Alpenreisen von I. G. K o h l. Zweiter Theil Dresden und Leipzig, Arnoldische Buch l> andlung. 1849. In der Arnoldischen Buchhandlung in Dresden uud Leipzig sind erschienen und in allen Buchhandlungen zu erhalten: N. Walsh. Reise von Konstantinopel durch Rumelicn, das Valkangebirge, Bulgarien, die Walachei, Siebenbürgen und Ungarn. <2in Deitrag ^ur Aundc des türkischen Neichcs. Aus dem Englischen übersetzt von W. A. Lindau. Mit einem Plane der Gegend um Konstantinipel. 2 Theil«. I Tblr. lltz Ngr. Zwei Jahre in Spanien und Portugal. Reiseerinnerungcn von M. Willkomm. 3 Vändc. 12. broch. 5, Thlr. Die griechische Kirche in Rußland von 1>r. H. Wtmmer. 8. broch. 2! Ngr. Aus Karls von Nostttz, weiland Adjutanten des Prinzen Louis Ferdinand von Preußen und später russischen Gcneral-Lieutnants, Leben und Briefwechsel. Auch ein Lebensbild aus den Befreiungskriegen. «. broch. 2 Thlr. Denkwürdigkeiten aus dem kriegerischen und politischeil Leben eincs alten Offiziers. Mn Beitrag zur Geschichte der letzten vierzig Jahre von G. v. Martens. 8. broch. 2 Thlr. Alpenreisen von I. G. kohl. Zweiter Theil. Dresden und Leipzig, Arnoldische Buchhandlung. 1649. Inhalt. Seit« III. Sommcrrcisc durch die rlMschcn Alpen und auf die italienische Seite . . . ^ "i 1. Zürich............ » Wunderbarer Regenbogen. — Kühnheit eines Adlers. — Menschliche Äffecte bei Thieren. — Verbreitung der Pflanzen und Menschen.— Das Herz der Schweiz. — Die Nömerstädte in der Schweiz. — Lage vpn Zürich, — Abendmahlfeier im Züricher Münster. 2. Am Züricher See......... ^ Der Kinthcanal. — Fabrikbörfer am Züricher See. — Die schweizerischen Fabrikarbeiter. — Rührigkeit der Züricher Fabrikanten. — Die Züricher Seeweine. — verschiedene Gesichtspunkte. — Züricher Urtheil über dle Urschweizcr. — Komische Noth eines Franzosen. — Handelsstraße durch das Linththal. — DaS eingeschachtelte Appenzell. — Zersplitterung der Schweiz. — St. Gallen. H. Appenzell-Außerrhoden...... . 24 DioHauptortevonNppenzell.— Spaltung derAppen-zeller. — Die Anßcn- und Innerrhodener. — Neu? schweiz nnb Urschwelz. — Sieg der Rabicalen. — Appcnzeller Stickennnen. — Appenzcller Fabrtk-Herren. — Die Geschichte von Nppenzell- ^. Appenzell - Inncrrhodm......32 AppenzellerVolfsnatnrell. — NaturellderSt. Gal-ltner. — Das obere Sitternchal. — Die „Molkenkur^. — IndnstrielosiMt. — Die gestickten Blumen.— Allgemeine Augsbnrgcr Zeitung. — Prügelstrafe: Streichen und Hauen. — Die fremden Capitalien. IV Inhalt. Seit« 3. Auf dem Kamor......... 40 Die Ebenalp. — Das Nilokirchlein. — Die schweizer Waldbrüder. -— Iolen und Dudeln. — Der freie Bund am oberen See. — Gin frohmüthigerAppen-zcller. — Der alte Schuh. — Schweizer Natur? schwärmerei. — Die Alpenblumen. — Geisbuben-namen. — Lage des Kamor. — Aussicht von demselben. — Dicnstsertigkeit der Geisbuben. — „Vbrn" und „hur". — Das Gin- und Ausfahren. — Das Lied von Hans Von Ncrdenberg. — Vom Kamor hinunter. 6. Ragaz und die Kluft von Pfäfers . . 5? Das Rheinthal. — Die Nömerfahrten. — <3ou2 m»l», — Die Rofla. — Die Freien am Rhyn. — Das Nhclnwalb. — Splügen als Handelsort. — Bergamasfer Schafhirten. — Der österreichische Adler auf dem Splügen. 10 Chiavenna...........i»! Nord- und Südseite der Alpen. — Das St. Jacobs-thal. — Dle kahlen Verge. — Die Galerieen der Alpenstraßen. — Hcrabfahrt vom Splügen. — Wunderwerke des Straßenbaues. — Kastanien und Kartoffeln. — Die schweizer Lanbvögte. — Dte Grotten von Chiavcnna. — Benutzung der Lustzüge. — Die beiden Nachbarn. — Der Zugwind in Italien. 11. Am See von Como........142 Bändigung der Flüsse. — Seldenwürmer-Zucht. — Die armen Seideproducenten. — Mühevolle Zucht der Seidenwürmer. — Die beßte Seide. — Villeggia-tur am Comersce. — Reizedes Comersees. —Doppelnamen der italienischen Seen. — Gin italienischer Schlffscapitan.—- Die psume«»! »p°«i. — Die Dorfer am Eomersee. — Die Villen an» Comerscc. — Berliner Pilgrime am ssomersee. — Die nordwestlichen Ufer des Comersees. — Die k. f. Militärmusik. — Italienische Villen und englische Cottages. — Vi!I» ?linl»n». — Die wunderbare Ouelle. — Die alten und neuen Naturforscher. — Anbau am Comersee. 12. Die cimbrischen und suevischen Berabe« wohner an der Gränze des lombardtsch-venetianischcn Königreichs......!63 Dle 8«u« (üummuni. — Hitze im Thale der Vrenw. — Die Granzlinic zwischen Deutschen und Italienern. — Die Deutschen im Gtschthale. — Deutsche Verg-namen ln der Lombardei. — Vorrücken der Italiener in Tyrol. — Die Italiener ln Südtyrol. — Die Siebenberge. — Aehnlichkeit mit Appenzell. -^ <^untrn ^ Die Mönche als Gastwlrthe. — DcrilrstreMft. ^" ^ MnStutzrrpllaraufderFurka.—.Doppelpässe, —Die D^eM der Rhone. — Die Bewohner der NhonkPlelle. 21. Am Rhoueglctscher........293 Der wahre Rhonequell. — Gletscher- und Quellwasser.^ — Der neidische Grimselwirth. — Gin Nerllner Ghe^ « ^anr««sdem Gletscher. — Rudi der Wnlllser. — Der WasserfM im Else. — Dte klltre» ven Frankreich. 22. Auf der Grimsel ......... 299 Die Malenwanb. — Gebirgswege. — Die Grimsel. — Schlechtes Wetter und gute Gesellschaft. 23. Auf dem Unteraargletschcr . . ... 304 DasEisobscrvatorium. — D-cr Aarenboden. — Namenlose Berge. — Gl«tscherphänomene. — Dle Glotftherfiöhe. — Moräne des AarMschws. — Das Nsloi äe« «eus«liätel<ü«.— Gletscherthaler. — illuS-ficht vom Aargletscher. — Glctschcrcinsamkelt. vill Inhalt. Seite 2«. Das Dberhaslithal........314 Das Aarthal. — Auf- und Abfahrt. — Von Guttannen bis zum Vödeli. ...... .re. IV. Herbstreise nach Savoyen und durch den Jura. K. Freiburg............319 Das schweizer Deutsch und Französisch. — Schweizer Ansicht von Nationalitat. — Sprachliche und politische ^ , Trennung. — Freiburgs Lage. — Die Jesuiten. — «^ ^ Das Iesuitenpensionat. — Die Schlafsäle desselben. — Iesuiter Betfaal. — Maria unter Blumen. — Canisius. — Heiligmachung. — Sturz der Jesuiten. 2. Vevau.............332 Das nirdNchs Küstenland des Genfersees. — Der ^» Braukessel der helvetischen Civilisation. — I.« Sturm auf dem Genfcrsee, — Lage von Laufanne. — Das Signal. II. Am See von Neufchatel . . . . . 403 Der Paß von Balaigucs.— Der Neucuburger See. — Die drci Tage der Stürme. — Die Seen im Jura. — I^e» vignobles und la inonwßns. — Die Iesuitenzöglinge. — Der schweizer Musterstaat. — Neufchatel und die Könige von Preußen. — Die Aka-mie in Neufchatel. I 2. Von Neufchatel nach La Ehaux de Fonds 4,3 Charakter des Jura. — Die Thaler im Jura. — Das Furstenthum Vallcngin. — Uhrcnfabrikation im Jura. — Die Uhrmacherfamilie Richard. — Größe der Uhrenproduction. — Geistiger Werth der Uhrmach crkunst. — Uhrenfabriken in Frankreich. — Verfehlte Concurrenz. — Ausbreitung des Uhrenhandels. — Die Uhren von Genf und Ncufchatel. — Das Thal von La Chaur de Fonds und Locle. 55 A Inhatt. V;i9V Seite Is. La Chaux de Fonds . . . .... 423 Theilung der Arbeit. — Die Guillochems und Gtui-verfertigcr.— DieEftiralsebern. — Das Edelstein-schleifen. — Neue Maschinen. — Ingeniöse Instrumente. — Die Doppeluhren der Chinesen. — Verbrauch an Uhren. -^ Wohlfeilhcit der Uhren. --Mangel an guten Uhren. — Intoleranz eines Uhren-fabrifanten. — Schweizer Tyrannei. IH. Locle.............436 Der 6hef der Künstlerfamitte der Richards. — Tic unterirdischen Mühlen von Locle. — Deutsche Musikanten. — ^>« «uut clu Douds. 13. Von Locle nach Solothurn.....440 Lampcnfabrikanten. — Kalte Luftschichten. — Die Deutschen inNcufchatel. — Die schweizer Gouvernanten. — La Harpe und Aristoteles. — Die Fremden in der Schweiz. IN. Solothurn .... . . . . V . . 446 tM . Verncr Volköschlag. — Die gestürzten Größen der l -.,, .Tch^veiz. — Schwierigkeit des Studiums der Schweiz. ' — Artillerie in der Schweiz. — Iuramuseen. I?. Von Solothurn nach Basel ..... 45 l ,.j.> Vine Waldenserin.— DcrWaldcnserArnold. —,Noth der Waldenser und' ihr englischer Protector. ^ Der nördliche Theil des Jura. — VascUandfchaft.—,Ra-dicalismus derBascllandschaftler.— „Im Namen des souveränen Volkes/' 18. Basel............. '4^ Vasol und Bremen. — Baseler „Kammcrlein" und Bremer „Kindertaae". — Traurige Oede von Basel. — Neinlichfeit in Basel. — Die Heidenboten. — Mis-fionsgesellschaften. — Der junge Bramin als Missionar. — Nutzen der Bekehrungen. — Die alten Märtyrer. — Niickkeln'. - -I^ .»^ - ' ''^ ^!-, ^ z Ill Sommerreile durch die rhätischen Alpen und auf die italienische Seite. Kohl, Aivcnrtisen. n. 1 1M)> l. Zürich. 33on diesen meinen ersten Frühlingsausflügen ruhte ich wiederum eine Zeit lang in dem schönen Interlaken aus. Nnterdeß war der volle Sommer in die Alpen eingezogen und hatte in oem Schnee und Eise der Berge so weit aufgeräumt, daß hier alle Pässe und Berggipfel zugänglicher geworden waren. Wir rüsteten uns daher zu einem größeren AuSfluge, um über Zürich und die nordöstliche Schweiz in die rhätischen Gebirge dorzu-oringen, zu den italienischen Alpen und Gauen hinüberzusteigen und über den St. Gotihard uud die ihm benachbarten Gletscher ;u unserem Schlupfwinkel zurückzukehren. Zürich liegt in dem Thore der Thaler, durch welche die Wege zu der östlichen Schweiz führen, und uin rasch zu diesem Thore zu gelangen, mußte ich wieder, die Verge, die zwischen uns lagen, umgehend, weit in die ebene Schweiz hinansgrei-fe», um in einem großen Vogen über den Thuner See, über Bern, fast bis zur Mündung der Aar, über Aarau, Vrugg und Vade» dahin zu gelangen. Als unser kleiner Thuner Dampfer in die Milte des Thuner SeeZ hiliausgeschlüpft war, und ich noch einmal auf unser freundliches Thal, von dem ich wieder auf mehre Wochen Abschied nahm, zurückblickte, sah ich es in einer so außerordentlichen 1* 4 Wunderbarer Regenbogen. Beleuchtung, wie ich es noch nie geschaut- Es lag ein ällßerst feiner Nebel darüber, in dem wir das zerflossene Vild eines Regenbogens bemerkten. Gin eigentlicher Vogen war es nicht, vielmehr waren die prismatischen Farben wie unregelmäßige farbige Wolken in großen Massen über einander gehäuft. Die Sonnenstrahlen schienen in dem Nebel gleichsam zu zerschmelzen, und ihre blauen, gelben, rothen und grünen Tinten gingen in breiten Schichten auseinander. Dabei waren sie aber außerordentlich hell und frisch und füllten den ganzen weiten Thal-schlund zwischen den Bergen. Die hellen Farben, Gelb, Orange und Roth, lagen ganz unten am Voden, dicht über den Hausern von Interlaken, und es sah fast so aus, als erglühe die ganze Atmosphäre über dem Thale von einer gewaltigen Feuersbrunst. Ich habe auch sonst wohl regenbogenartige Phänomene von ähnlicher Vildung gesehen, aber nie in solcher Größe und Pracht, wie dieses Mal. Wir zerbrachen uns vergebens den Kopf darüber, wie dieser wunderbare Lichteffect erklart werden könnte, aber wir erlabten lange unsere Augen mit diesem schönen Anblicke, bis er uns bei der sogenannten „Nase/' einem felsigen Vorge« birge des Thuner Sees, bei dem unser Schiff eine andere Richtung nahm, entzogen wurde. Vei diesem Vorgebirge fesselte eine andere kleine, höchst interessante Begebenheit unsere Aufmerksamkeit. Ein Fischadler, der hier poftirt war, hatte eben, als der Schnabel unseres Dampfschiffs die äußerste Spitze des Vorgebirgs doublirte, eine fette Veute, irgend einen großen Fisch des Sees, ergriffen. Der Fisch war ihm aber offenbar zu mächtig, denn wir sahen den Vogel über dem Wasser und halb schon in dasselbe eingetaucht mit ihm kämpfen. Er mußte ihn zu fest gepackt haben, denn er konnte sich auch, als ihn der Schrecken unserer Annäherung ergriff, nicht sogleich von ihm losmachen, und es dauerte die«. Kühnheit eines Adlers 5 ftr Kampf mehre Secunden. Ein Schuß, der von lmserem Schiffe aus auf ihn fiel, ihn aber fehlte, gab ihm endlich die Energie der Entsagung. Vr riß sich los, ließ den Fisch fahren uno schwang sich langsam vor uns von dem Wasser empor. Eö ist bekanntlich nicht selten, daß die kühnen Adler und Geier sich in Bezug auf ihre Kräfte verrechnen und Thiere angreifen, die sie nicht zu bemeisten, vermögen, vergl. Th. I. S. 129. Well sie häufig Gelegenheit haben, unterwegs interessante Beute zu machen, so sind wohl die Capitänc und Steuerleute der Dampf» schisse auf den Schweizersten gewöhnlich mit geladenen Flinten versehen. Unsere»» Adler, der sich, wie gesagt, langsam und mit triefenden Flügeln vor uns erhob, wurde daher gleich noch ein Schuß nachgesendet, der ihn aber ebenfalls fehlte. Unwillig schüttelte er sich und wendete sich nun rasch zur Seite, indem er einen weiten Vogen hoch über den See hinzog. Wir folgten ihm mit den Augen, im Glauben, er würde sich nun völlig zu den Bergen hinauf verlieren. Zu unserer Verwunderung aber sahen wir ihn auf einmal wieder umbiegen und pfeilschnell zu unserem Schiffe zurückfliegen. Er kam so rasch und so nahe herzu, daß er einen Augenblick in den Rauch unseres Schornsteins hinabtauchte und fast unsere ganze Gesellschaft erschreckte, da es beinahe schien, als hatte er sich einen von uns zur Veute erlesen. Hier benahm sich nun das Thier ganz außerordentlich, und wir bewunderten seine Tollkühnheit. Er hielt sich mehre Secunden gerade über unserem Schornsteine in der Luft und schüttelte dabei zu wiederholten Malen sein Gefieder, so daß wir deutlich wahrnahmen, wiees sich sträubte undspreizte. Warenochcin Schuß in ciner unserer Flinten vorhanden gewesen, so hatte mail ihn leicht herabholen können. Ohne Zweifel wollte der Vogel seinen Zorn gegen uns darüber auslassen, daß wir ihm seine Beute abgejagt, und vergaß sich in seinem Affecte sü weit, b Menschliche Affecte bei Thieren. daß er die Flintenschüsse, die sich doch leicht hatten wiederholen können, nicht achtete. Wie sonderbar, daß ihm dieser Zorn, dieser Aerger erst unterwegs gekommen war, als er schon die Flucht ergriffen hatte. Bei dem Knalle unserer Flinten hatte der Schrecken in ihm die Oberhand. Als er sich aber besann und unverletzt fühlte, übermannte ihn der Aerger über uns und das Gefühl der Nache. Wie ahnlich ist doch dieser Gang seiner Empfindungen mit den Seclenregungen, wie sie in uns Menschen bei ähnlichen Gelegenheiten vorzutreten pflegen. Nach diesem Vorfalle, dessen Augenzeuge ich war, bin ich nun ganz geneigt zu glauben, was die Alpcnbcwohncr von der überlegten Kühnheit der Adler erzählen, von denen sie behaupten, daß sie auf den Vergen zuweilen Menschen und auch Ochsen und Kühe angreifen und mit ihrem Flügclschlage zu erschrecken suchen, um sie in Abgründe hinabzustürzen. Unser Adler wiederholte mehre Male sein drohendes Experiment und entzog sich dann, ehe die Schiffer ihre Flinten wieder in Stand setzen konnten, rasch unseren Blicken. Von Thun aus machte ich dieß Mal die Reise nach Ver» zu Fuß, längs der Aar, und ich hatte dag Glück, dieß in Begleitung eines knndigen Botanikers des Landes zu thun, der mich auf ein sehr interessantes Phänomen aufmerksam machte. Er zeigte mirnämlich am Ufer des Flusses eineMenge von Pflanzen, die hier blühten, obgleich sie eigentlich nicht hier, sondern auf den hohen Alpen zu Hause waren. Fast alle Flüsse der Alpen bringen nämlich Wurzeln und Gesäme hoher Alpengewächse mit von den Vergen herunter. Diese fassen in der Tiefe längs der Ufer festen Fuß und bringen so hier eine Mischung der Producie der fremdartigsten Klimate hervor. Da sie indeß hier ihre eigentliche Heimath nicht haben, so vermehren sie sich nicht bedeutend, sondern sterben aus, werden aber immer wieder durch Verbreitung der Pflanzen und Menschen. 7 neu zugeführten Samen ersetzt. Rund um den Fuß der Alpen herum ragt auf diese Weise die Alpenflora längs der Flußufer tief in die Flora der Ebenen hinab. Zuweilen findet man auch ehemalige Flußthaler, in denen das Wasser in Folge einerVer-änderung des Flußlaufs austrocknete, und in denen noch jetzt eine nicht völlig verwischte Hochgebirgsflora von der ehemaligen Eristenz des Wasserfadens, der das Hohe und Niedere verband, zeugt. Sehr interessant sind in dieser Hinsicht auch die Berg-stürze, Kothlawinen, Erdfalle und Steintrümmeranhäufungen, sowie die Lawinenzüge in den tieferen Thalern. Auch sie führen beständig eine Menge Gesame von den Pflanzen der höheren Regionen mit herab, und in der Nähe einer Gegend, wo solche Ausschüttungen statthatten, findet man immer viele Gewächse, die im Thale selber eigentlich Fremdlinge sind. Nach dem Vorgange der erratischen Blöcke könnte man solche Pflanzen sehr gut erratische Pflanzen nennen. In den Alpen, wo die Mischungen des Oberen mit dem Unteren so groß und häufig sind, sollte man diesen erratischen Floren oder diesen Wanderpflanzen längst eine eigene Betrachtung und Untersuchung gewidmet haben. Wie die Pflanzen, so folgen auch die Menschen den Flüssen und ihren Ufern und wie bei dem Zusammenmünden mehrer Flüsse und Thäler zahlreiche Blumengattungen verschiedener Gegenden sich häufen und ansiedeln, so firiren sich auch in der Regel menschliche Ansiedelungen an einem solchen Puncte. Auf der ganzen oben von mir angedeuteten Tour von Vern nach Zürich giebt es keinen Punct, der in dieser Hinsicht interessanter wäre als die Gegend bei Vrugg, wo sich die Aar, die Reuß und die Limmat mit einander vereinigen. In diese drei Außadern rinnen die meisten Gewässer sowohl der alpinischen als der jurassischen Schweiz. Die Seen von Neuchatel, von Muo U Das Herz der Schweiz. ten, von Thun, von Vrienz, von Luzern, von Zug und Zürich schütten allen ihren Ueberftuß hierher. Fächerförmig gehen die Thäler der Limmat, der Reuß und Aar von hieraus aus einander, und es entsteht daher hier ein Vereimgungsknoten sowohl mehrer Gewässer, als auch mehrer Straßenzüge. Im Grunde sollte man hier die Hauptstadt, das Herz der ganzen Schweiz, zu sinden erwarten. Zu der Zeit, als Helvetic» eine einige römische Provinz war, etistirte hier auch in der That die helvetische Hauptstadt, das große und mächtige Vinäoniss», welches von den Allemannen zerstört wurde. Spater hat sich die Schweiz in eine Menge kleiner Staaten mit besonderen Hauptstädten zertrümmert, und es war daher natürlich, daß dieser merkwürdige Erdsteck sich in der Geschichte nicht mehr in dem Grad bedeutungsvoll zeigen konnte. Es bleibt indeß wunderbar und fast unerklärlich, daß spater nicht einmal der Sitz eines Bisthums oder derHauPtmarkt eines Cantons sich hier entwickelte. Das ganze Mündungsgebiet der drei genannten, hier zusammenlaufenden Flüsse ist sehr fruchtbar und reizend. Die Gegend ist stark bevölkert. Mehre kleine Städte und reiche, in der ganzen Welt berühmte Klöster drangen sich hier zusammen, die Städte Vrugg, Vaden, Mellingen, Lenzburg, die Kloster Wettinge», Königsfelden,c. In dieser Gegend residirten ehemals die machtigen Grafen von Lenzburg. Hier hatten die Habsburger ihr Stammschloß, und mehre der reizenden Hügel, durch welche die vereinigten Gewässer jener Flüsse hindurchbrachen, sind noch mit den Trümmern anderer berühmter Schlösser gekrönt. Zu wiederholten Malen trafen in diesen Gefilden die feindlichen Heere, welche längs der Flüsse hinzogen, auf einander und vermehrten die Classicitat des Bodens durch blutige Schlachten. Kurz es ist hier ein in historischer, militärischer, naturgeschichtlicher, geographischer und commercieller Hinsicht Die Rvinerstädtc in der Schweif 9 sehr bedeutungsvoller Erdsteck, wo sich sehr viel des Interessanten und Wichtigen in einem einzigen kleinen, leicht übersehbaren Panorama zusammendrängt, ohne daß jedoch, wie gesagt, wunderbarer Weise alle diese Lebenselemente zu einem einzigen großen Centralvuncte, zu einer bedeutenden Hauptstadt sich vereinigt hatten. SoNte einmal die Schweiz wieder ein einziges monarchisches Oberhaupt, wie zu den Zeiten der römischen Proconsuln erhalle», so würde gewiß hier an der Stelle des alten Vindonissa die neue helvetische Hauptstadt wieder entstehen. Es ist merkwürdig genug, daß die großen Städte, welche die Romer in der Schweiz gründeten, alle bis auf das einzige 6e-nevu so vollkommen ausgerottet wurden, daß auch fast gar nichts als nur wenige Trümmer von ihnen übrigblieben. Diese großen Städte sind ^vontioum in der Nähe des Murtener Sees, ^uSiiLtn knuruoal'uln am Rhein und unser Vmüoinss» in der Nahe der Zusammenkunft jener drei Flüsse. Die Localitaten aller dieser großen Städte sind fast völlig zur Einöde geworden, und nur drei kleine Dörfer erinnern noch anjene einst so berühmten Name».- Avenchcs an ^venUmim, Äugst an ^uzfustn Unui»-«orum, Windl'sch an Vinäoni«««. Die Völkerwanderung muß hier in Helvetic« zerstörender gewesen sein als in Deutschland selbst, wo die römischen Colonieen Coblenz, Cöln, Trier und andere noch heutiges Tages als große Städte blühen. Unter den großen Städten der jetzigen Schweiz haben Zürich, Luzern und Genf eine sehr ähnliche Lage. Sie liegen alle drei am Ausflüsse eines Sees, der sich trichterförmig bei ihnen zuspitzt und dann in einem breiten Cauale mitten durch die Häusergruppen hittvilrchfließt. Diese drei genannten Städte erinnern daher sehr an Venedig und seinen 6lml,l Franäo, namentlich Zürich, in dessen Straßen es nebenher noch mehre andere Ca-näle giebt. Freilich fehlen am Ufer desWassers die alten Pracht- 10 Lage von Zürich. Paläste der Lagunenstadt. Dagegen ist das Gewässer selber das sich zwischen den Hausern ergießt, viel reizender als in dem schmuzigen, sumpfigen und trägen ^anal Fl-lmäo, ein krystallklarer und schnellfüßiger Vergsee-Erguß. Die meisten vonCanä-lm durchzogenen Städte sind Lagunenstädte und liegen, wicVe< nedig, wie die holländischen Städte, wie Königsberg, in Niederungen. Zürich ist eine durchwässerte Stadt mitten in einer Gebirgslandschaft. Gin Theil des Orts selbst liegt auf dem Rücken einer Anhöhe. Es scheint hier Wasserniederungs- und Vergstadt anmuthig verbunden. Wenige'Stabte gewahren so liebliche Ansichten. Zürich ist reich an höchst interessanten Sammlungen und In-Muten aller Art, und unsere deutschen freien Reichsstädte Vrc-men, Hamburg und Lübeck stehen darin gegen das kleine Zürich außerordentlich Welt zurück. Gern widmete ich der an vielen historischen Merkwürdigkeiten reichen Bibliothek, den Münz-cabmetten, den naturhistonschen, zoologischen, mineralogischen und antiquarischen Sammlungen einige Tage. Doch war mir unter den zahlreichen Merkwürdigkeiten der Stadt der Anblick ihrer Hauptkirche fast das Merkwürdigste. Außer bei den Preö-byterianern in Schottland habe ich nirgends eine solche überraschende und fast verletzende Einfachheit der inneren Kircheneinrichtung gesehen. Der Züricher Münster ist von außen ein schönes altes Gebäude. Im Inneren aber ist er völlig ausgeräumt. Da ist nicht eine Spur von Gemälde, Vild-, Schnitz« werk und Monument geblieben, nicht einmal eine Orgel (erst jetzt fangen die Züricher an, allmälig wieder Orgel» in ihre neuen Kirchenbauten einzuführen), nichts, gar nichtö als die vier kahlen Wände, die zum Theil mit Vretern benagelt sind. An die Bänke für die Gemeinde, welche den Raum füllen, ist nicht die geringste Kunst gewendet. Sie sind nus fichlenen Abendmahlfcicr im Züricher Münster. ^ Latten zusammengeschlagen. Die Kirche gleicht einer schöngeschmückten Nußschale, aus der man den Kern rein herausgenommen. Wie muß so etwas die Italiener frappirm, wenn sie über die Alpen herüber hierher kommen. Sie werden hierin ohne Zweifel nichts als die unbegreiflichste Barbarei sehen. Ich wohnte in dieser Kirche einer Vertheilung des beiligen Abendmahls bei, die nach dem strengen Züricher Ritus ebenso einfach und eben so eigenthümlich ist. Da nicht eine Spur von Altar oder Altartisch in der Kirche vorhanden ist, so macht man aus dem Taufstein, welcher das einzige Kirchengeräth ist, einen Abendmahltisch. Er wird mit Bretern und einem Tuche bedeckt. In hölzernen Bechern und auf hölzernen Tellern wird Wein und Brot dargereicht. Der Prediger vertheilte Beides an die 24 Kirchenvorsteher, welche ihn umstanden, und dann gingen diese zu den Mitgliedern der Gemeinde, die ruhig auf ihren Bänken sitzen blieben, und theilten es unter diese aus oder „dienten es ihnen zu,^ wie die Züricher sich ausdrücken. Ich habe nirgends die alten Liebesmahle so treu copirt gesehen, wie hier in dem Züricher „Großmünster." 2. Um Züricher See- Der Züricher See ist schmal und lang. Seine Lange betragt uon Zürich an dem einen bis Schmerikon am anderen Ende nahe an 10 Stunden. Er setzt in einem der merkwürdigsten Durchbrüche oder Thäler, die es in den Alpen giebt, quer inS Gebirge hinein. Der ebenfalls sehr schmale und längliche Wal-lenstädter See liegt in demselben Thale. Beide Seeen sind nicht 12 Der Linth-Canal. durch Gebirgsstufen, sondern bloß durch einen stachen marschigen Grund von einander getrennt. Früher mochten sie wohl einen einzigen zusammenhängenden See von 20 Stunden Lange bilden. Auch oberhalb des Wallenstädter Sees setzt sich dieser merkwürdige Durchbruch noch fort ins jetzige Graubündener Nheinthal hinein, von dem er nicht durch Verge geschieden ist, von dem er vielmehr nur eine Abzweigung zu sein scheint. Da an dem Puncte dieser Abzweigung, bei Sargans, das Land auf fast ganz gleiche Weise sich zum Züricher See abdacht, wie zum Vü-densee, so scheint es möglich, daß der Rhein seine Gewässer fast eben so bequem durch das Thal des Züricher und Wallenstädter Sees hinausfördern könnte als durch das Thal des Vodensees. Jetzt stießt er durch dieses. Man glaubt aber, daß er ehemals in der That durch jenes seinen Ausweg aus dem Irrgarten der Alpen gefunden habe, und daß der Walleniladter See, der Züricher See und die aus diesem ausstießende Limmat noch jetzt den alten Lauf des Rheins bezeichnen. Da beide genannte Seen jetzt durch ein vortreffliches Kunstgewässer, den vielgerühmten Linthcanal, verbunden sind, so kann man hier von der ebenen Schweiz aus querdurch die Alpen bis fast nach Graubünden hinein zu Schiff fahren. Die Fahrt beginnt in der starkbevölkerten, reichbebauten, industriereichen Landschaft bei Zürich und endet in den volksarmen, felsenreichen, nur von Hirten bewohnten Klüften des Inneren der Alpen. An den vorderen Ufern des Züricher Sees sieht man nur grüne und niedrige Hügel. Hinten au. Wallenstädter See aber steigen die Verge bis zu 7000Fuß Höhe hinauf. Auf der ganzen Linie ist jetzt eine Winter und Sommer hindurch thatige Dampfschiffverbindung hergestellt, und ich bestieg eines dieser hübschen Züricher Dampfschiffe, das eben so stark bevölkert war, wie die Ufer des Sees selbst. Bekanntlich ist die Umgegend von Zürich einer der industriösestcn Fabritdörfer am Züricher See. 13 Länderstriche der Welt. Die eine Hälfte der Bewohnerschaft ist mit derVaumwollenmanufacrur, die andere Hälfte mit der Verarbeitung der Seide beschäftigt. Beide Industriezweige find hier schon sehr alt. Schon vor mehr als 30a Jahren, gleich nach der Einführung der Baumwolle in Europa, fing man hierin den Alpen an, sich der Verarbeitung derselben zu widmen, und ist seitdem allen Fortschritten der Entwickelung dieses Kunftzwei-ges gefolgt. Das rohe ostindische Product umsegelt die ganze Erde, kommt dann auf mancherlei krausen Handelswegen bis in diese versteckten Bergthäler, wird hier von nüchternen, geschickten, fleißigen und sparsamen Arbeitern gestaltet und brauchbar gemacht und geht dann zum Theil auf denselben Wegen wieder nach Ostindien zurück, wo die trägen Asiaten die Kosten aller dieser Reisen bezahlen müssen. Die Seidenmanufactur ist hier noch älter. Denn schon im 13ten Jahrhundert sollen Züricher Kaufleute Seide aus der Lombardei geholt haben, um sie in den Dörfern am See verarbeiten zu lassen. Die Neligionsunruhen in Italieu und die Vertreibung der Hugenotten aus Frankreich und namentlich aus Lyon brachten aber besonders viele Seidenarbeiter nach Zürich und gaben diesem Industriezweige vorzugsweise seine jetzige Ausdehnung und Bedeutung. Es fragt sich, ob irgendwo in der Welt ein Manusacturdistrikt einen reizenderen Anblick darbietet als dieser längs der Ufer des Züricher Sees. Man findet hier Dorf an Dorf, ein jedes stark bevölkert, jedes voll freundlicher Wohnungen, jedes mit Obstgarten, Weinbau und Laubgehölzen umgeben. Der Anblick der Dörfer bezeugte mir, was man mir schon in Zürich selbst gesagt hatte, daß die fabricirendcn Menschen hier nicht in dieselbe Sclaverei (tlw ^lnt« slaves) verfallen sind, wie in England. Obwohl einige Fabrikherren auch in dieser Gegend bedeutende Capitalien angesammelt haben 14 Die schweizerischen Fabrikarbeiter und durch diese Capitalien denn auch über eine Menge Leute com< mandiren, deren Wohl und Wehe in ihren Händen ist, so sind doch im Ganzen nach schweizerischer Weise die Capitalien mehr zerstückelt und vertheilt. Gs girbt eine ganze Menge wohlhabender kleiner Fabrikherrm von jeglichem Caliber, und diese wohnen nicht etwa, wie in Manchester, in einer einzigen großen räucherigen Stadt zusammengehauft, sondern vielmehr in einer Menge hübscher Dörfer am See hin und in vielen kleinen Orten in den Thalern zur Rechten und Linken verstreut. Daher kommt es denn auch, daß die hiesigen Fabrikarbeiter nicht so völlig aus dem Zusammenhange mit der Natur und den übrigen Lebensbe-schäftigungen herausgerissen sind. Das Wesen und die Kräfte eines englischen Fabrikarbeiters gehen so ganz in der einseitigen Beschäftigung auf, daß er außerhalb seiner Fabrik fast so unbeholfen und unbrauchbar erscheint, wie ein Rad, wenn es aus dem Zusammenhange mit seiner Maschine gebracht wird. Hier am Züricher See sind dagegen die Fabrikarbeiter auch sonst brauchbare und im höchsten Grade intelligente Menschen. Dieselben Leute, welche die seidenen und baumwollenen Stoffe weben, Pflegen auch in ihren Garten die schönen und feinen Obstsorten, derentwegen die Ufer des Züricher Sees berühmt sind. Vielleicht gehören diese Fabrikarbeiter des Züricher Sees zu den gebildetsten und am beßten gestellten Fabrikarbeitern der Welt. Nach dem, was ich in der Schweiz gesehen habe, muß ich glauben, daß man diese Bemerkungen mehr oder weniger auch auf alle schweizerischen Fabrikarbeiter, sowohl in den Manufactur-distrikten von Aargau, als in den Seidenbandfabrikorten von Basel, in den Uhrenfabrikthalern im Jura und in den Vammvol-lenfabrikgegenden von Appenzcll anwenden kann. Die schweizerischen Arbeiter sind überall sehr maßig, sehr nüchtern, schr intel-ligentund anstellig, sehr sparsam und fleißig, undsie verdanken es - Rührigkeit der Züricher Fabrikanten. IS besonders diesen Eigenschaften, daß sie in ihren von den großen Handelsmarktplatzen entlegenen Erdwinkeln im Stande sind, uut vielen weit günstiger situirten Fabrikgegenden zn concurriren. Wir hatten zwei Lehrer der französischen und englischen Sprache amVord, die bei einem dcr Züricher Dörscr ausstiegen. Sie versicherten mir, daß fast in jedem dieser Dörfer Engländer und Franzose!!, sowie Italiener als Sprachlehrer etablirt wären, daß man fast in jedem Dorfe die vier Hauptsprachen Europa's erlernen könne, und daß sie auch beständig von den Bewohnern fleißig erlernt würden. Dazu fehlte es keinem Dorfe an Schnllchrcrn, an Rechenmeister», Kalligraphen, Buchhaltern :c. Kurz ein Kaufmann und Fabrikant könne fast in jedem dieser Dörfer eine vollständige kaufmännische Vorbildung erhalten. In wclchcm englischen Fabrikdorfe ist dieß der Fall'? Der Züricher Fabrikant und Handelsmann muß durch seine In« tclligenz und seine vielseitige Brauchbarkeit und Regsamkeit über andere Fabrikanten und Handelbleute, die ihre Weltstellung mehr begünstigte, siegen. Er reist selbst nach Mailand oder Vrescia, „m an diesen Hauptmarkten für den Seidenhandel feine Rohwaaren möglichst billig einzukaufen. Er geht selbst nach Lyon und Paris, um die Bedürfnisse der Mode und die Leistungen des Geschmacks kennen zu lernen. Er besucht endlich auch in Person England und Amerika, der Baumwolle und der Maschinen wegen. Ja, er spinnt seine Faden von diesem kleinen Centrum seines ganzen Netzes, diesem hübschen Züricher See in den Alpen, bis nach Ostindien und China aus. Kaum hatten die Europaer durch Vermittelung der englischen Flotte festen Fuß an der Küste von China gefaßt, so waren gleich darauf einige Züricher da und setzten sofort ihren kleinen Canton in directe Verbindung mit dem großen himmlischen Itz Die Züricher Seeweine. Kaiserreiche, eine Verbindung, die seitdem nicht »ur aufrecht erhalten, sondern beständig noch erweitert worden ist. Der Hauptdistrikt der Fabrikation befindet sich auf der rechten Seite des Züricher Sees. Man kann sagen, daß hier ein großes Fabrik- und Industriegebiet sich durch die Thaler und Landschaften von St. Gallen, Appenzell und Thurgau bis an den Vodensee und den Rhein hinzieht. Auf der linken Seite stellt er nur einen schmäleren Strich in der Dörferreihe längs des Sees dar. Auch in Vezug auf die Naturprodukte ist vas rechte oder nördliche, also dem Süden eröffnete Ufer bevorzugt. Das südliche oder gena» gesprochen südwestliche Ufer ist den kalten Nordostwinden, die aus Vaiern über den Vodensee ins Land hereinstürmen, ausgesetzt und erzeugt daher weder so seine Früchte, noch so „lieblichen" Wein wiedas Nordufer, wo der warme Föhn häufiger seine mildernden Einflüsse walten läßt. Ich sage, nicht so lieblichen Wein, denn die Züricher, die in ihre Seeweine ganz verliebt sind, finden sie so, obgleich ein Fremder mit ihnen darüber oft zu disputiren Lust hatte. Eine ununterbrochene Kette wohlhäbiger Dörfer, mit neuen, propern, wemlaubumkränzten Wohnungen, wohlgefällig gebaute Fabrikhäuser, meistens von mäßigem Caliber, nicht solche unermeßlich große, casernenartige, einförmige Riesenwohnungen, wie in England, auch nicht so wie diese von ewigem Nancbc geschwärzt, sonvern 'oon Gärten und blühenden Obstbäumen umgeben, auf dem See kleine und große Segelschiffe, welche den Handel des Sees betreiben, lmd kleine Voote, die in der Mitte des Wassers ankern nnd mit Leuten gefüllt sind, welche die Seide waschen, zu den Seiten des Sees grünbelaubte Höhen und im Hintergrunde die hohen Alpen, i,t die man auf raschem Dampfer mitten hineinfährt, das sind die anmuthigen Gegenstände, die sich dem Reisenden darbieten auf diesem reizenden Verschiedene GHchtSpnnrte. H7 Züricher See oder vielmehr, wie die Landeskinder ihn selber nennen, auf diesem Zürichsee. Denn die Schweizer machen häufig solche Compositions, wie diese: der Zürichsee, die Luzernmänner, die Vernregierung, das Vaseiland, die Genfzeitung, Compositions, die nicht in dem Geiste unseres jetzigen Sprachgebrauchs sind, da wir in solchen Fällen gewöhnlich das eineSubstantiuum in ein Adjectivum verwandeln. Wahrscheinlich ist diese Schweizersprachweise eine uralte Wortbildnng bei den germanischen Völkern. Denn wir finden sie auch bei den Englandern, diez.V. sagen: tneLellgzl-lmm, tnol^anüon-pnpkls, tlw üvrlii, - people ete. Die Schweizer gebrauchen zwar auch zuweilen statt der Composition das Adjectivum, doch erlauben sie sich dann wieder beim Schreiben eine Besonderheit. Sie schreiben und drucken dann das Adjectivum und Substantivum immer Weins, z.V. so: „die Vernerzeltung," „der Zugersee," „der Züricherrath." Je weiter man in die Verge hineinkommt, desto sparsamer werden die Fabrikdörfer und die Dörfer überhaupt. Endlich hört bei Richterswyl oder Richterschwyl daS Gebiet des Cantons Zürich völlig auf, und man tritt in das Gebiet der Urcantone. Da sind die Ufergelände grün, wiesig und waldig. Da sind die Hauser klein, einfach und alt. Da zeigen sich keine neuen Fabriken und nur eine spärliche, wenig geschäftige Bevölkerung. Da blöken und musiciren die Kühe mit ihrem melodischen Glockengeläute. Da wird es rund umher, auch auf dem Tee ganz still und einsam. Da spiegeln sich die nun schon nahe getretenen Alpenhäupter in seiner Krystallfläche. Da steigen die frommen Pilger an den Fußpfaden des Etzel und der Schinoellegi zu der gebenedeiten Mutter von Einsiedeln hinauf. Da wehen die frischen Verglüfte ihnen entgegen und tragen ihnen die erquicklichen Töne der Glocken von den Capellen, Kirchen und Klöstern in 18 Züricher Urtheil über die Urschweizer. Einsiedeleien zu. Da ertönt das Alpenhorn auf hoher Matie, da ruft der Senner jodelnd und jauchzend seinem Liebchen im Thale zu. „Mit einem Worte," so sagte ich, „auf dieser Ecke des Sees eröffnet sich mir wieder ein Paradies ganz anderer Art. Jene Hälfte bei Zürich haben die Neuzeit, die Industrie, die Cultur, die Kunst, der Mensch ausgeschmückt. Dieses Ende aber in der Urschweiz haben die Natur, das Alterthum, simple Hirten und die Frömmigkeit reizend gemacht." „NaUo Ii>, Monsieur, no purler plu»," unterbrach mich hier einer der Herren aus dem Züricher Indnstriedistrikt, deren Wesen und Gespräche ganz verändert, höchst gereizt worden waren, seitdem unser Dampfer unter dem Schatten der schwyzerVerge vorüberfuhr, „halle lä, Monsieur, en louant ces monlagnards lä sur Ies rochers, vous faites ä peu pres comme Monsieur Lamartine, qui a meme dorc la guillotine. Vous croyez peut-elre, que ce sont tous des ^pasteurs fideles," ces Messieurs de Schwyz. Oh non ! Monsieur, co sont des coquins, qui se disent loyaux. Ce sont des hypocrites, ce sont des insolente qui osent s'opposer ä notre diete. Ce sont des traitres, qui nous ameneront lesAutrichiens et Ies Croates dans notre beau pays. Et quant ä Monsieur le prince-abbe de Einsiedlen ei Ies seigneurs-magnates dc Uri et de Unterwaiden, nous leur montrerons en peu do semaines, que ce n'est plus lo temps de nous trailer en bčtes. Nous ne serons plus leurs dupes ; et quand ils rčsistent, nous Ies chasserons avec Ies peres Jesuites, ees „bons peresu infernaux, loushors de notrepays. C'est Jini ce gouvernement dos paslcurs de troupeaux. Nous n'en voulonsplus." So hörte ich nicht blos einen, sondern mehre dieser Herren gegen die Verge declamiren, die dicht vor uns lagen, und dabei hoben sie die geballten Fauste gegen sie auf, so daß die Scene fast komisch wurde, da diese Fäuste doch nur wenige Fuß Komische Noth eines Franzosen. 19 weit über das Geländer unseres Dampfschiffes herüberragen konnten. Ich muß gestchen, daß ich damals noch nicht glaubte, daß die Züricher Herren sobald zum Ziele kommen würden. Allein der Erfolg hat bewiesen, daß sie Recht hatten. Unsere eifrigen Discussionen hatten auch einen alten französischen Herrn, der sich unter uns befand, mit hingerissen und so beschäftigt, daß er seine Station Richterschwyl, wo er aussteigen wollte, ganz übersehen hatte. Er entdeckte den Ort erst, als er schon einige englische Meilen hinter uns lag. Die Verzweiflung und die Klagen, in die er darauf ausbrach, waren höchst komisch. Mit dem lebhaftesten Ausdrucke des größten Entsetzens erklärte er laut vor dem ganzen Publicum auf dem Verdecke, daß er ein „Kommo p^l-äu" sei. Wir wollten ihn trösten und machten ihn aus die nächste Station aufmerksam, von wo aus er in seine Reiseroute wieder einlenken könne. Er umarmte uns mit beiden Armen und schrie: „Mais, Monsieur! je ne parlc pas un mot allemand. Comment ferai-jo dans ces montagnes, comment trouverai-je le chemin? J'ai mes effets ä Richterschwyl, mon guide, mon domeslique, ma caleche m'y attend. Oh malheureux que je suis! Qui de ces Messieurs voudrait me donner un bon conseil? Comment est-ce qu'on demande le chemin en allemand ? „3öo ifjg bev SCBef ?" Ah, que c'est difficile äprononcer!" Unter tausend Klagen und Seufzern und Phrasen, die er von sich gab, prakticirte man ihn endlich in ein kleines Boot, um ihn bei dem nächsten Dorfe auszusetzen. Ich glaube, daß ein Transvortirter mit nicht mehr Spannung und Angst das Ufer des entfernten Colonien-landes betritt, als unser Franzose diese Küste von Schwyz. Er blickte mit dem Ausdrucke der aufrichtigsten Furcht an den Bergen empor, und noch aus der Ferne hörten wir ihn die deut- M Handelsstraße durch das Linth-Thal. schen Phrasen, die wir ihm in der Schnelligkeit gelehrt hatten, vor sich hm murmeln, wie ein Vater unser. Auf zwei Engländer, die mit uns waren, machte dieser mit solcher naiven Franchise verzweifelnde Franzose einen unwiderstehlich komischen Eindruck. Ich dachte mir dabei, wie sich wohl ein Engländer bei einem solchen „untanarä «vont" benommen haben möchte. Ohne Zweifel anders, aber auch wieder in seiner Art komisch, jedenfalls mit mehr an sich haltender Selbstüberwindung und mit weniger ungenirter „Franchise." Diese beiden merkwürdigsten Nationen Europa's geben sich immer gegenseitig mehr Blößen als irgend eine andere Nation. Sic haben auch beide, jede in ihrer Art, so viel Komisches und Lacher»-liches, wie weder die Deutschen, noch die Spanier, Italiener oder Polen. Den Züricher und Wallenstädter See hinauf durch das große Linththal, das ich oben näher bezeichnete, und für welches es wunderlicher Weise weder bei unseren Geographen noch im Lande einen ndoptirten Namen giebt, führt eine wichtige Handelsstraße nach Graubünden und über die rhätlschen Alpenpässe nach Italien. Canale, Chausseen, die Seen befördern den Transport in die» ser Richtung. Sollten einmal auch dieEisenbahnprojecte, welche man für diese Richtung hat, zur Ausführung kommen, so würde dann die Wasserader deS Rheins, die hier ehemals floß, für den Handel gar nicht mehr vermißt werden. Ich «erließ jetzt vorläufig diese große Heerstraße und wandte mich zu den Bergen nach Nordosten, um dort ein Ländchen, das seiner Ginwohnerund seiner hübschen Natur wegen den lieblichsten Ruf genießt, das freundliche Land der Appenzeller nämlich, zu besuchen. Ohemals herrschte hier in dem nordöstlichen Winkel der Schweiz weit und breit der berühmte Abt von St. Gallen. Gegen die- Das eingeschachtelte Apftenzell. 2t<. sen empörten sich die Gcbirgöleute, welche das Innere seines Landes bewohnten, und stifteten daselbst den Canton Appenzell. Da zur Reformationszeit die Einwohner dieses Staates sich in zwei Parteien spalteten, die sich eine Zeit lang bekriegten, so schalte sich bei dieser Gelegenheit auch wieder noch der innere Kern des Cantons Appeuzell heraus, und so entstand denn ein Canton Appenzell Inner-Rhoden in der Mitte, und ein Canton Appenzell Außer «Rhoden, der ihn umgab, und endlich ein Cantun St. Gallen, dessen Staatsgebiet wieder beide Cantone Appenzell rund umher umzirtelt. Es giebt hier also drei StaatSge-biete, die wie Schachteln in einander gesteckt sind, und von denen einer eine Enclave des anderen ist, was vielleicht nirgends in Europa mehr vorkommt. Ich reiste von Uznach durch die GrafschaftToggenburg über Herisau nach St. Gallen. Dieser ganze Strich der Schweiz Hal nichts Großartiges und wenig Eigenthümliches. Die Höhen, zwischen denen man Passirt, sind überall ziemlich gleich hoch over vielmehr gleich niedrig. Die Thaler sind eng, obgleich nichts weniger als wild, Aussichten zwischen dem Hügellaby-rinthe giebt es nicht. Ein Bißchen oder, wie die Schweizer sagen, „a Vitzli" Wald, ,,a Vitzli" Wiese, „a Vitzli" Verg und „a Vitzli" Thal, so geht es auf und ab bis nach Herisau und St. Gatten. Hier wird es dann auf einmal anders. Hier kommt man auf die andere Seite des Verglabyrinthes, das als Canton St. Gatten zwischen dem Züricher und dem Noden°See aufgeworfen ist, und hier gewinnt man die wundervollsten freien Aussichten auf die von da aus weit und breit sich ausdehnenden Ufergelaude des Vodcnsees, die, mit Bevölkerung, Dörfern, schön cultivirten Ländercien beladen, zum Seeuser allmalig sich abflachen. Die Schweizer haben in Vezug auf Staatsgebiete und Ge- 22 Zersplitterung der Schweiz. melndewesen eine noch größere Abtheilungs- und Unterablheil-ungssucht als unsere Juristen in Vezug auf ihre Rechtsdefinitionen und Unterscheidungen. Sie spalten ihre Staaten bis ins Unendliche, und im Grunde kann man jeden Canton wiever als ein kleines Separatbündel uon Staaten, eine kleine Eidgenossenschaft für sich ansehen. Jede dieser Eidgenossenschaften hat ihre besondere Empörungs- und Verbindungsgeschichte, jede ihre besonderen Wilhelm Teüe und Winkelriede, jede ihre Sempacher und Vlorgartener Schlachten für sich. Dieß trifft besonders bei den graubüttdtenschen und dann auch bei unseren appenzeller Eidgenossen zu. So ist ihnen denn auch der Theil des Cantons Aftpenzell Außer-Nhoden noch wieder zu groß gewesen, und sie haben ihn ihrem Particularismus gemäß noch in zwei Läppchen getheilt, von denen in dem einen Herisau und in dem anderen Trogen das Haupt und die Residenz ist. Beide Orte rivalisiren wie ehemals in den Niederlanden die beiden königlichen Residenzstädte Brüssel und Haag, wie in Rußland Moskau und Peters« bürg. Abwechselnd muß der Souverain des Landes, die Landsgemeinde, das eme Jahr nach Trogen, das andere Jahr nach Hcrisau kommen. Ebenso ziehen auch die obersten Behörden des Landes, der zwiefache Landrath, die höchsten Gerichte, die Kirchensynode:c., immer zwischen Herisau und Trogen herum und residiren das eine Jahr hier, das andere dort. Andere Behörden sind zur Hälfte zwischen beiden Orten getheilt. Die Appenzeller sind eine sehr „frohmüthige" Nation, hatte mir ein Schweizer gesagt, dem ich nebenher noch die ange« nehme Bekanntschaft mit diesem hübschen Worte „frohmüthig" verdankte, und ich muß gestehen, daß ich gleich bei meiner Annäherung an Herisau diese Behauptung bestätigt fand. Es war Abend, und ich habe selten so viele muntere Gruppen und lustige, singende, jauchzende Menschen in ein Stadtchen einziehen sehen, St. Gallen. 23- als diejenigen, in deren Begleitung ich in diesen hübschgelegenen Ort einzog. EZ ist wohl ein Feiertag hier im Lande, und vielleicht haben die Leute etwas zu viel von dem „lieblichen" Züricher und Constanzer Seewein genossen? fragte ich den Post-conducteur. „Nichts weniger als das", antwortete cr, „es ist hier heute ein Wochentag wie in der übrigen Christenheit. Auch sind dieLeute so nüchtern wie wir. Aber siestnd halt immer so lustig im appenzeller Land, sie singen nnd spectakeln hier den ganzen Tag, wenn sie sonst nichts zu thun haben. Wenn Sie mehrmitAp-penzellern reden werden, so werden Sie sehen, daß eö fast immer so scheint, als hätten sie ein Gläschen über den Durst genommen." Um von Herisau zu der anderen Hauptstadt von Außerrho» den, nach Trogen, zu gelangen, reist man am beßten über St. Gallen, dieser größten und stattlichsten Stadt auf der südlichen Seite des Vodensees, dieser ehemaligen Residenz der machtigsten Aebte der Schweiz. Ich hielt mich hier nur so lange auf, als nöthig war, den ehemaligen Palast der Aebte, die Hauptkirchen des Orts, die Residenz des Bischofs, und die hier aufbewahrten interessanten Manuscripte zu besehen. In dem Wirthshaus?, in welchem ich abstieg, und zwar ln demselben Zimmer, in welchem man mein Nachtlager aufgeschlagen, hatte der vertriebene König von Schweden seinen Geist aufgegeben. Die Leute, welche bis zum letzten Hauche um ihn gewesen, waren noch im Wlrthshause zugegen und unterhielten mich bis tief in die Nacht mit Erzählungen von diesem unglücklichen Manne. Schriebe ich für Schweden, so würde ich eS für meine Pflicht halten, die über ihn gesammelten Anekdoten hier wieder vorzubringen. 24 Die Hauptorte uon AppcnM. 3. Appenzell Außerrhoden. Von St. Gallen ging ich zu Fuß wieber aufwärts ins Land Appenzell und zwar zu der zweiten Hauptstadt Trogen. Sie liegt in dem östlichen Theile von Außer-Rhode», der sich bis nahe zum Rhein und zum Vodensee hinabstreckt „nd von beiden Gewässern nur noch durch einen äußerst schmalen Streifen St.-Gallenschen Landes, der kaum eine halbe Stunde breit ist, zurückgehalten wird. Dieses Stück Land besteht aus einer Gruppe von Bergen, die alle ungefähr gleich erhaben, etwa 2000 bis 3000 Fuß hoch sind. Diese Verge liegen wie die Dome einer Stadt zerstreut und bilden nirgends eine Gebirgsreihe oder Mauer. Zwischen lhren sehr abgerundeten Kuppeln schweifen bequeme Thalkessel und Thal» becken von einem Gipfel zum anderen. Zwischen den höheren Gipfeln umher auf etwas niedrigerer Höhe oder Rücken liegen oie vornehmsten Orte des Landes, so Speicher, Trogen, Heiden )c. Man läuft von einem Orte zum anderen, bergauf, bergab, durch ein breites grasiges Thal und wieder zu eineni hochthronenden Orte hinauf. Regelmäßige langgestreckte Tha« ler und Flüsse darin und Ortschaften an diesen Flüssen giebt «s nicht. Die verschiedenen Hauptorte des Landes bestehen ein jeder aus ein paar Dutzend schön gebauten Häuser», deren Ve« wohner meistens reiche Fabrikanten sind. Jedes Haus ist statt« lich und städtisch und liegt doch so bequem und weitläufig da, wie die Vauerngehöfte in unseren Dörfern. Die Orte sehen daher aus wie eigenthümliche kleine Miniaturstadte. Der Verfassung und dem Range nach sind sie aber keine Städte, sondern nur Flecken und Dörfer. Es giebt in beiden appenzeller Län- Spaltung der Appenzeller. 25 dern ebenso wenig eine Stadt wie in den Staaten der Urschweiz. Man könnte die beiden Appenzelle in mehrfacher Beziehung den Urkern der östlichen Schweiz nennen. Der Name des ganzen Landes wird von der Zelle eines Abtes von St. Gallen hergeleitet, die an der Stelle gestanden haben soll, wo jetzt der Hauptort von Innerrhoden, der Flecke» Appenzell, liegt. Die Bewohner der Gegend, der Thäler und Verge in der Nahe dieser Abtszelle, theilten sich seit uralten Zeiten in Rotten oder Nhoden, was mit dem Begriffe von „Gemeinden" etwa gleichbedeutend ist. Icde Rhode oder Rotte hatte ihre Anführer oder Oberhäupter, sowie ihr eigenes Wappen. In ihren Volksversammlungen vereinigten sie sich und stimmten nach Rotten, und bei ihren Kriegen bewaffneten und schaartcn sich ihre Kriegerhaufen auch nach Rotten unter ihre Rottmeister. Daher kamen denn nach der Spaltung des Landes in zwciTheile die Namen „Außerrhoden" und „Innerrhoden" (d. i.die äußeren Rotten und die inneren Rotten). Diese merkwürdige Theilung des Landes wurde im 16tcn Jahrhundert als eine Polge der durch die Kirchenreformation entstandenen Spaltung ^der Appcnzcllcr in Katholiken und Ncformirte herbeigeführt. Diese beiden Parteien bekriegten sich einander eine Zeit lang, bis sie endlich, des Gezankes überdrüssig, einen Pact machten, vermöge dessen sic ihren Staat in zwei Theile theilten. Sie zogen eine Granzlime durch ihr Gebirge, und alle Katholiken begaben sich aufdie eine Seite derselben, alle Protestanten auf die andere. Jeder Theil errichtete sein eigenes Staatswesen. Die Geschichte dieser sonderbaren Theilung ist eine der interessantesten Piecen in der Geschichte der Schweiz. Aehnliche Lander- und Staa-tencheilungen durch gegenseitige Uebereinkunft der streitenden Parteien haben wir noch in der neuesten Zeit in der Schweiz erlebt. Es fallen einem dabei die Iudenfamilien in Warschau, Kohl, Alpenreisen, ll. 2 26 Die Außer- und Inner-Rhodener. Lemberg und Krakau bei, die sich in ihrem Kellerraume, den sie bewohnen, nicht vertragen können und darum endlich mit Kreide über den Boden einen Gränzstrich ziehen, jenseits dessen sie sich friedlich verhalten wollen. Die Leute zu beiden Seiten des in Avpenzell gezogenen Strichs find nun im Laufe der Zeiten so verschieden von einander geworden und so feindlich gegen einander gestimmt, daß die einen fast in allen Stücken regelmäßig „nein" sprechen, wo die anderen „ja" sagen. Die Avpenzeller der inneren Notten sind durchweg strenge Katholiken, die der äußeren Rotten durchweg eifrig« Protestanten. Jene dürfen und können sich noch heutigen Tages unter keiner Bedingung in Außerrhoden, diese ebensowenig in Innerrhoden ansiedeln. Jene sind durchweg ihren alten Sitten und Gebrauchen, auch ihrer alten Kleidung und Beschäftigung treu geblieben. Sie sind durchweg Kuh-, Schaf- und Ziegenhirten. Diese aber haben andere Gewerbe erlernt und fich nicht nur durch die Neformirung der Kirche, sondern auch durch die Reformirung ihrer Sitten und Beschäftigungen der ganzen übrigen Welt angeschlossen. Sie sind durchweg Fabrikanten geworden. Jene sind daher abergläubisch, alt-> modig, unzugänglich, in sich verschlossen, ohne den Wunsch nach einer Berührung mit der übrigen Welt. Diese aber sind aufgeklart, fortschrittslustig und wie die Züricher in Deutschland. Frankreich, Amerika und China ebenso bekannt wie in der Schweiz. Neide Theile bilden noch zusammen einen Canton, d. h. sie haben auf der Tagsatzung der Eidgenossenschaft zusammen nur eine Stimme. Aber jeder schickt einen besonderen Gesandten, dessen Meinung das Gewicht einer halben Stimme hat. Sind beide halbe Stimmen derApvenzeller fü r denselben Vorschlag, so machen sie zusammen eine ganze Stimme aus, die auf der Tagsatzung zählt. Sind aber die beiden halben Neuschwetz und Urschwelz. 27 Stimmen nicht einverstanden, so vernichten sie sich gegenseitig, und die aftpenzeller Stimme kann dann nicht erercirt werden. Da mm, wie gesagt, in fast allen wesentlichen politischen Prill-clpienfragen Innerihoden verneint, wo „Außerrhoden" bejaht, und »mgekehrt, so war die Stimme des Cantons fast stets para-lysirt. Man glaubt, wenn man diese Contraste zwischen den appenzellcr Inner- und Außerrhodenern betrachtet, einen Tropfen Wasser vor sich zn sehen, der von zwei ganz verschiedenen Gattungen von Infusionsthierchen bewohnt wird. Sie sind wie die gelben nnd schwartn Ameisen in Nordamerika, die denselben Wald bewohnen und doch sich beständig feindlich in den Weg laufen. Man kann sagen, daß die Stellung von Außer-zn Innerrhoden eine melkwüsdige Parallele zu der Stellung der ganzen sogenannten,.Neuschweiz" zu der „Urschweiz" und Allem, was mit ihr zusammenhängt, abgiebt. Die Nrschweizer sind die inneren Rhoden der Eidgenossenschaft, die Radicalcn von Vern, Aargau, Zürich, Genf n, die äußeren Rhode». Im Ganzen genommen, wurde die Energie der ganzen Eidgenossenschaft auf dieselbe Weise ftaralysirt, wie die Ausübung der einen Stimm» von Appenzell. Die ganze Schweiz war in zwei fast ganz gleichstarke Parteien gespalten, die in allen wesentlichen Lebensfragen sich einander neglrtcn. Auf der Tagsatzung waren fast immer ebenso viel Stimmen für einen Antrag als gegen denselben. Nnd dazu stellten sich immer dieselben Leute auf die eine, wie auf die andere Seite. Die Schweiz hatte ebenso viele Radicale als ConservaUve, ebenso viele Katholiken als Protestanten, und diese konnten sich fast über keine Frage einigen. Nicht nur die ganze Eidgenossenschaft, sondern auch, was noch merkwürdiger, fast jeder einzelne Canton war wieder zu gleichen Hälfte» m zwei entgegengesetzte Parteien gespalten, z.V. in eine Stadt, die ja sagte, und in eine Landschaft, die entschieden verneinte 2* 28 Sieg der Nabicalen. (Vaselstadt und Baselland), oder in gewisse Thäler und Striche, die dafür, und gewisse andere Thäler unv Striche, die beständig dagegen waren (Unterwallis und Oberwaliis), oder in gewisse Stande und Classen der Gesellschaft, die in feindlichen Lagern sich gegenüberstanden (Patricier und Nichtftatricier in Bern, alte Bürger und eingewanderteVürger in Genf). Jahrelang hat sich die Schweiz abgemüht, die halben und die ganzen Stimmen auf der Tagessatzung zu zahlen, um für irgend einen entscheidenden Vorschlag eine entschiedene Majorität herauszubringen. Endlich ist es der radicalen Partei durch Aufwendung vieler Anstrengungen gelungen, sich die Majorität einiger Stimmen zu verschaffen. Hier in der östlichen Schweiz kam es eigentlich zum Durchbruch. In dem Canton St. Gallen, der Appen-zell umgiebt, waren ebenfalls die beiden Parteien so mathematisch genau gleich in ihren Kräften, daß beständig eben so diele con» servative als radicaleDeputirte in den großen Rath des Cantons geschickt wurden. Endlich, endlich gelang es denn einmal den Radicalen, eben zu der Zeit, als ich in diesen Gegenden mich aufhielt, zwei oder drei Stimmen mehr im St.-Gallenschen Rath für sich zu gewinnen und dadurch zu bewirken, daß nun auch der St.-Gallen'sche Deputirte an der Tagsatzung radical instruirt wurde. Die drel oder vier gewonnenen Stimmen in St. Gallen gaben auch auf der Tagsatzung eine Stimme ,„el)r, und so kamen die Sachen zum Durchbruch und zur Entscheidung. Doch war dieß eine Entscheidung, wie sie der zu Stande bringt, der zwei Felsblöcke gegen einander abwägt und den einen dadurch niederbringt, daß er endlich zwei Kieselsteinchen indie Hand bekommt, die er dem Gewichte der einen Masse hinzufügt. Wennman einem jedenLande gratulirenmuß, indem eine entschiedene Ansicht und überwiegende Majorität sich geltend macht, so kann man die Schweiz selbst nach ihrem letzten Siege AppenzMer Stickerinnen. 29 nur bedauern, da hier eine ganz kleine Majorität über eine sehr große Minorität die Oberhand hat. (Auch in Neufchatel waren noch kürzlich wieder fast 6000 Menschen gegen die neue Verfassung, und nur clwas mehr als 6000 dafür.) Die Hauptbefchäftigung der Außerrhodencr ist die Fabrikation von Mousselinen, die sie zu gleicher Zeit mit mannigfaltigen Stickereien verzieren und zu Chorhemden, Bettdecken, Schleiern, Shawls, Tapeten, Turbanen, Schürzen geeignet machen. Die Fabrikherren wohnen in jenen kleinen Hauptorten, die ich beschrieb, und die Leute, die durch sie beschäftigt werden, in den Thälern und an den Vcrggehangen umher. Das ,,Festoniren," „Aushöhlen" und Vrodiren der Mousseline ist die Hauptbeschäftigung der Töchter deö Landes rundum, und ihre Arbeit, die sie gewöhnlich in geselligen Kreisen verrichten, gewahrt zu« weilen dem Lande einen schönen Reiz mehr. In ihrer hübschen Tracht sieht man sie fleißig arbeitend an ihrem Sticktisch sitzen, aufden Balkönen ihrerHäuser unter dem Schutze des vorspringenden Dachs, oder unter dem Schatten eines Baumes auf blumiger Wiese. Unter ihren fleißigen Handen entfalten sich auf dem lockeren Gewebe kunstreiche Figuren und Vlumeu, die dem reisenden Nationalökonomen und Kunstfreunde oft nicht weniger gefallen, als die Kinder der Flora dem Botaniker oder Maler. Diese Art von Industrie hat sich auch weit über die Gränzen des Landes Außerrhooen hinaus verbreitet, über Innerrho-den, dessen Jugend für dieFabrikhcrren in Trogen arbeitet, über Theile von St. Gallen, ja über den Rhein hinaus, ins Oestreichische hinein. Auch eiu großer Theil der Bevölkerung des Vorarlberges arbeitet für diese außerrhodischen Fabrikanten, deren Speculationsgeist, Bildung, Kenntnisse und weitgehende Verbindungen sie in Stand gesetzt haben, den Gcbirgsleuten DO Appenzeller Fabrikherren. weit und breit Nahrung und Beschäftigung zu gewähren. Ich hatte schon früher einmal bei einer Reise in Tyrol die vorarlbergische Industrie und die fleißigen Stickerinnen des Landes bewundert. Sie fertigen dort unter dem Dache ihrer malerischen Holzhauser allerlei prachtige, farbige und goldene Stickereien (besonders Röcke für katholische Priester, Maltücher, Kelchdecken und dergleichen), und da sie mir schon damals etwas von ihren schweizer Herren erzählt hatten, die ihnen die Muster zu ihrer Arbeit und auch den Lohn schickten, so schätzte ich mich jetzt glücklich, die Bekanntschaft dieser so weit und breit in den Alpenthalern angesehenen schweizer Herren selber zu machen, die sogar auch noch jenseits des Vodensees in Schwaben viel Hände beschäftigen. Was ich oben von den Fabrikanten am Züricher See bemerkte, daß sie die Fabrikation meistens in Verbindung mit der Land- und Oartenwirthschaft und mit anderen Geschäften betreiben, gilt auch insbesondere von denen hier in Appenzell. Die kleinen Fabrikarbeiter wohnen auf ihren Matten und Weiden, mitten in der schönen, frischen, freien Vergluft, haben ihr Vieh und treiben nebenher noch Bienenzucht, Garten- und Obstbau. Und man hat die Bemerkung gemacht, daß auch diese Beschäftigungen mit der fortschreitenden Verbesserung der Mousselinfabrikation sich mehr entwickelt haben. Die Fabrik-Herren aber sind nebenher noch eifrige Patrioten, achte Republikaner und dieLandammanner, Raths- und Gerichtsherren des Cantons. Meistens gehören sie seit alter Zeit her angesehenen Familien des Landes an und nehmen unter ihren Fabrikleuten eine sehr Patriarchalische Stellung ein, wie Abraham unter seinen Hirten. Eine der angesehensten Familien sind die Zellweger, ungefähr wie die Redings in Schwyz. Der Landammann Zellweger hat es in Außerrhoden schon viele gegeben. Einer von ihnen, Die Geschichte von Appenzell. IH ein alter würdiger Herr, hat auch die Geschichte seines Vaterländchens geschrieben, und zwar in eineilt unsäglich mühseligen Werke von nahe an 10 unmaßig dicken Bänden. Die Geschichte des appenzeller Landes ist in der That merkwürdig; es kommen darin so interessante Kämpfe, so heroische Charaktere und Bestrebungen, so heldenmüthige Schlachten, Siege und Thaten vor, wie in der viel berühmteren Geschichte der drei Urcantone. Die Geschichte der Verschiedenartigkeit der Ansichten, der Con-spirationen, die hier eintreten, der Verfolgungen, der geheimen Intriguen, der Hinrichtungen machtiger Volksmänner, mit einem Worte die ganze Geschichte der inneren Parteiungen in diesem appenzeller Ländchen ist ebenso eigenthümlich und merkwürdig, wie die Geschichte der Spartaner oder irgend einer anderen griechischen Insel- oder Gebirgsrepublik. Nur leider hat nie ein Herodot oder Thucydides die Geschichte der Appen-zeller zu schreiben sich herabgelassen. Wie gut wäre es, wenn ein schweizer Historiker ein kleines, bündiges, kräftiges Vüchel-chen darüber schriebe. Wie lehrreich würde ein solches Werk für die AppenzeNer sein, die sich so sehr für ihre alte Geschichte interessiren. Wie überall verbreitet würde man es in ihren Familien finden. Wie schwer muß rs doch sein, kurz und bündig zu schreiben, da fast jedes dieser schweizer Cantönchen in neuerer Zeit eine entsetzlich lange Geschichte bekommen hat, «och keines aber eine ganz bündige, classische, populäre, dievondem ganzen Volke somit entschiedenem Beifall« und solchen Lorbeeren gekrönt worden wäre, wie Herodots Bücher von den Griechen auf den olympischen Spielen. Zehn, mehre Zoll dicke Nände für ein Landchen wie Appenzell, heißt das nicht einen Elephanten gegen eine Maus zu Felde schicken? Wenn wir nach diesem Maßstabe die Geschichte aller europäischen Staaten schreiben wollten, so wäre kein Vibliotheksaal von Europa groß genug, 32 Avpenzeller Vollsnaturell. eine solche Literatur zu fassen. Will man aber den Inhalt alter Archive und Manuscriptsammlungen abdrucken, so kann man dieß doch nicht Geschichte nennen. In neuererZeithaben auch dieAußerrhodener ihrLandchen in die Kreuz und Quere mit guten Verkehrsstraßen versehen. Diese Straßen sind größtentheils durch Privatbeiträge, die Patriotismus und Gemeindesinn darbrachten, zu Stande gekommen, wie denn durch solche Privatbeitrage die meisten öffentlichen Anstalten ins Leben gerufen worden sind. In Inner-rhoden dagegen, das, wie gesagt, immer das thut, wasAußerrho-dm nicht thut, und das nicht thut, was jenes thut, giebt es noch nicht eine einzige gebahnte Straße, nur Fltßpfade, Alpenstege, Gcis- und Rinderwege. 4. Appenzell - Innerrhoden. Das Einzige, was die industrielofen, viehzuchttreibenden, konservativen, katholischen, sonderbündischen Innerrhodener noch mit den aufgeklärten, industriellen, fabricirenden, radi-calen, protestantischen Außerrhodenern gemein haben, ist ihr Volksnaturell oder Temperament, das Wesen ihrer innersten in ihrem Blute und in ihrer Volksrace begründeten Seeleneigenschaften. Veide Species der Appenzeller sind gleich munter, gleich gesanglustig, gleich poetisch und gleich warme Patrioten, die mit gleicher Begeisterung ihrem kleinen Verglande ergeben sind, und ein Innerrhodener und ein Auherrhodener, so schiefe Mienen sie sich machen innerhalb der Gränzen ihres Vaterlandes, vereinigen doch, von gleichem Heimweh entbrennend, m der Fremde ihre Naturell der St.-Gallener. 33 Thränen. Man erzählt sich, das, sogar die Thiere dieses eigenthümlichen Ländchens von Heimweh ergriffen werden, selbst schon dann, wenn incm sie nur in das benachbarte Land St. Gallen hinabtreibt, was wegen des häufige» Futtermangels in Appen-zell nicht selten geschieht. Man sagt, daß diese Thiere, wenn sie während ihrer Verbannung in St. Gallen den appenzeller Kuhreigen hören, wild werden und ihre Einzäunungen zuweilen durchbrechen. Man soll dort daher den Kuhreigen eben so verpönt haben, wie bei den Schwcizerregiimntern in auswärtigem Dienste. Die St.-Gallener, die sogar dieses muntere Gebirgsluft-temperamem ihrer Nachbarn, der Appenzeller, immer bewundern, scheinen selbst wenig davon zu haben. Mein St.-Gallener Führer war ein ziemlich melancholischer und etwas träger Mensch, und ich tauschte ihn daher bald gegen einen bergsteigelustigen und frohmüthigen Innerrhodener aus. Ich erstieg mit ihm den Gäbris, der eine der schönsten Uebersichten über das Land darbietet, und ging dann über Vad Gais ins Ländchen Innerrho-den hinauf. „Sie sind da noch a kli*) dumm im Land droben," bemerkte mein Außerrhodener. „Auch sind sie a lM r ä u h c r als wir. Es geht bei ihnen Alles per „Du." „Aber nit, daß sie's böse meinten. Es sind gute Leute. Aber „es ist halt so ihr grober Lebcnslauf. Sie haben so halt in „allen Stücken ihre besondere Landesart. Es sind aber feste „Männer unter ihnen und feste Weibsbilder auch. Sie sagen „sogar zu ihrem Landammanne Du. „Hörst Dn, Landam-,'nan!" so rufen sie ihn an. Wenn sie einmal sagen: „Hö- *) „a M" oder „a chll," d.h. „ein klein," «Micet. „ein klein wenig." Das davon gebildete Diminutiv ,Mi" (Nelnchen) heißt dann so viel als „ein ganz Nein wenig." 2" 34 Das obere Sitternthal. „ren's, Herr Landamman," so ist das bei ihnen schon die aller-„größeste Höflichkeit. Ich bin einmal in meinem Leben schon „vor 30 Jahren eine kurze Zeit Kutscher beim Herrn Vürger-„meister von Basel gewesen. Nun, da ging es anders her. „Damals hatten sie noch den Titel Excellenz, und, wenn er „mich rief, so mußte ich immer mit dem Hut in der Hand in „sein Zimmer treten und sprechen: „Was befehlen Sie, Ihro „Etcellenz?" Dergleichen haben die Vasellandschafter denn „den Baseler Zopf genannt, den sie abschneiden wollten. Mir „war es auch gar zu h üflich in dem alten Bastler Herrenhause, „und ich blieb bei dem gestrengen Herrn Bürgermeister nur „kurze Zeit." Der Fluß Sitter, der ein Nebenfluß der Thür ist, durchstießt die Cantone Appenzell, St. Gallen und Thurgau. Er bezieht seine ersten Zuflüsse von der Kette des hohen Säntis, des höchsten Gebirgsstockes der nordöstlichen Schweiz. Sie stießen von allen Seiten aus kleinen Thalern zusammen, und so entsteht in der Tiefe des Thales der Hauptstuß. Der Canton Innerrhoden besteht bloß aus dem oberen Stufenkessel des Sit-tcrnthales, in welchem der Sitter stch aus jenen kleinen Berg-bächen bildet. Es ist ein etwa dreiQuadratmeilen großer Thalkessel, der nach allen Seiten hin von Bergen ummauert ist, und dessen Wiesengründe stch zu den Gipfeln dieser Verge hinaufschwingen. Wenn man in diesen Graskesstl hineinblickt, so sieht man überall die Wohnungen der „appenzeller Mannen" darin zerstreut. Nur hie und da liegt ein Dorf. Im ganzen Staate giebt es deren nicht einmal sechs. In der Mitte des Kessels liegt das Hauptdorf Appenzcll. Diese ganze Gegend ist am umständlichsten in einem Werke von Ebel beschrieben, der dem Can-toneApPenzell und seinerNachbarschaft nichtweniger als 2starke Bände gewidmet hat. Gin Schweizer, mit dem ich einst dieses Die „Molkenfur." Induftrielosiqkeit. H5 Vuch las, sagte mir, er erkenne in dem vom Autor aufgestellten Gemälde so wenig den Canton Appenzell wieder, daß er sich oft frage, ob Ebel auch wirklich an Ort und Stelle gewesen. Und doch war Vbel ein sehr geschickter Schriftsteller und ein sehr geprüfter und viel erfahrener Kenner der Schweiz, dessen Werk über den Bau der Alpen ein wahres Meisterstück ist, und dessen Anleitung zum Vereisen der Schweiz stets eine vortreffliche, lehrreiche und höchst dankenswerthe Arbeit sein wird. Wie schwer muß es demnach sein, ein Land richtig und naturgetreu zu schildern ? Die anmuthigsten Schilderungen und viele hübsch vorgetragene Veitläge zur Kenntniß dieser Gegend findet man in einem kleinen deutschen Romane, „die Molkenkur" genannt, der allen Freunden dcr Natur und allen Besuchern dieses ErdwinkelS nicht genug empfohlen werden kann. Ich sagte oben, daß die Innerrhodener gar keine Industrie haben. Man hat mehre Mal versucht, in Nppenzell selbst ein Fabriketablissement nach dem Muster von Trogen oder Herisau zu errichten. Allein es ist immer aufSchwkerigkciten gestoßen. Die inncrrhodener Hirten haben eine enlschkedene Abneigung gegen solche Etablissements und wollen sie nicht bei sich dulden Sie büßen selbst am meisten dabei ein. Denn ihre Töchter und Frauen, die sich doch selbst einen Sparvfennig zu verdienen wünschen, gehen nun zu den außerrhodener Herren, holen sich Arbeit von ihnen und muffen sich mit dem sparsamen Lohne behelfen, den diese ihnen zugestehen. Hätten sie ein solches Etablissement in ihrem eigenen Dorfe, so könnten sie manchen beschwerlichen Gang, manchen Kreuzer für Schuhwerk und viel Ieit ersparen. Wir begegneten untcrweges einer alten Frau, die ein großes Stück Mousselm auf dem Nucken trug. Da ich sie über ihreArbeit befragte, sobreitete sie das Gewebe der Länge nach auf dem Grast aus und zeigte mir die feinen Blümchen, 36 Die gestickten Blumen. die sie hineingestickt hatte. Sie sagte, sie bekomme 6 Kreuzer dafür. Die Zierlichkeit der Blumen betrachtend, glaubte ich, daß dieser Preis ihr für jede Vlume bezahlt würde. „Ach, mein Herr," sagte die Alte, „dieß geht bei uns immer nach dem Stäbe. Für den Stab (v.h. eine Elle) bekomme ich 6Kreuzer." Wir zählten 40 zierliche Blumen auf einem Stäbe. V2 oder 'A Wen, sagte sie, könne man an einem Tage wohl fertig bringen. Aber dann müßte es schon ein guter und heller Tag sein. Denn ihre Augen wären schon ein wenig schwach, und im Herbste und Winter könne sie nur wenig thun. Das Stück maß 16 Mm, und sie hatte 4 Wochen daran gearbeitet. Sie brachte es nun dem Fabrikanten in Trogen zurück und war darüber voll Sorgen, ob er es wohl gut befinden und ihr wieder eine neue Arbeit geben würde. Die Reichen, welche nachher in München oder Stuttgart oder in den anderen großen Städten diese beblumten Stoffe vor ihr Fenster hängen, wissen wenig davon, welche alten Hände sich zitternd und sorgenvoll um jede dieser Blumen, die kaum einer eines Lobes würdigt, hennnbewegt und wie sich die Augen der AppenzeNe-rinnen daran blind gesehen haben. In hohem Grade gefiel mir die Ansprache, mit der mein Führer die Männer, welche uns begegneten, begrüßte. ,,Gott grüß Euch, Ihr Mannen!" rief er ihnen zu. Mich däucht, ich weiß aber nicht warum, dieser alte Pluralis „Mannen" ist kraftiger und edler als unser „Männer." In Appenzell besuchte ich den regierenden Herrn öandam-man von Innerrhoden. Ich traf ihn eben bei der Lecture der Allgemeinen Augsburger Zeitung. „Ich lese diese Zeitung/' sagte er mir, „schon seit 20 Jahren, schöpfe alle meine Neuigkeiten und meine Ansichten über die Welt und die Politik aus ihr. Ich bin so daran gewöhnt, daß ich nicht ruhig zu Vett gehen Allgemeine Augsburg« Zeitung. 37 kann ohne meine Allgemeine. Sie ist mein täglicher Trost. Mein Eremplar ist das einzige, das in diesem Thale und in unserem Staate Eingang findet." Ich gebachte hierbei eines türkischen Pascha, auf dessen Diwane ich ebenfalls kein anderes VIatt alö die Augsburger Allgemeine gefunden hatte, und der zahllosen anderen Freunde dieses einflußreichsten und geschätztesten deutschen Blattes, dessen Verbreitungsgebiet ich überall gern erforsche, und das von dem deutschlesendcn Juden in Südrußland ebenso begierig studirt wird, wie von dem des Deutschen kundigen Dänen in Kopenhagen, wie von dem Magyaren in Pest, wie von demTschechen inPrag, wievondem Landamman in Ap« Penzcll, das die türkischen Paschas an der östreichischen Gränze sich von ihren Dolmetschern übersetzen lassen, das die Lombarden und Italiener am Gardasee, im vcnetianischen Gebiete und in Dalmatien eifrig entziffern. Sie ist das einzige deutsche Blatt, das die gauze Welt umstiegt, das man auf englischen und ame» rikanische», wie auf sibirischen Clubzimmern (ste wird auch nach Irkutzk und Tobolsk versandt) zu gleicher Zeit findet. Es giebt kein schriftstellerisches Unternehmen, das Alles, was mitDeutsch« land und der deutschen Nation entfernt odernahezusammenhängt, als ein einziges Organ seiner Art, in innigeren und kräftigeren Rapport setzte. Der deutsche Reisende begrüßt sie daher an jedem entlegenen Orte, wo er sie findet, mit besonderer Zuneigung und warmer Liebe. Der Laudamman erbot sich, mir einige der öffentlichen Anstalten und Staatsgebaude des Ortes zu zeigen, und ein solches Anerbieten darf der nicht ausschlagen, der es liebt, die Entwickelung aller menschlichen Anstalten auf allen Stufen zu beobachten, selbst auf der Stufe, wo sie noch in ihren Kinderwindeln liegen. Der große Strom des Fortschritts, der wahrend der Neuzeit Europa durchfluthete, hat diese schweizer Urstaaten, Z8 Prügelstrafe: Streichen und Hauen. wie es scheint, noch wenig von demjenigen Flecke gebracht, wo sie vor Jahrtausenden standen. Es ist hier in Appenzcll noch Alles in demselben Zustande, in welchem sich der Staat in Uri und Unterwalden befindet. Eine ordentliche Gefängnißanstalt z. V., die doch jeder Staat besitzen sollte, haben sie hier so wenig wie dort. Doch benntzen sie in Appenzell beim Todten-gräber einige Raume als Gefängniß, und dieser Mensch versieht zugleich die Aemter eines Leichenbestatters und eines Verbrecheraufsehers. Vielleicht ist dieß dem Geiste des Straftoder dieser kleinen Urcantone ganz gemäß, der eigentlich nur zwei Strasen kennt, Prügelstrafe und Hinrichtung. Wer gefangen gesetzt wird, hat daher gewöhnlich auch schon Aussicht darauf, des Todtengrabcrs bald zu bedürfen. „Unsere Landlcute von der „Landsgemeinde," sagte mir ein Aftpenzeller, „sind sehr gegen „die Einrichtung von Gefangnissen. Denn, sagen sie, warum „sollen wir noch für böse Menschen bezahlen und sie füttern? „Entweder prügelt sie, oder wenn sie etwas sehr Scblimmcs ge» „than haben, köpft sie. Dieß Veides kostet uns dann kein „Geld." Gin geschriebenes Gesetzbuch haben sie hier so wenig als in den meisten übrigen Urcantonen. „Es geht Alles bei lms,^ so sagen sie, „nach den alten Uebungen und nach der „Billigkeit." Sie haben bei der Prügelstraft auch wie in den übrigen Urcantonen, „den kleineren, mittleren und großen Gang." Gin Russe darf aber nicht gleich glauben, daß er hier ihm ganz gleiche Leidensbrüder findet. Denn selbst beim mi!<-leren Gange ist die Haut gewöhnlich nur wenig aufgeschwollen. Veim kleinen und mittleren Gange schlägt der Nachtwachter zu Appenzell, beim große» aber der Henker. Die Operation des Nachtwächters nennt man „Streichen," die des Henkers aber „Hauen." Das letztere ist entehrend. Alle die kleinen Cantonshauplstadif der Schweiz sind voll Die fremden Capitalien. W von den interessantesten Alterthümern, und jede hat ihre der Geschichtsforscher anziehende Sammlung. Die Schweizer haben sich Trophäen und Veute aller Art auS aller Welt gesammelt und srit Jahrhunderten in ihren Kirchen, Rathhäusern und Archiven zusammengeschleppt. Auch in diesem kleinen Verg-raubneste findet man cine Menge eroberter deutscher, östreichischer und italienischer Fahnen und Trophäen. Die kaukasischen Bergvölker werden vielleicht Museen und Sammlungen in ihren Wald- und Vergstättcn besitzen, die manche Parallele mit denen der Schweizer darbieten. Auch die Elemente, aus denen diese schweizer Cantonsstadte selbst bestehen, die kleinen Vesitzthnmer und Hauser, ans drnen sie zusammengesetzt sind, erinnern vielfach an das Ausland, in dem die erwerbsamen Schweizer handelnd, künstlernd oder kriegführend herumzogen, sich kleine Capitalien sammelten, die sic dann in ihr heimisches Bergthal zurücktrugen, um sich davon ein Nestchen zu bauen. In allen schweizerischen Thalorten sind gewöhnlich dic bemerkenswcrthe-sten Häuser mit im Auslande gesammelten Capitalien gebaut, z. V. in Genfmit Schätzen, die in Vanquiergeschäftcn in Paris oder London erworben wurden, in Neufchatcl desgleichen, in Engadin uud in, Tcsfln mit Geldern, welche die von diesen Landern beständig auswandernden und dahin zurückkommenden Architekten, Maler, Conditoreu, Gastwirthe:e. im übrigen Europa zusammensparten, in den Urcantonen, Luzern und vielen anderen Städten von den Ersparnissen, welche ein schweizer Hauptmann, Oberst oder General sich von seiner Gage abzog, die ihm der König von Sardinien, oder der von Holland, oder der von Neapel, oder der Papst gab. Der auswärtige Kriegsdienst wurde von den Schweizern ebenso als eine Gelderwerbsquelle angeschen und benutzt, wie jedes andere Gewerbe. A„ch in Appenzell findet man wieder einige kleinc Mi- 40 Die Menalp. niaturschlösftr, in denen ein abgegangener Hanpimann oder Major wohnt. 5. Auf dem Kamor. Ich ging vonAppenzell zu Fuß nach dem benachbarten kleinen Badeorte Neißbad und bestieg von hier aus die Ebenalp. Dieß ist eine kleine Vergwiese, die 5000 Fuß hoch auf dem Gipfel eines der Ausläufer des hohen Säntis li?gt, auf dem sogenannten Alpsteine. Der Kopf dieses Berges ist glatt, eine etwas schief geneigte Flache, und man sieht die grüne Wiese daher von allen Seiten her aus dem Thale. Der Alpstein tritt schroff in den Kessel des appenzeller Landes hervor und hat nach allen Seiten hin steile Wände. Anf einem zweistündigen Fußpfade erhebt man sich an diesen Wänden bis zu einem Puncte, wo sie so steil werden, daß alle Wegebahnung aufhören mußte. Halle die Natur hier uicht mit einer Höhle nachgeholfen , so wäre die schöne Alpe auf dem Gipfel fast unerreichbar. Allein glücklicherweise ist die Bergwand oben von einer Felshöhle schräg durchbohrt, deren untere Mündung am Ende des Weges ausgeht und die mit ihrer oberen Mündung auf die Alpe hinausführt. Zur Seite der ersteren hat sich ein Waldbrudcr mit einer kleinen Wirthschaft etablirt, der die Reisenden mit Fackeln durch die Höhle geleitet und sie oben wieder ans Tageslicht bringt. Die Kühe, welche diese Alpe beWeiden, müssen im Frühling und Herbst denselben Weg machen. Man gelangt also auf diese Oraskuppel auf dieselbe Weise wie durch dunkele Treppengänge und cnge Luken auf das Dach einer Kirche, deren Vau die Natur hier nachgeäfft zu haben scheiut. Es sollen sich auf jener Oraskuppel 200 Kühe ernähren können. Die Sennhütten, die Das WNdkirchlem. 4l ft',r sie daselbst erbaut sind, nehmen sich auf diesem Naturdache aus wie die kleinen Dachluken oder „Ausluchter," die man auf den Dächern unserer nordischen Stadthäuser sieht. Ebenso eigenthümlich, wie für das Hinaufkommen auf diese merkwürdige Wiese, hat die Natur auch für die Tränkung des Viehs, das die Alpen beweidet, gesorgt. ES kommt dort nämlich keine Quelle zu Tage. Statt dessen befindet sich aber eine brunnenartige Vertiefung auf der Alpe, ein sogenanntes „Wetter-lock," das sich im Winter mit Eis und Schnee vollsetzt und dieß gewöhnlich den ganzen Sommer hindurch conserw'rt. Die Hirten graben es heraus und tränken damit, nachdem es geschmolzen, ihr Vieh. Ich gedachte dabei der tatarischen Schafhirten in der Krim, die auf dem quellenlosen Tschatir-Dagh aus eben solchen Schnee- und Wetterlöchern ihre Heerden tranken müssen. Die Einsiedelei an dem Eingänge der Höhle hat man das Wildkirchlein genannt. Sie ist mit ihrer kleinen Kapelle wie ein Schwalbennest an den hohen Nand des Verges geklebt. Wir rasteten ein wenig bei dem Waldbruder, der dort Wirthschaft hält und die Reisenden mit Vier, Milch und Vrot erquicken kann. Als wir diesen frommen Eremiten fragten, ob er denn auch fleißig bete und ob er den Dienst in seiner Kapelle pünktlich verrichte, sagte er uns ganz treuherzig- „ach nein, nur selten, denn ich habe so viel mit dem Ausschwenken der Biergläser, mit der Zubereitung der Fackeln und mit den übrigen Geschäften zur Aufrechthaltung nm'ner Wirthschaft zu thun, daß ich zum Vcten nur selten komme." Uebrigens war er kem ideenloser Mensch, und er hatte seine eigenen Betrachtungen über das Volk, dessen Wohnplatze er von seinem Wildkirchlein aus überschaute, angestellt. Seit 20 Jahren, meinte er, hätten sich die Leute hier im Thale sehr „versinnlicht/' und Tanz, Festtage und Trinkgelage nahmen überall überHand. Ich be« 42 Die schweizer Waldbrüder. merkte ihm, daß seine Beobachtungen über die appenzeller Ge-birgsleute ganz mit denjenigen zusammenfielen, welche andere Menschen auch über die ganze außerappenzellische Bevölkerung Europa's gemacht hätten, indem Genußsucht und Wirthshaustrei-ben überall überHand nahmen. Ich bin auf einer Reise m der Schweiz noch sechs anderen solchen an verschiedenen Orten an» gesiedellen Naldbrüdern begegnet und habe noch von einem halben Dutzend anderen gehört. In der Urschweiz stehen sie alle zusammen in einer Art Verbindung, in einer Brüderschaft, die aber kein Mönchsorden ist, so wie sie denn auch keine prie« sterliche Weihe haben. Der Hauptsitz dieser Brüderschaft ist in dem Städtchen Zug, wo sie ein Haus haben, und wo der Chef dieser Derwische wohnt, den sie den „Allvater der Naldbrüder" nennen. Sie müssen eine Art Prüfung bestehen, und die Bischöfe setzen sie dann in die eine oder andere der Einsiedeleien, die meistens aus einem Hüttchcn, einem Capellchen und einem Gärt-chen bestehen. Diese Einsiedeleien befinden sich gewöhnlich an irgend einem durch seine Naturlage oder durch seine Geschichte merkwürdigen Puncte. Da haben sie denn durch Instandhaltung derCapelle, durch Läuten der Glocken, durch Ausschmückung eines Altares «- das Andenken eines solchen Ortes aufrecht zu erhalten und bel den etwa dort statthabenden Festen zur Hand zu sein; nebenher können sie auch Wirthschaft betreiben. Obwohl die Urschweizer in der Regel sagen, daß meistens nur solche Leute, die allerlei versucht haben, und die sonst zu nichts taugen, Waldbrüder werden, so muß ich doch gestehen, daß ich gewöhnlich ein nicht geringes Vergnügen in den Unterhaltungen mit diesen Leuten fand und meistens bemerkte, daß sie nicht ohne Originalität und ohne Gefühl für das Höhere waren. Die Aussicht vom Wildkirchlein ist entzückend. Doch sah ich ungefähr dieselben Gegenstände und noch viele andere Thäler und Land- Iolen und Dudeln. 43 striche dazu von der Spitze des Kamor aus, dem wir uns nun zuwandten. Wir stiegen vom Wildkirchlein wieder inS Weißbad hinab, gingen quer durch das grüne Land Innerrhoden und näherten uns dem Fuße jenes schönen Berges. Unterwegs kam uns ein Zug von appenzeller Sennern und Rindern entgegen. Die Leute hatten ihre beßten Kleider, gelbe lederne Hosen und rothe Westen, angelegt. Sie trieben ihr Vieh mit ununterbrochenem Jauchzen, Gesang und „Gedudel" (so oder auch „Iolen" nennen sie hier, was sonst in der Schweiz Jodeln heißt) in die Verge hinauf. Die Rinder stolzirten mit großen „Trinkeln^ (Glocken) um den Hals die Gelände hinauf. Wir grüßten die Leute mit unserem gewöhnlichen „guten Tag." Sie gaben uns aber ihren Gruß mit Geschrei zurück und begleiteten ihn mit Iolen und Gedudel. „Wenn's in die Alpen hinaufgeht," bemerkte mein Führer, „da sind diese Burschen immer, als halten sie nicht alle ihre Sinnen beisammen." In allen alten Häusern, die man in diesen Thälern sieht, bis an den Rand der Alpen und hinauf, wurde eifrig genaht und gestickt. Einige Stickerinnen sind ihrer Geschicklichkeit wegen berühmt. Wir besuchten eine solche, von der man mir erzählte, sie hatte schon Kleider und Schleier für Fürstinnen und Königinnen gemacht, und Stickereien für die Täuflinge der im Purpur Geborenen. Die Stickerinnen haben für ihre verschiedenen Arbeiten eine Menge Ausdrücke, die zwar bloß appenzcllisch sind, von denen aber doch ein deutscher SprachforscherNotiz nehmen sollte. Der Kamor und der gleich neben ihm stehende hohe Kaste» sind die beiden höchsten Spitzen des Gebirgswalls, der sich vom hohen Säntis aus längS der Ostfeite des Cantons Appenzell 6 Stunden weit hin erstreckt und zum Vodensee abfallt. Sr bildet die appenzell'sche Mauer gegen das breite Rheinthal, und 44 Der freie Bund am oberen Scc. „am Stoß" so wie an anderen Engpässen dieses Verges haben die Appenzeller ihre Thermopylen oder ihre Morgarten. Von diesen Bergen stiegen sie zu wiederholten Malen ins Nheinthal und zum Vodensee, zum Schrecken der Oestreicher ebenso hinab, wie die Urner jenseits des Gotthardt zum ,,langenSee" von Locarno. Und wie die urner Hirten lange Zeit das Thal des Tessin durch ihre Landvögte in Unterthanenschaft hielten, so beherrschten einst die kriegerischen Hirten von Appenzell das von ihnen eroberte Rheinthal oberhalb des Vodensees. Im Anfange des loten Jahrhunderts, nach ihrenvlelbeslmgenen Schlachten bei Wolfhalden und am Stoß gegen den Herzog Friedrich von Oestreich, war ihr kriegerischer Ruhm so groß, daß sie an die Spitze „des freien Bundes am oberen See traten," der die ganze nordöstliche Schweiz umfaßte, und vor welchem Oestreich und die schwäbische Ritterschaft „als vor einer zweiten Schweiz" erzitterten. Gs giebt in der Schweiz keine dritte so merkwürdige Kernbeuölkerung. die das Centrum und der Angelpunct einer ebenso merkwürdigen historischen Bewegung geworden wäre, wie die amVierwaldstätter-See und die in den Alpenlandschaften am Säntis. Der Kamor und der hohe Kasten liegen als die beiden Höcker desselben Rückens, als ein Doppelberg ungefähr, ebenso da, wie die beiden Mythen bei Schwyz. Zwischen ihnen hindurch führt ein Paß auf die graubündensche Straße hinab. Man erhebt sich von Appenzell her auf schmalen und zuweilen etwas schwindeligen Graspfaden zu dieser Passage ziemlich allmälig empor. Jenseits ins Rheinthal fallen die Verge viel schroffer hinab, und auch viel tiefer, da das Rheinthal über IWO Fuß niedriger liegt als das Thal von Appenzell. Ich war sehr froh, daß sich außer meinem Führer mir noch ein zweiter munterer Appenzeller anschloß. Und je höher wir Gin ftohmüthiger Appenzeller. ^ kamen, desto froher wurde ich darüber, denn ich habe in meinem Leben keinen lustigeren und zugleich dienstfertigeren und gutmüthigeren Reisegesellschafter gehabt als diesen prächtigen Neber aus Außerrhoden, denn ein solcher war er. Die sonderbaren und schreicrischcn Redensarten, die der Mann bei unseren ersten Conversations von sich gab, brachten mich erst auf den Gedanken, daß er etwas betrunken sei. Aber ich erinnerte mich beS Ausspruchs, den ich schon früher vernommen hatte, daß diese Appenzeller sich so wunderlich benähmen, ohne jedoch von etwas Anderem als von ihrer eigenen sie stachelnden inneren Lustigkeit trunken zu sein, und zuletzt gewann er völlig mein Herz für sich, und ich werde diesen auS Originalität, Dienstfertigkeit und Poesie gemischten Appcnzeller in meinem ganzen Leben nicht vergessen. Nach dem, was ich gehört hnbe, denke ich mir, es muß mehr solche Appenzeller geben, und man mag sein Ve-nthmen und Reden, von dem ich einige Proben geben will, daher für allgemein charakteristischeTyPen nehmen. Wir erreichten bald die äußerst« Mcnschenwohnung, wo die kahle Verg-Pyramide nun vor uns lag, und wo wir noch einmal einkehrten, weil mein Appenzeller es durchaus so wollte. „Ei jo!'^ sagte er, „es Schöppli müssen wir ha! 6i jo l für Kameradschaft „und für Gesellschaft! Gi jo! itzt geht's streng uhi! Da brauchen ,,wir schon einen festen Tritt!" Wir bekamen zwar statt Weines nichts wie Milch, aber auch diese fand mein Manu „göttlich! prächtig, herrlich!" Diese drei Worte bildeten seine Lieblingsphrase, wie sie die Lieblingsworte aller dichterischen Gemüther sind, die allenthalben etwas Göttliches und Rosen-farbiges finden. In seinen Gesprächen, die er bald an mich, bald bloß an sich selbst richtete, kam zuweilen eine wunderliche Redensart vor, die ich erst allmalig deuten tonnte. Ich hörte ihn bestandig zwischendurch von einem alten Schuh 4O Der alte Schuh. reden. „Hier geht es streng aufi!" Pflegte er zu sagen, wo wir etwas schlimmen Weg hatten. „Aber 's isch an alter Schuh! Nur immer voran!" „Potz Tausiz! alter Schuh! wo kommt Ihr denn her?" redete er einige feiner Bekannten an, die uns unterwegs entgegenkamen. „Nun, nur her damit, es isch ein alter Schuh!" sagte er, als ich ihm aus meiner Weinstasche einen Erquickungsschluck bot. Da ich ihn fragte, was er mit dem „alten Schuh" meine, sagte er mir, es ware so eine Redensart bei ihnen, die Leute sprachen immer, „fluchen dürfe man nicht, nur nicht fluchen," aber „alter Schuh" dürfe man wohl sagen." Ich vermuthe, daß dieser sonderbare euphemistische Fluch der Appenzeller von den vielen alten Schuhen und zerlumpten Schuhsohlen hergenommen ist, mit denen man über' all in den Alpen die rauhen schuhfressendm Vergpfade bestreut findet. Wir Deutschen und Nichlfchweizer bilden uns gewöhnlich ein, daß die Alpenleute selbst gegen die Schönheiten ihres Landes völlig abgestumpft sind und gar keine Empfänglichkeit mehr für sie haben. Wir Fremdlinge, indem wir mit frischem und überschwänglichem Enthusiasmus insAlPenland kommen, glau« ben die Sache nur allein zu verstehen und blicken fast mit Ve« dauern aufdie nach unserer Meinung theilnahmlosen Gingeborenen herab. Ich habe indeß bei längerem Aufenthalte häufig Gelegenheit gefunden, zu bemerken, daß die Schweizer in der That für die Reize ihres Vaterlandes glühen. Ich habe mehr als einen Schweizer mitten im Entzücken des Naturgeuusses Thränen der Freude und der Wehmuth vergießen sehen. Ja, ich habe bemerkt, daß sie umgekehrt wohl das Vorurtheil hegen, daß sie die Natur der Alpen ganz allein verstehen, daß ein Frem« der nie dahin kommen könne, ihres Landes schöne Räthsel ganz zu errathen. Und ich muß gestehen, daß ich ihrer Mein- Schweizer Naturschwirmerei. A ung mehr beipflichte als jener der fremden Reisenden. Wollte ich meine eigene Erfahrung nicht hoch anschlagen, so könnten den vorurtheilövollen Fremden schon die Leiden eines heimwehkranken Schweizers und dann auch die reizenden Lieder, in denen alle Alpenleute die Herrlichkeit ihrer Gebirge gepriesen haben, eineS Besseren belehren. Mein appcnzeller Kamerad, obwohl in diesen Bergen geboren und auf seinen Geschaftswegen stets in ihnen umherpilgernd, erwies sich als cm wahrhaft schwärmerischer Enthusiast für seine Alpen, und ich hatte nur von ihm zu lernen und zu empfangen. Je höher wir kamen, desto häufiger entschlüpften ihm seine Lieblingsworte.' ,,göttlich! prächtig! herrlich!" desto närrischer wurde er. Es war aber in seiner Narrheit immer etwas Rührendes. „Merken Sie, mein Herr, daß wir nun höher kommen? Merken Sie die frische Luft? Welch göttliches, Prächtiges, herrliches Luftli! Schauen Sie, wie die Vlümlein immer schöner werden, immer frischer in Farbe und Geschmack'-'). O wie schmeckt die Natur hier so himmlisch rund um und um! Göttlich schmecken die Maien")' Wenn wir erst ganz oben sind, da wollen wir «dli v«u sswil« singen." Zuweilen, wenn ich nichts zu sagen wußte, sang er schon jetzt, wenn auch nicht sni, l)eo ^loiili, doch V0N den Gemsen und der Sennerin: Dort oben auf den Alpen, No's GemSli gnug giebt, Da ist die schöne Sennerin, Dic hab' ich längst geliebt. Und a Dirndel und a Maide! Wie Milch und wie Blut, Sie ist dem Nppenzellerbub Auch längst von Herzen gut', *) „Geschmack" soviel als Geruch. **) d.h. riechen die Blumen. 4ß Die Alpenblumen. Alle Allgenblicke zeigte er mir eine ne»«e Blume, die unten im Thale nicht wüchse. Doch will ich nicht verhehlen, daß er für einige dieser zierlichen Kinder der Natur auffallend unzierliche Namen hatte. So nannte er z. V. die Vergißmeinnicht nach seiner Landessprache: „Krottenäugli" (Krötenaugen). Dieß kam mir ebenso unschicklich vor wie der Beiname der Minerva, welche die Griechen „eulenäugig" nannten. Es ist sonderbar, daß jenes hübsche Blümchen, für das wir Deutschen einen so charmanten Namen erfunden haben, auch in anderen Sprachen so schlecht wegkommt, in denen es „Mäuseohr" genannt wird. Einmal sah ich meinen Appenzeller Plötzlich vor einer kleinen Gruppe sehr zierlicher rother Blümchen in dieKnie sinken. „Was habt Ihr denn da wieder?" fragte ich hinzutretend. „O," sagte er, „kommen Sie her, schauen Sie dieses Häuflein von ..../' er nannte hier seinen Namen für dieVlume, den ich vergessen habe. „Wie göttlich, herrlich, Prächtig l Nicht wahr? Ei jo! ei jo!" Ich fand die Blumen auch allerliebst und streckte die Hand darnach aus, sie zu pflücken. „Was wollen Sie thun?" rief er fast zitternd und breitete seine Arme schützend über die Blumen auS. „O nein! o nein! nicht pflücken! Die muß man hier blühm lassen. Schauen Sie, liegen ihre rolhen Glöcklein nicht auf dem scmnnetnen grünen Moose, wie Gier in einem Neste? Sitzen Sie nicht alle da zusammen und drängen sich aneinander wie ein Haufen von Brüdern und Schwestern? O, kein Gärtner hätte sie hübscher hinsetzen mögen, als Gottes Hand sie hier ordnete. Hier müssen sie, so wie sie da sind, sitzen bleiben zur Ehre Gottes, der sie Pflanzte. Ach, ist die Natur nicht unsäglich schön rund um und um! Und wie undankbar sind wir gegen den Schöpfer! I lid's a Mol nit, daß der Herr sie Pflücket!" Er wurde fast böse auf mich, aber gleich wieder gut, als ich von meinem Vorhaben abstand. „Nun Geisbuben-Namen. 49 nichts für ungut," sagte er, indem er aufstand und mir die Hand bot. „I moans halt nit so bös. Es ist nur ein alter Schuh! Nun sind wir bald droben. Nur frisch vorwärts! Als uhi! als uhi! (immer hinauf!)" In der Einsattelung zwischen den beiden oben genannten Gipfeln ging ein scharfer Nind, und in dem Einschnitte auf der anderen Seite, der ziemlich eng war, fanden wir noch Alles mit dicken Massen Schnee gefüllt. Durch diesen Einschnitt sahen wir ein Stückchen des Rhcinthals tief unter uns erscheinen und ein paar Ellen Rheinstrom, der wie ein silberner Strich quer durch den Einschnitt hindurchging. Es sammelten sich hier sofort ein halbes Dutzend Geisbuben um uns herum, die aus allen „Kübeln" und „Schlüssen" (so nennen sie die Felsenvorsprünge und Höhlungen, auf denen sie bei schlechtem Wetter „unterstchen/' und wo sie auch sonst sich gewöhnlich gesellig herumtreiben) herbeikamen. Ich fragte einige diefer Vuben, wie sie hießen. „Uli Franz Tom's," sagte der eine, „Jacob Vube Gabriel's," der andere. Zum Geschlecht aber heißt er Vrander, und „der Vlaueli," das ist ftin Uebelname (Vei-oder Spitzname). Der vollständige Titel und Name eines solchen appenzeller Geisbuben wäre demnach: „Uli Franz Toni's zum Geschlecht Vrander, genannt der Vlaucli." Dabei Ware der Genitiv Franz Toni's als Patronymicum zu deuten.- „Uli, der Sohn des Franz Toni." In „Jacob Vube Gabriel's" (d. i. Jacob, der Vubc oder Sohn des Gabriel) wäre dann dieß Patronymicum noch deutlicher bezeichnet. Ich lud diese ganze muntere Gesellschaft ein, mit mir auf die letzte Spitze des Kamor hinauszugehen, wo ich ihnen auö meinem Mundvorrath ein Mittagsessen geben wolle, so gut ich cs vermöchte. Von dem Standpuncte aus, den wir bereits emnahmen, war es eine anmuthige Promenade über den wie Kohl, Msonlcistn. II. 3 ZV Lage des Kamor. Klußuferdamme gewundenen Grasrücken hin. Der Gipfel des Verges hatte gerade Raun» genug für unsere kleine Gesellschaft. „So Herr," sagte der Vläueli. als wir darauf hinaustraten, „itzt könnt Ihr die Welt recht anlügen!" Und in der That ich weiß, selbst den Rigi nicht ausgenommen, wenige Orte in der Schweiz, von denen sich die Welt anmuthiger anlügen ließe als vom Kamor. Es gehört vieldazu. und es muß eine Menge von Umständen zusammenkommen, bis ein Rundgemaide von dem nächsten und allernächsten Vordergrunde an bis zu den entferntesten Gegenständen am Horizonte so vollkommen malerisch und inter-sfsant wird, wle dieses vom Kamor. Der Name des Kamor, Camor oder Gimor soll einer jener alten rhätischen Namen sein, die sich schon in diesem nordöstlichen Theile der Schweiz, wo die Wohnsitze der Rhälier und Allemannen von Alters her zusammenstießen, mit allemannischen Namen vermischt finden. Gr ist wie der Nigi einer jener mittelhohen Berge, die vorzugsweise zum Genuß schöner Aussicht ten von der Natur präparirt zu sein scheinen, hoch genug, um die Blicke sehr weit zutragen, und doch nicht zu hoch, um die Gegenstände im Nebel der Tiefe in Formlosigkeit verschwinden zu machen. Dabei steht er ziemlich frei und isolirt und dominin alle anderen niedrigeren Höhen nach zwei oder drei Seiten hin. Nur nach der Seite des hohen Säntis wird er selber wieder do-minirt, und dieses mächtige Gebirge deckt den Rücken des Beschauers und bildet den Hintergrund des Gemäldes. Die Haupt-aussicht geht nach Norden, wo die herrlichen Landschaften der Canlone Außerrhoden, St. Gallen und Thurgau sich ausbrei-ten. Man übersieht das ganze Vecke» des Vodensees, und jenseits des Wassers dammern die Uferlandschaften der Königreiche Würtemberg und Vaiern aus dem Fernnebel hervor. Da wir «ine Luft und ein Wctter hatten, das, wie meine Geisbuben Aussicht vom Kamor. 5^ sich ausdrückte», „so fein wie Seide" war, so erkannten wir deutlich die Lmdau'sche Insel in Vaiern und die Thürme von Friedrichshafen in Würtemberg. Die Aussicht vom Rigi ist eine bloß schweizerische, die vom Kamor dagegen eine baierisch-, würtembergisch-, badisch-, schweizerisch-tyrolerische. Ja hier führt das Auge und die Phantasie des entzückten Beschauers sogar in das alte rhatische Land der Grauen Bünde. Im Osten liegt das ungeheuere Labyrinth der iyrolerischen und Vorarlberg,-fchen Alpen, aus deneu zahllose bekannte und unbekannte Spitzen Herübelwinken. Einige Hauptthäler laufen zu dem Kamor wie zu ihrem Centralpuncte auf eine so günstige Weise zusammen, daß dadurch von hier aus die fernsten Einblicke in den Vusen jener Labyrinthe gestattet werden. Man sieht in das ganze lange Thal der III bis zn der hochgelegenen Grafschaft Montafun hinauf. Das Thal des Rheines, in welchen die III mündet, bll-det mit ihm einen rechten Winkel, und so sieht man denn auch wieder in diesem schönen, breiten, ortereichen Thale hinabwärtS bis zum Vodensee und hincnifwarts bis zum Gebirge Rhatikon, wo der Rhein, eine Biegung machend, sich hinter den Bergen versteckt. Ganz nahe zu den Füßen hat man auf der rechte» Seite daS kleine Fürstenthum Lichtensteln mit selner Hauptstadt Vaduz und zur Linken das gan;e grüne Thalbecken der kleinen Alpenrepublik Innerrhoden, von dem sich nichts den Blicken entzieht. Hinter dir hast du den hohenEäntis ganz in der Nahe, unv du überschaust den mächtigen Bau seiner Fels- und Eismassen. Von ihm kommen zwei kleine, tiefe, schattige und mit dunklem Fichtenwalde gefüllte Thaler oder Schlünde herab, die sich ganz in der Nahe des Kamor ausmünden und die dem im Uebrigen meistens heiteren Vilde auch einige kraftige Pinstlstriche und das Element des Schaurigen hinzufügen. Tief im Voden dieser beiden Thäler ruhen zwei kleine fmsi erblickende Seen, in 3* 52 Dienstfertigleit der Geisbube«. dem einen der Samtissee und in dem anderen der sogenannte „Seealpsee," dessen Namen die Appenzeller so herausbrachten! Weil ein kleiner See da war, so nannten sie die Matten und Niesen umher die Seealp, und weil nun der kleine See wiederum innerhalb dieser Seealpe lag, so hießen sie den See selbst dann wieder: Seealpensee. Und mm endlich mitten in diesem, über alle Beschreibung herrlichen Panorama schwebt man dann selber auf der spitzzugeschweiftm Gras- und Blumenkuppel des Kamor wie auf einem hoch emporgehobenen Ballon. Die Gestalt dieser Pyramide ist besonders reizend und bringt in den Vordergrund jenes Gemäldes so viele hübsche Gegenstande, wie dieß nur wenige ihrer Aussicht wegen berühmte Berge thun. Auf der einen Seite zeigt sie einen gelinden Abfall, auf der anderen wieder schroffe Wände. Sie hat mehre Stufen, und man schaut unter sich auf diesen Stufen die Viehheerden und die Hirten, die sich zurufen. An einigen Stellen find überhängende Felsen und solche „Kübel" oder „Schlüsse," unter denen die Hirten ihre Feuer anmachen. Auch weiter unten erblickt man wieder noch andere Stufen des Verges. Auf dem Gipfel desselben treffen die Geisbuben aus dem appenzeller Lande mit denen aus demRheinthale zusammen. Diese Vuben, wenn man sie gut füttert mit Brot, Käse u»d Reiskuchcn, den man aus dem Bade Weiß-lad mitgebracht, werden nicht verfehlen, auch das Ihrige dazu beizutragen, dem Wanderer seinen Aufenthalt auf dem Kamor zu verschönern. Die unsrigen sprangen um uns herum wie ihre Ziegen und waren zu allen möglichen Diensten bereitwillig. Sie holten aus einer entlegenen Quelle frisches Wasser herbei, um unseren saueren Wein zu mischen. Sie führten mich zu einer Höhle, die sie wie die auf der Ebenalp das Wetterloch nannten, und schleppten Steine herzu, die in dieses 600 Fuß tiefe Loch hinabgeschmettert wurden. Auch führten sie mich zu einer schlimmen „Vörn" und „hur." 53 Stelle, wo einer von ihnen, der Geisbub Hans Ton Uli's, „abgeschlagen" wäre. Diese armen kecken Burschen müssen immer hundertmal im Sommer ihr Leben in die Schanze schlagen für ihr dummes Vieh. Tausendmal rettet sie ihre Gewandtheit; aber dann und wann zieht doch einmal einer ein schwarzes Loos, „schlagt ab" und kommt jämmerlich wie ein geschossenes Gemslein in den Felsenschlünden ums Leben. Jener Unfall mit dem Hans Ton Uli's, sagten sie, hätte sich „vorn" zugetragen. Mit diesem kurzen Worte „vorn" bezeichneten sie daS „vorige Jahr/' so wie sie das jetzige laufende Jahr ebenso kurz mit „hür" (heurig, das heurige Jahr) bezeichneten. Alles war bei diesen Burschen entweder „vorn" oder „hur" geschehen, und es schien mir bei meinen Unterredungen mit ihnen, als wenn sie keine andere Abtheilung der Zeit und der Geschichte machten als „vorn" und „hur." Fragte ich bei ihren Erzählungen: wann ist dieß gewesen? so hieß es: „ebbe hur," und: wann jeues? „ebbe vorn!" Auch diese Partikel „ebbe" war mir in ihrer Sprache auffallend. Sie schwärzten sie überall ein. Waö ist das für ein Fluß? Antwort: „ebbe der Rhy!" Bald schien sie mir so vielbedeuten zu sollen als „etwa," wie in „ebbe vörn," d. h. etwa im vorigen Jahre, bald so viel als „eben," wie in „ebbe der Rhy," d. h. „eben das ist der Rhein!" Der Wind, der in dem Sattel hauste, hatte oben voll» kommen aufgehört. Die Luft war auf dem Gipfel völlig ruhig. Auch waren hier langst die Vlumeu an die Stelle des Schnees getreten, der, wie gesagt, noch in Massen in der bezeichneten Kluft unter uns lag. Der hohe Santis war noch ganz und gar mit Schnee bedeckt und völlig unzugänglich. Sonst hatten wir wohl gern noch einige Tage zugegeben, um auch den zu besteigen. Es giebt dort einige Matten und Alvenwiesen, dic »och höher liegen als die des Kamor und deö hohen Kasten. H4 Das Gin-und Nusfahren. „Da fahren die Sennen erst in vier Wochen i (e i ii),"l'cmcrkle ei-ner der Geisbuben. „Ja und in wacker vier Wochen" (v. h. in fastmehr als 4 Wochen), setzte ein anderer hinzu. „Und Vndc Äugst fahren's schon wieder ussi (a uö)." Es ist nur überall in den Alpen aufgefallen, daßdie Sennen das Hinausziehen aus dem Dorfe in die Verge „Gin fahren" nennen, das herbstliche Heim-und Abwandern dagegen „Aus fahren." Sie gehen dabei vielleicht von dem Gedanken aus, daß das Innere der Gebirge ihre eigentliche Heimath sei. Mein appenzeller Reisekamerad that anch wieder das Seine, unseren Tag ans dem Kainor z« verschonern. Er war unerschöpflich im Vortrage von appenzeller Kuhreigen und anderen Liedern, wußte anch mehre historische Volksgedichte und gab mir mit seiner Kenntniß von der Geschichte seines Vaterlandes eine hohe Idee von dem historischen Sinne der Appenzeller. Von der berühmten Schlacht an dem Stoß, den oben bezeichneten appenzeller Thermopylen, wußte er ein ganz langes Lied, das ungefähr in dem achten Volkstone nnd Versmaße unseres „Prinzen Cugenius" abgefaßt war. Gr versprach mir, er wolle mir dieß Lied unten im Rheinthale verschaffen. Er glaubte, es Ware in den Schulbüchern des Landes abgedruckt. Er durchstöberte aber am folgenden Tage vergebens einige Dörfer für mich, und da er es nicht fand, so schrieb er mir es auf, und ich Will hier einige Verse daraus hersetzen, da ich glaube, daß sie für einen Liebhaber der deutschen Volkspoefie einiges Interesse haben können und jedenfalls für meinen Appenzeller charakteristisch sind. In den ersten Versen dieses Liedes wirb beschrieben, wie die Erzherzoge von Oestreich, die für die Schweizer ungefähr etwas Aehnliches waren, wie für die Griechen die großen Könige von Persien, mit großer Heeresmacht gegm das appenzeller Land heranrückten, und wie die 400 Bauern dort das gewaltige Heer der Ritter erwarteten. Die Oestrcicher Das Lieb vom Hans von Werdenbcrg 55 hatten es dabei zugleich auch auf den Grafen Hans von Werdenberg abgesehen, der seine Grafschaft im Rheinlhalc am Fuße der apvenzeller Verge hatte. Sie beunruhigten ihn in seiner Vurg, und er stieß mit seinen Reisigen zu den appenzeller Hirten am Stoß: Da kam der Hans von Werdenbcrg, Gin Mann wohl gegen sieben. Mit Helm und Schild im Panzerhemd, Gr schwung sein Pferd und beut sich mit zu kriegen. „Nein," sagen wir, „wir brauchen uit Den Mann wie Du im Eisen. Wärst tapfer, dürftest auch wie wir Dem Feind im Hemd Dich weisen." Da ging Graf Hans hinters nächste Haus, Warf Panzer ab und Schild und Helm Und kam zurück im Futterhcmd. Da ging's an ein Iuchheien: „Hei! wackrer Hans im Fntterhemd! «Komm, Hans, sollst unser Hauptmann sein!" Und sangen den Kuhreigen. „Wohl," spricht der Haus, ,.will Hauptmann sein, Doch zieh'n wir All' die Schuh auch aus, Daß Keiner ebbe schlupf' und falle." So jagten sie die Schwaben aus Im Futterhemd und ohne Schuh' Mit Spieß, Faust, Stein und Sense Und setzten wieder ein den Grafen. „Komm, Hans, wir wollen Dich begleiten, Im Futterhemd' und ohne Schuh'! Da hast Du wieder Haus und Hof, Kannst wieder ruhig schlafen." Es liegt oft eine eigene poetische Einfalt und Kraft in solchen ungeschickten Volksliedern. Sie rühren und ergnifen uns, obwohl sie nichts weniger als Muster einer guten Versification und Stylisirung sind, ebenso wie jene alten Gemälde aus dem Mit-lelalter, auf denen die Ritter zu dünne Veine und ganz winkelige Ellbogen und Glieder haben, an deren Correctheit der kundige Künstler VielcS auszusetzen hat, aus denen aber dennoch ei" frommer und tiefpoetischer Sinn zu uns spricht. Freilich gehört eigentlich dazu. daß man so Gtwas von einem Manne 66 Vom Kamor hinunter. des Volks mit solchem Ernst, mit solcher Mimik, mit solcher kräftiger Stimme, mit solchem Herumwerfen der Lippen, wie mein Appenzeller dieß Alles hatte, sich vortragen lasse. Wir blieben mit unseren „frohmüthigen" Geisbuben so lange auf dem Kamor, bis die Sonne sich dem Horizonte nahte, und ließen uns dann von ihnen auf die Wege geleiten, die uns ins Rheinthal hinabführten. Wir hatten hier 4000 Fuß tief hinabzusteigen. Und um dieß auszuführen, mußten wir wenigstens il>MO Mal von einem bemoosten Steine oder von einem alten Wurzelknollen zum anderen herabspringen. Es ist dieß wahrlich kein kleines Stück Arbeit. Beinahe 3 Stunden lang ging es so fort, und noch dazu fast immer im finsteren Walde, zehnmal traten wir auf freie kleine Stellen hinaus und sahen dann immer das Rheinthal ganz deutlich und ganz dicht unter »ms, und zehnmal wieder zeigten sich noch verdeckte Abhänge unter uns, die wir wieder hinabpoltern mußten. Der Verg schien nie enden zu wollen. Endlich mitten in der Finsterniß der Nacht langten wir in Sennwald an, einem reizenden Dörfchen im tiefen Boden des Rheinthales. Hier nahm ich von meinem prächtigen appcnzeller Kameraden höchst betrübten Abschied, denn er wollte dem See zu, und ich den Fluß aufwärts. „Es thut mir leid, daß Sie weggehen. Gi jo! ei jo! wahrhaftig! Sie haben sich mein Lied vom Stoß aufgeschrieben. Sie haben schon ebbes von der Geschichte unseres kleinen appenzeller Landes gekannt. Dieß macht mich dankbar. Sie haben auch mit mir unseren Ka< mor bewundert. Gelt! da war's schön rund um und um! Na. lebm's wohl und kchren's glücklich hoam!" Das Rheinthal. 57 6. Ragaz und die Kluft von Pfäfers. „Rheinthal" ist kein geologischer oder geographischer, sondern ein ethnographischer oder politischer Name. Es wird damit nämlich nicht das Thal des Flusses, sondern nur ein schmaler Strich Landes längs der linken Seile des Rheins vom Sennwald bis zum Vodensee bezeichnet. Wie alle ehemaligen Unterthanen oder, besser gesagt, durch uralte Eroberung unterjochte und später befreite Schweizerlandschaften, so sind auch die Rheinthaler jetzt fast durchgangig radical gesinnt. Die con-servativen Districte des Cantons St. Gallen liegen mehr im Westen des Landes. Ich fuhr nun vom Sennwald aus nicht mehr im Rheinthale, wohl aber im Thale des Rheines. Es giebt hier jetzt, aber erst seit gar nicht langer Zeit, vortreffliche Chausseen auf beiden Seiten des Flusses. Auf diesen Chansseen und auf denen des Toggenburg'schen, und dann weiter über Herisau, St. Gallen und Altstätten ins Rheinthal zurück könnte man rund um das Ländchen Innerrhoden herumfahren. Quer hindurch aber giebt es nur solche Fußwege, wie ich sie beschrieb. Das Thal des Rheins ist eine der merkwürdigsten und in historischer Beziehung interessantesten Spalten oder Aus-ebnungen in den Alpen, weil es auf einer längeren Strecke der Alpen von Norden nach Süden durchsetzt als irgend ein anderes Alpenthal. Es ist hier daher ein natürlicher Canal angebahnt zur Vermittelung des Verkehrs zwischen dem Norden und Süden. In derselben Richtung von Norden nach Süden kommt von Italien her dem Nheinthale entgegen das Thal des Comer-Sees. Beide Thaler reichen sich auf dem Passe des Splügen die Hand. Man kann von Deutschland aus nur noch über den Brenner in einer ebenso directen nordsüdlichen Linie »ach Italien gelangen. Es ist also beim Rhein das Merk- 3" W Dle Römerfahrten. würdige, daß er bis zu seiner Quelle hinauf für Deutschland von so großer und bedeutungsvoller Wichtigkeit bleibt. Dieß ist in dem Grade bei keinem anderen Flusse der Fall. Ich sühre dieß an als einen Veitrag zu den Fallen, welche man sammeln muß, um sich die Größe des Ruhms, den dieser Fluß bei unS Deutschen genießt, zu erklären. Durch das Rheinthal kamen die Römer zu wiederholten Malen nach Rhatien zum Vodensee und nach Vindelicien hinab. Und als diese Römerfahrten, die von Rom herkamen, sich in Römerfahrten, die nach Rom hingingen, verwandelten, da zogen auch die deutschen Kaiser auf ihren Zügen nach Mailand und zum Papste meistens durch das Thal des Rheins. Entschieden die Mehrzahl der Römerzüge der deutschen Kaiser ging durch dieß Thal, die Minderzahl über den Brenner durch das Etschthal. Ueber den St. Gott-hardt war eö der Passage beim Urner Loch wegen damals noch schwieriger zu gehen. Der Simplon war noch gar nicht angebahnt. Auch jetzt geht noch eine Haupthandelsstraße aus Italien nach Deutschland hier durch, die aber ehemals, als Venedig noch blühte, eine größere Bedeutung hatte. Denn da floß in dieser Richtung eine große Partie der orientalischen Handelswaaren durch dieAlpm hindurch, die, statt auf rhatifchen Maul» thieren über die Gletscher, jetzt meistens auf englischen Dreimastern über See zu uns gelangen. Ich benutzte die Diligence, um mich in diesem Thale aufwärts zu schaffen, und setzte mich bei dieser Gelegenheit bei einem Engländer, der mein einziger Mitpassagier war, dadurch in ge-. waltigen Respect, daß ich kein sterbendes Würtchen mit ihm sprach. Die Ursache davon war, daß ich gerade etwas Interessantes zu lesen hatte und mich darin nicht stören lassen wollte, denn sonst hätte ich jedenfalls meinem Kameraden mehr als ein Wort gegönnt. Mein Engländer aber legte das ungewohnte Good breeding. 59 und ernste Stillschweigen, in das ich mlch einhüllte und mit dem ich in die Ecke drs Postwagens zurücksank, anders aus. Er hielt es für ein Zeichen von sehr guter Erziehung bei mir, wie denn diese Insulaner das Umgekehrte, zuvorkommende Gesprächigkeit, schon bei einem Grade, wo wir unseren deutschen Vorwuif von zudringlicher Geschwätzigkeit noch gar nicht gelten lassen, für ein „>v«nt ok Fooä !>reelo ä'kuto und litt sichtbarlich um meinetwegen entsetzlich viele Sorge und Noth, obgleich ich selbst, feinen Verdacht zu erregen, vielweniger beigetragen hatte als der Zufall, der uns unglücklicher Weise auch aufunseren Spaziergangen und sogar in der staunenswürdigen Felsenkluft von Pfäfers unverhofft wieder zusammenführt^. Ich nahm vieß Alles als eine gerechte Straft für mein Benehmen gegen seinen Landsmann im Postwagen hin. Der Ort Ragaz liegt gerade am Ausgange jener famose» Kluft, bei ihrer Mündung aus den Bergen ins Rheinthal. Es ist ein enges, tief eingeschnitlenes Thal von 3 Meilen Länge, das seine Gewässer vom Iardona-Gletscher herab empfangt. Wie die meisten Thäler der Alpen verengt sich auch dieses Thal kurz vor seinem Ausgange sehr bedeutend. Wahrend es weiter oben so breit ist, daß für Dörfer und Fahrwege Platz genug ist, schiebt sich in der Nahe des Ausgangs ein Riegel vor, den die Gewässer durchsägten und nun in einer tief ausgearbeiteten Spalte durchrauschen. Aus einer Strecke von einer Stunde ist das Thal da so eng, daß ehemals der Weg zu den oberen Gegenden nicht durch daS Thal selber, sondern über die Verge hinweg führte. Erst in neuerer Zeit hat man mit vielen Kosten und Mühen einen bequemen Kunstweg neben dem aus dem Spalt hervorrauschenden Gewässer hier angelegt, bis zu dem Puncte, wo dieser Spalt sich zu einer Kluft von wenigen Klaftern und Ellen Breite verengt, und in dessen Schlunde dann die berühmten Heilquellen von Pfäfers, der Zielpunct dieses Weges, erreicht sind. Pfäfers ist ein ehemals berühmtes Kloster, das auf einem Vergvorfprunge ganz in der Nähe von Ragaz liegt, und dessen Mönche nicht nur die nach ihrem Kloster benannten Heilquellen >n Besitz genommen, sondern auch nach Kräften für ihre bequeme Venntzüng Sorge getragen haben. Sie haben in der bezeich- 62 Bad Mfers. neten Thalsftalte ganz in der Nähe des Punctes, wo diese sich zu jener engen Kluft verschließt, höchst solide, zweckmäßige und geräumige Badewohnungen erbaut. „Solchegute Wohnungen," sagte mir ein Kenner derVerhaltnisse, „wären ohne die Mönche und ihren Abt ohne Zweifel noch lange nicht zu Stande gekommen. Aber diese Wohlthäter von Pfafers und seinen Patienten hat man jetzt undankbarer Weise aus ihrem Vesitzthum vertrieben. Auch ihr Kloster ist eins von den in neueren Zeiten im Canton St. Gallen aufgehobenen." Ich mag mir dabei die Bemerkung erlauben, daß die Geschichte derArt undWeife der Ginleitung und Ausführung dieser Aufhebung höchst merkwürdig ist. Die großen klösterlichen Vadegebaude haben indeß den Uebelstand, daß die Patienten mit ihnen in dem Dunkel und in der Kellerluft des tiefen Thalspaltes eingeschlossen sind. Von allen Seiten starren himmelhohe Wände empor, und jedes freie Ausathmen in lichter Höhe muß mit unendlichen Steige-Mühseligkeiten erkauft werden. Manche ziehen es daher vor, ganz außerhalb dieses Thalspaltes indem 3 Viertelstunden entfernten Ragaz im freien, lichten, breiten, fröhlichen Nheinthale zu wohnen. Der künstliche Thalweg macht es ihnen möglich, nach Belieben täglich und stündlich zu den Quellenbadern ohne große Umstände zu gelangen. Da man nun in neuerer Zeit sogar auch Nöhrenwerke angelegt hat, durch die das heilsame Q-uellwasser aus dem dunklen Spalt hinaus bis ins Rheinthal gelangt, so ist denn jetzt mehr und mehr Ragaz selbst der besuchtere und eigentliche Badeort geworden. — Allerdmgs verlieren die Gewässer während ihres Röhrentransportes, besonders bei kaltem Wetter etwas von ihrer natürlichen Wärme, auch glauben Viele, daß sie auch sonst aus anderen Ursachen noch in der Kluft selber kräftiger wirken, und manche Patienten ziehen es daher vor, sich in der Die warmen Quellen. M Dunkelheit der letzteren zu verbergen, um keiner heilsamen Natur- und Urkraft verluftig zu gehen. Die beiden Felsenwände, welche die merkwürdige Kluft von Pfäfers, eins der außerordentlichsten Naturschauspiele, welche die Schweiz darbietet, bilden, sind etwa 300 bis 400 Fuß hoch, und das ganze Hauptstück der Enge ist etwa 1000 Schritt lang. Oben stoßen die Felsen mit ihren Stirnen ganz dicht zusammen, so daß die Kluft sich dort völlig schließt, und man wie auf einer Brücke darüber wegschreiten kann. Im Inneren greifen die Felsen mit Hervorragungcn und ihren entsprechenden Auswaschungen vielfach in einander. Hie und da giebt es weite Nischen und höhlenartige Raume, die das Wasser ausgespült hat. Der Voden unten ist ganz von den daselbst zusammengedrängten und rauschenden Thalwassern ausgefüllt. Man hat über diese Gewässer hinweg längs der Felsen hölzerne Galerieen und Brücken-gange gebaut, so daß man mit Bequemlichkeit durch diese wun» derbaren Souterrains hindurch schreiten kann. Ungefähr in der Mitte der Kluft ist ein kleiner Seitenspalt, und in diesem kommen dann die warmen O-uellen zu Tage, deren nicht gebrauchter Ueberfluß sich gleich nach seinem Hervortreten in die kalten Thalwasser ergießt. Da die Wasser sehr warm sind, die Kluft aber eine kalte Kellerluft hat, so ist sie hier uüt einem beständigen Dampfstrome erfüllt, dessen Wolken zwischen den Felsen emporwallen. An heißen Tagen lösen sie sich zwar gegen oben bald in Undurchsichtigkeit auf, an kalten Ninlertagrn aber steigen sie sichtbar die 300 bis 400 Fuß hohe Kluft hinauf und fahren hier als eine lange Dampfsaule zio» Spalte hinaus. Diese oben sichtbare Dampfsaule verrieth den Hirten des Landes zuerst das Dasein einer warmen Quelle in der Tieft. Lange mochtcdieseDampfsaule bekannt sein, bevor es Iemaud 64 Lebensgefährliches Baden. wagte, den schwierigen Grund der Sache zu untersuchen. Vermuthlich trafen dieMönche von Pfäfers die ersten Anstalten dazu. Die Natur hatte aber hier ihren Schatz so tief versteckt und die Zugänge dazu so schwierig gemacht, daß man nur mit den größten Unbequemlichkeiten und Aufopferungen zu seiner Nutzbarmachung gelangen konnte. Die ersten Patienten, sagt man, wohnten in Zelten oder hölzernen Hütten über dem Spalt, und sie mußten sich an Stricken zu der Heilquelle hinablassen. Sie schlugen bei jedem Vade ihr Leben in die Schanze, um für ihre Gesundheit etwas zu Vortheilen. — Erst ganz allmälig und im Laufe mehrer Jahrhunderte ist die dermalige Zuganglichkeit der hier verborgenen Naturkraft hergestellt worden, uno jetzt endlich, wie gesagt, sind wir denn durch die vermehrte Frequenz und durch die so vergrößerten Mittel und Capitalien in Stand gesetzt, über die Quellen so weit zu commandiren und zu dispo-niren, daß wir sie, statt zu ihnen zu gehen, in die palastartigen Vade-Hotels im Rheinthal zu uns kommen lassen. 7. G h u r. Ragaz und Pfasers liegen an der Grenze Graubündens in dem südöstlichsten gebirgigen Zipfel des Cantons St. Gallen in welchem die Namen der Orte und Verge — Ragaz, Sargans, Sardona, Calanda, Verschis, Aznoos:c. — schon verrathen, daß man das Gebiet jenes alten, fast verschollenen Volkes betreten hat, welches die Römer — man sagt nach einem alten Anführer und Herrn des Volks Namens Rhätuö, der die Leute ins Land führte, wie Dan die Dänen, wie Tuisco die Deutschen, — die Rhatier nannten. Wenn wir den Sagen Rhaetia. §5 der Alpenvölker glauben dürfen und zugleich in diesem Theile der Alpen diejenigen Berg-, Fluß-und Ortsnamen aufsuchen, welche weder deutsch, noch italienisch, noch slavisch sind, dagegen aber in ihrer Zusammensetzung frappant denjenigen Namen und Worten gleichen, die noch heutigen Tages in der Sprache der romanischen Graubündner vorkommen, so scheint es, daß diese Rhatier, deren Nachkommen eben die heutigen Romanischen in Graubunden sind, ehemals einen außerordentlich großen Theil der Alpen befetzt hatten. Man findet solche Namen außerhalb Graubünden noch im Canton St. Gallen bis über den Wallen-städter-See hinaus und bis zum Vodensee. Man findet sie im Fürftenthum Lichtenstein, alsdann fast in dem ganzen Tyrol und sogar auch in den baierschen Bergen noch Spuren davon. Erst in der unteren Hälfte des Etschthales und jenseits der Berge, welche im Süden Graubünden und das tyrolcnsche Vintschgau umkränzen, werden die alten rhatischen Namen von achten italienischen abgelöst. Die Römer vereinigten alle die freien Gebirgsvölker dieses Alpenstriches, die sie unterjochten, zu der Provinz „Nknetin." Die Deutschen aber, insbesondere die Allemannen, drangen später zur Zeit des Untergangs des römischen Reichs von Norden in diese Provinz ein und beschränkten die Sprache und Race der rhatischen Urbewohner auf kleinere Districte. Sie drängten ste weit vom Vodeusee zurück und vernichteten sie im ganzen mittleren und unteren Innthale, so wie im ganzen oberen Thale der Etfch. So verschwand denn alles Rhätische ganz spurlos, wie gesagt, bis auf einige Verg-und Ortsnamen, die noch von ihnen zeugen, in allen denjenigen Thälern und Höhen, welche zu den heutigen Cantonen St. Gallen und Appenzell und dem jetzigen Fürstenthum Lichtenstein gehören. Fast im ganze» Lande zu Tyrol ist deutsche Sprache, Sitte und Race den alten Rhätiern 66 Vermischung des Romanischen und Deutschen. über den Kopf gewachsen. Nur einzig und allein in den» bekannten kleinen Thale Gröden und in einigen wenigen noch klei« nerenNachbarlhalern findet sich noch heutigen Tages eine übrig» gebliebene, noch nicht völlig zerstörte Ruine dieses Volkes. — Im Canton Graubünden dagegen, in dem Quellengebiete des Rheins und in dem oberen Theile des Innthales haben sich die vornehmsten Ueberreste dieser Rhätier bis auf den heutigen Tag erhalten. Sie bewohnen hier ganze zusammenhängende Landstriche und große Thäler unvermischt mit den Deutschen, so z.B. das ganze obere Innthal mit seinen Nebenthalern. In manchen Thalern aber haben sie sich auf eine so merkwürdige Weise mit den Deutschen gemischt, daß man sagen kann, es kommen hier alle denkbaren Weisen, wie sich ein Volk mit dem anderen mischen kann, vor. Zuweilen bewohnen die Romanischen die untere und die Deutschen die obere Hälfte eines Thales. Zuweilen nehmen die einen die linke und die anderen die rechte Seite eines Thales ein. Hie und da liegen deutsche Dörfer sporadisch mitten in romanischem Lande, zuweilen aber romanische Dörfer als Enclaven in deutschem Gebiete. Viele Ortschaften giebt es, die zur Hälfte von den alten Rhatiern, zur Hälfte von Deutschen besetzt sind. — Die «leisten dieser Mischungen sind für den Historiker ein Räthsel. Gr kann ihre Eristenz nicht läugnen, aber er vermag ihre Entstehung und ihren noch wunderbareren unveränderten Bestand durch so viele Jahrhunderte hindurch nicht zu erklären und historisch nachzuweisen. — So viel scheint beim Anblick dieser Mischungen gewiß, daß man auf unsägliche Kampfe und Anstrengungen dieser Völker schließen darf, so wie der Geognost beim Anblick einer wilden Zerwerfung und Mischung der Gesteine auf vielfache vulcanische Eruptionen und Bewegungen schließt. In die Alpen geflüchtet« Völker. 6? Was und wer diese alten Rhatier, die sich selbst Romanische („Ranwnfch" oder „Romaunsch"*) nennen, seien, ist eben so wenig klar. Man ist nicht gewiß, ob sie ein altes celtischeo Volk, dessen Sprache erst durch die Unterthanenschaft unter Rom diejenige Aehnlichkeit mit dem Italienischen bekam, welche sie noch jetzt offenbart, oder ob sie ein ursprünglicher Rest veralten italischen Volksstämme sind, welche seit vorhistorischen Zeiten die südlichen Thäler der Alpen bewohnten und hier vielleicht ausnahmsweise auch die nördlichen. Sie selbst behaupten, sie seien Etruster und hätten ihr mittelitalisches Vaterland unter Anführung jenes ihres Helden Rhätus verlassen, als die Barbaren aus Gallien daselbst verwüstend und erobernd eingefallen. Sie hätten sich uor ihnen hinter die Berge auf die nordische Seite der Alpen geflüchtet und sich dann dort aus» gebreitet. Diese Sage bildet also eine merkwürdige Parallele zu der ganz ahnlichen Sage der Bewohner der mittleren Schweiz, die ebenfalls sich vor den Verfolgungen ihrer Feinde in die Berge geflüchtet haben wollen, wie die Rhätier aus Etrurien, so die Centralschweizer aus dem Norden. Auch bei den Savoyar-den, auch bei den Deutschen in den Bergen von Vicenza und Verona, auch bei einigen slavischen Alpenvölkern findet man ganz ähnliche Erzählungen von der Flucht ihrer Vorväter in die Berge wieder. — Auch die Nllemannen, von den Hunnen gedrangt und dann von den Franken besiegt, kamen als Flüchtlinge in diese Berge, und es scheint fast, als sei die ganze Bevölkerung der Alpen nur aus Flüchtlingen zusammen- * Die Deutschen in Tyrol haben daraus hie und da den Namen: .die Romaunschischcn" (ein furchtbares Wort!) gemacht. 68 Die rhätische Sprache. gefetzt, was mit ihrem Wesen wohl übereinstimmt, da sie natürliche Festungen bilden. Die rhätische oder romanische Sprache verhalt sich zur jetzigen italienischen ungefähr wie das Wallonische in Belgien zu dem jetzigen Französischen. Obwohl sie ihre Wurzel entschieden in dem italienischen Mutterlande hat, so offenbartsie doch eine specifische Verschiedenheit von allen italienischen Dialekten, so wie das Wallonische sich eben so specifisch von allen anderen Dialekten Frankreichs verschieden zeigt und sich isolirt hinstellt. Es scheint fast, als habe hier schon frühzeitig eine organische Mischung der italienischen Sprache mit anderen Sprachen stattgehabt, vielleicht ein ähnlicher Vorgang, wie bei der Mischung des Römischen mit dem Slavischen in der Sprache der heutigen Wallachen. — Man hat in neuerer Zeit den Zusammenhang und die Verwandtschaft des graubündener Romanisch mit den romanischen Volksdialeklen in anderen Thälern der Alpen und auch mit denen im südlichen Frankreich, so wie mit den alten italienischen Dialekten, aus denen sich einmal die römische, und spater die jetzige italienische Sprache herrschend entwickelte, nachgewiesen. Doch hat mau am wenigsten nachweisen können, woher die Rhatier das eigenthümliche, weder italienische noch römische, noch französische oder provenyalische Clement in ihren Wortbildungen haben, das gleich selbst jedem Laien in der Physiognomie ihrer Sprache ausfällt. Man braucht nur solche rhätische Thal- und Ortsnamen, wie die folgenden: Domleschg, Schalfik, Lugnetz, Flims, Plurs, Schams, Dawos, Tavetsch, Medels, Sunwir, Vngels, Rhetikon, Dischma, Sertig, Vruein, Calfreisen, Reams :c. anzusehen, um zu begreifen, daß diese Lautcompositionen weder italienische/ noch römische, noch proven", z. B. „lsoliiel, lzc-iwr», lselllii!," während diese Worte hier nach italienischer Weist ,,«WI, ««il>, Tyrol, kommt noch eine ähnliche Mischung deutscher und italienischer Namen und Familien vor. Das Gewächs keines Volksstammes der Welt ist in so hohem Grade mit Nachbarvölkern aller Gattungen vermischt, verzweigt und wie veramalgamirt, wie unsere deutsche Eiche. Wir haben an unseren Grenzen rhatisch-deutsche, italienisch-deutsche, slavisch-deutsche, skandinavisch-deutsche, belgisch- und französisch-deutsche Völkergemische aller möglichen Arten. — Die ursprünglich romanischen oder alt-rhätischen Familien Graubündens erkennt man bald an ihren Namen. Die berühmtesten davon sind die Ie-natzsch undDonatzsch. Auch von diesen lernte ich einige Sprößlinge in Chur kennen. Die Sitten und der Charakter der Leute in Chur und Gran-..! bunden neigt schon merklich nach Oestreich hinüber, zwischen welchem und der übrigen Schweiz sie in der Mitte stehen. Sie ha- Verkehr der Grcmbünbener. 87 ben hier viel mehr Gastfreundlichkeit alS die übrigen Schweizer, die den Fremden in der Regel nicht sehr gewogen sind. Sie leben hier auch einfacher und alterthümlicher als in Vern, Genf, Neuschcttel ic. Sie sind auch in der Regel weniger wohlhabend als die Bewohner der westlichen Schweiz, in denen Handel und Industrie in den Handen Einzelner große Capitalien aufgehäuft haben. Die Graubündener haben bloß als glückliche Krieger oder als Kaffeewirthe und Pastetenbäcker Capitalien angehäuft. Bedeutende Handels-Emporien und große Manufactur-Distritte giebt es in ihrem Lande gar nicht und überhaupt weniger Handel und Industrie als auf irgend welchen anderen 150 Quadrat-Meilen der Schweiz, das große Hochalpm-gebiet des Cantons Wassis allein ausgenommen. Ackerbau und Viehzucht siud ihre vornehmsten Gewerbe, und Land- und Nald-besitz ihr Hauptreichthum. Aus dem westlichen Helvetien blickt man daher auf diese östliche Schweiz mit etwasHochmuth herab. Zugleich aber steht man dahin auch als auf ein sehr interessantes, gleichsam noch geheimnißvolles, weil wenig bekanntes Land. Die Graubündener verkehren weit mehr mit Deutschland, woher die Rheinstrciße, und mit Oesterreich, wohin die Innstraße, und mit Italien, wohin mehre Alpenchausseen führen, als mit der übrigen Schweiz, mit der sie durch gar keine Ströme und außer der obenbezeichneten Züricher' Straße fast nur durch Vergpaß-Pfade verbunden sind. Nichts desto weniger aber, und dieß ist mir oft fast wunderbar vorgekommen, giebt es eine Menge Eigenthümlichkeiten in den Sitten und dem Charakter der Graubündener, die sie mit allen übrigen Schweizern gemein haben, und die gleich, sowie man die Gränze der Eidgenossenschaft nach Italien oder Tyrol überschreitet, aufhören. Man findet neben ihrem rhatischen Gepräge immer wieder auch ein allgemein schweizerisches Ge- 88 Allgemein Schlveizerisches Vfaiensässen. präge durchschimmern. An die Schilderungen vom Charakter und Wesen der französischen Schweizer und von den Zustände» ihrer Gesellschaft, die Töpfer in seinen Novellen giebt, wurde ich auch hier im entlegenen Graubünden wieder vielfach erinnert. Und eine Menge von den Eigenschaften, welche man den übrigen Schweizern vindicirt, kann man auch den Graubündenern eben so beilegen. Es geht mit einem Worte durch alle die vielgekrümmten und versteckten Schweizcrthalcr und durch aNe ihre kleinen Sonderstaaten und Wmkelstadte ein gewisser Geist, der allen in Folge ihrer gemeinschaftlichen Geschichte gemeinsam geworden ist. Selbst ganz unbedeutende gesellige Verhältnisse gestalten sich in allen Theilen der Schweiz auf ganz gleiche Weise. Kleine Sittenzüge gehen von einem Ende der Eidgenossenschaft durch bis zum anderen Ende. So z. V. hatten Reisende von Genf oft bemerkt, daß dort die jungen Mädchen und nnverheiratheten Männer die ihnen sonst nirgendswo zugestandene Freiheit haben, auf ihre eigene Hand und ohne Zuthun und Ueberwachung ihrer Aeltern Zusammenkünfte zu halten und Gesellschaften einzuladen. Aber dieselben Jungfrauen- und Junggesellen-Vereine findet man sogar bei den gebildeten Bewohnern der kleinen Ortschaften im berner Oberlande wieder. Dieselbe Freiheit gestattet man der Jugend auch in Zürich. Und ebenso geben auch- in Chur wiederum wohlhabende junge Mädchen Välle oder Soireen mitAusschließ-ung ihrer Aeltern. Es ist dieß also eine allgemeine schweizerische Gesellschaftsform, die ihre eigenthümlichen Reize hat. In Chur erlaubt man den jungen Leuten beiderlei Geschlechts sogar, ohne Zuziehung verheiratheter älterer Personen gemeinschaftlich sogenannte Maiensassen zu unternehmen. So nennt man hier die Landpartieen zu irgend einer Alpenwiese auf den benachbarten Bergen. Die Theilnehmer an einer solchen Maien- Schweizer Eigenthümlichkeiten. 89 saß versammeln sich dazu früh morgens, ziehe» mit wohlbelade« nen Mägden oder Dienern über die Verge zu irgend einer hübsch gelegenen Wiese, auf der sie sich für den Tag etabliren. Don leben sie dem Genusse der freien Natur und verbringen den Tag mit Gesang und Tanz, mit Kochen und Essen und mit kleinen Eicursionen zu höheren Aussichtüpunctcn. Und obwohl da also die Verhältnisse der Art sind, daß die Leidenschaf« ten junger romantischer Gemüther leicht aufgeregt werden könnten, so haben die Aeltern doch noch selten Gelegenheit gefunden, zu bereuen, daß sie ihren Söhnen und Töchtern diese altherge« brachte Freiheit gestalteten. Die Graubündener pflegen daher auch diese Maiensässen immer als ein Zeichen der Reinheit und Unbcscholtenheit der Sitten ihrer Kinder zu citiren. Ich könnte noch eine Menge dergleichen specieller Ueberein« stimmungcn in den Sitten der Bewohner aller Schwelzer-Can-tone aufführen, die ich, wie gesagt, fast wunderbar finden möchte, weil ich mir kaum erklären kann, wie solche Specialitäten sich bei allen den so verschiedenartigen Bevölkerungen der Schweiz Bahn brachen. Man begreift, wie der Umstand, daß Schweizer aus alle» Cantoneu Jahrhunderte lang als Söldlinge im Kriegsdienste auswärtiger Fürsten standen, oder der Umstand, daß sie anch alle Jahrhunderte lang als Republikaner in ihren Landesgemeinden oder Besatzungen oder Großrathsversamm-lungcn gebildet wurden, gewisse Eigenthümlichkeiten in dcm Cha« rakter und den Sitten in der ganzen Schweiz gleichmäßig ausbreiten konnte. Aber solche Uebereinstimmungen im Detail der Sitten, wicdie oben citirten, sollte man nur bei einem Volke finden zu tonnen glauben, das von demselben Vlute und Stamme wäre, und nicht wie die Schweizer von 6 verschiedenen Stämmen, oder dessen gesellige Sitten wenigstens durch Concentrirung in einer gemeinsamen großen Hauptstadt ausgebildet wurden, und nicht 90 Schweizer Nationalität. wie bei den Schweizern in zwei Dutzend kleinen Winkelorten, die kaum irgend einen Umgang miteinander haben. Man hat oft die Frage aufgeworfen, ob es wirtlich eine aus- und durchgebildete Nationalität giebt bei allen diesen verschiedenen alle-mannischen, burgundischen, romanischen, italienischen und französischen Völkerracen, welche sich in der helvetischen Eidgenossenschaft zur Bildung eines einzigen Staates die Hand gegeben haben. Viele, besonders Auslander, haben dieß verneint und gemeint, daß der Tefsiner weit mehr von einem Italiener habe als von einem Schweizer, und der Züricher weit mehr ein Deutscher und der Genfer in höherem Grade Franzose sei als Schweizer, und daß alle diese verschiedenen Racenstücke durch keine starken Symftathieen und keine Gleichartigkeit der Denk- und Gefühlsweise in ihrer Eidgenossenschaft verbunden seien. Namentlich haben dle Ausländer dieß behauptet und gemeint, daß die verschiedenen Bruchstücke, aus denen dieß helvetische Conglomerat bestehe, bald wieder auseinanderfallm müßten, indem jedes Stück sich seinem natürlichen Mutterstamme wieder zufügen würde. Die Schweizer selbst aber haben von jeher gegen diese Ansicht eifrig protestirt. Die Genfer und Waadtländer fühlen sich fast beleidigt, wenn man sie Franzosen nennt. Wir sind Schweizer, sagen sie. Die Züricher und Verner, die wir ihrer Sprache wegen gern als deutsche Brüder umarmen möchten, und von denen wir kaum begreifen können, warum sie sich nicht sofort unserem mächtigenVunde anschließen, sehen uns verwundert an und sagen wie die Genfer: Wir sind Schweizer. Dasselbe Schild der schweizer Nationalitat, dieser uns fast unbegreiflichen schweizer Nationalitat, wegen der wir oft fragen möchten, wo und was sie denn sei, halten auch die Romanen und Tessiner den Italienern entgegen. ,Mn oantonl» cle nou« enlovoi' luntes n08 ^Imres, 6o äöplecier N03in8tltuti0N5, „Non contents de nous enkver lontes nos gloires, de deprecier nos institutions, Schweizer Nationalität. 91 !e» enliomi» üo la 8ui580 n'ont 1,38 os»int äe nier notro nntia» ngüte," klagt ein helvetischer SchriftsteNer, der dann die Frage untersucht, was eigentlich die beßte Vasis der Nationalität eines Volkes sei, ob gemeinsame Sprache, gemeinsame Vlutabstamm-ung, oder vielmehr gemeinsame historische Erinnerungen, gemeinsame politische Institutionen, gemeinsame Principe, gemeinsame Sitten und Gebräuche. Man kann sich denken, daß die uns Deutschen so natürliche Idee, daß gemeinsame Sprache und Abstammung auch eine gemeinsame Vereinigung zu demselben Staate nothwendig mache, bei den so gemischten Schweizern wenig Anklang findet. Sie sind keine Anhanger der natürlichen und im Blute und Fleische begründeten Abstammungs-Nationalität, vielmehr große Bewunderer und Vertheidiger einer mehr idealischen, im Geiste und in der Denkweise begründeter Nationalität, die unter dem Banner gleichartiger Institutionen erwächst und sich ausbildet. — „Vn peuple", sagt ein schwel- jet 5(utov, ,,cst une nation, quand il represente un principe. Cette absence d'unitede races, delangueset do religions qu'on remarque chez nous, a un but providentiel, e'est asm que Ves-prit do race n^touffo pas 1'csprit humanitaire. Ce melange est precisement le ciment, qni nous lie ä une unite plus vaste, celle de l'humanite, cello de la liberle, la liberte, qui unit les nations tout en leur laissant lour existence et leur caraclere propre." - — Dic Schweizer fassen also den Begriff von Nationalität in einem höheren Sinne auf als wir. Sie sehen dabei nicht auf eine leibliche Abstammung vom Vater aufden Sohn, sondern auf die Gemeinschaft eines Vaterlandes, auf die Gemeinschaft gleichartiger Institutionen, politischer Interessen «md Sitten. Die Gebildeten in Chur wie überhaupt in Graubünden rühmen sich, daß sie das Deutsch reiner reden als die übrigen 92 Bundener Deutsch. Schweizer. Sie haben nicht so viele Harten in ihrer Aussprache wie die Berner und nicht so viele Dialekt-Eigenthümlichkeiten wie die Züricher. Gin Fremder aus Deutschland versteht sie nicht nur besser als die genannten, sondern er wird auch selber hier leichter verstanden. Dieß kommt vermuthlich daher, weil ein großer Theil der Graubündener von Jugend auf noch eine andere Sprache lernt, entweder das Romanische oder das Italienische. Seine Sprachorgane sind daher schon besser geübt und etwas abgeschliffen. Viele Graubündener lernten das Deutsche nicht von ungebildeten Ammen oder bäuerischen Kinder-wärtcrn, sondern von ihren gebildeten Aeltern, oder in der Schule und aus Büchern. Es ist eine überall, in Niedersachsen, in Kurland, Livland, in Ungarn, im südlichen Tyrol bestätigte allgemeine Bemerkung, daß das Deutsche von den Ge» bildeten überall da reiner und mit weniger Dialekt-Eigenthum« lichkeiten und Provinzialismen gesprochen wird, wo neben dem Deutschen beim Volke noch eine andere Sprache herrscht. Nebrigens wird die Reinheit des bündenschen Deutsch doch hie und da etwas getrübt, und manche deutsche Worte werden auf eine höchst wunderliche Weise entstellt. Ich bemerkte z. B., wie das sonderbare Wort „daloma", das in Folge einer jener Erschlaffungen und Nachlässigkeiten der Zunge, wie sie in vielen deutschen Granzdialekten vorkommen, aus „da nun mehr" ent« standen ist. Es fiel mir auch auf, daß die Churer mit Beispielen außerordentlich viel bei der Hand sind, auch da, wo die „zum Beispiel" gar nicht angebracht sind. Fragst du einen Churer nach dem Wege zur Post, so antwortet er dir so: „Ja zum Beispiel, wenn Sie nach der Post wollen, so bitte, gehen Sie hier zum Beispiel n,n rechts um die Ecke. Aber ich bitte zu bemerken, wenn Sie dann nachher zum Beispiel auf den Markt kommen, so biegen Sie doch ja links ein." — Eine Eigenthum- Indirecte Redeweise. 93 lichkeit ihrer Redeweise, so wie überhaupt der Redeweise aller Schweizer ist diese, daß sie es sehr lieben, wie Cäsar in seinen Memoiren, ganze Erzählungen und Vorträge in indirccter Rede zu halten. Sie reden dich ohne Weiteres z. V. so an: „Es sei die Tagsatzung zusammengetreten, und es seien dabei alle Gesandten zugegen gewesen. Vern hätte gegen Uri gestimmt.^ Das „so heißt es" oder „ich habe gehört" ergänzen sie dabei immer stillschweigend. Sie bedienen sich dieser indirectm Rede in hundert Fällen, wo wir diedirecle gebrauchen oder wenigstens nicht anzuführen vergessen würden, zu bemerken, wessen Berichte wir vortrügen. Man findet auch in den schweizer Journalen dieselbe Sprachweise und z. V. Artikel wie diese: „Vern den 18. April. Im Leberberge seien Wölfe erschienen. Es seien ihrer 4 gesehen worden. Man fürchte, daß noch mehre herüber kommen möchten." Diese elliptische, conjunctive Redeweise war meinem nicht daran gewöhnten deutschen Ohre immer sehr zuwider. Ich freue mich immer, wenn ich an die Spitze großartiger Unternehmungen, Schöpfungen oder Reformen einen einzige», energischen und für die Sache begeisterten Mann treten sehe. Denn fast jede unserer Reformen und Neuerungen bedarf ihrer Propheten und sich ihr ganz hingebenden Märlyrer. Wie bei der Kirchcnrcformatiun Luther, wie bei der jetzigen französischen Ttaatsumwälzung Lamartine die Hauptsache that, so wird fast jeder Anlauf, den die Menschheit nimmt, von einem energischen Individuum besser gefördert als von den Massen. Ich freute mich daher auch in Chur, zu hören, daß es dort einen Man« gäbe, ber sich seit Jahren der großen Idee der Herstellung einer Eisenbahn durch das Nheinthal über die Alpen mit ungetheiltem ssifer und seiner ganzen Thatkraft widme, und ick lernte diesen Mann, len Obersten La Nicca, einender ausgezeichnetsten Ingenieure 94 Tas Luckmanicr-Eisenbahn-Project. der Schweiz, kennen, der die Güte hatte, mir alle seine Vorarbeiten zu dem großen Werke, die er bereits angehäuft hatte, zu zeigen und mich mit dem Standpuncte der Frage bekannt zu machen. Srit 10 Jahren hat dieser treffliche Mann sich dem Studium des Rheinthales sowohl als der südlichen Alpenthaler, welche diesem von den lombardischen Seen her die Hand reichen, gewidmet. Er hat die Beschaffenheit des Bodens dieser Thäler vom Vodensee bis zum Lago di Como und dem Lago di Lugano uniersucht und ihr Vild vollständig dargestellt. Er hat jeden Punct im Nhemthale bezeichnet, der durch einen Damm over einen Viaduct auszuebnen wäre, dann die Stellen, wo der Rhein oder ein anderer Fluß durch eine Brücke zu überschreiten wäre, und diese projectirten Viaducte und Brücken bereits in detaillirten Planen und Umrissen dargestellt. All vielen Stellen ist es unumgänglich, den Lauf deS Rheins sowohl als auch den vieler anderer wilden Vcrggewässer zu rectisiciren und zu reguliren, und alle die dabei nothwendig werdenden Wasserbauten hat er nicht nur construirt und abgebildet, sondern auch in seinen Memoiren über dieses große Project auf den Nutzen hingewiesen, der dem Lande, dem Ackerbau, den Ortschaften aus der Veranlassung solcher Werke noch nebenher entstehen würde. Vei der geringen Steigung des Weges, welche dic Eisenbahnen ihrer Natur nach vertragen, würde es kaum möglich sein, die steile Abdachung des obersten Rückens der Alpen mit einer Eisenbahn zu übersteigen. Man würde bei einer solchen Uebersteigung den Weg durch beständige Zickzacklinien unendlich verlängern müssen. Diese Zickzacklinien sind bei einer mit Pferdebespannung zu befahrenden Chaussee leichter herzustellen, da die Wendungen plötzlicher und kürzer sein können. Für die einer Eisenbahn nöthigen, weit ausholenden Schwingungen und Wendungen würde man aber in den engen Thalern der Passe gar nicht Raum Ein Tunnel durch die Alpen. 95 genug finden. Schon bei den weit kürzeren Zickzackwegen der gewöhnlichen Chausseen verursacht dieHinwegräumung des Schnees und Eises, die sich auf den Höhen in ungeheueren Massen auflegen, ungemeine Schwierigkeiten. Die außerordentliche Ver< längerung des Weges auf den Höhen würde auch diese Schnee-arbeitcn noch schwieriger machen. Und häufig würde im Winter, wo zuweilen selbst die bcßtunterhalienen Chausseen der Alpenpässe nur mit Schlitten zu befahren sind, eine völlige Unterbrechung der Dampfzüge eintreten. Demnach ist es nöthig geworden, darauf zu denken, daß man die Alpenmauer in einem Tunnel durchbreche. Herr La Nicca hat daher sich bemüht, die Dimen-sioncu dieser Mauer an allen möglichen Nebergangspuncten zu messen, und or hat gefunden, daß sie l'ei dem berühmten rhät-ischen Hochalpenstock Luckmanier am dünnsten ist. Diesen Berg kann man in einer Höhe von nicht ganz 6000 Fuß mit einem Tunnel von circa 5000 Meter Länge durchbohren. Da, wie gesagt, die Eisenbahn in icnen Höhen vor Schnee und Eis weit sorgfältiger geschützt werden muß alö eine Chaussee, so muß daher auch außer jenem Tunnel noch eine weit größere Anzahl bedeckter Gänge, sogenannter Galeneen, dabei hergestellt werden. Die Länge aller hier erforderlichen Galmeen ist auf 30,000 Meter (über 3 deutsche Meilen) berechnet. Sie werden einen nicht geringen Aufwand von Kraft und Geld in Anspruch nehmen. Die Hauptschwierigkeit der ganzen Bahnstrecke bleibt aber doch die Durchbohrung des Luckmauier, die Herstellung jenes Tunnels von 5000 Metern. — Vci allen Tunnels hat mau gewöhnlich eine gewisse Anzahl von senkrecht zu ihm herabgehenden Luftlöchern oder Hilfscanälen nöthig, theils um den beim Sprengen sich entwickelnden Pulverdampf zu entfernen, theils um spater die nöthige Ventilation in dem Canale möglich zu machen. Von solchen Luftlöchern könnte hier nicht die Redo 99 Großartige Bohrmaschine. sein, wo eine unermeßliche Pyramide von Fels, Eis und Schnee über dem Tunnel sich aufthürmt, die alle Ausgrabung von Luftlöchern unmöglich macht. Es ist daher zu fürchten, daß die Luft in einer solchen fast 1V2 Stunde langen Höhle später ganz verderben und schwer zu erneuern sein möchte. Buch fragt es sich, ob man auf die gewöhnliche Weise hier mit Pulver sprengen könnte, da der Rauch sich nur mit Mühe entfernen ließe. — Da man bei einem zweiten Alven-Eiscnbahn-Projecte, bei der beabsichtigten Durchbohrung des Mont Cenis in Sauoyen na«n-lich, ganz ähnliche Schwierigkeiten zu überwinden haben wird, so haben dort die favoyischen Ingenieure eine Maschine erfunden, welche das Sprengen mit Pulver nicht nur unnölhig machen, sondern auch im Effect noch übertreffen soll. Diese Maschinerie besteht aus einer Zusammenstellung und Verbindung von einer Anzahl mächtiger Meißel, die durch eine Dtnnvfmaschine in Ve-wegung gesetzt und gegen die Felsen gestoßen werden. Vermittelst einer Vorrichtung, durch welche man ihre Stellung verandern kann, ist es möglich, sie auf jeden beliebigen Punct der Felswand hinwirken zu lassen. Man zerlegt auf diese Weise die Oberfläche derselben in eine Menge kleiner Quarrees durch Eimneißelung von tiefen Nillen. Die so entstehenden Vlöcke werden nachher mit eisernen Stangen und Hebeln gelöst und weggebrochen. — Mit dieser Meißelmaschine hofft man den MontCenis möglichst schnell zu durchbohren, und LaNicca denkt sie, wie gesagt, auch beim Luckmanier anzuwenden. Außer diesen Vorarbeiten zu ienem großartigen Unternehmen sind auch schon viele Schritte bei den betreffenden Regierungen geschehen, die dabei interessirt sein könnten. Die Richtung der Nhein- nnd Luckmanierstraße geht, von Norden nach Süden streichend, so ziemlich aus der Hauptmasse Deutschlands hervor und zielt auf die Mitte des nördlichen Italiens hin. Das ostinbische Postfelleisen. 97 Es wäre hier also der bequemste Punct, die Radien des deutschen und italienischen Eisenbahnnetzes zu sammeln und zu einander hinüberzuführen. Die norditalienischen und die süddeutschen Staaten wären hier also die zunächst betheiligten. Oesterreich, das einen anderen Durchbruch der Alpen vermittelst Eisenbahn begünstigt, hatte man bisher noch nicht diesem Project geneigt machen können, und in dem darüber entsponnenen Wortkampfe hatte die Augsburger allgemeine Zeitung sich meistens auf der Seite Oesterreichs gehalten. Piemont aber und Baden, Würtem-berg lind Vaiern, so wie der Canton Tessin waren nebst dem im Centrum liegenden Graubünden in ein Vündniß zur Begünstig, ung der beabsichtigten Vahnrichtung eingetreten. Diese Staaten hatten bereits, um Capitalists zu Vorschüssen zu bewegen, beschlossen, der Bahn eine Einnahme von wenigstens 3^ Procent zu garantiren. Vor allen Dingen wünschte man auch dasjenige Volk, das fast bei allen Vcrkehrsbahnen der Welt auf irgend eine Weise betheiligt ist, die Englander, für die Sache zu gewinnen. Die Graubündener hatten ihr Auge auf das englisch-ostindische Postfelleisen, um dessen Beförderung sich auch die Oesterreicher und Deutschen und auch die Franzosen so eifrig beworben hatten, gerichtet, und sie meinten, wenn es ihnen nur gelange, diesen wichtigen Vriefsack durch ihre Gebirge zu verlocken, d.h. das britische Gouvernement zu bestimmen, daß es demselben die graubünden-rheinische Straße vorschreibe, ihre Sache gewonnen zu haben. Man hatte dah?r auch Copiern von den Planen und Nissen zu dem ganzen Unternehmen nach England geschickt und hoffte damals der englischen Zustimmung gewiß zu sein- Der rings um die Alpen herum jetzt l. 6 122 Der Ort TusiS. Ardea (Ardez), ein neues FaliZci (Flasch), ein neues Lavinium (Lavin) gegründet''). Fügt man nun zu diesen wundervollen Klangen aus ferner und fernster Urzeit, deren Echo in diesen Thälern aus allen Winkeln das Ohr des Reisenden trifft, noch die außerordentliche Nawrumgebung, in die er eintritt, und die um so ergreifender wird, je höher man cmpordringt, so kann man sich denken, unter welchen Gefühlen der gebildete Wanderer aus dem Vor« der-Rheinthale ins Domlcschg und aus dem Doinleschg ins Schams und aus dem Schams ins Rheinwald hinaufsteigt. Da, wo das Domleschger Thal durch die mit ihren Stirnen zusammenstoßenden Ausläufer des Muttner Hornes und des Piz Veverin abgeschlossen wird, liegt Tusis. Wir fanden diesen kleinen uralten Ort nur so eben erst wieder aus der Aschr, wie einen Phönir, neu erstanden. Ginc Feuersbrunst hatte ihn vor Kurzem vernichtet, und alle Hauser und Straßen waren neu. Gott weiß, wie oft ihm dieß seit der Auswanderung aus Etru-rien schon geschehen ist, und wie oft cr in Zukunft wobl dieß Schicksal noch erdulden wird. Er scheint schon wieder ganz darauf gefaßt. Denn bei den neuen Wohnungen war mehr Holz als Steine verwendet. *) Man hat auch in anoeren Theilen des rhatischen Landes Orts-nciinen aufgefunden, welche mit dcn Namen von Orten oder Volks-stammen m Mittelitcilien corrcspoudircn. So will man in den ipan-bündenschcn Dorfnamen: Fettan, Cernez, Nanders, Eins, Echuls, die Namen der umbrischen Völker, welche PlinwS aufführt, wiedererkennen, ble der VeUany», ^ornotani, Oenotril, 8entinate«, 8uiII»to«. Auch den Namen „Dmkria" selbst hat man in einer Gegend Rhätlens wiedergefunden. Andere graubündencr Namen erinnern an die Römer, z. B. der des „V»I vru^Kaun»" (VM» vrusian», d. i. Thal des Drusus). £>t£ Via mala. SSBB Den mächtigen Gebirgöwall, dersichhier vorschiebt, hat der Rhein — vielleicht haben unterirdische Feuerkräfte ihm dabei vorgearbeitet und geholfen — in einer gewaltigen Spalte durchsagt. Diese Spalte ist fast eine Meile lang. Nur gewandte Fußgänger konnten ehemals in ihr neben dem Rheine fortkommen. Und der Hauptstraßenzug führte, das Rheinthal verlassend, hier über die Höhen am Piz Veverin vorbei in den Schamscr Gebirgskessel von Schanis hinauf. Alle Waarenzüge des Mittelaltcrs, alle Pilger und Kreuzfahrer, die nach dem Süden zogen, alle unsere deutschen Kaiser mit ihren Rittern auf ihren Römerfahrten nnißte» sich hier bei Tusis an den schroffen Bergwänden erheben, um über den riesenhaften Felsen« riegel hinweg ;u den oberen Thälern zu gelangen. Sie nannten dieß „den guten Weg." An den Bergen hinauf blickend erkannten wir noch Partieen und Spuren von dieser uralten ehrwürdigen Straße. Den Genisjägersteig aber unten im Thale fori durch das Bohrloch des Rheins nannten sie ,,d en schlech-»en Weg" (Vin mniu) und den ganzen Spalt selbst, der fast gar nlcht benutzt werden konnte, „das verlorene L o ch." Der Zug über die Hohen führte natürlich allerlei Unbequemlichkeiten mit sich, zunächst daS steile Ansteigen, das nur durch sehr lange Zickzackwege sich hätte vermeiden lassen, dann im Winter die dort sich anhäufenden Schnecmassen. All-mälig ließ sich daher der Verkehr in die Tieft hinab. Im Laufe von Jahrhunderten wurden wiederholte Versuche angestellt, einzelne Theile des Thalbodcns wegbar zu machen. Unser Jahrhundert endlich brach auch hier mit einer wundervollen Straße durch, die, so gut sie ist, doch noch innerhalb der schlimmsten Strecke den Namen ,,Vi» maln" beibehielt. Der Rheinstrom selbst hat sich zuweilen so tief i» die Felsen 6* 124 Die Straße durch die Via mala. hinabgcgraben, und dabei ist er stellenweise zwischen so steile und engzusammenstehende Wände eingeklemmt, daß er mehnnals ganz darunter verschwindet. Gs ist daher unmöglich gewesen, mit der Straße eben so weit in die Tieft hinabzugehen, wie der Fluß selber. Und eigentlich schlangelt sie sich dalier in der Mitte der Höhe der Schlucht längs der Wände des Spalts hin, bald auf dieser, bald auf jener Seite des Flusses sich anhängend, bald auf wundervollen Brücken über den Abgrund, in dessen versteckten Tiefen der Rhein braust, hinübersetzend, bald durch Felsenriegel sich Thore und Höhl:ngange grabend, bald auf Vorsprünge und Absätze frei hinaustretend, bald auf künstlichen Mauergewölben am AbHange schwebend. Der grüne Rhein ist unten 300 bis 400 Fuß tief auf dem Boden der Spalte versteckt. Zuweilen iieht man frei bis auf seine schaumende Oberfläche hinab. Zuweilen fcmn man selbst, auf den Brücken stehend, zwischen aNen den vortretenden Felsenköpfen, die sich von beiden Seiten her in einander verzahnen oder verkeilen, nur ein grünes oder weißes Slreifchen von ihm erkennen. Man fährt nahe an 2 Stunden zwischen den wundervollsten Scenen, die weder ein Autor beschreiben, noch ein Maler darstellen kann, aufwärts, bis dann auf einmal der Rhein sich aus der Tiefe wieder hervorhebt, die Schlucht sichrcchts und links erweitert, und ein flacher Thalboden sich herbeilaßt, auf dem man dann bequemlich hineinrollt in das weidenreiche Schamser Thal durch die Dölftr Zillis. Andeer und andere. Die alten Kaiser und Ritter blieben aber immer oben auf dem Bergplateau, auf ihrer ,,guten Straße", und durchzogen die Reihe der oberen Schamser Dörfer Lohn, Matton imd Donat, da sie einmal oben waren und es nun zu unbequem fanden, erst wieder ins Thal hinabzusteigen, mit dem ihr Weg sie allmälig ganz von selbst wieder zusammenführte "' dem wilden Pasi der Roftm oder „U, liollg." Die Nofla. 125 Diese Rofla, durch die man aus dem Schams ins Rhein-waldthal hinaufgeht, ist etwas Aehnliches wie die Via main zwischen dem Domlcschg und dem SchamS, — em Gebirgs-riegrl-Durchbruch von einer Thalstufe zur auderen. Der Nhein fttzt zuweilen in schönen Cascade«, zuweilen in nefen Klüften schäumend, zuweilen ungesehen, aber überall gehört, hindurch! Es tempeln sich hier Massen aus Massen. Die Wildniß ist unsäglich. Was die Natur nur Schreckliches oder Erhabenes in Felscnformen und Felsenfratzen hervorbringen kann, das hat sie hier in hundert und aber hundert Scenen dargestellt. Wie auf einer Vlumenwiese unerschöpflich im Anmuthigen und Nützlichen, so scheint sie hier unerschöpflich sein zu wollen im Wilden und Unnützen. Blickt man in die Tiefe, so steigen hier schaurige Gründe, der eine noch tiefer als der andere, hinab. Schaut man in die Höhe, so überbietet cm kahler Felsenkopf den anderen, eine öde Wand hangt über der anderen. Manche dieser Wände sind auf weite Strecken hin mit zerstörten Wäldern bedeckt. Sei es, daß ein Waldbrand hier aufräumte, uder daß ein Wirbelwind die Väume umknickte. Niemand kann hier den Waldbränden Einhalt thun. Ja, keiner giebt sich auch nur einmal die Mühe, die Holzernte, welche der Wind fällte, zu sammeln. Modernde Baumstämme/ chaotisch durcheinander geworfen, hangen oft stundenweit an allen Abhängen übereinander. — Selbst die Muse eines Vyron ist solchen wilden Scene» nicht gewachsen. Ich blickte unterwegs in seinen Manfred, dessen Theater ebenfalls zwischen solchen Bergen liegt, und in dessen poetischen Ergüssen der Dichter zuweilen sehr wild wird. Aber hier vis ü vis der Natur selber kam mir Alles was «r sagte, äußerst zahm vor. Auch die Alpcnscenen, die Lamartine in seinem Iocelyn ausgemalt hat, findet man nur entzückend , wenn man eben nicht in den Alpen selber weilt. Die 126 Die Freien am Nhyn. Natur ist mächtig in Erzeugung solcher mannigfaltiger Scenen, und auch unsere Seele ist zu mächtig lind zu empfänglich in der Aufnahme aller der verschiedenartigen Sensationen, welche solche Scenen in uns erregen, als daß unsere Ncde dieß Alles wiederzugeben im Stande sein sollte. — Manche Schriftsteller, die die Ohnmacht ihrer Feder hier besonders tief empfanden, sind daher auch in den Alpen ungeduldig geworden und haben angefangen, auf sie zu schelten, weil sie sie nicht zu Preisen verstanden. Unter anderen hat dieß zum Beispiel Chateaubriand gethan, ocr überall da, wo er auf die Alpen zu reden kommt, ein saueres Gesicht macht und nicht genug die Schwärmerei Rousseau's für Alpenscenen bekritteln und bespötteln kann. Vielleicht ist ihm das Alpenklettern zu beschwerlich gefallen. Zuletzt kommt man noch durch ein Felsenthor, „Sasaplana" genannt, und schreitet dann endlich wieder in einem oberen Thale fort, dem alten Thale „der Freien am Rhvn." So nannten sich die deutschen Bewohner dieses alleräußersten Rheinthales, des sogenannten Nhemwaldes. Sie wohnen bis zu den Quellen des Rheins, bis zum Hinterrheingletscher hinauf, und ihr Hauptort ift Splügen. Sie sollen von einer uralten Colonie von Deutschen herstammen, welche ein deutscher Kaiser, man sagt, Friedrich der Rothbart, hier am Splügm — als treue Wächter des Passes ansiedelte. Diese Deutschen des Rhemwaldes bilden in ihren Dörfern Suvers, Splügen, Medels, Hinterrhein?r. ein kleines Staatswesen für sich und sind rundherum durch romanische Thaler von den übrigen Deutschen gesondert und isolirt. Sie kommen aber als „die Freien am Nhyn" schon sehr früh in der grcmlnmdenschen Geschichte vor und werden auch mit unter denen genannt, welche die ersten Bündnisse „der Grauen" mit beschworen, Bündnisse, die so lange dauern sollten, „so lange als Grund und Gratstehen/' Das Nheinwald. 127 Wenn man mich mit verbundenen Augen ins Rheknwald brächte, ohne mir zu sagen, wo ich wäre, so würde ich doch nachher sofort erkennen, daß ich mich 3000 bis 4000 Fuß über dem Meere in einem jener kleinen HochleM befände, die sich längs den Seiten eines Passes hinziehen, entweder im Rhein-wald, oocr im Urftrcn-Thale, oder im Thale von Airolo, oder in dem von Simpeln (Simplon), oder in dem von Worms. Denn diese hohen Passagethaler sehen sich alle gleich, wie Zwillinge. — Ihre kahlen Gründe, ihre spärlichen Tannen, ihre grauen hölzernen Dörfer, ihre öden Verggehange uno starren Gipfel, ihr kleines mit Waaren und Reisenden Nacht und Tag gefülltes Hauptdorf, dieß ist überall dasselbe. „Splügen" oder „Speluga" soll seinen Namen von dem lateinischen „8i>«;oli1u" (Wachtthurm) haben. Manche deuten dieß auf einen dicken alten Thurm, der noch auf der Höhe des Passes steht, und der, wie viele ähnliche alte Hochalpen-Gemäuer, aus der Lombardenzeit herstammen soll, den aber Andere für ein Nömerwerk halten. Auch im Thale selbst, nahe beim Dorfe Splügen liegen Ueberresto eines alten Schlosses, welches nun die letzte Ritterburg in dein ganzen an Ritterburgen so reichen Rheiltthalc ist. Ganz in der Nähe von Splügen, wenige Stunden weit westwärts erblickt man die Höhen des Adula, den Piz Val Nhein und das Moschelhorn, aus deren Eishöhlen die Quellen des Rheins hcrvonauschen. Ich ließ von hier aus meine Gedanken längs der weil sich hinstreckenden Thal-und Landschaften des großen Stroms hingleiten, gedachte aller der schönen großen und kleinen Städte, deren Mauern er bespült, und war froh, daß ich einst auch das andere Gnde dieses Stromes gesehen hatte in Holland, wo er sich in den Dünen verliert. Von dieser eisigen Gletscherurne im Rheinwald 123 Splügen als Handelsort. bis zu der hölzernen Schleuse innerhalb der holländischen Dünen, welche lange Perlenschnur von Städten, welche schöne Kette anmuthiger Landschaften! Welche Contraste der Natur, die ba-tavischen Marschen und die rhätischen Alpen! Das Znrüsten zu dem bevorstehenden Alpenübergange, das Abschirren der ankommenden, das Anschirren der abgehenden Packpferde, die Beförderung der Posten und Dili-gencen. das Schreien der Fuhrleute und Postillone, die Abfütterung der erfrorenen Passagiere, das Hin- und Herzerren des kleinen Häufleins von Waarenballcn, das Alles nimmt in einen» solchen kleinen Alpen-Handels- und Passage« orte. wie es Splügen ist, gar kein Ende, und diese lebhafte Wirthschaft eines solchen Hochalpen-Hafens bildet eine» merkwürdigen Contrast zu der ernsten und wilden Natur des Thales. Nacht und Tag, Sommer und Winter, Jahr aus, Jahr ein geht es hier fo fort. Graubündener Offiziere in neapolitanischen Diensten mit langen Bärten und martialischen Gesichtern, die auf Urlaub für einige Zeit in ihr Vaterland zurückkehren, Capuziner, die zu Fuß aus einem Alpenthale ins andere wandern, Specu-lanten, denen die Reis- und Maissacke, welche aus der gesegneten Lombardei herüberkommen, am herzen liegen, roma« nische Fuhrleute, die als Mitglieder der alten eigensinnige« privileglrtm bündenschen „Porter" (Fuhrleutegesellschaften) ein scharfes Auge daraufhaben, daß Niemand ihnen in ihr Handwerk Pfusche und keine Waarenballen durch andere als ihre bevorrechteten Hände fpedirt werden, italienische Vieh-handler, die mit den deutschen Hecrdebesitzern schachern und Hanthieren. Straßenarbeiter aus dem SchamS, Domlescha. oder Rheinwalde, die man auf Vnndnerisch „Nutner" oder „Ruter" (das Wort, sagt man, käme vom lateinischen rumpo, Bergamasker Schafhirten. 129 supi, rupwm, rumpero, brechen, einen Weg allsbrechen) nennt, und die mit ihrem Romanischen allerlei deutsche Worte mischen (besonders haben sie deutsche Spott- und Fluchwörter aufgenommen, z.B. „quest Umuun (Mensch) ö unL»«!, un ver-Nuokter," oder ,,«ssli ö un «implsr 'lllFlüknsr!" — solche Elemente ungefähr bilden die Gesellschaft, unter der man sich gewöhnlich hier an den Quellen des Rheines befindet, und unter der auch wir uns hier herumbewegten. In lang sick) streckendem Zickzack durch öde Thaler und Felswüsteneien, mitten zwischen hochaufgethürmten Berggipfeln führt die Straße dann allmalig vom Dorf Splügen aus au-die Höhe des berühmten Passes selber. — Alle die Vergge, hange und Einschnitte und auch die Gipfel, die man hier siehtr können zu weiter nichts benutzt werden als hie und da zu» Weide für Schaft. — Fast überall sind es hier die berühmten bergamasker Schafhirten (Leute aus der lombardischen Prot vinz Bergamo), welche den Vündenern die Weide abgepachtn haben. — Seit uralten Zeiten kommen diese Vergamasken mit ihren Heerden, — sie haben sehr große Schafe mit langer, grober Wolle, mit denen sie im Frühling alle die nach Graubünden führenden Thaler, das Misor, das Vergell, das Pusch-law u. s. w. empor wandern, um die ganze Reihe der bündneri-schcn Schafweiden längs der rhatischen Alpmkette im Rhein-wald, im Oberland, im Egadin, in den Bergen von Auers und Stalla abzuweiden oder, wie es heißt, ihre Thiere da „sommern" zu lassen. Sie pachten dazu den an sonstigen Alpenwiesen reichen Rhatiern die schlechtesten und dürftigsten Grasstriche ab, und die Graubündener selbst versichern, ,,daß diese Vergangen die Schafzucht, Schafkasebereitung und Mol-kenwirthschaft mit einer Industrie und Sparsamkeit betrie- 6" 130 Der österreichische Adler auf dem Splügen. ben, wie sie die einheimischen Sennen selten in Anwendung bringen." Der höchste Rücken des Passes befindet sich etwa 6300 Fuß über dem Meere. Noch jetzt lagen hier überall große Schneehaufen, und stellenweise fuhren wir noch lange Strecken zwischen zwei Schneemauern von 20 Fuß Höhe hin. Der Wcg war dazwischen tief ausgegraben. Die Leute erzählten mir, daß sie im vorigen Jahre beim Weggraben des Schnees erstarrte Frösche darunter gefunden hatten, die unter dem Schnee überwintert hätten, und die nachher im Wasser erwacht wären und sich ganz lebendig gerührt hätte». Die italienische Gränze geht mitten über den Rücken der Paßhöhe hin, und wir erreichten bald die österreichische Dogana, wo in dem hier ewigen Schmuze und Schnee eine zahllose Menge von Last- und Personenwagen, von Rinderherden und Passagieren versammelt war. — Der österreichische Adler hielt damals noch ruhig und scheinbar kräftig seine Flügel über diesen Höhen. Wer hätte es ahnen können, daß er sie so bald schon einziehen sollte. Da ich in früheren Jahren schon von einem Dutzend ganz verschiedener Seiten in diese große Monarchie eingedrungen war, so gedachte ich, während die italienischen Beamten über unserenPässen studirten, aller der zahlreichen Gränzstationen, welche diese gewaltige Monarchie weit und breit in der mitteleuropäischen Welt errichtet hat, und aller der so mannigfaltigen Landschaften und Völker, deren Geschicke mit dem dieses großen europäischen Staatswescns verknüpft sind. — Wenn man so ein Jahr lang, wie ich es gethan, in einem solchen Bündel kleiner Winkelstaaten gesteckt hat, wo jede Nation immer gleich mit dem Thale zu Ende ist, und wo immer gleich hinter jedem Verge eine neue Welt beginnt, so athmet man ordentlich auf und macht große Augen, wenn man Nord - und Südseite der Alpen. 131. wieder einmal die Gränze eines so großen Staates betritt, wie Oesterreich es ist, und wenn »nan die Phantasie so weit schweifen lassen kann, wie hier von der „vo^nn» clol splusson" bis an die türkische Gränze, bis in das böhmische Erzgebirge, bis zu den polnischen Sümpfen und bis zu den russischen Steppen. Ueberall, weit und breit herrscht da derselbe Wille und dasselbe Gesetz. Da bewegt sich der Verkehr in weiten Kreisen, da ertönen, rauschen und brausen die Stimmen der Völker des halben Welttheils. Man glaubt aus der Mitte der Verge an das Ufer eines weitgedchnten Meeres zu treten. — Ich dachte damals noch nicht, daß dieses mächtige Kaiserreich schon so bald eine so entschiedene Tendenz offenbaren sollte, sich wie die Schweiz in Ländchen, Dimmutivftaaten und Kantone zu zersplittern. lft. Ghiavenna. Der Abfall der Alpen ist bekanntlich im Ganzen auf der südlichen Seite schroffer als aus der nördlichen. Die 'Höhenzweige und Arme, welche sich von ihrem mittleren Hauptrücken nach Norden ausstrecken, sind länger, die nach Süden kürzer. Das ganze Land, welches im Norden sich längs ihres Fußes hin erstreckt, dic obere Schweiz, das obere Plateau von Vaiern ist fast um 1000 Fuß höher als die ebene Lombardei, die sich nur wenig über das Meer erhebt. Die Seeen auf der Südseite, der Comersce, der Lago-Maggiore, der Gardasee, sie haben "lle ein Niveau, das 600 bis 800 Fuß niedriger liegt als die Nivecmg der Schweizer-Seeen, des Genfer, des Züricher, des Boden-Sees ,c. — Alle Thäler, welche aus dem Süden zu 132 Das St. Iacobs-Thal. den Nlpenhöhen führen, steigen rascher empor als die, welche aus Norden kommen, und alleVergpässe und Einsattelungen haben auf der Nordseite einen langgedehnten Rücken, auf der Süd' feite einen rascheren und kürzeren Abhang. Beim Splügen z. V. ist man bei Campo Dolcino auf der Südseite schon 3000 Fuß gefallen, während man vom Dorfe Splügen her, das auf der Nordseite eben so weit vom Gipfel entfernt liegt, wieCompo Dolcino, nur 1700 Fuß zu steigen hatte. Bei Chiavenna, in einer Entfernung von 3 Meilen vom Passe hat man schon eine Tiefe von nur 1030 Fuß über dem Meere erreicht, während man im Norden noch nicht einmal am Aodenste so tief herabgekommen ist. Auf der Südseite sind daher auch meistens die Scenerieen noch wilder, die Thäler tiefer ausgegraben, die Bergwände länger, die Klüfte und Spalten entsetzlicher, die Straßenbau-ten daher auch schwieriger und die Wunder, welche de: chausseo bauende Ingenieur vor unseren Augen entfaltet, größer. Das italienische Thal, in das man hier zunächst hinabrollt, heißt VnIIs 6i 8. 6inoomo (St. Jacobs - Thal). Nie hier sofort die ganze Natur ein anderes Ansehen erhalt! Gleich werden die Verge baumlos und kahl fast bis auf den Voden hinab. Nur in den tieferen Gründen ziehen sich reizende frisch-grüneKastamengehölze längs des FlüßchensMaira hin. Diese verhaltnißmaßige außerordentliche Waldlostgkeit, der man überall, so wie man einen Alpenpaß nach Süden hin überschritten hat, begegnet, ist zum Theil eine Folge klimatischer Einflüsse, erklärt sich zum Theil aber auch aus dem Laufe der Flüsse. Holz, als eine schwerfallige Waare, bedarf zu seinem Transporte nothwendig der Flüsse, und die Waldgegenden werden daher um so mehr gelichtet werden, je mehr Holz die Länder bedürfen, zu denen ihre Waldbache hinabführen. Auf der Die kahlen Verge. Igg Südseite der Alpen liegt das alte Culturlanb Italien, das schon seit Jahrtausenden so vieles Holz verbraucht hat. So weit seine Flußlaufe und Vergstromadern gehen, so weit fraß es die Alpellwälder weg und machte alle Berge kahl, bis zu den höchsten Höhen der Vcrgpässe hinauf. Den großen Nald-reichthum jenseits der Vergpasse konnten sie aber nie antasten, weil die schwerfalligen Stämme und Balken sich nicht wohl über die Gebirgsrücken Hinübertransportiren ließen. — Jenseits der Alpen im Norden lag das waldreiche Deutschland, das noch nicht nöthig hatte, in dem Grade, wie Italien, die Wälder aus» zubeuten. — Aus diesem Umstände, sage ich, erklart sich zum Theil das Phänomen, daß die waldigen Regionen der nördlichen Alpenthäler mit den kahlen Bergen der südlichen Thäler überall so schroff absetzen „nd wenigstens überall da, wo die Flüsse nach verschiedenen Weltgegenden laufen, so stark miteinander contrastiren. Die Hinabfahrt in das Thal St. Giacomo bietet eine Fortsetzung der bewunderungswürdigen Siraßenba»-Construc-tionen, deren lange Reihe bei der Vi» mulu im Domleschg beginnt «nd sich bis Chiavenna fortsetzt. — Es ist ein größeres Werk von einem gewissen Ingenieur Vaumgartner ,über die neuesten Kunststraßen der Alpen" erschienen. Dieß ist eines der interessantesten Themas, das sich ein Schriftsteller zu bearbeiten vornehmen kann. Denn in der That Napoleon und Kaiser Franz !., der König von Savoyen und die kleinen helvetischen Völkerschaften haben hier miteinander gewetteifert, sich um die Menschheit verdient zu machen und sich selber hier in den Alpenwilvnissen Monumente ihrer Ausdauer und Energie zu setzen, und die Betrachtung dieser Kunstwerke, der Anblick dieser Straßen und der außerordentlichen Gegenden, durch welche sie füh^n, machte mir so viel Genuß und Freude, daß ich 134 Die Galerieen der Mvenstraßen. wohl begreife, wie ein Mann sich mit Begeisterung ihrer Unter-slichlmg und Darstellung hingeben, wie er über das StilfserIoch, über den Splügen, über den Bernardino, über den Simplo,,, über den Brenner ic. herüber und hinüber reisen kann, um die Sensationen und Seelenerregungen, welche solche Ueber-gange aus dem Norden »ach dem Süden und aus der Höhe in die Tieft und umgekehrt, uns einflößn,, recht oft zu genießen und alle die mannigfaltigen Scenen und Beobachtungen, welche sich da darbieten, vergleichend zusammenzustellen. Die ^Natur hat vom Splügen herab einen tiefen Schlund ausgegraben, den sogenannten „Cardinel," der auf dem kürzesten Wege ins Thal führt. Statt wie bei der Via mala in diesen Schlund hinabzusteigen, hat man es aber vorgezogen, die Straße über die Berge hinzuführen und dann erst spater in das Thal Oiacymo hinabzugehen. Wie gewöhnlich haben auch die Verge hier oben Anfangs sanftere Abhänge, erst weiter unten, gegen das Thal zu, werden die Wände auf einmal schroff, und hier haben daher die Straßenbauer alle ihre Künste zusammen' nehmen müssen. -— Oben giebt es mehre Gtellen, die von Lawinen bedroht werden, und hier hat man denn die Straße durch lange Galerieen geführt, die sich wie Festungswerke ausnehmen. Diese berühmten Galerieen bestehen nämlich, sowohl hier wie bei allen anderen Alpenstraßen, aus solidem Quaderstein-Gemäuer, das sich dicht an den Verg anschließt und mit diesem verwächst. Oben sind sie mit einem schrägen Dache ve» sehen, das mit dem AbHange des Berges ausgeglichen ist, so daß die Lawinen, die von oben herabfallen, leicht über das Dach hinweglutschen. — In der Mauer der Galerieen sind große, meistens runde Licht-und Luftlöcher angebracht, die wie Ka< nonenlöcher aussehen. Im Winter helfen sie freilich nicht viel, ra sie sich mit Eis und Schnee vollsetzen. Wir fanden noch Herabfahrt vom Splügen. 135 jetzt die Löcher einiger Galerleen verstopft. Die Chauffeewach-ter, die in den sogenannten „Cantonieren'^ wohnen, sind daher mit Laternen versorgt, die sie im Winter in den Galerieen aufhängen. Dieser Cantonieras oder Zufluchtöhäuser giebt es mehre am Wege. Es sind dickmaucrige Hauser, die wie Sol» daten-Casematte» aussehen. Hier oben, wo Stürme, Lawinen und polternde Felsen einen ewigen Krieg führen, müssen alle Mcnschenwerke fin kriegerisches, fcstnngöartiges Ansehen annehmen. Durch eine Reihe solcher G.ilerieen, auf allerlei künstlichen Unterbauten, Gewölben nnd Brücken, auf zahllosen Zickzackwegen, die überall mit Vrustmauern geschützt und garnirt sind, rollt man auf diesen Höhen von einer Stufe zur anderen herab. Am außerordentlichsten nnd ergreifendsten ist der Anblick da. wo man an die steilste Wand des Thales gelangt. Hier blickt man in den genannten Schlund Cardinel hinunter. Ganz in der Tiefe, als läge es in einer natürlichen Katakombe der Erde, sieht man das winzige Dörfchen Isola. Wie ein Vlitz, der sich an den Boden hinlegte, wie der Faden der Ariadne führt die herrliche zuverlässige Straße in dieses Labyrinth hinab. Vei jeden» Schritt scheint die Natur ein „Nicht weiter!" gesprochen zu haben, und bei jedem Schritt siegte der Mensch mit festem Ausrufe: „Vorwä'ns!"' Vei jeder Wendlmg glaubt man ängstlich, direct in unermeßliche Abgründe hinabzuschicßln, und bei jeder Wendung erhalt man von Neuem die angenehme Zuver-Vcht, daß man ohne Gefahr und ganz bequem hier schreiten, traben, galoppircn kann, wie in einer Reitbahn. — Man sieht d>e kühne Linie der Straße auf einer Reihe übereinander auf-getempelter Terrassen fast zehnmal verschwinden und zehnmal wieder erscheinen. Auch oben hinauf sieht man Bruchstücke der Straße und die kuchfahrenen Galerieen und die Cantonieras 13O Wunderwerke des Straßenbaues. an den Bergen sich hinziehen. Wer dieß nicht gesehen hat, der kann es vielleicht kaum begreifen, daß der Anblick eines sulchm Werkes Thränen des Entzückens und der Begeisterung auszupressen vermag, eben fo gut wie der Anblick jeder anderen vollkommenen und großartigen Arbeit. Man glaubt hier den Finger eines Gottes vor sich zu sehen, der diesen Wegstreisen durch die Wildnisi zog, und der hier den bedrohten Menschen vorsichtig Schritt für Schritt wie die Vorsehung mit Schutz und Hilfe umgab. — Wie ohne diesen Schutz und dicseHilfe die deutschen Kaiser mlt ihrem Gefolge hier herabgekommen sind, begreift man kaum. Vermuthlich hat in den Schlünden des Cardinel mancher deutsche Ritter sein Leben eingebüßt, so wie auch bei dem kühnen, man möchte sagen, frechen Uebergange der französischen Armee unter Macdonald im Jahre 1800 mancher Reiter und Fußmann seinen Tod hier fand. — Ginige Wasserfälle, unter ihnen eine der prachtvollsten Cascade»», die ich je gesehen habe, zeigen sich hie und da an dem Wege und vermehren das Interesse der Straße. So wie man bei Campo Dolcino unten anlangt, fmdet man Alles italienisch, die Menschen, die Bauart der Häuser, die Vaume und Pflanzen. — Italien stößt hier dichter mit Germanien zusammen als an anderen Alpenftuncten, als z. V. im Ticino-Thale, wo noch ein hochgelegener hinterer Thaltheil, das Thal von Airolo, eine Art von Mischung zwischen deutscher und italienischer Wirthschaft, deutschen und italienischen Sitten, deutschem und italienischem Wesen herbeiführt. Der Hauptbaum des Thales, wie überhaupt aller dieser nach Süden geöffneten Thaler, ist die Kastanie. Die mehlige, nahrhafte Frucht dieses überall hier verbreiteten Baumes ist, glaube ich, die vornehmste Ursache der Erscheinung, daß die Italiener sich dem Kartoffelbau viel weniger ergeben haben als wir Kastanien und Kartoffeln. 137 Deutschen. Fast überall und in allen Fällen, wo wir Kartoffeln speisen, essen sie Kastanien, die bei Geringen wie bei Vornehmen fast ganz die Stelle unserer Erdäpfel einnehmen. Man rollt noch durch einen Kastanienhain hindurch unv noch durch einen. Endlich weitert sich das Thal, und da, wo sich die Gewässer des Iacobsthalcs mit der aus dem Vregell hervorrauschenden Maira verbinden, da liegt das erste italienische Städtchen, das seine ersten Anbauer vermuthlich und zwar mit Recht als einen Schlüssel zu jenen beiden Thalern betrachteten, da sie esChiavenna (gleichsam „Schlüfselburg^) nannten. Ich erinnere mich, daß in unserer Jugend unser Zeichnenlehrer immer große Landschaften und Ansichten von Städten oder Vergsceneu an die Wandtafel malte. So wie sie unter seiner Hand und Kreide sich gestalteten, so mußte» wir sie in nnse-ren Büchern nachzeichnen. Darunter kamen auch italienische Ansichten vor, Hauser mit stachen Dachern, mit einzelnen kleinen Fensterlöchern, hohe, durchweg gleich dünne, viereckige Glockenthürme, untermauerte Terrassen, auf denen die Gebäude sich übereinander erhoben, lange Reihen von Logengängen, terrassirte Gärten, irgend ein fremdartiges Gewächs zwischen den vielen steinernen Gemäuern. Ich fand diese Bilder sehr eigenthümlich und reich und glaubte sie aus der Gegend von Neapel oder Sicilien hergeholt. Wie erstaunte ich aber, schon jetzt hier in den Alpen bei Chiavenna die vollständigsten Modelle zu diesen Gemälden zu finden. Schon dieß Chiavenna ist in allen Puncten eine so italienische Stadt, wie es nur eine andere in Sicilien sein kann. Man betrachtet mit Vegierde alle diese verschiedenen so ganz neuen und eigenthümlichen Scenen und Formen und Gruppen, die sich sofort in diesem neuen Lande, dem Wohnsitze eines anderen Volkes, offenbaren. Man kann behaupten, daß auf dieser südlichen Seite der Alpen gleich tA^ Die schweizer Landvögte. Alles anders ist als auf der nördlichen. Die Straßen haben eine andere Physiognomie, die Hänser und Manern sehen anders a»s. Kein Stein liegt auf dieselbe Weise über dem anderen, wie dort. Die Menschen sind nicht nur anderS gekleidet, sondern sie stehen und gehen auch ganz anders umher. Sie bewegen sich anders, der Hut und die Schuhe sitzen ihnen anders. Kurz, die ganze Welt, von dem Anblick, den sie im Großen und Ganzen gewährt, bis zu den kleinen Vröckchen und Atomen herab, aus denen sie besteht, hat eine andere Form, Figur und Färbung. Sonst war Chiavenna die Residenz eines graubündenschen Landvogts, der das ganze von seinen Landsleuten eroberte Thal beherrschte. Denn bekanntlich fanden es die Oraubündener eben so wie die anderen Schweizer gar nicht unbequem, anderen Leuten recht hartherzige und tyrannische Landvögte zu geben, obwohl es ihnen höchst unbequem war, daß ihnen selber die Oesterreicher solche Landvögte setzten. Wegen ihrer kühnen Empörungen gegen die österreichischen Landvögte hat man die Schweizer 5 und darstellte, einen schöneren Platz auf der Erde finden als hier an dem Ufer des Sees, in dessen klarem Gewässer daS athmende Statuenvolk sich spiegelt, und wo sie die aromatischen Lüfte der Citronen- und Pomeranzen-Gebüsche einathmen. — Wenn man so Auge, Ohr und Seele voll hat, von solchen neuen ganz ungewohnt«« Scen«n, von Manzoni, uon Amor und Psyche, von Canova, von Plim'us, von Italien, von der schönen italienischen Spracl^e mid von dem ganzen neuen Geiste, der einen aus diesem Lande anweht, da macht es einen sonderbaren Eindruck, wenn man auf einmal einen deutschen Landömaun aus Pommern oder von den Berliner Linden trifft. „Liebe Agnes, ich habe den Kaffee in den Iarten bestellt. Kommst Du mcht bald?" rief mit unverkennbarem Brandenburger Accent ein junger Mann durch die Citronenlaube unseres hübschen Gasthofs von Vellaggio zu einem der Fenster hinauf. „Inter Theodor, ich komme jleich. Ich muß mir nur iwch ankleiden'" hörten wir es aus dem Fenster zurück antworten. Es war ein jungeS Ehcpaar aus der nordischen Sandwüsten-Metropole. Mir kam vis ü vis dieser classischen Natur unftr nordischer Dialekt besonders platt und komisch vor, und ich dachte unwillkürlich daran, daß im Paradiese viel Heiterkeit herrschen müßte, nenn wir auch dahin unsere verschiedenen deutschen Dialekt-Eigenthümlichkeiten mitnehmen müßten. — Die liebe Agnes kam indeß herunter, wir genossen den Kaffee gemeinschaftlich, fanden den Morgen und den See und unseren Garten noch einmal „reizend scheen" und „ungeheuer nüdlich", gingen dann wieder an Vord eines Dampfschiffes und setzten unsere Reise auf dem südwestlichen Arme des Comersees fort. Derselbe ist fast sieben Stunden lang. Er ucrlirrt sicl, g"nz in die Verge und ist auch an der Spitze bei Como ganz von Bergen ein- und abgeschlossen, so daß aus dieser Spitze 156 Das nordwestliche Ufer l>es Comersees. weder ein Gewässer hinausstießt, noch auch dort ein Fluß hereinkommt. Es macht dieser Arm also eine seltene Ausnahme in den Bergen. Denn gewöhnlich setzen die Thäler, deren Tiefen die Seen ausfüllen, sich noch weit in den Bergen fort. Der Comcrsee endigt aber hier in einen Lul ä« ßue, in ein ?inl8 mundi, wie die schweizer Mönche es in einigen ihrer Thäler nennen. Es ist, so zu sagen, ein verlorener Seearm, und er steht unter allen bedeutenden Seearmen in den schweizer, wie in den italienischen Alpen fast einzig da. Wer ein empfangliches Gemüth für Naturreize hat, der kommt bei einer Fahrt auf diesem zauberischen Stück Wasser nicht aus einem Rausche von Entzücken heraus. Man möchte die Natur verklagen, daß sie hier auf diesem einzigen Erdfleck so viele Wunder zusammenhaufte. Wie viele dumme und stumpfe Gegenden könnte man mit diesem Salze pfeffern und würzen. Ein Stückchen dieser Comerfee-Scenerie, einem norddeutschen Striche eingesetzt, würde sich ausnehmen, wie ein Sammetflecken, auf einen groben Leinwand-Mantel gesetzt, und würde dort ein Licht hineinwerfen, wie ein gothisches Glasfenstergemälde in einen kalkbestrichenen Kirchenraum. — Wie beim Lago di Garda, wie beim Lago Maggiore, wie beim Cerisio und Sebino ist das nordwestliche Ufer, das sich der südöstlichen Sonne eröffnet, das bevorzugte. Veim Genfer-, beim Neufchateller-See trifft dasselbe zu. Längs des westlichen Ufers liegen die meisten Villen und Dörfer, die anmuthigsten Anpflanzungen und Gärten. Die verschiedenen Uferstücke haben beim Volke verschiedene Namen, die gewöhnlich von einem Hauptorte hergenommen sind. So heißt z. V. das Ufer von Lenno bis Tremezzo: „!» 1>ome«2mg", ein anderes Uferstück „Ia rerlngoy" u. s. w. — Fast überall stehen die Verge mit ihren dicht belaubten Abhängen bis nahe ans Ufer heran. In der Nähe von Conio Die f. k. Militärmusik. 157 aber giebt es Durchblicke, die ganz entfernte Verge, sogar die riesige Gestalt des Monte Rosa, vom See aus zu erblicken gestatten. — Wer die Landkarte zur Hand nimmt und die Entfernung des Monte Rosa von diesem äußersten kleinen See-Ende bei Como betrachtet, der wird es kaum glaublich finden, daß dieser Verg sich darin spiegeln könne, und doch ist es so. Diese Riesenberge sind wie die Könige, deren Portrait einem selbst in den entlegensten Winkeln des Landes wieder begegnet. In dcm Haftn von Como findet der Reisende allerliebste bequcmgepolstcrte Gondeln in Bereitschaft, um ihn zu jedem Puncte des Sceufers zu führen. Gs giebt Omnibus-Gondeln und einsiedlerische Gondeln für separirte Benutzung. Jeder Privatmann hat seine Gondeln und Voote, dazu fahren nicht weniger als 400 Frachtschiffe von Como und Lecco aus auf dem See, seinen nicht unbedeutenden Verkehr besorgend, hiu und her. Es giebt in dcm besagten Oü <1o sao oder lims munlU, wo die Welle so verschlossen in dem Thale ruht wie eine Perle in der Muschel, daher immer Leben und Segel- und Ruder-Arbeit genug. Den Abend, als wir ankamen, war der ganze Wasserspiegel mit illnminirten Gondeln bedeckt. K. k. MiUtär-musik an Void eines größeren Schiffes ließ ihre Melodiken über das ruhige Gewässer hin munter erschallen, und alle kleinen Nachen umschwirrten sie und folgten ihr, wie Leuchtkäfer. Diese offiziell verordneten k. k. Militärmusiten in allen lombardischen Städten hatten gewiß auch eine politische Tendenz. Sie waren ein Theil jenes Sirenengesanges, mit dem das österreichische System die Völker einzuschlafern und zu amüsiren suchte. Damals dachte noch Niemand daran, daß die Italiener sich so ^stig dagegen die Ohren verstopfen würden. Ich nahm mir am anderen Morgen eine jener Gondeln und fuhr längs der Ufer des Sees, um seine Schönheiten näher 158 Italienische Villen und englische Cottages. zu betrachten, die Villa Raimondi, die Villen Varbo und Londonio, die prächtigen Villen d'C'ste und Pizzo auf der linken und dann die Villa der Prima Donna Cantatrice Giuditta Pasta und die Villa Tanzi auf der rechten Seite in Augenschein zu nehmen. Welcher Reichthum! welche Eleganz welche Fülle von Natur- und Kunstschönheilen! — Ich glaubte bisher, daß die englischen Cottages und Lordsseats das Nonplusultra von Landsitzen wären. Allein nach dem, was ich von solchen Dingen in der Lombardei zu Gesichte bekam, bin ich zweifelhaft geworden. Hier ist fast ebrn so viel Reichthum in den Wohnungen und noch mehr (5^>schmack, Größe und Grazie. — Ein denkender Zimmermeubleur würde, glaube ich, solche Sale wie man sie in der Villa Raimondi und dann in der Villa Pliniana sieht, vermuthlich die Palme geben. Diese letzte Villa war eigentlich das Ziel meiner Fahrt. Sie liegt etwa eine Meile von Como in» Schatten des rechten Felsenufers des Sees, nach Norden gewandt. Vci dem Dorfe -^ nach unseren Begriffen würden wir sagen Stadtchen — Torno fahrt man um eine kleine Halbinsel herum, die mit malerische« Gruppen italienischer Vauwer/e, Ruinen, schönen Pinien und Lypressen bedeckt ist und ein Vild in den See hinausschiebt, das seines Gleichen sucht. Und dann kommt man in einen ruhigen Busen des SeeS, der rund umher mit schroffen, aber bewaldeten Bergabhangen umgeben ist. „Nenn du in diesen Busen hineinfährst", so schreibt PliniuS an einen seiner Freunde, „und im innersten Winkel des Busens ans Land steigst, so findest du dort nicht sehr hoch über dem Spiegel des Wassers eine Höhle im Felsen, aus der eine höchst klare Quelle zu Tage komm:. Laß dich dort nieder, nimm ein Vuch zur Hand, bereite deine ländliche Mahlzeit, und während du ein wenig liesest, und wahrend der Zeit, die du brauchst, um dein Feuer zu schüre«, Villa Pliniana. 159 deine Suppe zu kochen und zu verzehren, kannst du, wenn du zu Zeiten auf die Quelle hinblickst, das wunderbare Schauspiel genießen, daß diese von einem munteren Vergstrome, wie sie es bei deiner Ankunft war, Anfangs zu einem kleinen tröpfelnden Wasferstreifen wird und nachher so spurlos verschwindet, daß die Höhle fast völlig wasstrleer und trocken erscheint. Ruhst du dich nach der Mahlzeit noch ein wenig aus, so kannst du dann auch sehen, wie in der Höhle, nachdem sie auf das Minimum von Naß gebracht war, wieder kleine klare Wasserströme zusammenrieseln, wie diese allmalig wieder anschwellen, und endlich das Gefäß sich wieder bis an den Rand füllt und rauschend seinen krystallenen Inhalt in den See entsendet. Du packst dann deine Sachen ein und ruderst, über die Ursachen dieses wunderbaren Naturschauspieles dir den Kopf zerbrechend, nnch Hause." Plinius erzählt seinem Freunde und uns, daß er diese Fahrt wirklich so ausgeführt habe. Ich hatte, was er vor 2000 Jahren auf seine Wachstafel kritzelte, in Händen und machte es wie er. Nur hat man jetzt nicht mehr nöthig, wie er damals, seine Grütze sich selber zu kochen- Denn man findet hier jetzt neben oder vielmehr über der Wunderquelle die schöne Villa ei-» nes gastfreundlichen Italieners, des Wissenschaft- und kunstlie-benden Principe Velgiojoso. Es ist hier der kühlste und schattigste Platz am ganzen See, und da die Italiener nichts eifriger suchen als den Schatten, so ist zu vermuthen, daß hier schon früher Ansiedelungen stattfanden. Doch meldet uns die Geschichte, daß die jetzige schöne Villa erst im !6ten Jahrhundert hier gebaut, spater aber mehrfach verändert wurde-Sie hat dem ersten Entdecker oder Veschreiber dieses Winkels zu Ehren den Namen Villa Pliniana angenommen und liegt an der Felsenwand, auf knappzugemeffener Terrasse postirt, dicht I6N Tie wunderbare Quelle. über der tiefsten Stelle des Come» sees. Man steigt anö rem Schiff auf steinerner Treppe zn ihr empor und geht auch auf Felsentreppen zu den verschiedenen Abtheilungen des Gartens hinauf, dessen Blumenbeete und romantische Baumgruppen auf verschiedenen Terrassen der Bergwand zerstreut und versteckt liegen. Dieser ganze See- und Vergwinkel soll den Namen I'Osrillo äi Mlin« haben, und gerade, daß hier in die Mitte des „Orrido" der Natur das „Dolce" kleiner Gärten und die Pracht einer italienischen Villa hineingcfügt wurde, macht diese Gegend so reizend. — Die obenbezeiclmete natürliche Quellen^ höhle liegt zur Seite der Area der Villa. Die Kunst hat ihre Einfassung noch vervollständigt, nnd man steigt auf einigen Stufen zu ihr hinab. Man lauft Gefahr, ganz in sie hinab-zutreten; denn das Wasser ist so vollkommen klar, das; es völlig unsichtbar geworden ist, und daß man sich erst durcl, die Handberührung oder durch Plätschern mit dem Stock vor, seinem Dasein überzeugen muß. Unter Gewölben stürzt sich das Nasser mitten zwischen den Gebaulichkeiten der Villa hindurch zum See hinab. — Die Quelle verschwindet an einem Tage dreimal und schwillt eben so oft wieder cm. Dies; war auch schon zu Plinius Zeiten der Fall, und sie hält ihre Zeit noch jetzt so pünctlich ein, daß daraus eine fast unbegreifliche Unver-anderlichkeit der inneren Beschaffenheit des Verges hervorgeht. Es scheint sich MeZ ganz genau gleich geblieben, kein Stein verschoben, kein Canal durchgebrochen, keiner verstopft oder verfallen zu sein. Pliniuö, sage ich, hat sich den Kopf darüber zerbrochen, was die Ursachen dieser Erscheinung sei" möchten, und stellt dreierlei Hypothesen auf, von denen er wol'i fühlen mochte, daß sie alle drei nicht völlig genügend waren, ^1 er seinem Freunde die Wahl laßt, die davon zu adoptiren, welä'«' ihm am beßten gefiele. — Auch dieß hat sich im Grunde noch Die alten nnb die neuen Naturforscher. IM nicht geändert. Denn so gewaltige Fortschritte auch die physikalischen Wissenschaften scit Plinius Zeilen gemacht zu haben glauben, so geben sie uns auch jetzt noch allerlei Hypothesen, von denen wir die adoptiren können, welche uns am beßten gefällt. Ich verweise deßwegen den Leser auf das Capitel „von den periodischen Quellen" bei Lyell oder Leonhard, das ihm sehr gefallen wird, so lange er es bloß in seinem Zimmer liest, beiden» ihm aber allerlei Zweifel aufstoßen werden, so bald er es mit in die Natur hinausbrmgt, ;. P. zur Villa Pliniana am Comer-see. — Der Principe von Vclgiojoso hat den Brief des Pli-nius unter den Gewölben seiner Villa abconterfeien lassen. Wie schön ware es gewesen, wenn er die Copie eines Capitels aus dem besagten Lyell ,md Leonhard hätte gegenübersetzen können, welche die genaue Lösimg dessen, was für Plinius rath-selhaft war, enthielte. . Allein, cm solcher Triumph über die alten Naturforscher wird unseren neueren nur selten zu Theil. Vor den meisten Naturwundern stehen wir noch wie Plinius, wie gewisse Thiere vor gewissen neuen Thoren, und bleiben auch m aller Ewigkeit so stehen.— Der Besitzer der Villa, der lange und sorgfältige Beobachtungen über seine Quelle angestellt und selbst ganze Winter in seiner Villa verlebt Hat, sagte mir, daß die ebbende und fluchende Bewegung der Quelle zu allen Jahreszeiten ganz gleichmäßig sei. Zuweilen wachse indeß die Quantität des ausgcspieenen Wassers um das Doppelte, ja um das Drei-oder Vierfache, ohne daß dabei jedoch die Perioden des An- oder Abschwellens sich änderten. Namentlich fände ein solches übermäßiges Anschwellen dann statt, Wenn auf der anderen Seite der Halbinsel jenseits der Berge stch Gewitter entladen hätten, wobei dann auch die Quelle sich trübe. ^ könne daher aus dem Zustande seiner Quelle alle« mal auf das, was jenseits seiner Verge in der Atmosphäre vor- 162 Anbau am Comerfte. ginge, schließen. — Diese drei- oder viermalige Vermehrung der Wasserquantitäten ohne damit verbundene Vergrößerung der Abflußperiode schien mir mit dem aus der Hebeltheorie abgeleiteten Versuche zur Erklärung der Periodicitat der Quelle am wenigsten vereinbar. — Ein Mal — vielleicht auch schon mehre Male, wurde die Quelle so groß. daß sie, aus ihrem Höhlenbecken mächtig hervortretend, die Area und Hofräume und auch die Zimmer der Villa überfluthete. — Wer übrigens die Freude genießen will, Zimmerräume zu sehen, denen keine Kritik etwaö anhaben kan», der beschaue sich einmal den Hauptsaal der Pliniana. U>,d wer wissen will, welche Wonne beim Ausruhen im kühlen Schatten zu finden ist, der ruhe einmal auf einer der blumigen Felsenterrassen , auf einer Gartenbank, unter Cypressen oder Pinien, an einem heißen Tage nach Mittag, wo die Felsen des „Orrido di Molina" in ihrem kühlen weitreichenden Schatten den ganzen Seewinkel wie in einen schützenden Mantel einhüllen, ein wenig von den Strapazen des Tages aus. Wer nun Licht und Schatten, Luft und überhaupt das Klima in Italien recht begreift, der begreift allmälig Alles, der versteht bald den ganzen Charakter und die Sitten der Italiener, ihr «loloo lui- nionl«, ihre helle» Sinne, ihre Kunst-liebe, ihre Häusereinrichtungen, ihre Bauart, kurz Alles, oder doch ein gut Theil davon. Vom <1«W« lui- menlu der Italiener muß man sich indeß einen zu übertriebenen Begriff machen. Hier in der Lombardei wenigstens sind die Leute so mdustriös und fleißig wie möglich. Ich habe in diesen schönen Dörfern am Comersee mehr Arbeit als Nichtsthun gefunden. Auch habe ich hier nichto von dem unerträglichen Schmuz gesehen, von dem wir uns oft in unseren schönen Träumen von dem schönen Italien stören zu lassen lieben. Die ganze Gegend ist höchst steißig cultivirt, und alle Dörfer sind so appetitlich Die 8ett« Oommuni. 1OH und nett, wie man eö nur in anßerhollandischen Dörfern verlangen knnn. — „Die italienischen Paläste sind zwar schon gebaut, Kinder", sagte uns einer unserer allen Lehrer der Geographie, „aber o Himmel, der abscheuliche Schmuz auf allen Treppen, den Niemand wegzufegen sich die Mühe nimmt, macht sie unerträglich. Selbst in den Zimmern Schmuz und Gestank! Freut Euch, daß Ihr Deutsche seid!" — Ich wollte, daß die deutschen Lehrer nicht mehr solche dicke Vorurtheile unter die Jugend ausstreuten. 12. Die cimbrischen und suevischen Bergbewohner an der Gränze des lombardisch-vcnetianischen Königreichs. Von Como reiste ich über Mailand und viele andere schöne Städte der reichen Lombardei längs der Alpen und kam dann nach Verlauf einer Reihe von schönen Tagen an einem wunderbar heißen Nachmittage des Monats Julius von Vassano aus in Valstagna an. (3s ist dieß das erste Dorf im Thale der Vrema am Fuße des berühmten kleinen germanischen Verg-gelandcs, welches die Italiener die „8otlo cummum", die Bewohner selbst die „Siebenberge" oder ,,ä« 8idon «umoun" nennen, „vopo il llelln o lwna i onlouli äm votti" (nach der ^age und zufolge den Calculationm der Doctoren), wie ein guter Valstagncr Bürger sich gegen mich hervorließ, sind dlefe Gebirgsleute Abkömmlinge der Cimbern, welche Marius bei Verona besiegte, und die sich von dem Schlachtselde in die Ge° 164 Hitze im Thal der Brenta. birge flüchteten. — Der Anblick der fünf oder sechs Gebirgs-manner, die ich anf dem Markte des besagten Dörfchens fand. schien von vorn herein diese viclbestritteue Sage einigermaßen zu unterstützen. Es waren starke, große, handfeste Leute, wie wir uns etwa die Großkinder jener Barbaren denken mögen. Sie schickten sich eben nn, mit ihren Maulthicren, auf denen sie Holzwaaren heruntergebracht und denen sie als Rückfracht türkischen Weizen aufgeladen hatten, in die Verge zurückzukehren, tkinen von ihnen, den Filippo Vasso, machte ich willig, mich selbst als eine vorcheilhaftere Ladling zu betrachten. Der Getreidesack wurde abgepackt, beim Müller deponirt, ein Sattel improvisirt, ich stieg auf, und bald bewegte sich unsere kleine Caravans in einem felsigen wilden Thale langsam bergan. Der Fluß dieses Thales war bis zum letzten Tropfen vertrocknet, wie dieß im Sommer den meisten kleinen Flüssen auf der Südseite der Alpenkette, die nicht aus Gletschern gespeist werden, zu geschehen Pflegt. Es war erstickend heiß. Die Steme und Felsen unter und neben uns glühten. Schaarm blutdürstiger Mücken und Fliegen warfen sich über uns und unsere Maulthiere her. Diese fochten mit Schweif und Hufen einen vergeblichen Kampf gegen ihre Peiniger und trafen hausiger meine Stiefeln und Waden als die Köpfe der giftigen Insecten. — Unö klebte die Zunge am Gaumen, und mir, der ich mich kurz zuvor am Ufer der kühlenden Adria einige Wochen lang im be-cfuemlichen Schiffchen geschaukelt, schien es, als sei ich unmittelbar aus den Gondeln in eine der Folterkammern der hohen Inquisition transportirt worden. Unsere anfangs lebhaft eröffneten Gespräche vertrockneten gar bald wie die Gewässer, und geduldig leidend und die Reift gemach weiterfördernd wurden wir alle mäuschenstill. Meine Leute mochten im innerste" Herzen die „Centesimi" und die „Lire Austnachc" (Zwanziger) Die Gränzünie zwischen Deutschen und Italienern. 165 erwägen, die sie bei dieser Gelegenheit zu Prositiren gedachten, und mein Geist seinerseits verlor sich in den Gefilden solcher historischer und geographischer Speculationen, wie sie das gerade vor unseren Augen liegende Ländchen hervorzurufen im Stande war. Kg ist ein bemerkenswerther Umstand, daß d«e hohe Alpenkette im Ganzen zwar die Gränze zwischen den deutschen und italienischen Völkerstämmen macht, daß aber doch diese Gränze nicht immer, wie man erwarten sollte, mit den höchsten Er-hebnngslinien der Gebirge zusammenfällt. Namentlich haben wir Kinder des germanischen Nordens, wie es scheint, die von der Natur uns vorgezeichneten Linien an mehren Puncten überschritten und unsere Hütten in verschiedenen südlichen Thälern aufgeschlagen, deren natürliche Beschaffenheit einen ganz italienischen Charakter tragt. So giebt es bekanntlich in mehren Thalern am Südabhcmge des Monte Rosa unicr Piemontesischer Herrschast deutsche Dörfer und Gemeinden*), deren Verfassung und Sprache ein bairischer Gelehrter vor einigen Jahren etwas näher schilderte. So giebt es auch jenseits des Gotthards, im Formazza-Thale, das die Deutschen das „Pommsst" „ennen, einige deutsche Dörfer, und ebenso auch im Canton Tessin**). In diesen mehr westlichen Alpengegenden sind es jedoch immer nur einige kleine hochgelegene weideureiche Thäler, die wir Deutschen besetzt haben. Im Osten dagegen sind wir weit tiefer in die Region der Granaten, der Feigenbäume und der Zucht des Seidenwurmes hinabgedrungen. — Das Etsch-thal ist uo» allen denjenigen Thälern, deren Gewässer dem *) Die Leute von Gressonay ,c. '*) Das Dorf VoSco zum Äeispicl. 166 Die Deutschen im Mschthale. adnatischen Meere zufließen, dasjenige, das am meisten deutsche Bewohner in sich aufgenommen hat. Die gewaltige Kette der rhätischen Alpen und Gletscher, die sich mitten durch Tyrol hinzieht und über welche der Brennerpasi führt, hat den Andrang der deutschen Stamme nicht aufgehalten, und die Italiener reichen ihnen daher hier nicht wie an so vielen anderen Stellen die Hand am Rande des ewigen Eises und Schnees, sondern mitten ini ebenen Thale der Gtsch, wo nichts eine natürliche Völkerscheide zu begründen scheint. — Zwischen Votzen und Trient liegt das letzte deutsche Dorf Salurn, nicht weit von dem ersten italienischen Drte St. Michel. Nordwärts von Salurn giebt es sowohl im Hauptthale der Gtsch als in allen Seitenthälern eme ununterbrochene Masse deutscher Grundbevölkerung, und südwärts von St. Michel ist der Hauptsache nach in Haupt- und Seitenthälern die Bevölkerung italienisch. Der Hauptsache nach; denn n.itten in dieser italienischen Bevölkerung zeigen sich theils noch mehr oder minder bedeutende Trümmer deutscher Stamme, theils wenigstens Spuren einer ehemals vorhandenen deutschen Bevölkerung, die bis zu den äußersten Ausläufern der Gebirge bis hart an die Gränze der italienischen Ebene geherrscht zu haben scheint. Es ist wichtig, diesen Umstand etwas naher ins Auge zu fassen. Das nächste Nebenthal der Etsch im Süden von St. Michel ist das Val Cembra oder Zimmerihal. Obwohl jetzt von Italienern bewohnt, hat es sowohl in seinem Namen als auch noch in manchen anderen Puncten (z. V. in der Benennung einiger Berge, der „Kreuzspitze," der „Hornspitze") deutsche Anklänge. Nach dem Zimmerthal kommt weiter im Süden das Val Fersina bei Trient. Auch in den oberen Verzweigungen dieses Thales giebt es Berge mit deutschem Namen (z. V. die „Värenspitze"). Und eines dieser Ncbenthäler, das Val Fiorozza, hat sogar noch jetzt mitten zwischen Italienern Deutsche Bergnamen in der Lombardei. 467 mehre von Deutschen bewohnte Dörfer. Deutsche Sitten und Gebräuche, viele deutsche Namen finden sich noch in den kleinen Nebenthälern der oberen Vrenta, so z. V. in dem durch semen Vilderhandel berühmten Val Tessino. Geht man von den Brentaquellen noch weiter nach Süden, so gelangt mcin wiederum in Gebirge, in denen es viel deutsche Namen und Bewohner giebt zunächst eine ganze Kette von deutschen Dörfern in dem oberen Theile des Wicothalcs und des kleinen Val Folgarin, unter ihnen die Gemeinden vonLavasone, Noselari, Laserna, Folgaria ic., dann am weitesten im Süden die sogenannte» dreizehn Communen bei Verona, zwischen beiden mehre deutsche Vergnamen (z. V. den Monte Spietz bei Necoaro), als Anzeichen eines hier vielleicht untergegangenen deutschen Stammes, und endlich am weitesten im Südwesten das berühmte deutsche Landchen der „Siben Kameun," zu dem ich jetzt emporreiste. Aus diesem Umstände, daß sich ein ganzes zwar vielfach unterbrochenes Netz deutscher Vergnamen und deutscher Gemeinden bis zu den Sette (5ommuni hinanzieht, haben manche Gelehrte die Vermuthung entwickelt, daß diese ganze Gegend einst von Deutschen bevölkert gewesen sei, und daß erst allmalig das Italienische, durch die Thaler eindringend, das deutsche Urele-ment hier besiegt und in seinen jetzigen Zustand von Zerrissenheit und Zertrümmerung versetzt habe. Einigermaßen wird diese Ansicht auch durch das, was noch jetzt hier vorgeht, unterstützt. Denn noch heutigen Tages sehen wir hier die annoch bestehenden kleinen Reste deutschen Lebens Mehr und mehr verschwinden und das Italienische selbst in der compacten Masse deutscher Bevölkerung, die sich im oberen Etfchchale in der Mitte Tyrols befindet, Fortschritte machen*). ') S. Staub's Tyrol- l 68 Vorrücken der Italiener in Tyrol. Es scheint, als wollten die Italiener alle dem Süden eröffneten Thäler für sich erobern und die Deutschen überall bis an den hohen Kamm der Alpen zurücktreiben. In den Sette Com-muni, in den dreizehn Communen von Verona, bei Lavarone, bei Bosco im Tessin, bei Gressonay in Piemont, überall ist die deutsche Sprache im Weichen begriffen. Sogar im Gtschthale weist man Dorfer auf, in denen die Bewohner seit Menschengedenken deutsch sprachen, während sie jetzt italienisch reden. Die Umstände sowohl als seine eigenen Talente geben dem Italiener in diesen südlichen Thälern ein merkliches Uebergewicht über den DeuIschen. Der Deutsche befindet sich hier, so zu sagen, auf italienischem Nrgebiete. Mit Klima, Cultur und allen Verhaltnissen des Landes ist der Italiener besser vertraut. Er ist der Pflanzer des hier so wichtigen Seidenbaumes, und wo auf deutschem Gebiete neue Maulbeerpstanz-ungen und neue Werkstatten zur Abspinnung und weiteren Ve-arbeitlmg der Seide angelegt werden sollen, da ruft man italienische Colonistcn ins Land. Von Italien her und mit Hülse der Italiener verbreitete sich die Cultur des türkischen Weizens, des Weines und anderer Product« in den nördlichen Thälern. Wo bei Meran oder Votzen Gärten und Treibhäuser für die Fruchtbäume, welche die Italiener unter dem Namen „^Fsumi" ) zusammenfassen, eingerichtet werden sollen, da zieht man Italiener zu Rathe. Man könnte eine Menge kleiner Industriezweige aufzählen, die sich im mittleren deutschen Tyrol in den Händen von Italienern befinden. Die nüchternen, sparsamen, fleißigen italienischen Arbeiter, die bei einer kleinen Schüssel voll Polenta (ohne Speck!) und bei einem schmalen Glase Wein (ohne Tabak und Tabaköpfeife!) den *) Citronen, Cedrat, Orangen ic. Dir Italiener in Südtyrol. 169 ganzen Tag emsig arbeiten, sind bei den tyroler Grundbesitzen, sehr beliebt. Wo ein uncullivirteS Feld urbar zu machen ist, da läßt man sie gern kommen. Dle Etsch selbst scheint den Italienern vorzuarbeiten. Wo dieser Fluß elnen deutschen Acker oder Bauernhof zerstört, was er in neuerer Zeit seit der alar-mirenden Entwaldung Südtyrolö mehr als je thut, da werden Italiener zu Hülfe gerufen. Dcr deutsche Vauerhof wird aufgehoben, und italienische Colonisten setzen sich an die Stelle. In Folge der unter den Italienern gewöhnlichen frühen Vc,-heirathungen, in Folge der Bestimmungen deö italienischen Erbrechts , das alle Kinder zu gleicht« Theilen erben läßt, ist auch die Bevölkerung der italienischen Thäler in größerem Anwachs begriffen als die der deutschen, in denen nur ein Sohn den Vauerhof erbt, und wo daher der Ehe und einer zahlreichen Nachkommenschaft manche Hindernisse in den Weg treten. Auch dieser Umstand mag die Angriffe der Italiener auf die Deutschen begünstigen, so wie endlich dasselbe ihre gefallige, leichte und schöne Sprache thut, die den deutschen Kindern weit leichter eingeht als umgekehrt die deutsche der italienischen Jugend. Es giebt nur eine Gegend in den Alpen, wo Bewohner der romanischen Halbinsel sich in bedeutender Menge über den Hauptkamm der Gebirge und Thäler, welche nordischen Einflüssen ausgesetzt sind, hinübergemacht haben, und wo sie daher den Deutschen ebenso weichen wie die südalplnischen Deutschen den Italienern. Dieß sind die Berge und Thaler Graubündcnö, wo schon seit uielen Jahrhunderten die uralte Sprache der romanischen Rhätier dem Deutschen unterliegt, und wo die Deutschen ihrerseits sich zu bestreben scheinen, ihr Panier auf dem höchsten First der Alpenkette aufzupflanzen. Der Hauptsache nach ist das Gebiet der Seite Comnunü ein Gebirgsplateau von etwa acht Stundsn Lange und Breite, "ohl. Alptniciscn. ,1. g 170 Die Siebenberge. das im Norden von einer bis zu 7000 Fuß aufsteigenden Bergkette, im Süden von einer etwas niedrigeren Gebirgsreihe begränzt wird und im Osten gegen das Thal der Vrenta, im Westen aber gegen das Thal von Astico mit ziemlich steilen Wänden und Klüften abfallt. In der Mitte oben ist ein sehr flaches, schönes Wiesenland, und hier liegt auch der Hauptort des Ganzen, der Flecken Assiago. In den Bergen nordwärts und südwärts sind die Hauptschätze des Landchens, tannenreichc Wälder, mit deren Producten die italienischen Städte versorgt werden. Man kann die „Siebenberge"*) in vielfacher Beziehung einem schweizerischen Canton vergleichen (am beßten vielleicht dem Canton Appenzell-Iimerrhoden, mit dem sie die größte Aehnlichkcit haben). Ihre Versassung war ehemals der schweizerischen Cantonalverfassung sehr ahnlich. Anfangs hatten sie ihre Volksversammlung, ihre Landesgemeiude. Dann wurden ihre laufenden Negierungsgeschäfte von einem Rath verwaltet, zu dem jede Gemeinde zwei Deputirte ernannte. An der Spitze des Landes stand ein Regent, eine Art Landammann. Wie die Leute in den schweizer Nrcantone» hatte bis in die letzten Zeiten jeder Siebeuberger das Recht, die Waffen zu tragen. Ihre, Miliz, an deren Spitze ein „Capitimo" stand, war dem Landsturm der Schweizer ahnlich. Auch ihre häuslichen Beschäftigungen gleichen noch jetzt denen der schweizer Urcantone. Viehzucht und Waldwirthschaft sind ihre vornehmsten Industriezweige. Den ^lrommnFFio äuloo äoi s«tto (!c»nmum" kauft mau neben dem Schweizer- und Parmesan-käse in Verona, in Padua und den anderen Städten der Lombardei. Die Kohlcn, die sie in ihren Wäldern brennen, die 5) Wir Deutschen sollten dlesen Namen w unserer Geographie acceptiren. Achnlichkeit mit Appenzell. 171 Amer und anderen Holzwaaren, die sie schnitze»» und auf ihren Maulthieren auf die Märkte von Bassano, Vicenza :c. herabführen, heimeln einen Deutschen nicht wenig an. Wie in den schweizer Urcantonen nnb wie freilich auch in anderen deutschen Ländern haben sie große gemeinsame Besitzungen. Fast alle ihre Wälder und ein großer Theil der Weiden sind „Mmend." Diese Mmenden sind keine italienische Sitte und kommen sonst in dem lombardisch-venetianischen Königreiche nur noch hie und dn ln den Bergen vor, vielleicht in Folge deutscher Gewohnheiten, gewiß nicht in Folge des römischen Gesetzes, das mehr als ein anderes den Particularbesitz begünstigt. Das Klima der Hochebene ist ganz dem von Appenzell oder einem anderen schweizerischen Urcantone ahnlich. Sie ist über 3000 Fuß erhaben und erzeugt daher außer Gras, Tannen, etwas Roggcli, Hafer und saueren Kirschen wenig mehr, obwohl ihr dieCitronengärim des Gardastes ganz nahe sind. Auch dieß endlich noch könnte man als eine höchst frappante Aehnlichkeit zwischen unserem Canton „Siebenberg.cn" «nd jenen Schweizercantonm betrachten, daß derselbe ebenso wie diese in einen inneren und einen äußeren District zerfällt. Nie die Schweizer, die Apvenzeller und Urner von ihren Ver-gen, in denen sich die Wurzel ihres Slaatswesens ausbildete, herabfliegen und sich ihre Nachbarn am Fuße der Verge unter-thamg machten und so ein Herrscher- und ein Unterthanenland gewannen, deren Unterschied sich noch jetzt in den verschiedenen Kantonen unter dem Namen „alter und neuer Cantonstheil" "der „äußere und innere Bezirke" zn erkennen gibt, so scheinen "uch diese cimbrischen Gebirgsleute um sich gegriffen und andere "lcht cimbrische Communen am Fuße des VergplateauS mit sich "ereinigt zu haben. Gine Reihe von Dörfern bis an das rechte llser der Vrenta und daS linke des Astico und bis in die Ebene 8* 172 Contrade unb Communi. gegen Süden herab gehören mit zu den Sette Communi, sei es, daß sie sich freiwillig diesen angeschlossen haben oder von ihnen erobert wurden. Von den eigentlichen sieben Communen werden diese Dörfer unter dem Namen „0«nti-n nannten Privilegien von Seiten der Ecaliger/ der Nzzelmo, der Visconti, und dann eine ganze Reihe ahnlicher Documente von einer Menge venetianischer Dogen bis auf den letzten herab. Aus diesen Docummten geht hervor, daß die sieben Communen allen jenen Herrscherfamilien, sowie sie der Reihe nach in Nord-italien emporkamen, sich hingaben. Am längsten blieben sie bei der Republik Venedig, mit der sie am Ende des vorigen Jahrhunderts fielen, um dann wie sieden österreichischen Erblanden angeschmolzen zu werden. Jene Fürsten und die hohe Republik hatten aber ein eben so großes Interesse, sich der Treue dieser Bergbewohner, die „in oonlinilnis^iomlmmne" wohnten und die sie als Wachter ihrer Gränzen gegen Deutschland benutzten, zu versichern, als umgekehrt diese Leute selbst gern ihres Schutzes genossen. Jene bestätigten daher willig die alten Freiheiten Gmbrisches Lehn. 175 der Cimbern, und es schelnt nicht, daß sie sie je mit Waffengewalt in das Verhältniß ihrer anderen Unterthanen gebracht haben. Noch jetzt behaupteten gegen mich diese Leute stolz, sie seien ,Mni eonhuisli", sie hätten sich immer nur „nlläeUi" genannt. Vei jeder anderen neu sich geltend Machenden Gewalt in Obcritalicn, bei jedem neu gewählten Dogen senden die Bergbewohner Voten in die lombardisch-venetianische Ebene hinunter, klagen dem jeweiligen Gebieter vor, daß sie erstaunlich arm seien, daß sie blos von Kohlenbrennen, Holzschnitzen und Käst« machen lebten, und daß sie unmöglich mehr Tribut als ihre 4W „t.irs Veronesi" und „üuocwo, viloUi" (12 Kälber), die sie von jeher in die Gbene abzuliefern gewohnt gewesen, bezahlen könnten, daß sie aber starke Leute seien, undurchdringliche Wälder und feste Verge besäßen, und daß sie diese ihre natürliche Festung zum Frommen Vicenza's, Verona's, Venedig's und aller anderen hinterliegenden Landschaften gern gegen die deutschen Kaiser, gegen die „Nnval-i," „^ustriuoln" und anderen „I'ollesolli" vertheidigen wollten, wenn man sie nur im Uebrigen bei ihren Sitten und Gewohnheiten gewähren lassen woNe. Die Ezze-lino, die Ssorza, die Lorcdan und Moncenigo setzen dann ein prächtiges Document auf, in welchem sie ihre „äilooti liaminL» , inoolao vt knbitntoros ßeptsm leri-nrum" oder, wie sie sie auch wohl etwas schmeichlerisch tiiuliren, das „?em!nm nodil« ße^tem Villgrum ^lonlanenrum" (das hochadelige Lehen der sieben Vergstadte) von allen „oneril»,,» »lumorum, Fgdelll,-rum ot 8»!is" befreien und alle ihre sonstigen „exemption«» et lr«nol,i8ia" bestätigen, „liuonmm", wie sie sehr häufig hin- 8ltse|en, „dictl homines habitant in locis montuosis et sterili-"Usi et quoniam solum vivebant et vivunt de mercantia ligna- "ünis" (weil die besagten Leute in sehr bergigen und unfrucht- 176 Cimbrische Privilegien. baren Gegenden wohnten und wohnen und bloß vom Holzhandel lebten und leben), oder auch „weil sie so oft von den Tedeschi beunruhigt werden und z. V. noch kürzlich 2286 Lire an den Kaiser zu bezahlen gezwungen wurden." Dabei machen sie aber immer zur Bedingung, daß die alten 400 Lire Veronest und die besagten zwölfKalber richtig an die herzogliche „^nmera" eingeliefert würden. An dem Maße dieses Tributs scheint nie etwas geändert worden zu sein; nur die zwölf Kalber wurden nachher in andere 100 Lire verwandelt. Dabei scheint es, daß das Attribut „Allerärmste" fast ein stehender Titel geworden ist. Der Phrase: ,,^l seä«Ii88imi o poverisgimi nastli «Mo Oommuni" bedienen sich die Dogen häufig. Die Leute selbst mochten sich — nicht ohne Grund — ganz gern so nennen hören. Ihre anderweitigen Privilegien neben der Abgabenfreiheit ersieht man aus einem noch jetzt aufbewahrten Statute. Darunter find die merkwürdigsten, daß sie sich ihre Obrigkeiten selbst Wahlen dürften, daß sie sogar vom Kirchcnzehntm ausgenommen sein sollten, daß ihre Miliz nicht zu auswärtigen Kriegen derRepublik verwendet werden, sondern nur zur Vertheidigung der Gränzfeste ihrer Verge dienen solle, daß die Cimberleut immer bewaffnet sein und auch so bewaffnet von ihren Vergen herabsteigen und in den anderen Städten derRepublik erscheinen dürften, daß, wenn ein cimbrisches Vergmadchen sich in der Gbene außerhalb der Commune verheiralhe, es ihren Landsleuten gestattet sein solle, eine Abgabe von ihrer Mitgift zu erheben. — In den Städten Verona, Virenza und Padua, in denen sie ihres Handels wegen häufig verkehrten, hatten sie, wie es scheint, eine eigene Art von Obrigkeit, Consul», roie wir sie nennen würden, damals „Nonzie" oder „Advocate genannt. Diese Nonzie erwählten sie selbst, der Doge aber bestätigte sie. Deutsche Grinzwächter gegen Deutschland. 177 Alles dieß bestand unter der conservative« Republik bei» „ahe unverändert, bis ein zweiter Attila*) diese Republik, zu deren Gründung der erste Attila die Veranlassung gegeben hatte, aus der Reihe der Staaten tilgte und die Bestimmungen des Friedens von Campoformio das große morsche vrnctianische Staatsschiff mit allen kleinen Barken, die es im Schlepptau hatte, und so auch mit jener kleinen Vergrepublit, in österrei' chische Hasen einlaufen ließen. „Unsere armen Bergbewohner", sagten die Dogen, „unsere Geblrgsvölker", sagen noch jetzt die italienischen Gelehrten, wenn sie diese deutschen Stamme erwähnen, die wir Deutschen unsererseits mit größerem Nechte die „Un serigen" nennen möchten. Es ist ei» merkwürdiger Umstand, daß diese un se re Leute von einem italienischen Gouvernement vorzugsweise als Granzwächter gegen Deutsche betrachtet und benützt, und daß sie eben, um dieß besser zu tonnen, bei ihrer alten deutschen Verfassung, ihren Freiheiten und Gewohnheiten gelassen wurden**). Nnd ebenso merkwürdig ist es, daß sie nun gerade jetzt unter einem deutschen Gouvernement in Folge veränderter Zeitumstande entdeutscht, italienifirt werden und ihrer alten deutsche» Privilegien beraubt sind. Von diesen ist ihnen, glaube ich, kein andcrer Nest mehr geblieben als cine Art Salzprivilegium. Sie bekommen das Salz von der Regierung zu billigeren Preisen und zahlen — vielleicht noch auf *) Napoleon sagte einmal selbst den Venetian««: „Ich werde für euch ein zweiter Attila sein." **) Ich will bet dleser Gelegenheit daran erinnern, baß di« Venetlaner auch an anderen Gränzen ihres Staates solche kleiuc Republiken von Bergvölkern unter ihre Protection und in ihren Dienst genommen hatten, so z. V. die Hirtenvölker v^n Poglissa und Mazarsla an der dalmatischen Gränze. - " 8" t?K Sprache der Cimberleute. ihre alten Titel der „leäoliszjmi" und „povorissimi" sich stützend — das Pfund statt mit 28, wie die anderen, bloß mit 20 Centesimi. Ihr Land heißt jetzt „der District von Assiago^, und ihre jungen Leu« cm-o nnono a voi!" Gben< so ist es der Artikel vor dem Pronomen: „die unsere Frau", „der unsere junge Herr/' „1a noslra Donna", „il nostro 8iss-nor". Die Partikel „ma" statt „aber" ist ebenfalls aus dem Italienischen aufgenommen, sowie viele andere Partikeln. In dem cimbrischen Katechismus finde ich eine Menge italienischer Worte adoptirt, allerdings aber dann auf deutsche Weise umgestaltet und behandelt. Ich hebe folgende Phrasen aus dem Katechismus hervor: „Golt ist an püardar spirito (un puro spirito)". ^De natura un de Devinitä von Gott." Cimbrisch unb italienisch. „De sünte originale un de sünte attuale". „üe fede un de speranza un c a r i t ä saint virtü, de komme von Gott me Herren". . ?rfr>t» „Gott hat geschickt den halgen Spiritö, zu illumi-naren de sain Kercha Culliolica". Ferner die Worte: „linßrulinren" (danken), „«onospi»-ron" (empfangen), „8srvi»rsn" (dienen), „nn 6utt näorai-sn" (Gott anbeten), „äs prossimon" (der Nächste), „saivwrnsioli" (sich erretten) :c., „met üen ^on»!««-«:«" (mit den Gedanken). Im gemeinen Leben mischen die Leute das Cimbrische noch viel mehr mit dem Italienischen. Auf die Frage: „wie steht's?" antworten sie meist i „vgdbon^!" (va beno). Nnd solcher alltäglichen Redensarten find zahllose. Das merkwürdigste aber war mir bei ihrem Gespräche der völlig italienische Ton und Accent, das italienische Metrum und der Schwung ihres Vor-trags. Auch wenn sie cimbrisch sprachen, glaubte ich doch im« mer in der Ferne italienisch zu hören. Ich will mich vorläufig auf diese einleitenden Bemerkungen beschranken, indem ich mir vorbehalte, im Reiseberichte selbst, zu dem ich nun wieder übergehe, noch einige sprachliche Beobachtungen nachzutragen. „^nimo! nnimo!" riefen meine Führer zu Zeiten unseren Maulthieren zu, und ich bemerkte, daß. während sie unter sich cimbrifch sprachen, die Unterredung mit ihren „Nullen" (so nannten sie die Maulthiere, ital. muli) italienisch geführt wurde. Vei den italienischen Fuhrleuten und Postillonen im italienischen Tyrol bemerkt man das Umgekehrte. Diese sprechen häusig deutsch mit ihren Pferden. Vielleicht ist dem Esel und Maulthiere, als mehr südlichen Thieren, die italienische, Das Plateau der Siebenberge. 189 dem Pferde, das man hier häusig aus Norden empfängt, die deutsche Sprache vorbehalten. Wohl wahr, dachte ich, „povei-iZsimi 8etto ^omnium", als wir nach dreistündigem Ritt Ronchi, das erste Dorf der Höhe, erreichten, und junge wie alte Bettler uns aus den Häusern entgegenkamen; eine Erscheinung, der man in der Ebene der Lombardei gänzlich entwöhnt wird. Besonders im verflossenen Theuerungsjahre ist es den Cimbern sehr schlimm gegangen. Sie haben mit den übrigen deutschen und germanischen Nationen aus einer Art Sympathie mehr gelitten als die Italiener, zum Theil in Folge des Umstandes, daß fie, wie asse Deutschen, große Verehrer und Cultivirer der Kartoffel sind. Hinter Ronchi, das noch am AbHange des Plateaus liegt, tritt man Plötzlich aus dem engen Einschnitte auf dieses selbst hinauf. Dieß ist ein gefalliger Wechsel. Man gewahrt große Wiesen, über die der Vlick weit und breit hinschweift. Die Kirchthürme mehrer oberen Communen sind darin zerstreut. In der Ferne zeigen sich die hohen Berggipfel, die das Plateau im Norden und Westen umzingeln. Es war Abend, und in den Feldern ertönten die Gesänge der Madchen und Burschen, welche von der Arbeit heimkehrten. Ich suchte vergebens mich zu vergewissern, ob ihnen diese Lieder die italienische Muse gelehrt habe, oder ob es noch jüngste Nachklänge aus uralter Zeit, aus Germania oder Danimarca seien. Kaum hat man die obere Flache erreicht, so bewegt sich das Leben leichter als in den felsigen Klüften. Es herrscht hier eine reine kühlige Luft; die Mückenplagc geht nicht bis zu diesen Höhen, und statt der Felsenpfade sindet man breite Fahr« straßm von Dorf zu Dorf, auf denen Wagen rollen. Eben jetzt wird auch an einer Chaussee gearbeitet, die von der venetia- 190 Galleo und Assiago. nischen Stadt Tiene zu dem Plateau hinaufführen soll. Diese Straße und die ihr vielleicht später noch nachfolgenden Fahrwege werden dann die „8ibt:n ltgmeun" noch enger mit,Mlo8«-Innä" — so nennen die Cimtern Italien oder Welschland — verflechten. Von Norden, von der Seite von „Iou88ot»ol»nä" her, wo alle Zugänge zu schroff sind, wird schwerlich je eine Straße heraufführen. Wir passirten die Commune Galleo, in der in Bezug auf Bauart und sonstige Ortsorganisation Alles vollkommen italienisch aussah. Alle Häuser waren zweistöckig und ganz wie in Italien aus Stein gebaut. Vei deni Reichthum an Tannen, holz hatte ich erwartet, die Hauser der Cimbcrn, wie die der anderen deutschen Alpenbewohner, aus Holz zu finden. Mich verwunderte es, daß auch ihre Felder nicht mit Holz eingefaßt waren, sondern mit solchen hohen platten Steinen, die unseren norddeutschen Leichensteinen ähnlich sehen und in vielen Verg-gegenden des nördlichen Italiens üblich sind. Auch in Slege —> oder, wenn ich italienisch reden soll, in Asstago — wurde ich ganz auf italienische Weise einquartiert, in einem Wirthshause, dessen Zimmer und Vorzimmer in ihren Dimensionen den Näumm einer Caserne glichen, wobei ich denn auch zugleich den Vortheil genoß, statt in einem kleinen, kurzen, schmalen, deutschen Prokrustesbette, auf einem weitläufigen italienischen Kissen- undMatratzengebilge von meinen Strapazen auszuruhen. Am anderen Tage besuchte ich die Schule, die Gerichtszim-mer, die Kirche und sonstigen Institute des Ortes. Auf dem Markte fand ich eine Menge Leute aus den übrigen Communen versammelt, und man zeichnete mir die von Fozza als die tüchtigsten und ächtesten Cimbern aus, erzählte mir auch von ihnen, daß sie in ihrem Dialekte noch eine Menge alter und eigenthüm- Gestalt der Cimberleut. 191 licher Ausdrücke hätten, die sonst in den übrigen Theilendes LandeS gänzlich verloren gegangen seien. Sie schienen mir durchweg große, schöngewachsene, kräftige Männer zu sein. Dieß war aber auch die einzige Beziehung, in welcher ihrAeuße-res an alte Germanen erinnerte. Die Cimberleut rühmen sich häusig, daß einer von ihnen es mit Zweien aus der „Ntmura" (lombardisch-venetianischen Ebene) aufnehmen könnte, und sie schreiben ihre größere Kraft ihrer einfacheren Lebensweise, ihrer Vergluft, ihrer Milch und sonstigen Hirtenkost zu, wahrend sie von den Ebenenbewohnern sagen, daß der schlechte Nein ihre Kraft ausmergle. Im Nebn-gen aber sahen meine Leute mehr den Italienern ahnlich. Ich sah keine Blondhaarigen; fast alle hatten schwarze Locken, uon denen eine lange nach der Weise anderer italienischer Bergvölker uon jedem Ohre herabhing. Auch von blauen Augen, die man neben dem hellen Haar gewöhnlich nach Tacitus Anleitung bei allen Sprößlingen unseres Stammes sucht, bemerkte ich nicht uiel. Sie hatten meist dunkle Auge» und oft — jedoch nicht immer — ganz die scharf ausgeprägte, ausdrucksvolle, italienische Gesichtsbildung. Ein Freund von mir hatte mich aufgefordert, auch auf die Schädelbildung derCimbem aufmerksam zu sein. Es schien mir, als fände ich auch in dieser Beziehung eine merkwürdige Mischung. Nei einigen glaubte ich ganz entschieden den deutschen Schädel mit vollem protuberanzenreichm Vorhaupt, mit etwas eingedrückter Nasenwurzel, mit nähergerückten Augenhöhlen und mit kürzerem Hinterhaupte zu erkenne», während wieder andere den so verschiedenen italienischen Schädel zur Schau trugen, mit! glatter, schmaler, nach oben zurücktretender Stirn, mit hoher Nasenwurzel und langem Hinterkopse. Diese Beobachtungen, die auf eine gemischte Race deuten 192 Italienifch-cimbrische Familie«. stehen im Einklänge nut dem Lichte, das man sich aus der Betrachtung der cimbrischen Familiennamen über den Zustand dieses interessanten Volksstammes verschaffen kann. Cs scheint, daß eine Menge, vielleicht die Mehrzahl der Einwohner rein italienische Familiennamen hat. Als sehr häufig vorkommende wurden mir die Vasso, die Veneditti, Sylvani, Rigoni bezeichnet. Sehr viele doppelte Familiennamen gibt es, die aus einem italienischen und deutschen Worte zusammengesetzt sind und daher auf eine Verschmelzung deutscher und italienischer Stamme deuten. 'Als Beispiele solcher componirter Familien wurden mir z. V. von den Rigoni folgende gegeben: Rigoni-Stern, Rigoni-Penner, Rigoiü-Schütt, Rigom-Graver, Rigoni-Zurlaub, Nigoni-Reutle. Natürlich kommen auch Familien vor, welche bloß rein germanische Namen tragen. Eine der interessantesten Bekanntschaften in Assiago machte ich an einem 60)ährigen Greise, der sich seit langer Zeit damit beschäftigt, den ganzen annoch e^ristirenden Sprachschatz seiner aussterbcnden Muttersprache zu sammeln. Dieser würdige Alte zeigte uns seine fleißige Arbeit, die er mit Beihülfe einiger seiner Landsleute zu Stande gebracht hatte. Er sagte uns, er erbäte sich nur noch zwei Jahre von dcr Vorsehung, weil er in dieser Zeit sein Werk glaube vollenden zu können. Alsdann sollte es einem aus den ,,8ili«n Xülneun" gebürtigen Professor in Pavia übergeben werden, der das ganze Buch re-digiren, revidiren und dem Druck übergeben werde. Ich will bei dieser Gelegenheit bemerken, daß nicht nur in Pavia, sondern auch in Padua, Venedig und anderen Orten sich bedeutende Gelehrte befinden, die aus ,,unseren" Cimbelcommunen ebenso hervorgegangen sind, wie viele der tüchtigen Soldaten und Corporale, die vor der kaiserlichen Burg in Wien auf die Wache ziehen und die Rekruten üben. Auf der Universität von Padua Ein cimbrlfch - deutscher Führer. Igg und in dem Semlnalium daselbst sollen sich jetzt 60 junge Mu-scnsöhne von diesen Vergen befinden. Es wird jetzt eine neue Kirche inAssiago gebaut, ein schöneS Wetk, besonders durch die Art und Weise, wie es zu Staude kommt, nämlich „um« pLi- oaritü", ganz und gar durch Liebe und milde Veitrage, welche von den Mitgliedern der sieben Gemeinden beigesteuert werden, sowohl von denen, welche noch selber in ihren vaterländischen Vcrgen wohnen, als von denen, welche in der Fremde weilen. Sie leisten die Woche über alle der Reihe nacb freiwillige und unentgeltliche Hand« und Spanndienste. Am Sonntag aber kommen sie alle zusammen und arbeiten gemeinschaftlich an ihrem Gotteshause. Gs that mir sehr leid, daß ich nicht einen Sonntag abwarten konnte, um ein solches frommes Schauspiel zu genießen. Allein ich wünschte auch noch den waldigen Theil ihres Landes zu durchstreifen, ihre anderen deutschen Nachbarn im Asticothal zu besuchen, und reiste daher am zweiten Morgen in Begleitung eines kräftigen Ckmbern in nordwestlicher Richtung weiter. Dieser Mann war ebenfalls in Wien gewesen. Gr sprach daher außer dem Cimbrischen und Italienischen noch ein gebrochenes Deutsch, was ich zum Nutzen spaterer Reisenden anführe, weil dieser Umstand sehr häufig ist und man immer auf der Hut fein muß, die eigentlichen cimbrischcn Ausdrücke der Leute von den sonstigen deutschen Worten, die sie aufgehascht haben, zu unterscheiden. Am leichtesten verkehrte es sich aber mit ihm im Italienischen. Er mischte das Italienische beständig mit dem Deutschen und machte von deutschen Phrasen zuweilen eine ganz wunderliche Anwendung. Als ich z. V. einmal nieste, sprach er zu mir: „Gott grüß!" indem er sich sehr höflich gegen mich verneigte. In allen Dörfern, durch welche wir kamen, fanden wir Italiener, welche Kirschen und andn'l's Kohl, Alpcnrciscn. !l. l> 194 Cimbrische Holzschnitzer. Obst aus der Ebene ausboten. Wahrend in Venedig und cnn Ufer der benachbarten Seen schon die Feigen reif waren, hatten hier die wenigen Kirschbaume nur erst grüne Früchte angesetzt , die zuweilen im August wirklich reif werden. Von anderen Laubbaumen finden sich, anßer den Buchen, nur hie und da einige alte Lindenbaume, die in den Dörfern stehen wie bei uns in „leussclwlnnü", jetzt aber schon sehr rar geworden sind. Aepfel- und Birnbäume gibt es nicht. Non hie aspicies pendentes vitihus uvas, Invida quas nobis ferre recusat humus, Noti fruges, toto queis victus gautleat anno, Non artes, miseris unde parentur opes. Vellera si desint ovium, si munera pressi Lactis, spes omnis, vitaque adeiuia cadit. So heißt es in einem lateinischen „LloßMon" über die Sette Commuin. Vor assen Häusern fanden wir Leute nnt Holzschnitzen beschäftigt und daneben große Haufen von Bündeln rundgebogcner Vreterchen, die bereits für den Maulthier-nansport in die Ebene bereitet waren und die dort unten zu Eimern und anderen Gefäßen zusammengesetzt werden sollten. Wahrend unserer ganzen Tagereise stießen wir auf zerstreute kleine Maulthiertrupps, die mit solchen Vreterchen oder mit Kohlen beladen waren. „Sehen Sie, meln Herr", rief mehrmals mein Führer aus, „hier ist Alles lessnnmi, cai-doni, l^ünann, c«sl)uiü! (Holz und Kohlen, Holz und Kohlen)". Es sind besonders die Märkte der Städte Vassano, Tiene, Vicenza und Padua, die diese Leute mit ihren Waaren besuchen. Für jene Drtc haben sie daher auch eigene cimbrische Namen. Padua nennen sie Pädebe, — Vicenza: Vizenz, — Vassano i Vas- Die sicbcn und blc dreizehn Communen. 195 sun, —' Trient: Trin, — Verona - Veru^), sie sprechen es gerade so aus wie die Schweizer ihr Bern, — Levico: Lövige,c. „In der Ebene ist das Holz aber jetzt so gut im Preise, und unsere Leute schlagen daher so viele Bäume um, daß unsere Verge in einiger Zeit ganz kahl sein werden, und nach fünfzig Jahren werden wir Cimbern alle verhungert oder in die Ebene zu den Italienern hinabgezogen sein", so klagten meine Begleiter. Die Cimbcrn haben anch schon Notiz genommen von ihren Brüdern, den anderen Cimbern in den sogenannten dreizehn Communen von Verona, die ich oben erwähnte und die unter dem benachbarten Volke, so viel ich bei einem Aufenthalt in dem Thale von Recoaro habe bemerken können, unter dem Name» der „Campesani"**) bekannt sind. Sie erzählten mir, vor langer Zeit sei hier einmal ein Geistlicher der Campcsani, Namens Andreas oder auf Cimbrisch abgekürzt „Drea", zum Bestich bei elnem Geistlichen in Slege gewesen, und als dieser beim Abschied ih»n die Hand gedrückt und in einem cimbrischen Reim zu ihm gesprochen: ,,I.uek i>«^ 60 Il^r^o, not clon ««Imoe n, inemäop Dl-el,," (schau nicht die swildenl Verge, nicht den lkaltenl Schnee an, mein theuerer Andreas! soilie^- sondern unsere warme Freundschaft und unseren guten Willen), da habe jener zu ihrer großen Verwunderung ebenfalls in einem ganz rein cimbrischen Reime geantwortet: ,,^s tolio", sondern „Kalberia", den Ochsen nicht „kov«", sondern „Ochse", den Stier nicht ,,lara", sondern „Stier". Das Schaf heißt auf Cimbrisch „Oewa". Sie haben auch das Wort „Schafe"; damit bezeichnen sie aber, wie sie mir wohl zwölfmal wiederholt haben, nie ein einzelnes Thier dieser Gattung, sondern die ganze Hcerde der Schafe, was die Italiener „Ileom-o" nennen. Cm „Schafer" heißt nicht der Wachter der Schafe, sondern „>I pnürano llellu pu«oro" (ver Eigenthümer). Der dienende Wächter aber (il äomo8Uec» <1e1 pu-lll-on«) wird „Hirt" genannt. Ich gedachte hier der Angelsach' sen in Großbritannien, die sich ebenfalls ihre alten deutschen Hirtenausdrücke nicht nehmen lassen wollten. Vielleicht sind solche 200 Suevische Abkömmlinge. termini teoimi« der Hirten, Kohlenbrenner, Holzhacker, und Waldleute die ältesten und in allen Dialekten unseres germanischen Sprachstammes am gleichmäßigsten conservirten Ausdrücke. Bei dem einsamen Bauerhofe und Wirthshause, „Termine" genannt, erreichten wir die Gränze der sieben Kameun und Tyrols, und wir betraten nun die Länder des deutschen Bundes. Die Bewohner von Termine verstanden noch cimbrisch. Drei Stunden von hier gelangt man nach Lavarone mitten in jenen kleinen deutschen Vergdistrict, auf den ich schon oben hindeutete, der stch zunächst an das Cimbcrland anschließt, der aber bereits der Grafschaft Tyrol angehört. Zu diesem District gehören etwa zehn Dorfschaften i Lavarone, Neselari, Laserna, Pede-monte, Folgaria, St. Sebastian, Serada )c., die in den oberen Theilen des Val Astico und des Val Folgaria und auf den benachbarten hohen Bergen liegen. Diese Leute haben eine ähnliche Sage von ihrem Ursprünge wie die von Assiago. „Wir stammen", sagten sie, „von den Sueven ab, die auch einmal von den Römern geschlagen wurden und, in diese Verge fliehend, stch, ihren Kindern und uns, ihren Nachkommen, den Besitz dieser Alpen erwarben". Sie sind ebenfalls wie die Cimbern rund umher von italienischen Anbauern umgeben. Ihre Sprache ist total von der der Cimbern verschieden und nähert sich so sehr den deutschen Dialekten der eigentlichen Tyroler, daß man sie als Eins init diesen annehmen und jeder Deutsche mit seinem Oberdeutsch ohne Schwierigkeit mit ihnen verkehren kaim. Sie haben auch einige deutsche Bücher unter sich, und diejenigen, welche noch ihren alten deutschen Dialekt gut verstehen, können diese Bücher ohne viel Schwierigkeit lesen. Die Cimbern dagegen haben gar keine deutschen Bücher und können sie auch nicht lesen. Auch ihr Dialekt ist indeß ebenso wie der cimbrische im raschen Untergänge begriffen, obwohl er in Folge ihres häusigen Untergang des suevischen Dialekts. 2l)1 Verkehres mit den deutschen Tyrolern noch etwas gestützt wild. Sie lernen in den Schulen bloß italienisch, und die italienische Sprache ist auch wie in Assiago die Sprache ihrer Kirche, ihrer Gerichte und ihrer sonstigen Verhandlungen. Es ist schon so weit gekommen, daß die ganze Jugend unter dreißig Jahren bloß noch italienisch versteht und die Sprache der Väter vollkommen vergessen hat. Der sueuifcheDialekt eMirt nur noch im Munde der Alten. Die Leute bedauern dieß selbst, weil ihnen, als Granzbewohnern zwischen Deutschland und Italien, der Vc-sitz beider Sprachen in ihrem Verkehr nach Süden und Norden nicht unbedeutende Vortheile brachte. Zwischen dem suevischen und cimbrischen Ländchen giebt es ein ziemlich wüstes Wald- und Wiese «terrain, das nur jetzt im Sommer von einigen Hirten aus beiden Strichen bevölkert wird, und das ich jetzt durchstreifte. Zuweilen begegnete uns in dieser Einsamkeit ein cimbrischer Kohlenbrenner, der mit seinem Maulthier von einem der unten gelegenen italienischen Thalorte heraufkam. Mein Führer unterhielt sich dann mit ihm in seinem barbarischen und unverstandlichen „linZ-unFFio", und beim Scheiden rief er ihm dann gewöhnlich zu: „6si«2e mer tn8t!'o non « un» pll^mg «ii torln clvl nuslru ^368«, olit! nan 8!» loäLLoll«" (in dem Kataster ist nicht eine Handbreit Erdreich unseres Landes, das nicht deutsch wäre), versicherte uns einer der italienisch redenden Beamten. In dem hochgelegenen Lavarone, wo ich zu Abend blieb, versammelten sich diele Leute um mich, die sich begierig zeigten, ihren dcuischen Landsmann über sich zu belehren. Leider kostete es mir viele Mühe, sie bei der deutschen Conversation festzuhalten. Sie verfielen immer wieder gleich in das italienische Gerede, das sellst manchem Alten bequemer zu sein schien. Auch producirten sie mir einen 84jährigen Greis, der mir, statt Schiller und Göthe zu relitiren, ganze Contos aus 204 Tasso und Anost unter den Sueven. Tasso vordeclamirte. Schiller und Göthe waren hier unbekannte Namen. Dagegen versicherten sie nur, sie wären sehr wohl mit den großen italienischen Dichtern bekannt und hätten auch die Werke dieser Dichter in ihren Häusern. Sie brachten mir, als ich den Ungläubigen spielte, ein halbes Dutzend uralter Tasso und zerlumpter Ariosto aus ihren Hausern hervor. Mein alter suevischer Alpenbewohner konnte mir fast jeden Gesang der KorusulLmmo libornw ebenso geläufig aufsagen, wie em venetianischer Gondolier, und er behauptete, er kenne noch mehr Leute hier oben in den Bergen, die dasselbe vermöchten. Es ist viel von derVerehrung gesprochen worden, welche die vene-tianische und d'e neapolitanische Hafenbevölkerung für Tasso und Ariosto haben, aber der Umstand, daß selbst in den entlegenen Thälern dieser italienischen Alpen jene angebeteten Namen eine so ausgebreitete und allgemeine Verehrung genießen, ist, daucht mich, im Stande, ein neues Licht aus die eigenthümlichen literarischen Zustande Italiens zu werfen. Welche entlegene Sennhüttenbewohner deutscher Zunge citiren Schiller und Göthe? Welche englische Matrosen oder Highländer den Shakespeare und Vyron? Trotz ihrer Vorliebe für die italienischen Dichter, deren schöne Reime sie alle mit Andacht anhörten, bedauerten sie doch den schleunigen Untergang ihres alten deutschen Dialekts. „Ni pnre", ließ sich einer von ihnen vernehmen, „eli« il nosli'u llllßunASlo « I>iü deilo, olio il voro i'ßäeLolio" (nur scheint sogar, daß unsere Sprache noch schöner ist als das eigentliche Deutsche). Sie erinnerten sich, von ihren Müttern gehört zu haben, daß, als diese jung gewesen, noch in allen Dörfern hier nicht nur deutsch gepredigt, sondern auch deutsch gebeichtet worden sei. Jetzt wußten sie mir nicht mehr mit Vestimmthsit zu sagen, ob dieß noch in einem der Dörfer der Fall sei. Das Val Centa. 205 Die Verge der Cimbern und Sueven setzen nach Norden hm mit einer schrofferen Gebirgswand ab. An dieser stieg ich am folgenden Tage auf einem rauhen Gebirgspfade in das entsetzlich wilde Val Centa hinab. „^orpa cli Oln-islo!" rief meinCimber, der zum ersten Male dieses Thales ansichtig wurde, aus. „cUo liclla «i-ioi«! l^«spo 6i L»eca! (Bacchus bis an die deutsche Gränze!) Fiesta o un luo^o pi-o^rio orrodile!" — Wir sahen ein unbeschreiblich wildes Labyrinth von gigantischen Felsenblöckcn, schroffen Wanden und Zerklüftungen unter uns; links, ganz in der Tiefe, blinkerte ein grüner See aus diesen kahlen Klüften herauf. Er erschien mir, wie eine schöne Wassernymphe, die ein Zauberer auf ewig in dieß wilde Gefängniß gesperrt. Dieser kleine See gibt den längsten Zufluß der Vrenta von sich und sollte also als die eigentliche Wiege und Quelle dieses Flusses betrachtet werden. Ich grüßte von hier aus im Stillen die Lagunen von Venedig, wo ich vor einiger Zeit die hier geborenen frischen Gewässer im Meere und zwischen dem Lagttnenschlamme hatte verscheiden sehen. — Das Val Centa ist nach Norden gerichtet und daher nicht wie die südlichen Thaler, welche ich an den Tagen vorher durchwandert hatte, ausgetrocknet. Es wurde von einer ziemlich kraftig pulsi-renden Wasserader belebt. Als wir an» Abend in den oberen Theil des Val Sugana hinabkamen, wehten unö heiße Lüfte entgegen, die von mancherlei italienischen Gerüchen gewürzt, hie und da aber auch von den fatalen Ausdünstungen, welche in der Umgebung der Seidenspinnereien lauern und die großentheils von den Cadavern der Seidenwürmer herrühren, verdorben waren. In allen Büschen glimmten die reizenden Funken der „Lcuchterle." Dieß war das letzte cimbnsche Wort (es bedeutet so viel als Leuchtkäfer), das ich vernahm. Alles war nun wieder ganz italienisch, und ich blickte zu den vom Abendfchim- 206 Die Quellen der Vrenta. mer schwach erhellten Bergwänden empor, auf und hinter denen meine Lavaroner und Sleger, Cimbern und Sueven faßen, und bcd.nierte zu bemerken, wie schwer es sei, ihnen und ihrer mit dem Tode ringenden Sprache von dieser Seite her Hülfe zu senden. Ich nahm, mich der Adige zuwendend, von ihnen Abschied, und wir Deutschen müssen uns auch alle entschließen, von ihnen, die ihrer alten Mutter unabwendlich einfremdet werden, und die sich einem anderen Vaterlande hingeben, in einem anderen Sinne Abschied zu nehmen. 13. Trient. Das Val Sugana oder das obere Thal der Vreuia ist wieder reich an Naturschönheiteu und berühmt durch sie. Allein mit diesen Alpenthalern geht es einem, wie in einem Ball-saalc, wo alle Schönheiten der Stadt versammelt sind. Man wiro es da fast überdrüssig, an jede Bella Donna ein eigenes Sonett zu richten. Als eigentlicher Ursprung der Brenta werrcn zwei kleine Seen betrachtet, dle am äußersten Ende des Thales liegen, und aus denen eine einigermaßen bedeutende Wasserader für die Vrenta hervorgeht. Es eristirt hier in der Nahe der Vrenta - Quellenseen eine Art Hochebene oder Massenerhebnng des Terrains, was man darans abnehmen lann, daß man ganz allmalig — ich meine, ohne daß ma» nöthig hatte, über trennende Gebirgsmauern zu klet-tern, — zu denjenigen Quellen übergeht, welche in die Adige stießen. Erst wenn man sich dem Thale der Adige nähert, fallen Das Val Sugana. 2li7 die Wände des Plateaus rasch zu dem Boden ab, in dessen Mitte Trient liegt. Es findet hier also ganz etwas Aehnliches statt, wie bei den O-uellensem der Adige und bei den Quellen-seen des Inn. Auch dort geht man ganz allmalig und fast auf ebenem Boven aus einem Flußgebiet ins andere hinüber. Die Quellen der Brenta beherrscht das Schloß Tergine, das mit dem dazu gehörigen Dorfe nicht weit davon entfernt liegt und jetzt dem Bischöfe von Trient gehört. — Ich traf hier eine deutsche Schaffnerin, so wie einen deutschen Diener. Auch das sreundliche Wirthshaus in Tergine wurde von Deutschen gehalten, die mir mit so dienstfertigen Redensarten: ,,was schaffen's?" und „womit kann i dienen?" so freundlich entgegenkamen, wie es mir lange nicht geschehen war. — Auch unser Postillon, obwohl ein Italiener, bediente sich deutscher Worte bei seinen Pferden, denen er „Ehi Fuchs", oder „Vorwärts", oder „Zurugge" zutommandirte. — Das ist hier in dem italienischen Tyrol ein eigenes Gemisch von Italienischem und Deutschem. — Das Italienische giebt zwar den herrschenden Grundton und die Grundfarbe, aber es hat offenbar sehr bedeu» tenden deutschen Anstrich. Trotz der italienischen Sprache erinnern einen die Oberfläche des Landes und die Physiognomie der Leute schon deutlich an Tyrol. Gs ist hier jedenfalls ganz anders als in dem Lombardo-Veneto, und das, was anders ist, rührt von den Deutschen her. — Zuweilen scheint hier so viel deutscher Veischmack dem Italienischen beigemischt zu sein, wie in einigen Gegenden Böhmens dem Tschechischen. Selbst im Val Sugana giebt es neben den deutschen Wirthen und den deutsch radeblechenden Postillonen auch deutsche Adels-familirn, welche seit alten Zeiten dort Landgüter und Schlösser besitzen, z V. die Grafen Wollenstem. So giebt es auch auf 208 Die Fahrten zu Thal. veränderen Seite der Gtsch, im italienischen Val di Non, eben solche deutsche Besitzer, z. V. die Grafen Thun. Von vielen deutschen Familien dieses Landstriches ist es zweifelhaft, ob man sie den Italienern oder Deutschen zurechnen soll. Bei einigen ist nur noch der Name deutsch. Sonst erklärten sich weit mehr für die deutsche Seite, seit einiger Zeit aber haben viele, die ehemals sich für Deutsche hielten, sich für Italiener erklärt, so sagte man mir damals. Das Herabrollen von dem Vrenta-Quellen-Plateau uon Tergine über Ciuezzano nach Tricnt ist prachtvoll. Man sieht von oben das schöne Etschthal nach Süden und Norden sich ausdehnen und schwebt, auf Zickzackwegen zwischen Dörfern und Gärten bequem dahinrollend, wie in einem Luftballon darin hinab. — Diese raschen Fahrten an hohen Vergabhangen hinunter gehören zu den eigenthümlichen Genüssen der Alpen. Neil man schnell abwärts kommt, so verändert sich die Scenerie in jedem Momente. In wenigen Stunden gelangt man aus der kalten Höhe in das warme Thal. Wagen und Pferde laufen von selbst. Man verliert alle Gedanken an Mühe und Anstrengung. Dieß Alles ist bei dem langsamen Erklimmen der Verghöhen nicht der Fall. Dazu haben die liefen Thäler mit ihren munteren Städten und silbernen Flußstreifen, von oben herab gesehen, eben so viel zauberische Attraction auf die Seele, wie die kühlen Vergspitzen, von dem dumpfen Thale aus erblickt. Mit ausgestreckten verlangenden Armen läuft man in die Thäler hinab und sieht dann aus den engen Gassen ihrer Städte wieder zu den Bergen empor, indem man alsbald wieder Plane schmiedet für die Ersteigung des Gebirges auf der anderen Seite des Thales, ganz wie der Horazische Schiffer, der kaum nach seiner glücklichen Ankunft im ersehnten Hafen wieder auf neue Men fahl ten denkt. Der Brenner als Gränze. 209 Trient hat die gewöhnliche prachtvolle Umgebung aller in den Alpenthälern versteckten Städte. W ist die äußerste von Italienern bewohnte Stadt im Gtschthale. Einige Meilen oberhalb Trient wird die Grundbevölkerung des Landes ganz deutsch. Neumarkt ist der äußerste von den Deutschen nach Süden vorgeschobene Posten. Schon damals wurde, vielleicht im Vorgefühl der Dinge, die bald kommm würden, im ganzen südlichen Tyrol die Frage zwischen deutscher und italienischer Nationalität sehr eifrig abgehandelt. Schon damals äußerten die Italiener die Idee, daß die Gränze zwischen den Deutschen und Italienern auf dem Brenner gesucht werden müsse. Vis dorthin, sagten sie, auf der Höhe des, Tyrol quer durchschneidenden Alpenrückens, an der Gränzscheive der nördlichen und südlichen Flüsse, werden wir vordringen, sei es im Kriege mit Gewalt, sei es im Frieden durch aNmälige Verschmelzung und Metamorphosirung der Deutschen. — Es ist erstaunlich, wie weit uns Menschen gleich die Phantasie mit unseren Erwartungen und Hoffnungen führt, sobald wir nur die geringste Aussicht auf Erfüllung unserer Wünsche bekommen. — Die Italiener machten es damals ebenso, wie jetzt die Polen, die schon nach den deutschen Ostfteprovinzen und den Schwarzen-Meeres-Steppen greifen wollen, da sie noch nicht einmal den Grundstein ihres Hauses fest hingelegt haben. — Im Grunde gehen die heutigen Italiener in ihren Ansprüchen noch weiter als die Römer zur Zeit des Augustus. Denn bis dahin fiel es keinem Italicner ein, diese oberen Gtschgegenden zu Italien zu rechnen. Erst Drusus trieb die barbarischen Vrcunier bis zum Brenner zurück. Und selbst dann, als sie die Bewohner dieser Gegenden besiegt hatten, schlugen die Römer sie doch noch nicht zu Italien, sondern machten die eigenthümlichen Provinzen Noricum und Nhätien daraus. Es ist dieß Alles also uraltes nichtitalienisches Land, dieß 210 Deutsche und Italiener in Tyrol. Land, aus dem die Hofer hervorgingen und die ,, äevotn »norli pvctorn lilinlns", welche Horaz besingt und dir Franzosen zu respectiren Gelegenheit bekamen. Damals sagten mir viele Deutsche, daß seit ?io Nonu auch in dem südlichen Tyrol ein entschieden italienischer Wind wehe, und daß man jetzt au» beßten thäte, diesem Winde ein wenig nachzugeben und sich der italienische» Bewegung anzuschließen. Alle diejenigen Zwitterwesen, die nicht recht wüßten, ob sie ihrer Abstammung gemäß Deutsche oder Italiener seien, hatten in neuerer Zeit weit mehr italienische Farbe angenommen. Damals vertraute man mir dieß insgeheim. Jetzt darf ich es ja wohl, ohne zu verletzen, laut sagen, etwa mit demselben Rechte, wie jener Diplomat, der nach dem Tode eines Fürsten sagte: „Ich habe bisher über diesen traurigen Fall geschwiegen. Aber da jetzt Seine Durchlaucht todt, so darf ich wohl sagen, daß Hochdieselben sehr schwer krank waren." Es ist wohl zu vermuthen, daß durch Gewalt der Waffen es den Italienern nie gelingen wird, uns alle die schönen im Süden des Brenner liegenden deutschen Thäler zu entreißen. Allein im Frieden haben wir sie fast mehr zu fürchten. Die deutschen Tyroler, so sagte man mir hier in Trient, wo man sich natürlich auf diese Angelegenheit versteht, sind Ouertöpfe, sie sind eigensinnig, lassen sich nicht bedeuten. Sie bleiben immer beim Alten und gehen nicht leicht auf neue Ideen em. Dieser Umstand stellt sie überall in Nachtheil gegen den Italiener, der sich eben so leicht fügt, schmiegt und einschmeichelt, wie seine Sprache. Wie ihr Charakter und persönliches Wesen, so sind auch ihre geselligen Verhältnisse schwerfalliger und unfügsamer. Die deutschen Tyroler haben ihre großen Vaunhöfe, die immer in der Familie bleiben. Der italienische Vauer dagegen hat gewöhnlich gar kein eigenes Vesitzthum. Gr ist bloß Pächter oder Tagelöhner. Die Classe der Tagelöhner ist daher Gioberti und sein „?rimkto morale « oivilo. - 211 im italienischen Tyrol sehr groß. Weil sie nichts zu vererben haben, so sind sie industriostr, speculative! und auch auswanderungslustiger. Sie bilden gleichsam die Avantgarde und die leichten Truppen der Italiener, die man in gar mancherlei Beschäftigungen in allen deutschen Thälern des Etschstußsystems findet. — Es ist bemerkenswerth, daß dieses Etschstußsystem das einzige ist, in welches sich Deutsche und Italiener auf die besagte Weise theilen, denn alle anderen Flüsse Italiens sind sonst bis zu ihrer Quelle, wie bis zur Mündung von eingeborenen Italienern selber besetzt. — Sollten einmal die Staatengranzen in Europa nach den Vevölkenmgsgranzen bestimmt werden, so würde die Auseinanderreißung des italienischen und deutschen Tyrols ebenso viel Schwierigkeiten machen, wie die Sonderung des dänische» und deutschen Schleswig oder des slavischen und deutschen Steier-mark. Eigentlich stehen die italienischen Tyroler zwischen zwei Feuern. Ihre nationalen Sympathies, ihre Begeisterung für kia Aano und Ia b«II» Itnlia treibt sie nach dem Suden. Aber ihre materiellen Interessen verknüpfen sie sehr stark mit den übrigen Thalern des Quellengebiets der Etsch und überhaupt mit Deutschland. Denn für alle ihre Producte finden sie dort weit mehr Abnehmer und wtit weniger Comurrrntcn als im Süden. — Für Gioberti und seinen „?i-im»t<, mornle o oivilo", ein dickes Buch, in welchem er beweist, daß die Italiener von ieher in Kunst, Religion, Wissenschaft und Größe die leitende Macht Europa's waren, und daß ihnen dieser ,,?rim«t<)" auch jetzt wieder zu Theil werden müsse, — schwärmte man hier in Süd-tyrol eben so wie in der Lombardei, und für kio ^onu wurden im Theater mit demselben Enthusiasmus Hymnen gesungen, wie in Mailand, Turin und Florenz. — Die Schauspieler erschienen dabei in Feierkleidern, mußten ihre Hymne zweimal vortragen und wurden nachher mit Blumen beworfe». Am Schluß 212 Italienisches Theater in Trient. der Hymne wurde noch ein anderes Gedicht auf?io I^ono in zahllosen Eremplaren von den Galerieen heruntergeworfen. Die Blätter flogen übrrall in die Logen und wurden uon den eifrigen Patrioten aus der Luft gehascht. Auch hier in Trient herrscht schon die italienische Sitte, daß man die Fremden ins Theater zu sich einladet. „ Ich hoffe, Sie heute Abend in meiner Loge zu sehen ", spricht der Mann, dem man empfohlen ist und dem man seineVisiteabstattet. — Auch ist dasTheater hier, wie im übrigen Italien der Ort, wo man Bekanntschaften macht. Dort führt man den Fremden von Loge zu Loge herum und stellt ihn den Freunden vor. — Diese italienische Sitte ist vermuthlich sehr alt und stammt wahrscheinlich schon aus den Zeiten der Alten, die bekanntlich sich halbe Tage lang in den Theatern aufhielten und dort wie die Kaufleute auf ihren Börsen Besuche annahmen. 14. Um Gardasee. Ich hatte früher einmal das ganze Elschthal und seine meisten Nebenthäler bis zu den Quellen des Flusses zu Fuß bereist. Dießmal ging ich bloß quer durch das Thal, um einen kleinen Winkel Tyrols aufzusuchen, den ich damals nicht erreichen konnte, nämlich Riva an der nördlichsten Spitze des Gardasees, und dann diesen See selber. Gs führen dahin aus dem Etsch-thale zwei Hauptwege. Der eine geht von Roveredo, der andere von Trient aus quer durch die Verge. Jener ist eine uralte, schon von den Zeiten der Venetianer her bekannte Heerstraße. Dieser dagegen ward erst in der neueren Zeit fahrbar gemacht. Wir erhoben uns von Trient aus an den Gtschthalbergen auf Natur und Cultur. 213 ähnliche Weife in die Höhe, wie wir von den Quellen der Brenta aus ins Thal hinabgestiegen waren, und erreichten bald einen kleinen See zwischen den Bergen, der seine Gewässer dem Garda zuschickte und ganz ähnlich den Seen der Vrenta war. — Nur war er noch kleiner und lag vereinsamter da in der ungeheueren, wilden und großartigen Gebirgsnatur. In der Mitte des Sees erblickt man einen alten Thurm, die Ueberreste einer ehemaligen Vurg, die noch jetzt den Namen Doblino tragen. Diese Passage durch die Berge zum Gardasee hin gehört zu den malerischesten Passagen, die 'man machen kann. Die Berge zu beiden Seiten sind erstaunlich hoch, sehr vereinsamt und wild. Wie die meisten Gipfel der italienischen Alpen sind sie kahl und baumlos. Die anmuthigeren Nawrreize concentri-ren sich in den italienischen 'Alpen mehr in der Tiefe der Thäler. Ich habe einmal, ich weiß nicht mehr in welchem Buche, die Idee ausgeführt gesehen, daß die Cultur in der Lange der Zeit nicht den Gang der Natur fördere, sondern vielmehr ihn hemme und störe, die Natur in ihrer schöpferischen Kraft lähmc, und daß mcm daher den Weg, den die Cultur des Menschengeschlechtes lind namentlich der Ackerball über die Erdoberfläche verfolgt habe, noch durch die Verwüstungen und Ausmergelungen, die sie hinter sich gelassen, nachweisen könne. So sei die Natur in den alten rändern Persien, Syrien, Aegyplen, dann Kleinasien ganz gelahmt und ansgcstorben, darauf in Griechenland, und in Italien auch schon in höherem Grade als in Deutschland, wo die Menschen noch nicht so lange wie in Italien mit Nußbauten an der Verbesserung der Ströme, mit Waldüer-ordnungen an der Verbesserung der Wälder arbeiten. — Bei dem Anblick der italienischen Alpen und bei ihrer Vergleichung mit den deutschen möchte man dieser Idee beipflichten. Die erst feit verhaltnißmäßig kurzer Zeit cultivirten deut- 214 Verheerungen des Etschstusses. schen Alpen haben etwas viel Jugendlicheres, Frischeres, gleichsam Jungfräulicheres. Die italienischen sehen abgenutzter und ausgemergelter aus. Auch darin mag eine Ursache davon gefunden werden, daß die italienische Bevölkerung so gern in den Alpenthälern weiter um sich greifen will. — Daß der Mensch nicht nur den Voden ausmergelt, sondern auch die Natur anderswo selbst noch durch seine Verbesserungen und Anordnungen siön und in Unordnung bringt, ist auch hier in diesen Gegenden die allgemeine Behauptung. Der Gtschfluß ist vielleicht von allen Alvenstüssen derjenige, an dem am meisten gebaut, gegraben und gestickt wurde, und doch ist er derjenige, von dessen fortschreitenden und um sich greifenden Verwüstungen ich immer die meisten Klagen vernahm. Gr erhöht bestandig sein Vett, feit 50 Jahren hat er es stellenweise 4 bis 6 Fuß höher gebracht. Er bricht alle Jahre auö und verwüstet ganze Landstriche. Alle Regulirungen, Damme und Mauern, die man vorgeschlagen hat, wirken bei ihm so wenig, wie Medicin bei einem unheilbaren Kranke», und man scheint an einen fortschreitenden Rückzug der Cultur aus der Nachbarschaft der Etsch zu glauben. Auch alle Nebenflüsse der Eisch und alle Bache sollen bestandig an Spielraum gewinnen. — Ebensowenig wie dem Umsichgreifen der Flüsse, kaun man, wie es scheint, hier dem Verschwinden und Zusammenschmelzen der Walder steuern. Wenigstens ist das Geschrei und die Furcht darüber allgemein im Lande. Die österreichische Negierung hat schon drei Mal in diesem Jahrhundert die Oaldgesetzgebung geändert; statt aber die Holzverschwendung zu hemmen, haben alle diese Bestimmungen gerade den umgekehrten Erfolg gehabt. Da die Regierung auf keine Weise und mit keinerlei Vorschriften das Rechte treffen und die Leute zu einer vernünftigen und sparsamen Wirthschaft bringen kann, so soll dieselbe, wie verlautete, nun die Ab- Le Maroccbie. 215 sicht haben, bei neuen Waldverordnungen die Polizei und Verwaltung aller Walder selbst in die Hand zu nehmen und durch Staatsbeamte besorgen zu lassen. — Dieß Gerücht aber hat die Waldzerstörung nun erst recht auf den höchsten Gipfcl gebracht. Denn nun hacken die Gemeinden in ihren Wäldern weg, was sie können, und verkaufen das Holz zu Spottpreisen, weil sie die Einführung einer Verwaltung ihrer Oemeindewalver durch Staatsbeamte eben so fürchten wie eine völlige Wegnahme ihres ganzen Waldeigenthums und daher zuvor noch so viel wie möglich davon Profitiren wollen. Um die Wälder also nicht völlig verfallen zu lassen, musi daher die Negierung die Vorbereitungen zu einer solchen Refonnirung der Waldverwaltung wieder einstellen und den ganzen Plan aufgeben. Vei dem besagten kleinen See von Doblino gelangt man in das Thal der Sarca, eines Flusses, der in den Gardasee fließt. Dieß Thal ist wieder wundervoll wild und wenig bewohnt. An einer Stelle des Thales führt der Weg durch eine Gegend, welche die Italiener „le müi-oool»,«" nennen. Es sind hier durch einen in unvordenklichen Zeiten stattgehabten Bergsturz Wasseraufstauungm und Sümpfe entstanden, und außerdem hat sich ein Irrgarten von nackten Felsblöcken und Steinklötzen gebildet, der an Größe und Rauhheit noch die berühmten von Goldau bei Weitem übertrifft. Die Italiener, in deren Thälern solche Bergstürze eben so häufig und oft vorgekommen sind, wie in denen der Schweiz, nennen einen solchen Bergsturz „monll,FNl, onäuw" oder „monto oaäuto." Und die ganze Gegend „lo mgrooo>,iu" wird auch wohl „il monte clM«tu" (der gefallene Berg) genannt. Endlich bei Arco, eine Meile vom Gardasee, öffnet sich das Sarcathal. Da lösen sich die hohen Sntenberge zu kleinen 216 Lage deß Gardaseeö. und niedrigen Felsen und Anhöhen auf, auf deren einer eine uralte Vurg liegt, die Stammburg der alten Dynasten dieser Ge- Gegend, der Grafen von Arco.------Hier bei Arc» stellt sich gleich das ganze große und tiefe Alpenbecken dar, das noch jetzt der Gardasee größtentheils ausfüllt. Vo» Arco bis zur Spitze des Sees giebt es eine kleine fruchtbare Fläche, die ehemals wahrscheinlich auch noch vom See bedeckt war, die aber allmalig von der Sarca mit Erdreich und Steinen gefüllt worden ist. Keines dcr vielen italienischen oder überhaupt alpinischen Seebecken liegt so isolirt, wie das des Gardasecs. Die Sarca, ein Flüßchen von höchstens 8 Meilen Länge, ist der größte Fluß, der in dieses Becken hineinstießt. Sonst eröffnen sich zu den Seiten nirgends bedeutende Nebenthaler. Der See ruht ganz in sich selbst verschlossen zwischen den Bergen, die sich nach einer Seite hin in große Thäler öffnen, wie dieß bei fast allen anderen Seen statthat. Daher führt denn auch durch das Thalbecken und längs der Ufer ves Sees keine einzige große Handelsstraße, wie längs des Comcrsees die Splügenstraße, längs des Lago-Maggiore die Simplonstraße, längs des Vierwaldstatterstes die Gotthardsstraße, längs des Genfer- und Bodensees mehre andere Straßen. Die große Etsch wäre ein der Größe des Gardasees würdiger und angemessener Strom. Allein sie geht wenige Meilen ostwärts an dem See vorüber. Aus dieser Abgesondertheit des Gardasees erklären sich manche Eigenthümlichkeiten seiner Natur, feines Wassers, seiner Fische und auch die besonderen Verhältnisse der Bewohner seiner Ufer. Diese haben sich in dem Becken am nördlichen Ende des Sees einen kleinen Hauptort, Riva, gebaut. Seiner Entlegen, heit und Absonderung verdankt es dieser kleine Erdwinkel, daß er sich in allen Zeiten der Geschichte mehr Privilegien und mehr Eigenthümlichkeit bewahrt hat als andere italienische Städte. Isolirung von Nlva. 217 Wie Gersllu am Vierwaldstatter-See, wie andere kleine Alpenörter, denen die hohen Gebirge selbst als Stadtmauern dienen, war Riva ehemals eine kleine Republik für sich, zuweilen in größerer, zuweilen in geringerer Abhängigkeit von den Visconti in Mailand, oder den Scaligeri in Verona, oder den Ezzelino in Vicenza, oder den Dogen von Venedig, oder den Bischöfen uon Tricnt, oder, wie jetzt, von den Oestcrreichern. Es erwählte sich zu allen Zeiten seine Magistratspersonen selbst, und seine Gesetze, Münzen, Gewichte, Marktvorschriften und sein Wasserrecht galten auf dem ganzen Gardasee und vnlk", was ja wohl mit unserem deutschen „Walken^ zusammenhängt!) Aus diesem italienischen Fresco nndFreöcura haben die deutschen Tyroler von Meran und Votzen ihre „ Sommerfrischen " (Sommerwohnungen) hergenommen. Dicht über der Fläche des Gardasees brütet eine sehr heiße und schwüle Luftschicht. Doch ist Riva schon einige Grade milder als das Südende des Sees, so wie es denn auch umgekehrt im Winter dort nie so kalt wird wie in den lombardischen Ebenen. — Wer eine Villa hat, die um 25 Fuß höher liegt als der See, der schlagt dieß schon hoch an. Es ist da viel kühler, heißt es, nnd man läuft auf der 20 Fuß hohen Terrasse dcs Gartens hinaus, um die Kühlung auf irgend einer Gartenbank hingestreckt zu genießen, beneidet aber dcn Nachbar, dessen Villa einige Ellen höher liegt und den man gern besucht, weil sein Garten noch einige Grade mehr Kühlung hat. — Um aber die Italiener zu befriedigen, muß die Luft nur gerade so recht hübsch frisch sein. Geht sie nur ein wenig über das Frische hinaus zum Kalten hinüber, so fangen sie gleich an zu klagen und zu zittern. Und man weiß in der That nicht, was die Italiener mehr scheue», die Hitze oder die Kälte. Ist die Luft nur ein wenig schaurig, so sind gleich die öffentlichen Platze in Venedig und in den anderen Städten öde und wie ausgekehrt. Die Italiener jammern über den unbarmherzigen Witterungswechsel, den die abgehärteten Nerven eines Deutschen noch kaum wahrgenommen haben, und hocken zu Tausenden in den Theatern, um sich zu warmen. Eben so empfindsam aber, sage ich, sind sie gegen die Hitze, und in der Mitte einer „Fiornata lorto" (eines starken Tages, so nennen sie einen heißen) sind Riva und die Die Erntcn in der Lombardei. 221 anderen kleinen italienischen Alpenstädte eben so todt und ausgestorben. Die Meisten sitzen dann still beschäftigt zu Hause oder schlafen, oder schlürfen Eis hinter den Vorhangen der Kaffeehauser. Nur ein Deutscher, der kein Arg daraus hat, trabt, sich den Schweiß vom Angesichte wischend, tapfer in den Straßen des Ortes uncher. Vei uns im Norden ist der Sommer, und somit auch die Villegiatura nebst allen ackcrbaulichen Sommerbeschaftigungen, nur auf einen sehr kurzen Zeitraum beschrankt. Namentlich ist bei der Einförmigkeit unseres Ackerbaues diejenige Zeit, wahrend welcher der Gutsbesitzer am liebsten selber an Ort und Stelle ist. die Zeit der Ernte, sehr kurz. Wir haben Heu im Juli, Korn im August und höchstens etwas Obst und Wein im October, «nd damit Punctum! Vei den so äußerst componirten und mannigfaltigen Culturen des nördlichen Italiens giebt es dort dagegen fast zu jeder Jahreszeit etwas zu ernten. Schon gleich im Frühling sehr frühzeitig beginnt die Vlatterermc des Maulbeerbaumes und die bald aus ihr hervorgehende Ernte der Seidenwurmcocons, der die Heu- und Kornernte folgt. Nun kommen der Neihe nach der Weizen, der Ha» fer, der Roggen, der Fromentone (Mais), darauf der Reis, der Tabak, der Wein, im Herbst endlich bis in den November und December die Oliven. Citronenernten werden fast das ganze Jahr durch von Monat zu Monar gehalten. Und in einigen Gegenden der Lombardei giebt es auch das ganze Jahr hindurch frisches GraS zu schneiden. Vei Lodi stehen die Kühe oft im Januar iief im Grase. Die lombardischen Landwirthe kommen also fast das ganze Jahr hindurch nicht heraus aus den Erntesorgen und dem Erntesegen. Sie bringen daher ben grüßten Theil des Jahres auf dem Lande zu, um alle diese Ernten zu überwachen. Gewöhnlich hilft dabei die ganze Familie, 222 ONvenuMer. die Mutter mit den Töchtern. „Ich muß mit meiner Frau und meinen Töchtern bald auf's Land hinaus, es beginnen dort allerlei Ernten", sagte mir ein reicher lombardischer Gutsbesitzer. Nenn ich seine Töchter ansah, die nicht im Geringsten an Drescher oder Sensenmänner erinnerten, so fand ich diese Rede wunderlich. ANein man begreift, daß hier, wo häufig mehr Seidencocons zu sammeln und goldene Hesperidenfrüchte zu pftücken als Aehren zu schneiden und Garben zu dreschen sind, auch die zartesten Töchter der Familie angemessene Beschäftigungen bei der Ernte finden können. — Diese vielerlei Ernten, die wir zu überwachen haben, sagte man mir, sind auch der Grund, warum wir Lombarden so wenig in der Welt reisen. Wir haben zuviel am eigenen Heerde zu thun. Die Engländer haben ihre Capitalien in der Vank von England, und Niemandem wird es so leicht, seine Einkünfte an jedem Puncte der Erde zu beziehen, wie ihnen. Niemand kann daher auch so sorgen-und verlegenheitslos umher reisen, wie sie. Ich dachte sonst, daß das süße Nichtsthun an dem Mangel italienischer Reisenden im übrigen Europa schuld sei, imd entdeckte hier also ein ganz entgegengesetztes Verhältniß als Ursache davon, nämlich die Vielgeschäftigkeit. Ueber allen nicht allzu hohen Hügeln und Terrassen oes hohen Alpengebirges in dem Becken von Niva, so wie auch über den ganzen Niederungen dieses Beckens bis Arco schwebt eine mattgrüne Farbe, die von den Ollusnwäldern herrührt, mit denen hier alle Zwischen räume zwischen den Garten und Dörfern und Villen gefüllt sind. Die Oliven wachsen hier fast in halbwildem Znstande und bedürfen nur geringen Schutzes und weniger Pflege. Da sie das ganze Jahr hindurch grün bleiben, so sind sie im Winter der erfreulichste Schmuck der Gegend. Man findet Olivenbäume hier wie überall an dem Südfuße der Alpen bis zu Citronengarten. 223 einer Höhe von 500 Meter. Hauptsächlich sind die Ufer der lombardischen Seen die Region der Oliven, wie sich den» über» Haupt alle zarteren Pflanzen an diesen milden Seeufern zusammenfinden. Doch giebt es „olivoli" (Olivenhaine) auch hier und da in anderen Thälern der italienischen Alpen. Gine „toi-olnn" (Oelpresse), wie eine Wempresse, gehört zu den gewöhnlichen Bestandtheilen einer hiesigen Wirthschaft. Vor allen Dingen gehört dann aber dahin die „sorl-n <1'n^rumi" (der Citronengarten).— „^rumi" (von n^ro, bitter) nennt man hier alle die verschiedenen Arten der goldenen Hesperiderifrüchte, die Citronen, Orangen, Citronate. Während die schon viel weniger empfindliche Olive, wie gesagt, überall in den lombardischen Gebirgen gefunden wird, sind die viel zarteren Agrumi fast nur am Gardasee bedeutend häufig. Die Oberfläche des Gardasees liegt nur 69 Meter über dem Adriatischen Meere, das heißt etwa 120 Meter tiefer als alle die übrigen lombardischen Seen, von denen ein jeder beinahe 200 Meter über dem Meere erhaben ist. Diesem Umstände und seiner Abgeschlossenheit verdankt er sein außerordentlich warmes Klima. Das Becken, dessen Boden er bedeckt, ist ein wahres Treibhaus. Die Gardaseeufer, die Meeresufer im Süden der Vergmauer bei Genua und die niedrigen Lagunen von Venedig sind die wärmsten Landstriche im nördlichen Italien und zugleich auch die an Südfrüchten ergiebigsten. — Man erzeugt freilich schon bei Meran und Votzen und auch sonst überall hie und da im Süden der Alpenkette und im Lombardo-Venetianischen Orangen und Citronen. Allein nur am Gardasee ist die Production so bedeutend, baß sie eln Element des Reichthums der Bewohner und eine Quelle bedeutenden Handelslebens wird. — Fast jeder Besitzer hier „»> l'« äelixia äj eoUivuro nmeni ßinräiin", wie es bei einem italienischen Schriftsteller heißt, und hat, wie ich oben sagte, neben N4 Pflege der Citronenbäume.' seiner Villa seine „sei-i-n ä'l,ssi-umi." Diese Citroncngärteu sind vermuthlich die einträglichsten Gärten und Grundstücke, die es in der Welt giebt. Denn man hat Gärten dieser Art, welche nicht so viel Raum wegnehmen als ein einziges kleines Roggenfeld bei uns und die Hunderttausende von I.iro ^ugtriacno einbringen. Die Orangen und Citronen werden hier gerade so behandelt, wie unsere deutschen Obst-, Birnen- und Acpfelbäume bei Petersburg und Moskau. Dort im Norden sieht man oft große Gartenstriche im Winter mit Glasdächern bedeckt, und die Birn-und Aevfelbämue darin sorgfältig rangirt und gewässert. Eben so hat man hier ganze Striche an den Bergen hin mit Glasdachern bedeckt. Im Frühling werden diese weggenommen, und nur die Säulenpfeiler und Mauerstücke, welche diese Dächer tragen, bleiben stehen. Die Gärten sind alle terrassenförmig gebildet, mit »uehren Absätzen und Stufen. Dieß geschieht, um die künstliche Bewässerung zu erleichtern. Gewöhnlich führt nur ein kleiner Bergcsuell in den Garten hinein. Jeder Vaum ist mit einer ringförmigen Vertiefung umgeben, die durch Cauäle mit vem Quell in Verbindung steht. Gs sieht hübsch aus, wenn Speisung der Väume ist, und der kleine Quell auf vorgeschriebenen und ausgemessenen Wegen sich überall hin vertheilt und jeden Vaum mit seinem gehörigen Quantum versorgt. — Wo man an den Bergen keine Quellen findet, da kann mau keine solche Citronengärten anlegen. '"U Auf jeder Terrasse des Gartens steht nur eine Reihe von Citronenbaumen. Der viereckige Platz, den ein Vaum in einer solchen Reihe einnimmt, heißt eine „Campata." Die Größe eines Gartens, die Kosten der Anlage, den Ertrag der Grnte, dieß Alles berechnet man nach „Camvaten." Ein Garten, heißt es, hat 50 Campaten. Es giebt Gartenbesitzer, Citronenernten. 225 die 500 bis 600 Campaten besitzen. Die Herrichtung dieser Gärten ist so kostspielig, daß die Kosten für eine Campata auf 500 bis 600 Zwanziger steigen. Die Einrichtung eines Gartenbesitzes für 600 Väume kostet also über 300,000 Zwanziger. Da der Citronen- und Orangen-Gartenban fast nur an der westlichen dem Südosten zugekehrten Seite des Gardasees stattfindet, diese aber sehr felsig ist und wenig Erdreich darbietet, so hat man zu vielen Gärten die Erde auf Schiffen von dem östlichen Ufer des Sees herüberführen muffen. Weil die Grde oft erneuert werden muß, fo kann man sich denken, daß schon dieser einzige Umstand hinreicht, die Garten sehr kostspielig zu machen. Die Hauptfrucht ist die Citrone. EinVaum, wenn er recht gesund und groß ist, trägt 800,1000, auch wohl bis 2000Früchte im Jahre. Es giebt viele Leute am Gardaste, die mehre Hunderttausend Stück Citronen jahrlich ernten. — An Ort und Stelle sind diese Citronen 50 bis 60 Zwanziger das Tausend werth. Ein Baum kann also für 100 biö 120 Zwanziger in einem Jahre tragen. Man halt schon am ersten Mai die erste Citronenernte und hat dann im Laufe des Sommers 5 bis 6 soche Grnten. Die Citronen vom Gardasee sind herber, bitterer, aber kräftiger als die aus Sicilien, lassen sich auch besser transportiren und halten sich länger. Es wird daher ein großer Theil des nördlichen Europa uüt dieser Frucht uom Gardasee aus versehen, Oesterreich, Polen, Rußland. Man schaßt, daß über 50 Millionen Citronen am Gardasee für diese Länder wachsen. Es soll einzelne reiche Besitzer am See geben, die eine halbe Million Franken Revenueen aus Citronengarten ziehen. Auch die Bauern haben gewöhnlich ein paar Lampa-tas neben ihren Hütten. Für einen Deutschen, dessen Phantasie von Jugend auf mit wundervollen Ideen vom Lande, wo die 10" Wß Gastfreundschaft der Lombarden. Citronen blühen, gefüllt ist, gewahrt es einen eigenen Genuß, mit einer anmulhigen und freundlichen italienischen Familie un< ter diesen Bäumen sich zu ergehen und in ihren kühligen Schat< ten Kaffee zu trinken, wie unter den Fliederstrauchern oder Sauerkirschen der Heimath. Die Gastfreundlichkeit, welche ein Deutscher von Italiener» empfängt, hat etwas besonders Wohlthuendes, ja ich mö.chte sagen Rührendes. Denn, da wir stets die Unterdrücker der Italiener waren, und sie in uns ihre natürlichen Feinde sehen müssen, fo liegt dieser Gastfreundschaft eine sehr edle Selbstverleugnung zum Grunde. In Folge der Wolke von Vorunheilcn, in welche uns unsere heimathliche Umgebung einzuhüllen nicht verabsäumt, rückte ich in jedes neue italienische Älpenthal mit der Erwartung von Raubanfall und Mord und mit der Aussicht auf Verwünschungen des maleäetto I'eässolln ein, und in jedem Thale fand ich mich denn wieder auf höchst angenehme Weise enttäuscht. Selbst die geringen Lombarden, die Bauern, haben sehr gastfreundliche Gewohnheiten, z. V. diese, daß sie beim Speisen jeden Vorübergehenden zum Mitesscn auffordern. Oft ist es mir Passirt, daß ich in einer einsamen Gegend beiVauergruppen vorüberging und schon von Weitem von ihnen angerufen wurde, um itzre Polenta, die sie unter dem Schatten eines Baumes verzehrten, mitzugenicßen. Sie hoben dabei den gefüllten Löffel hoch in die Höhe und schrieen: „Kommen Sie! Setzen Sie sich und thun Sie uns die Ghre, mit uns zu speisen!" — Sie halten es für eine Pflicht, diese Aufforderung an jeden Vorübergehenden ergehen zu lassen. — Solche uralte Sitten, wie man sie nur noch etwa bei den patriarchalischen Nraberstaulme» zu finden erwartet, entdeckt man, sage ich, noch heute bei den seit uralter Zeit ciuilisirte» Italienern. — Eine englische Familie, die ich in Riva traf, war ganz entzückt von lwmbardische Dörfer. 227 der Zuvorkommenheit und Gastfreundlichkeit der Italiener. Sie wären, sagten sie mir, zufällig, aus Deutschland kommend, hierher gereist, und obwohl sie Anfangs bloß einige Tage hier hatten bleiben wollen, so hatten fie sich doch sehr bald in so viele angenehme Beziehungen verstrickt, von so vielen freundlichen Menschen umgeben gefunden, daß aus den wenigen Tagen jetzt beinahe ein halbes Jahr geworden sei, und daß sie sich geneigt fühlten, zu betheuern, Riva sei „tks most liMMk!«! pine« in tno i,varlcr Monte Baldo. 231 Richtung Nrescia der Hauvtort ist. Die Ostküste heißen sie das Vermleser-Ufer. Dieses letztere ist, wie mir ein Italiener sag Meter oder !80l)Fuß tief unter den Voden der Lombardei und unter die Oberfläche des Meeres hinab. Diese merkwürdigen tiefen Löcher in der Erdoberfläche bleiben mir ein Räthsel. Keine von dm Arten, auf welche die Geologen ihre Entstehungsweise erklären, be« friedigt mich. Wenn man uon dem breiten Ende des Sees zu dem schmalen zurückblickt, so sieht man, wie es sich in den großen Tipografia Elvetica. 285 Felsenspalt der Berge zurückzieht. Dieser prasentirt sich, wie ein breites Thor. Es war, als wir eg sahen, dick mit grauen Nebeln gefüllt. 15. Lugano. Wir kamen von Como, um aus der erdrückenden Hitze der Lombardei den kühlen Verglüfteu der Alpen wieder zuzueilen. Wir betraten den Schweizerbodm bei Chiasso und hatten bei Capo Lago bald die südlichste Spitze dcö reizenden Sees, den die Italiener lieber bei feinem alten Namen Lago Cerisio, wir aber den See von Lugano nennen, erreicht. Das erste Zeichen und Unterpfand davon, daß wir uns nun wieder in einem Lande, in welchem sich der Gedanke freier bewegt, befanden, war eine Druckerei und Buchhandlung, welche hier mitten in der zauberischen Gebirgsnatur, in dem kleinen Dorschen an der südlichsten Spitze des Sees erbaut ist. Die- Worte „ lipassi-nli» Llvotion " mit großen goldenen Buchstaben leuchteten uns schon von Wci-tem am Wege entgegen. Und aus langen Zetteln, die wie Preßfreiheitsfahnen im Winde das Haus umflatterten, waren die Werke von Manzini, von Gioberti, von Azeglio und von so vielen anderen in dem Lande, das wir soeben verlassen hat-lkn, öffentlich prosrribirten und verpönten, im Stillen aber angebeteten Namen angekündigt. — Das Haus war rund umher mit Papieren, Annoncen und Plakaten beklebt. W war ein Stück von einem Pariser Boulevard, in der Mitte von Wald« einsamkeit und idyllischer See- und Gebirgsnalur. — Wir besahen uns dieß merkwürdige Etablissement und fanden alle 236 Bücherschmuggel. seine Räume wie ein Waffenmagazin mit gefahrlichem Papierstoff, der fast eben so entzündlich ist, wie Schießbaumwolle, angefüllt. — Der Besitzer dieses Etablissements verkauft nickt nur, sondern verlegt und druckt auch ohne Anstand Werke, die zwei Schritte weiter nach Süden, in den doriigen Censoren-bureaur tausend Schwierigkeiten gefunden habe» würden. — Man sagte uns, daß man 50 Arbeiter in der Druckerei beschäftige. Die meisten Bücher waren schon reisefertig, sechs zu sechs packetweise zusammengebunden. Vielleicht hatte man dieß gethan, um sie gelegentlich auf bequeme Weise über die österreichische Gränze zu schmuggeln. — Schon am Gardasee hatte man mich auf diese tessinischen Buchhandlungen aufmerksam gemacht, als auf die Quellen, aus denen diejenigen dürstigen freien Gedankenbäche flössen, die dort in Riva, in Trient lc. circulirten. — ,, Die Schriftdruckereien ^', sagt Franscini, der Statistiker des Cantons Tessin, „können gegenwärtig als einer der bedeutendsten tessinischen Gewerbzweige betrachtet werden." Und doch wurde die erste Druckerei nicht früher als um die Mitte des vorigen Jahrhunderts in dieser Weltgegend begründet. — Die Herren und Gebieter des Landes, die urner Landvögte, diese „Illus^issimi o polLntissimi 8iFnori o pulirom nostri olementisßimi", wie in ihren Petitionen und Staatsschriften, die Tessiner, diese „umilisLimi o loäelissimi sorvitor« L suüäili", jene Hirten des Reußthals zu nennen gezwungen waren, beförderten dieß Geschäft wohl nicht sehr. Mit Hülfe der Lombarden und Franzosen machten sich dann die Ticinestr von diesem Hirlenregimmte am Ende des vorigen Jahrhunderts frei, und da sie nun seitdem, wie alle ehemals unterjochte Schwei-zercantone oder Cantonstheile sich immer mehr oder weniger zu der liberalen Seite gehalten haben, so haben sie nun, besonders seit 1830 durch Schriften und sonstige Anstrengung nach Die Schweiz als politischer Heerb. 237 Kräften nicht wenig zur Schulung und Nahrung des Freiheitö-geistes in der Lombardei beigetragen. Die Werke des Gioberti, welche eine so bedeutende Rolle in der jetzigen Bewegung der Geister in Italien gespielt haben, wuroen beinahe alle in der Schweiz verlegt und gedruckt. Die Schweiz hat das Eigenthümliche, daß sie, mitten zwischen Italic», Frankreich und Deutschland gelegen, kleine Theile von allen diesen drei großen Ländern und Völkerstammen unter die republikanische Fahne enrolirt hat. Es entstand in ihren Thalern und Bergen eine Menge von Journalen, die in den drei Sprachen alle die liberalen Grundsätze und Ideen der Schweizer entwickelten und besprachen. Der politische Flüchtling aus Deutschland und Frankreich, wie ans Italien, fand hier Landsleule, Tprachgenossen und eine Heimath. — So wie viele italienische, so wurden auch viele deutsche Werte in der Schweiz gedruckt, die man in Deutschland das Tageslicht nicht hätte erblicken lassen. Die Schweiz bildete daher sowohl nach Italien, als nach Deutschland, als auch nach Frankreich hin einen Schürheerd und Anhaltepunct für die Ansichten der Neuzeit, und wenn ein späterer Geschichtschreiber einmal alle die Impulse zu diesen neuen Bewegungen, welche von der Schweiz ausgingen, zusammengefaßt haben wird, so wird sich die Rolle, welche sie spielte, als eine sehr bedeutungsvolle zeigen. Nirgends wurde Guizot's und Metternich's Politik in den letzten Jahren in den drei großen gebildeten Sprachen des europäischen Continents, in der italienischen, der deutschen und der französischen, bitterer verfolgt, bespöttelt und in ihrer Haltlosigkeit gezeigt und gebrochen, als in der Schweiz, wo bald auch der erste Aufstand zur Vesiegung und Vernichtung dieser Politik ausbrach. Die Ticinesen hatten eben, als wir in ihrem Lande ankamen, ein recht merkwürdiges Werk vollendet, einen langen Damm 238 Staatsrath Franscini. nämlich, der mitten durch den öuganersee geht und die entgegengesetzten Ufer auf die bequemste Weise verbindet. Wir waren die Ersten, welche über diesen Damm hinfuhren, der gerade den Tag vorher dem Verkehr übergeben worden war. Er ist an der Basis 40 Meter breit, steht II. Meter tief im Wasser und beinahe noch eben so viele darüber erhaben. Er soll eine Million Lire gekostet haben. — So viel ich weiß, giebt es keinen zweiten See in den Alpen, der auf gleiche Weise von Menschenhand in zwei Theile geschnitten Ware. — Zur Rechten und Linken uon diesem hohen Dcilmne blickt man auf die verschiedenen Arme des vielgespaltenen Sees und rollt dann rasch am jenseitigen Ufer hin zu der Hauptstadt Lugano. — Dieß ist der bedeutendste und schönste Ort oer ganzen italienischen Schweiz, und in seiner Nachbarschaft, so wie um seinen See herum, in der sogenannten alten Oommunili, n liivi,«,-» (Uferland) äi l>uF«,ll) samlnell sich auch die gebildetste und zahlreichste Bevölkerung des Landes. Der Ort hat eine reizende Lage, und es befinden sich in seiner Nachbarschaft, wie bei (5omo und Varese noch manche schöne Villen reicher Milanese« und Lombarden. — Weiter hinauf im Thale des Ticino findet man dann keine solche Besitzungen mehr. Ich lernte in Lugano den Staatsrath Franscini kennen, der sein Vaterland in verschiedenen topographischen, historischen und statistischen Werken der Welt bekannt gemacht und der auch neuerdings die ganze Schweiz mit einer alle Cantone umfassenden Statistik beschenkt hat. — Es ist die erste vollständige neuere Statistik, die wir von der Schweiz erhalten haben, und es ist auffallend, daß eine solche zuerst in italienischer und nicht in deutscher oder französischer Sprache geschrieben wurde. Da Franscini mit an der Spitze der Regierung feines Landes steht und in Slaatsgeschäften auch in allen übrigen Theilen der Scuola del disegno. 239 Schweiz bestandig mit kundigen Männern verkehrte und zu den authentischen Quellen, aus denen solche Werke hervorgehen müssen, gelangen konnte, so ist seine Statistik alö eine nicht unbedeutende Erscheinung zu betrachten. — Ich besuchte mit ihm einige Schulen des Ortes, insbesondere dle „souola 6ol clizeFno", die mich am meisten interessirte, weil die meisten eigenthüm« lichen Gewerbe und Beschäftigungen der Ticinesen der Art sind, daß Zeichnenschulen gewissermaßen die Grundlage ihrer Erziehung sein müssen. Alle diese tesstnischen Bergthäler nämlich sind voll von Maurern, Steinmetzen, Bildhauern, Stubenmalern und Stuccaturarbeitern. Und doch Hal man erst in den letzten Jahren daran gedacht, diesen Künstlern, die von hier aus in alle Welt wandern und von ihrer Kunst allein leben, eine nützliche Vorbereitung zu ihrem Berufe zu verschaffen. Doch will ich diese Vernachlässigung jetzt weniger beklagen, als vielmehr es freudig hervorheben, daß nun seit 10 Jahren in Lugano, m Locarno und Vellinzona Zeichnenschulen für sie errichtet sind, welche munter und heilsam aufblühen. Es sollen ihrer bereits 5 oder 6 eristircn. Ich freue mich über jeden Fortschritt in der Bildung und dem Zustande der Menschen. — Sonst waren die einzigen Schulen, welche die ticineser Künstler hatten, in Tu-rino und Milano, und dort sind allerdings auch jetzt noch ihre hohen Akademieeu. Aber da sie nun den Vorunterricht wenigstens naher und auch biNiger haben können (denn fast alle Schüler werden in jene Anstalten gratis aufgenommen), so können jetzt viele ganz Mittellose sich auch leichter ausbilden. Die lungm Leute brauchen ferner nicht mehr so frühzeitig das vaterliche Haus zu verlassen, und endlich können sie auch ihre Ausbildung früher beginnen. , Es ist etwas Eigenes mit der Einheimischwerdung einer besonderen Anlage oder eines Talents in einer gewissen Gegend. 240 Mechanische Genies in Tlcino. IenseitS des Gotthard „im Ennotbergischm", wie sie von der Urschweiz sagen, sind alle Leute Hirten, und obgleich sie Arme genug haben, die auch etwas Anderes nebenher treiben konnten, so besitzen sie doch nicht das geringste Talent zu einem anderen Industriezweige. Hier diesseits des Gotthard oben im Ciö-alvinischen, obgleich sie auch, wie die Urner, Vieh zu hüten und Holz zu flößen haben, stecken alle Thäler voll mit mechanischen und künstlerischen Genies. Dabei hat beinahe jedes Thal seine eigene Gattung von Talenten und Geschäften, obgleich in der Natur der Gegend sich nichts auffinden läßt, was ein anderes Geschäft ausschlösse. — Aus den Thälern bei Locarno z. V. gehen die Fumisten (Rauchfangverbefserer) und Holzschneider hervor. Val Vlegno liefert Chocolatefabrikanten, Val Colla die Magnani (Kupferschmiede), die Umgegend von Lugano am meisten Maurer, Steinmetzen und Gypsarbeiter, gewisse Ortschaften am Ccrisio bloß Kalk- und Zicgelbrenner, die Orte Brissago, Aöcona am Lago Maggiore die beßten Weinhändler, Wirthe und Wirthsdiener. Vei Vellmzona sind die Glaser zu Hause und die sogenannten Varometti (Varometerhandler). Mit der Anlage zu diesen und noch vielen anderen Künsten, die ich nicht nannte, ziehen die Ticinesen, von Wander- und Gewinnlust getrieben, in die weite Welt hinaus, und man findet sie in allen Landern. — In Petersburg nicht nur, sondern in ganz Rußland schwingen sie sich hausig zu Bau- und Werkmeistern und zu Directoren großer Vauunternehmungen empor. Dieß war schon in alten Zeiten so. Und bereits die Italicner, welche unter dem Czar Iwan Wassiliewitsch die berühmten Kirchen auf dem Kreml in Moskau bauten, waren aus diesen Thalern-Auch der Ritter Gilardi war von hier, der den Auftrag zum Wiederaufbau Moskaus nach dem Brande von 1812 erhielt. Wenn ich nicht irre, so sind auch einige der Hauplarchitekten bei Die Architekten des Tesfin. 241, der Isaakskirche in Petersburg Ticinefen. Ein beständiger Zug von baumeisterndcn Handwerkern ans diesen Thälern geht „ach Frankreich, wo sie an der fortdauernden Metamorphosirung der Stadt Paris arbeiten. Auch sind die Leute, welche in den letzten zehn Jahren die Erbauung der neuen französischen Colo-nie in Afrika leiteten, größtenthcils von hier. Das vornehmste Feld ihrer Thätigkeit ist aber die Lombardei und Piemont. Ehemals, da Venedig noch blühte, war auch diese Stadt für sie von Wichtigkeit. Ein großer Theil der die Lagunen belastenden Gebäude wurde von Händen aus dem Valle Maggia, aus dem Val Vlegno, aus der Leventina, und wie die ticinesischen Thäler alle heißen, zusammengefügt. In Milano, Vrescia, Cremona :c. sind ebenfalls uicle „Capomastri" bei Vallmiternehmungen aus diesen italienischen Alpenihälern. Der Staatsrath Frans-cuü giebt in seinem Werke über die italienische Schweiz Notizen über 16 noch jetzt in Italien lebende als Kirchen-, Brücken-, Straßen- und Palastbaumeister berühmte Ticinesen. — Weltbekannt unter den Todten sind die Fontana, die Sardi, die Alberlolli und andere. Eben so zahlreich sind die Verzeichnisse der ausgezeichneten Maler, Bildhauer, Kupferstecher, Stucca-toren, welche man in den Annalen deö Tessin als Einheimische verzeichnet findet. Es werden jährlich nicht weniger als 6000 Passe für die Leute aus Lugano und der nächste» Umgegend ausgegeben. Die Summe der jahrlich Abwesenden aus dem ganzen Lande betragt letzt nahe an 15,000. Diesi ist der 9te Theil der Bevölkerung und folglich, da es lauter Mlgc kraftige Manner sind, dic Müthe deö Landes. Da jede Arbeit im Laufe deö Jahres ihre eigenthümliche Saison hat, in der sie am lebhaftesten betrieben wird, und wiederum jede ihre eigenthümliche ,,8l,i3li» moi'to", so kehren sie, uom Heimweh getrieben, gewöhnlich zu eincr Kohl, ?ic^nltucn, ll. II 242 Die Camftagna der Ticmesen. bestimmten Zeit, wie die Wandervögel, in ihreNester zurück, und wandern dann auch wieder zu einer bestimmten Zeit schaarenweise in die Fremde, und zwar jedes Handwerk zu einer besonderen Zeit. Die Maurer, Steinhauer, Kalk« und Ziegelbrenner z. V., deren Arbeiten im Winter ruhen, wandern im Mär; aus und kehren im November oder December mit Schätzen (ihrem kleinen Erwerbe) in die Heimath zurück, um sich mit den Ihrigen des Ersparten zu freuen und zugleich bei ihnen billiger als in der Fremde die müssige Zeit zu verbringen. Die Glaser verreisen im Mai und kummen auf die Weihnachtstage wieder, weil es im Frühling, wo die Herrschaften aus's Land ziehen, und dann wieder im Herbste, wo sie ihre Gebäude in der Stadt einrichten, am meisten Arbeit draußen für sie giebt. Die Lastträger dagegen und die Kastanienbrater, welche letztere erst nach der Ka-ftanienernte auf den Markten der französischen und italienischen Städte gesucht werden, verlassen ihr Land im Herbst und kehren im Frühling wieder. Auf diese Weise sind dann abwechselnd bald diese, bald jene Thäler bloß von Weibern, Greisen und Kindern bewohnt. — Man nennt hier eine solche Unternehmung ins Ausland eine „Campagna". — Wie alle Fragen in der Welt streitig sind und zwei Seiten haben, so ist es denn auch die, ob diese merkwürdige Auswanderung dem Lande nützlich oder schädlich sei, und es entspann sich darüber zwischen den Anwesenden in unserer Zeichnenschule gleich eine Discussion. Die Einen meinten, die Sitte» des Landes würden durch die aus den Hauptstädten Europa's Zurückkehrenden vielfach verdorben, die Anderen aber, die Leute würden im Auslande aufgeklärter. Ein sehr merkwürdiger Umstand dabei ist aber, daß die Leute dieselbe Arbeit, die sie in Algerien und Sibirien suchen, in ihrer Heimath versäumen, und daß daher dieses Land, das so v«lus8, ssS Tessin« Dialekt. puss." Dieß sollte heißen „opposito" (gegenüber). Allen schönen Rhythmus in den Worten verdarb er durch Abkürzung, indem er z. B. „Inß" für 1«sso sagte. — Die Leute nähern sich darin hier, wie auch in allen Dialekten des Piemont und eines Theils der Lombardei schon den Franzosen; so z.V. sagen sie auch: „oome ^Iw voxt: „fa caldissimo", ^i«t: „l'e caudiesim!" — und so Vieles. Man wird ordentlich erbittert auf die dummen Leute, wenn sie die schonen Worte so widerlich verdrehen. Bekanntlich sind auch die Franzosen mit dem Schweizerfranzösisch eben so wenig zufrieden, sie finden darin eine Menge eigenthümlicher Härten und auch viele Germanismen. Selbst in der Schreibart und dem Style der schweizer Schriftsteller finden die Pariser Kritiker eine eigenthümliche gebirgische (oder germanische?) Schwerfälligkeit. Ich könnte mich zum Tessiner Dialekt. 247 Beweise dessen namentlich auf mehre Kritiken des Oenfer Schriftstellers Töpfer, die noch kürzlich in der lisvue äe karis vorkamen, berufen. Ich bemerkte auf meiner Reise durch Schwyz und Uri, daß die ennotbergischen Schweizer viele italienische Worte in ihre Umgangssprache aufgenommen haben. Umgekehrt haben die hiesigen Italiener, die 300 Jahre lang von Deutschen beherrscht wurden, und noch jetzt mit einem dem Wesen nach deutschen Staatenbunde verknüpft sind, manche deutsche Ausdrücke bei sich eingebürgert, besonders in dem großen hinteren Liviner Thale oder der sogenannten „Leventina", wo sie beinahe im täglichen Verkehre mit den Urnern leben. Vorzugsweise sind diese adoptirten Worte Ausdrücke, die sich auf die Vieh- und Alpenwirthschaft oder auf einige Alpennatur-Erscheinungen beziehen. So heißt z. B. der bekannte magere Milchkase, dm man in der deutschen Schweiz „Ziger" nennt, l)ier„2issi-n", — „Sufsi" (Käsemilch) „Xussa", — „Rahm" „eruma", — „Schotten" (die Molken) „»ooooia", — „Schnitz" „»ma", — „Gugseten" (Wirbelwind) „olmss", — „der Föhn" „kosn", — „die Alp" ,,^!p." — Einige Beamtentitel und andere politische und gerichtliche Benennungen find auch noch bei ihnen geblieben, z. V. „der Weibel^ — „ü vel)»l",— „derLandamman" — „il lanünmano", „derSchrei-ber" — „il soridÄr", — ebenso einige Handwerke, z. V. „der Schneider" —„ilsmänr". — Auch das deutsche „Mädel", „Maid" scheint hier hingekommen zu sein. „Nata" nennen sie ein junges Mädchen. Sogar unser „lustig", ticmcsifch' „lostiss", haben sie aufgenommen. Ich will hier noch gleich anführen, daß auch hier im Tessin. wie im Piemontesischen, wie in einigen mailandischcn und wie in mehren venetianischen Alpenthälern ein kleines Trümmerstück 248 Polengraber. von unserem großen deutschen Volksstamme zu finden ist. Mitten zwischen Italienern, nämlich in Val Maggia, in einer Höhe von3000 Fuß, findet sich eine deutsche, Alpenwirthschaft treibende Gemeinde. „Vosco" (Vusch?) heißt dieses isolirte von nahe an 2000 versprengten Deutschen vonAlters her bewohnte Dorf. — Wahrscheinlich sind sie einst aus dem benachbarten Pommat (Val Formazza), wo es auch noch deutsche Dorfer giebt, herübergekommen. Aehnliche italienische Enclaven giebt es in den jenseitigen deutschen Landen nicht. — Wie in anderen Gebirgen als Bergleute den Grzgängen, so sind die Deutschen hier als Hirten den Alpentriften gefolgt und haben überall von ihnen Besitz ergriffen und an ihrem Fuße ihre Viehstallungen und Sennhütten gebaut. Wo ich auf meinen Reisen eines unglücklichen, verbannten Polen Grab finde, da ergreift eS meine Seele immer wehmüthig, und daher will ich erwähnen, daß ich auch hier oben auf der Spitze des San Salvatore eines neben der kleinen Capclle fand. „vnclosclu cli Lrovvo, esule per w liboNä", hieß es in der italienischen Inschrift, „nwi'ia un mose pi-ima delln Föne-ras« rivoluLion« 6i Vur8«vi«". — Die ganze Welt von Si« birien, wo der unglücklichen Polen von ieher viele starben, bis zu diesen Alpengrabern, bis London, Paris und Amerika, wohin sich auch viele dieser „Outlaws" von Gurova gewendet haben, ist ein einziger großer Kirchhof für die Polen, von denen seit 80 Jahren eine Reihe von Revolutionen und Kriegen immer eine Menge über vie Welt verscheucht hat. Jedesmal, wenn der große russische Riese zuschlagt, flattern Tausende von Polen, wie aus ihren Nestern verscheuchte Vögel, und verkriechen sich sterbend in allen Schlupfwinkeln und Freiheitsasylen Europas, wo man ihre melancholischen Grabmonumente verstreut findet. Monte Cenere. 249 16. Durch das Thal des Ticino. Der Hauptstuß der italienischen Schweiz, der Ticino, mündet, aus Norden kommend, in den „Langen See" (oder 1^« UaFFiol-s, auch I.UF0 äi I^oo^i-no und mit dem eigenthümlichen alten italienischen Namen il Voi-dunc» genannt). — DaS Thal des Flusses und das des Sees bilden ein Ganzes, das sich lang nach Süden hin erstreckt. Von dem Luganer Seebecken und seinen Thälern wird dieses Ganze durch die Kette des Monte Cenere getrennt. Demnach sollte man vermuthen, die Bevölkerung sei von den Alpenhöhen herabgekommen, und auch die Staatengranzen und Straßenzüge hatten sich in dieser Richtung längs der Ufer des Lago Maggiore vorgeschoben. Dieß ist aber nicht der Fall. Die große Verkehrsstraße, welche vom St. Gott-hard her auf Mailand herabzieht, verlaßt in der Nähe der nördlichsten Spitze des Verbano dieses Becken, windet sich über den Monte Ccnere hinauf und wirst stch dann in die Thaler und das Becken des Sees von Lugano, durch sie weiter nach Süden vordringend. In derselben Richtung haben ehemals die Urner ihre Eroberungen verfolgt, und so keilt sich denn auch ihre ehemalige Besitzung, der Canton Tessin, mil einer langen Landerspitze ausgreifend, nicht zum Lago Maggiore, sondern nach Südosten aus Como hin. Dieser See bleibt auf diese Weife der großen Tesstner Verkehrsstraße zur Seite liegen. — Es ist oft der Fall, daß die Seeufer sehr felsig und schroff sind und daher für die Errichtung von Landstraßen große Schwierigkeiten darbieten. Auf der Höhe des Monte Cenere genossen wir die Aussicht auf das Tessinerthal, VeNinzoua, Locarno und den Lago Maggiore unter den günstigsten Wetteruerhältnissen. Es waren die von den Römern sogenannten caninischen Gefilde (6»mpi On- 11" 250 Die canmischell Gefilde. mm), die wir vor uns sahen. — Die kleine Stadt liegt höchst malerisch von hohen Mauern, alten Schlössern und dann von Wällen, die man aus Steinen gegen das Wasser errichtete, dem sogenannten „npgro tonäo" (dicken Wall), umgeben. Diese kleinen Alpenstadte, die sich stets gegen Menschen- wie gegen Naturübermacht so vielfach zu schützen hatten, sind immer biS an die Zahne gewappnet und verschanzt. Es war ein großer Fest- und Feiertag im Lande, der Maria Magdalena zu Ehren, und die Thaler und Dörfer ober» wärts Vellinzona boten daher einen sehr heiteren Anblick. Aus allen Winkeln und von allen Höhen erscholl von den Kirchtürmen und Capellen das feierliche Geläute der Glocken. Ueberall sahen wir Versammlungen sonntägig gekleideter Leute. Die Dörfer waren mit Triumphbogen aus Laub festlich geziert, und vor allen Kirchen waren Vlumenlauben und mit Confitüren beladene Tische aufgestellt. — Wir zogen fast triumphirend wie olim Kaiser Constantius, als er siegreich aus Rhätien in die caninischen Gefilde zurückkehrte, durch die engen Thaler empor. ES war entsetzlich heiß, ein ganz heiterer Himmel, eine völlig stille Luft im Thale. Desto voller aber war die Ader des Ticino von den abschmelzenden Gletschern und Schneeseldern angeschwollen. ES ist in diesen Thalern ein wundervoller Segen der Natur, daß, je heißer und trockner es ist, diese schönen Wasserreservoirs ihr erquickendes Naß dann um so reichlicher spenden. — Je höher wir in den Gebirgen hinter Vellmzona hinaufkamen, desto häufiger und stärker wurden die frischen Wasserfälle, die zu den Seiten von den Bergen herabbrausten. Wir fühlten uns schon bei ihrem Anblick erlabt. Zuletzt verkündete uns fast an jedem AbHange und in jedem Thalhintergrunde eine volle Cascade, daß wir in die Gletscherregion eingetreten waren, und daß hier überall irgend ein noch nicht völlig wegge- Germam'firte Wohnhäuser. 251 schmolzenes Schneefeld oder ein Eismagazin über uns schwebe, dessen Anblick uns die schroffen Thalwände verbargen. Je höher man kommt, desto heimischer wirb einem Deutschen zu Muthe. Immer inehr und mehr südliche Bäume bleiben zurück. Nach und nach erscheinen Fichten und Tannengehölzchen, endlich ganz dichte Nadelholzwalder. — Auch die Häuser wandeln sich nach nordischer Weise um. Die malerische italienische Bauart aus Steinen hört allmälig auf, und die nordische Vauart aus langen Fichtenstammen tritt an ihre Stelle. Zuerst sind es nur Stallungen oder Heuscheunen, die so gebaut sind, während die Wohnhäuser der Menschen daneben noch italienisch ssnd. Endlich werden auch diese, wenn ich fo sägen soll, germanisirt, und ein italienisches Dorf in einem der nördlichen T'halgründe des Tcssin sieht eher einem russischen oder norwegischen als einem sicilianischm Dorfe ähnlich. — Auch sind die Wiesen hier überall so grün und frisch und, wie die Botaniker beweisen, noch viel blumen« und krauterreicher als auf der nördlichen Seite der Alpen. — Auch Kartoffeln, ja sogar Roggen baut ma» hier überall auf den Aeckern. Die Italiener sind sonst nur die Bildhauer und Steinmetzen der Welt. Hier aber in diesen noch immer unerschöpflichen Waldungen des Tessin Pfuschen sie den Germanen, so zu sagen, ins Handwerk, die sonst gewöhnlich die vornehmsten Holzschnitzer und Vretersäger Guropas sind. — Wie die Alemannen im Schwarzwalde, die für Holland Bäume fällen, — wie die Sachsen im Erzgebirge und Thüringer-Walde und die Schlcsier und Polen an der Oder und Weichsel, die für England arbeiten, — wie die Schweizer, Rhatier und «yroler Deutschen, die für Frankreich und Italien hacken und sägen, — eben so sind hier die Italiener, die man sich chrr mit dem Stcinmeifel als mit dem Holzbeil in Berührung und Verbindung denkt, mit dem L52 Die Vorraton. Fällen der Bäume, mit dem Abschälen der Rinde, mit dem Zersägen und mit dem schwierigen Transporte des Holzes in den Vergklüften und auf den Flüssen beschäftigt. „Vorratori" heißen hier die Leute, die sich diesem nördlichen Geschäfte widmen. Sie bilden sogar anf dem Ticino solche Flösse, wie bei uns die Schwaben auf dem Neckar. Nicht bloß die Natur hier wird kuhler, frischer und grüner, fondern auch die Menschen neigen sich in ihrem Wesen augenfällig ihren teutschen Nachbarn zu. In unserem Wagen, der eine gewöhnliche Postkutsche war, wie sie hier von Ort zu Ort fahrt, setzten sich fur eine kleine Strecke von einem Dorfe zum anderen ein paar Leventiner Maochen, deren frische Rosenwangen es ohne Weiteres mit dem Teint der Ver-nerinnen hätten aufnehmen können. — Sie hatten sogar blaue Augen und waren scherzhaft und „lustig" *) wie steierische Sennerinnen. — Ich gedachte hier in den äußersten Nordgebieten der italienischen Nation und Sprache des entgegengesetzten südlichsten Endes Italiens! Wie verschieden von diesen rosenfarbenen blauäugigen deutschelnden Leventinerinnen mögen wohl die schwarzäugigen und braunwangigen, maurisches Vlut in ihren Adern fühlenden Sicilianerinnen sein. Wissen es die Neapolitaner und Palcrmitaner, daß sie hier Landsleute haben, die eben so gut wie die Hyperboräer 6 Monate lang im Winter im Schnee und Eise stecken? — Am meisten kommen sie vielleicht mit den Sicilianerinnen überein in Vezug auf die Vorstellung, die sie sich von einem Deutschen machen. Wenigstens hörte ich einmal in ihren Unterredungen ihnen eine Phrase entfallen, die frappant so klang, wie: „un leäesco drutissimo". — Als ich sie fragte, ob sie hier zu Lande auch so singen könnten wie die ^. *) Siehe S. 247. Urlare uttb cantare, 253 Deutsche» mit Ueberschnappen der Stimme in die Fistel (ich meinte das Jodeln und machte ihnen dieß so gut ich konnte vor), antworteten sie mir: „No »i^nor, yuesw non e ountnrs, lluegtn il urlaio. .1 leäezoni urlnno, m» i .Ituliüni «nn-tana." Sie sagten dieß ganz freundlich und ohne mit dem „ul-Il,!'o" (heulen) für mich etwas Beleidigendes beabsichtigen zu wollen. Es scheint also das „urlnre" hier ein angenommener Ausdruck für unser „Jodeln" zu sein, der den Eindruck bezeichnet, welchen diese bei uns so beliebte Singweise unserer Alpenvölker auf die Italiener macht. Ein italienischer Viehhändler, der bei uns saß, bezeichnete mir diesen Eindruck noch bestimmter, indem er sich in unser Gespräch mit dem Ausruf einmischte: „si! »i! ßiFnai'tt. 60s» 8lraor<1iu»ria! .IT'oäesctii urlano com« i lupi!" (wie die Wölfe). Der interessanteste Mann in meiller Gesellschaft war ein Lombarde, der seiner Gesundheit wegen ins Leuker Bad reisen wollte. Er war aus Mailand gebürtig und gehörte der dortigen mittleren Vürgerklasse an. Es war einer der in der Lombardei so zahlreichen Ingenieure, die bei der Bewässerung und dem Canal- und Brückenbau des Landes thätig sind. — Da wir rechts und links die „Fliwovi^t?" (Gletscher) vor uns hatten, die, als die vorzüglichsten Qurllen der ganzen lombardischen Bewässerung, natürlich sein Interesse im höchsten Grade erregten, so drehte sich unser Gespräch vorzugsweise um die so erstaunlich merkwürdige Bewässerung des Landes, über die er eine Menge praktische Kenntnisse besaß. Nalürlich aber schweiften wir auch zuweilen auf das Gebiet der Politik hinüber, und da man gegenseitig ziemlich offenherzig wird, wenn man so einen ganzen Tag Schulter an Schulter nebeneinander im Wagen sitzt, einsame Thaler durchsahrend, und da ei» Reisender demnach iu entfernten einsamen Thalern über Lander und Städte Geständnisse ver- J Tedeschi urlano, ma i Jtaliani can-tano." Sie sagten dieß ganz freundlich und ohne mit dem „ul-Il,!'o" (heulen) für mich etwas Beleidigendes beabsichtigen zu wollen. Es scheint also das „urlnre" hier ein angenommener Ausdruck für unser „Jodeln" zu sein, der den Eindruck bezeichnet, welchen diese bei uns so beliebte Singweise unserer Alpenvölker auf die Italiener macht. Ein italienischer Viehhändler, der bei uns saß, bezeichnete mir diesen Eindruck noch bestimmter, indem er sich in unser Gespräch mit dem Ausruf einmischte: „si! »i! ßiFnai'tt. 60s» 8lraor<1iu»ria! .IT'oäesctii urlano com« i lupi!" (wie die Wölf?). Der interessanteste Mann in meiner Gesellschaft war ein Lombarde, der seiner Gesundheit wegen ins Leuker Bad reisen wollte. Er war aus Mailand gebürtig und gehörte der dortigen mittleren Vürgerklasse an. Es war einer der in der Lombardei so zahlreichen Ingenieure, die bei der Bewässerung und dem Canal- und Brückenbau des Landes thätig sind. — Da wir rechts und links die „Fliwovi^t?" (Gletscher) vor uns hatten, die, als die vorzüglichsten Qurllen der ganzen lombardischen Bewässerung, natürlich sein Interesse im höchsten Grade erregten, so drehte sich unser Gespräch vorzugsweise um die so erstaunlich merkwürdige Bewässerung des Landes, über die er eine Menge praktische Kenntnisse besaß. Nalürlich aber schweiften wir auch zuweilen auf das Gebiet der Politik hinüber, und da man gegenseitig ziemlich offenherzig wird, wenn man so einen ganzen Tag Schulter an Schulter nebeneinander im Wagen sitzt, einsame Thaler durchsalzend, und da ein Reisender demnach in entfernten einsamen Thalern über Länder und Städte Geständnisse ver- DU Oesterreicher und Lombarden. nimmt, die ein Anderer, der selbst sehr lange mitten in den Städten unter den Leuten selber weilt, zu hören oft gar keine Gelegenheit hat, so waren mir die Aeußerungen dieses Mannes, die er hier inmitten der schönen Natur von sich gab, nicht uninteressant. Im Ganzen zeigte sich mein Nachbar als ein Freund des österreichischen Gouvernements und führte eine ganze Reihe von Wohlthaten auf, welche seinem Vaterlande durch die Verbindung mit dem großen Kaiserreiche zu Theil würden. Die meisten der Handels- und Gewerbtreibenden, meinte er, wären auch, wie er, den Oesterreichern ergeben, da sie nicht nur durch die Verbindung mit diesem großen Reiche, dessen Märkte sie sich nie verschlossen sehen möchten, wohlhabend geworden, sondern auch durch die von den Deutschen gut verwaltete Poli« zei- und Gerichtspflege besser als unter irgend einem italienischen Gouvernement im Stande waren, diese Wohlhabenheit zu genießen. — ,Ms Ingenieur", sagte er, „habe ich viel mit allerlei Behörden des Landes zu thun. Aber ich freue mich immer, wenn ein Oesterreicher an der Spitze einer solchen Behörde steht. Ich weiß dann, daß ich eher auf Gerechtigkeit hoffen darf. Und nicht nur auf diese, sondern auch auf eine viel humanere Behandlung. Die stolzesten, insolentesten und strengsten Beamten sind unsere eigenen Landöleute. Auch sind alle die Branchen der Verwaltung, welche den Italienern selbst und allein überlassen sind, z.V. unsere Communalangelegenheiten, in einem an, wenigsten erfreulichen Zustande". — Dem lombardischen Adel schien er noch weniger hold zu sein als den eingeborenen Beamten, und er verhehlte seine Freude darüber nicht, daß diese hohen Herren von den Ocsterreichern in bescheidenen Schranken gehalten würden. Er schien es dagegen sehr zu fürchten, daß noch einmal eine Zeit kommen könnte, wo die lombardischcn Der lombardische Adel. 255 Großen wieder, wie ehemals, in der Lombardei herrschen würden. „Ich theile", sagte er, „unserenAdel, der übrigens außer seinem Hasse gegen Oesterreich gar keine eigene politische Meinung hat, bloß in zwei Classen, i)in solche, die Maitressen halten, und Carrossen und Pferde lieben, und 2) in solche, die Geld und Gold und Silber und Schätze und Vankscheine und Pretiosen und Capitalien zusammenscharren, d. h. in Verschwender und in Geizhälse. Zwischen beiden giebt es eine nur wenig zahlreiche Classe. In unserem Adel spukt noch jetzt der alte tyrannische Geist der Visconti, der Rusconi*) und der Scaligeri, und am meisten wären sie dazu gestimmt und geeignet, die alten kleinen Despotieen in unseren Städten wieder herzustellen. Sie haben keine Idee davon, welche tragische Geschichten noch heutigen Tages in diesen Familien sich ereignen. Hat doch noch neulich ein X........ein kleines Kind während der heiligen Handlung der Taufe umgebracht. Er hielt es zur Taufe, ließ es aber, wahrend der Priester es segnete, fallen und brach ihm so vag Genick. Niemand kann ihn beZ freiwilligen Mordes überführen. Aber wir wissen Alle, daß der kleine Täufling ihm sehr im Wege war, und daß er dachte, so bequem würde er ihn wohl nie wieder in seine Hände geliefert bekommen". — Da nun der Fall eingetreten ist, daß die Oesterreicher verjagt und die lom-dardischen Edelleute die Herren im Lande geworden sind, so mögen die Ansichten meines Reifegefährten, wenn sie etwas Wahres enthalten, interessant sein in Vezug auf das, was wir von dem künftigen Zustande der Lombardei zu erwarten haben. — Uebrigens gebe ich sie nur als die besonderen Ansichten eines Individuums oder einer Classe von Menschen, ohne zu entwickeln, was sich auf jene Aeußerungen etwa erwidern ließe. l) Die alten Despoten von Como. 256 Livnnen. Je weniger mein Freund für den lombardischen Adel eingenommen war, desto mehr war er es für sein vaterlandisches Ve« wässeruugssystem. „Universulmentn", sagte er, müsse es in aller Welt eingeführt werden. Er schien sich gar kein Land und keinen Ackerbau ohne die Irrigazione denken zu können. Und mir fielen dabei die schottischen Ackerbauer ein, die alle Lander tief verachten, in denen noch nicht ihr gepriesenes „Subdrainage-system" üblich ist. Von VeNinzona an nordwärts heißt das Thal des Ticino die „Leventina", auf deutsch „Livinien." ES ist ein uraltes Kampfgebiet zwischen Italienern unb Deutschen, so wie der Schauplatz eines eben so langen und wilden Naturkampfes. Fast jeder Ort ist durch eine Schlacht zwischen den Urschweizern und den Ticinesen berühmt, und fast jeder Thalwinkel tragt Zeugniß und Spuren an sich von einer Zerstörung durch Wasser oder Feuer, durch Flüsse oder Bergstürze. — Man erhebt sich zum St. Gotthard von Thalstufe zu Thalstuft. Jede Thalstufe bildet einen eigenen Abschnitt in der Natur, hat ihre eigenthümliche Vegetation und Ackerbauwirthschaft. Auch bildet jede Thalstufe eine eigene politische Abtheilung, eine eigene Gemeinschaft (Vicinl»n2l>), und auf jeder Stufe in der Mitte liegt ein kleiner Hauptort: Giornico, Faido, Quinlo und endlich Airolo. In Airolo (deutsch: Eriels) übernachteten wir, 400N Fuß über dem Meere, a-m Fuße des St. Gotthard. Seine Gristenz und Wohlhabenheit verdankt es dem uralten Passe über diesen Verg. Auch seine Berühmtheit, denn weil die nordischen Reisenden hier zuerst Italien erfassen, oder die Italiener hier ihrem schönen Vaterlande das letzte Lebewohl sagen, so bleibt es Jedem im Gedächtnisse. Es giebt am Fuße der Alpen hier eine ganze Reihe solcher kleiner Passageorte, die aus denselben Ursachen Deutsches im oberen Tesstn. 257 einen so großen Namen haben, z. V. Simpeln (am Simplon), Airolo, Splügen, Worms (am Stilfser Joch), und welche sich alle außerordentlich ahnlich sehen, — lauter kleine hölzerne Fuhrmanns- und Gastwirthdörfer, in öder Hochgebirgsgegend, vollgepfropft mit Waaren und Wagen, stets wimmelnd von Fuhrleuten, Reifenden und Zollbedienten und wiederhallend von ihrem Halloh und Getümmel. Zur Uebersteigung der hohen Alpenkette sind immer ähnliche Vorbereitungen nöthig, wie bei der Einschiffung am Nande des Oceans, und man trifft hier also ein ahnliches Leben, wie in den kleinen Hafenplätzen an der Küste des Meeres. — Die Leute in den Wirthshausern sprechen sowohl deutsch als italienisch. Und zuweilen begegnet man zwei Menschen, von denen der eine laut italienisch und der andere eben so laut deutsch conversirt. Der eine mischt einige italienische Wohllaute, der andere einige teutonische Mißlaute seiner Muttersprache bei, um die Sache seinem Freunde verständlich zumachen. — „Die Menschen in Airolo", sagt ein italienischer Schriftsteller, „und auch die in Faido und in einigen anderen Orten der Leventina haben die nuffallcnoe Sitte, daß sie in der Nacht die Stunden durch einen Mann ausrufen lassen, welcher zugleich auch auf die Feuersbrünste merken muß." — Also auch diese gute alte deutsche Sitte, die, wie durch ganz Deutschland bis nach Dänemark hinauf, so auch in der ganzen deutschen Schweiz herrscht, hat hier, wie die oben citirten Worte, wie die hölzernen Häufer die Alpen überstiegen und ist auf einige Meilen weit in Italien eingedrungen. Wenn der Deutsche einen Nachtwächter auf der Straße fromme Nachtlieder singen hört, so weiß er gleich, daß er sich seinem lieben gemüthlichen Vaterlande nähert. — Wie sehr das Institut der Nachtwächter deutsch ist, zeigt sich auch daran, daß die Nachtwachter hier in diesen italienischen Ortschaften dieStunden auf Deutsch abrufen. 258 Das Vedrettothal. Dasselbe ist in vielen slavonischen, magyarischen und kroatischen Ortschaften der Fall; auch in ibnen ist die Sprache der Nacht« wächter das Deutsche. Wenn ich mich recht besinne, so erhob sich aber vor wenigen Jahren in Ungarn eine große Opposition gegen diese unpatriotische Nachtwachtersprache, und die Leuie mußten sich in vielen Orten magyarisiren. — Nie die Nachtwächter, so haben die Liviner Burschen auch die Sitte des Kiltganges aus der deutschen Schweiz und nebenher noch manche andere deutsche Gewohnheit adovtirt. 17. Aus dem St. Gotthard. Das letzte Stück des Tessinothales oder der Leventina heißt das Vedrettothal (Virkenthal). Es harmonirt in seiner Beschaffenheit außerordentlich mit dem Urserenthale auf der Nordseite des Gotthard. Wie dieses erstreckt es sich von Osten nach Westen, ungefähr in derselben Größe. — Wie dieses ist es ein von Metschern häufig heimgesuchtes, bloß mit Niesen gesegnetes Hochalpenthal. Wie dieses erhebt es sich mit seiner Sohle etwa 4500 bis 5000 Fuß über daS Meer. Die Quellen der Reuß liegen dort, wie die des Tessino hier ganz in derselben Höhe. Wie man nach Westen aus dem Urserenthale über die Furka nach Waliis kommt, so kommt man aus demVedretto-thale im Westen über die Nuffenen dahin. Veide Pässe sind ungefähr gleich hoch, über 7000 Fuß. — Da die AbHange des Gotthard aber nach Süden schroffer sind als nach Norden, so ist das Vedrettothal etwas enger als das bequemere Val Tremola. 259 Urseren. — Zwischen diesen beiden Thälern in der Mitte liegt nun die Hauptmasse des St. Gotthard mit ihren zahlreichen Spitzen. — Da ich das Glück hatte, in Airolo mit dem Priester des St.Gotthardhospizes, dem einzigen gebildeten Menschen, der das ganze Jahr hindurch jene Höhen bewohnt, bekannt zu werden, so machte ich mich in semer Gesellschaft zu Fuß auf den Weg dahin. Wir erhoben uns auf einem kleinen Gebirgspfade, der direct den Berg hmanlief und alle die vielen Windungen der Fahrstraße abschnitt. Im Val Tremola, das sehr felsig und eng, und wo kein Ausweichen möglich ist, vereinigte sich unser Fußweg wieder mit der Fahrstraße. — Dieß Val Tremola, das der zahlreichen Lawinen wegen im Frühling und Winter «ine gefährliche Passage ist, hat seinen Nameu vielleicht vom italienischen „ lrenwlnl-o " (vielleicht aber auch vom deutschen Trümmern oder „trümmern"; es wird auch Val Tremiora genannt). Es giebt ein ganz ahnliches wildes, mit Stein- und Lllwinentrümmern stets erfülltes Thal am Fuße der Jungfrau, das einen ähnlichen Namen hat. Es heißt „das Trümmelten-thal." Und ich will hierbei bemerken, daß, so wie an der ganzen hohen Alpenkette hin, so weit Deutsche und Italiener mit einander gränzen, einzelne südliche Worte in die nordische Sprache übergingen und umgekehrt nordische Worte in die südliche Sprache, so auch insbesondere einige Namen von Bergen, Flüssen und Städten auf beiden Seiten der Gebirge vorkommen. — So heißt z. V. der italienische Fluß Toccia im großen For-mazzathale beiden Deutschen, die seine Quelle bewohnen, der Tosen, und dieß deutsche Wort, das von „ tosen ", „ toben ", abzuleiten, haben dann Vie Italiener vermuthlich in Toccia verwandelt. So haben die Italiener den deutschen Namen der Rhone, der ursprünglich „Rotten" heißt, in „Rodano" umgewandelt. So giebt es im Italienischen einen Monte Spitz (vom 260 Italienisches nördlich der Alpen. deutschen „Spitze"). So heißt ein Theil des Gotthard' Ug-äannn l>i I.eit (vom deutschen „Leit", die „Leite", d. h. eine mit Gras besetzte längliche Bergstrecke). Eo giebt es im Nor» den der Alpen eine Stadt Luzern und im Süden eine Stavt Luzerna und eine andere Locarno. So giebt es im Norden ein Vern und auch im Süden: Verona, von den Deutschen Bern genannt. Das deutsche Urscrenthal im Norden hat vermuthlich vom italienischen „Urso" (der Bar) seinen Namen. (Die Urseler führen noch heutiges Tages einen Bären im Wappen.) Kann man sich nun noch darüber wundern, daß die Italicner, wenn ste einen Versuch dazu machen, den Gotthard zu «bersteigen, und wenn sie dabei auf Massen von Schnee und Eis treffen, und ihnen noch dazu ein kalter Boreas aus Deutschland entgegenblast, und wenn sie, zuerst den Fuß auf deutsches Gebiet setzend, sofort auf ein Volk treffen, das sich selbst „Urseri" (Värenleute) nennt *), — kann man sich da wundern, sage ich, daß die Italiener sich eine so barbarische Vorstellung von unserem Lande macheu, — und dazu, wenn diese Leute gar noch „ jodeln " („ urlane onmo i lupi"). Jene geschickten Maurer, Architekten, Maler, Glaser aus dem Tessin, die ich oben erwähnte, gehören zu den am häufigsten auf dem Gotthard Passirenden Reisenden, und sie haben, wenn sie im Herbste von ihren „Campagnen" zurückkehren, am meisten von den Schrecknissen des Val Tremola und der anderen wilden Schluchten dieser Gegend zu leiden. Alle Jahre büßen einige von ihnen hier, in der Nahe ihrer Heimath, wie zurückkehrende Schiffer, die vor dem Hafen scheitern, ihr Leben ein, man sagt jahrlich 4 bis 5. — Ueberschaut man die Chronik der Lawinenunglücksfälle in diesen Gegenden, so findet sich's, daß *) Vrsni heißen bei den Italienern die Urner. Der Name St. Gottharo. 261 diese Leute hier zuweilen schaarenweise vertilgt wurden. Ein Theil des Tremolathales heißt noch jetzt „il Lueo äß ^sln«. clietti" (das Loch der Calanker), weil hier einst ein großer Trupp von Glasern aus dem Calancathale, die aus Frankreich zurückkehrten, von einer Lawine verschüttet wurde. — „Im Jahre 1624", heißt es in jenen Chroniken, „begrub eine Lawine am Val Tremola eine Carawane von 300 Personen", — „im Jahre 1816 eine andere einen Zug von 40 mit Waaren belade« nen Wagen, mit ihren Pferden und Fuhrleuten." Jedes Schulkind in Deutschland weiß sofort, wenn man es fragt, was und wo der St. Gotthard sei, den Punct auf der Karte nachzuweisen. Es ist sonderbar, daß aber der Reisende, wenn er nun selber an Ort und Stelle gelangt, am Ende bemerkt, daß er kaum genau ausmachen kann, was und wo dieser St. Gotthard ist, und an welchem Erdgebilde dieser Name hafte. Von den hohen Vergkolossen, welche er dort oben findet, heißt keiner St. Gotthard, sie heißen Fibia, Fiendo, Prosa, Stella u. f. w. Ein Verg St. Gotthard ist gar nicht sichtbar. Zuerst soll der Name bloß eiuer kleinen Kapelle eigen gewesen sein, die im 14ten Jahrhundert von den Aebten dcs graubündenschen Klosters Disscnliö hier gestiftet wurde, und dem heiligen Gotthard geweiht war. Nach dieser Kapelle benannten nun die Leute allmalig den ganzen Paß oder das Thalbecken, durch welches der Weg hier oben führt, und das bis auf eine Tiefe von circa 7000 Fuß über dem Meere hier zwischen höheren Felsmassen emgeschnitten ist. Man spräche daher rich« tiger von einem St.-Gotthards-Thale als von einem St.-Gott-Hards-Verge. Nachher aber ist dieser von der kleinen Kapelle ausgehende Name von den Geographen noch weiter ausgedehnt worden. Nie weit? ist eigentlich gar nicht zu bestimmen. — Aus dem Laufe der nach allen Weltgegenden abfließenden Flüsse 262 Hauptmasse deß St. Gotthard. haben sie erkannt, daß hier eine gewisse große mächtige Erdwarze liegt, von welcher die kleine St.-Gotthards-Kapelle mitten zwischen nach Süden und Norden abfließenden Gewässern un« gefähr das Centrum einnimmt, und dieser gewissen Grdwarze, oder dieser unbestimmbaren Grdanschwellung, die eigentlich dem physischen Auge als ein bestimmt geformtes Gebilde nirgends sichtbar wird, die nicht weniger als 17 Hochthäler und ein Dutzend hoher Berggipfel auf ihrem Rücken trägt, von der 8 oder 9 mächtige Gletscher und 6 große Flüsse herabkommen, und in deren Runzeln und Schluchten sich 30 kleine Alpenseen verkriechen, haben sie dann den Namen jenes Centralpuncteö beigelegt. Vielleicht steigt auch der Name Gotthard, wie Einige sicher glauben, noch in uralte Zeiten hinauf und hangt mit dem Namen „ Unn» .lovis ", welchen die Nömer für diese Höhe gehabt haben sollen, zusammen. Gewiß ist es, daß schon in den urältesten Zeiten dieser Verg oder vielmehr dieser Vergeinschnitt als Paß benutzt wurde. Hierfür, so wie auch dafür, daß in der Zukunft diese Passage eine der hauptsachlichsten in den Alpen bleiben wird und muß, bürgt ihre Position und die ganze Ge« ftallung der Umgegend. Man ziehe einmal auf der Landkarte 20 Meilen rechtS und 20 Meilen links vom Gotthard Linien von Norden nach Süden durch die Alpen, d. h. also in der Richtung, die der Verkehr zwischen Deutschland und Italien hauptfächlich einzuhalten hat, so wird man finden, daß alle diese Linien zwei große Gebirgszüge durchkreuzen, und daß, wenn man ihnen als Verkehrsstraße folgen wollte, man also zweimal hohe Rücken zu Passiren hatte. Da die doppelten Oebirgszüge von Osten und Westen her am Gotthard wie in einen Knoten zusammenlaufen, so ist er auf dieser Strecke der einzige Punct, wo man, jene Richtung verfolgend, nur einmal Meterologic der Alpen. 263 eine solche schwierige Passage zu überwinden hat. DaS Reuß-thal auf der einen und das Tessinothal auf der anderen Seite laufen in nordsüdliche Richtung hier zusammen und bahnen die besagte Straße an. Ich verweilte oben einen Tag, leider einen zu schönen und klaren. Denn mit der wilden Zerrissenheit der öden Natur, die in diesem hohen Schlunde herrscht, steht ein wolliger Himmel in viel besserer Harmonie als ein blauer und sonniger. — Neben dem alten Hospiz, in dem ein sogenannter „Spittler" wohnt, ist jetzt noch ein neues großes und gutes Wirthshaus errichtet, in welchem auch mein Pfarrer wohnte. Dieser junge Mann hatte seit einigen Jahren hier Wittenmgsbeobachtungen angestellt. Doch waren fle nicht besonders ernstlich geführt worden, und selbst das Wenige, was er aufgeschrieben hatte, war noch wenig, wie er mir sagte, von Gelehrten benutzt. Er sagte, er stände mit keiner Gelehrtengesellschaft in Korrespondenz, keine Universität, keine Akademie habe ihn zu Mittheilungen aufgefordert. Sollte aber dieß einmal geschehen, so würde er gerne seine Beobachtungen eifriger fortsetzen. — Begreift man eine solche Vernachlässigung in der für so ausgebildet verschrieenen Gelehrten-Republik unserer Zeit? Daß die Meteorologen den Gotthard auf diese Weise aufgeben, ist eben so unverzeihlich, als wenn ein Staatsregiment z. V. eine wichtige Festung unbesetzt lassen wollte. Die einzigen seit einer Reihe von Jahren fortgesetzten Witterungsbeobachtungen aus den hohen Alpenpuncten haben wir von den Geistlichen auf dem großen St. Bernhard. Sie werden regelmäßig alle Monate in der trefflichen Llkliotnequo univei>8t)llo ll« Lenevo, einer der Hauptquellen der Alpenkunde, publicirt. Gn dem St.-Vernhard-Hospiz ähnliches Observa» torium sucht man in der ganzen Alpenkette vergebens. Seit Wahlenberg bewiesen hat, daß die Flora dieser hohen 264 Die Kalte auf dem St. Gotthard. Gebirge mit der Lapplands, Grönlands, Sibiriens so viele Aehnlichkeit hat, denkt man sich die Ninterkälte auf diesen Bergen auch gewöhnlich entsetzlich grön-lappländisch, — täuscht sich aber darin. Denn es ist ein höchst merkwürdiges, aber ausgemachtes Factum, daß in diesen Höhen ein äußerst gemäßigtes Klima herrscht. Es ist hier weder im Winter so kalt, noch im Sommer so heiß wie in den Thalern und den Ebenen. — Selbst in den strengsten Wintern sinkt das Barometer höchst selten bis auf 20" herab, was doch in München und anderen deutschen Orten gar nichts Seltenes ist. In den Ebenen und Thälern, wo der Kalte und Warme erzeugenden Gegenstände viel mehr sind, schwankt das Thermometer weit häufiger zwischen den Ertremen. Es ist zu vermuthen, daß in noch größeren Höhen eine noch gleichmäßigere Temperatur gefunden wird. Nicht bloß die Fremden, sondern auch die Schweizer selbst haben gewöhtllich übertriebene Vorstellungen von der Kalte ihrer Berge, was wohl daher kommt, daß schon ein geringerer Kältegrad auf den Bergen für den sich dort abmühenden und häufig ermattenden Menschen viel gefahrbringender ist. Als am Ende des vorigen Jahrhunderts die Nüssen in diesen Gegenden streiften, mochten sie sich hier ganz heimisch fühlen und manchen Schweizers Uebertreibungen verlachen. Der Pfarrer zeigte mir seine kleine Kapelle und die Einrichtungen zur unentgeltlichen Aufnahme und Verpflegung der Armen unter den Reisenden. Vs sollen jährlich deren nicht weni' ger als 4000 den Gotthard passtren. Meistens sind es Vetl. ler, oder Handwerksburschen, oder Heimachslose, wie sie in der Schweiz häufig von Canton zu Canton ihr geplagtes Leben herumschleppen. Von allen Gattungen von Reisenden sollen jährlich 20,000 über den St. Gotthard gehen. I„ jener Kapelle wird der Gottesdienst ebenfalls wie in dem größlen Theile des Die Urner und Tesstner. ItzH Tessin nach dem Ambrosianischen Ritus gehalten, der bekanntlich eine besondere katholische Gottesdienstform ist, die von Mailand ausging, in der ganzen Lombardei angenommen wurde und auch im Canton Tesfin bis hier hinauf zum St.-Gotthard-Hospiz herrscht. Die Höhe des St. Gotthard gehört nämlich noch den Italienern. Italienische Hirten weiden hier ihr Vieh, italienische Geistliche und Wirthe bewirthen die Fremden, und italienische Doganisten (Mauthbeamte) untersuchen ihre Waaren. Im Sommer belauft sich die ganze italienische Bevölkerung des Et. Gotthard, Knechte, Ziegenhirten und alles Andere mit gerechnet, auf nahe an 100 Menschen. Auch beim Splügen haben die Italiener die Höhe des Passes inne. Beim Simplon aber ist der höchste Rücken von Deutschen besetzt. Vielleicht ist der Umstand, daß die Mailänder Erzbischöfe, namentlich die Vorromeo, sich zuerst der Errichtung eines Ho-spiciums annahmen, die Ursache davon, daß diese Höhe an die Italiener kam. Nebrigens giebt es hier auch immer zwischen den deutschen und italienischen Hirten kleine Granzstreitigkeiten, die fortwahrend seit Jahrhunderten unentschiedene Fragen geblieben sind. Ohnedieß ist auch noch das Feuer der Eifersucht der urner Deutschen gegen die Ticinesen, die einst ihre Unterthanen waren, nicht völlig erloschen, und es war daher ziemlich natürlich, daß das erste Vlut in dem schweizer Sonderbunds-tnege hier auf der Höhe des St. Gotthard vergossen wurde. Ich erinnere mich noch, wie mich, einen erklärten Friedcnsmann und ein begeistertes (leider getäuschtes) Mitglied der London-Pariser Friedensgesellschast, die Nachrichten von den ersten hier gemordeten Menschen empörten. Nun seit dem stnd wir denn schon wieder an mehr Blutvergießen gewöhnt und nicht mehr so empfindsam wie damals. — Man könnte fast sagen, die kriegerische Volksbewegung dieser 6 Monate habe hier avf dem Kohl. Mxnreistn. II. 12 266 Die italienische Schweiz. St. Gotthard zu allererst begonnen, wie der Rhein hier beginnt, und habe dann, wie dieser, ganz Europa durchzogen. Wie die Urner ihre Eifersucht, so haben die Tesfiner ihren alten Schlecken vor ihren ehemalige» Herren noch nicht vergessen. Die Urner besetzten den Gotthardgipfel ohne viel Mühe, stürmten nach Airolo hinunter und verbreiteten wie ein Nordfturm Angst und Entsetzen in den tesstnischen Thalern, in denen fast jeder Ort noch jetzt das Andenken an einen ihrer Siege über die Italiener tragt. Als das alte Horn von Uri auf dem Gotthard ertönte und der urner Stier dort sich drohend erhob, erzitterte die ganze italienische Schweiz, ahnlich wie der freigelassene Sklave im Lucian, der die Peitsche seines alten Herrn knallen hört und zusammenschrickt. — Die Tessiner lieben die Urner nicht, wie überhaupt die Italiener die Deutschen nichtlieben. Und sollte sich das ganze große Italien, wie es jetzt den Anschein hat, wirklich bald als eine einige und freisinnigen Institutionen huldigende Macht hinstellen, so könnten wohl die Tefsiner sich einmal ganz uon der Schweiz lostrennen und sich der Lombardei auch politisch anschließen, mit der sie ohnedieß schon alle anderen geistigen und materiellen Interessen gemein haben. Sie baben früher gewöhnlich zu den Staaten im Pothale gehört und sind nnr durch schweizerische Eroberung davon losgetrennt worden. Enthusiasmus und Sympathicen für die Eidgenossenschaft sind bei den Tessinern weniger eingewurzelt als in der französischen oder deutschen Schweiz. Die deutsche und die französische Schweiz sind unter einander durch hundert gemeinsame Faden viel inniger verwebt, und sie werden so leicht nicht aus einander fassen. Die italienische Schweiz ist aber ganz für sich gesondert, durch den höchsten Alpenkamm von dem übrigeil Helvetien geschieden, von diesem sehr wenig gekannt, mit ihm Der See von Luzendro. HM in sehr geringem Verkehr, ein fast unnatürliches Anhängsel, das einmal leicht wieder abfallen wird. Ich besichtigte die kleinen Seen der Ootthardhöhe und machte einen Ausflug zu dem größten derselben, dem Lago Luzendro. Auch der italienische Name dieser Seen, so wie die Namen der Vergspitzen Fibia, Orstno, Piosa, alle bezeugen, daß hier oben wohl Alles altitalienisch ist. Man sollte daher auch streng genommen den Berg San Gottardo heißen, wie die italienischen Bewohner ihn nennen. — Die kleinen Seen, aus denen die Reuß auf der einen, der Ticino auf der anveren Seite ihre Quellen beziehen, liegen so nahe bei einander, daß bei heftigen Stürmen der Wind das Wasser aus dem Ticinosec in denNeußsee hinüberführt, oder umgekehrt, und sich so die Wellen und der Schaum beider Flußsysteme mit einander vermischen. — Im graniüschcn, rauhen Grunde des Gotthardthales irren mehre kleine Gewässer, bcwnders zur Zeit der Schneeschmelze, herum. Diese wilden kleinen Gewässer stießen, je nachdem sie stch Vahn brechen und je nachdem sie ihr Flußbett so oder so verändern, bald den Lagunen Venedigs, balv den Poldern Hollands zu. W giebt hier auch zwei kleine Seen, die, wenn das Wasser sehr hoch anschwillt, nur ein einziges Veckcn bilden, aus dem dann zugleich dem adriatischen und dem deutschen Meere Wasser zufließt. Der See von Luzendro liegt eine halbe Stunde seitwärts vom Hospiz in einer völlig öden Thalkluft, in deren Hintergrunde der Luzelldrogletscher herabsteigt. Vor der Mündnng des Thales häufen sich Granitfelsen auf, so daß der See völlig versteckt ist. Nach allen Seiten hin steigen die Erdmasfen in mächtigen Gelände», mit Urtrümmern überdeckt, zum Himmel empur. Es steht in vielen Büchern, daß dieser See köstliche Forellen nähre. Der Hospizwirth, der mich begleitete, fagle, 26s Sommerzeit auf dem Gotthard. bis 1798 hatte man Fische darin gefunden, seitdem nicht wieder. Er habe schon zweimal neue hineinzusehen versucht, aber vergebens; sie seien wieder ausgestorben. Die Leute deuten dieß auf eine fortschreitende Verschlechterung und Erkaltung des Klimas. In vielen Büchern heißt es auch, daß jedes Jahr im Durchschnitt 6 bis 8 Personen auf dem Gotthard von Lawinen getödtet würden. Pfarrer, Spittler und Wirth sagten mir, in den letzten 10 Jahren wüßten sie nur von 6 Verunglückten. An den Küsten von Novaja Semla und Spitzbergen ist der Sommer nicht kürzer als an diesem Luzendrosee. Wir hatten jetzt Ende Juli, und der Frühling hatte noch nicht sehr lange be« gönnen. Anfangs August ist hier die beßte und reichlichste Vegetation. Gewöhnlich bleiben hier die Leute 2V2 Monate oben, also ungefähr eben so lange, wie die Fischer der Russen, Norweger und Lappen am Nordkap bleiben. Es sind aber schon Jahre gewesen, in denen Hirten und Heerden hier nur 30 Tage aushalten konnten, weil früh einfallender Schnee sie wieder vertrieb. Wir kletterten, Pflanzen suchend, an den Abhängen der Fibia hin. Die Hirten, welche wir dort fanden, sagten, sie wären erst feit 8 Tagen hinaufgekommen. Giner von diesen Hirten hatte seinen kleinen 10jährigen Sohn bei sich, der uns durch seine Keckheit nicht weniger als seine Ziegen, die er hütete, erfreute. „Wenn eine Ziege sich verklettert hat und nicht weiter kann", sagte der Vater, „so schick ich meine» Buben hin, der muß sie holen."— „Hast du denn keine Furcht, Kleiner, uon den Felsen zu fallen?" fragte ich ihn. — Er lachte bloß, mit seiner PeitschedieVlumen vor sich köpfend, und schwieg still. Der Vater antwortete für ihn: „O nein, Herr, der hat keine Furcht; denn er ist als Säugling mit Ziegenmilch genährt worden, das giebt Verggeschick und Muth." „I^n!»« paui-i» lli oor-vello" (er hat keine Gehirnfurcht — Schwindel), sitzte er hin- Dcr Fvhn auf dem Gotthard. 269 zu, „«on I,n ooi-vollo! — Ich glaube, der Vube hat gar k»in Gehirn." Merkwürdig war eS mir, daß die Leute hier alle von den Schrecknissen des Föhn so wenig zu erzählen wußten. Sie sagten, er sei hier auf dem Gotthard nie stark. Und doch muß dieser Wind den Gotthard ftassiren, bevor er in die nördlichen Schweizerthaler kommt, wo er gewöhnlich mit so sehr gefurchtster Heftigkeit einfallt. — Auch in den oberen Thalern des Ti-cino, auch bei Airolo war es mir schon aufgefallen, daß dort die Leute ihre hölzernen Dächer gar nicht mit so schweren Steinen belastet hatten, wie die Urner und Glarner im Norden derAlpen, die diese Maßregel des Föhns wegen für durchaus nöthig halten. — Als ich sie fragte, ob sie auch glaubten, daß das Klima hier oben sich immer verschlechtere, gab einer der Hirten, nachdem er sich besonnen und geräuspert, mit einer Art Feierlichkeit und mit ernsten Mienen in sonderbar gedrechselter Phrase den entschiedenen Ausspruch' „5i si^naro! äopo il oorso oräinÄrio (nach deni gewöhnlichen Verlaufe) si 6ov« erector«, one il elim» üiviens z»iu srvääo? In «ampiesso »i, «i^noro! (Im Complet muß man die Frage bejahen, mein Herr!)" Dieser italienische Hirte, dachte ich, spricht wie ein Professor, und als hätte er die Fibia zu seinem Katheder erkoren. Im Fremdenbuche des St.-Gotthard-Hospizes fand ich kein Memorandum, das mich mehr rührte als eins, das von 4 Schweizercapuzinrrn herrührte. Es lautete ungefähr so: „Wir unterschriebene 4 Capuziner aus dem Canton Schwyz haben, von unserem Obern entsendet, das ganze schöne Land Italien durchstreift. Aber Traurigkeit und Sehnsucht nach dem Vaterlande wohnte in unseren Herzen. Erst hier auf dieser Höhe im Anblick unserer heimathlichen Alpenwelt verließ unS der böse Dämon der Melancholie. Hier sind wir völlig genesen, 270 Frembenßuth. u»d Trost und Freude zog ein in unser Gemüth. Wir danken dem Herrn für das uns geschehene Heil und für eine glückselige Heimkehr!" — Also culch in der Vrust dieser vielangefemde-ten Mönche schlägt ein warmes und patriotisches Herz! — Möchten doch solche Anzeichen uon den oft sehr unbarmherzigen Verfolgern der Mönche mehr beachtet werden und sie zur Milde und Bruderliebe stimmen. 18. Das Urserenthal. Die große Fluth von Reisenden, welche in, Sommer alle Thäler der Schweiz anmuthig belebt, brandet gleich bis hart an den Fuß des St. Gotthard hinan, lieber diesen Paß hinaus kommen von den vielen tausend Schweizcrreisendcn nur wenige, und diese wenigen haben dann schon ein weiteres Ziel, Mailand, Rom ic. Die deutschen Fußreisenden wagen sich selten in die italienische Schweiz hinein. Ihre unvorlheilhaften Vorstellungen von der Unsicherheit der Straßen und die fremde Sprache mögen sie davon abhalten. Der Canton Tessin ist daher der am wenigsten besuchte und bekannte Theil der Schweiz. Man reist meistens allein durch seine einsamen Thäler. Der Postwagen, die Waaren-« und Frachtwagen, oder die Reisecalesche einer reichen, nach dem Süden pilgernden Familie bilden fast die einzige Passage feiner Heerstraßen. Dieß wurde Asses anders, so wie wir in das grüne Thal Urseren hinabgekommen waren. Da war ^eben und Bewegung überall. Es war gerade die Zeit der höchsten Fluch der Alpen-reifelust. Alle Wirthshäuser waren voll mit Europäern aller Die Touristen. 271 Galtung. Schon auf der Gotthardstraße begegneten wir Spaziergängern, die wenigstens bis auf einen gewissen Punct sich dem berühmten Passe zu nähern wünschten. Am Wege trafen wir ein deutsches Ehepaar. Er wandelte botamsirend umher, und sie saß im Grase die Blumen putzend und in die Kapsel bergend. — Auf jedem Felsen saß eine zeichnende Engländerin, um eine rasche Skizze von diesem Winkel der Welt in ihr Album zu bringen. — Auf der Hauptstraße im Thale bewegten sich Karavanen von Lustreisenden aufwärts und abwärts. Aus den Straßen und Häusern des kleinen Ortes Hospenthal erschollen die Instrumente und Stimmen uon Sängern und Musikern. Kurz es sah hier aus, wie am Oster-sonntagsmorgen in der Umgebung jeneö deutschen Stadtchens, aus dem Doctor Faust mit seinem Famulus ins Freie hervor-pilgerie. — Dieses lebhafte Treiben dauert in diesem Alpen-thale drei Monate hindurch ohne Unterbrechung fort. Dann kommt bald wieder die kalte Jahreszeit und deckt das Thal für 8 Monate mit Schnee zu, und Alles ist so still und ausgestorben, wie in einem Todtenhause. Die meisten Menschen nehmen ein Aergerniß an diesem geselligen Treiben in dieser schönen und erhabenen Gebirgsnatur. Sie eifern auf den Schwall der neugierigen Touristen, zu^enen sie selber gehören. Sie sehen sich unter einander mit spöttischen Blicken an und sehnen sich seufzend nach einsamen Thälern und versteckten, noch unbesuchten Höhen, wo sie sich ungestört dem Genuß des Erhabenen hingeben könnten. Sie klagen, daß der Mensch nun auch hierher und überall hinkomme mit seiner Qual und seiner Thorheit und die Natur nicht mehr vollkommen sei. — Allein man kann, deucht mich, auch dieser Sache eine wohlthuende und heitere Seite abgewinnen. Kommt man aus Italien und den einsamen Thälern des Tessin, so ist man be- 272 Die Touristen. sonders geneigt, dieß friedliche Getümmel deutscher und überhaupt nordischer Landsleute von ganzem Herzen willkommen zu heißen. Da sind ja Tausende von gebildeten Menschen im Namen der Natur, im Namen einer freundlichen Gottheit, zur Verfolgung eines unschuldigen und eines erfreulichen Zweckes beisammen. Ist dieß nicht eine sehr ansprechende und wohlthuende Vorstellung? — Im Namen welcher ernsten oder welcher frivolen oder welcher eigennützigen Gottheiten sind wir doch auf unseren Börsen, auf unseren Märkten, in unseren Tanzsälen, bei unseren Theetische» beisammen! Wo haben wir denn anmuthigere Vereine und Gesellschaften als die, welche auf den Spitzen der Alpenhörner, am Fuße der Gletscher aNe Jahre aus allen Theilen Europas sich einfinden? Fragt man einen Jeden, was ihn hierher trieb, so wird man fast immer irgend einen lobenswerthen, oft einen das Herz rührenden Anlaß hierzu finden. Zerlegt man die Elemente, aus denen jene Vereine bestehen, so wird man weit seltener auf bloß müßige, reiche Günstlinge des Glücks stoßen, die nur in die Alpen kommen, um mit den Gletschern und Wasserfallen gegen die Plage der Langenweile zu Felde zuziehen. Vald ist es ein englischer Lawyer, der im räucherigen London seine Richtcrrobe und seine Perücke zurückließ, um frische Alpenluft zu athmen. Ihm ist nur eine kurze Frist von 4 Wochen gegönnt, und er füllt eilig seine Lungen, seine Augen und sein Gedächtniß mit frischer Luft, mit schönen Ansichten und Erinnerungen, nut denen er dann, wer weiß auf wie lange/ sein prosaisches Leben würzen muß. —Vald ist es ein liebendes Pärchen junger eben vermahlter Eheleute aus einer norddeutschen Stadt, die ihre Honigmonate in den Alpen feiern. Er läßt sie in einem Palanquin wie eine Königin über die Verge tragen und geht selber zu Fuß nebenher. Wie lieb- Schweizer-Albums. 2M lich vermischt sich ihr Jubel über die schöne Natur mit dem Entzücken, das sie aneinander finden. Da hat sie auf Schritt und Tritt Veranlassung, ihre liebenswürdige Weiblichkeit, ihre Begeisterung, ihr Vertrauen zu ihm zu zeigen. Da hat er hundert Gelegenheiten, ihr als Mann zur Seite zu sein, in wildem Wetter, an gefahrlichen Abhängen mit tröstenden Worten, mit zärtlichem Händedrucke ihr helfend beizustehen, ihre Schritte zu wahren, ja ihr Leben zu retten. — Da findet man Gelehrte und Künstler aus allen Landern, die ein wissenschaftliches Interesse herbeiführt, und die mit eigenen Augen in der freien Natur deutlich zu sehen wünschen, was sie sich bisher in ihren Studirftuben bei der Lampe Schein nur unklar dachten. Und hier tn diesen wunder« und räthselvollen Gebirgen, wo die Natur so reiche Schatze zur Betrachtung und Forschung aufgeschlossen hat, wird fast jeder ein Stück von einem Gelehrten und Forscher. — Selbst die Laien, selbst die jungen Madchen werden zu Mineralogen, Geologen und Botanikern, und man sieht sie sich abmühen mit Pflanzensammeln und mit Leopolds von Nuch oder Lyell's dickbändigen Schriften, die sie mit sich in die Felsgeklüfte schleppten. — Die Kreide und der Bleistift sind überall thätig, um diesen oder jenen reizenden Anblick zu verewigen, und die Albums, die daraus entstehen, werden dann auf irgend einem Landsitze im Norden Englands, Deutschlands oder Skandinaviens als Heiligthümer und als Schatzkästlein werther Erinnerungen niedergelegt. — Fast jeder führt fein Tagebuch, schreibt eifrig des Abends an seiner Reiseschilderung, und wer viele Landsitze englischer oder livlandischcr oder dänischer Familien besuchte, der weiß, daß kein Theil der Welt von reisebeschreibender, in Manuscripten versteckter Literatur so reich ist, wie die Schweizeralpen. Vielen Menschen erscheint ein bewundernswerther Gegen« 12" 274 Die Reisenden im Wirthshaus. stand um so alltäglicher und um so weniger anziehend, je allgemeiner bekannt, je hausiger beschaut und besucht und besprochen er ist. Durch vielfältiges Betreten undVerühren scheint ihnen die Natur entheiligt zu werden. Ich bin so gestimmt, daß es mir gerade umgekehrt geht. Ich denke wie die Araber, die den Stein in der Kaaba nm so mehr verehren, je dunkler er durch die vielen ihm von den Frommen zu Theil gewordenen Küsse gefärbt erscheint. Mir sind die allbekanntesten Dinge in Natur und Menschenwelt die interessantesten. Die Ueberzeugung, daß das Denken und Fühlen vieler Wesen und ganzer Geschlechter mit ihnen verknüpft ist, erhebt mich. — In diesen von aller Welt besuchten Schweizeralpenthalern fühle ich mich in Rapport mit allen na-turliebenden Seelen der gebildeten Welt, sogar mit denen jenseits des Oceans, die auch nicht weniger Pilgrime hierher schicken. Am Abend in Hospenthal bot unser großer Wirthshcms-salon den anmuthigsten Anblick dar. Einen Tisch hatte daS botanisirende Paar, das wir an derLandstraße getroffen, für sich in Beschlag genommen. Sie kramten ihre Pflanzen aus und schlugen in ihren Büchern nach, um zu sehen, welche Namen Linnö diesen oder jenen Kindern der Alpen gegeben. — An einem anderen Tische saß eine englische Gesellschaft, worunter drei jugendliche Schwestern, alle drei ihre Zeichnungen corrigirend und in ihren Tagebüchern nachtragend. »" An einem dritten hielt ein Professor aus Zürich einer wißbegierigen Gesellschaft einen Vortrag über einige geologische Fragen. »-- In einer Ecke ruhte, ihr Leibliches stärkend, eine Gesellschaft deutscher Jünglinge von den Strapazen des Tages aus. Man wanderte, in allerlei Sprachen sich begrüßend, von Gruppe zu Gruppe herum, überall leicht Bekanntschaften knüpfend und überall mit gefälliger Auskunft bedient. ^^..So waren damals dort diese Zusammenkünfte in den Ge- Nelieflmchbildung des Urserenthals. 275 birgen beschaffen. Jetzt werden wohl wir mit ernsteren Angelegenheiten beschäftigten Europäer solchen amnuthigenRendezvous, die wir imö in den verflossene» Friedensjahren in den Alpenthalern zu geben gewohnt waren, wer weiß, wie lange, entsagen müsse»! Naturgetreue Reliefnachbildungen von Bergen und Thälern haben den Vortheil, daß man sich nicht blos durch das Auge, sondern auch durch die Finger und durch Austastung von der eigenthümlichen Gestalt der Höhen überzeugen kann. Ich habe daher auch das Urserenthal, wie es sich mir in einem schönen Relief, das ich in Zürich sah, darstellte, ausgetastet und mich überzeugt, daß es eine herrlich gebildete, muschelartige Schale oder Mulde ist, die in einer Höhe von 4000 Fuß dem Gebirge eingedrückt ist. Diese merkwürdige Thalmulde ist 4 Stunden lang, am Boden nicht ganz eine halbe Stunde breir, durchweg grünes Wiesenland, auf allen Seiten von hohen Vrrgen umgeben und geschützt. — In den Urzeiten muß es ein großer schöner Alpensee gewesen sein, von den größeren wahrscheinlich der höchste, der irgendwo in ver Alpenkette eristirt hat. Die Gewässer dieses Sees bohrten sich endlich in dem Schöllenenschlunde, der nach Uri hinabführt, ein Loch und entsandten dorthin dieNeuß, deren Ader am Ende den« See alles Wasser entführte und nun den Grund, in bescheidenen Gränzen sich zusammenhaltend, durchströmt. Die Hand voll Menschen, welche diese Mulde bewohnen, scheinen von jeher Deutsche gewesen zu sein. Von welcher Seile sie bis hierher vorgedrungen, weiß man nicht, vermuthlich über die Furka alls dem benachbarten deutschen Wallis, mit dem auch ihre Alpenweidi'N noch jetzt nachbarlich gränzen. Aus Uri konnten sie nicht komme», weil der Schöllenenschlund, der dahin 276 Die Republik Urferen. führt, erst spater durch allerlei schwierige, künstliche Vorrichtungen gangbar wurde. Von aller Welt abgeschlossen, waren die Urserer auch von aller Weltunabhangig und bildeten eine kleine Republik für sich. Doch fanden an: Ende auch zu ihnen die Reichsvögte und die Kloster-Herren aus dem benachbarten Dissentis in Graubünden den Weg. Zuweilen nahmen sie jedoch auch gegen diese Bedrücker ihre Reichsfreiheit in Anspruch. Endlich bohrten sich die kriegerischen Urner, welche sogar noch jenseits des Gotthard in Welschland Eroberungen machen wollten, durch das Urnerloch zu ihnen heran und verbanden die Republik Nrseren mit ihrem Staatswesen auf ewige Zeiten. Doch haben selbst noch jetzt die Urserer ihren eigenen Sinn, ihr eigenes Gemeinwesen, ihren besonderen Rath, ihre besondere Landsgemeinde, Vortheile, die sonst keines der mit Uri verbundenen Thäler genießt. Sie handhaben die Polizei ihres Thales selbst. Von ihren Gerichten giebt es in Sachen nnter 200 Franken keine Appellation an die urner Obergerichte. Sie führen auch noch ihr eigenes Wappen, einen Vären. In der Kirche des Hauptorts des Thales kann man noch den alten Doppeladler des deutschen Reichs über dem Vären schweben sehen. Auchbewahren sie in ihrenArchiven noch alteDocumente, die von deutschen Kaisern herrühren, sorgfältig auf. Nur selten besuchen sie die große urner Landsgemeinde unten im Thale und bilden auch meistens eine Opposition gegen ihre Beschlüsse. — So verfolgten sie namentlich jetzt in den Sondcrbunds-angelegenheiten eine mehr liberale Tendenz und warm nur sehr laue und widerwillige Anhänger des Sonderbunds. Vielleicht indeß nicht sowohl aus Liebe zu den liberalen Grundsätzen und zu der radicalm Schweiz, als blos aus Abneigung gegen die Urner Die Wächter des Gotthardpasses. 277 und aus Widerwillen, mit ihnen denselben Strich zu segeilt. Ich vermuthe daher, daß jetzt, wo der liberale Wind in der ganzen Schweiz und auch in Uri die Oberhand hat, die Urftrer wieder in umgekehrter Richtung steuern. Die Urserer sind die eigentlichen Wächter des Gotthard-passes und die Aufseher und Fuhrleute der Gotthardftraße, die ihnen vielfache Geschäfte und mancherlei Erwerb gewährt. — Ihre Armen sind zu Hunderten im Winter mit dem Auskehren des Schnees auf dem Gotthard beschäftigt. Sie liefern die Ochsen, deren in der kalten Jahreszeit die Post- und Frachtschlitten sich zuweilen bedienen müssen. Sie sind die Wirthsleute, welche dem nach Norden durch Unwetter und unwirthliche Gebirge vordringenden Reisenden mit gilt bezahlten Erquickungen und Gasthausbequemlichkeiten entgegenkommen. Sie sind daher auch wohlhabender, und man findet hier nicht die zahlreichen Bettler, wie in den unteren Thalern der Reuß. Dazu sind sie der gesundeste und kraftigste Menschenschlag im Lande Uri, was sie wohl der stets frischen, nie dumpfigen Luft ihres hohen Thales zu danken haben. Weil die Urferer mit den Welschen auf der anderen Seite des Berges täglich verkehren, so haben sie Manches von den italienischen Sitten angenommen. Auch sprechen sie häufig beide Sprachen und haben ihr Deutsch viel mit corrumpirten italienischen Worten ausgeschmückt. Im Grunde aber, ihrem Wesen und ihrem Genius nach, sind diese südlichsten aller Deutschen eben so gute Deutsche, wie irgend welche, die am Ufer der Ost-oder Nordsee wohnen. Dieß merkten wir gleich den ersten Abend, als uns ein paar Urserinnen ein, wie sie sagten, urserisches Lied — das aber seinem Geiste und seinen Worten nach ein ächt deutsches war — vorsangen. Mir thut es leid, daß ich es nicht ganz behalten habe. Ein unglücklicher, entsagender 278 Ein urserischts Lieb. Geliebter beklagt darin sein trauriges Geschick. Indem er seine Geliebte, die ihn verstieß, anredet, sagt er ihr, daß sie noch einmal asser seiner Güte und Aufopferung bedauernd gedenken werde, »nd findet einen Trust darin, daß sie dann dereinst seiner sich in Dankbarkeit erinnern werde. Nenn i gestorben bin, Geh auf mein'n Grabstein hln, Da wird's geschrieben sein: Vergiß nit mein. Mich erinnerten diese Verse, welche die im Gefang geschickten ttrserinnen fthr hübsch vortrugen, an Göthe's zertretenes Veilchen, das sich auch im Tode noch damit tröstet, daß es ihn von ihr, der treu Angebeteten, erleidet. Dieß und die Entsagung im Gedichte und dann das Vergißmeinnicht darin ergriff mich, den aus Welschland Zurückkehrenden, tief, und ich fühlte mich getroffen von Bewunderung der Größe und Gewalt des Voltsgenius, der in der Seele unseres großen Dichters, wie in der Vrust dieser entlegenen Alpenlnite, sie auf ganz gleiche Weise erregend, so ähnliche Geistesproducte hervorrief.- ^ '^n^ m Ich machte den folgenden Tag eine kleine Excursion zu dem «berühmten Urnerloch und dem Schöllenenschlund hinab, um meine Kenntniß dieses merkwürdige«! Alpenpasses zu vervollständigen, dem ich mich schon früher einmal von unten herauf genähert hatte. Dle Oeffnung, durch welche hier die Reuß aus dem ebenen Urserenthale thalabwärts stürzt, ist so eng, und die Felsen zu den Seiten sind so schroff und hoch, daß hier, wo jetzt große schwere Vierspanner bequem auf-und abfahren, ehemals nichteinmal eine Maus Passiren konnte. — Das erste Kunstwerk, das Menschen erfanden, um hier durchzukommen, war eine hölzerne Galerie, Das Urnerloch. 279 die sie längs der Felsenwand über der Reuß befestigten. Diese Galerie hing an schweren eisernen Ketten, die in dem Gestein angeklammert waren. — Noch jetzt giebt es in entlegenen Theilen der Alpen hie und da solche wunderliche Hangebrücken an den Felswänden hin, und Tschudi beschreibt ahnliche in den Pässen der Anden. — Sehr spät, erst im Anfange des vorigen Jahrhunderts, kam man endlich zu dem Entschlüsse, den Felsen, statt ihn auf einem so gefahrlichen, oft morschen, zuweilen zusammenbrechenden Gerüste zu umgehen, zu durchbohren. So entstand das Urneroch, das Anfangs blos für Fußgänger und Maulthiere Passirbar war, zu unserer Zeit aber bei Anlegung der Gotthardstraße zu einem großen breiten Gewölbe erweitert wurde. Diese Straße, die der kleine Canton Ilri — freilich natürlich mit Unterstützung vieler dabei auch betheiligter fremder Staaten — zu Stande brachte, gehört zu einem der sieben Wunder der Welt. Sie zieht sich in einer vier Meilen langen Zickzacklinie wie ein rettender Faden durch das gigantische Felsen-Labyrinth, das die Natur hier gebildet hat. — DaS Ganze ist eine furchtbar wilde Kluft, durch die sich die Straße hindurch schmiegt. Lassen sich die Wände auf keine Weife umgehen, so bohrt sich die Straße mitten durch den Felsen hindurch. Dic Natur schleudert mit Lawinen und zertrümmernden Blöcken auf den armen Menschen in der Tiefe des Thales herab. Dieser zieht sich glatte Schilder und die festen Dacher der Galerieen über den Kopf, auf denen die fallenden Lasten unschädlich in die Tiefe abgleiten. Die Natur wirft dem Menschen einen brausenden Was-ftrsturz, einen wilden Strom quer in den Weg. Der Mensch schwingt sich hinüber auf dem graziösen Vogen einer Vrücke, — 23l) Die Teufelsbrücke. an dem schwierigsten Puncte des Passes mit Hülfe des Teufels, wie die Leute, welche die Brücke „Teufelsbrücke" nannten, geglaubt zu haben schienen, — jetzt aber, wle ich in Luzern erfuhr, mit Hülfe des ausgezeichneten Ingenieurs, des Regienmgsrathes Müller. Dieser Mann, den ich selber kennen lernte, ist der Geist, dessen kühnes Werk die Reisenden in jenem prachtvollen Passe bewundern, und der überhaupt mehre der herrlichsten Wasserbauten der neueren Zeit in der Schweiz ausgeführt hat, unter anderen auch die prachtvolleVrücke über die Aar bei Bern. Die alte Teufelsbrücke steht noch neben und unter der neuen Müllers-Vrücke und macht ihr zur Seite eine sehr bescheidene Figur. Sie scheint den Einsturz zu drohen, aber wir fanden sie doch noch fest genug, unser Gewicht zu tragen, und genossen, 90 Fuß über der Aar auf ihrem dünnen, schmalen, bemoosten Steinbogen schwebend, von hier auö den Anblick des herrlichen neuen Brückenbogens, des prachtigen Wasserfalls, der vor ihm niederstürzt, unv der ganzen unvergleichlichen Scenerie umher, die zu beschreiben em sehr gewagtes Unternehmen sein würde. Denn durch solche, über alle Beschreibung großartige und wilde Schluchten konnten der Wanderer und die Straße zwar glücklich hindurch, auch der Fluß findet seinen Weg, auch der Maler bricht sich Bahn, aber der Schriftsteller scheitert in diesem Schlunde und bleibt in der Gnge, vergebens nach Worten und Bildern ringend, stecken. Die Wandervogel. 281 19. And er matt. Wenn im Herbste das Geschrei der wandernden Gnten, Gänse oder Kraniche aus der Höhe bis tief in die Straßen unserer Städte hinabdrang, wer schaute dann nicht, wie von zauberischen Klangen getroffen, empor, mit seinen Blicken dem über die Thurmspitzen hinflattcrnden Zuge sehnsüchtig folgend. Welcher wanderlustige Deutsche gedachte da nicht Italiens und der anderen südlichen Lander, denen diese freien Segler der Lüfte zuflogen, und wessen Phantasie folgte ihnen nicht zu den Thalern und Gipfeln der Alpen, durch welche hin sie ihren Weg zu jene» warmen und schönen Gefilden nahmen. — Was mich betrifft, so erschienen mir die wandernden Kraniche „des Ibycus", die unser deutscher Schiller eine so große Nolle in einer seiner schönen Dichtungen spielen läßt, — und die Zugenten und Zuggänse, unter denen ein Norddeutscher, so zu sagen, aufwachst, — und die Negyftten und Norddeutschland uermimlnden Störche, die dem Deutschen wie dem Nilbewuhner als heilige Vögel er» scheinen, — und die von unwiderstehlichem Triebe über die Mecre hin- und hergeführten Schwane, die ich zuweilen auf ost-preußischen und lithauischen Seen ruhen sah, — immer als be? sonders anziehende Thiere. Ich dachte oft daran, wie sie sich wohl bei ihrem Uebergange über die Alpen benehmen, welche Schicksale sie dort erleiden möchten. Ich forschte daher bei meinen Alpenreisen auch immer nach ihnen und ihren Wegen in diesem Labyrinthe von Grdkolosstn. Wie froh war ich daher, als ich in Andermatt in dem Landammann des Landchens Urferen einen Mann fand, der sich seit Jahren der Beobachtung der Vögelwanderung hingegeben und darüber viele treffliche Gr-fahrungen an diesem Orte gesammelt hatte, der, als am Fuße des 2^2 Uebergangspuncte der Wandervögel über die Alpen. Goithcudpasses gelegen, zu solchen Beobachtungen so vorzüglich geeignet ist. Die Zugvögel erheben sich, wie es scheint, nicht gern höher in die Luftregion, als eben nöthig ist, um sich theils vor dem Geschoß des Menschen sicher zu stellen, theils daS Terrain, das vor ihnen liegt, bequem übersehen, die Richtung ihres Weges erkennen, geeignete Ruheplätze wählen zu können. — In den höheren Luftregionen ist ihnen die Luft zu dünn und zu» gleich zu stürmisch. In hohen Gebirgen kommen sie daher dem Boden besonders nahe, überschreiten nie die Berggipfel, sondern wählen sich immer die Einschnitte, GebirgSthore und Pässe aus. Seit den uraltesten Zeiten wandern sie daher in denselben Thalern, in denen die Menschheit auf- und abfluthete, und sie überschreiten die Alpen in denselben Pässen, in denen Hannibal und die Römer, lind Karl der Große und die deutschen Kaiser auf ihren Römerzügen, und Napoleon die Alpen überschritten. Durch diese Vögel, kann man sagen, wurde schon längst die Richtung aller der schönen Kunststrasien bezeichnet, deren Plan in neuester Zeit unsere Ingenieure entworfen und ausgeführt haben. — Der besagte Landannuann von Nrferen hat sich nun am Gotthardpasft postirt, um diese Wandervögel, ihre Bewegungen, ihre Sitten, ihre Gattungen, ihre Anzahl da zu beobachten. Er hat sich von allen in seinem hohen Thale erscheinenden Vögeln ein Eremplar zu verschaffen gewußt und sich ein fast vollständiges und höchst lehrreiches Vögelmuseum angelegt. — Wie sehr wäre eS zu wünschen, daß an jedem Nlpenpasse sich ein so intelligenter und eifriger Naturfreund postirte. Zu welchen interessanten Resultaten könnte die Wissenschaft, wenn sie alle Erfahrungen solcher Beobachter zusammenstellte und vergliche, gelangen! — Leider aber ist der Landamluaim von Urseren selber nur eine rsra «vi». — Selbst Ortsinn ber Wandervögel. 5^3 dieses vereinzelten Beobachters Erfahrungen sind der gelehrten Welt noch nicht einmal vollständig zu Gute gekommen. —> Und selbst von seiner zweistündigen Vorlesung über Wandervögel, die er ertheilte, habe ich nur wieder einige Bruchstücke im Gedächtniß behalten. Am meisten frappirten mich folgende Mittheilungen.' Alle Wandervögel aus Norden kommen das Reußthal vom Vier-waldstättersee her herauf. Der unzugängliche Schöllenenschlund, der dm Verkehr des Menschen mit dem Reußthale so lange hemmte, konnte ihnen nie hinderlich sein. In der Höhe, in der sie sich hielten, war das Thor weit genug. — Wenn die Zugvögel im Urserenthale ankommen, bietet sich ihnen eine Aussicht auf drei Pässe dar, auf die Furka, die nachWallis, aufdenOber-Alpseepaß, der nach Graubünden, und auf den Gotthardpaß, ber nach Italien führt. Der letztere ist der höchste und auch der am meisten versteckte von diesen Pässen. Nichts desto weniger lassen sich die Vögel nicht beirren. Sie schwenken, ohne die beiden übrigen Pässe zu beachten, gleich zum St. Gotthard ein, als wenn sie wüßten, baß dieser sie auf dem kürzesten Wege zu ihrem Ziele (Italien) führte, und daß sie durch Wallis und Graubünden wieder lauge Umwege zu machen hätten. Die zahlreichen kleinen Seen des St. Gotthard benutzen sie als Ruheplätze. Doch vermögen sie dort nie lange zu weilen, weil es ihnen in jenen Höhen an Nahrung, an Fischen und Insccten, gebricht. Sie eilen zu den italienischen Seen hinab, wo sie sich im Herbste zu Zeiten in großen Schaaren versammeln, und wo ein Theil von ihnen überwintert. Ueberhauvt scheint es, daß über den St.«Gotthard«Paß ein größerer Vögelzug stattfindet als über irgend einen anderen Alpenpaß. — Die meisten Wandervögel sind Nasser- oder doch solche Vögel, die ihrer Nahrung wegen auf Wasserproducte angewiesen und an den 284 Wilde Gnten und Gänse, Störche und Kraniche. flüssigen Zustand des Wassers gebunden sind. Der Umstand, daß im Norden das Wasser, in Eis sich verwandelnd, seine ganze Natur während deß Winters ändert, machte sie eben zu Wanderern. Venn St. Gotthard treten die südlichen und die nördlichen Seen so nahe zusammen, wie bei keinem anderen Nlpenpasse. Die nördlichste Spitze desLagoMaggiore und die südlichste Spitze des Vierwaldstättersees sind in directer Linie kaum 15 Meilen von einander entfernt. Eine solche Annäherung der Gewässer findet im ganzen Alpengebiete nicht wieder statt. — Von See zu See haben daher hier die Vögel den allerkürzesten Weg, und es erklärt sich daraus der beregte Umstand. Wüthet auf dem Gotthardpasse längere Zeit sehr schlechtes Wetter, so werden die Wandervögel im Thale Urseren zurückgehalten, und es sammelt sich dann dort eine große Menge von ihnen, eben so wie auch die Karavanen der reisenden Menschen dann dort aufgehalten werden. — Je schlimmer das Wetter ist, desto tiefer stiegen die Vögel und lassen sich, Schutz suchend, endlich ganz nieder. — Es befindet sich im übrigens ganz kahlen Lande Urseren ein kleiner Wald, der oberhalb Andermatt in der Form eines Dreiecks sich an der Bergwand hinauf lehnt. Dieses in der Schweiz sehr berühmte Gehölz ist ein sogenannter Bannwald, in dem kein Holz gefällt werden darf, und der dem Dorfe vor Lawinen einige Sicherheit darbietet. Er gewährt auch den Vögeln Schutz und ist zu Zeiten mit Vögeln aller Art an« gefüllt. Den Zug der Vögel über den St. Gotthard eröffnen gewöhnlich die Enten. Kleine Trupps von ihnen kommen zuweilen schon in der letzten Hälfte des Sommers. Und gleich nach ihnen folgt gewöhnlich dann der erste Herbstschnee. Die Gänse und auch die Störche ziehen später in großen Der Alpenspatz, der Schnecfink, das Schneehuhn. 285 Schaaren hinüber. Am spätesten erscheinen die Kraniche, gewöhnlich erst im November. Außer ihnen begrüßt man hier im Herbste auch noch viele andere gefiederte Wesen, die aus Polen, aus Liuland, aus Skandinavien, vom Voreas gejagt, her-beiftüchten, und die man zu anderen Jahreszeiten auf den Seen, in den Waldern und Sümpfen jener entfernten Lander erblickte. Trappen aber sollen gar nicht dieses Weges ziehen. Auch die meisten der einheimischen schweizer Standvögel ziehen sich ans dem hohen kahlen Urserenthale während deZ Win-terS zu den etwas wärmeren Uferthalern des Pierwaldstätter>° Sees herab. Die frühsten und ersten Vögel erhalt das Thal im Frühling von der italienischen Schweiz, wo das Jahr früher erwacht, und wo die Vögel daher auch frühzeitiger durch die belaubten Büsche nach oben stattern. Einzelne Ringamseln werden zu allererst schon im April über den St. Gotthard hinübergeführt. Dann kommt die schwarze Amsel, welcher einige Gattungen Wasserstelzen folgen. Am 4. Mai erscheint der Streit-Hahn, und am Ende Mai verschiedene Singvögel von allen Seiten. Sogar einige Nachtigallen weilen hier im Juli und August, aus Italien kommend, ohne jedoch hier zu nisten und zu flöten. — Der gemeinste aller Vögel des Erdbodens aber, der Spatz, erscheint in diesen Höhen so selten, daß man hier zuweilen in 5 und 6 Iahreu keinen einzigen gesehen hat. Er hat, wie man sagt, die Laune, nur bis zu dem Dorfe Amsteg im Reußthale hinaufzugehen. — Nur die kleine Wasseramsel, die selbst bei 12 Grad Kalte, auf Schnee und Eisschollen hüpfend, ihr reizendes Lied-cheu singt, und drr Schneeftnke, der sich um so dickere und wärmere Nester zu bauen weiß, je höher er wohnt, und das Schneehuhn, welches, wie die Flur im Winter, sein buntes Som-mergewanv ablegt und sich in Schneefarbe gehüllt zeigt, und das wunderbarer Weise Eier legt, von denen keines dem anderen 286 Heilisshaltung der Bannwälder. völlig gleicht, und endlich die Auer- und Birkhähne, welche die Kälte ihrer Heimalh, des Hochgebirges, lieben, bleiben im Winter in diesen Regionen zurück. Mein naturforschender Landammann unierhielt auch, wie er mir sagte, Verbindungen mit Jägern am Monte Rosa, um durch sie Thiere der dortigen Hochalpen zu beziehen. — Er zeigte mir mehre Felle und Hörner von Steinbocken, die er von dorther bezogen, und gab mir die interessante Notiz, daß er bin« uen 10 Jahren 13 Steinbücke aus der Umgegend des Monte Rosa erhalten habe, darunter auch ein lebendiges Junges dieser Gattung, das nach Wien verkauft worden fei. Am Abend besuchten wir noch den kleinen Bannwald oberhalb Andcrmatt, den die Thalleute als ihre Schutzmauer so heilig halten, den aber die Oesterreicher, die hier oben 1799 campirten, so übel behandelt und, um stch Brennholz zu verschaffen, durch Aushauen auf die Hälfte seiner früheren Größe herabgebracht haben. Die Eingeborenen, obwohl sie in ihrem ganzen 3 hale nur Gestrüpp und wenige Büsche zum Brennen haben und das Bauholz von den unleren Thälern auf mühsame und kostspielige Weise emporschaffen müssen, haben eine heilige Scheu und Achtung vor de» Bäumen dieses Wäldchens. Holzniebstähle kommen hier gar nicht vor. „Nicht um IW Louisd'or", sagte mir derLandammann, „würde ein Nrserer einenVaumimVannwaloe umhauen, selbst dem schlechtesten Subjecte kommt dieß nicht ein» mal in den Sinn". — Es wird ihnen schon von Jugend auf eingeredet, daß an diesen Väumcn das Heil ihres ganzen Dorfes hange. — Ich konnte diese alten ehrwürdigen Stamme nicht ohne ein Gefühl der größten Theilnahme betrachten. In ganz alten Zeiten muß aber das ganze Urserenthal voll schöner Wald-» ung gewesen sein. Denn noch jetzt gräbt man an vielen Orten Die Mönche als Oafiwirthe. . ZO7 alte und vermoderte Lärchenstämme aus. Auf einer benachbarten AlpeGraubündenS hat mau sogar ineinerHbhe, die noch über dem St.-Gotthard-Hospize erhaben ist, solche verschüttete Lärchen aufgefunden. 20. Auf der Furka. „Gras ist das Kleid, das du anhast", muß man vom Nrserenthale sagen. Ein durch nichts unterbrochener, völlig lücken- und löcherloser grüner Teppich deckt den ganzen Thal-kessel. Nur einzelne kleine, schmale Striche sind mit niedrigen Büschen besetzt, die aber auch ohne Schatten in der gleichmäßigen grünen Farbe aufgehen, und die man nur, wenn man nahe hn-zutritt, als solche erkennt. — Auf einem lang gestreckten und in der That etwas langweiligen und daher mühsamen Wege steigt man über Nealp allmälig zu der Höhe der Furka empor. In Realp, dem letzten Dorfe vonUri, hat einCapuziner die Wirthschaft und bildet einen gewöhnlichen Gegenstand der Neugierde einer Menge protestantischer Reisender aus England, Preußen und Skandinavien, die darauf gespannt sind, zu sehen, wie eine fromme Mönchskulte sich ausnimmt in Verbindung mit dem Geschäfte des Ausschenkens vou schlechtem Viere, sauerem Weine, trockenem Kafe, altem Brode und des Emstreichens von guter Bezahlung dafür. In der katholischen Schweiz, inWallis, in Uri, in Unterwaiden, in Graubünden, machen aber überall in den entlegenen Gebirgsgegenden die Mönche, die Eremiten, die Pfarrgeistlichen ganz gewöhnlich die Wirthe. Auf die Temperance der Einheimischen wirkt dich vielleicht gut, da die 268 Der Urserenkäse. Geistlichen zugleich darauf sehen sollen, dasi sie sich im Essen und Trinken nicht übelnehmen. '" An dem AbHange der Furka besah ich einige der kleinen troglodytischen Fabriken, in denen der berühmte nnd selbst in Italien gesuchte Urserenkase fabricirt wird. — Es ist einiger» maßen merkwürdig, daß nicht sowohl die üppige Fülle, als vielmehr nur ein Mangel ihres Landes die Urserer darauf geführt hat, so geschätzte Waare, so feiten Käse zu ftroduciren. — Weil sie nämlich gar kein Holz haben, so können sie ihre Käsekessel nur spärlich wärmen. Sie setzen daher die Milch wo möglich noch warm, so wie sie von der Kuh kommt, auf das Feuer, um dabei an Feuerung zu sparen. Sie kochen dieselbe immer nur bei einem sehr gelinden Gestrüpp- und Strohfeuer. Daher bleiben noch viele magere grobe Kasetheile, die sich erst bei größerer Hitze absetzen, in den Molken zurück, die fetten Milchtheile und die mit ihnen verbundenen zarten Käsetheile kommen aber alle in das Product hinein und geben ihm seine vielgelobten Eigenthümlichkeiten. Die Urserer sind also gewissermaßen aus Noth gezwungen, guten fetten Käse zu machen. — Derselbe hält sich daher auch nicht lange, nnd auf den Tellern der gast-freuudlichenlombardischen Hausfrau zerstießt er schnell unter den Strahlen der heißen italicmschen Sonne. Auf dem östlichen AbHange der Furka fanden wir noch große Reste der winterlichen Schneedecke, die selbst jetzt noch die Sommerfonne nicht völlig beseitigt hatte. Der Spitze des Rückens uns nähernd, mußten wir unö eine halbe Stunde lang über einen solchen Schneelappen hinwegarbeiten. Andere Schneestrecken lagen zur Seite mitten auf den Alpen zwischen den Grasern. Einige derselben waren mit Kühen besetzt, welche hier Kühlung suchten und sich vermuthlich dort auch leichler der Insecten erwehrten. Trieb sie der Hunger, so trattn Gin Stutzerpaar auf der Furka. 289 sie wieder vom Schnee herab auf die Weide, unter die Vlumen und Kräuter. — Der Schnee war sehr schmuzig und bot auf der Oberfläche eine breiartige, von Thieren und Menschen vielfach durchknetete Oberfläche dar. — Es macht einen höchst komischen Eindruck, wenn man auf solchen wilden Gebirgswegen keinen rauhen, derben, dickwadigen, graugekleideten Gebirgsbewohnern begegnet, wie sie zu einer solchen Scenerie Passen, sondern vielmehr auf Schritt und Tritt eleganten, von Sammet und Seide rauschenden, behandschuhten und geschmückten Damen und Herren, wie man sie sonst nur auf dem Trottoir einer Residenzstadt zu erblicken gewohnt ist. — Als wir eben die Spitze der Furka erreichten, trat uns ein solches elegantes, französisch redendes Mannchen, ein polil, mnilre von Paris oder Petersburg, entgegen. Er stand auf einem Steine, seine Lorgnette zwischen dieAugm geklemmt, und beäugelte mit gerümpfter Nase und zurückgeworfenem Kopfe die Gletscher und starrenden Hörner umher. Seine Miene schien dabei eben so kritisch und spöttisch, eben so unbefriedigt, wie bei der Lorgnettirung der Spazierginger aufden Boulevards oder dem englischen Quai, an den Ufern der Seine oder der Newa. Dabei unterließ er es nicht, an seinen weißen Glacehandschuhen zu zupfen und das Leder straff über die Finger herüberzuziehen, eine Beschäftigung, mit der sich unsere Elegants immer sehr viel zu thun machen. — Die Dame, welche vorsichtig seinen Fußstapfen folgte, hatte sich gekleidet, als wollte sie zum Tanze gehen. Sie hatte sichtbar große Noth mit ihrer langen seidenen Schleppe. Ihr zierliches Füßchen, das sie hoch auf entblößte, wählte sorgfältig immer die trockensten Schneebrocken. Nichts desto weniger aber schien sie noch recht munter, gab sich auch die beßte Mühe, uns die tanzende, schwebende Gewandtheit ihres Schrittes, für die sie schon in manchem Salon Lob eingeärntet haben mochte, zu zei- 29Y Doppelpässe. gen, und trippelte anmuthig eoquettirend bei uns vorüber. — Ich gedachte beim Anblick dieses zierlichen Pärchens, dessen elegante Vermummung und selbstgefällige Hübschthuerei in so komischem Contraste mit der ernsten wilden Umgebung stand, der Bienen und Schmetterlinge, die sich auch oft auf die hohen Gletscher verirren, und die man dort von Eiszacken zu Giszacken eben so herumflattern sieht, wie im Thale von Vlmne zu Blume. — Dieß sind dann wieder solche schweizer Touristen, an denen die Enthusiasten ein Aergerniß llehmen. Aber ich denke mir, so etwas könnte eben so gut zu unserer Erheiterung, als zur Erregung unserer Galle beitragen. Faßt man die Schweizer» Reisenden von der komischen Seite auf, so werden sie einem wirklich zu einer unerschöpflichen Quelle der Unterhaltung. Keiner der Schriftsteller über die Alpen hat diese Quelle besser ausgebeutet als der Genfer Töpfer, der seinen Genfer Novellen, seinen Vo^n^os äung los ^lpeg, seinen Vo^a^«« en 2>ß»2ss eine zahlloseMengehübscher Bemerkungen und zwerchfellerschütternder Bilder von den in ihren Sitten und ihrem Wesen höchst sonder« bar mit der Natur contrastirenden französischen, deutschen und englischen reisenden Menschenkindern eingestreut hat. In der Gegend, in welcher wir uns befinden, an der centralen Erhebungsmasse des St. Gotthard, schieben und verkeilen sick so viele Thäler in einander, daß man fast überall beim Uebergange aus einer diesseitigen in eine jenseitige Landschaft zwei Thäler zu durchschneiden und zwel Pässe zu übersteigen hat. So mußten wir jetzt, um aus dem Urserenthale ins Oberhasli zu gelangen, erst die 7000 Fuß hohe Furka bewältigen, dann zum tief sich absenkenden Rhonegletscher uns hinablassen, diesen umgehen und uns gleich wieder an der Maienwand erheben und erst über die Grimsel ins Hasli hinabfallen. So müssen die Handelsleute,' welche aus dem berner Oberlande nach Welschland ins Pommat Die Quelle der Rhone. 2Vt Waaren bringen, ebenfalls zwei Wände Passiren. Erst steigen sie über die Orimsel, laufen dann quer durchs Rhonethal, erklettern wiederum den Griesgletscher und gelangen so erst ins Pommat, wo es endlich immer eben thalaus geht. Die, welche aus demValFormazza ins Reußthal wollen, haben ebenfalls zwei Pässe dicht hinter einander, und die, welche aus dem bündenschen Rhemthale ins berner Oberland reisen, gar drei, den Oberalpseepaß, die Furka und die Grimsel. Sie durchschneiden dabei zwei Thäler in der Quere, das Reuß- und das Rhontthal. Solche complicate Nege kommen sonst nirgends mehr in den Alpen vor. Jenseits der Furka blickt man nun in jenen „allergeh«imsten Winkel dex Erde hinab, in welchem", wie Apollonius von Rhoduö sagt, „aus den Pforten und den Wohnungen ewiger Nacht der Rhodan seine Fluchen herabwalzt läugshin an dem traurigen Lande der Kelten." — Es ist ein weites, tiefes Erdloch. Ringsumher kahle, baumlose Gebirgsabhänge. Im Thale graugrüne Weiden, unter Steinblöcken halb verschüttet. Heerden von Kühen wie kleine bunte Pünctchen barin verstreut. Von Süden lauft der Muttengletscher ins Thal herunter, und im Norden in der Tiefe sieht man den untersten Rand des Rhonefirns. Darüber ragen in Nähe und Ferne zahllose Spitzen empor.— Das Muttenhorn und der Galenstock sind die beiden Rie-sensaulen zur Linken und Rechten , in deren Mitte man hler in dem hohen Thore des Furkapasses steht. „(lenliles coFnomi-n«nt sails oolumnns" (die Heiden nannten sie Sonnensäulen). — Es ist ein Anblick, den unsere Dandies alle sich jetzt mit leichter Mühe verschaffen, dessen aber die Dichter der Römer, die davon fabelten, vielleicht nie theilhaftig wurden; denn ihre Geographen n-nnen die in diesen Gegenden hausenden Völker „ßonte» inänmiwe." 13* 292 Die Bewohner der Rhonequell?. Es ist ein eigenes Gefühl, wenn man mitten in dem seit Jahrtausenden wogenden, brandenden und stetS reformirenden, sein Klima, seine Verfassung, seine Bevölkerung, seine Sitten, seine Staatöverfaffung umgestaltenden Europa einen Erdfleck sindet, der in allen Puncten seit Jahrtausenden immer unveränderlich blieb. Hier stehen die Sonnensaulen noch, wie zu den Heidenzeiten. Keine Kulturpflanze wurde noch erfunden, die diese wilden Alpenpflanzen hätten verdrängen können. Aus Arkadien sogar wurden dieHirten und ihrVieh vertrieben. Hier blieben sie und werden ewig im Besitze des Bodens bleiben. Die Leute sind noch um kein Haar anders als die alten Celten, die gentLg inllomiwe der Römer. Man trete nur in ihre steinernen troglodytischen Sennhütten. ES ist unmöglich, daß die alten Barbaren sich einfachere Schlupfwinkel bauen konnten. In diesem von allen Seiten mit unbesiegbaren Eismauern umstellten Lande der Rhonequellenbewohner, wo überall zwei oder drei wilde Gebirgspässe zu überschreiten sind, um dahin zu gelangen, wird nie eine Chaussee oder eine Eisenbahn gebaut werden, und nur die Organisation der Luftschifffahrt wird dereinst im Stande sein, diese starren Gebirgshirten in den allgemeinen Strudel der Sit« ten abschleifung und derIdeenumwalzung mit fortzureißen. Eine zahlreiche Heerde von Vieh ging im Sturmschritt mit uns die Furka hinab, und mit den Hirten redend, wurden wir in ihr Getümmel verflochten; von den Kalbern gedrängt, von den jungen Rindern gestoßen, den Hörnern der Stiere ausweichend, so kamen wirrafch zwar, aber mit Staub bedeckt in der Tiefe an. Als ich einige Monate später in einem der vielen Volksaufläufe, die wir seitdem in unserem Deutschland gehabt haben, mitten in der Nacht eben so in das Getümmel einer Volks masse verflochten wurde, die vor den gefällten Bajonetten einer Soldatencompag« nie schreiend im Sturmschritt entfloh, und von den Leuien geho- Der wahre Rhonequell. 293 ben, den Bajonetten ausweichend, von Straßenbuben gedrängt, von den Ellbogen der Arbeiter gestoßen, in wenigen Augenblicken an das E»de einer langen Straße wie im Sturme entführt wurde, gedachte ich wieder lachend jenes unseres Marsches vonderFurka herab. 22. Am Rhonegletscher. Wir ruhten in dem freundlichen Gasthause, daS mitten in dieser Einöde am äußersten Ende des Nhonegletschers erbaut ist, und am folgenden Tage machten wir eine Excursion zu den nahen Quellen des Flusses und auf den Rücken des Gletschers, der hier ziemlich bequem zu bewcmdeln ist. — Schon Strabo und die Dichter der Alten nahmen bekanntlich an, daß der Nhodanus seine Quelle im Eise habe, und daß diese auö der krystallenen Nrne der großen Höhle des Gletschers mit mächtigem Wasserergusse entspringe. Da rund umher kein größeres Gewässer gefunden wird, und auö der besagten Höhle die Rhone entschieden ihre größte Wassermasse empfängt, so ist diese Ansicht auch ziemlich natürlich. Merkwürdiger Weise aber ward sie von den anwohnenden Hirten des Wallis nicht adoptirt. Diese behaupten nämlich hartnäckig, daß nicht das große Gletscherwasser, sondern eine kleine in der Wiese neben dem Gletscher im Grunde des Thales hervortretende Quelle als der Ursprung ihres Rotten — so nennen sie die Rhone, es ist wahrscheinlich ein uralter deutscher Name, den die Lateiner in Mloännug verwandelten, — angesehen werden müsse. — Dem Gletschcrwasser geben sie gar keinen Namen, als verdiene es keinen. „Es ist halt nur wildes Gletschergewässtr.'" antwor- 2ßch Gletscher- und Quellwasser. ten sie, wenn man sie darnach fragt; „aber die wahre Quelle des Rotten ist dieses kleine klare Vrünnlein, das hier zwischen den Steinen und dem Vrase hervorbricht." Wer dieß bescheidene Vrünnlein, das, mit dem großen Gletscherwasser sich vereinigend, fast darin völlig verschwindet, betrachtet, dem scheint einesolcheAnsicht ganz wunderlich. Und doch ist sie schon sehr alt bei den Leuten und war nach Berichten alterer Reisenden schon von ihren Vor» Vätern angenommen. Vei näherer Betrachtung läßt sich jedoch Manches dafür anführen. Erstlich haben überall in den Alpen die Bergbewohner eln« große Verachtung für daS Oletscherwaffer, dagegen eine große Hochachtung vor dem reinen QueNwasser. Jenes ist unklar, schmuzig, wild, soll auch sehr ungesund zu trinken sein. Bald stießt es (im Sommer) mit gefährlicher Ueberfülle, bald hört es (im Winter), wo es einfriert, fast völlig auf zu fließen. — Die Quellen spenden dagegen ihr heilsames, klares Naß weit mehr gleichmäßig das ganze Jahr hindurch. Im Herbst und Winter, wo die Gletscher wenig zur Speisung der Flüsse bei« tragen, versäumen daher auch die Leute fast nie, den Reifenden darauf aufmerksam zu machen, daß das nur lauter Quellwasser sei, was in den Flüssen ströme. — Der kleine, als eigentliche Rhonequelle bezeichnete Vorn hat eine etwas erhöhte Temperatur, friert niemals zu, schrumpft nie so zusammen, wie die Ader, die aus dem Gletscher hervortritt, — und aus diesen Gründen geben ihmdaherdie Hirten des Wallis den Vorzug und die Ehre, Rhonequelle zu sein. Als ich diesen kleinen Quell besuchte, krochen gerade da, wo er unter den Steinen hervorkommt, ein paar Kröten im Wasser herum. Ich gedachte dabei der Mündungen der Rhone, wo von dem mächtigen Gewässer Städte wie Avignon und Marseille gespeist werden, während sie hier am entgegengefetzten Ende nur für ein paar Kröten Raum und Nahrung darbietet. Der neidische Grimselwirth. > 295 Auf dem Gletscher zog uns besonders ein Wasserfall an, vo« dem dieLeute unö Wunderdinge erzählten, und von dem ich mich nicht erinnerte je gehört oder gelesen zu haben. „Das kommt daher", sagte der Wirth, „weil der Hospizhalier auf der Grim-sel Alles hier dominirt, uns anderen Wirthe drückt und den Führern aus dem beruer Oberlande nicht erlaubt, daß sie die Fremden auf alle Schönheiten unseres Thales aufmerksam machen. Er will nicht, daß sie sich hier aushalten. Alle Reisenden sollen die Tour aus Urseren bis zu seinem Hospiz in einem Tage machen und bei ihm übernachten. Er ist nicht bloß Wirth, sondern auch Kaufmann und dazu eine Art Polizei-director dieser Wildniß. Die Führer hängen daher vielfach von ihm ab und bringen die Reisenden nur dahin, wohin er es erlaubt. Ich habe auch Furcht vor ihm. Aber, wollen Sie mich nicht verrathen, so will ich Ihnen einen Walliser zu jenem raren Wasserfalle mitgeben, den nur wenige Reisende zu sehen bekommen.^ Diese Onursion befriedigte mich wie wenige. Denn den Wasserfall fand ich vollkommen der Mühe werth, — der Walliser war durchaus ein höchst origineller Naturmensch — und das „liebe Iettchen" und der „gute Fritz" erwiesen sich als sehr anmuthige und in ihrer Naivetät höchst unterhaltende Reisegefährten. Cs war dieß nämlich ein junges Pärchen aus der Umgegend von Berlin, das sich an mich zu jener Excursion angeschlossen hatte, und dessen Verwunderung über Alles, was es sah, mich nicht wellig belustigte. — Obwohl den gebildeten und höchsten Stände» angehörend, hatten diese meine Reisegefährten doch die Werke von Agassiz über die Gletscher nicht gründlich stu-dirt und entwickelten in ihren Gesprächen darüber die sonderbar« sten Ansichten, die mich um so mehr belustigten, da sie in dem für Uebertreibung so passenden preußischen Potztausendhimmel- 296 Ein Berliner Ehepaar auf dein Gletscher. sakrementdonnerwetter-Dialekte vorgebracht wurden. — Sie ließ sich wie eine Königin, in ihren seidenen Mantel verpackt, auf einem Tragscsscl über das Gis transpurtiren, und da sie wußte, daß sie hübsch war, so nahm sie alle Dienste, die ihr junger Gemahl ihr leistete, wie etwas ganz Gebührendes auf und schien sogar manche Artigkeit unbeachtet zu lassen. Sie führte im Schlosse Vitzlin in Pommern offenbar das Scepter, und er war in die tiefste Sclaverei der Liebe verfallen. Er brachte ihr alle möglichen merkwürdigen Pflanzen und Steine herbei, die wir unterwegs fanden, und die ich ihm tragen half. Sie blickte Alles gnädig an und ließ es wieder fallen. — Besonders rührend waren seine Bemühungen, ihr Wunderdinge von den Gletschern zu erzählen. „Sag mal, Iettchen, was glaubst Du wohl, wie dick ist das Eis, auf dem wir gehen? Weißt Du das wohl?" — Sie schüttelte mit dem Kopfchen. „Denke Dir, 2000 Fuß dick! Ist das nicht viel, liebes Icttchen?" — Sie nickte mit dem Köpfchen. Indem wir den Gletscher hinaufstiegen, entwickelte sich vor uns, wie eine Mauer mit Zinnen, die Neihe von Eisschollen, in welche der obere Theil dcS Gletschers zerstückelt war. Sie bezeichneten den oberen Rücken des Gletschers. AlS mein Gefährte sie gewahrte, kam er wieder zu seiner Königin heran mit den Worten: „Sieh doch einmal die Eiszacken da, liebes Iettchen? Was glaubst du wohl, wie Hoch sind die? Du denkt gewiß, sie sind ganz niedrig. Fast ein jedes dieser Eiöstücke ist «00 Fuß hoch! Kannst Du das glauben, Iettchen? Ist das nicht wun« derbar? Sie sehen nur aus, wie kleine Eisschollen; aber in den Vergen täuscht man sich ebenso, mein liebes Iettchen!" Zu« weilen wandten sich daun beide an mich, als an eine Art Autorität, sie, die Ungläubige, und er, der Ueberredungslustige, und ich hatte meine große Noth damit, seine phantastischen Rudi, der Walliscr. 297 Irrthümer so behutsam zu berichtigen, daß er nlcht allzuviel in den Augen seiner Geliebten verlöre. — Rudi aber, der Walliser, platzte zuweilen unter ganz offenherzigem Gelächter recht plump mit der Wahrheit heraus, die dann unseres Pommern Angaben oft auf ein Zehntel reducirte. — Aber zuweilen kam auch an Rudi die Reihe, belacht zu werden, und ich conspirirte dann wieder mit dem pommerschen Paare gegen ihn. Es war in der That ein höchst origineller Naturmensch, wie man deren in diesen entlegenen Thälern des Wallis noch viele findet, und seine Ausdrücke und seine Lebhaftigkeit waren so drollig, daß wir anfangs kaum glauben konnten, es fei Alles pure Natur, ohne Künstelei und ohne gesuchte Schauspielerei. Aber es giebt in der That hier noch Leute, deren alltägliches Wesen und Ge-bahren den Humor übertrifft, den die Schauspieler auf der Bühne entfalten. Wir kamen endlich nut mancher kleinen Noth und Mühe an dem Wasserfalle im Eise an. Wir sahen hier einen machtigen Strom, — es war hier schon die ganze Wassermafse der Rhone in der Stärke, in welcher sie unten im Thale den Gletschern enteilt, beisammen — aus dem Eise hervortreten und sofort mlt einem donnernden Satze wieder sich in die Gismassen unterhalb hinabstürzen und unter ihnen murmelnd verschwinden. — Man kann sich denken, wie mannigfaltig alle die, dieseS interessante Phänomen begleitenden Nebenumstände sein mögen. Da, wo das Wasser heraustritt, hat es wieder, wie gewöhnlich, eine große Höhle gebildet. Das Licht in dieser Höhle war dunkelblau. Helle Eisblöcke, welche abgefallen waren, und in denen sich die Lichtstrahlen wieder auf andere Weise brachen, blinkten mit Gdelsteingeflimmer aus dem Dunkel der Höhle hervor. In einer Eisspalte über der Höhle steckte ein völlig weißer FelS-block, — ich vermuthe, es war weißer Granit, — der wie- 13" 293 Der Wassersall nn Gletscher. der in dem blauen Spalt einen sehr malerischen Farbeneffect machte. — Auf 50 Schritte stoß das Wasser ruhig über einen Felsenabsatz hin, der dann plötzlich schroff abfiel und eben Ver. anlassung zu dem Wassersturz im Gletscher gegeben hatte. —-Unterhalb des Absatzes hatte das schaumende Gewässer natürlich ein mächtiges, weites Loch in den Gletscher ausgearbeitet, in welches es wie in eine Nöhre hinabfiel. Die Eismassen lagen in dicken Gewölben bis oben hinauf darüber hin. — Niemand hat noch die Hohe des Falls gemessen, doch kann man ihn ohne Zweifel wohl mindestens auf 200 Fuß anschlagen. Man Hort es noch aus sehr ferner Tiefe hernufbrausen. Zur Seite des großen Hauptlochs haben sich auch mehre Nebenlöcher in dem Else ausgearbeitet. Sie rühren von den Wasserstrahlen her, die von den Felsen nach oben ricochettiren. Eines dieser Sei» tenlöchcr, dem wir uns mit einiger Mühe nahen tonnten, hatte 10 Ellen im Durchmesser. Es kam ein gewaMger Sturm von der durch den Wasserfturz unten weggestoßenen Luft und ein mächtiger Strahl von Schaum und Wassertropfen daraus hervor. —> Wir hielten ihn einige Momente aus, um einen Blick in die wilde Tiefe thun zn können. — „Schaun's", sagte Rudi, der auch zu uns herausgekrochen war, „isch das nicht a Wunder. Schaun's! das macht Alles die Natur. — Aber die Gestaltung verändert sich hier alle Jahre. — Aha, jetzt seh' i schon, was es da wieder im Sinne hat. Sehen Sie da die Stelle, die wird bald einbrechen, dann nimmt sich daö Wasser einen ganz anderen Weg, und nächstes Jahr wnd der Wasserfall sich selber nicht wieder erkennen/' — Ich glaube, daß dieser Wasserfall im Rbonegletscher zu einem der merkwürdigsten Schauspielen in der Schweiz gehört. — Beim Nachhausegehen handelten wir von Politik. Unser Walliser war, wie alle deutschen Oberwalliser, natürlich ein erklärter Freund des Sonderbundes. Er hatte Die ?2tre« von Frankreich. 299 gehört, baß der König von Frankreich ihnen helfen wolle. Aber er schien nicht viel auf seine Hülfe zu bauen. Der König von Frankreich, meinte er, wäre gar kein solcher Souverain oder Kaiser, wie die anderen. „Gr hat", sagte er, „bloß seine Ve-zahlung, und nebenher sind dann die anderen auch noch da. Zuerst die ?l»tro8 von Frankreich, was die Franzosen pöro« üo k>2no« nennen, und dann die alten (^liovauxie^orL oder 6tiov»1iei-8. Doch so ein Pater von Frankreich bedeutet in unseren Zeiten auch nicht mehr viel. Das Volk von Paris ist die Hauptsache, und das will uns nicht helfen. Die Halten's mitdenUnter-wallisern, denNadicalen. Ich glaube daher, daß wir von Frankreich nicht viel zu hoffen haben. — Aber wir brauche» sie auch gar nicht, die Franzosen; wir wollen unsere Sache schon allein durchfechten. Wir sind stark genug gegen die verwünschten Radicalen und Unruhstifter." — Spater gedachte ich noch oft dieses originellen NalliserS, der so richtig über französische Hülfe urtheilte, in Bezug auf seiner Landsleute eigene Kraft sich aber so bitter täuschte. 23. Auf der Grimsel. Am Nachmittage stiegen wir an der Maienwand enst por. Es ist dieß ein ziemlich steiles Verggclande, mit welchem die das Rhone- und das Aarthal trennenden Gebirgsmajsen gegen das Wallis hin abfallen. Es hat seinen Namen von den zahlreichen Blumen oder „Maien", wie die Schweizer sagen, mit denen cs im Frühlinge sich bedeckt. Namentlich find darunter Massen der schönsten Alpenrosen, deren Gebüsche 300 Die Maienwand. hier die ganze Vergstite zieren. — Vel den bequemen Ver« gnügungsreisenden pflegt die Erwähnung der Tour an der Maienwand meistens etwas Schrecken zu erregen, obgleich sie in der That zu den noch sehr bequemen und ungefährlichen Gebirgspartieen gehört. Der Blick von der Höhe der Maienwand rückwärts auf das Wallis, auf den tief unten stießenden Rotten, auf den Rhoneglctscher und auf die hohen Maffen und Hörner des Griesgletschers, ist der Aussicht von der Furka noch bei Weitem vorzuziehen.—Das Wetter ändert sich in diesen Vergen so schnell, wie die herrschenden Parteien in Paris. Am Morgen lag noch Alles im hellsten Sonnenschein vor uns. Jetzt aber hatten sich schon überall drohende Wolkenmassen, von kalten Winden herbeigetragen, zusammengeballt. Finster hingen sie über den Bergen herab. In unzahligen Nebelwellen drängten sie sich aus dem unteren Wallis herauf. In eiliger Flucht strichen sie hinüber über die Furka ins Urserenthal. Bald regnete es auch auf unserem Pfade. Wir stiegen noch etwas höher, und der Regen wurde Schnee. Und es dauerte gar nicht lange, so fiel der Schnee in solchen Massen herab, daß wir statt Maienstrauße, wie wir gehofft hatten, nur Schneebälle vom Voden auflesen konnten. — Unser Gesichtskreis verfinsterte und verengte sich mehr und mehr, und wir, deren Blicke eben noch bis in entfernte Thalschaften gedrungen waren, sahen nun bald nicht mehr den Stein, der uns vor den Füßen lag. In solchem Schneewetter erhält die wilde Gegend ein noch wilderes Ansehen, das in der That seinen hohen Reiz hat. Es tauchen aus dem Schneefchleier lauter unerwartete Gegenstande vor deinen Augen auf und liegen dann Plötzlich ganz fertig und handgreiflich vor deinen Füßen. M glänzt und blinkt ein wenig, es brandet und rauscht in deiner Nähe, und unangemeldet zeigt sich auf einmal ein kleiner wogender, Gebirgswege. gssi aufblitzender See vor dir. Es dunkelt und ballt sich unförmlich hinter dem Schneeflockenvorhange. Du machst noch zwei Schritte, uud die Gestalt eines gewaltigen Granitblocks tritt dir nahe vor die Brust, wie ein Riese, der dir ein gebietendes Halt zuruft. Du weichst aus zur Rechten, auf einmal aber scheint der Faden deines Weges völlig abzubrechen. Du stehst an einem Abgrunde und schaust auf Felsen und Seen hinab, die tief unter dir liegen. Wir betraten hier oben die Gränze des Cantons Ver», und obgleich wir diese Gränze nicht sehen konnten, so fühlten wir sie doch bald mit den Füßen heraus. Denn wahrend die nachlässige und arme Regierung des Wallis fast nichts für die Gebirgswege thut, haben dagegen die sorgfälligeren und wohl« Habenderen Verner schon seit lange an der Herstellung guter Ge-birgösteige gearbeitet. Die Felsen sind hier und da, wo sie zu rauh waren, geebnet, die Blöcke zu einer Art Pflaster zurecht gelegt, und an ganz steilen Stellen hat man ordentliche Treppen ausgearbeitet. — Nenn man bedenkt, daß der Reisende auf solchen wilden GebirgShöhen oft schon für jeden Baumstumpf, den eine weise Wegepolizei als Brücke in den Sumpf warf, für jeden Block, den eine wohlthätige Hand als Mittelstufe zwischen zwei unerschwingliche Absätze hinlegte, für jeden Tannenast, den sie zum Schutze des Wanderers an einen Abgrund befestigte, dankbar ist, und wenn man dazu erwägt, daß in diesen entlegenen Wildnissen die Herstellung und Conservirung der geringsten und rohsten Barriere mehr Mühe und Kostcn macht, als die Pflasterung eines Marktplatzes in unseren Städten, so kann man die Gebirgspfade im berner Lande im Ganzen gut nennen. Man täuscht sich, wenn man glaubt, daß die Alpen an allen Puncten herrlich und interessant seien. Wie geistreiche und interessante Männer ihre langweiligen und höchst gewöhnlichen 302 Die Grimscl. Stimmungen, Stunden und Tage, so haben auch die Alpen ihre sehr gewöhnlichen und einförmigen Thaler und Vergstrecken. Wie jene nur zuweilen in einer besonders inspirirten Stunde in geistreicher Conversation, in schlagendem Witze, in treffenden Aussprachen brilliren, so haben auch die Alpen ihre Puncte, wo sie viel Schönes auf einen Fleck concentriren, wo die Würfel der Verge und Felsen und die anderen Elemente der Landschaft so glücklich fielen, daß etwas Außerordentliches und höchst Poetisches dabei zu Stande kam. Die Grimsel ist einer der außerordentlichen Alpenpuncte, wo alle Grauitbrocken, aller Nuöwurf ober Absatz vulcanischer oder neptunischer Producte so glücklich zusammenstürzten und so malerische Positionen gewannen, daß man ihn vor tausend anderen auszeichnen muß, und daß selbst der, welcher die ganze Kette der Alpen durchstreifte, sich fragt, ob er irgendwo etwas Schöneres gesehen. —Im Ganzen kann man die Grimsel als den großen auS Granit gebauten Riegel bezeichnen, der zwischen den Rhonegewaffern im Süden und den Rhemgewässern im Norden, sowie zwischen denGebirgsmassen des Finsteraarhorns im Westen und denen des hohen Galenstocks im Osten eingelenkt ist. Weit und breit bildet dieser Riegel das einzige Thor, durch welches der Süden mit dem Norden verkehren kann. Nach Westen hin erstreckt sich auf 2« Stunden weit ein unüberstcigllches Eisgc-» birge, und bis zum Gemmipaß giebt es keinen zweiten, der Grimsel ähnlichen Thorweg. In die Mitte jenes Niegels, seiner Länge nach, ist ein tiefes Felsthal eingesenkt, dessen Grund aber beinahe noch 6000 Fuß über dem Meere erhaben ist. Vom hohen Rücken deö Passes selbst steigt man in diesen Schlund, wie in den offenen Raum eines leeren Seeschiffs hinab. Alle Felswände sind baumlos und kahl, nur hier und da mit weichen Moosen gepolstert. Stellenweise zieht sich ein Streifen grüne Schlechtes Nett« uuv gute Gesellschaft. 303 Weide an den Granitwänden hin, die von kleinen Ziegenheerden benutzt wird. Im Hintergrunde der Kluft sieht man einen dunklen kleinen See liegen, „den Trübten-See." „Verschüchtert schaukeln ftlll« Sllberwellen, „Der Fluth entsteigt des Ufers Riesenbild." Am Ufer des SeeS gewahrten wir das berühmte Hospiz, und aus seinen Fenstern winkte mit freundlichem Gruße der Schimmer der trauten Flamme uns in dieser entsetzlich großartigen Wildniß nach unten. In der Finsterniß der Nacht langten wir endlich bei ihm an und fanden das große, alte, steinerne Haus mit Schotten, Iren, Briten, Helvetiern, Voruffen und Franken gefüllt. Wir mußten hier mit diesen Nationen drei Tage lang campiren; denn daS schlimme Wetter, das wir Anfangs nur für eine vorübergehende Laune des Himmels gehalten hatten, währte so lange mit ununterbrochenen Schnee? und Regenschauern fort. Tief hingen die dunklen Wolken bis auf dle Schornsteine unseres Hospizes herab. Heulend tobt« der kalte Wind an den Fenstern, und wir kauerten beständig bel deö Heerdes geselligen Flammen und brannten Talglichter am Mm Tage. — Am ersten Tage fanden wir dieß langweilig. Am zweiten aber, als allmälig sich die Gemüther mehr erschlos« sen und genähert hatten, als nach und nach die Vorussen sich als keuntnißreiche Professoren und die Briten als humane und wohkmterrichteteZöglinge derH.!mn mnter von Orford und ihrer „schweigsamen Schwester" von Dublin erwiesen hatten, ^ da fanden wir unsere Eristenz ganz erträglich und unser« Gesellschaft sehr originell und unterhaltend, — und fast waren wir unzufrieden, als am dritten Tage der Himmel sich wieder aufheiterte und die Sonne so unseren kleinen Klub zersprengte, 304 Das Eis-Observatorium. den der Sturm zusammengeführt hatte. — Es ist wunderbar, daß der in allen Völkern erwachte Sinn für Naturschönheiten bewirkt hat, baß der, welcher es wünscht, als Beobachter mit Leuten aus allerlei Ländern in intime Berührung zu kommen, jetzt in einem versteckten Schweizeralpenwinkel mehr Chancen hat, seinen Wunsch in Erfüllung gehen zusehen, als in einer unserer Residenzstädte. 24. Auf tem Nnteraargletscher. Der Unteraargletscher ist seit lange seiner unvergleichlichen Umgebung wegen einer der berühmtesten in der Schweiz. In den letzten Jahren hat sich sein Ruhm noch dadurch vermehrt, daß er in der Gletschertheorie eine so bedeutende Rolle zu spielen begonnen hat. Weil er sehr leicht zu ersteigen und zu beobachten ist, so ist er der einzige Gletscher, an dem man jetzt seit einiger Zeit im Winter und Sommer ununterbrochene Beobachtungen über die Beschaffenheit und Bewegung des Eises unternommen hat. Schon frühere Reisende, z. V. Hugi, haben sich zu diesem Zwecke eine Zeit lang auf diesem Gletscher in einer auS Felsblöcken zusammengelegten Hütte etablirt. Die bekannten Ncufchatelcr Eisenthusiastcn aber, Agassiz, Dessor ic., haben ein stehendes Observatorium, ein kleines Häuschen aus Stein, am Ufer des Gletschers erbaut und hier mehre Sommer hindurch, mit Thermometern und Barometern arbeitend, Eis-thürme erklimmend und messend, in Eisspalten an Stricken hin- Der Aarenboden. 305 abtauchend, den Gletscher bohrend und anatomisirend, Maschinen aller Art zur genauen Messung seiner täglichen und nächtlichen, monatlichen und jährlichen Bewegung bauend, ein der Gletscherkunde sehr nützliches Leben geführt. Die Beschreib« ung ihres LebenS und die Resultate ihrer Untersuchungen sind in einer Reihe von zum Theil interessanten Werken niedergelegt. Da ich diese Werke alle gelesen hatte, so war ich nicht wenig begierig, jenen Schauplatz gewaltiger Naturthätigkeit und menschlicher Anstrengungen zur Erforschung dieser Thätigkeit selbst zu betreten, und ich war daher im voraus entschlossen, den eingetretenen Sonnenschein zu einem Ausflüge nach dem „Uütsl äs» KLulcllütoloiZ" zu benutzen. — Gin Engländer gesellte sich mir zu diesem Zwecke bei. Wir wanderten am frühen Morgen einige Stunden weit durch den tiefen Voden des Aarthales, um bis zum Fuße des Gletschers zu gelangen. „Der Aarenboden" wird dieß Thalstück genannt. —- Die wunderbar großartige und ernste Scenerie dieses Thales wirkte um so tiefer auf uns ein, da wir weit und breit die einzigen menschlichen Wesen waren. Eine Vorstellung dem Leser davon zu geben, ist fast unmöglich. Doch steckt etwas von der wilden Natur des Thales iu den Namen der verschiedenen Vergtheile, die wir passtrten, und ich mag diese daher hersetzen. „Der große Varcnbühl" hieß einer, „die Värenecke" ein anderer der FelsknoNen, die wir passirten. Es sind noch in neuester Zeit zuweilen Varm in diese Wildniß gekommen. — „Das Vrummbergband" wird ein schroffer Fclsabsatz genannt; ein anderer heißt „der schwarze Knollen" und ein dritter „die alte Staffel". Der „Zinken-berg" wird hier ein Koloß genannt, der sich überall sehr bcmerk-lich macht, und „die Vocksplatte" zeigt sich als ein hoher flacher Felsenkopf, auf dem sich zuweilen die Ziegen versammeln, 306 Namenlose Verge. die weidend in diesen Einöden zerstreut waren. In den Namen der Gebirge liegt immer viel Poesie und nicht nur diese, sondern auch viel Nalurwahrheit verborgen, und ich führe sie immer gern an, weil oft ein einziger solcher naturwüchsiger Name des Lesers Phantasie mehr anregt alS lange Beschreibungen. So wie die Namen einiger Vergtheile, so mag ich auch die Namenlosigkeit anderer hervorheben, um den Charakter dieser Wildniß fühlbar zu machen. ES giebt hier eine Menge Verg-kolosse, die noch gar keinen Namen bekommen haben, und die so groß sind, daß, wenn sie in einem anderen Lande lägen, sie im Munde aller Welt sein würden. Den wenigen wallistr und ber-mr Ziegenhirten, welche diese Gegend durchirren, genügt eö, die Hauptspitzen zu benennen, besonders die Valmen und Stollen, auf denen Gras wachst. Die hohen Spitzen sind ihnen ganz gleichgültig. Gewöhnlich weiß ein Hirte die Namen seines Thales nur, so weit Gras wächst. Als die oben genannten Gelehrten sich in dieser Gegend etablirtcn, mußten sie erst zum Zwecke ihrer Untersuchungen und Darstellungen eigene Namen für eine Menge von Spitzen erfinden. Im Hintergrunde des Thales stießen wir endlich auf den vorspringenden Kopf des Gletschers, der hier, einen Eiswall vorschiebend, dem Weiden-, Ziegen- und Pflanzenleben ein Ende macht. Der Lauteraargletscher ist an diesem seine» äußersten Ende sehr abgerundet, weit weniger zerklüftet als die Grindelwald-, die Chamouny» und andere Alpengletscher. Dazu ist seine ganze Stirn mit einer unsäglichen Menge von Trümmern und Steinblöcken bedeckt, und man kann daher gleich unmittelbar an der Gletscherwand selber emporsteigen, was nur bei wenigen anderen Gletschern möglich ist. — Es ist eine ziemlich mühsame und wenn auch nicht hals-, doch fußbrechende Arbeit. Gletscher-Phänomene. 307 Drel Viertelstunden lang sprangen wir in dem Labyrinthe von Vlock zu Block. Die Blöcke sind so dicht gesaet, daß man von dem Eise unter ihnen nichts gewahrt. Mmälig aber lichtet sich der Trümmerwald, — stellenweise erscheint zwischen ihnen daS blanke blaue Eis. Der Gletscherrücken biegt sich von feiner anfänglichen Schroffheit allmällg zn gerader Linie um, und endlich liefen wir denn ganz bequem auf dem flachen, ebenen Rücken der schönen Krystallmasse, die der Regen von gestern sehr blank gewaschen hatte, fort. Der Lauteraargletscher strömt in einem sehr wenig abhangigen Thale, er ist daher auf seiner ganzen Lange sehr wenig zerrissen, und man kann auf seiner Oberfläche ohne Beschwerde 3 bis 4 Stunden weit fortlaufen. — Er ist etwa eine halbe Stunde breit, sehr lang, groß und mächtig, und auf seiner Oberfläche bieten sich alle die aus den Werken von Agassiz und Charpentier hinreichend bekannten Gletscherphanomene in schönster Fülle dar, so daß man allen Lesern und Freunden dieser Werke, welche das dort Beschriebene auch in nntur» mit eigenen Äugen sehen möchten, keinen der 400 Schweizergletscher mehr empfehlen kann als diesen. Da sahen wir eine Menge der auf Piedestalen von Eis getragenen Felsblöcke, welche Charpentier Gletschertische getauft hat. Manche sind kolossale Riesentische und gewahren einen höchst malerischen Anblick. — Da sahen wir diese großen Eiswarzen oder Eistumuli, welche oft durch eine kleine auf die Oberfläche herabgefallenc Staub- oder Sandschicht entstehen. Der Sand hält die Sonne vom Eise ab. Rund umher aber schmilzt es weg. Und so schwillt unter dem Sande ein ganzer Eisberg empor, der oft so regelmäßig konisch gestaltet ist, als wäre er gedrechselt. — Da sahen wir wieder die tiefen Löcher, welche Blätter, einzelne Steinchen und andere Gegen- 308 Die Gletscherflöhe. stände, in das Eis sich absenkend, hinabbohren; — wiederum große, aber nicht tiefe Eiskessel, — wiederum lange Rillen, in denen zwischen krystallenen Ufern kleine Gletscherbache sprudelnd flössen, — wiederum runde tiefe Lücher und schmale blauge-färbte Spalten, in denen Wasserfalle tönend hinabrauschen. — An einigen Stellen kamen auch Quellen mitten aus dem Eise hervor, und an einer sahen wir eine kleine Fontaine emporsprudeln. Sie hatte, gleich dem steinabsetzenden Karlsbader Sprudel, rund um sich herum einen kleinen Eisberg gebildet, der wahrscheinlich in den letzten kalten Tagen zusammengefroren war. — In den kleinen Tümpeln und Wasserkesseln auf dem Eise fanden wir auch in zahlloser Menge die kleinen hüpfenden, schwarzen Thierchen, welche der schweizer Gebirgsbewohner seit uralten Zeiten „Gletscherflöhe" nennt, und die ein Gelehrter in der neuesten Zeit nach seinem Namen hat nennen lassen, weil er sich für ihren ersten Entdecker ansah. — Die Gelehrten sehen oft so etwas Neues in der Natur, was, weil sie es zum ersten Male sehen, und weil es noch nicht in den Büchern steht, sie dann für eine noch nie gemachte Entdeckung ausgeben, während es doch schon Tausenden von einfachen Landeskindern vor ihnen etwas Langstbekanntes war. Sich einzubilden, wie es jener Ge« lehrte in seinem Reiseberichte thut, daß diese Gletscherstöhe, die zu Zeiten in ganzen Schaaren und in zahllosen Colonieen auf den Gletschern zu finden sind, allen übrigen Menschen vor ihm entgangen und von seinem scharfen Auge zum ersten Male seit dem Paradlese erblickt worden seien, erscheint einem wirklich etwas komisch. Wirfanden von diesen interessanten Thierchen, die die Kälte in eben dem Grade lieben, wie die Eisbaren, und wie diese in Eishohlen wohnen, eine Menge kleiner Colonieen über den Gletscher zerstreut. — Gesellig zu einem schwarzen Fleck ver- Moröne des Aargletschers. gY9 einigt saßen sie ruhig am Grunde ihrer kleinen Wasserbecken. Nur wenn ein großer Regentropfen — denn ein klein wenig dicktropfiger Regen hatte uns doch wieder überfallen — aufregend in ihren ruhigen See fiel, wurden sie Plötzlich aufgeschreckt und bewegten sich hüpfend im Wasser umher. Alsbald aber, wenn die plötzliche Aufregung sich beruhigt, und der störende Tropfen verschmolzen war, krochen sie wieder zu einem schwarzen Klümpchen zusammen. — Ich bewunderte diesen Trieb der Geselligkeit und Liebe, der sich selbst hier auf den Gletschern so machtig zeigte. Auch dadurch ist der Aargletscher noch ausgezeichnet, daß er in der Mitte eine sehr schöne regelmäßige Moräne zeigt, die man stundenweit mit dem Auge verfolgen kann. Man sieht sie da, wo die beiden oberen Gletscher, aus denen der Unteraargletscher sich bildet, zusammenfließen, deutlich entstehen. In gerader Linie erstreckt sie sich, wie ein von Menschenhand gebildeter Damm, in der Mitte des Gletschers lang hin. Man kann vom Ufer aus genau die verschiedenen Phasen, die sie, mit dem Gletscher fortfließend, annimmt, verfolgen. Sie hat erst einen spitzen Rücken, dann einen breiteren, endlich wird sie ganz breit, stach und niedrig, und zuletzt zerstreut sie sich am Kopfe des Gletschers zu jenem Vlocklabyrinthe, das ich beim Anfange unserer Gletscherbesteigung beschrieb. Vier verschiedene Durchschnitte der Moräne würden etwa folgende Figuren geben: Sonst trieb die Frömmigkeit und die Religion die Menschen in die Einsamkeit und in die entlegenen Naturwildnisse. Jetzt thut es die Wissenschaft und der Geschmack an den Gebirgs- 310 35 a« Hotel des Neufchsitelois. und Thalschönheiten. Ich kenne in sehr versteckten Alpenthälern mehre reizende Eremitagen, welche von reicken Naturfreunden dort erbaut wurden. Ich konnte eine Reihe von Etablissements bezeichnen, welche Fürsten und gelehrte Gesellschaften an solchen Flecken in den Bergen zum Zweck wissenschaftlicher Beobachtung erbaut haben, an denen man im Mittelalter eine Kapelle oder eine Kapuzinerwohnung gebaut hatte. Das llowl umgekehrt aber das Deutsche, wenn die conservative Partei das Ruder in die Hand bekam. Die Saane macht bei Freiburg einen ähnlichen, aber im Vergleich uiel tieferen Einschnitt in die Sandsteinlagen, aus welchen der Voden dieses ganzen Theiles der Schweiz besteht, wie bei Bern. Die Saane ist hier 200 bis 300 Fuß lief eingefurcht oder, wie die Schweizer sagen, „eingcrunset." Sie umkreiset, sich schlangelnd, eine aus dem Sandstemplateau herausgeschnittene Halbinsel, und auf dieser Halbinsel hat sich die Stadt angesiedelt. Das Thal der Saane mit seinen schroffen Wänden bildet gleichsam den weit auSgeklüftelen Stadtgraben. Auf der Spitze der Halbinsel liegt ein elegantes Hotel, von dessen Garten aus man unmittelbar in diesen wunderbaren Naturgrabm hinabblickt. In der Tiefe desselben liegt nur noch derjenige kleine Theil der Stadt, der hauptsächlich von deutschen Leuten bewohnt wird. Darüber schwingen sich die frei in der Luft schwebenden herrlichen Kettenbrücken hinweg. Man sieht selbst inderSchweiz keine Stadtsituation, die außerordentlicher wäre als diese. Dieser Gestaltung ihres Terrains wegen konnten die Freiburger, wenn sie sich auf bequemere Weise mit der Welt in Verbindung setzen wollten, an keine andere als an Kettenbrücken denken, und da eine solche Situation, solche tiefe Sandsteineinschnitte sich mehre Male in ihren Lalltonen wiederholen, so haben sie 5 bis 6 Kettenbrücken gebaut, zwei der schönsten in der Nähe ihrer Stadt. Sonst mußte man sich, um zur Stadt zu gelangen, aus mühsamen Umwegen an den steilen Thalwanden herab- und Die Jesuiten. Z25 hinaufarbeiten. Jetzt bleibt man in der Höhe und rollt auf den schwebenden Gisendrahtfäde» über die tiefen Abgründe eben in die Stadt hinein. Die Jesuiten rühmten sich gegen mich, daß die herrlichen Freiburger Kettenbrücken eigentlich ihr Wert seien, da ihre Ausführung erst durch das Leben und das Geld, welches sie in die Stadt gebracht hätten, möglich geworden wäre. Ueberhaupt schreiben die Jesuiten sich selber die ganze Blüthe der Gewerbe und des Handels der Stadt vorzugsweise zu. Durch ihr Pensionat allein würde fast eine halbe Million Franken baares Geld jährlich dem Orte zugeführt. Dieser Umstand allein erklärt es zum Theil, warum die Freiburger Bürger durchaus an ihren Jesuiten festhalten wollten, und weßhalb ihre Partei in der Stadt so groß war. Ich besuchte ihr berühmtes Pensionat, wo sie jeden Fremden freundlich aufnahmen und umherführten. Sie erzogen und unterrichteten hier die Söhne vieler ausgezeichneter Familien fast aller europäischer Länder. Ich fand dort besonders viele junge Leute aus Frankreich und Vaiern, aber auch auö Irland, ja sogar aus Spanien, Italien und selbst einen auS Rußland. — Da das Honorar des Pensionats ziemlich hoch war, so konnten hier nur wohlhabende Aeltern ihre Kinder bilden lassen. Doch ist es falsch, wenn man deßhalb meint, daß die Freiburger Jesuiten sich nur ausschließlich der Ausbildung der Reichen gewidmet hätten. Sie leiteten dort vielmehr auch ein Gymnasium, eine Academie und ei» Collegium oder Seminar, so wie eine Primärschule, in welchen verschiedenen Anstalten Leute aller Stände und unter sehr verschiedenen Bedingungen aufgenommen werden konnten. — Die Jesuiten griffen also in alle Unter-richtözweige des Cantons ein. Gewöhnlich besuchte und bc- 326 Das Iesilitenpensionat. sprach man jedoch nur lhr Pensionat, das daher auch so ln aller Welt berühmt und verschrieen wurde. N Die Stimmen, welche ich in der Schweiz über die Wirksamkeit dieser Erziehungsanstalt hörte, waren so verschieden, wie die Stimmen über die Jesuiten selbst, welche auch in der Tagfatzung von dem Einen ,,Ies bons pere« Da ist ganz leicht zu erreichen die herrliche Dent de Iaman, ein Berg, den die Natur erpreß zum Genuß schöner Aussichten dahin gestellt 336 Das Dorf St. Mngoulph. ultd dazu höchst plan- und zweckmäßig gestaltet hat. Und wenn Rousseau mit der I>l,toin2 HIsSicn seiner Phantasie und mit der Zauberruthe seiner Feder dafür sorgte, daß uns hier Alles in einem besonders herrlichen Lichte erschien, su sorgte Herr Monnay dafür, daß man von seinem Musterhotel aus, welches er auf einer reizenden Terraffe am See erbaute, dieß Alles auf die gemüthlichste Weise genießen könne. Tausende von Engländern, Deutschen, Russen, Franzosen machen alljährlich dieß Hotel zu ihrer periodischen Centralresidenz und eilen von da auf Mauilhieren, auf Gondeln, auf Dampfschiffen in die Umgegend rings umher, alle Abende aus allerlei romantischen Natur-einsamkeitcn zu ihren bunten Gesellschaftskreisen im Hotel Monnay zurückkehrend. So stieg auch ich gleich in den ersten Tagen meineS Dortseins in ein Voot und fuhr in der angenehmsten Gesellschaft zu der gegenüber liegenden Küste Saooyens hinüber. Uns lockte ein «infames kleines Dorf St. Gingoulph am Fuße der hohen Dent d'Oche, die der höchste Berg dieses Theiles uon Savoyen ist. In einer Stunde segelt man hinüber, legt das Boot in dem kleinen Hafen vor Anker und steigt auf frischen und blumigen Wiesen ans Land. Denn diesen Vorzug der größten Frische hat das savoyische Ufer wieder vor dem waadtländischen, sowie es auch den Vorzug besitzt, daß hier nicht alle Wege und Stege durch Weingartenmanern so verbarrikadirt sind, wie dort. Man ergeht sich hier auf freien Wiesenfeldern unter dem Schatten der Willnußbäume, die alle Dörfer umgeben und die Thalverstecke uüt ihren laubigen Kuppeln erfüllen. Wir kehrten bei einem simplen savoyardischen Wirthe ein, der uns mit Speise und Trank erquickte und, als er uns seinen Garten zeigte, bemerkte! „In dieser Laube pflegt des Sommers gewöhnlich der Marquis de Custine zu arbeiien." — „Wie?^ ,??Nl,H«r Marquis b« Cuftine. IZ7 sagten wir, „doch nicht der berühmte Marquis deCustme?" — „Ja wohl, eben derselbe, Madame. Er kommt jeden Frühling auf einige Monate hierher, um hier ungestört zu schreiben, und in dieser Laube hat er das Buch geschrieben, welches dem Kaiser von Rußland so fatal gewesen ist, daß er gesagt haben soll, er hatte leichter oen Verlust einer Schlacht als die Erscheinung dieses Buches ertragen." — Ich sagte oben, man könnte den Oenfersee den Culturkessel der Schweiz nennen, man könnte ihn aber auch als Tintenfaß der Alpen betrachten. Denn man kann hier, wie wir nun wieder erfuhren, kaum in irgend einen Ort, selbst nicht einmal in einen savoyischenkommen, ohne daselbst auf dieResidenz eines berühmten Autors zu stoßen. „Mein Autor, men, Marquis", sagte unser ehrlicher Savoyarde, „besitzt einen herrlichen Palast in Paris. Diesen verläßt er alle Frühjahre im Monat Mai, um unserem stillen Dorfe zuzueilen. Er bringt jedesmal drei Pferde, zwei Bedienten und einen Engländer mit, welcher letzterer schon seit 30 Jahren sein intimster Vusenfreund ist und ihm wie sein Schatten auf Schritt und Tritt folgt. Eie miethen sich hier für einige Monate ein und verlassen mich wieder gegen das Ende des Sommers. Sie leben hier sehr still und einförmig. Zuerst früh Morgens frühstücken sie zusammen. Dann begiebt sich der Marquis in seine Laube und schreibt an seinen Romanen, und der Engländer wandert im Dorfe umher oder liest in feinen Büchern. Darauf machen sie alle Tage eine große Cavalcade längs des Sees oder in die schönen Thaler unserer Dent d'Oche hinauf. Unterdeß hat meine Frau für sie gekocht, und um 5 Uhr Abends diniren sie. Dabei erzählen sie sich die Neuigkeiten des Tages aus den Bergen und unserem Dorfe, wobei sie mich immer ins Gesprach ziehen. Danach kommt die Post, und zu Abend lesen sie dann ihre Briefe und die Journale, Kohl, Alpcureiscn. ll. 15 338 Des Marquis be Cuftine Charakter. Welche ihnen die Neuigkeiten aus der großen Welt bringen." !— Da wir von dem Aufenthalte des berühmten Marquis in diesem einsamen Erdwlnkel nie etwas gehört hatten und daher noch immer etwas mißtrauisch waren, so brachte unser Mann uns Briefe, die er von ihm erhalten hatte, und aus denen zur Genüge hervorging, daß wir hier in der That die Seeresidenz eines berühmten Autors entdeckt hatten. Die Briefe rührten uns, denn sie waren mit einer großen Vonhommi« und mit der zärtlichsten Theilnabme für den kleinen Haushalt des Tavoyarden und für jedes Mitglied dieses Haushalts bis zum Hausknecht Pierre herab geschrieben. Auch vergaß der Marquis dabei nicht, seinen St. Gingoulphern zu erzählen, wie es ihm seit seiner Abreise ergangen, welche Länder er dabei gesehen, und was ihm daselbst gefallen oder mißfallen habe. Es hat etwas Rührendes, einen berühmten Autor, der gewohnt i,st, seine Gedanken dem ganzen großen Publicum von Europa vorzutragen, so etwas einem obscure« kleinen Landwirth erzählen zu hören, und dieser Zug von Gutmüthigkeit überraschte uns bei diesem Marquis um so mehr, da in Paris sein Charakter ziemlich angefochten und geschmäht ist, so wie uns denn auch seine treue Freundschaft undVerbindung mit seinem englischen Freunde und seine Liebe und Anhänglichkeit für das kleine einsame St.Gingoulph sehr wohl gefiel. Gutes und löbliche Neigungen bei denen zu entdecken, welche mehrfach zum Tadel Anlaß gegeben haben, und über welche die Welt dann nach ihrer Weise ohne Weiteres den Stab bricht, hat etwas besonders Wohlthuendes. Aber auch unser Savoyarde überraschte uns durch seinen edlen Sinn. Die Damen in unserer Gesellschaft wünschten ein Autograph des Marquis zu besitzen und Koten ihm für einen der Briefe ein paar Franken. „0 non, Nnänmv", erwiderte der Savop-nde, . „vous coiuprenez bien, que je ue pft**^ Das Schloß Blonay. ggg pas vous donner cette lettre. Le marquis est man ami el ses lettres sont un souvenir tres-cher pour moi. Que dirait Monsieur de Custine, quand il rcviendra le nui prochain , si je lui devais dire que j'avais marchande avec ses lettres!" „Aber sieh, die Damen geben Dir ein Goldstück! Gieb ihnen nur den kürzesten Vriefdafür!" — Das glänzende Gold erschreckte unseren Savoyard«». Er fühlte den Versucher ganz nahe. Aber hastig ergriff er seine Briefe, drückte sie an seine Brust und sagt« laut und entschieden i „Non, non, Monsieur, vous comprenez bien et je vous le repete, que je ne peux pas vous dormer ces letlres. Je vous ai done dil, que le Marquis est mon ami. Et e'est tout dire!" — SLßtr »uaren tetriibt bavufctr, ba^ toiv den gewünschte» Brief nicht bekamen. Aber wir waren noch viel erfreuter über die Worte und die Handlungsweise unseres armen Savoyarden, so wie über die gute» Dinge, die wir von einem geistreichen Manne gehört, von dem sonst Viele uns so manches Schlechte berichtet hatten. — Unsere Rückfahrt nach Vcvay wurde von solchen wohlthuenden Erfahrungen noch schöner verherrlicht als von denl prächtigen Untergang der Sonne, die hinter dem Jura verschwand. Nicht weit von Vevay, auf einem der reizenden Hügel, die das Vorland zu den gleich dahinter ansteigenden höheren Gebirgen bilden, liegt das bekannte Schloß Vlonay, das einen der gewöhnlichen Zielpuncte der Fremden in Vcvay bildet. Auch wir machten einen Ausflug dahin, und ich will dessen hier nur erwähnen, weil mir jenes Schloß und seine Besitzer einen der Merkwürdigsten Beweise von der conservative« Dauer waren, welche sowohl Steinen und Mauer», als auch menschlichen Verhältnissen innewohnen kann. Die Grundmauern von Vlonay sollen in, zehnten Jahrhundert gelegt worden ftin, und selbst die ganze Einrichtung des Schlosses, so wie es jetzt da steht, steigt bis lief 15* Die Familie Vlonay. ins Mittelalter hinauf. Seit uralten Tagen bis auf die neuesten Zeiten hinab hat die Familie der Freiherren von Vlonay dieses Schloß besessen und besitzt es noch heutiges Tages ganz ruhig. Der Ursprung dieser Familie verliert sich eben so in die Nacht der Geschichte, wie der Beginn des Schloßbaues. Die Blonay sind sich hier immer und ununterbrochen Vater auf Sohn, oder Neffe auf Onkel ein Jahrtausend hindurch gefolgt. Und me hat daö Schloß einen anderen Herrn als einen Vlonay gehabt. — Mich däucht, die Betrachtung dieses Factums, das in der Geschichte der waadlandlschen Familien nicht isolirt dasteht, muß im Stande sein, manchem, durch die jetzige Umwälzung der politischen Verhältnisse Geängstigten nicht wenig Trost zu gewahren. Man denke nur, welche Umstürze, welche Revolutionen die menschliche Gesellschaft am Genfersee schon in diesem Jahrhundert erlitt, der zahllosen Staatsveranderungen zur burgundischen, oder savoyischen, oder bernischen Zeit zu geschweige«; nur in den letzten zwanzig Jahren aNein zählt man hier fast ein halbes Dutzend radicals und radicalste, zum Theil gewaltsame Reformen des hiesigen Gemeinwesens. Und alle diese Reformen, Veränderungen, Nusbrüche und Um-schmelzungen hielt die Familie Vlonay ruhig aus, wie eine Eiche die atmosphärischen Stürme, und sitzt, wie gesagt, noch heutigen Tages auf dem uralten Schlosse ihrer Väter. — Die Vlonay mögen manchmal im Laufe der Jahrhunderte hart bedrängt und sehr geängstigt gewesen sein. Allein sie haben doch nie völlig den Muth und denVesch verloren. — Daher, sage ich, mag auch manchen jetzt Geängstigten der Hinblick auf die Vlonay trösten und mit mehr Zutrauen zu dem Vestande der menschlichen Dinge erfüllen. — Freilich hat die Blonay'fche Eiche viele oder die meisten ihrer Zweige verloren; ich meine ihre weit ausgedehnte Herrschaft und ihre Gerechtsame über die Ufer des Sees und die Uralte Sitten der Schweiz. I41 Berghohen, die über dem Schlosse sich aufthürmen. Mein diesen Verlust wird sie als billig anerkennen, so wie das Gerettete immer noch sehr dankenswerth ist. Als ich dieses Schloß in Gesellschaft einer englischen Familie besah, fanden wir die Besitzerin desselben auf einer kleinen grasigen Anhöhe in dem Schatten der herrlichen alten Wallnuß-bäume, die es umgeben. Rund umher an den Bäumen war Wäsche an Schnüren aufgehängt, und die Schloßdame saß nähend auf einem Stuhle mitten unter der Wasche, um sie zu überwachen, neben ihr auf Fußschemeln zwei blühende Töchter, die eine strickend, die andere lesend. — Ich bat meine Engländer, sie sollten sich diese Scene in ihr Sketchbook einzeichnen und als einen merkwürdigen Veleg der Conservirung uralter Sitten mit nach England nehmen. Wenn sie es ihr nicht schwarz auf Weiß vorweisen könnten, so würde keine Schloß-besitzenn in England es ihnen glauben, daß man hier die klein-burgundischen Chatelaines 1847 noch auf dieselbe Weise beschäftigt sehen könnte, wie in der goldenen Zeit, da die Konigin Bertha spann. Die gebildeten Klassen keines Volkes des europäischen Continents haben sich mit ihren täglichen Beschäftigungen so sehr von jener Zeit entfernt, wie die der britischen Inseln. 3. M a r t i g n y. Der Weg längs des waadländischen Seeufers, alsdann in das Rhonethal hinein und endlich über den großen St. Bernhard nach Italien war im Mittelalter eine der besuchtesten 342 Das Norland des Wallis. Straßen nach Italien. Auf ihm wanderten alle Pilgrimme aus Burgund, a»s Lothringen, aus den Niederlanden und England, überhaupt ans dem nordwestlichen Europa nach Rom, sowie die aus Deutschland und dem Osten hausiger über die rhätischen Bergstraßen gingen. Man sieht daher noch jetzt längs jenes Weges Gebäude, Spitäler und Hospize, welche ursprünglich zum Frommen jener Pilger angelegt waren; so das Spital von Villeneuve am Genfersee, das Hospiz auf dem großen St. Bernhard n. Jetzt ist diese Straßenrichtung bei Weitem nicht mehr in dem Grade besucht, und nicht nur jene allen Hospize und Spitäler zerfallen allmälig, sondern auch die neueCimplon»-Etraße, welche Napoleon nülilärischer Zwecke wegen durch diesen Theil der Alpen führte, wird vernachlässigt. In einer zahlreichen Gesellschaft von Chamouny-Vesuchern, Engländern, Deutschen und Franzosen, fuhren wir auf dieser Straße bis Martigny, um von hier aus über die Tute Noire zu den Gletschern des Mont Blanc zu gehen. — Es ist eine der schönsten Touren, die man in der Schweiz machen kann. Denn sie führt an den reizenden Hügeln von Clarence und Montreur, und an den uralten savoyischen Schlössern von Chillon und Villeneuve vorüber, und darauf längs der Rhone durch das wundervolle Vorland des Cantons Wallis, das wahrscheinlich einst vom See bedeckt war und das sich jetzt 5 Stunden weit als ein besonderes Becken bis zu den Thoren des Wallis bei St. Maurice hineinstreckt. Die beiden Vergreihen nämlich, welche im Süden und Norden den Canton Wallis oder das obere Rhonebeckm einschließen, neigen sich zwischen Martigny und St. Maurice zu einander zusammen. Von der einen Seite kommt die Dent de Midi, von der anderen die Dent de Morcles nahe herbei. Sie schließen das Land Wallis hier beinahe völlig von der übrigen Welt ab. Selbst Das Rhoncthal. 343 diese Thorpfosten des walliser Landes sind noch eben so wie alle die anderen Granzhöhen des Landes mit Eis bedeckt. Und es giebt kein Land in der Schweiz, selbst Graubünden nicht ausgenommen, das so rund herum von einer fast ununterbrochenen Mauer von Eis- und Schneebesen umgeben ist, wie Wallis. Jenes Vorland nun zwischen diesen Pforten des Wallis und dem Genfersee ist eines der reizendsten Stücke der Schweiz, die man sehen kann. „Es ist das schönste Stück Land, das wir je in der Welt sahen," versickerten meine englischen Reisebegleiter, und ich stimmte ihnen hier in jenem hausig wieverholten Ausrufe bei, obgleich sonst durch jene Phrase in der Regel weiter nichts bezeugt wirb, als daß wir meistens eben von der Schönheit am meisten ergriffen werden, die wir gerade vor Augen haben, und daß wir, aller übrigen schönen Gegenden, die wir schon sahen, vergessend, darauf schwören, es gäbe nichts Herrlicheres aus dem ganzen Erdenrund. Die Waadiander nennen dieß Stück Land „das Rhone-chal'^, ebenso wie die Bewohner der östlichen Schweiz ein ähnliches Stück der Nheinufer gleich oberhalb des Vodensees vorzugsweise „das Rheinthal" nennen. Die Vegetation und überhaupt die ganze Physiognomie dieses schönen Thales hat offenbar schon eine südliche oder italienische Beimischung. Die Vegetation ist äußerst energisch und Alles mit dem kräftigsten Grün ausgekleidet. Kastanien und Wallnußbäume und andere schön gestaltete Laubbaum-Kuppeln bilden überall die schönsten Gruppen. Hier und da in Garten gewahrt man schon Cypressen und Eedern. Vin Drittel der hier vorkommenden wilden Pflanzen gehört schon der Südseite der Alpen an. Die Verge, sowohl bie niedrigen Auslaufe ihrer Piedestale, als die höheren Hörner, Zähne und Gipfel, haben die malerischsten Formen und Figuren. Auf den Spitzen der Felsen zerstreut liegen höchst pittoreske Rui- DM Das Thor der Wallis. nen, ehemalige Schlösser der berühmten Herren dieses Paradieses, der Torrens, der Rovereaz, der Chivron und Tavel, und dabei längs der Rhone hin bequeme und ebene Wiesengründe. Von den Seiten der Berge münden mehre kleine Nebenthäler in das Rhonethal aus, die, wie ihr Hauptthal, zu den reizendsten Vergeinschnitten der Schweiz gehören. — Alle überbietet das Thal von Ormond, das mit einer unvergleichlichen Vegetations-Fülle und mit einem überschwänglichen Reichthum an Abwechselung malerischer Effecte zu den hohen und wilden Diablerets emporsteigt, und durch das einer der schönsten Gebirgswege der Schweiz zu jenem Hirtenlande, das, wie ich oben sagte, Vonstetten beschrieb, emporführt. Ginge der Genfersee noch in diesen Vor-faal des wallistr Landes hinein, wie er es vielleicht früher einmal that, und bedeckte er einige Sumpfstriche in der Niederung mit seinen krystallenen Wogen, so würde ohneZweifel dieß Stück seine allerschönsten Küstenpuncte und Partieen enthalten. Ver ist der letzte Ort im Waadlande. Von hier stiegen wir zu Fuß in das Thor des Wallis hinein. Der Gingang ist sehr eng zusammengeschnürt und mit alten Befestigungen versehen, welche jetzt eben restaurirt und neu armirt wurden. Die alten Schweizer hatten durch einen solchen Paß schwerlich viel Oesterreicher einpassiren lassen. Man könnte hier beinahe das ganze Wallis mit einem Schlagbaum und Riegel wie ein Haus verschließen. Damals glaubte man auch allgemein, es würde hier, wenn die Radicalen kämen, emeThermopYlen-Schlacht gefochten werden. Allein die Wallistr hatten den schlimmsten Feind schon mitten im Frieden innerhalb ihrer Thore, nämlich die Uneinigkeit. Das ganze untere Wallis bei Sion und Martigny war für die Radicalen des Waadlands gestimmt und gegen die sonder-bündischen Deutschen oes Oberwallis. So Wie man durch das Thor von St. Maurice eingetreten Das Wallls. 345 ist, ändert sich die Gegend. Die Mannigfaltigkeit der Reize, die in dem Rhonethale bis zum Genferfte herrscht, hört hier völlig auf, und von Martigny an ist das Wallis oder wenigstens sein Hauptthal ein sehr einförmiger langgestreckter Gebirgseinfchnitt, wie es deren mehre in ven Alpen giebt, z.V. das Vorder-Rhein-thal ln Graubünden, das Pinzgau im Salzburgischen. Aber freilich sind dann in den zahlreichen Nebenthalern des Cantons wieder ganz entzückende und höchst großartige Naturscenen versteckt. Da das Wallis auf beiden Seiten von den höchsten Gebirgen der Schweiz, im Norden von dem Finster-Aarhorn, im Süden von der Mont-Nlanc- und Mont-Rosa-Gruppe begränzt wird, so bietet sich in seinen Nebenthälern die großartigste Hochge-birgsscenerie dar, welche in irgend einem Theile der Alpen zu finden ist. Da ist der 6 Stunden lange Gisstrom des Aletsch-Gletschers, welcher von allen Kennern für den schönsten Gletscher der Schweiz erklärt wird. Da ist das Nicolaithal, das großartigste aller Hochalpenthäler. Da sind noch andere zahlreiche Nebenthäler, deren Bewohner in uralter patriarchalischer Sitteneinfalt von aller Welt abgesondert leben. DaS Land ist über 70 Qua-dratmeilengroß, und doch führt nur eine einzige fahrbare Straße durch das Thor bei St. Maurice zu ihnen hinein. Außer dieser Straße giebt es nur noch mühselige Fußwege von diesem walliser Volke zu den Völkern der übrigen Welt, und auch selbst solcher mit Tod umdrohter Fußpassagen giebt es kaum ein Dutzend. Kein einziges Landstück Europas von gleicher Ausdehnung hangt durch so geringfügige Verkehrswege mit der übrigen Welt zusammen. Kann man sich demnach wundern, daß die Walliser ein besonderes Völkchen für sich sein wollten, daß sie Anhänger des Sonderbundes waren, daß sie so viele eigenthümliche und uralte Sitten haben, daß man, aus dem Waadlande kommend, bei ihnen ««s der Neuzeit ins Mittelalter zurückzuschreiten 15" 346 Die Cretins. meint. — Sowie man durch die Pforte bei St. Moritz eingetreten ist, ist ma» von einer ganz anderen Welt umgeben. Andere Menschen, andere Sitten, andereCostüme, andere Dörfer und Gebäude zeigen sich dem Reisenden. Er hat andere Gefahren zu bestehen, und andere Schönheiten versüßen ihm hier seine Mühen. — Die wilde und grotesle Natur der Hochgebirge nimmt den Platz der geschmückten und lieblich ansprechenden Natur der niedrigen Thäler. Um dieser Veränderung gewachsen zu erscheinen, sollte man eigentlich bei dem Durchgange von St. Moritz seiner Länge ein paar Men zusehen können. Man müßte ein Riese werden und Rieseneigenschaften entwickeln können, um diese gewaltige Natur ertragen und begreifen zu können. -^ Wunderbarer Weise geht es den Menschen aber gerade umgekehrt. Den meisten Reisenden entfallt bei St. Moritz das Herz. Die Bewunderung, welche die Natur hier erweckt, ist von einer Art Schrecken begleitet. Vielleicht ist es auch dieser Schrecken, dieser strenge Ernst der hiesigen Natur, der ln dem Wallis so häufig den Geist der dort geborenen Menschen zumCretimsmus zusammenschrumpfen läßt. Das Wallis ist durch seine zahlreichen Cretins bekanntlich verrufener als irgend ein anderer Theil der Alpen. Nicht nur die Armen des Landes, welche kümmerlich leben, ungesunde Luft und Nahrung genießen und ihre Kinder unvernünftig erziehen, haben hier viele Cretins unter den Ihrigen, sondern man bezeichnet auch einige reiche und ausgezeichnete Familien des Landes, von denen einigeVranchenganz im Cretimsmus verkommen sind. Man behauptet, daß in Wallis so vieleCretins seien, als in allen Can« tonen der übrigen Schweiz zusammengenommen. Doch haben viele Umstände in neuerer Zeit darauf hingewirkt, auch hier dieses entsetzliche Uebel zum Weichen zu bringen. Die neue Simplonstraße bezeichnet man als einen dieser heilsam wirkenden Ausrottung der Cretins. HM Umstände. Diese Straße, sagen die Walliser, ist in unser verstecktes, dunkles, dumpfes Land wie ein erleuchtender Strahl hineinge-brochen. Sie hat mehr Verkehr und Rührigkeit unter das Volk gebracht, Veranlassung zu häufigerer Berührung mit den Fremden gegeben, den Lohn der Arbeit in den Dörfern am Wege erhöht, viele neue und besser eingerichtete Häuser geschaffen und auf diese Weise, soweit sie geht, auffallend unter den Cretins aufgeräumt. — Auch die Eroberung des Wallis durch die Franzosen wird als eine der Ursachen bezeichnet, welche die Giftpflanze des Cretinismus an manchen SteNen ausrottete, zum Theil freilich auf eine Weise, die nur im Kriege entschuldbar und erklärlich erjtyeint. Man sagt, die Hranzojen waren vei lyrrm Ginbruch ins Wallis über die cretinlsche Bevölkerung so entsetzt gewesen, daß sie diese bedauernswcrthen Menschen, die sie nicht als Menschen hätten anerkennen wollen, überall niedergemacht und so Tausende von ihnen aus der Welt geschafft hätten. Diese un« menschliche Ausrottung der Cretins hatte vielleicht zunächstdie gute Folge, daß wenigstens die Begattung unter diesen Unglücklichen und die Erzeugung neuer Cretins vielfach verhindert wurde. Spater traf das französische Gouvernement, durch den Schrecken und die Gräuelthaten seiner Soldaten angeregt, noch andere humanere Maßregeln gegen den Cretinismus, auf den auch Napoleon ein aufmerksames Auge hatte. Seitdem ist der Kampf der Staatsverwaltungen gegen dieses Uebel, wie der Kampf gegen so manches andere Uebel, den Napoleon's Soldaten eröffneten, nicht wieder eingeschlafen. Kurz nach dem Eintritte bei St. Maurice trifft man auf eine sehr wüste Thalgegend und gerath in ein Labyrinth von Felsen und Steinblöcken, das von einem ehemals hier stattgehabten Bergstürze herrührt. Obwohl dieses Creigniß in das 348 Dle?i«5e-vn«lls. Jahr 562 nach Christi Geburt verlegt wird — damals sott hier ein kleiner Ort, Epaunum, zerstört worden sein — so ist die entstandene Wüstenei durch Cultur und Vegetation doch noch heutigen Tages so wenig verwischt, daß man sich kaum überreden kann, damit in so alte Zeiten hinaufzusteigen. In diesen Bergstürzen, die einen unermeßlichen Irrgarten von Felsblöcken erzeugen, ist eö den Pflanzen wie den Menschen schwerer als bei irgend einer anderen Verwischung der fruchtbaren Erdoberflache, wieder festen Fuß zu fassen. Der Wasserfall der Sallenche, die risse-v«cn«, die wir kurz vor Martigny erreichten, desappointirte uns natürlich aNe. -«»» ,v»ll«, vy«r nllviiulMe oer Meinung, ociß ane vle L?cyllfl- steller, die sich die Mühe gegeben haben, über ihn zu schreiben, viel zu viel Schönes von ihm gesprochen hatten. Uebrigens muß man nahe zu dem Wasserfall hinzutreten, ihn von allen Seiten, von hinten und von vorn betrachten, um ihn ganz würdigen zu können. — Ein französischer Schriftsteller, der ihn in einer wasserreicheren Jahreszeit sah, als wir ihn sahen, be» schreibt ihn so: „Lespectacle de celte eau pendante, sans cesse precipice et sans cesse renouvelee, toujours tombante et tou-jours suspendue, est un charme, qui enleve Tame, et qui fixe en un instant toutes ses facultes. Mille formes bizarres, dont pas une ne ressemble a 1'aulre, so succedent coup sur coup avec une rapidite incroyablc. La c'est le torrent entier, qui se prčcipite mnjestueusement d"une seule piece, et qui frappant avec fureur le bas du rochcr et repousse par lui avec la mčme violence rejaillit en enlier sur I'ean, qui le suit et seme partout une pluie čpaisse. Ici de petits filets s'elancent hors de la masse totale avec la vitesse de l'eclair et se batent de la devancer dans sa chute. La plusiours groupes de l'element Kritik der Wasserfalle. 349 liquide se heiirtent avec violence, roulent en tourbillon les uns sur les autres dans Tetcndue de l'air et alteignent ninsi le bas do la montagne. Quelquefois une partie de la riviere, chassee par la violence du vent, est jetee sur les rochers voi-sins; eile s'y rompt avec fracas; — un grand espace se couvre d'ccume, l'onde brisče part en tout sens, mille ruisseaux coulentde toules parts, les arbrisseaux lointainssont inondes. Ici l'eau suspenduo est d'une couleur noiriitre; lä elle offre la plus vive blancheur; ici elle se fond en nuages et disparait entierement. Mille mouvements divers se pre-sentent tout d'un coup, et dans le bas la masse totale de l'eau, saus cesse lanceo et sans cesso repousse«, io mtiungo ut>» vagues, des rochers, de 1'čcume, des nuages confondus, agites, hattus avec la plus terrible violence, offre Timago dela nature retournant a grand pas a son premier chaos, et da combat de tous les elements reunis pour la destruction du monde." Die Kritik und Aesthetik der Cascaben und Alpen-Wasserfalle war in den letzten Friedensjcchren außerordentlich weit gediehen. Und viele Zungen und Federn waren beständig mir Streiten und Discutiren darüber beschäftigt, ob und inwiefern die ri88e-v8«!,o den Vorzug vor dem Staubbach, oder der Reichenbach vor dem Gießbach verdiene. Man betrieb diese Dlscussionen und Kritiken eben so eifrig, wie die Besprechungen über die Vorzüge der Leistungen einer Taglioni oder Elsler, eines Liszt oder Thalberg. Jetzt, da alle unsere politischen Strömungen sich selbst über Felsen und Abgründe hin, die ihnen ganz unvermuthet begegnet sind, in Cascaden aufgelöst und zersplittert haben, und man noch nicht weiß, ob sie sich in Staubwolken chaotisch völlig auflosen oder sich unten wieder in einem schönen Thais zu einem Strome zusammenfinden werden, sind 350 Lage v°n Martigny. aufeinmal alle jene Beschäftigungen als höchst luiuriöseund überflüssige Erzeugnisse des Friedens erkannt worden, und Tausende von den Leuten, die sich »och vor wenigen Monaten über Staubbach oder rl336-vÄol»6, über Liszt oder Thalberg ereiferten, laßt dle Frage jetzt ganz eiskalt, ob ein Stück Wasser so oder so von einem Felsen stürze, oder ob ein Claülertastcnschläger diese oder jene Effecte hervorbringe. Die Stadt Martigny liegt an einem Puncte der Rhone und des Rhonethals, wo Fluß und Thal einen rechten Winkel bilden, indem sie aus ihrer bisherigen westöstlichen Richtung in eine südnördliche übergehen. — Dieser Umstand hat Martigny seine und ein Zusammentreffen mehrer Straßm veranlaßt worden. Die nordsüdliche Straßen richtung vom Gen ferste her setzt sich über den großen St. Bernhard fort. Eine andere Straßenrichtung geht in dem weilen wallifer Thale der Rhone aufwärts, und endlich führt eine vierte über die Passe 6«! äo Lnlmo und lots noiro nach Savoyen hinein. — Auffallend war mir von jeher die Aehnlichkeit der Lage von Chur mit der von Martigny, so wie überhaupt der außerordentliche Parallelise mus, welchen die Bildung des Rheinthales mit der des Thales der Rhone darstellt. Wie diese, auf dem St. Gotthavd entspringend, ein großes Stück nach Westsüdwest auslauft, alsdann bei Martigny Plötzlich in rechtem Winkel nach Nord-nordwrst umspringt und sich in einen See (den Genfer-see) verlauft, so läuft jener, der Rhein/ ebenfalls auf dem St. Gotthard entspringend, ein großes Stück in ostnordöstlicher Richtung, setzt dann bei Chur in einem rechten Winkel plötzlich in nördlicher Richtung um und verliert sich auch in einen See (den Vodensce). — Wenn ich solche Parallele» und harmonische Bildungen in der Gestaltung der Erdober- Entdeckung des Chamounythales. IH^ stäche betrachte, so gedenke ich unwillkürlich oft der chladnischen Figuren, wo sich ähnliche AnhaufungS- und Austiefungs« parallelen im Sande zeigen. 4, Col cle la Tüte noire. Der savoyische Fluß Arve entspringt nicht weit von Martigny jenseits der Verge, die hier das Rhonethal um-gränzen, und stießt dann, einen weiten Bogen durch Sauoyen ziehend, bei Genf in die Rhone. Der obere Theil deS Arve-ThaleS heißt Chamouny ^vermuthlich von olinmois, Gemse, — also das Gemsethal ^. Dieses berühmte, lange Zeit versteckte, durch Engländer entdeckte, von Saufsure in der Literatur verherrlichte Thal am Fuße des Mont Vlanc ist daher hauptsächlich nur von zwei Seiten zu erreichen, entweder von Martigny aus bei seinen Quellen oder von Genf aus bei seiner Mündung. Alles Land zur Rechten und Linken des Thales ist mit so vielen Gebirgözweigen erfüllt, daß man eine Menge Querchaler und Vergpassagen zu durchsetzen hätte. — Ve» ständig geht daher der Strom von Chamounypilgern entweder bei Genf oder bei Martigny in das Arvelhal hinein und entweder bei Martigny oder bei Gens wieder hinaus. Man hat von Martigny alls die Wahl zwischen zwei Passagen, erstlich der Passage des col cle Unlmo und dann der der löte noir«, die indeß eigentlich Zweige nur eines und desselben Gebirgsweges sind. Wir wählten die löto noir«, *) Gs giebt noch andere Gemsethaler in den Alpen, z. B. das Va! CamonlW auf der italienischen Seite. 352 Zeitungsleser in ben Alpen. weil sie uns als die schönere Partie empfohlen wurde. Wie gewöhnlich fand sich dazu am Morgen in Martigny eine ganze kleine Karawane zusammen. Jeder von uns hatte sein Maulthier und seinen Führer, mancher noch ein besonderes Maulthier für seine Bagage. Und außerdem schloß sich noch ein ganzer Trupp von Chamounymaulthieren und Führern an uns an, die leer in ihr Thal zurückkehrten. Diese Leute saßen aus ihren Maulthieren, welche den Weg von selbst fanden, müssig da, und weil sie also nichts zu bewachen hatten, so lasen die meisten vun ihnen die schweizer Zeitungen, die sie frisch in Martigny gekauft hatten. Sogar die Savoyarden hielten damals die schweizer Angelegenheiten in großer Spannung, und sie debattirten darüber, als waren sie persönlich dabei mteressirt. Ich erinnere mich nicht, daß Saussure je in seinen Reisen einen zeitungslesenden Maulthieltreiber anführt. Jetzt, nachdem die Angelegenheiten des ganzen Europa in dieselbe Verwirrung und Aufregung gebracht sind, in welcher damals sich bloß die schweizer Angelegenheiten befanden, nachdem der Sturm in dem Glast Wasser zu einem Orcan auf dem Ocean geworden ist, wird man solche Scenen in den Alpen wohl noch häufiger sehen. Unsere eigenen Führer waren Walliser, und meiner, mit dem ich über die schweizer Politik zu reden anfing, sagte mir: „Ach, ich kümmere mich gar nicht um die Politik. Ich thue, was die Obrigkeit befiehlt, und spreche nicht gegen unsere Herren. Dieß ist das Sicherste." Mir kam diese Aeußerung nichts weniger als freisinnig und eines Republikaners würdig vor. Aber in der alten Schweiz, wo noch „die Herren" regierten, konnte man unter Hunderten wohl 90 solche schüchterne und gehorsame Republikaner finden. Eine Vernerin erzählte mir einmal, welchen unbegranzten Respect und welche Furcht sie in ihrer Jugend vor den Herren von Bern, vor den Patriciern, gehabt Aufsteigen lm Rhonethale. 353 hatten. Einmal, erinnerte sie sich, wäre eine wunderliche Spukgeschichte Passtrt, wobei ein berner vornehmer Patricier, ein Steiger, belheiligt gewesen. Anfangs, wie diese Geschichte passirt, hätte man sie sich allgemein erzählt. Da das viele Gerede aber der Familie Steiger schon unangenehm gewesen wäre, so hatten die Patricier Jedermann verboten, irgendwo dieser Geschichte laut Erwähnung zu thun. Auch in ihrem Thale sei dieß Verbot ergangen, und der Landvogt hätte streng daraufgesehen, daß Niemand mehr der sccmdalösm Steiger-schen Spukgeschichte Erwähnung thue. Sie und ihre jungen Gespielinnen hatten sich aber gar zu gern diese Geschichte er« zählt, und sie erinnere sich, wie sie sich oft ganz heimlich dazu auf die Ofenbank gesetzt und ganz still diese Geschichte sich zugeflüstert hatten. — Aehnliche Beispiele von aristokratischer Tyrannei, wie diese bernscbe, findet man nnr noch in der venetianischm Geschichte. Wir stiegen etwa zwei oder drei Stunden lang durch ver» schiedene Dürfer und Fluren aufwärts, bevor wir das Thal der Rhone völlig verloren. Von einzelnen Puncten aus boten sich herrliche Rückblicke in dasselbe dar. Man sieht eS sich gerade und weit hinstrecken und verfolgt die Linie der Rhone und der Simplonstraße bis nach Sion hinauf, dessen Mauern undThürme man ganz in der Ferne als äußersten z»«int «o diunolio " gegeben hat. Von der löte noire aus geht es bis nach Genf nun immer bergab. Das erste kleine Dorf oder den ersten Weiler in Chamouny, den wir passirten, fanden wir in folgendem Zustande. Die Häuser wnren größtentheils dem Erdboden gleich gemacht, und von den meisten standen nur noch einige Mauertrümmer. In der Mitte, etwas nahe am Wege war ein Pfeiler errichtet mit einer metallenen Büchse, woran die Worte standen: „Für die armen, durch eine Lawine am 17 April Verunglückten". Solchen traurigen Scenen der Verwüstung begegnet man nicht selten in diesen Hochthälern. 358 Herr von Saussure. Nicht weit von Argentine Pflegen kleine einspännige Wagen für die Fremden aus den, Wallis bereit zu stehen. Alle Theilnehmer unserer Karawane waren des Reitens ziemlich müde, und wir brachten daher ein halbeS Dutzend Wägelchen zusammen und rollten nun ins Chamouny zu dem Hauptthalorte gleiches Namens hinab. . 5. Ehamouny. Das Thal von Chamouny, seine Natur, seine Vewohner und ihre Sitten hat am beßten Herr von Saussure beschrieben-Er ist in der That für das Chamouny der Hauptautor, wie für das alte Gallien Cäsar, wie für die alten Germanen Tacitus. Wie jeder Berg seinen Gipfelpunct hat, so hat jedes große oder kleine Land, jeder Canton oder jedes Thal seine» Hauptautor, der von keinem Anderen erreicht wurde, und dessen Name und Vuch so mit dem Thale verwebt ist, wie der Name und das Vuch von Herodot mit der Geschichte und dem Volke Griechenlands. Ich könnte eine Menge Thaler in der Schweiz nennen, deren jedes seinen Hcrodot oder seinen Saussure gefunden hat. Freilich giebt es auch noch viele, die noch auf ihren classischen Beschreiber warten. In den Alpen, wie auch sonst in der Natur, kann man keinen Theil gut und genügend schildern, ohne damit zugleich auch dem Ganzen einen Dienst zu erweisen. Jede Individualität gehört einer Classe an, und in dem Portrait eines Individuums ist daher auch ein ganzes Genus von Individuen por- Aehnlichleit der Alpenthalcr. g^9 traitirt. Die Schilderung, welche Herr von Saufsure von Chamouny und seinen Bewohnern entwirft, paßt daher auch auf eine ganze Reihe von Thälern, die mit Chamouny unter ähnlichen Verhältnissen sind. Ich könnte eine Menge von Sitten oder Verhältnissen bezeichnen, die Herr von Saussure als Sitten oder Eigenthümlichkeiten des Chamouny darstellt, die im Grunde aber sich fast in allen Alpenthälern wiederfinden, die mit Chamouny in einer Höhe liegen. Es ist merkwürdig genug, daß man die Alpenthäler und ebenso auch die Physiognomiken del in ihnen liegenden Ortschaften und ihre Bewohner so genau nach der Höhe claMciren kann, wie gelbe und grüne oder rothe Marken nach ihren Farben. Einen rechten Alpenkenner kann man mit verbundenen Augen in jede beliebige Gegend der Alpen führen, und wenn man ihm die Augen wieder frei macht, ihm die Tages- und Jahreszeit angiebt, so wird er sogleich aus der Beschaffenheit der Luft, aus dem Anblick der Häuser, aus dem Zustand der Vegetation und überhaupt aus der gcmzen Physiognomie des Thales bis auf 500 oder 400 Fuß angeben können, in welcher Höhe er sich befindet und welcher Gattung von Vergstufen dieses Thal angehört. Das Chamouny-Thal, diese oberste Wanne, dieses Quellbecken der Arve, kann man in eine Classe stellen mit dem Thal von Courmayeur auf der anderen Seite deö Mont Vlanc, mit dem Oberhasli-Thale und dem Gnndelwalder Becken im berner Oberlande, mit dem Nhemwald-Thale am Splügen, mit dem Urseren-Thale am St. Gotthard, mit dem Vregell in Graubünden, mit dem Pommat jenseits des Gries-Gletschers und mit zahllosen anderen Thalern, die fast alle so ziemlich gleich große und gleich hohe Wannen darstellen am Fuße hoher Berge. Der Ort Chamouny liegt etwas mehr als 3000 Fuß über dem 360 Chamouny und Grindelwald. Meere, ebenso die Thalhauptorte Courma^eur, Grindelwald, Guttannen, Splügen, Simplon :c. Man kann annehmen, daß man überall in den Alpen zwischen 3000 und 4000 Fuß über dem Meere den ersten einigermaßen bedeutenden Dörfern oder Flecken begegnet. In ästhetischer Beziehung wird am häufigsten daS Thal von Chamouny mit dem von Grindelwald und überhaupt die ganze Thal- und Verggegend an der Mont-Vlanc-Gruppe oder das savoyische Oberland mit der ganzen Thal- und Verggegend an der Finster-Aarhorn- und Jungfrau-Gruppe oder dem berner Oberlande verglichen. Diese beiden Hochalpenstücke sind die berühmtesten und besuchtesten aller Hochalpengegenden, und die Fama giebt in der Regel dem savoyischen Oberlande .den Vorzug. Vielleicht kommt dieß nur daher, weil diese Partie schon länger bereist wird als jene, oder daher, weil sie von Saussure sowohl, als auch von anderen Reisenden in der in Europa verbreitetsten Sprache, in der französischen, geschrieben ist. Daß sie in der That von der Natur vor jener bevorzugt sei, wollte mir nicht recht einleuchten. Das Chamouny «Thal selbst erschien mir sogar trister und einförmiger als das Grindelwalder Thal. Eine schönere Reihe höchst pittoresker Vergscenen und Gruppen als im Lauterbrunnen-Thal sah ich hier, im savoyischen Alvenlande, nicht. Solche großartige Gisströme, als der Unter-Aar-Metscher und der Aletsch - Gletscher in der Finster-Aarhorn-Gruppe, und solche wundervolle Scenen wie an ihren Ufern bemerkte ichanderMont-Vlanc-Gruppe nicht. Auch ist der Vau der Jungfrau-Pyramide, wie er sich von Interlaken aus darbietet, so unübertrefflich, daß derMontVlanc und die Aufstaffelung seiner Massen dem schwerlich gleich kommt. Ich stelle in ästhetischer Beziehung die Jungfrau höher als ven Mont Vlanc. Aber die Die höchste Spitze des Mont Blanc. 361 Menschen beugen sich immer vor der materiellen Größe am tiefsten, und der Mont Blanc steht bei ihnen deßwegen in höherem Ansehen, weil er etwa !500 Schuh höher ist als die Jungfrau, ebenso wie sie sich vor einem Kaiser von Rußland viel tiefer beugen als vor einem Dogen von Nenedig, obwohl die Gewalt und die Berechtigungen, überhaupt die ganze Figur des letzteren viel complicirter und so zu sagen pittoresker sind als die des ersteren, der blos eine kolossale, einförmige, unmalerische Größe vorstellt. Auch wir entgingen diesem Zauber, den Höhe, Größe, Macht auf uns übet, nicht. Schon von der leto noiro her hatten wir unseren Führer bestandig damit geplagt, uns die Spitze des Mont Blanc zu zeigen. Und in Chamouny selbst ist die erste Frage aller Reisenden wieder nach der Spitze des Mont Blanc, wie in Rom nach dem Papste. Man bringt den größten Theil seines Aufenthalts im Thale damit hin, jene höchst thronende Spitze zu suchen und die magnetisch von ihr angezogenen Augen auf sie zu heften. Es geht einem dabei eben so, wie den Frauen des Darius nut dem Alelander und seinem Freunde Hephastion. Wie Alexander tritt der höchste Dom des Mont Blanc, die sogenannte Lasso äo vromoclaii-e, etwas zurück, und wie Hephastion tritt eine andere Spitze, I« Dünw äu 60M6 genannt, so breit und mächtig vor, daß man sich kaum überreden laßt, daß nicht sie, die letztere, hier der König der Berge sei. Beide Gipfel haben blendend weiße Farbe, doch erkennt man bei genauerer Betrachtung, daß das Weiß der eigentlichen Spitze, die sich etwas nach Süden hin zurückzieht, einen halben Grad bläulicher oder grauer ist als der weiter vorliegende vümo du 6u>N6. Und nachdem man dieß bemerkt und für die weitere Entfernung der Höhe etwas zugesetzt hat, Kohl, Alpenreisen. II. zg 362 Vesteigung deö Mont Blanc. ist man geneigt, dem eigentlichen Mont Blanc Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Jahrhunderte lang hat man von Genf und von anderen Orten aus, wo man die Spitze des Mont Vlanc sehen kann, mit dieser geliebaugelt, ohne daß auch nur ein Mensch es versucht hatte, sich ihr zu nähern. Erst im Jahre 1741 besuchten zwei fremde Reisende zum ersten Male das versteckte Thal von Chamouny und gaben Europa eine Beschreibung davon. Diese Reisenden gehörten derselben Nation an, die sowohl bei unseren Antipoden, als auch in unserer nächsten Nachbarschaft so viele Entdeckungen gemacht hat. Die Namen dieser beiden Engländer, Pocock und Windham, sind in einem Felsen am Rande ves Eismeeres verewigt. Und bei sehr vielen fttzt allgemein gepriesenen und von allen Seiten her besnchten Paradiesen kommt man auf solche englische Namen, als den Anfang und Ursprung ihres Ruhmes, zurück. — Der eigentliche wissenschaftliche Entdecker des Chamouny, Herr von Saussure, war zugleich auch der erste Vcsteiger des Mont Blanc. Er liebäugelte, wie er selbst erzahlt, schon von Jugend auf aus den engen Straßen seiner Vaterstadt Genf mit der Spitze des Mont Vlanc, die ihn magnetisch anzog, und beschäftigte sich 30 Jahre hindurch mit der Idee, ihn zu besteigen, einer Idee, die er erst auszuführen sich im Stande sah, als er längst die Mitte seines Lebensalters weit überschritten hatte. Seit seiner Vesteigung des Mont Vlanc, von l7«7 bis 1627, folgten 1« Rei-sende seinen Fußstapfen, darunter die Hälfte Engländer. In neuester Zeit, seitdem alle Wege zugänglicher und passtrbarer geworden sind, selbst auch die zu der Spitze des Mont Vlanc, letztere nämlich durch bessere Vorbereitungen von Seiten der Fuhrer, ereignen sich fast in jedem Jahre eine oder ein paar Ersteigungen dieses Verges. Neuere Bergbesteigungen. gßg Da uns jetzt die Höhen so reizen und wir fast wie die persischen Feuer- und Sonnenanbeter alle Hügel und Berge der Welt der Auösichten und des Sonnenaufgangs wegen erklimmen, so begreifen wir es kaum, wie unsere Vorväter so völlig indolent und aller Neu- und Wißbegierde baar waren, daß sie jene prachtigen Höhen ganz unberücksichtigt ließen. Die Alten begnügten sich mit ganz fabelhaften Vorstellungen von den Höhen der Berge. Sie meinten, es gäbe darunter einige, die 40 Meilen hoch wären, und solche Vorurtheile mochten eben auch jeden Grsteigungsversuch verhindern. Saussure's Besteigung, Untersuchung und Messung des Mont Vlanc war ein Signal zur Untersuchung vieler anderer hoher Alpenkolosse. Nach Saussurc wurden der Monte Rosa, die Jungfrau, derOrteles undderGroß-glockner bestiegen. Fast jeder dieser Gipfel fand seinen Mär-lyrer, wenn auch nicht immer einen so ausgezeichneten, wie es der edle Genfer war, und wurde beschrieben und bestimmt. Fast jeder dieser und zahlloser anderer Gipfel bis nach Wien und Ungarn hin fand auch seinen hohen Gönner, der sich ihm widmete und der alles Mögliche aufbot, um ihn, sei es durch Aussindigmachung der gefahrlosesten Wege, oder durch Anlegung von Fußpfaden oder Schutzhäusern, oder durch Ausbildung guter Führer, zuganglicher zu machen. —» Vei dem einen war dieser fürsorgendc Gönner ein Fürstbischof von Laibach, bei dem anderen der uaturlicbende Erzherzog Johann von Oesterreich, bei dem dritten irgend ein Kloster, oder eine schweizer oder italienische Regierung. Man könnte eine höchst interessante Geschichte aller der neueren Bestrebungen für die Berggipfel der Alpen schreiben. Wie überhaupt alle Bestrebungen zur Cul-Uvirung und Aufhellung der Alpen, so nahmen auch jene im Weste,, der Schweiz ihren Anfang und verbreitete» sich allmälig mehr nach Osten hin. 3O4 Die Führer des Chamouiw. Nichts ist dem Alpenbesteiger wichtiger als eine gute Führung durch kundige und tüchtige Leute. Der Führer ist des Reisenden Stab und Stecken, sein Schirm und Hort. Er ist gewöhnlich sein vornehmster Lehrer, er muß daher kundig sein, — er ist fein Erretter in Gefahr, er muß daher stark und kräftig sein,— er hatden Reisenden bei hundert Gelegenheiten fast ganz in seiner Gewalt, er muß daher ehrlich und gut gesinnt sein. — Man hat nirgends besser als in Chamouny für solche Musterführer gesorgt. Man hat alle die der Gebirge kundigen Leute des Thales, die sich zu dem Führergcfchäft hergeben wollten, in ein Corps versammelt und dieses Corps gewissen gesetzlichen Bestimmungen unterworfen. Es wird keiner darin aufgenommen, der nicht ein Vramen über die Geographie nicht nur seines Thales und der Mont-Blanc-Gruppe, sondern überhaupt der Alpen bestanden hat. Auch ihre allgemeine Vildung und ihr Charakter, sowie ihre Gesundheit und endlich die Tauglichkeit ihrer Manlthicre werden einer Prüfung unterworfen. — Kein Reisender darf sich in Chamouny anderer als solcher geprüfter Führer bedienen. Sie leisten ihre Dienste nach einer gewissen Reihenfolge, und man ist genöthigt, den zu nehmen, der gerade an der Reihe ist. Ihr Tagelohn ist genau bestimmt. — Auch im berner Oberlande, wo jeder unwissende und unzuverlässige Mensch sich zum Führer aufmarf, haben die guten und tüchtigen Führer in neuerer Zeit darauf gedrungen, eine solche Führcrzunft zu bilven und die Mitglieder derselben ähnlichen Bedingungen und Prüfungen wie in Chamouny zu unterwerfen. In Chamouny wie im berner Oberlande giebt es gewisse renommirte Führer und Führerfamilieu, deren Ruhm durch irgend einen berühmten Reisenden, welcher sie empfahl, begründet wurde. Di? Führer des Chamouny haben die verschiedenen Touren, £te Courses ordinaires unb extraordinaires. 365 welche sie mit ihren Neisenden machen, in gewisse Classen gebracht. Jede Tour hat ihre vorgeschriebene Route, ihre bestimmte Dauer von so und so viel Stunden und Tagen und ihren festgesetzten Preis. Zuerst haben sie die „ oourses oröinnil-os". Dahin gehören die kleinen gewöhnlichen Ausflüge auf den Mont Anvert, um einen Vlick in die Eiswelt zu thun, auf den Mont Vrevent oder l» ki^oi'«, um einen Neberblick der ganzen Gletscherwelt des Mont VIanc zu genießen, und zu den Eiszacken derjenigen Gletscher, die in das Chamounythal hinabrücken. Die,,«0ur3e3oxli-l>o!'5?>n renlo aus. — Nur an der Süd- 368 Nebelcrzeugung. feite dieser imposanten Felfenpyramide kauerte in einem hochgelegenen Felsenthale eine Wolke, das einzige Gewölk am ganzen Firmamente. Das Thal selbst schien diese Wolke zu erzeugen. Denn wahrend sie, oben sich auflösend, in klare Luft beständig verflog, stiegen von unten neue Nebel empor, gleichsam, als hinge in jener Höhe ein riesiger Kessel, aus dem Wasserdampfe kochend aufwärts wallten. — Der Wind wehte aus Norden, und im Schutze vor ihm schwangen sich die Nebel ruhig an der Südseite des Verges hinauf, bis sie seine Gipfel erreichten. Hier aber, wo der scharfe Nordwind strich, wurden sie vom Luftstrome ergriffen und in gerader Linie zur Seite geschleudert, bis sie, eineZeit lang fortgeführt, sich auflösten und in durchsichtiger Luft zerschmolzen. — Da das besagte Thal in Nebelerzeugung unerschöpflich schien, und das Phänomen in jedem Augenblicke zwar verging, in jedem Augenblicke aber sich auch wieder erzeugte, so war dieses Schauspiel für mehre Stunden wie fwitt, und die Aiguille du Dru glich einem gewaltigen Mäste, an dem ein tausend Klaftern langer, flatternder Nebelwimpel befestigt schien. Mit Entzücken sah ich diesem hübschen Spiele der Naturgewalten zu, und mit Entzücken kletterte ich in Gesellschaft meines Führers auf den zuganglichen Wellenbergen des verglasten Meeres herum, blickte hinab in die blaulich schimmernden Spalten, hinüber zu den im inneren Vusen der Verge umschlossenen Schneefeldern, hinauf zum blauen Himmel und zu meiner zauberischen Nebelfahne. „Vous ctcs inspire, mon clicr. Vous nagez dans Venthousiasmc lo plus pur. Vous ctes inconcevablc. Je n'y comprcnds rien. — Venez, dites-moi, je vous conjure, qu'est-cc qui vous fait battre le cocur." — Es war meine französische Reisegefährtin, die mir dieß entgegenlief, und auf deren Angesicht bei diesen Worten ein sarkastisches Lächeln zuckte. Vine Französin über Naturgcnuß. iM> Während ich mit unseren Führern zwei kleine Ercursionen auf dem Gletscher machte, hatte sie sich ihre Mäntel und Tücher am Ufer des Eismeeres ausbreiten lassen und sich, chaperonirt von unserem dritten Genossen, dem gleichmüthigen Engländer, darauf niedergelassen und meinen enthusiastischen Sprüngen über die Klüfle mit dem Ergötzen zugesehen, mit welchem ein vernünftiger Mensch auf das Hüpfen eines Vogels und die Sprünge eines Eichhörnchens hinblickt. „Sie sind inspirirt. Ich bitte Sie, sagen Sie mir, wovon, durch was, durch wen. Vlicken Sie doch um sich! Etwa durch diese Steine? Durch dieses kalte Eis, durch diese Nebel, durch diese Häufchen Erde und Schmnz? — Ich begreife nicht, wie alle diese todten Gegen ftande im Stande sind, Ihr Herz nur im Geringsten zu rühren! Je Irouve tout cela bien curieux, c'est extraordinaire. Si vous voulcz, <,;a charme mon oeil. Mais ga ne me fait pas ballre lo cocnr. Qa nc mc dit rien. Absolument rien du tout. Und ich begreife auch nicht, was dieß Alles irgend einer vernünftigen Seele sagen könnte! — Meine ganze Sympathie gehört vem Menschen, aber die todte Natur ist für mich todt und nichts als Block, Scock, Klotz und Koth, »8 lri^ourieusoment Fsoupö, et ground ,1'uno munii^o trö^-ll>nll>3tiszlio ot extraorclinnuß. Ein armer Hirt, ein unglücklicher stupider Bettler sagt mir mehr als alle diese Gletscher und Vergzacken; parce que ca sent, ca possede une ame, Jc souffre, je me rejouis avec lui. Pour moi Vempire tie mes sympathies Unit avec rhomme, c'est Vhoinme, ijui me dit tout. Les animmix me parlenl encore un peu. La plante, les arbres, les fleuvcs I res-pen dc chose. — Et vous voila a-present emu de picrres, de places, dc nciges, de brouillards et de tout ce, qui pent cxister le plus dur, le plus insensible, le plus bete." 16** 370 Sinn für Naturgeuuß. Es ist wunderbar, wie wenig man oft für sich zu sagen weiß, wenn man auf einmal so, wie ich hier, über Ansichten und Gefühle angegriffen wird, die mau von jeher und ohne Weiteres für ganz natürlich und ausgemacht vernünftig hielt. Ich hatte von Jugend auf schou mit dem bloßen Namen Chamouny nichts als lauter herrliche Ideen associirt. Nor <1o Flnoo», Gletscher, die krystallene Eishöhle des Aveyron, Mont Vlanc, Col de Valme, — dieß waren für mich lauter Zauberworte für eben so viele wundervolle Begriffe und zauberische Gegenstände. Und nun standen alle diese Herrlichkeiten in der schönsten Pracht vor mir, und ich war recht mitten in der wärmsten Schwärmerei des Genusses, und doch stand ich beinahe stumm und verwundert da, als meine Begleiterin mich unter spöttischem Lächeln mit dieser Nede empfing. — Ich wußte Anfangs der Fluth ihrer verneinenden Veredtsamkeit nichts als die Frage entgegenzusetzen-„Aber warum reisen Sie denn, Madame, wnnnn unterziehen Sie sich alle den Strapazen, wenn Sie bei solchen Scenen nichts empfinden?" — „O'estpar curwsitö! pmir m'ingtruii's, pnrcL qu'on in'n lcmt parl« äu Nont Llano ot <1u Oliammm^. O'est pr«ei8om«nt, paur äemanäor ä«8 sxpIionUons do vou8 sur vc»g inZi'irutions!" — Wie gewöhnlich, wenn man sich mit Gründen nicht zu helfen weiß, ließ ich nun Autoritäten ins Feld rücken, und zwar alle dieTausenden von Reisenden, die seil Pocock und Saussure hierher geeilt wären und eben so wie ich von diesen Strömen und Eismassen sich inspirirt gefühlt hätten. — „Autoritäten", erwiderte sie, „sind keine Gründe und Grplicati-onen. Finden sich keine Gründe, so beweisen alle jene Autoritäten nichts weiter, als was langst bekannt ist, daß Tausende von Menschen ohne Grund, ohne klares Bewußtsein einem dunklen Gefühle folgen, wie in der Fabel die Tausende von Verzauberten der goldenen Gans. Mir kommt es immer vor, als belvundmen — „C'est par curiosite! pour m'instruire, parce qu'on m'a tanfc parle du Mont Blanc et du Chamouny. C'esfc precisemcnt, pour demandcr des explications dc vous sur vos inspirations ! " - — Wie gewöhnlich, wenn man sich mit Gründen nicht zu helfen weiß, ließ ich nun Autoritäten ins Feld rücken, und zwar alle dieTausenden von Reisenden, die seil Pocock und Saussure hierher geeilt wären und eben so wie ich von diesen Strömen und Gsmassen sich inspirirt gefühlt hätten. — „Autoritäten", erwiderte sie, „sind keine Gründe und Grvlicati-onen. Finden sich keine Gründe, so beweisen alle jene Autoritäten nichts weiter, als was längst bekannt ist, daß Tausende von Menschen ohne Grund, ohne klares Bewußtsein einem dunklen Gefühle folgen, wie in der Fabel die Tausende von Verzauberten der goldenen Gans. Mir kommt es immer vor, als bewunderten Dentsche Schwärmerei. 371, die Menschen in dieser sogenannten großartigen Gebirgsstenerie nichts als ihre eigene leibliche Kleinheit. Diese Berge sind nur groß und imponiren uns nur, weil unser Leib so klein ist. Wäre unser Körper hundert Essen langer, so würden wir darin eben so wenig etwas Erhabenes finden als in den Unebenheiten, in den Furchen und Vertiefungen eines umgeackerten Feldes. Hatte das Infusionstierchen, das vielleicht zwischen den Unebenheiten der Rinde dieses Baumes herumkriecht, Ihren schwärmerischen Geist, so würde es demnach eben so bei jedem Einschnitte, bei jeder Runzel und Narbe des Baumes die Augen voll Verwunderung aufsperrend stehen bleiben müssen und das Lob der Natur singen." — Ich verschanzte mich endlich gegen das Wort zauberisch und sagte meiner Französin: Ich kann mir den Umstand, daß Sie bei diesen herrlichen Scenen nichts empfinden, nicht anders erklären, als daß Ihnen ein Sinn fehlen muß, um diesen Zauber wahrzunehmen. Ich kann mir denken, daß in Paris in dem Gedränge der dortigen Gesellschaft, zwischen Ihren zahllosen Mauern und Schornsteinen Sie den Natursinn völlig verloren haben. In diesem Herzen der Welt, in welchem alle Geschicke der ganzen Menschheit besprochen, berathen und bestimmt werden, da ist Ihnen bloß das Gefühl für die Menschheit aufgegangen. — „So mag es wohl sein", ftgcc sie, „in Ihnen dagegen, der Sie in dem Lande der Wälder, in Deutschland geboren sind - — n'est-ce pas, vonsvivez bcaucoup dans les forets et dans les montagnes en Allemagnc? — m Ihren deutschen Wäldern, in Ihren romantischen Wildnissen und Einöden, da ist Ihnen jener Sinn, von dem Sie sprechen, besonders fruchtbar aufgegangen; Sie werden daher alle so schwärmerisch! Wie ich Sie um dieses Gefühl beneide! Wollte Gott, ich könnte hier das empfinden, was Sie zu fühlen scheinen!" 372 Die Aiguilles des Ghamounythalcs. Eine, dem Chamounythale oder der Mont-Vlanc-Gruppe besonders eigenthümliche Form scheinen mir die thurmartigen Steinmassen zu sein, die ich so spitz, so schroff und zugleich so hoch und mächtig nirgends in den Alpen wieder sah. Außer dem MontVlanc selbst und dem ihm nahen vümo <1u6ailtö und einigen anderen Gipfeln, die sich oben kuppelartig abrunden, laufen hier die meisten Vergspitzen wie Zahne, Nadeln oder Stacheln in die Höhe. Sie werden daher auch von den Gingeborenen „^lLUlilLs" (Nadeln) genannt. Da ist die H.issliilw verto, die H.»FuiN« <1u mi!e Töpfer, stehen in dieser Zeit ziemlich isolirt da. Seine Schriften gehören in eine Classe mit vielen Productionen des vorigen Jahrhunderts, z, B. mit Sterne's sontimental ^uin«^, mit den Schriften Rousseau's. C6 ist ein Wunder, daß ein solcher Mensch sich selbst in dieser Zeit und sogar in Paris noch Ruf und Anerkennung verschaffen konnte. Es ist ein Wunder, sage ich, und zugleich ein guteö Zeichen, denn es beweist, daß das in irgend einem Genre Ausgezeichnete sich zu allen Zeiten Freunde erwirbt. Indessen vermuthe ich doch, daß der liebenswürdige Töpfer nicht sowohl durch seinen gemüthlichen Humor, als vielmehr durch seine sich beimischende satirische Ader zunächst die 'Aufmerksamkeit auf sich zog. Unv allerdings in dem Schissbruche aller Gemüthlichkeit von 1848 würde auch er vermuthlich sich nicht in der Gunst deö Publicums erhalten haben. Das Schicksal, das ihn knrz vor diesem Jahre der Erde entführte, war daher vielleicht eine gütige uno wohlthuende Fügung der Vorsehung. — Es wird aber wohl eine Zeit kommen, wo der menschliche Geist wieder Ruhe und Muße genug haben wird, den Ideen, Traumen und phantastischen Gedanken solcher in ihre eigene Oeisterwelt vertiefter Menschen zu folgen und Töpfer'sche Schriften zu lesen. Ich habe im Laufe meiner Alpenreisen oft Gelegenheit gehabt, die Verwüstungen zu sehen und zu bedauern, die von heftigen Wirbelwinden, von wilden Vcrgströmen oder Lawinen in den mühsam bebauten Feldern und Garten der Menschen angerichtet waren. Hier in Genf, wie überall in den schweizerischen Sammelplätzen der Mensche», erfuhr ich viel von den Verwüstungen, welche die politischen Wirbelwinde in den gesellschaftlichen Zustanden angerichtet hatten. — Ich suchte den genannten treff- Da«? revolutionirte Genf. 3^9 lichen Calame auf. „Seit dem letzten Sturme in unserem Glase Wasser", sagte man mir, „ist es ihm zu unruhig in der Stadt. Gr hat sich aufs Land begeben." Ich besuchte Didey. Verstimmt und betrübt über die Ereignisse der letzten Monate fand ich ihn unter seinen angefangenen Schöpfungen, die zu vollenden, wie er sagte, ihm der Muth fehle. Ich wünschte den berühmten Prof.......zu sehen. Er ist nach Paris ausgewandert, sagte man mir, denn er konnte dem wilden Treiben hier nicht länger zusehen. N. ist gestorben, man sagt, in Verzweiflung über die Zeit. R. ist ebenfalls ausgewandert und hat sich in Preußen anstellen lassen. Ich wollte den in ganz Europa berühmten Prof......besuchen, den ich als Ve- gründer der Litilioln^uu 6o tlenövo, der beßten Vierteljahrs« schrift der Schweiz und der vorzüglichsten bisher stets fortlaufenden Quelle für die Kenntniß der Alpen, hoch verehrte. „Sie werden ihn nicht sehen können", sagte man mir, ,>'nn obwohl er ein Mann von 200,000 Franken Renten und dabei einer der gelehrtesten und gebildetsten Menschen ist und daher in Herrlichkeit und Freuden leben könnte, so hat er sich doch die jetzigen traurigen Zustände so zu Herzen gezogen, daß er frit unserer letzten Herbstrcuolution krank darniederliegt. Sogar sein Verstand scheint angegriffen, denn seit Monaton quält sich sein sonst so klarer Geist mit den wunderlichsten Phantafieen, und alle seine Freunde trauern um ihn. — Ich hätte gern ein wenig von der oft gepriesenen, sogenannten guten, ich meine gebildeten Gesellschaft von Genf gesehen. „Eine solche gu:c und gebildete Gesellschaft", sagte man mir, „eristirt nicht mehr bei uns. Diese hatte ihre Glanzepoche in früheren Zeiten, als noch die Voltaire, die Rousseau, dann die Necker und später die De Candolle, die Sismondi und Andere an den Ufern un. seres Sees lebten. Wie in Paris und wie auch anderswo, sind 390 Genfs Wichtigkeit. die angenehmen, der Conversation, der ästhetischen oder philosophischen Discussion und sonstigen geistigen Genüssen gewidmeten Cirkel immer seltener geworden, und die sogenannte gute oder gebildete Gesellschaft ist mit jeder radicalen politischen Erschütterung auf eine tiefere Stufe gefallen. Gö verbauert jetzt Alles bei uns und geht der Barbarei entgegen." — So sprach man zu mir und machte mich traurig, obgleich ich gestehen will, daß mir wohl Manches dabei einfiel, das mir in dieser Betrübniß wieder als ein Trost erschien. Es ist vielleicht keine Stadt in der Welt, die mit so geringer Population (Genf hat nur 28,000 Einwohner und hatte nie mehr) in den letzten 300 Jahren seit der Reformation einen so bedeutenden Einfluß auf die Bildung, Religion und politische Entwickelung Europas ausgeübt hat. Es ist daher sehr begreiflich, daß die Genfer ihr Städtchen hochstellen und zuweilen sein Gewicht sogar zu hoch anschlagen. Im Ganzen kann man sagen, daß sie ihr Genf nach Paris für die wichtigste Stadt der gebildeten Welt halten. Diese Einbildung, dann der strenge religiöse Sinn und endlich die erstaunlich weit getriebene Sparsamkeit sind unter den guten und schlechten Eigenschaften der Genfer die hervorstechendsten. — In Bezug auf ihren religiösen Sinn und namentlich ihre religiösen Sitten gleichen sie außerordentlich den Engländern und insbesondere den Schotten. Der Geist Calvin's waltet hier noch lebendig in den Gemüthern fort. — Dieser Umstand ist wohl vorzüglich an der Erscheinung schuld, daß von allen französisch Redenden, von allen Leuten celto-romano-fränkischen Stammes, die Genfer mehr als irgend welche anoere Franzosen mit den Briten harmoniren. Man kann sagen, daß die Genfer hauptsächlich mit drei Glanz-puncten der civilisirteu Welt zusammenhängen, erstlich und vor allen Dingen in Folge ihrer Geburt mit ihrer eigenen städtischen Genf und London. 391 Heimach am Leman, dann in Folge ihrer Sprache und ihrer literarisch-politischen Bildung mit Paris und endlich Haupt« sächlich in Folge ihrer religiösen Bildung mit London. Es giebt viele Genfer, die in Paris und Oenf zugleich etablirt sind, und die den Winter dort, den Sommer hier zubringen. — Ehen so sind auch viele Genfer in London etablirt, und namentlich scheinen die Genfer in neuerer Zeit mehr und mehr Vorliebe für das Land jenseits des Canals gefaßt zu haben. — Viele Eng-» lander haben seit 100 Jahren ihre Kinder in Genf erziehen lassen, und umgekehrt haben viele junge Genfer sich in England gebildet und die Sitten des dortigen Landes angenommen. Ich sah genug Genfer, die jungen Engländern so ähnlich sahen, wie ein Hühnchen dem anderen. — Die Briten, insbesondere die Schotten, nehmen besonders sehr eifrig Notiz von Allem, was in kirchlicher Beziehung in Genf vor sich geht. Ich kenne Genfer, welche kirchliche oder religiöse Schriften in englischer Sprache niederschrieben und sie dann erst in ihre eigene Sprache übertrugen. Die »leisten religiösen Werke der Genfer finden in England den entschiedensten Anklang. So ist dieß z. V. noch neuerlich der Reformationsgeschichte deö Genfer Predigers Merle d'AubignY geschehen, die in England in mehren Auflagen verbreitet ist, obgleich, oder vielleicht weil sie ein Werk ist, das die Reformation und den Katholicismus ganz und gar aus dem sehr einseitigen calvinistischen Standpuncte auffaßt. — Die neueren politischen Ereignisse und Umwälzungen in Genf und Paris werden nun wohl bewirkt haben, daß sich die aristokratische Partei in Genf mit ihren Verbindungen und Sympathieen ganz entschieden an England, die herrschende radicals Partei aber eben so entschieden an Frankreich angeschlossen hat. Die Religiosität der Genfer artet wie die der Englander oft m eine todte SchcmheiliMt aus. Wie der Sonderbund damals 392 Religiosität der Genfer. nüt Processionen, Wallfahrten, mit Einführungen „ewiger An-letungen" in den Klöstern beschäftigt war, so hatte sich auch in Genf, wie in Lausanne und in Vern, die patriotische, oder aristokratische, oder sonderbündische, oder, wie man sie auch wohl nannte, „jesuitische" Partei dem Muckerthum und Pietismus hingegeben. Ich geritth in Genf in einen solchen ernst-gestimmten, betenden Zirkel, einmal auch in eine Theegesellschaft, in der wir — jedes Familienglied und jeder Gast — erst einige Verse aus der Vibel lasen, dann eine Predigt hörten, darauf ein Gebet auf den Knien verrichteten und endlich noch einige ermahnende Schlußworte vernahmen. Es war ein förmlicher über eine halbe Stunde dauernder Gottesdienst, wie ihn die Familie jeden Tag einige Male durchmachte. — Ich hätte eine solche Erscheinung von ganzer Seele willkommen ge-heißen, wenn mich nicht das elegante Theeservice, die vielen Teller, Tassen, Gerichte und silbernen Geräthe gestört hatten, mit denen unsere Bibeln und Gebetbücher sich mischten, wenn wir nicht gleich darauf ein sehr sumptuöses Theesoupcr eingenommen hatten, und wenn nicht die Domestiken deS HauseS dabei bescheiden und schüchtern in der Nahe der Thüre gebetet hatten, sondern mitten unter uns gewesen waren, als christliche und uns gleiche Brüder und Kinder Gottes, und wenn ich nicht dabei immer an meine armen fastenden, abgemagerten, um Mitternacht im einsamen Waldkirchlein betenden und G»tteö Lob singenden Nonnen von Einsiedeln, die mir ein dem Himmel wohlgefälligeres Opfer darzubringen schienen, zurückgedacht hatte. Die Sparsamkeit, der mdustriöse erwerbliche Sinn, ist nicht bloß eine Genfer, sondern eine allgemeine helvetische Nationaltugend. Doch hat diese Tugend in den Mauern der Genfer Republik ihren höchsten Culmmationspunct erreicht. Nirgendswo sieht Genfer Sparsamkeit. 393 man reiche Menschen so einfach und oft knapp leben wic hier. Nirgends steckt den Leuten die Sparsamkeit mehr in» Vlute wie hier. Nirgends ist ein Verschwender nbler angeschrieben als hier. Von keinem Volke, die Schotten vielleicht ausgenommen, habe ich so pikante, die Sparsamkeit empfehlende Sprüchwörter vernommen, als von den Genfern. — In der übrigen Schweiz sagt man sprichwörtlich von den Genfern, daß sie nicht einmal einen Floh tödten und wegwerfen, ohne sich vorher zu besinnen, ob sich mit der Haut nicht etwas anfangen ließe. — Auch wird scherzweise behauptet, daß, wenn aus dem Fenster eineS Genfer HauseS ein Flicken Papier, cin Vändchen, Vindfädchen oder eine sonstige Bagatelle etwa vom Winde auf die Straße entführt würde, man sogleich sehen könne, wie sich von oben herab diesen« Dinge irgend cine Genfer Schöne nachstürze, wie die Schwalbe einer Mücke, um den Flicken zu retten, selbst auf die Gefahr hin, das Genick zu brechen. 9. 60I äß la laueille. Ich machte von Genf aus mehre allerliebste Ausflüge zu einigen charmanten Landhäusern auf der savovischen Seite sowohl als aufder waadländischen. — Auch besuchte ich von da aus den französischen Jura, zunächst längs der großen Pariser Straße den kleinen Waldfußwegen folgend. — Diese Pariser Straße führt zuvörderst in das Land Ger mit der Haupr-ftadt Ger und den Nebeuorten Cer, Ver, Orner, Versoner. Maconner, in ein Land, wo sich mit einem Worte jeder Name auf er endigt. Eins dieser er ist das berühmte Ferner, das der 17" 9. Col de la Faucille. 394 Ferner. französische Geistestyrann während eines großen Theiles seines Lebens bewohnte. — Dieser Ort und Landsitz liegt unmittelbar an der besagten Chaussee und in dem äußersten südöstlichen Winkel von Frankreich, nicht ganz eine Stunde vom Genfersee. Naturreize bietet diese Situation weit weniger dar als hundert andere in der Nähe am Ufer des herrlichen Seeö. Voltaire wählte sie wohl ans anderen Rücksichten. Obwohl damals in Frankreich nicht mit sehr günstigem Auge angesehen, wollte er doch nicht gern den Boden des Pateilandes verlassen. Dabei konnte er im Fall der Noth von Ferner aus mit einigen Schritten die schweizer Grenze erreichen. Die Chaussee, die gerade durch sein Dorf führte, erhielt ihn mit Paris in ununterbrochener Verbindung. Er vermochte durch sie Nachrichten von seinem Schreibtisch aus schnell nach Paris zu befördern und prompte Neuigkeiten, so wie auch Besuche von dort aus zu empfangen. Wir fanden noch einen alten Mann in Fernet, der in semer Jugend Bedienter Voltaire's gewesen war und sich noch seineS Herrn erinnerte. Auch ist noch der lange Laubcngang im Garten vorhanden, in dessen Halbdunkel Voltaire zu peripatetisiren pflegte. An dem einen Gnde dieses Laubenganges hatte er seinen Schreibtisch stehen. Wir wandelten darin eine Weile auf und ab, eingedenk der Ueberlieferungen jener interessanten Zeit, die, obgleich sie mit unserem Jahrhundert schwanger ging, doch von ihm so verschieden war, daß sie dem Zeitalter der atheniensischen Philosophen fast ähnlicher zu fein scheint als unserer Gegenwrrt. Wir speisten in Ger zu Mittag, Wie hier gleich Alles so ganz anders war als in der Schweiz. Obwohl der Ort, sowie das ganze r»^ 6s ttox, das zum Departement des Jura gehört, noch in dem Becken des Genfersees liegt, so sagen einem doch hundert Dinge, daß man sich in einem vernachlässigten französt- .^un 5-5,5?? mDie Iuralette. 395 schen Departementalnebenstadtchen befindet. Keine Ides von der schweizer Nettigkeit der Häuser, von der schweizerischen Detail cultur des Bodens. Mangel an Ordnung und Reinlichkeit auffallend. Vernachlässigte Gärten, micultivirte Vodenflecke überall. Louis Philipp's Beamten schienen in dem Wirthöhauft die Hauptrolle zu von dem Mittagswahl, das sie uns in einem Schlafzimmer ser-virte und welches ungenießbar war. Ich habe an mehren Pm»cten die Gränze zwischen der Schweiz und Frankreich überschritten und dabei stets eine ahnliche Sensation gehabt, wie beim Uebetschreuen der Gränze zwischen Rußland und Deutschland. Ich weiß nicht, ob der Protestantismus oder der RepublikanismuS, oder beides zusammen, oder auch der industrielle fleißige Sinn der Schweizer es ist, der die Cultur des Bodens ihres Landes, wie des Geistes ihres Volks aus eine so viel höhere Stufe gebracht hat. Jene Pariser Chaussee sührt zu dem 6ol liLlalaucN!« hinauf, zu einer Höhe von nahe an 4000 Fuß. Die meisten Querübcrgänge, Passe oder Einschnitte über den Jura gehen bis zu einer Höhe zwischen 30N0 und 4000 Fuß hinauf, lind die äußersten Höhen der Bergkette ragen nur etwa 1000 Fuß über diese tiesstcn Einschnitte empor. Die Iurakette ist daher ein ziemlich compacter Wall, und im Vergleich mit den Alpen unv anderen Gebirgen find die in diesem Walle ausgearbeiteten Breschen sehr unbedeutend. Die Pässe oder Einschnitte in der höchsten Alpenkette gehen gewöhnlich auf 6000 bis 7000 Fuß Meereshöhe herab, und die Hauptkörper der höchste» Verge ragen noch 6000biö 7000 Fuß darüber empor. Die Elemente haben den Alpenwall also bis aufdie Hälfte der Höhe herab durcharbeitet, den Jura dagegen nur bis auf den fünften Theil der Höhe herab. Wir erstiegen die Faucille nur dem Mont Vlanc zu Liebe, auf den man von hier, wie von vielen anderen Puncten des 396 Der Mont Blanc vom Jura aus. Jura auö eine herrliche Aussicht genießt. — Der Jura scheint von der Natur fast mit Absicht als ein Fußschemel oder eine Vank zum Ausschauen auf die herrlichen Alpen gebildet zu sein. Er erhebt sich ungefähr zurHalfte der mittleren Höhe der Alpen. Gr liegt gerade in der rechten Entfernung, um weite Neberblicke zu gestatten. Das Land zwischen ihm und den Alpen ist eben. Seine kahlen Grasrücken stellen dem freien Umschauen gar kein Hinderniß entgegen. — Als wir obeu auf der Höhe ankamen, lagen die Alpen in eine ziemlich dichte Schichl von Nebel gehüllt, durch die nicht eine einzige der hohen Gletscherkuppen hervorblickte. Wir warteten aber bis Sonnenuntergang, weil dann oft eine Veränderung in den Nebelschichten der Atmosphäre vor sich geht und auch das veränderte Auffallen der Lichtstrahlen oft Gegenstände beleuchtet, die vorher gar nicht sichtbar waren. So geschah es auch dieß Mal. — Ich sprach oben ein wenig gegen die Gebirgsreisenden, welche, von der materiellen Größe angezogen, immer nur die höchsten Spitzen der Verge suchen und immer der größeren Erhebung vor einer minder grandiosen, obgleich pittoresker gestalteten und daher ästhetischeren den Vorzug geben. Ich sage, ich sprach gegen diese Leute. Allein, was wir hier jetzt auf der Faucille vom Mont Vlanc zu sehen bekamen, sprach wieder sehr für jene Hochalpenspitzen-Verehrer. Als die Sonne unterging, bemerkten wir, wie über der grauen Wolkennebel-Schicht auf einmal einkleiner hellleuchtender Punct erschien, der sich allmälig vergrößerte, anfangs mit gelbem und nach und nach mit demjenigen matten rothen Lichte erglänzte, mit welchem derMond bei seinem Aufgange zu schimmern pflegt, wenn die Atmosphäre voll Dünste ist. — Wir glaubten an< fangs wirllich, es wäre der Mond. Das Licht schien so ganz überirdisch, und die Halbkugel schien frei in der Atmosphäre zu schweben. — Wir erkannten aber bald, daß es in der That Malerisches Verhältniß der Berge. 397 die Spitze des Montblanc war, die uns dieses herrliche Schauspiel gab, und die als der einzige Punct der Alpenkette uns dadurch allmälig sichtbar geworden war, daß die Nebelschicht sich gegen Sonnenuntergang ein Bißchen herabgesenkt hatte. — Es fiel mir dabei ein anderer Anblick des Mont Vlanc ein, den ich einmal aus den höchsten Fenstern des Iesuitenklosters in Freiburg gehabt hatte. Obgleich es damals heller Mittag war, so hatte doch die höchste Mont-Vlanc-Spitze ein ganz eigenthümliches Licht, das sie von allen übrigen niedrigeren Spitzen unterscheiden ließ. Sie lag über der ganzen Kette der übrigen Verge gleichsam wie ein nicht dazu gehörender, fremdartiger, überirdischer Körper mit lunarischem Dämmerlichte. — Um die Bedeutsamkeit der höheren Erhebung eines Verges in Bezug auf landschaftliche Aesthetik richtig würdigen zu können, muß man Folgendes erwägen. Dadurch, daß ein Verg 10W oder einige 1000 Fuß höher ist als ein anderer, wird er in Luftschichten erhoben, die ganz anders beschaffen sind als die, in welche die niedrigere Spitze hinaufragt, die viel minder dicht st»d, und in denen sich auch die Nebel und andere auf die Färbung einwirkende Umstände ganz anders verhalten. Und dann darf man nicht vergessen, daß durch eine selbst geringe Grhebung von 1000 oder einigen hundert Fuß nicht nur die Höhe, sondern in der Regel auch die ganze Masse deö Berges viel grandioser oder imposanter wird. Ein Berg z. V., der nur 1000 Fuß, also um ^ höher ist als der 3500 Fuß hohe Brocken, stellt, wenn die Böschungswinkel dieselben sind, doch eine Masse dar, die doppelt so groß ist als der Brocken. Der Mont Vlanc ist nur etwa 2000 Fuß, d. h. ein Siebentel höher als die nicht ganz 13,000 Fuß hohe Jungfrau. Allein die ganze Mont-Vlant-Gruppe stellt in Folge dessen eine Masse dar, die fast doppelt so groß und mächtig ist als die Jungfrau-Gruppe 3ft8 Welse im Jura. und also auch eine doppelt ja imposante Figur und doppelt so bedeutungsvolle Nolle in der Landschaft spielt als diese. ^ Es werden daher auch durch einen selbst nicht so bedeutend viel höheren Berg malerische Effecte hervorgebracht, die bei einer niedrigeren Spitze gar nicht vorkommen. Die Berge, welche dem 6«! clo la lnuoillo zur Seite liegen, sind der Vieu? Chatel und der Grand Chalet. Aus dem letzteren befanden wir uns eigentlich. Er hat, wie die ganze Iurakette, der Schweiz seine schroffe Seite zugekehrt, gegen Frankreich dagegen geht er in sanften Abhängen hinab. Wir erblickten an diesen Abhängen große und dichte Fichteuwaldnnge», von denen die Leute uns erzählten, daß die Wölfe wie die wilden Katzen zu ihren nicht seltenen Bewohnern gehörten. Jene, die Wölfe, gingen von hier aus im Winter zuweilen bis in das Becken des Leman hinab, ja sie kämen wohl bei sehr tiefem Schnee bis an den See selbst. Ich habe den Jura an verschiedenen Puncten besucht und überall vernommen, daß die Wölfe und andere wilde Thiere aus dem französischen Gebiete ins schweizerische herüberkommen. In dem Iuratheil, welcher längs des NeufchatellerSees liegt, findet ganz dasselbe ftcnt. — Ein schweizerischer Schriftsteller, der Professor Vullicmin, bezeugt sogar m seinem Werke über das knv« llo Vauä, daß fast kein Jahr vergehe, ohne dasi sich in dem waadländischen Jura an der französischen Gränze einige Bären sehen ließen. ^— Die Schweiz hat innerhalb ihres Gebietes so ziemlich mit allen großen Raubthieren aufgeräumt, und sie empfängt deren nur aus ihren Nachbarlandern, Auch die italienischen und tyroler Alpen sind weit reicher an solchen Thieren als die an sie gränzenden Schweizergebirge, die von ihnen gewöhnlich mit Wölfan, Bären u s. w. versorgt werden. Eben so werden mehre deutsche Länder von Frankreich aus, so z.V. die Rheinprovinzen von den Per Genfersee. 399 Ceuennen und dem Ardennerwalde aus mit Wölfen belästigt. Ich muß gestchen, mir kam die Existenz des Wolfes in derMitte des civilisirten Flankreichs immer als ein Zeichen der entschiedenen Uncultur und Rohheit seiner inneren Zustande vor. 10. Lausanne. „Der Ocean hat einmal", so sagt em französischer Schriftsteller, indem er auf den Genfersee anspielt, „das Thal der Rhone besucht, und da er sich in dasselbe verliebte, so ließ er ihm sein Portrait zurück." — Man kann nichts Passenderes von diesen Schweizerseen sagen, die in allen Zügen ein Miniaturbild des oceanischen Lebens mitten zwischen den Bergen des inneren Festlandes darstellen. Da giebt es Strömungen im Wasser, die mit derselben Regelmäßigkeit in dem kleinen Becken cir-culiren, wie die Mahl- und Golfströme im atlantischen Meere. Da giebt es plötzliche Anschwellungen der Wassermasse, wie die Ebbe und Fluth in dem Meere/ die sogenannten „seicnes", die von den Schwankungen des Gewichts in den über dem See stehenden Luftschichten herrühren. Da giebt es Stürme und Wellenschlag am Ufer, welche die Orkane und Wogenbrandung des Oceans nachäffen. Der Spiegel des Sees ist mit kleinen Handelsflotten bedeckt, welche das Chablais und das Waadland, Wallis und Genf mit einander in Verbindung seyen, wie Kauffahrer des Meeres Großbritannien und Nordamerika, Europa und Australien. — Obwohl es lauter Miniawrströme, Miuiatunvellen und Miniaturgefahren sind, so si"d alle 400 Die savoyischen Schiffer. zürnenden Götter des Sees doch noch Riesen gegen den kleinen Menschen, und die Matrosen eines solchen Wassertümpels haben doch eben so viel Noth zu bestehen, eben so viel Geschick und Kühnheit von Nöthen, wie ihre Vrüder auf dem Ocean, und längs des Ufers bemerkt man rettende Häfen, wie längs der britannischen Küsten. Die Nömer hatten sogar auf einer kleiuen Insel im See bei Genf dem gewaltigen Neptunus eine Statue errichtet, obwohl die Proportionen des Sees denen dieses mächtigen Titamden so wenig angemessen schienen. Der ganze Handel und die ganze Schifffahrt deö Genferfees beziehen sich fast nur auf das an Bevölkerung, Producten und Städten reiche nördliche waadländische Ufer. Das südliche Ufer hat außer Thonon keine Stadt und keinen Hafen, wenige Producle, eine arme Bevölkerung. Dennoch aber kommen gerade von dieser sauoyischen Küste die stärksten und kühnsten Schiffer des Sees. Ja fast aNe seine Matrosen sind Savoyarden. Es erklärt sich dieser Umstand vermuthlich daher, daß die savoylsche Seite mehr als die waadländische mit Wäldern gesegnet ist, und daher hier fast alle Schiffe für den See gebaut und auch zunächst bemannt werden. Die Winde des Genfersees sind weit unregelmäßiger als die des Garda-, des Eomer- oder Locarner-Sees, und nirgends hat man so viele Namen für verschiedene Luftbewegungen, wie an diesem See. Selbst der regelmäßige sanfte Mittagswind, welcher zur Sommerszeit auf allen Seen thalaufwarts streicht, erleidet hier Störungen und kommt bald aus Westen, bald aus Osten. Die savoyifchcn Schiffer nennen diesen Wind, der, wie ich sagte, auf den italienischen Seen „ora" heißt: „lorebnl" und unterscheiden den „rsbnt lle v«nt" (den Miltagswind ausOsten) und den „rek3t clo bi8o" (den Mittagswind aus Westen). Ich vermuthe, daß diese auffallende Erscheinung daher rührt, daß der Sturm auf dem Genfersee. 4l)1 Genfersee sich in die Quere von Osten nach Westen, von den Alpen zum Jura hinzieht und daher zum Schlachtfelde des Kampfes zwischen den Alpen- und Iurawinden wird. Die obeugenanntcnSeen von Como, Garda, Locarno, sowie auch der Zürchersee und andere Seen sind ganz zwischen zwei Mauern in einem Thale eingeschlossen, das sich nach oben hin in den Gebirgen schließt und nach unten hin gegen die Ebene öffnet. In solchen Canalen müssen die Winde natürlich sich regelmäßiger bewegen. Die Dampffahrt von Genf nach Coppet, von Coppet nach Nyon, nach Rolle, nach Morges und Lausanne ist eine der anmuthigsten, die man in Europa machen kann. Gin französischer Schriftsteller sagt in Vezug auf diesen Küstenstrich, daß es etwas Schönes um eln Land sei, wo es leine Gärten gäbe, weil es selbst ein solcher sei. Wir hatten bis in die Nahe von Lausanne einen spiegelglatten See. Da bemerkte ich auf einmal, nach dem Genfer Ende zurückblickend, wie dort der Zustand des Sees sich verändert hatte. Während bei uns noch Alles im Sonnenschein lachte, hing dort ein finsterer Ncbclvorhang auf den See herab. Unter dem Nebeltuche weg bemerkten wir, wie die Farbe des Sees so schwarz wie Kohle geworden zu sein schien. Nur mit einzelnen weißen Puncten, die von dem Ueberschaumen der Wcllenhaupter herrührten, war dieß Schwarz gesprenkelt. Vor ihm her zog sich von dem waadlandischen Ufer quer hinüber zum savoyischen eine weiße Linie. Es war ein Sturm, der auf dem Wasser einherfuhr. Die weiße Linie zeigte die Gränze seines Fortschritts an und stellte sich, als dasUngewitter unö näher ge» rückt war, als ein hoher brandender Wellendamm dar, der gleich einer geordneten Schaar der Reiterei des Neptuns über den See dahi„rollte. W dauerte nur wenige Minuten, so war Alles in Aufruhr. Unser Dampfschiff arbeitete so heftig auf und ab, dasi 492 Lage von Lausanne. einige Passagiere seekrank wurden, und an den Ufern leckten die Wogen wüthend empor. Wir retteten uns nach Ouchy und Lausanne hinüber. Ouchy ist der Haft» von Lausanne. Die Stadt selbst hat sich eine englische Meile Weges auf ein höheres Terrain zurückgezogen und eine imponirende, weit schauende und gebietende Stellung am See eingenommen. — Sie hat von allen Städten am See die schönste Lage und scheint den Leman, dessen End-Puncten sie so ziemlich gleich nahe ist, zu beherrschen. Die Lausanner sagen daher auch ebenso wie die Genfer „unser See" und glauben, daß der See eben so gut I.»o 6s I.nu8nnne, als I.no <1k 1os" mit einander contrastiren. — In den „Vignobleö" wohnen die reichen, conservation, prenßisch gesinnten Wcinbergsbesitzer, die Sonderbundsfreunde, in dem Gebirge die ärmeren, rctticalcn, antipreußischen, anti-sonderbündischen, republikanischen Hirten und Fabrikanten, die in den Gebirgs-Fabrikorten Chaur de Fonds und Locle ihren Mittelp^nct liaben. Im ku^s do V«uä ist ein ganz ähnlicher Gegensatz zwischen der Bevölkerung der Küste und der des gebirgigen Innern des Landes, des Iorat oder des sogenannten 6ro5 äe Vnuä. Die Bewohner des Genfer See-Ufers sind auch von ganz andercmStamme als die des Lrog llo Vuuä, und wahrscheinlich sindet auch im Neuenburgischen eine ganz ähnliche Racenverschiedenheit zwischen den Bewohnern der Vignobles am See und denen der Iurahühe statt. Zur Zeit der Römer gehörten diese Höhen nicht einmal zu Helvetien, sondern zum Gebiete der gallischen Sequaner. Nur die Küste wurde zu Helvetien gerechnet. Wer sich dabei an die vielen Kriege erinnert, welche die Zürcher mit ihren Seedörfer geführt haben, wer die eigenthümliche Stellung kennt, welche das sogenannte Seeland (dit 4ll8 Tie IcsuitenzbgUnge. Nachbarschaft des Vieler Sees) im Canton Bern und ferner die Murtener Seelander im Canton Freiburg einnehmen, der wirb gewahr, daß es eine allgemeine Erscheinung in der Schweiz ist, daß die Seeanwohner sich als solche von den Bergbewohnern vielfach auszeichnen und sondern. In dem Wirthshause zu Neufchatel traf ich mit 20 jungen Iesuilenzöglingen aus Freiburg zusammen. Sie kehrten von einer Reise über dieAlpen in die Lombardei über Genf und durch den Jura zurück. — Zwei ihrer jesuitischen Lehrer begleiteten sie. von denen einer jedoch das Commando, und zwar ein strenges und militairisches, zu führen schien. Er schien seine Verfügungen ganz und gar moluiiropii« nach streng monarchischem Principe zu treffen, ohne die Meinung und die Wünsche seiner Untergebenen zuvor einzuholen. Denn die jungen Leute, gebildete junge Männer von 16 biö 18 Jahren, wußten mir auf meine Fragen, ob sie hier in Neuchatel zu Mittag speisen, ob sie sich den Ort besehen , ob sie eine Grcursion in die Thaler des Jura machen, oder ob sie gleich von hier nach Freiburg zurückkehren würden, nichts zu antworten, als: „Wir wissen es nicht." Sie setzten nichteinmal hinzu: „NnserPater wird es bestimmen." — Auf einmal trat dieser herein und sagte: „Das Essen steht auf dem Tische, meine Herren; zum Speisen!" — „Was ist bestimmt", fragte ich wieder, „werden Sie nach den Iuralhälern gehen, oder diese Stadt besehen?" — „Wir wissen eS nicht", hieß es wieder. Sie speisten sehr rasch. Auf einmal erhob der den Zug commandirende Jesuit von Neuem seine Stimme. „Das Boot ist fertig. Auf denn, meine Herren, zu Schiff! Wir werden noch heute Abend in Freiburg zurück sein." — Die Rechnung war bereits berichtigt, die jungen Leute wischten sich den Mund, und schnell hatten sie ihre Stöcke ergriffen, sich ans Der schweizer Musterstaat. Hhg Ufer gemacht, waren eingestiegen, und nach einigen Minuten schon sah ich sie mitten auf den Sce hinaussegeln nach der Freiburger Seite hinüber. Von allen den verschiedenen kleinen Monarchieen (Fürsten-thümern, Grafschaften und Dynasten-Gebieten), die es ehemals innerhalb des jetzigen Terrains der Eidgenossenschaft gab, ist Neuenburg die einzige, die sich bis auf unsere Tage herab als solche mitten im Blinde mit lauter Republiken erhalten hat. Es wäre hier also eine vortreffliche Gelegenheit, vergleichende Bemerkungen über monarchisches und Volksregiment zu machen. — Es ist eine ausgemachte Sache, — und nicht bloß die Ncufchateller rühmen es, sondern es ist in der ganze» Schweiz landkundig, — daß kein Canton so gut gouvernirt ist wie dieser einzige monarchische Canton der Eidgenossenschaft. Alle erkennen es, daß nirgends die Gerechtigkeit so unparteiisch verwaltet, nirgends für das Wohl Aller so väterlich gesorgt, nirgends der Wohlstand aller Classen so befördert, > dorben sei. Er öffnete sie, legte die Stücke auf dem Wirths-haustisch auseinander und war in seinem Acrgcr im Begriff, sie als unnütz völlig zu zertrümmern. Tn bat ein junger Berg» bewohner Namens Richard, der neugierig hinzugetreten war, um Gnade für die Uhr, vielleicht könne er dm Fehler entdecken und sie wiederherstellen. Der Engländer übergab ihm seine Uhr, trotz des Widerspruchs des Vaters des jungen Richard, der da behauptete, sein Sohn sei ein Phantast und würde ihm gewiß das ganze Werk völlig verderben. Der junge Richard hatte die Geschicklichkeit, den Fehler des kranken Uhrwerks zu entdecken und ihm abzuhelfen, und der Engländer voll Verwunderung nnb Freude darüber machte ihm nachher ein kleines Geschenk, das den armen Vauerjungen in Stand setzte, seinen» Geschmack für 416 Die Uhrmacherfamilie Richard. das Studium der Uhrmacherkunst zu folgen und sich das dazu nöthige Handwerkszeug anzuschaffen. — Er besuchte einige Male die Stadt Genf, um von den dortigen Meistern zu lernen. Diese machten zwar aus vielen Proceduren ihrer Kunst ein Geheimniß und wollten ihm insbesondere keiue sogenannte Divisious-maschine, — diejenige Maschine/ durch welche die Uhrmacher die genauen Abstände der kleinen Einschnitte der Uhr-radcr zu Stande bringen und diese Einschnitte selber operiren, abtreten. Allein Richard, dessen erfinderischer Oeist nun einmal in leidenschaftliche Erregung gebracht war, half stch sclber und erfand eine Divisionsmaschine nach seinem Systeme. Da sein Etablissement zu floriren begann, so fand er Nachahmung, und nicht nur seine Nachkommen blieben bis auf den heutigen Tag herab Uhrmacher, sondern auch die ganze Bevölkerung des Jura folgte weit und breit dem in dieser Richtung gegebenen Impulse. — So erzählte nur die Entstehung dieser merkwürdigen In« dustrie, die mit der Seiden- und Vaumwollenmanufactur zu den wichtigsten Industriezweigen der Schweiz gehört, ein Herr Richard in Lucle, ein Ururenkel jenes Tubalkain der Uhren-unfertiger des Jura, noch jetzt, wie sein Vater, wie sein Groß-und Urgroßvater, einer der ausgezeichnetsten Meister in dieser Kunstbranche. Man kann sagen, daß von Genf aus durch den ganzen Jura hin bis in den Canion Bern hinein die Uhrmacherkunst als eine Vollbeschäftigung verbreitet ist. Im waadlandischen Jura sind es besonders das Thal des I.»o d«.!uux, drei Meilen vom Genfersee, und dann das Thal uon St. Croi.r, zwei Meilen von Iverdun, deren Bewohner in Richard's Fußstapfen getreten sind. Im bernifchen Jura blüht dieser Industriezweig vorzugsweise in dem Thale von Courtelary, dem sogenannten Erguel. Doch sind die Thaler des neuenburg'schen Jura, besonders das V»l Größe der Uhrenprodnction. 41? Ii-avers und vor allen Dingen das, zu welchem ich jetzt emporgestiegen war, die Hauptsitze dieses merkwürdigen Gewerbes, welches hier einen so bedeutenden Aufschwung genommen Hal. daß die Genfer Uhrmacher in neuerer Zeit dagegen zurückgetreten sind. Um sich einen Begriff von der Wichtigkeit dieses schweizerischen Industriezweiges und von dem Antheile, den die verschiedenen District? daran haben, zu machen, werfe man einen Vlick auf folgende Zahlen. Im Ganzen bringt der Jura (nebst Genf) alljährlich nicht weniger als nahe an oder über 230,000 Uhren in den Handel. Davon liefert der berner Jura etwa 40,000, der neuenburger über 110,000, der waadlandische 12,000, und Genf oirca 50,000. Die Preise dieser Uhren gehen bis auf 10, ja auf 5 Franken herab und steigen auf 4000, ja auf 6000 pr. Stück. Es ist daher sehr schwer, die Größe des durch jenen Industriezweig in Schwung gesetzten Capitals zu schätzen. Doch nimmt man auch nur 50Franken als den Mittelprcis jener Uhren cm. so erhalt man ein Minimum von oirog 12 Millionen Franken, welcheS Capital den Werth der Arbeit jener Iura-bewohner repräsentirt. — Da die rohen Stoffe, welche die Uhrmacher aus der Fremde einführen, im Ganzen sehr geringen Nerth haben, und nur unbedeutende Quantitäten davon nöthig sind, so kann man wenigstens "/» jenes Capitals als einzig und allein durch den Geist und dic Handgeschicklichkeit der Leute her» vorgebracht betrachten. — Der Werth der wenigen Centner Stahl und Eisen, dercn sie jährlich bcdürfcn, wird tausend- und millionenfach durch die Bearbeitung erhöht. Selbst der Wenh des Goldes und der Edelsteine, die ste verarbeiten, wird durch zweckmäßige Umgestaltung verdoppelt und verdreifacht. Vei der Kleinheit der verschiedenen Theile einer Uhr und der so nothwendigen Genauigkeit der Arbeit, ist eine große Geschicklichkeit und Uebung der Hand und des Auges erforderlich. 418 Geistiger Werth der Uhrmacherkunst. Die verschiedenen mechanischen und chemischen Processe, deren Kenntniß bei der Bearbeitung dieser kleinen Theile, bei ihrer Vergoldung, bei ihrer Stählung und Gestaltung, nöthig ist, so wie die wissenschaftlichen Grundsatze, auf denen die Construinmg und Composition einer Uhr beruht, machen eine durchaus intelligente, denkende und kenntnißreiche Bevölkerung nothwendig. Sie setzen eine solche Bevölkerung voraus und rufen auch in ihr immer neue geistige Kräfte und neue Geschicklichteit hervor. Ich fand hier oben Uhrmacher, die selbst astronomischeObservatorim besaßen, um den Nau ihrer Chronometer wissenschaftlich re-guliren zu können. — Der Menschenfreund findet daher in diesem Handwerke des Jura einen Industriezweig, der ihm fast nur erfreuliche Seiten darbietet. Das Talent und Genie ist in La Chaur de Fonds und Locle seines Lohnes beinahe gewiß. Der Mensch wird in den dortigen Fabriken fast nie zur Maschine erniedrigt. Denn durch bloße Maschinenarbeit laßt sich hier nur Weniges vollbringen. — Die Bewohner sind alle sehr gut unterrichtet. M giebt keine rohen und unwissenden Fabrik-Proletarier, auch keine armen Sclaven, wie in den englischen Manufaclurdistricten. Es ist auch kaum möglich, daß je Maschinen erfunden werden, welche in der Uhrmacherkunst menschliche Verstands- und Handthätigkeit in dem Grade entbehrlich machen werden, wie dieß in der Weberei, Spinnerei, Spitzenklöppelci und vielen anderen Handarbeiten geschehen ist. Der erste Begründer der Uhrmacherkunst im Jura ist daher ein wahrhaftiger Wohlthäter seineS Heimathlandes geworden, was sich von der Begründerin des Spitzenklöppelns im sächsische» Erzgebirge und von den Reformatoren anderer Industriezweige nicht mit derselben Gewißheit behaupten laßt.— Aus der durch ihr Gewerbe bei ihnen geweckten Intelligenz erklart es sich denn auch, daß diese Künstler von Locle und La Chaur de Fonds zur Uhrenfabriken in Frankreich. 419 radicalen Partei gehören. Beständig mit der Bemessung des Fortschritts der Zeit beschäftigt, siud sie entschiedene Fortschritts-männer geworden. Sie haben schon seit lange, wie ich bereits oben andeutete, gegen die conservativen Grundbesitzer in den Weinbergen am See Opposition gemacht, und in neuester Zeit ist von diesen freisinnigen Uhrmachern die Staatsumwalzung ausgegangen, welche Neuenburg von dem Einflüsse der preußischen Könige befreite. Es ist merkwürdig, daß die berühmtesten Uhrmacher der Welt, diese Iurasier nämlich und unsere Schwarzwäldler, Berg- und Waldbewohner sind. Rohere Arbeiten, welche be-deuteudeQuantitäten roher Stosse in Anspruch nehmen, sind vo» Umstanden abhängiger, und ihre Betreibung muß sich mehr cin diejenige» Orte, wo diese rohcn Stoffe erzeugt werden, oder wo sie leicht zu haben sind, anschließen. So blühen z. V. die steierischen Eisenfalmkcn in der Nähe der steierischen Eisenbergwerke, die englischen Vaumwollenmannfacturen in derNähe deS Wvllhafens von Liverpool. Die Uhrmacher dagegen mögen sich in den verstecktesten und entlegensten Winkeln der Erde mir Vortheil etabliren. Man kann ihnen die wenigen rohen Erzeugnisse, die paar Pfund Stahl und Eisen, die wenigen Stangen Gold und Silber, die kleinen Sacke voll Rubinen und Diamanten, deren sie bedürfen, überall zuführen. Da die Uhrenmanusactur so wenig an eine bestimmte Localitat gebunden ist, so schien es daher den Franzosen uno anderen Nachbarn der Ncufchateller auch leicht, sie in ihr eigenes Land zu verpflanzen. Allein hierin haben sie sich getäuscht. Die Franzosen, welche gern an dem Profite ihrer schweizerischen Nachbarn Theil genommen hätten und sie um ihre blühende In« duftrie beneideten, haben sich namentlich, schon im vorigen Jahrhunderte, sehr bemüht, in ihrem eigenen Lande eine 420 Verfehlte Concurrenz. uhrenfabricirende Bevölkerung zu schaffen. Zu verschiedenen Zeiten, und noch neuerdings unter Louis Philipp, haben sie große Summen (mehre Millionen) aufgewandt, um gute Meister und Lehrer vom Jura zu erhalten, um Uhrmacherschulen zu begründen, um durch Prämien „nd Vorschusse solche Fabriketablissements zu befördern. Allein dieß Alles ist bisher vergebens gewesen. Die französischen Uhrmacher haben nicht mit denen vom Jura concurriren können und ihre, die Quelle des neuenburgischen Nationalwohlstandes bedrohenden Unternehmungen wieder aufgeben müssen. Wo ein solcher Industriezweig einmal feste Wurzel gefaßt hat, da schafft er sich in seiner Umgegend sofort eine Menge vortheilhafter Verhällnisse und Umstände, mit deren Benutzung er leicht den concurrirenden Bemühungen Anderer trotzen kann. Die Bevölkerung wird einem solchen Gewerbe dann geneigt und gewogen. Schon von Jugend auf werden die Kinder darauf hingewiesen und dazu erzogen. Das Talent, welches zur Sache nöthig ist, wird frühzeitig entwickelt und fast erblich in den Familien. Die Uhren-fabrikation ist namentlich ein schr componirtes Gewerbe; sie steht mit vielen anderen kleinen Gewerben in Verbindung und stützt sich auf sie. Es dauert daher einige Zeit, bis sie alle die nöthigen Hilfsgewerbe in ihrer Nachbarschaft hervorgerufen hat. Hat sie dieß aber erst einmal, so ist sie nicht so leicht wieder auszurotten. Namentlich bedarf sie, wie ich schon andeutete, guter Volksschulen und einer intelligenten Bevölkerung, und diese läßt sich am wenigsten improvisiren. Auch der Umstand, daß sie so weit von den großen Marktplätzen der Welt entfernt sind, kann diesen fabricirenden Bergbewohnern wenig hinderlich sein und giebt den Parisern oder Londonern nur einen geringen Vortheil über sie. Denn ihre Waare ist bei hohem Werthe von sehr geringem Umfange und kann daher Ausbreitung des Uhrenhanbels. 421 aus jedem entfernten Weltende mit Leichtigkeit zu den großen Märkten und Meßplätzcn verfuhrt werden. Einen bedeutenden Antheil an der Entwickelung ihrer Industrie schreiben die Neuen burger auch den freisinnigen Institutionen ihres Landes, den geringen Abgaben, der vollständigen Freiheit, welche der Handel daselbst genießt, und der dadurch begünstigte» Freiheit der Bewegung und Speculationsthäligkeit der neueuburgischen Vergbevölkerung zu. Und diese Vortheile lassen sich noch viel weniger in anderen Ländern, wo sie nicht schon seit lange etisti-ren, sofort schaffen. Die Ncuenbnrger sehcn daher von ihren Vergen herab den Bemühungen der Franzosen und anderer Nationen, ihnen die Quellen ihrer Nationalblüthe abzugraben, ohne angstliche Befürchtung?» zu. Auch die Verner haben kürzlich mehre Projecte gemacht, in ihren: verarmenden berncr Oberlande eine Uhrmachcrschule und eine Uhrfabrikantencolonie zu stiften — Projecte, die bisher noch zu nichts geführt haben. Am sichersten fühlen sich die Neuenburger im Besitze ihrer Errungenschaften, seitdem ihr Handel über die Gränzen der Nachbarländer hinausgetreten ist und sich fast über alle Länder und Theile der Welt verbreitet hat, seitdem sie für Amerika, für die Türkei, für Ostindien, für China eben so arbeiten, wie für die schweizer Cantone, für Deutschland und Frankreich. Da eine allgemeine Zerrüttung des menschlichen Verkehrs und Wohlstandes kaum denkbar ist, so findet ihr Absatz, der sich auf die Bedürfnisse der ganzen Welt stützt, immer irgendwo eine Gelegenheit, sich für die Verluste zu entschädigen, die er anderswo erlitten haben sollte. Früher standen die neuen-burger Uhrmacher, wie es scheint, in einiger Abhängigkeit von Genf, durch dessen Vermittelung ihre Geschäfte betrieben wurden. In neuerer Zeit haben sie sich von dem Genfer Einflüsse eben so emancipirt, wie dereinst die amerikanischen Colo- 422 Tie Uhren von Gcnf und Neufchatel. Nieen sich von ihrem englischen Mutterlande emancipirten. Sie haben zunächst in der Stadt Neuschalel einen vermittelnden Markt gefunden, und jetzt schon haben sich unter den Uhrmachern selbst auf den Bergen große Handelshäuser etablirt, die an Ort und Stelle die Geschäfte betreiben. Die Rivalität zwischen Neuenburg und Genf ist auf diese Weise für das erstere sehr glücklich gewesen, und durch jene Emancipation ist nicht nur der Uhrenhandel, sondern auch die Uhrenfabrikation in Genf etwas gesunken, wahrend im Jura Beides einen erstaunlichen Aufschwung genommen hat. Wahrend (nach Picot) di« Genfer im Anfange dieses Jahrhunderts (i«19) jährlich 70,000 Uhren fabricirten, werden von ihncn jetzi nur noch 40M0 bis höchstens 50,000gemacht. Und wahrend die Neuenburger am Ende des vorigen Jahrhunderts (1770) jahrlich nur erst 12,000 Uhren zu Stande brachten, verfertigen sie jetzt jedes Iayr über 130,000. (Die Bewohner des berner und waadländischeu Jura verfertigen den Rest der oben von uns angeführten Summe aller Uhren.) Der Boden des Thales von La sham de Fonds und Locle liegt, wie ich sagte, fast so hoch, wie die Spitze des Brocken. EZ war demnach früber, wie alle anderen Hochthäler des Jura, bloß ein von wenigen Hirten bevölkertes Grasland. Und im Ganzen hat es noch jetzt diesen Charakter, obwohl die vermehrte Bevölkerung auch zu vielen Versuchen zum Anbau mancher Nahrungspflanzen geführt hat. Die meisten dieser Versuche sind an dem rauhen Klima der Gegend gescheitert. Getreide gedeiht hier gar nicht mehr, und selbst Kartoffeln lassen sich nur mit Schwierigkeit erzielen. Cs müssen daher fast alle Früchte vom Neufchateller See her herausgeführt werden, und auf den Marktplätzen der beiden reichen, oftgenannten Orte sieht man die Aepfel, die Kirschen, die Weintrauben, die Kartoffeln selbst, in Kisten verpackt und, wie Reifende zu einer weiten Tour ge- Das Thal von La Chan« be Fonds und Locle. 423 rüstet, fast auf die Weise feilgeboten, wie bei uns die Pomeranzen und Apfelsinen. Das Leben ist daher hier oben theuer. Doch sind die Leute durch alle die anderen Vortheile, die ihre Lage darbietet, in Stand gesetzt, diese Theuerung zu ertragen. Die Bevölkerung ist in so bedeutendem Maße gewachsen, daß, obwohl Locle und La Chan» de Fonds nur das Recht und den Rang von Dörfern oder Flecken haben, ein jedes von ihnen mehr Einwohner hat als die meisten übrigen schweizer Städte. Sie haben doppelt so viel als Cdur, oder Lugano, oder Neufchatel, und beinahe soviel als Lausanne oder Zürich, nämlich über 10,000 <3. La Ehaux de Fonds. Als ich zuerst in La Chaur de Fonds eintrat, war es schon Abend, und es gewährte mir, nachdem ich mich, wie gesagt, von Stufe zu Stnfe und durch Walder und über Schafweiden erhoben, eine freudige Uebcrraschung, auf dieser nnwirthlichen Höhe, wo ein rauher Ocwberwiud uns nöthigte, unsere Mantel dicht zusammenzuziehen, einen von Gasflammen hell erleuchteten Ort mit geraden Straßen, mit hohen Hausern, mit weiten Platzen, mit eleganten, in aller Hinsicht comfortablen Hotels zu finden. Diese Hotels waren voll von fremden Geschäfts« mannern aus allen Theilen der Welt, amerikanischen, französischen, deutschen Kaufleuten, Edelsteinhändlern, Gold- und Sil-berbarrenverkaufern, Uhrengrossistcn, Mechanikern, Technikern und Gelehrten aus Genf, aus Paris, aus Frankfurt und London. Auf den Straßen hörte ich das Blasen der Postillone und das Rasseln der Diligence», die aus verschiedenen Gegenden ankamen. Und da ich einige Empfehlungsbriefe mitgebracht hatte, so erhielt ich noch denselben Abend eine Einladung zu 424 Theilung der Arbeit. dem „Salon" der Madame ........ „Salon?" fragte ich. I» wohl, einige unserer reichen Banquiers und Kaufleute halten hier oben offenen Salon, wo jeder Gebildete willkommen ist, »ind wo man politische und literarische Erscheinungen bespricht. Natürlich giebt es hier einige ausgezeichnete Meister in der Uhrmacherkunst, die alle Theile ihrer Werke entweder selbst verfertigen oder sie doch unter ihrer unmittelbaren Aufsicht vollführen lassen. Sie bringen die vollkommensten Producte ner astronomischen Uhren, die Chronometer für die Weltum-scgler, zu Stande, Doch sind deren nur wenige, und bei der Menge herrscht das Princip der Theilung, durch welches allein diejenige Billigkeit des Preises und zugleich diejenige miilel« mäßige Güte der Uhren hervorgebracht werden kann, die der Industrie ihre Ausdehnung und Bedeutung gegeben hat. Sie haben sich der Art in die Arbeit getheilt, daß fast jedes der viclcn tleinen Messing-, Eisen-, Golv- und Stein stücke, jedeGaU-ung von Räbchen, jede Schraube, Feder, Spirale, jedes Kellchen nlid Dcckelchell, aus denen ein Uhrwerk besteht, seine eigene Classe von Arbeitern erzeugt Hal. Diese verschiedenen Classen von Arbeitern greifen natürlich, da sie alle an einem und demselben Werke arbeiten, alle ebenso in einander, wie die Theile ihres Werkes selbst. Sie wohnen alle nachbarlich wie die Uhrenräder neben einander und sctzcn sich durch mündliche Bestellungen, genaue Zeichnungen und Mustcrproben in Vezug auf ihre Bedürfnisse mit einander in Rapport. Es giebt Hunderte von Kunstausdrücken für d!e Bezeichnung dieser Arbeiterklassen, sowie für die Größe oder Beschaffenheit der Sachelchen, die sie von einander zu haben wünschen. Manche beschäftigen sich bloß mit der Verfertigung eines einzigen Elementartheil-chens der Uhr. Jeder muß aber doch auch daS Ganze kennen, „m dieses Elementartheilchen richtig beurtheilen und verfertigen Die OMocheurs und Etuiverfertiger. 425 zu können. So z. V. giebt es Etablissements, die mit 40 oder 50 Arbeitern nichts produciren als alle möglichen Gattungen von Spiralfedern, andere, die bloß Schrauben von allen nöthigen Größen und Stoffen verfertigen, noch andere, in denen bloß Edelsteine für die Uhren geschliffen werden. Nach diesen Clementargeistern, so zu sagen, folgen dann die, welche einzelne Theile der Uhr, die schon etwas compomrter sind, und bei denen sie sich schon der Producte ihrer Nachbarn bedienen müssen, verfertigen. Endlich kommen die, welche die Uhrcnbestandlheile überall auftaufen und die Uhren selber zusammensetzen. Da indeß, wie gesagt, jeder, um seinen Theil vollkommen herzustellen, auch das Ganze kennen muß, und da jeder gewöhnlich als Lehrling bei den verschiedenen Künstlern die Runde gemacht hat, so sind viele von denen, die sich der Hauptsache nach nur einem gewissen Uhrenbcstandtheilc gewidmet haben, doch nebenher auch noch eigentliche Uhrenverfcrtigcr, und man kann in den meisten verschiedenartigen Etablissements anch einen kleinen Vorrath fertiger Producte finden. Endlich giebt es auch solche Etablissements, die sich nur mil dem Verhandeln der Uhren en gvas befassen, wieder andere, die bloß als Banquiers und Wechsler den Fabrikanten und Kaufleuten zur Seite stehen, noch andere, die bloß mit Noh-producten handeln, mit Edelsteinen, Gold, Silber, Stahl ,c. Einige sind bloß Goldschmiede und verfertigen nur die goldenen und silbernen Gehäuse der Uhren, liefern sie jedoch nur in rohem Zustande. Ihre geschmackvolle Ausschmückung ist wieder die Beschäftigung einer eigenen Classe von Arbeitern, der sogenannten „Guillocheurs". Neben diesen haben sich dann wieder in neuerer Zeit in benachbarten Thalern Papparbeiter und Etuivelfertiger angeschlossen. Diese Etuiuerferügcr wohnen besonders häufig im ValTravcrs, einem Thale, das mehre Meilen 423 Die Spiralfedern. von dem von La Chaur de Fonds entfernt liegt. Ihr Geschäft hat besonders in neuerer Zeit, wo allcö Acußere eleganter und alles Innere — auch bei den Uhren — untüchtiger geworden ist, eine bedeutende Blüthe erreicht. Man macht jetzt, um der Eitelkeit der Kunden zu schmeicheln, elegante, mit Gold und Sammet geschmückte Etuis schon für Uhren von sehr geringem Preist, die ehemals sich eine Verpackung in gewöhnliche hölzerne Kasten gefallen lassen mußten. Die gemeinen Uhren machen also den feinen, edlen Werken gegenüber eben solche Ansprüche, wie die geringen Leute dem noblen Blute unseres Adels gegen« über. Ebenso hat sich anch die Classe der GMochcnrs und Gehauscausschmücker außerordentlich vermehrt und ist geschmack» reicher und routimrter geworden. Doch sollen die Genfer, was den Geschmack betrifft, noch den Neuenburgern voraus sein, was sich wohl aus allerlei Umstanden erklären läßt. Ich bemühte mich, sowohl in La Chaur de Fonds, als den folgenden Tag in Locle, von jeder Classe der verschiedenen Eta« blissemcnts einige aufzufinden und zu besuchen, und fand überall die größte Bereitwilligkeit zu meiner Belehrung. Vei einem Spiralfederfabrikanten stellte ich dir Frage, in welchem Verhältnisse wohl durch seine den Stoff veredelnde Arbeit der Preis des rohen Eisens erhöht würde. Gr hatte einen ungeheueren Vorrath von Spiralfedern aller Größen. Er nahm die kleinste Gattung, die so winzig war, daß wir ihre regelmäßige Gestaltung nur durch cine Loupe erkennen konnten, wie das Glied des Organismus irgend eines kleinen Insects. Diese Federn kosteten per Stück einige Franken. Einige Dutzend davon gingen auf einen Gran. Der Mann multiplicirie die Grane und Quentchen, die Lothe und Franken und brachte endlich heraus, daß ein Pfund von dieser kleinen Eisenwaare circa 3 Millionen Franken werth sei, daß also durch Arbeit der Werth des rohen Das Eoelstemschleifen. 427 Stoffs uermillionenfacht sei. Diese Fabrikanten gehen also mit ihrer Erhöhung deS Stoffweithes noch über Raphael und Tizian hinaus, denn ohne Zweifel erhielten die Werke dieser Maler nie den Preis des millionenfachen Werihcs der zu ihnen verbrauchten Leinwand und Farbe. Die Verse Lord Vyron's, der für eine Zeile zu Buchstaben lind göttlichen Versen umge» staltetcr Tinte eine Gninee erhalten haben soll, kommen jcnen Spiralfedern der Uhrmacher noch wohl am nächsten. Vei manchen Branchen dcrUhrmacherei fand ich auch Frauen und Mädchen beschäftigt, so z.V. namentlich beim Gdelstein-fchlcifcn. Da man in neuerer Zeit immer mehr und mehr Räder in Edelsteinen laufen läßt, und da jeder Besitzer, selbst einer sehr mittelmäßigen silbernen Uhr, sein „ciuulro" oder „nuit tl'Olis «n pioi-rcs" auf seinem Uhrwerkdrckel an« gebracht sehen will, so haben die Gdelsteinschlrifereien auch sehr zugenommen. Es giebt Uhrwerke, für die man bis 20 Edelsteine verbraucht. Diese Steine müssen für kleine Uhren fast so dünn wie Papier geschliffen werden. Dazu haben die Frauen insbesondere die dazu nöthigen feinen Finger. Es ist eine sehr schwierige Arbeit. Die Steinchen sind so klein, daß sie sie mit bewaffnetem Auge betrachten müssen. Ich sah hier große Stein« schleifereien, deren jährliches Arbeitsprodukt, die Myriaden kleiner Rubinscheibchen, man in einem kleinen Papierschächtel-chen wegtragen konnte. In einer derselben traf ich ein Madchen, welches ohne Finger geboren war, aber mit seinen Finger-stumpfm und Daumen-Rudimenten die kleinen Sleine so gut zu handhaben wußte, daß ihr Principal es für seine geschickteste Arbeiterin erklärte. Ich sah in den verschiedenen Etablissements die ingeniösesten und interessantesten Maschinen, welche der menschliche Geist erfunden und construirt hat. Dahin gehören die Guillochir- 428 Neue Maschinen. Maschinen, die Divisionsmaschinen für die regelmäßige Aus-zahnung der Räder und andere. Bei der Einrichtung aller dieser Maschinchen wird fortwährend geändert und gebessert. Und alle Augenblicke taucht eine neue El findung, eine neue Methode, ein neuer Proceß ans, der entweder eine bisher be« stehende kleine Branche der Arbeit und der Arbeiter zu refor« nliren oder ganz zu beseitigen droht. Es wurden mir die interessantsten Beispiele von dem Auftauchen, der Entwickelung und dem Fortschritte solcher Erfindungen erzählt, von den kleinen Zerstörungen und der partiellen Noth, die sie in gewissen Regionen des Arbeiterterrains angerichtet, und von der Art und Weise, wie sich diese Noth wieder ausgeglichen. Zuweilen macht hier oben Einer cine Erfindung, componirt eine neue Maschine und benutzt sie im Verborgenen eine Zeit lang zu seinem Vortheile, bis seine Nachbarn, die ihn belauschen, die ihn von ihren Fenstern aus beobachten, die von ihreu Dächern aus mit Perspektiven feine Maschinen betrachten, in allen Theilen erforschen und zu Papier bringen, endlich das Geheimniß herausbekommen und dem Publicum übergeben. Man führte mir mehre solche Beispiele aus der neuesten Geschichte der jurassischen Uhrmacherkunst an. Dieses Gewerbe mit seinen verschiedenen Branchen und den steten Veränderungen darin ist gleich jenem Eilberbaumchen, das ein Chemiker in einer Sau-« renauflösung anschießen läßt. Beständig schießen neue kleine Zweiglein darin an und gelangen zu einer bunten Entwickelung, und beständig weroen andere kleine Zweiglein zerstört und ein» gerissen und gerathen in Verfall. Das Ganze ist in fortwährender Bewegung und Veränderung. Freilich ist es so fast mit jedem Geschäfte, das der stets bewegliche Geist des Menschen betreibt. Eine der neuesten Proceduren, die man eingeführt hat, ist die Vergoldung der inneren Maschinentheile der Uhr mit Ingeniöse Instrumente. 429 Hülfe der Elektricität, und ich fand daher bei den meisten, selbst kleinen Uhrmachern, elektrische Vattericen. Wer Lust hat an der Betrachtung ingeniöser Instrumente, Maschinen und erfinderischer Proceduren, der kann hier seine Leidenschaft besser befriedigen als in irgend einer Fabrikstadt der Nelt. Denn es giebt keine zweite Fabrikation, die so mannlchfaltige Processe und dabei eine so mathematische Genauigkeit der Wirksamkeit der Instrumente erfordert, wie die genannte. Man sieht bier Maschinen, deren Construction nur möglich wurde, nachdem die sogenannten science» oxnoloä solche außerordentliche Fort-schritte gemacht hatten, wie sie jetzt bei uns gemacht haben. Sie erschienen mir als die letzte Ausblüthe an dem Vaume der Wissenschaft, und ihr? Einrichtung ist fast so zweckmäßig, so künstlich und interessant, wie der Vau und Organismus der leiblichen Hülle eines Thieres der Schöpfung. Der Mensch scheint in diesen Maschinen dem Schöpfer so nahe getreten zu sein, als es ihm überhaupt möglich ist. Leider ist es nur so schwer, ohne umständliche Beschreibung und ohne weitläufige Zerlegung und Hülfe von Zeichnungen eine Vorstellung von einer derselben zu geben. Sie find für das Auge und den Verstand ein Wunder, aber der Zauber, den dieß Wunder auf den Beschauer wirkt, verschwindet für den Leser unter der zerlegenden Hand und unter der beschreibenden Feder. Die Iurabcwohner arbeiten, wie ich sagte, für sehr verschiedene Länder und Nationen. Sie kennen und beachten daher die Gewohnheiten und den Geschmack dieser verschiedenen Nationen und richten darnach ihre Arbeit ein. So z. V. begnügen sich die vorsichtigen Chinesen nicht, wie alle anderen Völker , mit einer Taschenuhr. Sie haben deren vielmehr immer zwei bei sich. Vielleicht zieht der Chinese, wenn ihn Jemand nach der wahren Zeit fragt, beivc Uhren hervor, beobachtet 43V Dle Doppeluhren der Chinesen. beive Zeigerpaaro und nimmt, indem er die Differenz der Angaben beider Uhren findet, das Mittel als die rechte Zeit an, vielleicht damit er der wahren Zeit um so gewisser sein könne. Da beide Uhren in allen Stücken genau mit einander übereinstimmen sollen, so müssen sie immer paarweise in Arbeit genommen werden, damit sie ganz gleich gehen und ganz gleich aussehen. Auch werden diese chinesischen Zwillingsuhren immer paarweise verpackt und kommen paarweise in den Handel. Nie es Fabrikanten giebt, die sich besonders mit den chinesischen Bedürfnissen beschäftigen, so giebt es auch andere, die sich insbesondere den Bedürfnissen der Türken, Aegypter und überhaupt der Orientalen widmen. Dort in Constantinopel, Alexandria, Antiochieinc. werden noch die altmodigcn, soliden, aber plumpen englischen Uhren geschätzt, die den Nürnberger Gieen sehr ahnlich sehen, und man verachtet diese neue, elegante, zerbrechliche, platte Genferwaare. Sie ahmen daher hier, im Jura, jene altmodigen englischen Uhren nach und geben ihnen auch so viele Gehäuft, wie der Türke für ein so kostbares Ding, wie die Uhr, haben will. Ich sah hier türkische Uhren mit einem halben Dutzend Gehäuse, erst einem hörnernen oder schildpattensn, dann einem messingenen, darauf einem silbernen oder goldenen^ endlich den Kern der Uhr selber. Die Grade und Nuancen der Solidität, Dicke, Plumpheit, die Arten der Gestalt und Ausschmückung der Uhren sind auch nach den verschiedenen Völkern Europas sehr verschieden, für Frankreich anders als für Deutschland. Dieß geht so weit, daß die Guillocheurs darauf raffitnren, die Uhrendeckcl mit solchen Linicnvcrschlingungen und Arabesken zu versehen, wie sie dem Geschmacke dieses oder jenes Landstriches am meisten entsprechen. Auch will man für die eine Gegend lieber ein kleines landschaftliches Vild, für die andere lieber ein historisches Portrait auf dem Uhrendeckel haben. Verbrauch an Nhien. 43) Die verschiedenen Genres sind unendlich mannigfaltig. Ein GuiNocheur zeigte mir große Sammlungen von deutschen, von schweizerischen, von französischen Compositionen und Motiven. Die feinsten Uhren gehen nach Rußland, Polen, Paris und Amerika. Die Engländer wollten bisher immer nur Uhren aus den Werkstätten ihrer eigenen soliden Arbeiter. Nach Deutschland gehen alle Gattungen von Uhren. Da lein Mensch ohne Taschenuhr in seine Lebensweise und seine Geschäfte einen ordentlichen Gang bringen kann, so ware es für die Beurtheilung des Hauswesens, der Ordnungsliebe und des Wohlstandes der verschiedenen Nationen sehr interessant, die Höhe des Bedarfs und Verbrauchs von Taschenuhren bei einer jeden zu kenne». Hat doch Alerander von Humboldt sogar sich bemüht, die Quantität des Verbrauchs von Pfeffer und anderem Gewürz« bei verschiedenen Nationen zu erforschen, um darnach auf ihre Gewohnheiten und ihr Temperament schließen zu können. — Ich besprach diesen Punct mit mehren Uhrenfa-brikanten, und mir war es lirb, zu hören, daß sie der Ansicht waren, daß im Ganzen kein Land so viele Uhren, namentlich von mittelmäßigem Preise, gebrauche als Deutschland. Sie versendeten, sagten sie, für die deutschen Landleute mehr Uhren als für irgend welche Landleutc eines anderen Landes. Nament-licl), sagten sie, hatten die französischen Bauern bei Weitem nicht in so hohem Grade das Bedürfniß nach dem Tragen einer Taschenuhr, wie die deutschen. Dieß schien mir, sage ich, sehr zum Vortheile des Wohlstandes sowohl, als auch der Ordnungsliebe der deutschen Vauern, den französischen gegenüber, zu sprechen. Da unser ganzes Lebe» nur aus den Stunden und Minuten, welche die tickende Uhr angiebt, zusammengesetzt und all unser Thun und Bewegen in dem Rahmen des Tages und der Stunde eingefaßt ist, so muß sich natürlich jeder MI Wohlfeilheit der Uhren. ordentliche Mensch hauptsächlich mil der Beobachtung des Zeitverkaufs beschäftigen, und es kommt mir immer sehr barbarisch vor, wenn ein Mensch keine Uhr bei sich führt, wogegen ich eZ immer als ein erfreuliches Zeichen der Civilisation ansah, wenn ein deutscher Hausknecht oder Vauer auf Befragen nach der Zeit seine Uhr hervorzog. Es ist vermuthlich kein Gegenstand des LiMis oder Gebrauchs in neuerer Zeit so tief im Preise gesunken, wie die Taschenuhren. Und man verdankt dieß vorzugsweise den Ve-mnhungen dieser nenenburger Iurabewohner, die durch ihre Erfindungsgabe, Geschicklichkeit und Arbeitsvertheilung eine solche Wohlfeilheit möglich gemacht haben. Man kann hier an Ort und Stelle silberne Uhren, die wenigstens eine Zeit lang gehen, zu 4 Franken das Stück kaufen. Für 10 Franken bekommt man schon eine Uhr, die einige Jahre ziemlich ordentlich geht. Leider hnt das Streben nach möglichst wohlfeiler Herstellung der Uhren in neuerer Zeit sehr überHand genommen. Die Quantitäten, welche von jenen schlechten Uhren zu 4 Franken, die nur einige Augenblicke gehen, producirt werden, sollen gar nicht unbedeutend und stets im Zunehmen begriffen sein. Sie werden gebraucht, um Kinder damit z» beschenken. Oder auch arme junge LeuWl Intoleran; eines Uhrenfabrikanten. Ländern Europas, insbesondere natürlich Deutsche, welche, wie in Paris, wie in Petersburg und in vielen anderen Orten der Welt, die Mehrzahl der fremden Arbeiter ausmachen. — Ich sagte oben, daß die Uhrmacher im Ganzen ein sehr liberales und freisinniges Völkchen wären. Ich fand indeß einige Ausnahmen von dieser Regel. So kam ich z. V. in das Haus eines kleinen höchst tyrannischen Uhrenfabrikanten in LaChaur de Fonds, der etwa 20 Arbeiter beschäftigte. Er hatte alle Wände und Thüren seiner Arbeltslocale mit von ihm selbst abgefaßten und geschriebenen Verordnungen und Vorschriften aller Art für seine Arbeiter behängen und beklebt. Die Regulirung der Arbeit, die er in diesen Vorschriften anzuordnen für gut gefunden hatte, war sehr streng, und fast auf jedeVersaumniß von Seiten des Arbeiters stand als Strafe Entlassung aus dem Dienste, wie bei Draco's Gesetzen Todesstrafe. Gr war vermuthlich ein Pietistischer Mucker. Denn er verlangte sogar bei Strafe der „Entlassung aus dem Dienst", daß jeder Arbeiter sich des Morgens vor der Arbeit bei dem gemeinschaftlichen Gebete einfinde, sowie auch des Abends desgleichen. Eben so hatte er „Entlassung aus dem Dienste" für den angedroht, der sich nicht ausweisen könne, daß er jeden Sonntag zwei Mal in die Kirche gegangen sei und alle 3 Monate einmal das Abendmahl genommen habe. — Ich fragte ihn ganz leise, ob seine Arbeiter sich solche strenge Vorschriften gefallen ließen, und ob er denn wirtlich sicher sei, baß er dadurch wahrhaft tugendhafte und redliche Arbeiter oder nicht vielmehr heuchlerische und bloß vorschriftsmäßig fromme Menschen bekomme, ich fragte ihn, ob es nicht besser sei, daß er die Leute, ihren Wandel, ihre Kirchlichkeit, ihre Gebete ganz für sich beobachte, baß er sie, wo es nöthig wäre, im Stillen ermähne und endlich, wenn die Ermahnungen nichts mehr fruchteten, ohne Weiteres entließe« Schweizer Tyrannei. 435 Ich sagte ihm dieß, wiegesagt, ganz leise ins Ohr. Aber er kam dagegen mit seiner Antwort ganz laut und barsch heraus- „Mein Herr, es ist ja mein Haus! Es sind ja meine Leute! Ich kann hier ja befehlen, was ich will. Und wer mir nicht folgen will, dem mache ich gern meine Thüre aus!" — Es lief mir ganz roth übers Gesicht. Denn leider waren bei dieser rohen Rede des frommen Tyrannen alle seine 20 Arbeiter — darunter alte greise Männer — zugegen. Sie saßen alle fleißig an ihrer Arbeit mit dem Gesicht gegen die Fenster, mit dem Rückeil uns zugekehrt. Sie waren ganz mäuschenstill und rührten sich nicht. Mir kam eS vor, als sahe ich geknechtete Sclaven uor mir und als hatte der Herr ihnen einen Hieb mit der Peitsche über den Rücken gegeben. — Es ist also auch hier nicht selten, daß gerade die sogenannten „frommen Herren" ihre Leute am meisten tyrannisiren. — Ob dieß hier oft vorkommt, weiß ich nicht. Doch sah ich hier noch eine andere Unduldsamkeit im Namen der Religion geübt. Die kleine katholische Gemeinde nämlich, die sich hier oben zwischen den hiesigen Protestanten angesiedelt hatte, scheint unter demselben Drucke zu stehen, wie die kleinen protestantischen Gemeinden hier und da in Oesterreich. Sie darf nämlich in ihrer Kirche sich keines Glockengeläutes bedienen. Auch hatte man sie sonst noch in Vezug auf die Bauart ihrer Kirche, ich glaube in Vezug auf die Anlage der Thüren und Fenster besonderen Beschränkungen unterworfen. Die Protestanten hier, sagte man mir, haben es nicht gern, daß die Katholiken sich mit Glockengelaute oder Gesängen oder Lichterschmuck in ihrer Kirche breit machen. Ist es möglich, dachte ich, daß ich in einem seiner freisinnigen Institutionen wegen belobten Staate bin.' — 19* 48ß Tcr Chef der Künftlerfamilie der Richards. 54. L o c l e. Vün 8a Chaur de Fonds nach Locle geht man in einer solchen Graswanne, in einem solchen hohen Längenthale deS Jura hin, wie ich es oben beschrieb. Der Ort Lock/ den man am anderen Ende dieses Thales findet, gleicht ganz dem von La Chaur de Fonds. Ich besuchte hier wieder einige interessante Ateliers und namentlich auch die schon genannte Stamm-Künstlerfamilie der Richards. Ich «erbrachte bei dem jetzigen Chef dieser Familie einen äußerst lehrreichen und angenehmen Abend. Aus seinem Atelier sind Lutusuhrcn hervorgegangen, die, nicht viel großer als ein Thautropsen, von russischen oder ungarischen Damen in Ringen getragen, und zugleich Chronometer, die von den englischen Schiffscapitüneil als die zuverlässigsten Leiter »nd Magnetnadeln in dem Oceane der Zeilen mit um die Welt genommen wurden. Herr Nichard zeigte mir eiuige Reliquien von seinem Urgroßvater und sagte mir, daß ein neuenburger Gutsbesitzer in der Nähe noch eine der ersten Uhren besäße, die ihr Vorfahr hier producirt habe. Herr Richard offenbarte mir so vernünftige Grundsätze «ber Politik und Nationalökonomie, so tolerante Ansichten über Religion, so vorurtheilösreie Meinungen über die Völker, die am Fuße «nd wcit jenseits deö Jura aus dem Runde der Erde wohnen, und zeigte sich dabei so gemäßigt, so kennlnißreich und gebildet, daß ich seinen Urvater sehr glücklich darum pries, ein solches Geschlecht von Menschen in die Welt gesetzt zu haben, und ihn um dilfen Dienst, den er der Welt geleistet hatte, weit mehr beneidete als den Stammvater selbst des glänzendsten Adels-geschlechts. Die unterirdischen Mühlen von Locke. u ch f ü r A uswandere r. Frei nach den eligüschen Werken von Dav. Mackenzie, I. C. Dyrnc, O. L. Davidsoh,!, E. Nowcroft und V. P. Wilkinson bearbeitet. !«. broch. l« Ngr. Streif- und Jagdzü'ge durch die vereinigten Staaten Nordamerika's. Von Fr. Gerstäcker. Mit einem Vorworte von Tr. Dromme. 2 Vänbe. 12. bloch. 2 Thlr. 22^ Ngr. Fr. Gerstackcr, amerikanische Wald- und Strombilder. 2 Theilt. 8. broch. 2 Thlr. N Ngr. Inhalt: 1) Nordamerikanische Jagd. 2) Die Leichenräuber. 3) Curtis Vrautfahrt. 4) Schulen in dcn Backwoods, b) Die Alligator-Jagd. 6) Ein Versuch zur Ansiedelung, oder wie's dem Herrn von Sechingen im Urwald gefiel. 7) Cincinnati. 8) Der wunderbare Traum. 9) Eine Pantherjagd. 10) Wandernde Kramer. II) Der amerikanische Unvalb. Th. S°pe, Anastasius. Leben und Reiseabenteuer eines Neugriechen. Aus dem Englischen übersetzt von W. A. Lindau. Zweite, mit einer Einleitung vermehrte Auflaqe. S Theile. 8. broch. 5 Thlr. ' MS. Ming st an, portugiesische Land- und Sittenbilder. Aus dem Englischen von M. B. Lindau. 2 NHndc. ». broch. 3 Thlr. Dr. G. Klemm, I ^ ^ ^ l N ^ Bericht über eine im Jahre 1838 im Gefolge Sr. Königl. Hoheit des Prinzen Johann, Herzogs zu Sachsen, unternommene Reise nach Italien, gr. 8. broch. 2 Thlr. 22^ Ngr. I. G. Kahl, die deutsch-russischen Dstseeprovinzen oder Natur-und Völkerleben m Knr-, Liv- und Esthland. Mit einer Karte der deutsch-russischen Oftseeprovinzen, 2 Titelkupfern und 6 anderen Kupfertafe'n. 2 Theile, 8. broch. 3 Thlr. ,8 N«r,