kegel von Lawinenschutt mochte an seinem Fuße eine halbe Stunde im Umkreise haben, und sein äußerster Gränzpunkt mochte etwa 1000 Schritt von dem Berge, an den er sich anlehnte und ans dessen Felsthälern er herabgefallen war, entfernt sein. Rundumher war der Fnß sowohl als auch der Rücken dieses Kegels mit einer Masse von Steingeröll bedeckt, das aus denselben Bergeinschnitten mit herabgeführt worden war. Von Weitem sah das Ganze wie eine große Stcinwüstenei, in deren Mitte sich ein schmnzigcr Schneeberg erhob. In diesem schien sich ein großes finsteres Loch zu befinden. Wir mußten eine Viertelstunde lang über Steiublöcke hinwegklettcrn, bevor" wir zum Fuße des Schneekegels selber gelaugten. Hier gähnte uns das schwarze Loch, das wir von Weitem gesehen, als eine gewaltige Höhle entgegen. Ei» Die Ashöhle. Gletscherstucke im LawwcnsäMe. ^89 wilder Bach stürzt aus ihr hervor und verlief sich, durch einen Irrgarten von Fclsblocken schäumend, dem Hauptflusse des Thales zu. Die Größe des Eingangs der Höhle überraschte mich ebenso wie ihre Gestaltung. Es war ein völlig regelmäßiges Gewölbe, ein schöner, großer, halbeirkelrundcr Bogeu. Wir schaßten ihre Höhe zu 40 Fuß nnd ihre Breite zu 40 Schritt. Wir sahen zugleich, daß das, was wir von Weitem für lockeren Schnee gehalten hatten, in der That lauter festes (As oder in Eis verwandelter Schnee war. Es hatte nur iu der Ferne die weiße Farbe des Schnees von einer zahllosen Masse von Blasen, die sich darin besän» den. Es war solches blasiges Eis, wie man es in den oberen Gegenden der Gletscher findet. In dieser Masse aber, mit ihr zu einem Ganzen verschmolzen, saßen unzählige durchsichtige Glctschercisstncke, die sich als solche gleich an ihrer hellblauen Farbe erkennen ließen. Es waren Blöcke, die aus den oberen Gletschern in den Lawinenschnec hinabgestürzt waren und dann mit ihm durch die abwechselnden Processe des Schmclzens und Ge-frierens zu einer einzigen Masse verarbeitet waren. Ich wunderte mich, wie selbst ganz kleine Blöcke ihre cigenthüm-licke blaue Farbe zeigten, so lange sie in der ganzen weißlichen Eismasse saßen. Ich sah kleine blauschimmernde Stückchen so groß wie eine Faust. Hätte ich diese blauen Stückchen lose in der Hand gehabt, so batten fie sich gewiß farblos erwiesen, wahrend sie, in dem weißen Schneeeise sitzend, jene Farbe zeigten. Hier scheint also das Wunderbare zu sein, daß ein Körper in Verbindung mit einem anderen eine 390 Der herabstürzende EiMitter. Farbe erhält, die er an und für sich weder selber, noch auch dieser andere Körper besitzt). Wir kletterten zu der Höhle empor und traten ein. Sie ging in vollkommen gerader Richtung durch den ganzen Eisberg hindurch. Ihr linde konnte ich nicht absehen, doch mochte sie, nach der scheinbaren Größe des Eisber« ges zu rechnen, etwa eine Viertelstunde lang sein. Der Boden der Höhle war mit einer zahllosen Masse von Steiublöcken bedeckt, zwischen denen der wilde Bach hindurchschäumte. Wir konnten ohne viele Umstände über diese Blöcke hinweggehen und drangen etwa 300 Schritt weit in die Höhle vor. Wir wären trotz einiger herabhängenden Eis» splitter bis ans Ende gegangen, wenn nicht unglücklicherweise einer dieser Splitter sich gerade vor nns gelöst hätte und, in hundert Brocken zerspringend, vor nns niedergestürzt wäre. Da solche Splitter in dergleichen Höhlen gewöhnlich einige Centner schwer sind, so sprechen sie im Herabstürzen meistens ein ziemlich gebieterisches Nichtweiter zum Wanderer. Die Höhle lag thalabwärts weit über allem Thalboden erhaben, und wir hatten daher zu ihrem weiten Gewölbe hinaus eine wunderschöne Aussicht in die grüne Tieft, die, aus einer solchen Eishöhle angeschen, uns ein sehr hübsches Bild in einem sehr seltsamen Nahmen zu sein schien. Die äußerst regelmäßige Gestalt der Höhle war wahr» scheinlich ein Product der Arbeit des Baches und der im Sommer durchziehenden warmen Winde. *) Ich glaube, man fann es so erklären. Die blaue Farbe steckt auch w allen den Eiswänden des weißen Oifts zwischen den Via, sen, kann aber der Blasen wegen nicht sichtbar werden. Du aber, wo das Eis ganz blasmlos ist, fallen aus allen Theilen die blauen Strahlen wieder in diesen Block und lassen ihu blau erscheinen. Bildung der Eishöhlen. I91 Der Bach hat zuerst allen über ihm zusammenstürzenden Eis- und Schnceabfall wcggcschmelzt und sich immer so viel Raum frei gemacht, als er nöthig hatte, durchzukommen. Als das Eis dann zu einer Masse zusammenfror, hat cr bei großem Wasser zu beiden Seiten um sich gegriffen und die Basis des Eisberges unterspült. Dadurch verloren die Eismasscn in der Mitte ihre Stütze und stürzten zusammen. Es entstand ans diese Weise eine niedrige Höhle, die der Bach nnn weiter so ansarbcitctc, daß er, wild iu seinem Bette sich herumwälzend, bald diese, bald die entgegengesetzte Seite angriff. Da, wo er Ms wegschmolz, wurden die oberhalb be» findlichen Maffen stützenlos, und zwar waren sie am meisten ohne Stütze nach der Mitte zu. Das Eis mußte also in der Mitte immer am meisten ausfallen, nach den Seiten aber um so weniger, je mehr es von der schwebenden Mitte entfernt war und je mehr die Blöcke mit ihren Wurzeln in der ganzen dichten Masse der Wände steckten. Anf diese Weise mußte nach ganz denselben statischen Gesetzen, nach welchen der Architekt seine Brücken und Ge-wölbbögen baut, sich bier ein natürliches Eisgewölbe herausbilden. Die warmen Winde, welche ohne Zweifel im Sommer zu Zeiten durch die Höhle fahren, ebneten das Gewölbe dann noch mehr aus und polirien seine Oberfläche. Uebrigens bilden sich alle durch Glctschcrbäche veranlaßten Eishöhlen in den Gletschern auf ähnliche Weise, uud es ist interessant, zu sehen, wie schon die Figur und die Richtung der Spalten, welche auswärts an diesen Gletscherthoren sichtbar werden, zeigen, nach welchen Gesetzen die ganzen Massen sich constrmrt baben und znsammenstürzen werden. 392 Die Eiswände der Höhle. Das Eis der Wände der Höhle zeigte auf der Oberssache dieselbe Mosaik, wie draußen. Es erschienen zahlreiche klare durchsichtige blaue Blöcke in die weißliche Eismasse wic Speck in Sülze eingekeilt. Sie waren aber alle vollkommen und ohne alle Zwischenraume mit der übrigen Masse verwachsen. Zwischen diesen Eisblöcken erkannte ich noch andere längliche Streifen von verschiedener Größe, welche alle ohne Ausnahme in der Längenrichtung strichen und alle mit einander parallel waren. Sie waren überall in der Höhle vertheilt. Ich hielt sie anfangs für längliche große Blasen. Als ich sie aber in der Nähe sah, fand ich, daß sie alle mit klarem Eise gefüllt waren und daß dieses Eis von den abschmelzenden Agentien ans gleiche Weise wie das weiße und das blaue Eis überpolirt war. Noch unerklärlicher und merkwürdiger als diese weißen Eisstreifen war mir die Art von Bearbeitung, welche die Eiswände der Höhle erkalten hatten. Es waren dieselben vorn nämlich ihrer ganzen Ausdehnuug nach mit kleinen, stachen, bcckenartigen Vertiefungen bedeckt, einige so tief und weit wie große Waschbecken, einige wie Suppenteller. Dabei stand, so lang und breit die Höhle war, Becken an Becken, etwa, wie wenn man in die Wände eines Gewölbes zahllose Muscheln eingedrückt hätte. Ein senkrechter Qnerdurchschnitt durch die Höhle hätte daher eine sehr zackige und gcschnörkeltc Linie gegeben. Die unteren Becken schienen mir etwas größer als die oberen. Die Ränder zwischen den einzelnen Becken wa-ren nicht scharf, sondern hatten abgerundete und abgewa-schene Rücken. Wenn ich aus der Tiefe der Höhle rückwärts über alle diese Becken binblickte, so gewährten die auf diese eigenthümliche Weise ausgeschmückten Wände einen ganz Die Schichtung der (Wmasse. 393 eigenen Anblick. Durch das Ablaufen und theilweise Gesne-ren der Tropfen konnten die Zwischenwände dieser Becken nicht entstanden sein. Dadurch hatten sich lange stalaktiten-artige Eiszacken bilden müssen. Sehr interessant war auch die Schichtung der stanzen Masse, aus welcher dieser Berg von Eis, Schnee und Stein» schütt bestand. Wir tonnton in der Höhle deutlich die vor? schicdcnen Quantitäten, welche innerhalb der verschiedenen Jahrgange berabgepoltcrt waren, erkennen, da zwischen jeder in Eis verwandelten Ecbnceschicht sich eine Lage von GruS und Stein befand. Diese Eteinlagcn zugen sich wie Adern an den Wanden hin. Da die Lawinen immer mir den Steinen zngleich herunter kommen, und die Steine sieb in den Schnee, so lange er weich ist, überall eindrücken müs> sen, so hätte man vermutben sollen, daß auch das Eis überall mit eingefrorenen Steinen ebenso hätte gespickt sein müssen, wie mit den eingefrorenen Gletscherblöcken. Allein dieß war, wie gesagt, nicht der Fall, sondern die Steine waren immer ausgeschieden und in besonderen Lagen zwischen den Eisschichten abgelagert, gesammelt und zwischengcschoben. Das Eis, voll dem wir an verschiedenen Stellen kleine Blöcke abhämmertcn, fanden wir überall vollkommen klar, auch nicht ein Sandkörnchen war mit eingefroren. Wenn ich oben sagte, daß es von Weitem ein schmuzigcs Anseben gehabt habe, so erkannten wir in der Nähe, daß dieß nur auf seiner Oberstäche der Fall war, was von einem auf ibr ansitzenden Staubüberzuge herrührte. Da das Eis, welches wir vor uns hatten, kein svaltcn-werfendes nnd vorwärtsschiebendes siletschereis war, so paßt die gewöhnliche Erklärung, die man von der Art der Reinigung des Gletschereises gibt, auf diesen Fall nicht, und er 39t ..Die Thierle." blieb mir daher unerklärlich. Doch dünkte er mir bemerkenswerth, und daß wir hier todtes, regungsloses, anfänglich mit erstaunlich viel Schmuz gemischtes Eis vor uns hatten, welches sich beim Gefrieren doch am Ende reinigte, schien mir in Bezug auf den Reinigungsproceß bei den Gletschern selbst der Erwägung werth. Ganz ähnliche Lawinenschuttkugel und Eishöhlen wie die beschriebene sieht man in allen wilden Thälern der Alpen, die sich über 3000 Fuß erheben. 6) Gemsen. Die „Käse" nennen die Hochalpcnbcwohner die „Spies" fdie Speise), weil sie täglich so viel davon genießen, wie wir Brot. Und die Gemsen heißen sie „die Thierle" oder „die Thierle", weil auf ihren Alpen kein größeres Thier so allge« mein nnd in einigen Alpengegcnden so ausschließlich ver< breitet ist, wie sie. Der Steinbock kommt nur noch in einem sehr beschrankten Winkel der Alpen vor. Bären und Wölfe giebt es auf der nordwestlichen Seite der Alpen gar nicht mehr. Auch der Luchs zeigt sich höchst selteu. Für Hirsche und Rehe sind die hohen Berge nicht geschaffen, und die kleinen Hasen und Murmelthiere werden neben den Gemsen übersehen. Die Gemse ist also das einzige größere Säugethier, das in allen Theilen der Hochgebirge, in den südlichen, wie in den nördlichen, in den französischen, deutschen und italienischen, in den schweizerischen, viemontesischen und österreichischen Alpen überall so allgemein herrschend verbreitet ist, Verbreitung und Häufigkeit der Gemsen. 395 wie m manchen Nordpolgewässern der Seehund, den die Grönländer auch vorzugsweise „das Thier" nennen. Im Ganzen kann man wohl sagen, daß in den west» lichen und südlichen Alpengegenden, wo überhaupt die ganze Fauna reicher ist, die Gemsen noch zahlreicher sind alö in den östlichen und nördlichen. In Tyrol sind sie häufiger als in der Schweiz, in Steiermark häufiger als in Tyrol, in den Graubündener Alpen, in den Seitenthälern des Kantons Tessin und in den savoyischen Ge» birgcn häufiger als in den Alpen von Bern und Freiburg, so wie in denen der Urkantone. Der beßte Beweis davon ist der, daß die Gemshörner und Gemsfellc aus jenen Ge« genden zu weit billigeren Preisen und in weit größeren Quantitäten zu bekommen sind als hier, und daß der Handel diesen Artikel von daher noch in diese nördlichen Gegenden bringt. Nichtsdestoweniger sind aber auch hier im Norden noch immer Gemsen genug. Die Jäger versichern, daß sie auch im Berner Oberlande oft noch Trupps von 15, 20, ja von 30 Gemsen zusammen sehen. Diese Angabe mag eine Art Maßstab fur die Häufig» keit des Thieres abgeben. Denn wenn sich die Gemsen in einer Gegend verlieren, so werden ihre Gesellschaften immer kleiner, und zuletzt leben sie nur noch einzeln. Die hiesigen Jäger glauben auch nicht daran, daß man eine völlige Ausrottung der Gemsen, wie sie bei dem Stein« bock stattgehabt hat, zu fürchten habe. <5m Jäger, mit dem ich über diesen Punkt sprach, und der sick längere Zeit in Savoycn aufgehalten hatte, mcmte, dcr Stcinbock habe seine Vertilgung mehr oder weniger selbst verschuldet. Nr sei nicht nur weit muthiger, sondern auch eben daher unbe- 396 Die „Gratthiere" und die „Waldthiere." dachter und minder schlau als die Gemse. Er halte dem Jäger viel häufiger Stand als diese und weiche ihm mit nicht so viel Scheu und Sorgfalt wie die Gemse aus. Eben daber sei er viel öfterer zum Ovfcr gefallen nnd in den meisten Alpen am Ende gänzlich ausgerottet worden. Die Gemse dagegen habe sich eben dnrch ihrc große Furchtsamkeit und geschärfte Vorficht besser conservirt. Man unterscheidet bei den Gemsen zwei Gattungen, die „Gratthierc" und die „Waldthicre", ie nachdem sie mehr in den tieferen Wäldern nud Thälern oder auf den höheren Bergabhängen oder Gründen leben. Denselben Unterschied macht mau hier, wie ich schon bemerkte, allgemein bei mehren anderen Gattungen von Thieren. Gewöhnlich liegt bei diesen von den Bergbewohnern gemachten Unterabtheilungeu der Thiere die so wichtige Abtheilung der Erdoberfläche in bewaldetes nnd begrastes Land nnd in felsiges und Schneeland znm Grunde. Und eben diese Rücksicht läßt denn auch die Gemsen in jene zwei Species zerfallen. Die Gratthiere oder Felsengemsen leben das ganze Jahr ans den höchsten Bergspitzen und kommen selbst im Winter nicht aus den Scknee- nnd Oisreqionen derab. Diese hingegen ziehen sich im Winter in die Waldgegenden zurück und kommen, wenn es oben besonders stark wintert und schneit, selbst bis tn die tiefsten Thäler und bis zu den Scccn in diesen Thälern herab. Es ist schwer, deu Grad des Unterschiedes zwischen den Wald- und Gratthieren genau zn bestimmen. Und doch ist ein charakteristischer Unterschied da. Die Gemsen, welcke Gratthiere heißen, halten sich immer oben, und die Nald-thicrc (im Winter) immer unten, nud man darf nicht glauben, daß einige Thiere etwa nur aus individueller Vor- Bastarde von siegen und Gemsen. 397 liebe oder zufällig oben bleiben und andere sich mehr in der Tieft aufhalten, daß die Thiere derselben Art etwa in ihrer Jugend mehr oben leben und im Alter sich mehr nach unten ziehen. Nein, es sind zwei verschiedene Naeen von Gemsen, die etwas anders gebaut sind und etwas anders leben, jedoch nicht so verschieden sind, daß sie sich nicht unter einander begatten könnten. Die Gratthicre, einige nennen sie auch wohl „Schnee-thierle", sind etwas kleiner als die Waldthicrc, haben dünnere und spitzere Hörner, sind unvergleichlich viel wilder und, da sie immer sehr spärliche Nahrung haben, stets auch magerer, hochbeiniger und schlanker gebildet. Die Waldthiere sind etwas plumper und dabei weichlicher. Sie bleiben meistens auch im Sommer in den oberen Waldregionen. In Gegenden, wohin Jäger nicht häufig kommen, mischen sie sich sogar nicht selten uuter die Ziege». Auch begatten sie sich mit den Ziegen, und die Bastarde, die davon entspringen, haben halb Gemsen-, halb Ziegennatur. Ich habe in mehren Dörferu und Thälern von diesen GemS-ziegen gehört, nie aber ein solches Thier zu sehen bekommen. Das Factum wird aber vou allen Kennern der Gemsen zugegeben. Die Hirten, welche ihr Vieh in diejenigen Gegenden, welche die Waldgemsen bewohnen, treiben, versichern, daß diese Thiere sehr wohl eincn friedlichen Hirten vor einem feindlichen Jäger zu unterscheiden wissen und vov jenem so wenig Scheu zeigen, daß sie ihn mit seinem Vieh oft bis auf eines Steinwurfs Distanz nahe kommen lassen. Ich sah eine solche kleine Waldgcmsc, die man nach der Erlegung des Mutterthiers eingcfangcn und gewöhnt hatte, mit einer Ziege in Gemeinschaft ihre Nahrung zu suchen. 398 Menschenscheu der Gratthiere. Die Gratthiere haben dagegen eine unbesiegbare Scheu vor dem Menschen. Ich sah ein solches Thier, das man schon länger als ein Jahr im Käfis, hielt und sorgfältig gefüttert hatte. Dennoch war das ängstliche und scheue Wesen, das es verrieth, als wir uns ihm näherten, fast bewundernswürdig. Es glotzte bald den Einen, bald den Änderen unserer Gesellschaft mit seinen großen, schwarzen Augen ängstlich an und stand am ganzen Körper zitternd und mit geknickten Beinen, die es sofort zum Sprunge liier- oder dorthin anzog, je nachdem wir eine kleine Bewegung auf der einen oder anderen Seite machten, in der Mitte seines Käfigs. Ein Jäger, der mir einen Begriff von der Menschenscheu der Gratthiere geben wollte, erzählte mir Folgendes. „Ich ging auf einer meiner Gemsjagden auf einer hohen Alpenwicse hin und kletterte dann einen steilen Felsenabsatz hinauf. Als ich oben war und auf jene kleine Wiese zurückblickte, sah ich eine Gemse daher kommen. Ruhig und nichts Böses ahnend näherte sie sich den Fußstapfen, die ich im Grase zurückgelassen hatte. Auf einmal, als sie diese Fnßstapfen erreichte und die Witterung bekam, schien eS, als wäre sie vom Blitze getroffen. Ihre Beine knickten ein, und sie stürzte, von Schrecken ergriffen, einen Augenblick auf dem Grase wie todt zusammen, hatte sich aber in demselben Augenblicke wieder aufgerafft und schoß leidenschaftlich über die Felsengründe, welche die kleine Wiese von den unteren Regionen trennten, wie ein Pfeil hinweg, ehe ich Zeit hatte, mich ihr auf Schußweite zu nähern." Der Geruch des Menschen erschreckt, wie alle Jäger sagen, die Gemsen noch weit mehr als sein Anblick. Wenn ein kleiner Trupp von Gemsen die „Witterung vom Jäger" bekommt, ohne ihn zu sehen, so gebärden sie sich wie wähn« Neschleichung der Gemsen. Iy9 sinnig, weil sie sich nahe bedroht fühlen, ohne zu wissen, von welcher Seite die Gefahr kommt. Sie springen auf, sie laufen hin und her, recken die Köpfe nach allen Seiten m die Höhe, machen Saltomortaleö die Felsen hinunter und wieder hinanf, bis sie den Jäger irgendwo eutdeckt haben. Haben sie dieß, so sind sie etwas beruhigter, weil sie jetzt ihre Maßregeln nehmen können. Sie fassen ihren Feind nun ms Auge. Rührt er sich nicht, so bleiben auch sie nicht selten in ihrer Position. Bewegt cr sich aber nach einer Seite, so entschlüpfen sie rasck nach der entgegengesetzten. Zuweilen ereignet eö sich, daß ein Jäger gerade in dem Augenblicke, wo cr hinter seinem Versteck hervorblickt, von den Gemsen entdeckt wird. Zieht er sich dann ungeschickter Weise gleich wieder hinter seinen Bnsch oder Felsen zurück, so ist ihm das Wild verloren. Denn die Thiere wissen nun wo der Jäger steckt, und da er sich wieder verbarg, so fürchten sie, umgangen zu werden, und machen sich daher aus dem Staube. Nimmt aber der entdeckte Jäger, sofort sich fassend, die Unbeweglichkeit einer Bildsäule an, so blicken die Gemsen oft lange nach ihm hin, und hat er noch einen unentdeckten Begleiter bei sich, so kann er sie auf diese Weise wohl so lange festhalten, bis es diesem gelungen ist, sich den Thieren auf Umwegen zu nähern. Zuweilen beuutzen die Jäger jene Weise der Gemsen so: sie machen aus ihren Kleidern eine Figur, hängen ihreu Rock über den Alpenstock, stülpen ihren Hut darüber und stecken das Ganze auf einer hervorragenden Stelle in den Boden, und sie selber schleichen oder kriechen dann, während die Gemsen ihre ganze Aufmerksamkeit auf Men Popanz richten, durch das Gebüsch auf Schußweite zu ihueu heran. H'W Die Gemsziegen vorsichtiger als die Gemsböcke. Es scheint also, als könnte das Auge der Gemsen leichter getäuscht werden als ihr Geruch, dessen Empfindlichkeit die Jäger zwingt, gar viele Rücksichten auf ihre eigene verrathe-rischc Ausdünstung zu nchmcu. Daß sie den Wind beobachten und immer suchen müssen, den Gemsen in einer Richtung zu nahen, welche der des Windes entgegengesetzt ist, versteht sich von selbst und ist bei vielen Thieren nöthig. Aber sie müssen auch sogar auf Schatten nnd Sonnenschein Rücksicht nehmen. Jagen sie die Gemsen ans der Sonnenseite der Berge, so müssen sie sie von oben bcschlei-chen, weil die erwärmte Thalluft dann in die Höhe streicht und den Gemsen alle Gerüche von unten zuführt. Auf der Schattenseite der Berge fallen dagegen die kälteren Luftschich« ten herunter und führen den Geruch des Jägers nach unten, daher er in diesem Falle die Gemsen von unten herauf erreichen muß. In der Regel werden sonst die Gemsen leichter von oben herab beschlichen, weil sie gewöhnlich die Gefahr von unten erwarten und ihre Wacheu, die auf hohen Fesen stehen, daher häufiger die Augen auf das Thal und die tieferen Gegenden gerichtet babcn. Es scheint, als ob dem männlichen Geschleckte in der ganzen Natur uebeu großem Muthe auch ein gewisser Mangel an Vorsicht eigen sei, während das schwächere Geschlecht neben größerer Furchtsamkeit auch größere Klugheit besitzt. Dieß scheint auch bei den Gemsen der Fall zu sein, und vermuthlich kommt es daher, daß man weit mehr Gems-böcke schießt und fängt als Gcmsziegcu. Die Jäger behaupten, daß unter zwölf Gemsen, die sie erlegen, we» nigstcns 7 bis 8 Böcke sind. Die vier lebendigen Gemsen, welche ich in meinem Leben in der Gefangenschaft ge» Dic „Führgels". Elasticität der Gemsen. zy< sehen habe, waren alle männlichen Geschlechts. Und ein hiesiger Gemscnfrcund hat ohne Mühe dcr Reihe nach i lebende Gemsböcke erlangt. Es ist ihm aber bisher noch nicht gelungen, sich, wie er es wünscht, eine Ziege zu verschaffen. Dasselbe findet man anch bei manchen Fischen, z. V. bei den Forellen. Die weibliche Forelle ist viel schcner und vorsichtiger, schwimmt mehr im tiefen Wasser und entfernt von dem Ufer, und entgeht daher dem Angler hänfiger. Die Schildwache, welche bei den Gemsen ausgestellt wird, ist auch gewöhnlich eine weibliche Gemse (eine Geis). Die trotzigen Böcke sind viel gleichgültiger bei der Be-wachnng. Auch ist der Anführer eines Gcmsentrupvs beim Rückzüge immer eine Geis. Die Jäger nennen sie die „Führgeis". Die Böcke bilden die Arriere'Garde nnd werden daher hänfiger überrumpelt. Ich sagte oben, daß die Naldthiere schwerfälliger seien als die Gratthiere, weil sie, als nicht ans so schwierigem Terrain lebend, anch nicht in so schwierigen akrobatischen Künsten geübt werden. Doch muß dcr Leser mein Wort „schwerfällig" nnr vergleichsweise nehmen. Die Waldthicrc sind nur schwerfällig zn nennen, wie das dreimal gestrichene F ein niedriger Ton zn nennen ist, im Verhältniß nämlich zum viermal gestrichenen. Im Grnnde werden alle Gemsen schon als wahre afro» batiscke Künstler geboren nnd baben von Kindesbeinen das Klettern so in den Gliedern wie die aus dem Ei gekrochenen Fische das Schwimmen. Selbst die Thierchen die nur erst wenige Stunden die Lebenslust athmen, tummeln sich alsbald auf den Felsen wie die jungen Enten auf dem Wasser. Und Leute, welche geglaubt haben, solche Thierchcn fangen zn können, «°Kl, AlpemMn. III. Htz tO2 Schwerfälligkeit der Gemsen auf ebenem Boden. haben die Erfahrung gemacht, daß sie so schwer zu haschen sind, wie Quccksilbcrtropfen. Die Jäger behaupten, es bedürfe nach der Geburt nur weniger Augenblicke, um den kleinen neugeborenen Gemsen alsbald die ganze Elasticität ihrer Muskeln zu geben. Die Mutter beleckt sie nnd rollt sie mit ibrcn Hörnern und der Schnauze ein paarmal im Grase herum; rasch erheben sich dann die Thierchen auf ihren vier Beinen, besinnen sich und hüpfen davon. So bewundernswürdig die Springkünste der Gemsen auf dem gebrochenen Terrain der Felsen sind, fo können sie es doch auf der Ebene weder mit dem Hasen, noch mit dem Hirsche, noch mit dem Hunde aufnehmen. Gerathen sie ans große ebene Strecken, so werden sie leicht die Bente der Jagdhunde. Sie gehen auf der Ebene wie Eavalcristen, die vom Pferde gestiegen sind. Eine gefangene Gemse, die ich einmal in den Alpen eine Zeit lang in meiner Nähe hatte, und die einen großen Stall bewohnte, verließ daher jedes Mal, wenn wir ihr nahten, sogleich den ebenen Boden nnd sprang in eine Krippe oder auf ein Fcnstergcsims oder sonst auf einen hohen Vorsprung, den sie einstweilen als Felsen gelten ließ. Ebenso suchen die Gemsen auch ans der Jagd, wenn man sie mit Hnnden verfolgt, die Höhen der Felsen zu gewinnen. Ha« ben sie sehr schroffe Felsspitzen erreicht, so zeigen sie sich ziemlich beruhigt, als wüßten sie wohl, daß der Hund sie dort nicht erreichen kann. Werden sie aber von einem Hunde an Stellen überrascht, wo sie ihm nicht mehr aus« weichen können, so setzen sie sich gegen ihn zur Wehr, indem sie sich durch eine Felswand oder einen Baum den Nucken decken. Der Hund bleibt in diesem Kampfe keineswegs im- Gemsen und Hunde. zgg mer der Sieger. Die Gemse schlitzt ihm nicht selten den Bauch auf; denn obwohl ihre Hörner stark gekrümmt sind, so weiß sie doch von den versteckten Spitzen derselben sehr geschickt Gebrauch zu machen. <5m sehr gewandter Jäger, mit dem ich einmal nber die Gemsjagd mit Hunden sprach, nnd der mir bei dieser Gelegenheit die außerordentliche Geschicklichkeit seines Hundes loben wollte, äußerte sich dabei auf eine Weise, die eine größere Vorstellung von der Gewandtheit des Jägers als der des Hundes zn geben im Stande ist. „O mein Hnnd," sagte er, „ist ein vortrefflicher Kletterer. Er geht den Gemsen beinahe noch besser nach als ich selbst." Im Ganzen sind Jäger. Hunde und Gemsen auf diesen Jagden gleich bewundernswürdig. Diese letzteren machen die kühnsten nnd wundervollsten Sätze. Allein sie müssen dabei auch, wie es scheint, häufiger ausruhen. Die innere Angst reibt auf die Dauer ihre Kräfte auf, während die Leiden» schaft und die Verfolgnngslnst dem Jäger nnd dem Hunde fast übernatürliche Kraft und Ausdauer geben. Keineswegs entweichen die Gemsen, wenn sie fliehen, stracks in unerreichbare Ferne; gewöhnlich halten sie vielmehr irgendwo in der Nähe wieder an, so daß man denselben Gemsentrnvp lange verfolgen und von Fleck zu Fleck ja-gen kann. Nicht selten aber haben die Thiere irgend einen Zu« flnchtsort in der Nahe, den sie als sicher für sich und als unerreichbar für den Jäger kennen. So zeigte mir z. N. ein Jäger am Nande des auf der Nordseite des Wet» terhorns herabhängenden Gletschers eine Höhle, zu welcher sehr häusig die Gemsen, welche anf dieser Seite des Wet» terhorns gejagt werden, entschlüpfen. 26« 404 Kriegslisten der GcmZjäger. Die Schliche uud Künste der Ocmsjäger sind mannigfaltig, und Taufsure, der einen eigenen Paragraphen über die Gemsjagd geschrieben hat, und andere Alvenschildercr haben davon viele Beispiele angeführt. Eine Kriegslist habe ich aber bei einem Winteraufenthaltc in den Alven bcobach« tet, deren ich noch nirgends erwähnt sah, und die darin besteht, daß die Jäger, wenn Schnee gefallen ist, sich weiß fleiden, so wie sie im Sommer auf grüne oder graue Kleidung halten. Sie ziehen nämlich aus den Winterjagden ihr Hemd über den Nock statt darunter. Wenn die Gemsen nicht gleich tödtlich getroffen werden, so gehen die raschen Thiere noch mit der Wunde oder der Kugel im Leibe davon und verhauchen ihr Leben erst an einem entfernten Orte, wo der Jäger, der seine angeschossene Beute nie aufgiebt, sie znweilen erst nach tagelaugem Suchen findet. Von allen Theilen ihres Organismns sind den Gemsen keine unentbehrlicher als die Beine und die Lunge. Daher sind sie auch jedesmal verloren, wenn sie hier ver« wundet werden. Durch die Brust nnd Lunge schießen die Jäger sie am liedsteil. Wenn die Luuge aucb nur auf der Ober» fläche gestreift ist, so stürzen sie Augenblicks zusammen. Selbst das Herz scheint diesen Springern kaum so unentbehrlich zu sein. Die Jäger versichern, sie schössen ihnen oft ganze Stücke vom Herzen weg, und dennoch machten sie einige weite Sätze vorwärts, ehe sie niedersielen. Es ist das gewöhnliche Schicksal der armen bloß angeschossenen Tlüere, daß sie an irgend einem AbHange, bei dem sie dann den unversehrt gebliebenen nicht folgen können, hinabstürzen. Znweilen werden sie an den Felsen so zerschmet« Das Trinken von Gcmsenblut. zyH tert, daß der Jäger, der ihnen nachklettert, von ibnen nichts Brauchbares mehr findet, als einen Schenkel oder die Hörner. Aber, was schrecklicher zn sagen ist, anch der Jäger Glieder werden durch einen Abstnrz znweilen ebenso an den Felsen vertheilt, wie die Glieder des Bruders der Medea am User des Phasis, In einem meinem Anfentlialtoorte benachbarten Thale stürzte voriges Jahr von einer grausigen Höhe der Engelhörncr ein Gemsjäger herab, dessen Gelnrn, Fleisch und Knochen dermaßen an den Felswänden vertheilt und verstückclt waren, daß man nicht so viel von ihm wieder zusammenfinden konnte, was der Beerdigung werth gewesen wäre. Man hat oft erzählt, daß die Gcmsjägcr den Aberglauben haben, das Trinken des warmen Blutes der Gemsen stärke gegen Schwindel und flöße einen rechten Gemsiager« nnd Bergfteigermuth ein. Und dieß ist nicht bloß eine poetische Sage. Nach dem, was mir einige Oemsjäger gestanden haben, muß ich glauben, daß nicht nnr jener Aberglaube noch sehr stark unter ihnen im Schwang, sondern daft eö auch ein ganz gewöhnlicher Gebranch bei ihnen ist, nachdem sie eine Gemse er' legt haben, von dem warmen Vlute derselben zu trinken. Ein Gemsjäger zeigte mir ein kleines ledernes Trink' gefäß, das er zu diesem Zwecke anf seinen Jagden immer bei sich trüge. Ich fragte ihn, wie das Blut schmecke. „Wie warme Milch," sagte er. Zuerst habe ihm sein älterer Bru« der das Blut gegen den Schwindel zu trinken gelehrt, nnd es dabc ihm anfangs etwas widerstanden. Jetzt aber trinke er es gern und aus Wohlgeschmack. <>l finde, es stille nach einer hitzigen und anstrengenden Jagd besser als alles andere Getränk den Durst. 406 Feinde der Gemsen. Es ist bemerkenswert!), wie ähnliche Arten des Aberglaubens , daß der Genuß des Blutes oder Fleisches wilder Thiere stärke nnd Muth gäbe, sehr weit auf der Erde verbreitet sind. So glauben nach Kampfer z. V. die Japanesen, daß die Jäger nnd Soldaten von dem Fleische einer gewissen sehr berühmten Schlange, die bei ihnen „Firakutz" heißt, genießen muffen, mn beherzt und unüberwindlich zn werden. Die Grönländer essen sogar von dem Herzen der von ihnen überwundenen Feinde, um sich gegen alle Nacheanfälle stark zu machen. Die Indianer in den Andes verschlingen das Blut des (s.ondors, indem sie ähnliche Vortheile davon erwarten. Anch bedienen sich die Gemsjäger des Gemsfcttcs znr Heilung von Wnnden, wobei es allerdings bessere Dienste leisten mag als das Blut beim Schwindel. Dem Menschen fallen zwar vermnthlich die meisten „Thierle" zum Opfer, doch haben die Gemsen anch noch viele andere Feinde nnd kommen auf gar mancherlei Weise nms Leben. In einigen Theilen der Alpen haben sie den Wolf, den Bären und Luchs zu fürchten, fast überall die Adler und Lämmergeier, die besonders den Jungen nachstellen nnd zuweilen darüber mit den Mutterthieren in Kampf gerathen. Mitunter wohl werden die flüchtigen Thierchen von einem dnrch die Lüfte herabvfeifcnden Steine erreicht, wie sie hier besonders im Frühjahre von allen Höhen herunterkommen. Nicht selten werden sie von Lawinen erhascht und binabgeschlendert. Nicht weit von einem meiner Aufenthaltsorte in den Alpen war eine sehr wilde und steile Felsenpartie, gn diesem AbHange zogen sich im Winter immer ziemlich viele Gemsen Die Gtmscnlager unter dcn Schirmtanueu, 407 zunick, weil sie dort vor dem Menschen vollkommen sicher waren. Die Wälder, welche diesen Bergabhang bedeckten, waren von zahllosen Lawinenzügen durchfurcht. Und obgleich die Gemsen diese Lawinenzüge sehr wohl kennen und möglichst vermeiden, gewöhnlich auch unter den Bäumen bleiben, so geschieht es doch fast jeden Frühling, daß die Bewohner des am Fuße des Abhauges liegenden Dorfes beim Schmelzen des Schnees den Leichnam irgend eines mit Lawinen hcrab-gekonnnencn Gemslcins finden. Es giebt auf den hohen Bergen hier und da einzelne große Tauncn mit breitem Gezweige, welche die Hirten „Schirmtannen" nennen. Unter diesen Schirmtannen, deren Schatten im Sommer die Schafe nud Ziegen benutzen, versammeln sich die Gemsen im Winter häusig, um Schutz gegen Kälte und Sturm zu finden. Unter solchen Schirmtannen pflegen sie sich eine Art von Lager zu bereiten, indem sie dort den Schnee niedertreten und Futter zusammenschleppen. Haben sie einmal unter einer Schirmtannc oder im Schutze eines Felsen oder einer Höhle Post» gefaßt, so bleiben sie gewöhnlich den ganzen Winter da. In der Regel haben sie in der Nähe eines solchen Platzes eine kleine Quelle, die nicht zufriert, und an deren Ufer immer etwas Grünes zu finden ist, vielleicht auch einen Felsen, an dem Vcrgsalz („Sulz," wie die Gemsjager sagen) ausschwitzt das sie besonders gern lecken, und das einen Theil ihrer Winternahrnng ausmacht. Auch die liis» zacken belecken sie hänsig, an deren Oberfläche man gewöhu-lich einen salzigen Anhauch findet. Von ihrem Lagerplatze aus bilden nun die Gemsen im Verlaufe des Winters zu allen jenen Punkten Wege hin, auf denen sie ihre täglichen Excursion«! ausführen. Jedoch i08 Verhmigette Gemsen. sind diese Excnrsionen im Winter natürlich immer viel kürzer als im Sommer, wo ihnen die Wege durch Schnee nnd Eis nirgends versperrt sind. Wenn sehr hoher Schnee fallt, vermögen indeß die armen Thiere weder ihre Wege, noch ihre Lagerstatten davon frei zu halten, lind ihre ganze kleine Gesellschaft kommt dann zuweilen vor Hunger um. Ein Jäger erzählte mir, er habe einmal im Frühling unter einer großen Schirmtanne ^ eingeschneite nnd verhungerte Gemsen gesunden. Sie hatten den Schnee nnter den Vänmeu überall niedergetreten. Außerhalb der Zweige desselben aber sei er ihren Kräften zu hoch und zu mächtig gewesen. Die Rinde und Nadeln des Baumes hätten sie rund herum benagt gehabt. Aber der Schnee habe lä gcr gelegen, als diese Nahrung vorgehalten. Die GemMger behaupten allgemein, daß im Winter auch Erde und verwitterte Steine („fauler Fels," wie sie sagen) eine sehr gewöhnliche Nahrung der Gemsen abgäben. Namentlich sollen sie viel verwitterten Thonschiefer verschlingen, nnd im Magen der Gratthiere, die im Winter geschossen werden, findet man immer eine ziemliche Quantität sol« chen Gesteins. Zuweilen sind ihnen bei ihrer so schwierigen Ernähr» nng im Winter die Winde bchülflich, die immer hier nnd da auf den Spitzen nnd kckcn der Berge ein kleines Stückchen Nasenlandcö von Schnee entblößen und zur Aesnng ftei halten. Auch wissen die Gemsen Moose und andere Kräuter, welche die Schneelage conservirte, mit ihren schan« felahnlichen Klanen geschickt hervorzngrabcn. Im Winter, wo jeder kleine Fleck nnr wenig Nahrnng und Naum gewährt, leben die Gemsen mehr zerstreut als im Sommer, wo sie sich zu größeren Trupps vergesellschaft Der Pelz der Gemsen im Vommer und Winter. H,yg ten. Moistens sieht man dann nur 4 oder 5 beieinander. Doch hat auch jeder dieser kleinen Wintertrupps seinen An« führer, seine „Führgeis," die gewöhnlich auch, wie die Iä> ger sagen, die Stelle des Winterlagers auswählt und bestimmt. Ihr Pelz ist, wie der fast aller Thiere, im Winter schöner als im Sommer. Im Sommer haben sie eine schmnzige dunkelgelbe Farbe. Im Winter aber werden sie bis anf wenige Stellen der Hant, welche gelb gezeichnet bleiben, fast ganz schwarz. Doch ist dabei auch noch der Unterschied zwi« schen den Grat« und Waldthicrcn, daß diese früher schwarz werden als jene. Ein Jäger, den ich um die Ursache die« ser Erscheinung fragte, meinte, es käme bloß daher, weil die Waldthiere häufiger zu Bäumen und Büschen gelangten, an denen sie sich die alten Haare bei Zeiten abscheuerten. Wenn ich oben sagte, daß die Gratthiere gewöhnlich die höheren baumlosen Gräte und Gipfel bewohnen, so muß man dieß doch nicht zu buchstäblich nehmen und die „Gem» scheni" (so heißt der hiesige Pluralis von Gemse) nicht allzuhoch suchen. Ich erinnere mich, daß ich in der ersten Zeit meines Aufenthaltes in den Alpen die Gemsen immer auf den höchsten Gipfeln der Jungfrau, des WetterhoruS, des Glock' ners, des Natzmanns, des OrteleS :e. mit dem Perspective entdecken zu können glaubte. Allein auf diesen öden Höhen, auf denen zuletzt nicht einmal mehr Moos wachsen kann, habe» die Gemsen gar nichts zu suchen und zu sinbe«. Und sie gelangen nie dahin, als höchstens dann, wenn einmal einige von einem Jäger versprengt sind und jene Spitzen als temporäre Zuflucht aufsuchen. Ihre eigentliche Sommerheimath bilden die mittelhohen Gräte und Berge, die etwa 410 Llebe der Kälte und frischen Luft bei den Gemsen. noch einige tausend Fuß über der Waldrcgion (diese geht auf der Nordseite der Alpen bis >'ili00 Fuß über dem Meere) erhaben sind, etwa die Gegend von .^00—9000 Fuß, in der es noch Grasweiden giebt. Die Gemsen lieben vor allen Dingen die frische Luft und die Kälte, an die sie in ihren Höhen von Jugend auf gewöhnt sind. Letztere scheint ihnen fast in ebenso hohem Grade Bedürfniß zu sein, wie den Eisbären. Man findet sie au warmen Sommcrtagen oft auf dem Eisc der Gletscher ausgestreckt, um sich zu kühlen. Und auch meiner gefangenen Gemse, von der ich oben sprach, dnrfte daher ihr Stall im Winter nie völlig verstopft werden. Das Fenster, das sich in ihrem Stall befand, blieb selbst mitten im Winter bei jeder Kalte offen. Die Fensterbank war breit, und auf dieser Bank hinter dem eisernen Gitter, das vor die Oeffnung gezogen war, sah ich täglich das Thier bei 6, ja bei 10 Grad Kälte liegen, um frische Luft zu athmen. Ihr Besitzer versicherte mir, es sei dieß Tag und Nacht ihre gewöhnliche Lagerstätte. Es ist sehr merkwürdig, daß weder die Engländer in ihren großen „xaolo^l^l Ogl-äsi^," noch die Franzosen in ihrem an Thieren aller Gattungen so reichen ,,,j!»rdm