6 xrrtftev wir rr lobte. leibte und Itnrb. nach unwiderleg¬ lichen Serichten dnrgrstellt. Als Beweis römisch-katholischer Wissenschaft vr. Ottmar Hegemann, Anleitung. Im Verlag „Styria" in Graz erschien 1906 die Schrift: „Luther, wie er lebte, leibte und starb, nach unwiderleglichen Berichten dargestellt. Streitschrift gegen die ,Los von Rom - Pastoren." Im Vorwort dieser Schrift heißt es: „Anfangs spotteten die Gegner darüber (gemeint ist die vorliegende Lutherschrift), später riefen sie nach dem Staatsanwalte, um schließlich zu ver¬ stummen, gänzlich ins Bockshorn getrieben. Sehr begreiflich, denn mit dem entlarvten Luther kann man vor gescheiten Menschen nicht Paradieren." Wir wollen im folgenden nachweisen, mit welchen Waffen man gegen Luther von römischer Seite sich zu kämpfen nicht scheut! Der römisch-katholische Theologe F. L. Funk hat über Denifles Lutherbuch geurteilt: „daß es, wenn auch die Einzel¬ heiten im allgemeinen richtig sein mögen, im ganzen doch nur ein Zerrbild bietet und das Verständnis der kirchlichen Katastrophe des 16. Jahrhunderts nur erschwert, indem ein Werk, wie es Luther nun einmal vollbrachte, von einem Mann, wie er hier gezeichnet wird, unmöglich zu erwarten ist . . . Die Protestanten werden Eines auch fortan festhalten: die befreiende Tat, von der Denifle spricht, und ihretwegen wird Luther ihnen auch fortan als der größte deutsche Mann gelten. Sie werden sich darin 2 auch durch seine Fehler und Schwächen nicht beirren lassen und sie werden den bezüglichen Beweis in seinem Werk finden, das trotz der allergrößten Schwierigkeiten, die ihm entgegenstanden, zur Durchführung gelangte und nächstens auf vier Jahrhunderte zurückblicken kann" (Theol. Quartalschr. 1905, 1). Wir überlassen es den Lästerern Luthers, das Rätsel zu lösen, wie ein Mann von solcher Beschaffenheit, wie der von ihnen beschriebene Luther, den ganzen Bau des abendländischen Katholizismus sprengen konnte. War Luther so, wie sie ihn be¬ schreiben, dann mußte eine grenzenlose Verkommenheit und Ver¬ wahrlosung in der katholischen Kirche in allen ihren Gliedern herrschen, wenn sie von einem Mann, wie jener angebliche Luther, fast entwurzelt werden konnte. Der Schlag gegen Luther fällt auf die eigene Kirche zurück. Wieder und wieder müssen wir auch hervorheben, wenn sie alles bewiesen hätten, die Lästerer Martin Luthers, was sie be¬ wiesen zu haben vorgeben, die volle persönliche Nichtswürdigkeit Luthers, was hätten sie bewiesen? Etwa, daß die Sache des Evangeliums gerichtet ist? Die Sache des Evangeliums, wie sie von der evangelischen Kirche mitvertreten wird, ist nicht gebaut auf Luther, nicht abhängig von Luther, steht und fällt nicht mit Luther. Der Protestant hat das volle Recht, unbefangen Schwächen und Mängel an Luthers Person zu prüfen und zu verurteilen. Denn es braucht ein Mensch nie auch nur den Namen eines Luther gehört zu haben und kann doch ein guter evangelischer Christ sein, wie schon die ungezählten Millionen evangelischer Christen beweisen, die als „Reformierte", ohne sich auf Luther zu berufen, den Zugang zu den Schätzen des Evangeliums ge¬ funden haben. Wilhelm Walther sagt mit Recht: „Die Katholiken können von dem Wahne nicht lassen, sie hätten das Luthertum überwunden, wenn sie nur Luther als nichtswürdigen Menschen hingestellt hätten. Da bei ihnen der Glaube nur blinde Unterwerfung unter die Autorität ist, trauen sie auch uns zu, wir folgten blind der Autorität Luthers; müßten wir also Luthers Person verdammen, so müßten wir auch den von ihni gepredigten Glauben verwerfen. Unfaßbar ist es ihnen, daß unsere Glaubensüberzeugung nicht im geringsten geändert werden würde, wenngleich der Mann, der sic zuerst überzeugend vorgetragen hat, ein verworfenes Subjekt sein würde. In Wirklichkeit haben wir ihm nicht ein Wort aus sein 3 Wort hin geglaubt. Ja, wenn wir erkennen würden, daß er völlig anders gelehrt habe, als wir bisher meinten, so würden wir bei unserm Glauben beharren und seine abweichende Lehre verwerfen. Weil die Katholiken das nicht verstehen können, nehmen sie an, mit Luther falle die evangelische Anschauung dahin" („Für Luther wider Rom"; Halle 1906, S. 1 f.). So ist der vorliegende Streit im Grunde gegenstandslos. Vom rein religiösen Standpunkt aus könnten wir Luther seinen heutigen römischen Gegnern freigeben, damit sie nach Herzenslust an ihm ihr Mütchen kühlen. Es ist freilich ein Schauspiel eigen¬ tümlichster Art, wenn heute, 400 Jahre nach Luther, sein An¬ denken im Dienste des Christentums in solcher Weise besudelt wird, wie es auch in der vorliegenden Schrift geschieht. Im Namen der geschichtlichen Wahrheit und um das wahre Gesicht unsrer Gegner zu enthüllen, müssen wir die Mittel beleuchten, mit denen sie kämpfen. Was sind das für Mittel! Sonderbar genug ist es, wenn solche, die anderen das Christentum absprechcn wollen, wie es gerade der Verfasser vorliegender Schrift gegenüber den „Los von Rom"-Pastorcn tut, so wenig vom Christentum wissen, wie gerade der Verfasser. Dieser behauptet, der Apostel Paulus habe „an derselben Krankheit wie Luther" gelitten, nämlich an der Wollust (S- 32). Merkwürdigerweise scheint er nicht zu wissen, daß Paulus sich die „Gabe der Enthaltsamkeit", d. h. Freiheit von geschlechtlichen Anfechtungen zuschreibt (1. Kor. 7, 7). Aehn- lich ist es, wenn er S. 41 behauptet, Paulus „aß kein Fleisch und trank keinen Wein". Nach Röm. 12, 2 ff.; 1. Kor. 8, 8; 1. Tim. 4, 3 f. ist dies zweifellos unrichtig. Nach diesen Proben scheint dem Verfasser einer in allen klerikalen Blättern angepriesencn Schrift die Bibel recht unbekannt zu sein. Im Jahre 1511 läßt die Lutherschmähschrift in Rom Papst Leo X. .regieren (S. 10). Also ein so eifriger Verteidiger des Papsttums weiß nicht, daß damals (bis 1513) Julius II. Papst war! Den bekannten Jesuiten Tilman Pesch (Gottlieb) nennt er einen „Protestanten" (S. 47). Die tiefe Wissenschaftlichkeit dieses „südsteirischen" Werkes erhellt auch daraus, daß die 1906 „um¬ gearbeitete Auflage" in keiner Weise auf Denifle Bezug nimmt, der doch ergiebiger an rohen Lutherbeschimpfungen als alle sonst benutzten Bücher gewesen wäre. Auf jeder Seite aber tritt es dem, der einigermaßen mit der Literatur vertraut ist, vor Augen, 1* 4 daß dem Verfasser die einfachsten Voraussetzungen zur Behand¬ lung eines solchen Themas abgehen. Das Mindeste war doch, wenn so furchtbare Anklagen gegen einen bedeutenden Mann der Geschichte erhoben werden sollten, daß der Verfasser seine aus den verschiedensten Pamphleten zusammengelesenen Zitate in einer der neueren, erreichbaren Lutherausgaben nachgeschlagen hätte, um überhaupt eine Kontrolle seiner Zitate zu ermöglichen. Statt dessen ist die Zitierweise großenteils eine so leichtfertige, daß sehr- viele Zitate ganz unkontrollierbar sind. Es kommt das daher, daß uralte Lutherbeschimpfer benutzt sind, deren Zitierweise heute unverständlich ist. Sehr häufig sind „Tischreden" ohne jede nähere Bezeichnung zitiert, als wenn dies genüge, die betreffenden Aeußerungen auf ihre Zuverlässigkeit zu prüfen. Sehr häufig werden Worte Luthers in deutscher Sprache angeführt, die dieser in lateinischer Sprache niedergeschrieben hat, ohne daß der Leser auf den Tatbestand aufmerksam wird. Hierbei ist einem bös¬ willigen Uebersetzer Spielraum gelassen, einen Anstoß dnrch die selbstgewählten Ausdrücke zu verschärfen. Das alles beweist die Unwissenschaftlichkeit des ganzen Ver¬ fahrens und die Unfähigkeit des Verfassers, der ihm gestellten Aufgabe gerecht zu werden. Wir haben aber auch mit aus¬ gesprochener Böswilligkeit zu tun. Dahin ist zu rechnen, wenn ein „Irrtum", der in einer dem Verfasser vorliegenden Schrift aufgeklärt und zurückgewiesen war, kaltblütig von neuem vor¬ getragen wird und das gleich wiederholt geschieht. Pfarrer- May in Cilli (dessen Vortrag: „Martin Luther, ein Lebensbild zur Abwehr ultramontaner Geschichtsfälschung" die vorliegende Schrift widerlegen will), hatte dies in völlig unwiderleglicher Weise getan mit einer angeblichen Liebesgeschichte des jungen Augustinermönchs Luther. Trotzdem entblödet sich die Luther- schmühschrift nicht, dieselbe Geschichte gleich zweimal (S. 11 und 32) zu erzählen, wobei beim zweitenmal übersehen zu sein scheint, daß diese Geschichte ja schon S. 11 stand. Ein solches Verfahren ist das der völligen Gewissenlosigkeit! Gerade so gewissenlos ist es, wenn die giftigsten Verleumder- Luthers, der Konvertit G. Evers und ein gewisser Bush „protestan¬ tische Pastoren" genannt werden und als solche ausgenutzt werden (S. 9 und 77). Der Verfasser weiß sehr wohl, daß Evers, als er jene Beschuldigungen gegen Luther richtete, längst römisch- katholisch war, denn er schreibt es selbst (S- 36). Oder wenn 5 der wüste Demagoge und Volksverführer Thomas Münzer wieder¬ holt als einwandfreie Quelle gegen Luther ausgebeutet wird (S. 20 und 30) oder Luthers verbissenster Gegner Cochläus, der von sich bekannte, daß er „vorzüglich diejenigen Quellen ausgeschnitten habe, die den Leser zum Hasse gegen den Ketzer unt sich zu reißen versprachen", als Luthers Zeitgenosse, d. h. also als einwandfreie Quelle angeführt wird. Es ist überhaupt eine höchst naive Kampfesweise, wenn immer wieder „Protestanten" als Gewährsmänner angeführt werden, als wenn ein Protestant, sowie er etwas gegen Luther aussagt, unfehlbar sei. Wir sagen mit Walther: „In unseren Augen sind derartige Aeußerungen noch keineswegs deshalb zuverlässig, weil sie von Protestanten herrühren. Denn das protestantische Verlangen, durchaus objektiv zu forschen, kann auch zu der Neigung führen, beliebt gewordene Anschauungen als einseitig oder gar ver¬ fehlt aufzudecken. Sodann gibt es manche Protestanten, die .keineswegs klar und ganz auf dem Boden der Reformation stehen und deshalb an Luthers Leben oder Lehre allerlei aus¬ zusetzen finden. Endlich wird von Protestanten nicht selten eine geschichtliche Meinung vorgetragen, ohne daß sie sich die bösen Folgerungen klar machten, die ein Uebelwollender daraus ziehen kann, während alle anderen Protestanten eine derartige Auffassung verwerfen und als unmöglich nachweisen." Es ist eine Gewissen¬ losigkeit, solche protestantischen Stimmen, denen oft nicht die geringste Bedeutung zukommt, als höchst beachtenswert abzudrucken. Eine Irreführung der Leser ist es schließlich, wenn die groben, für unseren Geschmack vielfach rohen Worte Luthers in der Weise verwertet werden, als sei gar kein Unterschied zwischen der Ausdrucksweise jener Zeit und der unserigen. So ist es leicht möglich, Entsetzen über Luthers Redeweise zu erregen. Daß bei dem Urheber der uns beschäftigenden Schmähschrift dieses Entsetzen nicht so aufrichtig gemeint ist, wie der harmlose Leser meinen könnte, geht daraus hervor, daß er einen I. N. Weislinger, der an unflätiger Sprache das Aenßerste leistete (s. meine Schrift: Luther im katholischen Urteil; München 1905), einen „tüchtigen katholischen Apologeten" nennt. Also hier lobt er die¬ selbe Kampfesweise, die er an Luther tadelt. Am Schluß seiner Schrift scheut sich der Verfasser nicht, sich eine Predigt des Bischofs Brenner wörtlich anzueignen, in der Luther als „wilde Sau und mutwilliges Schwein" beschimpft wird, „das mit seinem 6 unverschämten und unflätigen Rüssel die ganze Bibel verwüstet und zerwühlt hat!" Der milde und gelehrte Papst Hadrian VI., der als Stell¬ vertreter Jesu Christi, als heiliger Vater sich in seinen amtlichen Erlassen möglichst würdevoll ausdrücken mußte, nannte Luther „eine Schlange, die mit dem Gift ihrer Zunge Himmel und Erde verpeste, einen fleischlichen Menschen, der immerfort Wein und Rausch ausrülpse, ein wildes Wildschwein, einen Dieb, der das heilige Kreuz Christi mit seinen boshaftigen Händen zer¬ breche und mit seinen besudelten Füßen trete, diesen Gaukler, diesen allertreulosesten Abtrünnigen, diesen Teufel, mit seinem gottlosen, pestilenzialischcn Munde" (Walch 15, 2517fs.). Wir sehen aus diesen wenigen Proben, daß die Ausdrucks¬ weise jener Zeit eine andere war als die heutige Ausdrucksweise. Auch Christus und die Apostel bedienten sich einer anderen Rede¬ weise als wir sie uns heute gestatten, um nur au die Streitreden Christi gegen die Pharisäer zu erinnern, die heute zweifellos eine Verurteilung wegen Religionsstörung herbeiführen würden. In einer Zeit, die noch nicht einmal ein Jahrhundert hinter uns liegt, in den deutschen Befreiungskriegen, haben sich unsere edelsten deutschen Dichter, wie cin E. M. Arndt, Heinrich von Kleist u. a. einer Denk- und Ausdrucksweise bedient, vor der wir uns heute nicht minder entsetzen müssen, wie vor den scharfen Worten Luthers. In Tagen höchster Gefahr und schwersten Kampfes ist eben die Ausdruckswcise eine andere als in Tagen des ungestörten Friedens. Irreführend ist es, wenn in einer Schrift über Luther nirgends auf die Umstände hingewiesen wird, die Luthers Aus¬ drucksweise verständlich machen, nirgends darauf, daß Luthers Zeit eine ganz besonders derbe Redeweise liebte, wie wir an seinem Orte noch zeigen werden. Schlimmer als eine noch so maßlose und polternde Rede¬ weise aber ist die perfide Kampfesweise, die ohne jede Scham und Gewissensskrupel den Gegner in den Kot zieht. Die uns be¬ schäftigende Schrift stanimt von Hintermännern der „Südsteirischen Presse", einem slovcnisch-klcrikalen Blatte, das in Marburg er¬ scheint. Am 18. Mai 1906 wurde von mehreren Abgeordneten der deutschen Volkspartci u. a. im österreichischen Reichsrat an den Justizministcr eine Anfrage gerichtet, in der cs heißt: „Den Zug abstoßender Gehässigkeit trägt die Kampfesweise der slovenischeu Tagespresse seitdem die slovenische Geistlichkeit, ungehindert von 7 ihren Oberhirten in Laibach und Marburg, die politische Führung ihres Volkes in terroristischer Weise an sich gerissen hat" usw. Dieser Zug abstoßender Gehässigkeit ist der vorliegenden Luthcr- schrift in besonderem Maße ausgeprägt. Dies im einzelnen nach¬ zuweisen sei die Aufgabe der nachfolgenden Ausführungen, bei denen wir dem Gang des slovenischen Erzeugnisses folgen, um deren maßlosen Verunglimpfungen in ihrer Haltlosigkeit aufzuzeigen, dabei aber auch gelegentlich darauf hinzuweisen, wie wenig Veran¬ lassung gerade die Klerikalen haben, in dieser Weise gegen Anders¬ gläubige vorzugehen, wobei wir uns vielfach ans Walther stützen. 1. Luther vor seinem reformatorischen Mtreten. Angeblich von einem Luthernachkommen K. Luther stammend, wird zunächst die Behauptung ausgesprochen, Luthers Vater sei ein Mörder gewesen. Dieser K. Luther war gar kein Nachkomme Luthers. Ferner spricht er nur von einer Sage, die er von Ostmann 1844 übernommen habe. Gegen diese Ueberlieferung spricht das völlige Schweigen aller gleichzeitigen Gegner Luthers mit Ausnahme des einzigen Georg Witzel, der seinerseits gar keinen Versuch machte, jenen Vorwurf zu begründen und aus¬ zuführen. Seine Gegner machten Luther nngescheut zu einem Sohn ketzerischer Böhmen oder zu einem vom Teufel gezeugten Wechselbalg, oder zu einem Besessenen. Hätten sie ihm eine solche Tat des Vaters vorrücken können, sie hätten es sicherlich nicht unterlassen. Hierzu kommen die schwerwiegendsten Gründe aus dem Charakter und den Lebensumständen des alten Luther, die dagegen sprechen (s. Köstlin, Luthers Leben I, 15). Hieran schließt sich die ekelhafte Verleumdung, Luther habe schon als 15jähriger Knabe mit der „jungen Dame" Cotta ein Liebesverhältnis unterhalten. Im Prozeß Bcrlichingen, einer den Männern der „Südsteirischen Presse" ganz verwandten Seele, hat der römisch-katholische Theologe Sebastian Merkle unter Eid ausgesagt, daß Frau Cotta weder Witwe noch jung war, viel¬ mehr in höherem Alter stand. Janssen, der bekannte ultra- montane Historiker, hat sich denn auch veranlaßt gesehen, seine in der 1. Auflage vorgetragene Verleumdung etwas geschickter zu fassen. Merkle aber ist ehrlich genug, die Verdächtigung Luthers wegen des Ausspruchs, den jener von Frau Cotta gelernt: „Es ist nichts Lieberes auf Erden Als Franenliebe, wem sie mag werden" 8 mit folgenden Worten abzntun: „Der Gedankengang, in welchem Luther die Aeußerung anführt — als Preis der edlen, ethischen Frauenliebe gegenüber der roh sinnlichen — scheint die Deutung, wie sie Weislinger, Gottlieb und neuestens Berlichingen durch seine pikante, leider nicht historische, Schilderung vertreten, doch direkt auszuschließen" (Merkle, Reformationsgeschichtliche Streit¬ fragen: München 1904, S. 34 ff.). Wir gelangen dann zu Luthers Romfahrt im Jahre 1511. Wir werden belehrt, daß „Rom auf Luther einen wohltuenden Eindruck gemacht habe." In Wahrheit lernte Luther „in der „heiligen" Stadt die größte Unwürdigkeit, „Unheiligkeit" der kirchlichen Personen und priesterlichen Mittler kennen. Statt der Beichtiger, vor denen er sein Herz erleichtern wollte, fand er die unwissendsten Menschen, die ihm mehr Anstoß als Erbauung gaben. Wo er andächtig an der Messe teilnehmen wollte, traf er Geistliche, welche hand¬ werksmäßig, weil sie dafür bezahlt wurden, „im Hui eine Messe schmiedeten" und schnell einander darin ablösten. Ihm selbst riefen sie, als er in seiner Weise Messe las, zu: „xussa, pg-ssa, immer weg!" usw. Er sah einmal, wie so in einer Stunde an einem Tag zehn Messen abgehalten wurden. Bei Tische hörte er päpstliche Höflinge lachend und rühmend von Priestern reden, welche über Brot und Wein des Abendmahls lateinisch die Worte sprächen: „Du bist Brot und bleibst Brot, du bist Wein und bleibst Wein." Für die Hauptsündcn, die man dem Klerus auch sonst vorwarf, fand er eben in Rom den Hauptherd. So ganz besonders für die Sünden der Unzucht Hier schritten sie bis zu den widernatürlichsten Lüsten und Werken fort, von welchen Paulus einst so ernst an die römischen Christen geschrieben hat (Römer 1, 26). Er habe, sagt Luther, in Rom gewisse Kardinäle wie Heilige verehrt gesehen, weil sie sich am Umgang mit dem weiblichen Geschlecht hätten genügen lassen. Wer in Rom sich ein wenig umsehe, lerne Greuel kennen, gegen welche die von Sodom ein Kinderspiel seien. Und nicht im geheimen, sondern offen würden die unsagbaren Schandtaten dort begangen, geschützt durch das Beispiel und Ansehen der Vornehmsten. Weiter stieß sich Luther an der maßlosen Geldgier: vermöge ihrer werde dort von den Häuptern der Kirche das Heiligtum zu einem Trödel¬ märkte gemacht und es seien in Rom gewisse Kirchen und Stifte durch den Papst so ausgeplündert, daß sie wie leere Scheunen 9 dastünden. Wer, sagt Luther, über solche Dinge Trauer kund¬ gebe, den nenne man dort einen Lon Liiristian, das heißt einen Narren. Andererseits hörte er auch schon Aeußerungen wie diese: „ist eine Hölle, so ist Rom darauf gebaut," auch aus dem Munde der päpstlichen Beamten: „es ist unmöglich, daß es so sollte länger stehen, es muß brechen." Aus der letztvergangenen Zeit waren Greuelgeschichten von Papst Alexander VI. (st 1503), seinem Sohn Cäsar und seiner Tochter Lucretia Borgia, denen nur zuviel schreckliche Wahrheit zugrunde lag, bei den Römern frisch in Umlauf; Luther hörte nicht bloß die Giftmischerei. Alexanders, sondern auch seiner und seiner Kinder blutschänderisches Treiben „für gewiß" (Köstlin I, S. 99 ff., dort auch die Belege). Der südsteirische Theologe findet es verwunderlich, daß „Pastor May nur ein ^heidnisches- Treiben am Papsthofe findet". Wenn er dabei Papst Leo X. für den damals regierenden Papst ansieht, so befindet sich „Pastor May" doch in allerbester Ge¬ sellschaft, nämlich in der der beiden hauptsächlichen Gewährs¬ männer unseres Gegners, Evers und Janssen. Evers urteilt: „Soviel steht fest, daß der Papst persönlich für tiefere religiöse Wahrheiten und die Kirche als solche weniger Interesse gehabt haben dürfte, als für heidnische Kunst und Wissenschaft und für- feine medizäische Hauspolitik" (Martin Luther, Bd. I, S. 290 ff.) und Johannes Janssen schreibt: „Das Hofwesen so mancher geistlichen Fürsten Deutschlands stand in schreiendem Wider¬ spruch mit dem Berufe eines geistlichen Würdenträgers; aber der Hof Leos X. mit seinem Aufwand an Spiel, Theater und allerlei weltliche Feste entsprach noch weniger der Bestimmung eines Oberhauptes der Kirche" (2, S. 64). In der Tat, wenn unser Lutherbiograph über Leo X. das Wort anführt: „Er bewies sich würdig, als ein Hirte der Völker geehrt zu werden," so bringt dazu der diplomatische Bericht des Alfonso Pauluzzi, des ferraresischen Gesandten in Rom, vom 8. März 1519 eine interessante Beleuchtung: Der Gesandte schildert das Leben am Papsthofe. Es wird über eine Auf¬ führung einer Komödie Ariosts berichtet, über deren oft derbe Späße und zweideutige Anspielungen der Papst herzlich gelacht habe. Nachher spendete er den apostolischen Segen: „Nur wenige Zuhörer waren geduldig genug, auf denselben zu warten, drängten vielmehr mit solcher Hast hinaus zu den Spcisesälen, daß Arme und Beine in Gefahr gerieten. Am folgenden Tage wurde ein 10 Stiergefecht abgehalten. Drei Menschen blieben tot liegen, fünf Pferde wurden verwundet. Der Abend brachte abermals eine Komödie. Sie gefiel aber so wenig, daß der Papst befahl, nicht wie gewöhnlich mit einem maurischen Tanze das Fest zu schließen, sondern zur Strafe den armen Teufel wm Dichter, einen Mönch, zu prellen (zu mißhandeln). Und nachdem er geprellt war, wurde ihm noch das Gürtelband zerschnitten, daß die Hosen herabhingen und mit der stachen Hand so viele Hiebe versetzt, daß er zur Linderung der Schmerzen Pflaster auf den wunden Leib auflegen mußte, lieber diesen Spaß lachte der Papst weidlichst." Die Belustigungen des dritten Tages bestanden aus einem Ringel¬ stechen und einem Büffelrennen (bei Hausrath, Luthers Leben I, S. 362 ff.). Hatte Pfarrer May unter solchen Umständen nicht voll¬ kommen recht, wenn er von einem „frivolen und fast heidnischen Ton am Papsthofe" sprach? Als im Jahre 1527 das päpst¬ liche Rom von den Landsknechten des streng katholischen Habs- burgerkaiscrs Karl V. verwüstet wurde, da berichtete der kaiserliche Gesandte in Genua, Lope de Soria: „Ich bin nun 28 Jahre in Italien und habe bemerkt, daß von all den Kriegen und Unfällen, die ich in dieser Zeit erlebt, die Päpste allein Ur¬ sache gewesen sind." Der Papst, den Luther bei seiner An¬ wesenheit in Rom sah, Julius II., war alles andere wie ein Seelenhirt. Er war ein gewaltiger Kriegsmann, der so viel dazu beigetragen hat, die Kriege zu entzünden, die damals das westliche Europa beunruhigten. Wir lesen von der Aeußerung seines Leibarztes Vigo: „Man schämt sich, zu sagen, daß kein Teil des päpstlichen Körpers frei geblieben sei, von den Spuren seltsamer und abscheulicher Begierde" (ViAoni8 oopiosa, Rom I5"6). Wenn Luther 1511 in Rom solche Eindrücke empfing, dann ist die salbungsvolle Rede: „Getröstet kehrte Luther von Rom heim," wie wir sie in der '„Streitschrift" finden, doch nur humoristisch zu nehmen. Von der darauffolgenden Liebesgeschichte des Mönches Luther, die S. 32 noch einmal brcitgetreten wird, haben wir schon gesprochen. In gänzlich unwahrer Weise wird hier Luthers Freund Spalatin eingeführt. Trotzdem nun dem Verfasser nachgewiesen worden war, daß der Spalatin, der diese läppische Geschichte berichtet, nicht Luthers Freund, sondern der Feind Luthers, der römische Pfarrer Wolfgang Agricola war, 11 der sich nach seiner Heimat Spalt gleichfalls Spalatin nannte und der diese Geschichte 34 Jahre nach Luthers Tod aufbrachte, trotzdem wird diese „probable" Geschichte zweimal mitgeteilt. Ein Versuch, ihre Glaubwürdigkeit zu erweisen, wird nicht gemacht. 2. Luthers Llaude. Ein wahres Paradestück der Römischen, das auch in vor¬ liegender Schrift auftritt, ist ein Wort Luthers aus einem ver¬ traulichen Schreiben an seinen Freund Melanchthon. An diesen, einen feinsinnigen Gelehrten von tadellosem Wandel, schrieb Luther, um ihn in Glaubensanfechtungen zu trösten: „Wenn du ein Prediger der Gnade bist, so predige (dir) nicht eine nur scheinbare, sondern die wirkliche Gnade (ZiAtmm wov kietum. 86<1 vörkWi. Wenn es sich um eine wirkliche Gnade handelt, so bringe (vor Gott) wirkliche, nicht scheinbare Sünde. Gott macht nicht selig die scheinbaren Sünder. Sei ein Sünder und sündige stark (kortitsr), aber stärker vertraue und freue dich in Christus, der der Sünde, des Todes und der Welt Besieger ist. Man muß sündigen, solange wir hier sind, dieses Leben ist nicht eine Wohnung der Gerechtigkeit, sondern wir erwarten, sagt Petrus, neue Himmel und eine neue Erde, in welchen Gerechtigkeit wohnt. Es ist genug, daß wir durch den Reichtum der Ehre Gottes das Lamm erkannt haben, das der Welt Sünde trägt. Von diesem soll uns die Sünde nicht forttreiben, wenn wir auch tausendmal, tausendmal an einem Tage Hurerei oder Mord be-- gehen. Glaubst du so klein sei der Kaufpreis und die in einem so großen und herrlichen Lamme für unsere Sünden geschehene Erlösung? Bete stark, denn du bist ein sehr starker Sünder." Gewiß könnten diese Worte mißverständlich wirken, wenn sie in einer für jedermann berechneten Predigt oder Rede oder Schrift stünden. Nun sind sie aber an eine ganz bestimmte einzelne Person in einer ganz bestimmten Situation gerichtet. Geradezu lächerlich wäre es, irgendwie für möglich zu halten, daß ein Melanchthon, dieser ängstliche, zarte Gelehrte Luthers Worte dahin verstanden und angewendet hätte, „an einem Tage tausendmal Hurerei oder Mord zu begehen". Es handelt sich nm eine sehr scharf zugespitzte Aufstellung, die für einen bestimmten Fall gültig ist, wie wir Aehnliches auch bei Jesus Christus finden. Luther wollte seinem vertrauten Freunde etwa sagen: Die wirk- 12 liche Gnade gilt uns nur, wenn wir uns wirklich als Sünder fühlen. Und dies ist eben dann der Fall, wenn wir keiner Gnade wert zu sein meinen, wenn wir uns als „starke" Sünder, ja als „sehr starke" Sünder fühlen. Das bist du in Wirklichkeit. So sei es auch in deiner Empfindung. Sei ein Sünder, sündige stark! Denn sobald du meinst, du wärst nur ein schwacher Sünder, verkleinerst du deine Sünde und dir gilt nicht die wahre Gnade Gottes. Solche Trostgründe für ein ängstliches verzagtes Gewissen wählte Luther dem vertrauten Freunde gegenüber. Der Sache nach sagte er durchaus nichts anderes wie der katholische große Kirchenvater Augustinus, als er sagte: ol kao huoä vi8," d. h. du kannst tun, was du willst, wenn du nur Gottesliebe in deinem Herzen trägst. Unter der selbstverständlichen Voraus¬ setzung, daß der, welcher Gott liebt, überhaupt freiwillig nichts Böses tun könne. Oder, um einen Mann anzuführen, der auch einer der giftigsten Streitschriftsteller wider Luther war, den tief¬ sinnigen Mystiker Angelus Silesius: „Fragst du warum ein Christ sei fromm, gerecht und frei, so fragst du, warum ein Lamm kein Tiger sei." Der große Schriftsteller H. St. Chamber¬ lain aber sagt mit Recht: „Unglaublich ist es, wie noch heutigen Tages selbst in wissenschaftlichen römischen Werken gelehrt Wirch Luther habe gepredigt, wer glaube, möge nur lustig darauf los sündigen. Auf diese lasterhafte Dummheit genüge folgendes Zitat als Erwiderung: ,Dergleichen sehen wir in allen Hand¬ werken: ein gutes oder böses Haus macht keinen guten oder bösen Zimmermann, sondern ein guter oder böser Zimmermann macht ein böses oder gutes Haus; kein Werk macht einen Meister, der nach dem Werk ist, sondern wie der Meister ist, darnach ist sein Werk auch"' („Bon der Freiheit eines Christenmenschen"). Der Glaube ist eben, um mit Luther zu reden („Sermon von guten Werken" 1520), nicht ein müßiger Gedanke, sondern „solch ein neu Licht, Leben und Kraft im Herzen, daß es den Sinn erneuert, einen neuen Menschen macht; der Glaube ist ein lebendig, schäfftig, tätig, mächtig Ding," so daß unmöglich ist, daß er nicht Gutes sollte aus sich hervorbringen. Er „fragt auch nicht, ob gute Werke zu tun sind, sondern ehe man fragt, hat er sie schon getan und ist immer im Tun". Es ist eine frivole Unterstellung, bei Luther die Lehre voraus¬ zusetzen, daß „gute Werke verboten" seien! Das hierfür 13 S. 14 gegebene Zitat, welches so ungenügend angeführt ist, daß es ganz unkontrollierbar erscheint, müssen wir als unrichtig ab¬ weisen, es ist auch in keinem der neueren gegen Luther ge¬ schriebenen Bücher sonst angeführt. Auf S. 15 finden sich folgende Worte: „Dem erkrankten Ablaßprediger Tetzel schrieb Luther: ,Er solle sich unbekümmert lassen, denn die Sache sei von seinetwegen nicht angefangen, sondern das Kind habe viel einen anderen Vater"." Diese Worte sind in der Tat gefallen, und zwar hat Luther sie schon in Leipzig 1520 geäußert. Gegen ihre Mißdeutung hat Luther weitläufig öffentlich Verwahrung eingelegt, indem er auseinander- setzte, er habe anfangs gehofft, die damals stattgefundene Leip¬ ziger Disputation sei wie von ihm, so auch von seinen Gegnern in Gottes Namen, d. h. aus Liebe zur Wahrheit unternommen. Mehr und mehr aber habe er sich überzeugen müssen, daß seine Gegner nicht die Wahrheit, sondern ihre eigene Ehre suchten. Dies kann auch nur der Sinn seines Trostschreibens an den er¬ krankten Tetzel sein, in dem es noch heißt: er solle nur guten Muts sein und sich vor Luther und seinem Namen nicht fürchten. Wenn weiter behauptet wird, die 95 Sätze Luthers von 1517 seien „gegen die höchste kirchliche Behörde gerichtet gewesen, ein verwegener Angriff in burlesker höhnischer Sprache!" so ist das gänzlich unrichtig. Luther war, wie auch der katholische Theologe Merkle anführt (a. a. O. S. 53), noch 1518 gut katho¬ lisch, seine Lehren waren dem damaligen Katholizismus, der eben ein anderer war, als der heutige, durchaus nicht wider¬ sprechend. Des Kaisers Beichtvater, gewiß ein strenger Katholik, sagte 1521 über Luther: „Höchlich über die Maßen erfreut sei er anfangs über Luthers Schriften gewesen." Als seine Thesen wider den Ablaß ausgegangen, sei er zu Preisen gewesen; es habe „nicht viele Gelehrte gegeben, die ihm darin nicht Beifall gezollt hätten" (Förstemanu, Urkundenbuch 36 ff.). Wenn dann weiterhin Luther als wankelmütig und sich selbst widersprechend hingestellt wird, indem zwei sich wider¬ sprechende Briefe angeführt werden, die innerhalb weniger Tage geschrieben worden seien, so können wir uns auch nur wieder auf das Urteil des römisch-katholischen Theologen Merkle berufen, der in seiner angeführten Schrift dies Verfahren als „bodenlos rückständig in der Reformationsgeschichte" brandmarkt (S. 51). Es ist nämlich der nach Merkle „allgemein als schlagend an- 14 erkannte Nachweis" geführt worden, daß die angeführten Briefe vom Herausgeber de Wette falsch datiert sind. Bis nach Cilli- Kötting ist dieser Nachweis allerdings noch nicht gedrungen. Dies dürfte auch in Zukunft schwerlich der Fall sein. z. Luther IN Aorms. Um Luthers Vorgehen gegen das Papsttum in das rechte Licht zu setzen, schreibt die slovenische Schrift: „Papst Leo X. sagt in seiner Bannbulle: ,Wir wollen die höchste Nachsicht üben, um unseren Sohn Luther zur Eiukehr in sich selbst zu bewegen/" Wie sanftmütig! Daß in der Bulle auch ganz andere Worte stehen, wird nicht gesagt. Etwa die folgenden: „Gottes Weinberg unterwindet sich zu verwüsten ein Schwein aus dem Walde, ein sonderlich wildes Tier will ihn verzehren. Schlangen¬ gift ergießt er mit seiner Zunge — der Vater der Lügen, Ehr¬ geiz und Ruhmsucht haben ihn verblendet." Widerruft Luther nicht innerhalb 60 Tagen, so verfällt er der Strafe. Welcher Strafe, das ist daraus zu ersehen, daß Luthers Satz: „Ketzer verbrennen ist gegen den heiligen Geist" als ketzerisch ver¬ dammt wird. Alle christlichen Gewalten sind aufgefordert, sich der Person Luthers zu bemächtigen und ihn in die Hände des Papstes zu liefern, der dann besorgen wird, was nicht gegen den heiligen Geist ist. Das in der römischen Kurie verkörperte System der Ge¬ walttätigkeit kennzeichnet der neueste Geschichtsschreiber der In¬ quisition, der in großartiger Unbefangenheit urteilende Henry Charles Lea in seinem monumentalen Werke „Geschichte der Inquisition im Mittelalter" mit den Worten: „Es dürfte un¬ möglich sein, die Größe des Elendes und Unrechts abzumessen, das den Wehrlosen — der Ketzerei wegen Angeklagten — bis ins 19. Jahrhundert zugefügt worden ist und das wir unmittelbar zurückführen müssen auf die willkürlichen und ruchlosen Methoden, die die Inquisitoren cingcführt, die Rcchtsgelehrten angenommen und die Rechtsbücher des europäischen Kontinents in feste Formen gebracht haben. Es war ein System, das man wohl für eine Erfindung des Teufels halten konnte und das Sir John Fortescue treffend kennzeichnet als den Weg zur Hölle" (I, S. 627). Fürwahr, Luther hatte ein volles Recht dazu, die staatliche Obrigkeit zur Abwehr solcher priesterlichen Gewaltherrschaft auf- 15 zurufm. Das besagen die angeführten Worte: „Wenn wir Diebe mit dem Strang, Mörder mit dem Schwerte, Ketzer mit dem Feuer bestrafen, warum greifen wir nicht vielmehr mit allen Waffen diese Kardinale, diese Päpste und das ganze römische Geschwürmc an und waschen unsere Hände in ihrem Blut?" Ausdrücklich sagt Luther: „der Kaiser, die Könige und Fürsten" sollten eventuell tun, was er meint, denn die Fürsten haben die Pflicht, ihr Volk vor jeder Tyrannei mit der von Gott ihnen verliehenen Gewalt zu schützen. Luther gebraucht den bildlichen Ausdruck, seine Hände waschen, er verlangt, daß die Fürsten ihre Hände waschen, sich reinigen sollen von der Schuld, die auch sie an dem Verderben der Kirche mittragen, wenn sie nicht mit allen von Gott ihnen anvertrauten Mitteln diesem Verderben steuern. Unmittelbar neben den Vorwurf wüster demagogischer Auf¬ reizung stellt nun die uns beschäftigende Schrift die Anklage, Luther sei „unentschieden und feige" gewesen. Luthers bewunderns¬ werter Mut ist selbst von dem verbissensten Lutherpolemiker Evers gelegentlich anerkannt worden, der über die Pestzeit in Witten¬ berg 1539 schreibt: „Luther zwar war nicht entwichen, er hatte sich im Gegenteil mutig genug gezeigt, um die vier Kinder eines an der Pest gestorbenen Mannes zu sich ins Haus zu nehmen, was umsomehr anzuerkennen ist, als sich deshalb ein gewaltiges Geschrei gegen ihn erhob" (Martin Luther I, S. 282). Seinen alle menschlichen Gewalten gering achtenden Mut hat Luther am hinreißendsten in Worms gezeigt. Der kühne Ritter Ulrich von Hutten schrieb darüber begeistert: „Luther wird offenbar von göttlichem Impulse getrieben; alle menschlichen Ratschläge schließt er aus und verläßt sich ganz auf Gott. Den Tod aber verachtet er wie keiner sonst" (bei Bücking 2, 62). Luthers Kurfürst, Friedrich der Weise, war tief ergriffen von dem von Luther gezeigten Mute. Er schrieb: „Wohl hat der Pater Doktor Martinus geredet vor dem Herrn Kaiser und allen Fürsten und Ständen des Reichs. Er ist mir viel zu kühn." Daß Luther vor dem päpstlichen Legaten Cajetan, der schon einen Verhaftsbefehl gegen Luther in Händen hatte, entfloh und daß er auf der Wartburg Schutz suchte, besagt nicht, daß er keinen Mut gehabt. Sonst wäre Jesus Christus feige gewesen, weil er von Judäa wegen der Nachstellungen der Juden ferneblieb (Joh. 7,1), sonst wäre der Apostel Paulus feige gewesen, weil er aus Damaskus floh, indem er sich im Korbe herablassen ließ über 16 die Mauer, um der Verfolgung des Königs Aretas zu entgehen (2. Kor. 11, 31 ff.). Nicht minder unberechtigt ist die Behauptung, „Luthers Kühnheit und der gepriesene Heldenmut" stamme vom Schutz der Raubritter. Es werden zu diesem Zweck zugestutzte und falsch übersetzte Briefstellen angeführt, die in Wirklichkeit, wenn sie richtig erfaßt werden, Luthers heldenmütiges Gottvertrauen zeigen. Feigheit, so lehren uns die römischen Geschichtsschreiber, war die in allen Lagen bei Luther ausschlaggebende Kraft. Die Feig¬ heit vor dem Kaiser und den Römischen ließ ihn nach Worms kommen, um dort zu widerrufen. Die Feigheit vor dem Reichs¬ tag einerseits und der adeligen Revolutionspartei andererseits machte ihn am ersten Tage seines Verhörs in Worms so schwanken, daß er sich Bedenkzeit ausbat, um erst sich klarer zu werden, ob er durch Standhaftigkeit den Reichstag oder durch Widerruf die Ritter sich zu Feinden machen solle. Als er dann die Macht¬ losigkeit des Kaisers erkannt hatte und sich sagen konnte, daß er vom Adel erstochen würde, wenn er nicht nach dessen Wünschen trotzig aufträte, zwang ihn dieselbe Feigheit, jeden Widerruf zu versagen. So ungefähr stellt es auch die „Styria"-Lutherschrift dar. Daß diese Darstellung, welche uns die bedrängte Lage der Katholiken in Worms zeigt, auf die denkbar unzuverlässigsten Gewährsmänner, den Legaten Meander und Thomas Münzer, sich stützt, merkt der harmlose Leser nicht. Der gepriesene Ge¬ währsmann Janssen selbst sagt in direktem Gegensatz zu der von ihm entlehnten Darstellung: „Für das Evangelium konnte Hutten, wie großprahlerisch er auch in seinen Briefen drohte, ebensowenig wie Sickingen, für den Augenblick öffentlich ein¬ schreiten; er hatte sich für ein Jahresgehalt von 400 Goldgulden von einem Unterhändler des Kaisers gewinnen lassen" (II, S. 170). Dann kann auch nicht wahr sein, was wir bei unserem Ano¬ nymus lesen: „In Worms war man täglich in Angst vor einem Ueberfall" (gemeint ist durch Hutten). Sehr gegen seinen ursprünglichen Willen ließ sich Luther von den Räten seines Kurfürsten bestimmen, bei seiner ersten Vor¬ ladung am 17. April 1521 (nicht 18. April, wie der Anonymus schreibt) zunächst ausweichend zu antworten um zu verhindern, daß ihn die Gegner, wie sie beabsichtigten, noch am selben Tage, 17 nach einem leeren Scheinverhöre, wieder vom Reichstag abschöben. Was damit beabsichtigt war, wurde erreicht: die Möglichkeit des Verbleibens auf dem Reichstag und damit das Recht der freien Rede. Denn gab das Reich Luther Bedenkzeit, so mußte man ihm auch gestatten, das Ergebnis seines Bedenkens mitzuteilen. Am folgenden Tage, als dies Recht erkämpft war, gab dann Luther, seiner innersten Natur folgend, jenes gewaltige Bekenntnis ab, welches die Grundveste unserer ganzen neuzeitlichen romfreien Kultur bildet. Wie töricht ist da die Behauptung der Schmäh¬ schrift: „Dem Luther wurde nichts gegeben" (zur Verantwortung vor Kaiser und Reich), „er verstummte bar des vom Herrn ver¬ sprochenen Kennzeichens einer wahren apostolischen Sendung". Da er tätsächlich „das vom Herrn versprochene Kennzeichen einer wahren apostolischen Sendung" in Worms ausweist, so ist er also — nach diesem Zeugnis der Feinde — ein Apostel des Herrn gewesen! Allerdings sucht dieses gegnerische Zeugnis Luther jenes berühmte Wort: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen", als „monumentale Lüge" abzutun. Tatsächlich haben auch einzelne Protestanten den ersten Teil dieser Worte angezweifelt. Keinen: Protestanten aber ist eingefallen, die Worte Luthers am Ende seiner berühmten Rede: „Gott helfe mir, Amen" auch nur in Frage zu ziehen. Allzu zuverlässig sind sic beglaubigt. Und berühmte Lutherforscher haben auch die vorangehenden Worte bis in die neueste Zeit verteidigt. Wären aber diese Worte auch unecht, so ist doch das, was sie meinen, nichts anderes, als was Luther unmittelbar vorher mit anderen Worten ausgesprochen hat. Ohnehin ist Luthers Ruhm nicht, daß er sprach: „Hier stehe ich," sondern daß er stand. Darüber aber waren Freund und Feind einig. Wie unsachlich ist es aber demnach, die In¬ schrift am Lutherdeukmal in Worms einfach als „monumentale Lüge" zu bezeichnen. Eine wirkliche Lüge aber ist es, wenn der Slovenenpriester schreibt, Kaiser Karl V. habe Luther am 25. April wegen „anstößiger" Aufführung vom Wormser Reichs¬ tag entfernt. 4. Luther unä äie Kauern. Damit kommen wir zu einem der merkwürdigsten Kapitel der vorliegenden Schrift. Diese Schrift bringt es nämlich in grenzenloser Gedankenlosigkeit fertig, gleichzeitig (!) Luther als 2 18 vierfachen Revolutionär, als „Ahnherren aller späteren .Revo¬ lutionärs' bis auf unsere Anarchisten herab" und als Erfinder der „Theorie vom passiven Gehorsam", des blindesten Servilis- mus gegen die Fürstengewalt hinzustellen. Schließlich wird doch nur eine von diesen beiden sich gegenseitig vollständig aus¬ schließenden Anklagen stimmen können. Oder aber, was jedem Unbefangenen noch wahrscheinlicher sein wird, es stimmt keine von diesen beiden Anklagen. Das bestätigt denn auch eine genauere Untersuchung des von dem Anonymus beigebrachten Materials. Wir können zu¬ nächst gegen die Behauptung, „nur Luther trage am großen Bauernkrieg die Hauptschuld" zwei der namhaftesten katholischen Geschichtsschreiber ins Feld führen. „Altmeister" Janssen, der so oft auch in vorliegender Schrift angeführt wird, schreibt: „Die während des 15. und im An¬ fang des 16. Jahrhunderts stattgefundenen häufigen Aufstände zeigen deutlich, daß die große soziale Revolution, welche im Jahre 1525 fast alle Gebiete des Reichs von den Alpen bis an die Ostsee erschütterte, nicht erst durch die Predigten und Schriften der deutschen Religionsneuerer veran¬ laßt wurde. Auch ohne das Auftreten Luthers und seiner An¬ hänger würde, wie man schon im Jahre 1517 aus dem Mainzer Reichstage besorgte, das ,unzufrieden und allenthalben schwierig gewordene Gemüt des gemeinen Mannes' in Stadt und Land neue Aufstände und Empörungen erregt haben" (II, S. 411). Und der treue Katholik von Bucholtz, der Geschichts¬ schreiber Kaiser Ferdinands I., schreibt: „Der Bauernaufruhr lag offenbar außer jeder Gemeinschaft mit den Ansichten Luthers. Beide Bestandteile desselben, eine das Dogma auflösende und gefährdende Schwärmerei und eine Gefährdung der weltlichen Obrigkeit in den einzelnen Reichsländern durch Gewalt von unten waren Luthers innerstem Gefühl entgegen" (Gesch. Ferdi¬ nands I., 2. Bd., S. 195, 213 ff.). Bei dieser Gelegenheit möchten wir doch darauf Hinweisen, daß es ein Unterschied ist, ob wir zur Bekräftigung unserer Ansichten Katholiken zitieren, oder ob die Gegner zur Bekräftigung ihrer Ansichten Protestanten zitieren. Die dort zitierten Prote¬ stanten sind größtenteils als mehr oder minder veraltet oder unzuständig abzuweisen, stehen auch vielfach dem evangelischen Bekenntnis verständnislos oder gleichgültig gegenüber. Die von 19 uns zitierten Katholiken sind Gewährsmänner für das Gebiet der Rcformationsgeschichte, fast sämtlich Streitschriftsteller gegen die Reformatoren. Wenn solche etwas von den früher üblichen Be¬ schuldigungen Luthers zurückziehen, so geschieht das nicht aus Wohlwollen für Luther, sondern weil sie einsehen, daß sie mit haltlosen Beschuldigungen ihrer eigenen Sache am meisten schaden. Die Katholiken würden sich ja heute lächerlich machen, wenn sie etwa noch heute die früher allgemein übliche Beschuldigung auf¬ recht erhielten: Luther sei ein aus Buhlschaft mit dem Teufel erzeugter Wechselbalg gewesen. Sogar die im Verlag „Styria" erschienene vorliegende Schrift verzichtet auf diese Anklage und das Will viel sagen, denn sonst hält sie noch die albernsten Be¬ schuldigungen teuflischer Einwirkung mit Bezug auf Luther fest. Achnlich lächerlich aber machten sich die römischen Lutherbekämpfer, wenn sie andere völlig unhaltbare Beschuldigungen, wie wir deren in vorliegender Schrift in Menge finden, dauernd aufrecht erhalten würden. Das sehen weiterblickendc katholische Gelehrte auch ein. Gar zu haltlose Verdächtigungen läßt man unauffällig verschwinden. Mit der Zeit wird auf diese Weise das Kotmeer, das sich gegen Luther ergossen hat, doch etwas eingedammt. Wir aber haben das volle Recht, solche wissenschaftlich-katholische Stimmen gegen die Ausschreitungen rückständiger Provinzkaplänc auszuspielen. Vielleicht daß doch manchen, die deren Ausführungen in gutem Glauben aufnehmen, die Augen aufgehen, wenn sie hören, daß selbst ernste ultramontane Forscher vielfach so ganz anders urteilen. Um Luther als Anarchisten darzustellen, wird von unserem Gegner dessen Schrift: „Von weltlicher Obrigkeit" (1523) ver¬ wertet. Es ist dies eine Schrift, welche Luther dem Herzog Johann von Sachsen gewidmet hat, dem nachmaligen Kurfürsten. Von vornherein ist deshalb wenig glaublich, daß Luther hier anarchistische Lehren vorgetragen haben solle. Dies wird uns noch unglaublicher, wenn wir hören, daß Luthers Landesherr, Kurfürst Friedrich der Weise, an dem Büchlein solche Freude hatte, daß er es abschreiben und sonderlich einbinden ließ, damit er darin die Würde des Regcntenstandes vor Augen hätte. In Wahrheit lehrt dieses angeblich anarchistische Buch, im Gegensatz zu der römischen Auffassung, den Wert der weltlichen Obrigkeit als einer selbständigen Gottesordnung. Der ganze erste Teil der Schrift ist dem Nachweis gewidmet, daß weltliches Schwert und Obrigkeit Gottes Ordnung sei. 2* 20 Wie aber lehrte hierüber die römische Kirche? Von dem geschichtlich bedeutsamsten aller Päpste, Gregor VII., stammt der Ausspruch: „die Fürsten seien auf Anreizung des Teufels ent¬ standen, daß sie aus blinder Begierde und unerträglicher Anmaßung über Menschen ihresgleichen zu herrschen trachteten" (Epp. VII, 21). Zur Zeit Luthers wagten es die Päpste ganz offen, Revolution und Fürstenmord anzustiften, wo es ihren Plänen förderlich schien. So berichten die Lobredner des Papstes Pius V., der „heilig" gesprochen wurde: „Mit allem Eifer sorgte er (Pius V.) dafür, daß Robert Ridolfi, ein Florentiner Edelmann, der sich unter dem Vorwand des Handeltreibens in England aufhielt, die Ge¬ müter der Einwohner errege, um Königin Elisabeth nach Erregung eines Aufstandes zu vernichten" (Girolamo Catena und Gabutius: „Vila äol Aloriosissiino ?io Minto«). Der päpstliche Nuntius in Paris, Castelli, schrieb an den Kardinalstaatssekretär, Kardinal Como, am 2. Mai 1583: „Der Herzog von Guise und der Herzog von Mayene haben mir mit¬ geteilt, daß sie den Plan gefaßt haben, die Königin von England durch die Hand eines Katholiken, der aber äußerlich nicht als solcher erscheint, ermorden zu lassen." Darauf schrieb der Kardinalstaatssekretär am 23. Mai: „Ich habe unserem Herrn, dem Papste Gregor XIII., Bericht erstattet über das, was Ew. Herrlichkeit mir unter Chiffre über die eng¬ lischen Angelegenheiten geschrieben haben, und da Seine Heiligkeit es nur billigen kann, daß dies Königreich auf irgend eine Weise von der Unterdrückung befreit und Gott und seiner heiligen Religion zurückgegeben wird, so erklärt Seine Heiligkeit, daß, wenn die Sache zur Ausführung kommt, die 80000 Kronen Mordprämie) ohne Zweifel sehr gut angewandt sind." Am 15. Februar 1559 erließ Papst Paul IV. die Bulle „Lum 6x nxo8tolutu8 oWoio". Die Eingangsworte umkleiden sie mit dem vollen Ansehen der päpstlichen Lehrgewalt,- keine ox Latlroclra erlassene Bulle kann gewichtiger eingeführt werden. Außer der Unterschrift des Papstes trägt sie die Unterschrift allen damals in Rom anwesenden Kardinale; ihr Inhalt ist nie wider¬ rufen, nie auch nur abgeschwächt worden. Ihr wesentlicher Inhalt ist der folgende: „Alle Könige und Kaiser, die Ketzer oder Schismatiker werden, sind ohne weitere Rcchtsformalitüt ihrer königlichen und kaiserlichen Würde beraubt und dürfen sie niemals wieder erlangen. Sie verfallen den für 21 die Ketzerei festgesetzten Strafen (Tod durch Erdrosseln oder Ver¬ brennen). Zeigen sie Reue, so sollen sie aus Barmherzigkeit in ein Kloster eingesperrt werden, damit sie dort bei Wasser und Brot Buße tun. Niemand darf sie als Kaiser oder Könige anerkennen; wer es tut, ist exkommuniziert. Die ketzerischen Kaiser und Könige verlieren ihre Reiche an diejenigen, die sie mit Billigung des Papstes in Besitz nehmen. Von ihren früheren Untertanen sollen sic als Zauberer, Heiden und öffentliche Sünder betrachtet werden" (abgedruckt bei Mirbt, „Quellen", S. 199 ff.). Solche amtlichen, mit der Fülle höchster Regierungsgewalt umkleideten Kundgebungen könnten viel eher als revolutionär be¬ zeichnet werden. Und hat nicht auch das Papsttum der Gegen¬ wart eine ähnlich revolutionäre Stellung eingenommen? Die gegenwärtig in Oesterreich geltenden Stäatsgrundgesetze wurden von Papst Pius IX. am 22. Juni 1868 in folgender Weise verflucht: „Am 21. Dezember 1867 wurde von der österreichischen Regierung ein wahrhaft unseliges Gesetz als Staatsgrund- gcsetz gegeben. . . . Ihr seht mithin, wie verwerflich und ver¬ dammenswert jene von der österreichischen Regierung erlassenen abscheulichen Gesetze sind. Wir erheben denn die apostolische Stimme und kraft Unserer apostolischen Autorität verwerfen und verdammen Wir die angeführten Gesetze im allgemeinen und im besonderen alles, was in diesen wie in anderen Dingen gegen die Rechte der Kirche von der österreichischen Regierung oder von untergeordneten Behörden verordnet, getan oder wie immer verfügt worden ist" (Mirbt a. a. O. S. 371). Die Organe eines gegen die Staatsgewalt so revolutionären Systems hätten allen Grund, nicht andere zu beschuldigen, daß sic gegen die weltliche Obrigkeit Hetzen! Nachdem nun Luther, der der weltlichen Obrigkeit in der neueren Geschichte zu der ihr gebührenden Stellung verhalfen hat, zuerst der anarchistischen Gesinnung beschuldigt worden war, wird ihm vorgeworfen, daß er ein Fürstenknecht gewesen sei, der den gemeinen Mann soviel wie möglich mit Bürden beladen und die jüdische Leibeigenschaft einführen wollte. Die Haltung Luthers in der großen Bauernrevolution war nun tatsächlich die folgende: „Entweder der Fürsten oder der Bauern Partei hätte Luther ergreifen können; er hätte auch, um es mit niemandem zu verderben, ablehnen können, seine Meinung 22 über die von den Bauern ausgestellten Artikel abzugeben; er hätte auch niit einer Entscheidung für oder wider bis zu dem Zeitpunkte warten können, da man des Ausgangs sicher sein durste und danu sich vollständig auf die Seite des Siegers stellen. Aber nichts von alledem hat er getan. Er hat zuerst aufs schärfste den Fürsten und Herren die Wahrheit gesagt, in der Hoffnung, noch Friede zu stiften; doch auch nicht so, daß er damit der Bauern Gunst gewonnen hätte: .Ich habe es euch gesagt, daß ihr zu beiden Teilen unrecht habt? Er hat sodann, als die Bauern mit nackter, roher Gewalt ihre Wünsche erreichen wollten, in der schneidendsten Weise sich gegen sie erklärt; doch auch nicht so, daß er damit der Fürsten Gunst sich erworben hätte, vielmehr hat er nun wieder diese wegen ihrer Grausamkeit gegen die Besiegten in beispielloser Schärfe heruntergemacht" (Walther). Das, was von dein slovenischen Anonymus Luther vor¬ geworfen wird, daß er die Fürsten wegen ihres gewaltsamen Bor¬ gehens gegen die Bauern belobt habe, das ist übrigens seitens des Papstes Clemens VII. tatsächlich geschehen; der in seinem Breve vom 23. August 1525 den Landgrafen Philipp wegen seiner Bekämpfung des Baucrnaufruhrs mit den Worten belobte: „Uns hat große Freude gewährt, was wir von der Bekämpfung vernommen, welche Eure Durchlaucht wider die gottlosen und verderblichen Lutheraner zur Beschirmung des Glaubens so ein¬ sichtsvoll als tapfer unternommen hat." Wenn hier der Papst selbst „große Freude" über die Nieder- metzelung der Bauern (die er fälschlich für Lutheraner hielt) äußert, so dürfte man es eigentlich auch Luther nicht verübeln, daß er „seinen Anteil an der Niedermetzelung der Bauern" rühmte: „Ich, Martin Luther, habe im Aufruhr alle Bauern erschlagen, all ihr Blut ist auf meinem Hals; aber ich weise auf unseren Herrn und Gott, der hat mir das zu reden befohlen." Luther meinte hier nur diejenigen Bauern, die ihr Leben von Rechts wegen lassen mußten, denn er leitet den eben angeführten Satz mit den Worten ein: „Die Prediger ermahnen die Obrigkeit ihres Amtes, daß sie die Bösen strafen sollen." Und heißt das „sich rühmen", wenn man von sich etwas sagt, was so schrecklich ist, daß man nicht unterlassen kann, eine Entschuldigung für sein Tun hinzusetzen, indem man in tiefem Schmerz erklärt, mau habe cs nach dem von Gott überkommenen Amte als Prediger des göttlichen Wortes tun müssen? 23 Einzelne Worte, die das Gegenteil zu besagen scheinen, können nur unter genauer Berücksichtigung des Zusammenhanges und der besonderen Verhältnisse recht verstanden werden. Luther, der selbst aus dem „Volke", aus dem Bauernstände stammte, der den Großen dieser Erde so rücksichtslos die Meinung sagte, wie es gerade unser Anonymus so vielfach bezeugt, konnte unmöglich eine möglichst brutale Unterjochung des armen Mannes wünschen. Wer die Einzelheiten kennen lernen will, möge bei Wilhelm Walther, „Für Luther, wider Rom" nachlesen. Wenn die Broschüre übrigens in diesem Zusammenhänge sagt: „Uns sind Bischöfe aus der Zeit Leos X. nicht bekannt geworden, die um Geld ihren Priestern den Konkubinat gestatteten", so wollen wir gerne dieser Unwissenheit zu Hilfe kommen. Auf dem Reichstag zu Worms 1521 überreichten die deutschen weltlichen Reichsstände 400 Beschwerden gegen den päpstlichen Hof und die Bischöfe in 77 Artikeln. Z 91 lautet: „Ebenso dulden an den meisten Orten die Bischöfe und ihre Offiziale nicht bloß den Konkubinat der Priester, insofern«: nur eine be¬ stimmte Geldsumme bezahlt wird, sondern zwingen sogar die enthaltsamen Priester, die ohne Konkubinen leben, zur Bezahlung des Hurcuzinses" tMirbt, S. 186). Johann Wessel, ..Uux munäi--. berichtet, der Papst habe den Kardinälen gegen Geld sogar Sodomie erlaubt! Eine Fülle von anderen Belegen steht auf Wunsch zu Diensten. 5. Luther llnä äie llnrucht. Unter den verschiedensten Ueberschriften: „Luthers Einzug in den Hochzeitshimmel", „Die schönste Tugend, das häßlichste Laster", „Luther und Konkubinat", „Luther und Ehebruch", kommt unser Gegner auf das ihm sehr am Herzen liegende 6. Gebot mit Bezug auf Luther zu sprechen. Zu Lebzeiten Luthers haben die Gegner hinsichtlich des 6. Gebotes ihn nur der einen Tatsache angeklagt, daß er in den Ehestand eingetreten sei. Das Jubelgeschrei, das sie über seine Verheiratung ausstießen, ist allein schon der sichere Beweis dafür, daß sie mit aller ihrer Mühe nichts zu finden vermocht hatten, was einen sittlichen Makel in geschlechtlicher Beziehung auf ihn hätte werfen können. Und doch konnte es keinen zweiten geben, dem sie so gerne geschlechtliche Sünden nachgewiesen hätten. 24 als diesen Luther, der nicht allein der gesamten katholischen Kirche die in ihr herrschend gewordene grauenvolle Unzucht vor¬ rückte, sondern auch einzelnen hohen Personen, wie dem Primas von Deutschland, dem Erzbischof Albrecht von Mainz, seine Unzuchtsünden vorhielt und Abstellung forderte. Dies konnte er nur, wenn er selbst unantastbar war, da sonst sein dies¬ bezügliches Vorgehen seinen Feinden als Waffe gedient hätte, ihn mundtot zu machen. Auch Denifle führt ein Wort des Luthergegners Erasmus an: „Das Leben Luthers wird von allen mit großer Uebercin- stimmung gelobt, und es ist kein geringes Vorurteil von der großen Unbescholtenheit des Wandels, wenn selbst die Feinde nichts zu verleumden finden." So verhält es sich in Wahrheit. Was bringt nun die „Luther"schrift gegen Luther vor, um seine Unzucht zu erweisen? Sie beginnt mit der Beschuldigung, Luther habe seine Lebens¬ weisheit in den Worten zusammengefaßt: „Wer nicht liebt Wein, Weib und Gesang — bleibt ein Narr sein Leben lang." Nur schade, daß dies Wort zum erstenmal 1775 nachweisbar ist und bei Luther nirgends zu entdecken ist. Es scheint zuerst scherzweise Luther zugeschrieben worden zu sein. Auch der Jesuit Grisar hat dies rundweg zugegeben (Hist. Jahrb. 1905, S. 481). Gegenüber den pöbelhaften Beschuldigungen Luthers, als sei er ein durch und durch unzüchtiger Mensch gewesen, möchten wir im allgemeinen zunächst auf das Gesamtergebnis Walthers Hin¬ weisen, daß Luther keineswegs in besonders starker Weise sinnliche Regungen in sich verspürt habe, wie das auch von vielen Protestanten irrig angenommen wird. Andernfalls würde er nicht nach seiner Exkommunikation noch fünf Jahre gewartet haben, ehe er sich verheiratete und er würde oft über geschlechtliche Reizungen geklagt haben, in der Weise so vieler römischer Heiliger. Bedenken wir, mit welch beispielloser Offenheit er über seine Fehler und Anfechtungen zu reden und -zu schreiben Pflegte, bedenken wir, daß wir ganze Bände von vertraulichen Tischgesprächen und Briefen von ihm besitzen, bedenken wir, was für Selbstgeständnisse verschiedenster Art auf solche Weise uns aufbewahrt sind, so ist es völlig un¬ denkbar, daß er nicht auch geschlechtliche Anfechtungen eingestanden hätte, wenn ihm nicht sehr leicht geworden wäre, sich über solche zu erheben. Als man sich wunderte, daß er nicht heirate, schrieb 25 er freilich: „Nicht als ob ich mein Fleisch und Geschlecht nicht spürte, da ich weder Holz noch Stein bin", doch konnte er auch völlig ruhig, als freier Herr über sein Fleisch, fortfahren: „Aber mein Sinn ist fern vom Heiraten." Sollen wir uns wirklich mit all' den erbärmlichen Be¬ schuldigungen im einzelnen befassen, die immer wieder und so auch in vorliegender Schrift auf geschlechtlichem Gebiet gegen Luther erhoben werden? Etwa mit jenem von köstlichem Humor erfüllten Briefe von 1525 an Spalatin, in welchem Luther ge¬ steht, bereits „drei Frauen zugleich gehabt zu haben". Darauf stürzen sich dann in grimmigem Ernste die Römischen,-wie neuer¬ dings noch Denifle, und beweisen damit eben nur ihre Unfähigkeit, Luthers herrliches Kindesgemüt zu würdigen. Wenn (bei Fritz Reuter) Onkel Bräsig versichert, er habe bereits „drei Brantens", so wären sie auch imstande, dem alten Herrn dies als schändliche Unzucht aufzurechnen. Wie jeder Mensch verstehen muß, der nicht bereits Erzphilister wurde, redet Luther hier scherzweise von „drei Gattinnen", drei Jungfrauen, mit denen das Publikum ihn schon ver¬ heiratet hatte. Zwei sind ihm schon abspenstig gemacht, die dritte verlobt sich mit einem anderen, wenn er sich nicht bald entschließt. Ebenso lächerlich ist die Verwertung des Briefes Luthers von der Wartburg 1521, worin er gestehe, „von der Flamme seines ungezähmten Fleisches zu brennen". Wenn der Gegcnluther, Petrus Canisius genau dasselbe von sich sagt: „Auf dem Boden lag meine Seele in ihrer Häßlichkeit, ihrer Unreinheit, ihrer Trägheit, ihrer Befleckung durch viele böse Gewohnheiten und Leidenschaften," so wird solche Selbsterkenntnis höchlich gepriesen. Luthers demütige Selbstbekenntnisse, die jeden, der sie im Zusammenhang unbe¬ fangen liest, aufs tiefste ergreifen müssen um der Lauterkeit und Innigkeit seiner religiösen Empfindung willen, werden verhöhnt als Zeugnis tiefster Verworfenheit! Lassen wir doch diesen Römlingen ihre Freude! Aber fragen müssen wir, ob sie berufen und berechtigt sind, über die angebliche Unzucht Luthers ein so strenges Gericht zu halten? Gerade die Päpste zu Luthers Zeit geben den Römischen am wenigsten Anlaß, an Luther einen strengen Maßstab anzulegen. Sixtus IV. (1471—1484) führte samt seinem Hofe ein beispiellos schwelgerisches und wollüstiges Leben. Seine beiden Söhne Pietro und Girolamo, jener zur Kardinalswürde erhoben, dieser zum „Keneralkapitän der Kirche" ernannt, führten gleich dem Vater das 26 schandbarste Leben. Der Nachfolger dieses Papstes, Jnozenz VIII. (1484—1492), hatte mit seinen Konkubinen so viele Söhne und Töchter erzeugt, daß inan ihn den „Vater des Vaterlands" nennen konnte. Die Vermählungen seiner Kinder wurden im Vatikan mit großen Gastmählern gefeiert. Alle Schranken aber durch¬ brachen die Frevel Alexanders VI. (1492—1503), dessen Leben allen göttlichen und menschlichen Gesetzen Hohn sprach. Auch dessen Nachfolger Julius II. und auf ihn folgende Leo X. werden der Wollust beschuldigt. Luthers Zeitgenosse Paul III. noch mehr. Und es läßt sich doch wahrlich nicht behaupten, die Frevel dieser Päpste seien nur eine vorübergehende Episode in der Papstgeschichte gewesen. Wilhelm Wattenbach, einer der namhaftesten neueren deutschen Geschichtsschreiber, sagt in seiner Papstgeschichte: „Eine solche Reihe von Bösewichtern, wie diejenige ist, welche wir in ver¬ schiedenen Zeiträumen auf dem sogenannten Stuhle Petri finden, treffen wir auf keinem weltlichen Throne" (Siehe meine kleine Schrift „Unfehlbar"; München 1904. Preis 20 Pfg.) Wie die oberste Spitze, so in weitem Umfang die ihnen untergebene Geistlichkeit beim Auftreten Luthers. Jeder Kenner der Literatur jener Zeit müßte dies zugebcn: „Von der bestialischen Dummheit und Roheit der damaligen Pfaffen läßt sich keine Schilderung machen. Aeußerst häufig wird ihnen auf den Kon¬ zilien verboten, nicht halb nackt, barfuß, in zerrissenen Hosen und Jacken den Gottesdienst zu halten, keine obszönen Grimassen am Altar zu machen und keine tollen und schmutzigen Lieder zu singen. Denkt man ferner an das Esels- und Narrenfest, die religiösen Farcen und Maskeraden, die sie aufführtcn, die Schwänke, welche sie auf den Kanzeln erzählten und die Grimassen, die sie auf denselben schnitten, so wird man bestätigt finden, was glaubwürdige Männer jener Zeit schrieben. Noch nicht sind überall diese Zeiten vorüber; besonders dort nicht, wo mit der deutschen Sprache deutsche Gesittung aufhört" (Theiner, „Einführung der erzwungenen Ehelosigkeit", III, S. 106). H. Luther untl äie Lhe. Luthers eigene Ehe wird natürlich auch in vorliegender Schrift in jeder Weise beschmutzt. Gegenüber dem Anwurf, Leon¬ hard Koppe, der Katharina von Bora, Luthers spätere Gattin, —' 27 aus dem Kloster befreite, habe sich mit dieser geschlechtlich ver¬ gangen, führen wir folgendes aus der neuesten Lebensbeschreibung der Katharina von Bora an: „Koppe stand damals in seinem 59. Lebensjahre und war ein allseits geachteter, gebildeter und in mehreren Aemtern bewährter Mann" (Kroker, S. 35). Wenn sich die Schrift auch mit dem angeblichen Pantoffel der Katharina befaßt, so sei auch darüber Krokers Urteil angeführt: „Schade, daß der Schuh für eine arme Nonne denn doch zu elegant und für das erste Viertel des 16. Jahrhunderts mindestens um 200 Jahre zu jung ist." Bei den anderen Mitteilungen über Luthers Eheschließung streiten wieder Böswilligkeit und Unwissen¬ heit um die Palme. Wenn mit unnachahmlicher slovenischer Redeweise gesagt wird: „Luther wollte Katharina an zwei andere Liebhaber verhandeln, aber es ging nicht. Den einen mochte die Bora nicht, der andere ließ sie aber sitzen," so ist eben auch hier eine böse Zunge tätig, die sich an allem wetzen muß, wo in Wahrheit alles in Ehren znging. Was soll man aber zu der Unwissenheit sagen, die sich in der Schilderung von Luthers Hochzeitsfcier zeigt! Wenn es heißt: „Die heutige Zivilehe ist ein durchaus eheliches Kind der lutherischen Ehelehre," so gereicht das der letzteren gar nicht zum Vorwurf, indem die Zivilehe eine notwendige Folgerung aus den Voraussetzungen des heutigen Rechtsstaats ist. Was soll man über die Unwissenheit sagen, die sich darin zeigt, daß die bloße Willenseinigung der Brautleute für den Eheschluß für damalige Zeit als etwas Außergewöhnliches hingestellt wird! Wie der bekannte Kirchenrechtslehrer Ludwig Wahrmund sagt: „verblieb die römische Kirche bis zum Konzil von Trient auf dem Boden der altrömischen Konsenstheorie. Demnach schuf nach ihrer eigenen Rechtsanschauung nicht etwa die priesterliche Kopulation, sondern bloß der Wille der Brautleute die Ehe" („Ehe und Ehe¬ recht", S- 65). Luthers Eheschließung vollzog sich streng in den damals üblichen Formen. Die Vorstellung, daß Luther damit in den „Hochzeitshimmel" gelangt sei, ist der überspannten Phantasie eines römischen Zölibatärs angemessen, wir haben keine Veran¬ lassung, sie näher zu beleuchten. Natürlich wird auch mit Begierde Melanchthons vertrauter Brief an einen Freund über Luthers Eheschließung ausgebeutet. Dieser Brief ist „ein in seiner Bedeutung weit überschätzter Angenblickserguß von Melanchthons Aengstlichkeit und Empfind- 28 lichkeit". Der wesentliche Kern dieses Briefes ist aber nur der, daß Mclanchthon die Heirat in jenem Zeitpunkt für höchst un¬ zeitgemäß gehalten hat und deshalb ganz unrichtige Gründe auf¬ sucht. Nicht, daß Luther überhaupt geheiratet hat, wirft er ihm vor. Auch nicht, daß vor dieser Eheschließung etwas Unrechtes geschehen war — das häßliche Geklatsch dieser Art erklärt er ja für eine offenbare Lüge. Ueber Luthers Eheleben werden S. 53 noch folgende An¬ gaben gemacht: „Seine närrische Liebe in seine Nonne hinderte Luther nicht, über seinen Morgenstern' hinweg noch anderen weiblichen Wandelsternen seine liebende Inbrunst zu schenken." Die angeführten Fälle sind niederträchtige Verleumdungen, für die auch nicht der Schatten eines Beweises beigebracht werden kann, es sei denn, daß jedes nichtsnutzige Gerede als ein solcher Beweis aufgegriffen wird. Im höchsten Maß lächerlich nach längst erfolgter Klarstellung ist die Behauptung, Luther habe im Ehebruch einen Sohn Andreas erzeugt. In der Tat redet Luther einmal von „meinem Andreas". Es handelte sich um Luthers Neffen Andreas Kaufmann, den Luther als Sohn mit erzog. Das Wort „Sohn" zwischen „mein" und „Andreas" ist irrtümlich von einem späteren Herausgeber eingefügt. An einer anderen Stelle der „Tischreden" ist davon die Rede, „daß die gute Frau Käthe kiliuw kUtorum (einen anderen Sohn) gesäugt habe". Durch Druckfehler wurde daraus ..nclnltsruin" (einen ehebrecherischen Sohn). Unsere Schrift fälscht nun wieder diesen Druckfehler in „sUuItsrinum"!! Wenn' so die Luther vorgeworfenen ehebrecherischen Aus¬ schreitungen in nichts zerfließen, so gibt es allerdings in Luthers Schriften mehrere Stellen, die von allen römischen Bekämpfen: Luthers regelmäßig angeführt werden, um zu beweisen, daß Luther über die Ehe Dinge gelehrt habe, „von denen das natürliche Gewissen eines Heiden sich abwenden würde". Wer die völlige Grundlosigkeit dieser Anklagen im einzelnen kennen lernen will, der kann die genauen Nachweise in Wilhelm Walthers Buch: „Für Luther, wider Rom" und vielen anderen Schriften finden. Wenn z. B. die so unzählige Male benutzte Ehepredigt von 1522 so gedeutet wird, als habe Luther den Ehemännern den Rat gegeben, mit der Magd die Ehe zu brechen, wenn die Gattin ihre eheliche Pflicht nicht erfülle, so ist das eine Verleumdung. Luther handelte von der Ehescheidung und 29 sein Rat bezieht sich auf eine in gesetzlichen Formen sich voll¬ ziehende Ehescheidung. „Frau" und „Magd" bedeuten hier nicht Ehefrau und Dienstmagd, sondern ein herrisches Weib und ein ihrem Manne gehorsames Weib. Luthers Meinung über Ehe¬ bruch und Hurerei hat er immer wieder rückhhatslos ausgesprochen, indem er außerehelichen Geschlechtsverkehr aufs schärfste verurteilte. Indem er vielfach, für unseren Geschmack zu derb, vor allem die natürliche Seite der Ehe betont, war er dnrch die Ueber- treibungen der Freunde des Zölibats dazu veranlaßt wie durch die Auswüchse des damaligen päpstlichen Eherechts. Daß Luther die Vielweiberei gestattet habe, ist unwahr. Eine Schrift, welche die Vielweiberei verteidigte, hat er mit den Worten verurteilt: „Wer diesem Buben und Buch folgt und darauf mehr denn eine Ehefrau nimmt und will, daß es ein Recht sein soll, dem ge- fegne der Teufel das Bad im Abgrund der Höllen" (Köstlin II, S. 531). lieber die Doppelehe des Landgrafen Philipp von Hessen könnten wir mit dem protestantischen Theologen Willibald Bey- schlag etwa folgendes erwidern: „Wir beklagen den Flecken, den Philipp der Großmütige durch seine Doppelehe auf seinen sonst aller Ehren werten Lebenslauf gebracht hat und beklagen den Fehlgriff, den die Reformatoren mit dem biblischen Beispiel Abrahams im Gedränge der Gewissenskonflikte gemacht haben. Diesen Fehlgriff haben sie gemacht, indem sie in einem ganz be¬ stimmten Einzelfall eine Beichterlanbnis zu geben sich berechtigt hielten, um damit Unzucht zu verhüten. Daß darum von einer Legalisierung der Vielweiberei keine Rede sein kann unter den Reformatoren, wissen anständige Gegner so gut wie wir. Ebenso gut wie wir könnten sie wissen, daß Papst Clemens VII. der Scheidung König Heinrichs VIII. widerstanden hat, nicht aus sittlicher Strenge, sondern weil er cs mit Kaiser Karl V., dem Neffen der englischen Königin, nicht verderben wollte. Selbst der römische Streittheologe Nikolaus Paulus gibt sogar zu, daß Papst Clemens VII. eine Zeitlang bezüglich der Zulässigkeit des Dispenses für eine Doppelehe Heinrichs VIII. geschwankt habe! (Historisch-politische Blätter 1905, I, S. 90). Wären nicht die rein politischen Bedenken bei Clemens VII. hindernd im Wege gestanden, so hätte er wohl auch, wie die römische Kirche nach¬ mals bei Napoleon I., einen Dispens zur Ehescheidung nm 5 Franken Kirchenbuße übrig gehabt. Wer die Geschichte jener 30 Zeit kennt, wird aber weiter sagen müssen: wäre Philipp von Hessen nicht ein evangelischer Fürst gewesen, sondern ein Päpst¬ licher, so hätte er sich in seinen Ehenöten den Gewissensskrupel, nur mit einer ihm angetrauten zweiten Ehefrau Umgang haben zu wollen, überhaupt nicht gemacht, sondern wäre dieselben Wege gegangen, welche die ,allerchristlichsten' und ,allerkatholischsten' Majestäten Karl V., Franz I., Ludwig XIV., ohne von ihrem heiligen Vater in Rom darin gestört zu werden, in diesem Punkte gewandert sind. Und wenn Philipp von Hessen diesen Weg der — Hurerei gewandelt wäre, statt den der Doppelehe, so hätte er vor allem die Päpste seiner Zeit zu Vorbildern gehabt." Außerdem wenn unser Gegner emphatisch ausruft: „Nie hat ein Papst, Bischof, Priester den Ehebruch als erlaubt öffent¬ lich von der Kanzel verkündigt!" so ließe sich dagegen allerlei einwenden. Der katholische Kirchcnrcchtslehrer Ludwig Wahr¬ mund in Innsbruck sagt: „Papst Calixtus gestattete den römischen Damen, die sich mit ihren christlichen Sklaven einließen, aus¬ drücklich den Konkubinat, weil der ihm offenbar weit besser erschien als die eventuelle Ehe mit einem Heiden." (Ehe und Eherecht.) Der bedeutendste lebende protestantische deutsche Theologe, der auch von unserem Gegner beifällig angeführte Ad olf Harna ck, sagt in seiner monumentalen Dogmengeschichte: „Der Jesuitenorden hat fast alle Todsünden im Einzelfall in läßliche Sünden um¬ gewandelt, er hat fort und fort Anweisungen gegeben, im Schmutze zu wühlen, die Gewissen zu verwirren und im Beichtstuhl Sünde durch Sünde zu tilgen. Die umfangreichen ethischen Handbücher der Jesuiten sind zum Teil Monstra von Scheußlichkeit und Fundgruben zur Entdeckung entsetzlicher Sünden und schmutziger Gewohnheiten, deren Beschreibung und Behandlung einen Schrei des Entsetzens hervorruft." Was bedeuten denn die „moraltheologischen" Anweisungen eines Liguori und so vieler anderer anderes als Erleichterung des Ehebruches? Der Jesuit Tamburini sagt z. B.: „Man sieht also, daß die Pflicht, den Ehebruch einzugestehen, selten vorliegt." Kardinal Gousset: „Ist die Frau verpflichtet, den Ehe¬ bruch ihrem Manne oder ihrem unrechtmäßigen Kinde oder ihren anderen Kindern zu offenbaren? Nie darf man ihr den Rat geben, diese Erklärung zu tun. Die Mutter tue Buße, das genügt." Um den zwangsweisen Zölibat zu verteidigen, der allein mehr Ehebruch und Unzucht auf Erden angerichtet hat, als die 31 Römischen Luther beim besten Willen in die Schuhe schieben können, beruft sich der slovenische Anonymus auf Harnack und fragt: „Warum sind denn die protestantischen Diakonissinnen nicht ver¬ heiratet?" Der Schreiber weiß sehr wohl, oder er ist auch hier wieder grenzenlos unwissend, daß Harnack den Zwangs¬ zölibat der Geistlichen genau so verurteilt wie wir ihn ver¬ urteilen und daß unsere Diakonissinnen kein Gelübde der Ehe¬ losigkeit kennen. Also wozu solche unnützen Reden? 7. Luthers „frass unä völlerei". Unter der geschmackvollen Ueberschrift „Fraß und Böllerei" schleudert der edle unbekannte Slovcnenpriester die schwersten An¬ klagen gegen Luther, der ein „habitueller Schlemmer und Voll¬ säuser, ein verkommener Säufer" gewesen sei. Gemach! Ein Mann, der gewiß keiner Zuneigung zu Luther beschuldigt werden kann, der Innsbrucker Jesuit H. Grisar, der alles zusammcusucht, was sich irgcud Ungünstiges über Luthers Trinkgewohuhciten finden läßt, muß doch schließlich, um sich nicht wissenschaftlich bloßzustellen, folgendes zugestehen: „Luthers scharfes Auftreten wider gewohnheitsmäßige Trunken¬ heit einerseits und seine außerordentlichen Arbeitsleistungen anderer¬ seits, dann auch das Fehlen von stark gravierenden und be¬ stimmten Aussagen seitens derer, die ihn in der Nähe zu Wittenberg beobachteten, wie namentlich seitens der ihm feindlich gesinnten Wiedertäufer und der anderen ungläubigen .Sektierers all das legt in Verbindung mit anderen Umständen die An¬ nahme nahe, daß er in seinem gewöhnlichen Verhalten sich doch bloß bis zu einer gewissen Grenze die Lizenzen seiner theoretischen Grundsätze zu nutzen gemacht hat" („Historisches Jahrbuch" 1905, S. 501). Also selbst ein Mitglied des Jesuitenordens, der nach seinem eigenen Geständnis Luther ewigen Haß schuldig ist, schränkt die Anklagen auf Trunkenheit bei Luther ein und wendet sich gegen „mancherlei unberechtigte Uebertreibungen bei den Gegnern Luthers". Und das gewiß nicht aus irgend welchem Wohlwollen gegen Luther, sondern weil ein ernst zu nehmender Geschichtsforscher heute gar nicht mehr anders kann! Derselbe Jesuit Grisar führt die Worte Mclanchthons auf Luther an: „Obgleich von ansehnlicher und durchaus nicht 32 schwacher Leibesbeschaffenheit, hatte er dennoch, was ich oft be¬ wunderte, von Natur sehr wenig Drang nach Essen und Trinken. Ich sah ihn in gesundem Zustande vier Tage hindurch sich gänz¬ lich des Essens und Trinkens enthalten. Sonst sah ich ihn häufig durch lange Tage mit wenig Brot und Hering täglich sich begnügen." Und der Jesuit fügt hinzu: „Die Genügsam¬ keit mit .gemeiner Speise wird auch sonst bestätigt, und im allgemeinen ist an der Bedürfnislosigkeit seines Haushaltes nicht zu zweifeln" (a. a. O. S. 498 ff.). Wie ganz anders klingt das doch als die Behauptungen, die uns die in Graz erschienene Lutherschrift vorsetzt. Lehrreich ist auch Grisars Wort: „Infolge seiner eigenen Aeußerungen, die später in weite Kreise drangen und, oft noch dazu verstärkt, durch den Mund von Freund und Feind gingen, muß sich Luther vor allem selbst dafür verantwortlich machen, daß viele Katho¬ liken ihn einfach als Trunkenbold betrachteten" (S. 495). Es kann eigentlich gar nicht schlagender ausgesprochen werden, daß die Beschuldigungen Luthers als eines Trunkenboldes, wenn über¬ haupt auf etwas, sich auf Luthers scherzweise, unbefangene Rede¬ weise stützen müssen. Wenn einer der größten und fleißigsten Gelehrten aller Zeiten, der große Geschichtsschreiber Theodor Mommsen, im Jahre 1858 von sich schreibt: „Auch mein Talent, mich zu jeder Zeit betrinken, Stammbuchverse fabrizieren zu können, hat sich wieder eingefunden," so macht sich jeder lächerlich, der ihn wegen dieses Scherzes an einen Freund für einen Säufer hält. Bei Luther aber werden ähnliche Aeußerungen, die im höchsten Fall eine scherzhafte Uebertreibung sind, wenn sie nicht einfach falsch übersetzt sind, sofort im Sinne der Volltrunkenheit ansgebeutet. Der Jesuit Grisar sagt völlig zutreffend mit Bezug auf Luthers Aeußerung auf der Wartburg „er sitze müßig und trunken den ganzen Tag da": „Das ist an dieser Stelle nur eine Redensart; er will gegenüber den Lobeserhebungen, die ihm geworden sind, bei der Ablehnung derselben mit sichtbarer For¬ malität die eigene Unwürdigkcit hervorkehren" (S. 502). Oder das von den Römischen bis zum Ueberdruß ausge¬ beutete Wort Luthers: „Ich fresse wie ein Böhme und saufe wie ein Deutscher" wird von Grisar ziemlich richtig mit folgen¬ den Worten beleuchtet: „In den massiven und damals weniger auffälligen Ausdrücken stressen und saufen' von sich selbst ge- 33 fällt cr sich öfter. Aus ihnen allein dürfte man nicht allzuviel hcrauspressen. Er will zudem mit spaßhafter Wendung die um feine Gesundheit besorgte Frau beruhigen." In der Tat macht es doch einen himmelweiten Unterschied, ob etwa heute ein Herr der feinen Gesellschaft in voller Gesundheit diese Worte schreiben würde, oder ob Luther in der derben Redeweise seiner Zeit als kranker Mann damit ausdrücken will, daß er Appetit auf Essen und Trinken hat. Sollen wir die Zeit damit verschwenden, jede einzelne der lächerlichen Beschuldigungen eingehend zu prüfen? Ein schöner „Trost" islls, den Justus Jonas nach unserem Gegner dem Diener spendet, welcher Luthers Erbrochenes nicht wegschaffen will: „Lieber, laß dich das nicht irren, der Doktor Pflegt's alle Tage zu tun." Wenn es einmal geschah, ließ sich ja das vom Diener leicht ertragen. Geschah dies Erbrechen aber täg¬ lich, so war das doch alles andere als ein „Trost". Schon allein dieser äußerliche Umstand hätte gegen die Zuverlässigkeit des angeführten Ausspruchs mißtrauisch machen sollen?) Wir schließen mit den Worten des Jesuiten Grisar: „Wie einigt sich mit andauerndem alkoholischen Uebergcnuß die physische Ertragung so ungeheuerer Arbeit und wie die Willensenergie, die zu dem unausgesetzten religiösen und literarischen Wettkampfe, in dessen Mitte er sich gestellt hatte, Luther nun einmal nötig hatte? Man hat ein Bild der ,kolossalen geistigen Produktivität" Luthers allein aus dem Jahre 1529 zusammengestellt, in welchem er doch sonst keine seiner gewohnten literarischen Fehden führte." Diese ungeheuere Arbeitsleistung wird dann von Grisar etwas be¬ leuchtet, der dann schließt: „Immerhin ist es begreiflich, wenn mit dem Umfang seiner literarischen Erzeugnisse die Nachrichten von der gewohnheitsmäßigen Teilnahme an Saufgelagen und von be¬ ständigen eigenen Exzessen manchem nicht recht zu stimmen scheinen." 8. Luther erlaubt Lügen unä verteumüungen. Anläßlich der Doppelehe Philipps von Hessen soll Luther die Erlaubtheit der Nutzlüge behauptet haben mit den Worten: „Was wäre es, ob einer schon um Besseres und der christlichen *) Grisar sagt hierüber: „Jonas wollte doch wohl nicht sagen, alle Tage pflege Luther sich wegen Trinkens zu erbrechen, wie es merk würdigcrwcise von irgend einer Seite aus Irrtum aufgcfaßt wurde." 3 34 Kirche willen eine gute, starke*) Lüge täte? Eine Notlüge, eine Nntzlüge, Hilfslügen, solche Lügen zu tun sei nicht wider Gott, die wolle er auf sich nehmen. Darum eine geringe Lüge tun sei besser als so viel Mordgeschrek auf sich laden." Diese angeblichen Worte Luthers sind aber nicht etwa einem von Luther irgendwie anerkannten oder ihm selbst zuzuschreiben- dcn Dokument entnommen. Es handelt sich um Notizen, welche die Räte des Landgrafen Philipp sich gemacht haben, die dabei von dem Interesse geleitet wurden, Luthers Aeußernngen in möglichst schroffer Form sich zu notieren. Wir könnten also von vorneherein diese Angaben als fragwürdig ablehnen. Wir wollen aber zugeben, daß Luther aus Liebe zu Gott und den Menschen Unwahrheiten unter Umständen für erlaubt gehalten hat. Wie kann man von römischer Seite das als ein Verbrechen betrachten, wo einer der bekanntesten Morallehrcr der römischen Kirche, Gnry, folgende Grundsätze aufstellt: „Eine Fran, die einen Ehebruch begangen hatte, antwortete ihrem Manne, der dies argwöhnte und danach forschte, das erste¬ mal, sie habe die Ehe nicht gebrochen, das zweitemal, als sie von der Sünde bereits absolviert war: Ich bin an einem solchen Vergehen unschuldig. Endlich das drittemal, als der Mann noch immer mit Fragen drängte, leugnete sie den Ehebruch gänzlich ab und sagte: Ich habe ihn nicht begangen, indem sie an einen solchen Ehebruch dachte, den sie nicht zu offenbaren verpflichtet ist, oder aber sie dachte, ich habe keinen dir zu offenbarenden Ehebruch begangen." Ein solches schändliches Verhalten billigt der große Moral¬ lehrer, indem er z. B. die „starke Lüge" der Frau, sie habe die Ehe nicht gebrochen, mit den Worten beschönigt: „Sie konnte sagen, sie habe die Ehe nicht gebrochen, weil diese (trotz des Ehebruchs) noch bestand" (0u8N8 c:on8oisiUig.s. Regensburg 1865, S. 129). Der in der römischen Kirche herrschende Jesuitismus hat nämlich die durch und durch verlogene Theorie vom „geheimen Vorbehalt" ersonnen, „indem man den Worten einen anderen als den natürlichen oder nächstliegenden Sinn unterlegt. So oft Worte ihrer Bedeutung nach zweideutig sind und einen mehr- *) Mit Bestimmtheit läßt sich behaupten, daß dies Wort „strack" gelautet haben muß. fachen Sinn gestatten, ist cs keine Lüge, sic in dem Sinn aus- znsprechen, den der Sprechende in sie hineinlegcn will, obwohl die, die sie hören und an die sie gerichtet sind, sie in einem anderen Sinne nehmen. Eine solche Schlauheit ist von großem Nutzen, um vieles zu verbergen, was verborgen bleiben muß und was doch nicht ohne Lüge verborgen werden könnte, wenn es nicht auf solche Weise geschehen dürste." In Wirklichkeit wird durch ein solches nichtsnutziges Ver¬ fahren der andere viel mehr irregeführt, als durch eine einfache „stracke" Unwahrheit. Also gewiß hat Luther mit den oben über ihn berichteten Worten nicht schlechthin „Lügen und Verleumdungen für erlaubt" erklärt. Wer war wabrhaftiger, aufrichtiger als Luther? Eine schwere Bloßstellung ist für den Verfasser der Schmäh¬ schrift seine Uebersetzung der Worte Luthers „in ctoooMonein et nsquitiam pnMs oinnin lieors -rrüitrnmni"'. Selbst der wütende Lutherfeind Evers übersetzt in den späteren Auflagen seiner Konversionsschrift diese Worte richtig: „Wir halten dafür, daß uns gegen des Papsttums Trügerei und Schlechtigkeit alles erlaubt ist." Er entschuldigte sich wegen seiner falschen Ueber- sctzung: „Wegen einer Reise nach Rom war es mir nicht mög¬ lich, die Korrektur selbst zu überwachen. Ich bitte daher be¬ richtigen zu wollen." Tie „Styria"schmahschrist aber, die doch sonst gerade Evers ausschlachtet, druckt im Vertrauen auf die Gedankenlosigkeit der Leser ruhig die alte falsche Uebersetzung ab. In Wahrheit ist der Sinn der, daß Luther, als er Betrug und Nichtswürdigkeit des Papsttums wahrnahm, mit aller Kraft dagegen ankämpfen wollte. Die „Styria"schrift aber befolgt den Luther zu Unrecht zugeschobcncn Satz selbst, um Luther Böses anzutun hält sie alles für erlaubt. Lügen und Verleumdungen gegen Luther ent¬ hält ja diese Schrift in Menge, teils fahrlässige, teils mehr oder minder böswillige. Die weiter von Luther in diesem Kapitel berichteten „Lügen" sind allerdings tatsächliche Irrtümer Luthers. So sehr wie mir dies zugeben, müssen wir aber feststcllcn, daß Luther zweifellos in gutem Glauben handelte, als er die betreffenden Angaben ver¬ breitete. Daß übrigens Luther an der gefälschten Packschen Ur¬ kunde mitbeteiligt gewesen sei, ist unwahr. Was sollen aber diese ganzen Angaben in einem Kapitel, 3* 36 das die Ueberschrift trägt: „Luther erlaubt Lügen und Ver¬ leumdungen?" Wenn ferner Luther als „Verfälscher der heiligen Schrift" hingestellt wird, so gehört auch das in das Kapitel von Luthers Unwahrhaftigkeit. Daß Luthers Bibelübersetzung sehr viele Un¬ vollkommenheiten aufwies, ist richtig. Dies ist aber gar nicht verwunderlich. Im Jahre 1590 gab Papst Sixtus V. die latei¬ nische amtliche Bibelübersetzung, die sog. Vulgata, heraus und erklärte sie kraft der Fülle seiner apostolischen Gewalt als authentisch und unabänderlich. Aber sofort stellten sich so viele Fehler heraus, daß schon zwei Jahre später eine neue Aus¬ gabe mit wichtigen Verbesserungen hergestellt werden mußte. An¬ gesichts dieser Tatsache haben die Römischen gewiß keinen Grund, Luthers Bibelübersetzung zu schmähen, weil sie, wie alles Menschen¬ werk, Unvollkommenheiten aufwies. Absichtlich gefälscht aber hat Luther die Bibel nicht. Sein aufrichtiges Bemühen war es, das, was der Urtext den in hebräischer und griechischer Denk- und Redeweise Bewanderten gesagt hatte, so wiederzugeben, daß die Uebersetzung genau das¬ selbe den Deutschen sage. Das hat er auch nach bestem Wissen und Gewissen in der berühmten Stelle Röm. 3, 28 „Allein durch den Glauben" getan. Der Apostel spricht hier aufs klarste die Lehre aus, daß die Rechtfertigung des Menschen durch Glauben vermittelt sei, ohne irgend welches Gesetzeswerk. Diesen Gedanken hat nun Luther deutsch wiedcrzugeben getrachtet und hat dies auch vollkommen einwandfrei getan. Was weiter noch darüber ausgeführt wird, „wie schmachvoll gemein Luther die heilige Schrift und ihre Verfasser behandelt habe", ist derartig, daß es sich nicht zu widerlegen lohnt. Wer ein wenig in Luther gelesen hat, kann sich darüber selbst ein Urteil bilden. Es hat das übrigens auch gar nichts damit zu tun, daß Luther die heilige Schrift „gefälscht" habe. Gerade in diesem Kapitel von der Lüge muß man an das Wort eines altrömischen Schriftstellers denken, daß Reiche nur mit den Mitteln aufrecht erhalten werden können, mit denen sie gegründet sind. Das Reich des Papstes ist auf einem Berg von kecken Fälschungen aufgerichtet. Schon in den Kanon der Kirchen¬ versammlung von Nizäa l325) fälschte man in Rom den Zusatz hinein: „Die römische Kirche hat stets den Primat gehabt." 37 Wir erinnern an die sog. „Schenkung Constantins" an die sog. „pseudoisidorischen Dekretalen", an das ganze päpstliche Gesetzbuch. Bon dem darin enthaltenen sog. „Dekret des Gratian" hat Döl¬ linger geurteilt, daß es, „wie kaum ein anderes Buch, von groben Fehlern, absichtlichen und unabsichtlichen, wimmelt." Alle diese Fälschungen, die allein die Errichtung der Papstgewalt ermög¬ lichten, sind durch viele' Jahrhunderte aufrecht erhalten worden, bis man sie in neuerer Zeit sämtlich hat zugestehen müssen. Wer also „erlaubt Lügen und Fälschungen"? Rom oder Luther? y. Luther unä äie Meliidersetrung. lieber deutsche Bibelübersetzung von Luther schreibt der Lutherbiograph Adolf Hausrath: „Deutsche Bibeln hat es schon vor Luther gegeben und seit die Tätigkeit der Bücherpresse be¬ gonnen hatte, zählt man bis zum Jahre 1518 achtzehn Ucber- setzungen. An das ganze heilige Buch hatte sich aber seit dem Goten Ulfilas (im vierten Jahrhundert) noch kein einzelner deutscher Mann gewagt. Auch waren diese deutschen Bibeln Ucbersetzungen aus der Vulgata, nicht aus dem Urtexte. Sie dienten den von der Kirche abweichenden Sekten, wohl auch solchen Priestern, die ohne sie ihre lateinischen Peri- kopen nicht verstanden hätten, oder es waren illustrierte Werke für die Reichen. Einen Einfluß auf die deutsche Nation hat keine von diesen Ucbersetzungen geübt. Auch eine große Verbreitung können sie nicht gehabt haben, da sie alle zu bibliographischen Seltenheiten geworden sind. Von feiten der Kirche war der Gebrauch der Bibel in der Landessprache den Laien untersagt und in den Prozessen, die gegen die Waldenser in Kurbranden- burg bis in die Tage Joachim Nestors (st 1539) geführt wurden, wird der Besitz einer deutschen Bibel stets als Beweis der Ketzerei behandelt." Und Wilhelm Walther sagt: „Was für ein entsetzliches Deutsch die vorlutherische Bibel bot und welch hoher Preis da¬ für bezahlt werden mußte, verrät man uns nicht. Wie vielen war es möglich, zehn Goldgulden, nach dem Geldwert unserer Zeit etwa 200 Kronen, dafür zu bezahlen und dann sich durch dieses Deutsch hindurchzufinden?" Hiernach möge man sich selbst ein Urteil bilden über die gegenteiligen Behauptungen der vorliegenden Schrift. Wenn uns 38 in dieser ein unbekannter windischer Priester über Luthers Ver¬ hältnis zur deutschen Schriftsprache belehrt, so mag es gestattet sein, einige Männer zu Worte kommen zu lassen, die als hervor¬ ragende Vertreter und Kenner des deutschen Schrifttums gelten. Der erste neuhochdeutsche Klassiker, Klopstock, sagte: „Niemand, der weiß, was eine Sprache ist, erscheine ohne Ehrfurcht vor Luther. Unter keinem Volk hat Ein Mann so viel an seiner Sprache gebildet" (Sämtl. Werke 1798—-1821, Bd. 8). Der bekannte deutsche Dichter Otto Roquette sagt: „Luthers Werke, obgleich die wenigsten derselben sich auf rein poetischem Gebiet bewegen, wurden auch für die gesamte deutsche Literatur zu einer Quelle neuer Belebung und Gestaltung. Die Uebersetzung der Bibel war es, wodurch er den Grundstein zu einer Wieder¬ geburt unserer Sprache legte" (Geschichte der deutschen Literatur). Heinrich Laube, gleichfalls namhafter Dichter und Literaturhistoriker, sagt: „Sollte die bisherige Welt gründlich nmgestaltet werden, so mußte eine neue Sprache geweckt werden. Diese Sprache hat Luther im Neuhochdeutschen erschaffen, und sic ist noch heute das Deutsch, was den Grund alles unseres Ausdruckes bildet. Die Bestandteile der neuhochdeutschen Sprache lagen alle da, jedermann konnte sie zusammensuchen; aber nur einer hatte den sicheren Blick, die schnelle und feste Hand dafür, dieser eine war Luther" (Deutsche Literaturgeschichte). Gustav Freytag, bekanntlich auch einer der namhaftesten Vertreter deutschen Schrifttums im 19. Jahrhundert, sagt: „Luthers größtes Werk ist die Uebersetzung der Bibel — an dieser Arbeit erwarb er die volle Gewalt über die Sprache des Volkes, eine Sprache, welche zuerst durch dies Werk ihren Reichtum und ihre Kraft gebrauchen lernte. — Mit den übrigen Werken Luthers wurde die deutsche Bibel Grundlage der neu- deutschen Sprache. Noch heute ist die Sprache der Bildung, Poesie und Wissenschaft, welche Luther geschaffen, das Band, welches alle deutschen Seelen zur Einheit zusammenschlicßt" („Aus dem Jahrhundert der Reformation", S. 67). Oder lassen wir berühmte Katholiken zu Worte kommen. Der bekannte Konvertit Friedrich von Schlegel, von dem der eigene Bruder Friedrich August von Schlegel urteilte: „Empört von der Rolle, die jener seit 1819 als Schriftsteller, wie alß Alliierter der Jesuiten gespielt, habe ich ihm nach Art der alten Römer Feindschaft erklärt," sagt: 39 „Luther ist nicht bloß für die deutsche Sprache, in seiner Meisterschaft derselben, epochemachend gewesen, wie dies allgemein anerkannt wird, sondern auch für den Stufengang der europäischen Wissenschaft und Geistesbildung überhaupt" (Philosophie der Ge¬ schichte, Wien 1829, 2. Bd., S. 206). „Es ist bekannt, daß alle gründlichen Sprachforscher die deutsche Bibelübersetzung Luthers als die Norm und den Grund¬ text eines in hochdeutscher Sprache klassischen Ausdrucks anseheu und nicht bloß Klopstock, sondern noch viele andere Schriftsteller von der ersten Größe haben ihren Stil vorzüglich nach dieser Norm gebildet und aus dieser Quelle geschöpft" (Geschichte der alten und neueren Literatur, Wien 1822, Bd. 2, S. 244). Luthers bedeutendster literarischer Gegner, der große katholische Theologe Ignaz von Döllinger, sagt: „Nur Luther war es, der wie der deutschen Sprache so dem deutschen Geiste das un¬ vergängliche Siegel seines Geistes aufgedrückt hat, und selbst diejenigen unter den Deutschen, die ihn von Grund der Seele verabscheuten als den gewaltigen Jrrlehrer und Verführer der Nation, können nicht anders: sie müssen reden mit seinen Worten, müssen denken mit seinen Gedanken" (Vorträge über die Wicder- vereinigungsversuche usw. 1872). Gerade der deutsche Sprachforscher, den der anonyme Wenden- Priester fälschlich für sich anführt, Jakob Grimm, den dieser mit Recht mit seinem Bruder den größten Sprachforscher Deutsch¬ lands nennt, schreibt in der Vorrede zu seiner deutschen Gramma¬ tik, Luthers Deutsch sei der Kern und die Grundlage der neuhoch deutschen Sprachniedersetzung, so daß man das Neuhochdeutsche einfach als protestantischen Dialekt bezeichnen dürfe. Nur sehr unbedeutend, meistens zum Schaden der Kraft und des Ausdrucks, sei man bis auf den heutigen Tag von Luthers Sprache ab- gewicheu. 10. Lulhers lkeäemise. In der Tat liegt in der Redeweise Luthers auch für viele Protestanten der schwerste Anstoß. Vieles, was aus seiner Feder geflossen ist, klingt uns heute geradezu ungeheuerlich. Gewiß, vieles an Luthers Worten ist derart, daß wir es unbedingt ablehnen. Gegenüber der gewissenlosen Ausbeutung von Luthers Tisch¬ reden müssen wir aber zunächst darauf Hinweisen, daß die uns über¬ lieferten Niederschriften derselben sehr mit Vorsicht zu gebrauchen 40 sind. Advlf Hausrath sagt darüber: „Lauterbachs Nachschriften der Tischreden sind die wertvollsten. . . . „Aber schon Lauterbach schrieb zuweilen falsch nach. Luther sagte: „Das Deutsche Reich stand nicht lange in Blüte." Lauterbach schrieb lateinisch nach: iw swwAwiwö (im Blute), Luther sagte vstituiw (verboten), Lauterbach schrieb lostiäuiw (stinkend). In Frankfurt hat Pastor Rebenstock diese gesammelten Lutherworte in lateinischer Sprache herausgegeben, aber durch seine Latinisierung ihren originellen Charakter stark verwischt. Aurifabers deutsche Tischreden ver¬ drängten die anderen Sammlungen und doch hat gerade er sich an denselben am schlimmsten vergangen. Seit seiner Amtsentsetzung im Jahre 1561 lebte der rohe Streittheologe von der Heraus¬ gabe der Lutherreliquicn, die er möglichst erweiterte und breit schlug, mn sie teuerer verwerten zu können. Seine Liebhaberei war, „mit der Sauglocke zu läuten". Danach traf er seine Auswahl und erlaubte sich gelegentlich die bedenklichsten Er¬ weiterungen, für die er nicht immer die zuverlässigste Tradition benutzte." Damit vergleiche man, daß die Schmähschrift sagt: „Derb¬ heiten, das sexuelle Gebiet betreffende, hat Aurifaber als sehr geschickter Schönfärber mit Worten umschrieben, die Luther gar nicht gebraucht hatte" (S. 46). Wir wollen indessen nun keineswegs alle Anstöße wegleugnen. Daß Luthers Reden ost derber, als selbst seiner derben Zeit er¬ laubt schien, waren, daß gar vieles an seinen Worten einfach nicht zu billigen ist, das wollen und können wir nicht leugnen. Wilhelm Walther kann aber mit Recht hcrvorheben: „Ge¬ wiß finden wir in den Tischreden Luthers, wo er zu Gleich¬ gesinnten sprach und eventuell seinem Witze freien Lauf lassen durste, manches uns Unsympathische. Aber wie mögen zu jener Zeit andere bei Tisch sich unterhalten haben? Wie etwa die Päpste? Sollte sich nicht noch eine Vorstellung von päpstlichen Tischreden gewinnen lassen? Im Jahre 1459 starb Poggio Florentinus, von dem man rühmte, daß er durch Gelehrsamkeit, Bildung und gewählte Schriften eine Zierde seiner Zeit gewesen sei und durch sein unbescholtenes Leben sich als einen Liebhaber der Tugenden bewiesen habe. Dieser lebte ein halbes Jahr¬ hundert hindurch in Rom und zwar als ,apostolischer Geheim¬ schreiber mit acht Päpsten an dem römischen Hofe in enger Freundschaft und hochverehrt'. Wenn dieser Mann einen Band voll 41 von Scherzen und Anekdoten herausgab, so ist nicht zu bezweifeln, baß das hier Gedruckte zu dem damaligen Unterhaltungsstoff am päpstlichen Tische gehört hat. Man wird dies päpstliche Tischreden nennen dürfen." Dieses Werk ist etwa 25 mal nachgcdruckt worden, auch in Uebersetzungen erschienen. Man lese bei Walther die Proben aus diesem Buche nach. In deutscher Sprache etwas von diesen unsagbaren Unanständigkeiten wiederzugeben, ist völlig unmöglich. Die gemeinste Schandliteratur unserer Tage bietet wohl derartiges nicht. Man redete eben damals auch in den vornehmsten Kreisen, vor den feinsten Damen, mit einer Ungeniertheit über geschlechtliche Dinge, über die Ausleerungen des menschlichen Körpers, die uns heute als über alle Begriffe schamlos erscheint. Dazu hatte gar manches Wort, das heute kein Gebildeter mehr in den Mund nimmt, damals einen unanstößigen Sinn. So kann denn Walther auf eine ganze Fülle von literarischen Erscheinungen aus Luthers Tagen Hinweisen, selbst auf gedruckte Predigten und Erbauungsschriften, die uns heute genau so „gemein" und „schamlos" erscheinen, wie so vieles aus Luthers Munde. Wir wiederholen es, daß es eine Irreführung der harm¬ losen Leser ist, wenn das alles nicht berücksichtigt wird, wenn Luther aus dem Zusammenhang seiner Zeit herausgerissen und den Maßstäben unserer Zeit unterstellt wird. Wollten wir aus katholischen Schriftstellern jener Zeit in ähnlicher Weise, wie es die Schmähschrift tut, Derbheiten zusammenstellen, nm damit die Verworfenheit der Gegner Luthers zu beweisen, so könnten wir damit vielleicht auf Urteilslose Eindruck machen, aber in den Augen aller Anständigen wäre eine solche Kampfesweise gerichtet. Auch das geben wir schließlich zu, daß Luthers Schreib¬ weise im Verlaufe seines Kampfes verwilderte, daß gar manches aus den letzten Jahren seines Lebens uns in besonderem Maße abstößt. Nicht besser als mit den Worten des römisch-katholischen Pfarrers Josef Sprißler (f 187lt) können wir die Gründe dieser Erscheinung beleuchten: „Wir dürfen es uns nicht verhehlen, die allerstärkste physische und moralische Kraft mußte unter einem so gewaltigen und un¬ aufhörlichen Druck solcher Umstände oft wanken, unter welche Luther gestellt war. Er konnte sich diesem allgemeinen Gesetz 42 nicht entziehen, mit zunehmenden Jahren, unter Häufung an Arbeit, Kampf und Kränkung unterlag er öfters seinem kranken Temperamente. Wir sehen ihn immer verdrossener, unmutiger, gereizter, zorniger werden. Manches Unförmliche, Verzerrte, Mißlautcnde tritt in späterer Zeit hervor. Bärentatzen hatten an den Saiten seiner Seele gerissen, und sie erschwirrten fortan bei der leisesten Erregung mißtönig. Er ist ein zerrissenes, trauerndes, blutendes Laes tioirio. der früher eine hohe Helden- und Titanengestalt gewesen. So hat ihn der Kampf, der ihn nicht anfzureiben imstande gewesen, entstellt, das hat die Hierarchie an diesem großen Leben, an dieser mächtigen Gestalt vollbracht. Wahrlich mit Unrecht klagt die römische Kirche Luthers Ungestüm an und zieht seine Gebrechen ohne Schonung an den Tag! Luther hat, was ihm zum Vorwurf gemacht werden kann, ent¬ weder aus der katholischen Zeit mitgebracht, oder es ist von den Katholischen im Kampf aufgedrungen worden" („Freimütige Blätter über Theologie und Kirchentum" 1837). Damit gestehen wir ja freilich offen ein, daß Luther kein „Heiliger" war. Aber wenn die Schmähschrift schreibt: „Die Sprache St. Pauli ist immer anständig, heilig und erhaben, jene Luthers öfters frivol und bodenlos gemein, im Schimpfen, Lüstern und Schmähen unerschöpflich," so ist das eben nicht richtig. Auch aus dem Munde Jesu und des Paulus besitzen wir viele Worte, Worte des Kampfes und der Uebertreibung, vor denen sich die Kinder unserer Zeit entsetzen würden, wenn sie in unseren Tagen fallen würden. Denn noch heute kämpft man ebenso wie in alten Tagen, aber die Worte sind heute, heuchlerisch genug, viel gemäßigter. Und dann ist zu bedenken, daß wir von jenen nur wenige Aussprüche besitzen, die auf einigen Seiten Platz finden, von Luther aber besitzen wir eine unermeßliche Fülle von Aeuße- rungen aus fast zahllosen Schriften, Predigten, Gutachten, Briefen, Tischgesprächen, Aeußerungen oft ungezwungenster, vertrautester Art eines gebannten und geächteten Mannes, der sein Leben hin¬ durch mit rücksichtslosester Offenheit den Kampf führte gegen eine Welt von Feinden zur Rechten und zur Linken. Von Luther gilt darum das Wort des vorhin angeführten katholischen Priesters: „Ihm fehlen nur ein paar Jahrtausende, und hätte ihm die Presse fehlen sollen, um den größten Heroen oder Reformatoren des Altertums gleichzustehcn." 43 11. Luther kann nicht beten, muss So steht es wörtlich in der Ueberschrift des II. Kapitels der uns vorliegenden Schrift. Anstatt uns nut den Vorwürfen dieses Kapitels zu be¬ schäftigen, «vollen wir auf zwei Gebete Luthers während der beiden entscheidenden Reichstage zu Worms 1521 und zu Augs¬ burg 1530 Hinweisen. Luther betete gern abends laut in seiner Kammer. Man hat ein Gebet aufbewahrt, das er während des Reichstages zu Worms getan habe, mit dem er sich auf sein großes Heldeubekeuntnis vom 18. April vorbereitet haben mochte, für dessen Echtheit auch die unnachahmliche Eigentümlichkeit der Sprache zeugt: „Allmächtiger, ewiger Gott! Wie ist es nur ein Ding um die Welt! Wie sperret sie den Leuten die Mäuler auf! Wie klein ist das Vertrauen der Menschen auf Gott! Wie ziehet sie so bald die Hand ab und schnurret dahin und läuft die gemeine Bahn und den breiten Weg zur Hölle zu und siehet nur allein, was Prächtig und gewaltig ist und ein Ansehen hat! Wen«« ich auch meine Augen dahin wenden soll, so ist's mit mir aus, die Glocke ist schon gegossen und das Urteil gefallet. Ach Gott, du mein Gott, stehe du mir bei wider aller Welt Ver¬ nunft und Weisheit. Du mußt es tun; ist es doch nicht meine, sondern deine Sache. Hab ich doch für meine Person allhie nichts zu schaffen und «nit diesen großen Herren der Welt zu tun ... . Hörst du nicht, mein Gott, bist du tot? Nein, du kannst nicht sterben, du verbirgst dich nur. Hast du mich dazu erwählt? ich frage dich, wie ich es denn gewiß weiß. Ei, so walt' es Gott, denn ich mein Leben lang nie wider so große Herren zu sein gedachte.... Komm, komm, ich bin bereit auch mein Leben dafür zu lassen geduldig wie ein Lämmlein. Denn gerecht ist die Sache und dein, so will ich mich von dir nicht absondern ewiglich. Das sei beschlossen in deinem Rainen. Die Welt muß mich über mein Gewissen Wohl ungezwungen lassen, und sollte mein Leib, der deiner Hände Werk ist, darüber zu Trümmern gehen, die Seele ist dein und gehöret dir zu und bleibet auch bei dir ewig. Amen. Gott Helf «nir. Amen!" Von der Koburg aber, wo Luther als Gebannter und Ge¬ ächteter in der Nähe des Augsburger Reichstages 1530 weilte, schrieb sein Genosse Veit Dietrich an Melanchthon (30. Juni): „Ich kann nicht genug bewundern die ausnehmende Stand- 44 Hastigkeit, die Heiterkeit, den Glauben und die Hoffnung dieses Mannes in so herber Zeit; er nährt aber dieselbe ohne Unterlaß durch fleißiges Treiben des göttlichen Wortes. Kein Tag ver¬ geht, wo er nicht zum mindesten drei Stunden, und zwar die zum Studium passendsten, aufs Gebet verwendet. Einmal glückte mir's, daß ich ihn beten hörte. Guter Gott, welch ein Glaube war in seinen Worten! Mit so großer Ehrfurcht redet er, als der mit seinem Gott redet, und mit solchem Vertrauen und solcher Hoffnung, als der mit seinem Vater und seinem Freunde redet. .Ich weiß-, sagte er, ,daß du unser Gott und Vater bist. Also bin ich gewiß, daß du die Verfolger deiner Kinder wirst zu schänden machen. Tust du's nicht, so ist die Gefahr dein und unser zumal, dein ist dieser Handel, wir sind daran ge¬ gangen, weil wir mußten, darum wollest du ihn verteidigen' usw. So etwa hörte ich, von ferne stehend, ihn mit Heller Stimme reden. Auch mir brannte das Herz mächtig, als er so vertrau¬ lich, so ernst, so ehrerbietig mit Gott sprach und unterm Gebet auf die Verheißungen in den Psalmen drang, als der gewiß war, daß alles geschehen werde, was er bitte." Der betende Luther am Sterbebett seines Töchterchens Magdalene, am Krankenlager Melanchthons, das sind so ergreifende Bilder tiefinniger Glaubenszuversicht, daß wir aus der ganzen Kirchengeschichte, auch der Apostelzeit nichts wüßten, was erbau¬ licher und zur Nachahmung besser geeignet wäre. Wenn die Schmähschrift demnach höhnisch fragt: Ob wir den Mut hätten, zu predigen: Lebet wie Luther gelebt hat? Konnte Luther so sprechen, wie Paulus: „Werdet Nachahmer von mir, so wie auch ich cs bin von Christus?" So antworten wir Ja! Wir können allen Christen, ob evangelisch oder katholisch, gar nichts Besseres wünschen, als daß sie Nachahmer der Frömmigkeit Luthers werden. 12. Luthers LiaubensgeivissheSt. Die Schmähschrift sucht nachzuweisen, daß Luther selbst nicht geglaubt habe, was er lehrte. Sie erzählt zum Beweise eine unsäglich läppische Geschichte, Luther habe traurig aus- gerufcn, er fürchte, der Himmel sei nicht für ihn, aber es sei schon zu spät zur Umkehr. Als Quelle hierfür wird „der Pro¬ testantische Pastor Bust" angeführt. Dieser protestantische Pastor wird gerade so beschaffen gewesen sein wie der „protestantische 45 Pastor Evers" (d. h. in Wirklichkeit ein fanatischer römischer Streitschriftsteller). Mag dieser Pastor aber gewesen sein, wer immer, so hat er die Pflicht, für eine Geschichte, die angeblich vor 350 Jahren geschehen ist, eine gleichzeitige Quelle anzu¬ geben. Wenn der „südsteirische" Theologe diesen naheliegenden Umstand übersieht, so sieht es mit seiner Befähigung zum Ge¬ schichtsschreiber schlecht aus. Auch dem wütendsten Lutherfeinde sollte es übrigens klar sein, daß das angebliche Gespräch zwischen Luther und Käthe von diesen beiden, die doch allein dabei ge¬ wesen sein konnten, unmöglich weiterverbreitet werden konnte. Um die Sache Halbwegs glaubwürdig zu gestalten, empfehlen wir daher wenigstens die Einführung eines Lauschers an der Wand. Von derselben Beschaffenheit ist die Erzählung von einem „Ordensmann Hilarius", der Luther die Stiefel ausgezogen habe, wobei Luther geseufzt habe: „Martin, was tust du, Martin, was hast du getan." Bevor uns dieser Hilarius nicht noch auf einem anderen Wege als mittels der Chronik des Stiftes Melk aus dem 18. Jahrhundert vorgestellt wird, müssen wir ihn für eine sehr nebelhafte Gestalt ansehen. Etwas mehr festen Boden bekommen wir unter die Füße, wenn wir dann weiter eine Reihe von Aussprüchen Luthers prüfen, nach denen er selbst erklärt haben soll, er glaube nicht, was er lehre. Allerdings verwickelt sich die Schmähschrift in einen Wider¬ spruch, wenn sie einerseits (S. 12 f.) Luthers Evangelium be¬ schreibt als Glauben an die Verdienste Christi: „So lange der Mensch diesen Glauben hat, braucht er sich wegen keiner Sünde und wegen keines Mangels an Tugenden zu betrüben und ängstigen, er kann seines ewigen Heils sicher sein und soll ruhig sein Gewissen freudig einschlafen lassen in Christo ohne alle Empfindung des Gesetzes und der Sünde." Mit diesen Worten Ivird Luthers Geisteszustand beschrieben. Dieser bestand also in einer törichten, blinden Zuversicht, von der der bekannte römische Theologe I. A. Möhler urteilte: „Ich glaube, daß es mir in der Nähe eines Menschen, der seiner Seligkeit ohne alle Um¬ stände gewiß zu sein erklärte, im höchsten Grade unheimlich würde, nnd des Gedankens, daß etwas Diabolisches (Teuflisches) dabei unterlaufe, wüßte ich mich wahrscheinlich nicht zu er¬ wehren" („Symbolik", S. 197). Andererseits soll nun aber derselbe Luther, der so verwegen und bedingungslos seines Heils gewiß war, wieder völlig ungewiß gewesen sein?? 46 Daß letzteres seitens der Römischen Luther vorgeworfcn wird, ist nun aber, auch abgesehen non dem eben gekennzeichneten Widerspruch, höchst merkwürdig. Eine maßgebende Instanz des Katholizismus, die große Kirchenversammlung von Triest, hat bekanntlich festgesetzt: „Jeder, wenn er sich selbst und seine eigene Schwäche und Unwürdigkeit ansieht, muß zittern und fürchten wegen der ihm widerfahrenen Gnade, da niemand mit Glaubens¬ gewißheit wissen kann, er habe Gottes Gnade erlangt" (ssss. VI. eax. IX). Oder wie der berühmte Möhler sagt: „Von den Katholiken wird nicht angenommen, daß eine ganz untrügliche Gewißheit gewonnen werden könne" („Symbolik", S. >92). Es ist nun gewiß höchst eigentümlich, daß in der hier besprochenen Schmähschrift Luther deshalb getadelt wird, weil er, streng nach katholischer Lehre, jene Heilsgewißhcit nicht gehabt haben soll! Allerdings nur soll! Denn die von der Schmähschrift angeführten Lutherworte beweisen keineswegs das, was der Ver¬ fasser beweisen will. Greifen wir das auf S. 72 angeführte Wort heraus, Luther habe erklärt: „Auch Paulus habe nicht fest geglaubt, denn die. Sache sei schwierig. Ich kann nicht so glauben, wie ich lehre, gleichwohl halten andere Leute dafür, daß ich den festesten Glauben habe." Das unseres Wissens vielleicht verbreitetste katholisch-theo¬ logische Buch in deutscher Sprache, Möhlers Symbolik, von dem freilich der südstcirische Theologe auch nichts weiß, sagt über diese Stelle: „Nach Ansicht der Reformatoren . . . fordere die Sicherheit der Gläubigen, immerhin einen tüchtigen Kern des Bösen in sich zu bewahren, weil wir in diesem Zustand noch am besten seien... In folgender Stelle, voll wunderbarer Naivität, hat der hier besprochene Eindruck, einen, formell be¬ trachtet, sehr schönen und wohlgelungencn Ausdruck durch Luther selbst erhalten." Es wird dann obiges Wort angeführt mit der darauffolgenden Fortsetzung: „Und es wäre schier nicht gut, daß wir alles täten, was Gott befiehlt, denn er käme um seine Gottheit und würde darüber zum Lügner, und könnte nicht wahrhaftig bleiben. Es würde auch Sankt Paulus zu den Römern umgestoßen, da er sagt: Gott hat alles unter die Sünde geschlossen, auf daß er sich aller erbarme" (S. 185 f.). Wie Walther diese Stelle richtig erläutert: „Der Gläubige weiß, daß er bei Gott in Gnaden steht und ein Erbe des 47 ewigen Lebens ist, daß ihm die Krone der Gerechtigkeit schon beigelegt ist. Diese selige Gewißheit spricht er auch fröhlich aus. Daraus aber darf man nicht schließen, daß dieselbe sich stetig gleich bleibe. Vielmehr, sobald der Christ wieder darauf sicht, daß er ,nicht getan, was Gott befiehlt*, kann er es nicht so stark glauben. Dann bedarf es wieder des Glaubens, welcher die Gnade Gottes annimmt. Indem aber dieser die Gewißheit erlangt, daß auch die neue Sünde vergeben sei, wird die Ge¬ wißheit des eigenen Gnadcnstandes tiefer und fester. Nicht, als ob sie vorher nicht fest gewesen wäre. Nein, auch vorher konnte nichts von dem, was der Mensch kannte, ihn an seiner Be¬ gnadigung irre machen. Aber jetzt kennt er noch mehr als worher, und auch dieses kann ihn nun nicht mehr ungewiß machen." Genug, daß selbst Möhler den angeführten Ausspruch Luthers als einen Ausdruck der Sicherheit und nicht der Un¬ sicherheit wertet. Dasselbe dürfte auch für die anderen Aus¬ sprüche Luthers gelten, die seine Ungewißheit beweisen sollen. Es ist damit Luther nicht in den Sinn gekommen, an der Wahrheit, seiner Lehre d. h. daran zu zweifeln, daß wir allein durch den Glauben an Christus gerecht werden. Wohl aber hat er erfahren, wie schwer es sei, nach dieser Lehre zu handeln. Wir lesen weiter: „Den rege gewordenen Gewissenswurm suchte Luther durch einen kräftigen Trunk zu ersticken. Der Wein- und Bierhumpen gehörte bei Luther zum ersten Beruhi¬ gungsmittel, dazu kam noch möglichste Flucht der Einsamkeit: ,Lieber gehe ich zu den Schweinen, als allein zu bleiben.*" Diese Stelle heißt in Lauterbachs Tagebuch in Wirklichkeit: „Ich gehe eher zu meinem Sauhirten Johannes, auch zu den Schweinen, als daß ich allein bleibe." Also nicht Sehnsucht nach der Gesellschaft von Schweinen prägt sich hieb aus. Im Gegenteil taxiert auch Luther diese Gesellschaft sehr niedrig, da er sagt, eher als allein grübeln, würde er in Stunden schwerer Anfechtung — durch Steinleiden, Verstopfung, Nervenabspannung — noch diese Gesellschaft aufsnchen. Und was ist denn daran zu tadeln? Wer nur ein klein wenig Geschichte nach den Quellen studiert hat, muß immer wieder denken: Wie so gering sind doch im Grunde die Angriffspunkte, die Luther den Gegnern bietet. Wir würden uns getrauen, falls uns diese bösartige, 48 gewissenlose Kampfesweise zu Gebote stände, nach derselben^ Methode jede andere große Gestalt der modernen Geschichte zu einer noch viel unheimlicheren Fratze auszustaffieren, als es die Römischen mit Luther fertig bringen. 1Z. Luthers Loä. „Luther ist in der Nacht vom 17. bis 18. Februar 1546, nachdem er sich abends zuvor einen tüchtigen Rausch angetrunken, plötzlich und ohne Zeugen aus dem Leben geschieden" lesen wir in unserer Luthcrbiographie aus südsteirischer Feder. Wie er „aus dem Leben geschieden" ist, das wird unmittelbar vorher mit großem Fettdruck „angedeutet": Famulus Ruthfcld fand „Herrn Martin Luther neben seinem Bette hängend und elend erwürgt". „Namhafte katholische Geschichtsforscher, wie Paulus, Pastor, Michael 8. 4., geben in Rücksicht auf die Gemütszustände Luthers die Möglichkeit eines Selbstmordes zu, bestreiten aber, daß dieser erwiesen sei", wird weiter behauptet. Nun ist es aber gerade Paulus, der in zwei Schriften über Luthers Lebensende die völlige Haltlosigkeit der römischen Verleumdungen dargetan hat mit den Worten: 1. Auf Grund der protestantischen Quellen kann mit ge¬ nügender Sicherheit angenommen werden, daß Luther, wenn auch unerwartet schnell gestorben, doch nicht tot im Bette auf¬ gefunden wurde, sondern vielmehr nach einigen Gebeten am 18. Februar 1546 gegen 3 Uhr morgens in Gegenwart mehrerer Personen sanft und ruhig verschieden ist. 2. Auf Grund sowohl der protestantischen als der katho¬ lischen Quellen muß die Erzählung des angeblichen Kammer¬ dieners von Luthers Selbstmord als eine Fabel zurückgewiesen werden (Luthers Lebensende, S. 96). Dabei ist Paulus alles andere als ein wohlwollender Beurteiler Luthers, er setzt bei diesem gelegentlich satanische Einwirkung voraus („Kaspar Schatz- geyer", Freiburg 1898). Der katholische Theologe Merkle aber sagt: „Es ist ein gutes Zeichen, daß die katholische Wissenschaft, soweit sie diesen Namen verdient, einstimmig (!) Front machte gegen den Dilet¬ tantismus Majunkes, welcher mit mehr Eifer als Methode an der Fabel von Luthers Selbstmord festhiclt" (a. a. O. S. 75). 49 Das größte in deutscher Sprache erscheinende ultramontane Blatt, die „Kölnische Volkszeitung", wandte sich vor kurzem gegen die Geschichtslüge von Luthers Selbstmord und sagte: „Man verstößt gegen die geschichtliche Wahrheit, wenn man jetzt unter romanischen Volksangehörigen den alten Laden¬ hüter als neue Ware auszubieten sucht. Wir verlangen von den Protestanten Gerechtigkeit und guten Willen uns gegenüber; wir fordern wahrheitsgetreue Darstellung der Geschichte unserer Kirche, wir weisen Ungeschichtlichkcit, Unwissenschaftlichkeit, Ent¬ stellungen, Uebertreibungen zurück. Genau dasselbe dürfen Andersgläubige von uns Katholiken erwarten und sie sind im Recht, wenn sie sich gegen unhistorischc Verunglimpfungen wehren" (1906, Nr. 741). Ob denn aber nun wirklich — zunächst einmal unter- deutschen Bolksangehörigen — die Selbstmordlüge verschwinden wird? Wir fürchten, daß wir darauf noch einige Zeit zu warten haben. 1». Luther uncl üie fruchte seines Aerlres. Wenn wir der Schmähschrift Glauben schenken müßten, wäre steigende Verwilderung, Sittenlosigkeit, Vernachlässigung des reinen Wortes Gottes die Frucht von Luthers Auftreten gewesen. Eine Reihe von sehr scharfen Aussprüchen Luthers über die Sittenlosigkeit in Wittenberg und die geringen Wirkungen der evangelischen Predigt sollen das im einzelnen beweisen. Sogar von Wittenberg fortzsehen wollte Luther, um dieser Sitten¬ losigkeit zu entfliehen! Nach der ganzen Darstellung der Broschüre war nun Luther selbst der größte Trunkenbold und Ehebrecher, ein Aus¬ bund jeglicher Schlechtigkeit. In dieser ganzen 93 Seiten um¬ fassenden Schrift werden nur Scheußlichkeiten über Luther mit¬ geteilt und tatsächlich kein gutes Haar an ihm gelassen. Ein solches Scheusal müßte sich doch nun gerade sehr wohl gefühlt haben, wenn alle sittlichen Bande rissen und jeder seiner Lust ungezügelt frönen konnte. Merkt denn der Broschürenschreiber nicht, daß er seine eigene Darstellung ganz unhaltbar macht, indem er die erschüt¬ ternden Klagen Luthers über sittlichen Verfall abdruckt? Ein solcher Selbstwiderspruch ist nur möglich, wenn der Verfasser 4 50 im Grunde selber nicht glaubt, was er schreibt. Er hält es eben für seine Aufgabe, so viel Schlechtes, als er vermag, über Luther und sein Werk zusammcnzutragen. Ob das nun im einzelnen miteinander stimmt, bekümmert ihn wenig. „Der Herr wird seinen Diener loben", das genügt ihm. Wenn Luther nach dem Lose aller großen Propheten und Reformatoren zu allen Zeiten, während seines Lebens unendlich viel Undank, Unwürdigkcit, Stumpfheit und sittliche Ver¬ dorbenheit kennen lernte, wenn er bis zuletzt hiergegen mit aller Kraft ankämpfte, so beweist das eben, daß er nicht an sich, seinem Vorteil und seine Sinnenlust dachte, sondern ein Kämpfer für die Wahrheit geblieben ist, bis zuletzt. Wenn er vorüber¬ gehend sogar Wittenberg ganz aufgcben wollte, so sehen wir gerade darin den Unterschied zwischen dem Wahrhcitszeugen und den Hierarchen, wie es die Päpste waren und sind. Es ist nicht bekannt, daß je ein Papst wegen der zweifellos vorhan¬ denen sittlichen Verdorbenheit der Römer Rom hat verlassen wollen. Ist das ein Beweis für den sittlichen Ernst des Papstes? Wie stand es denn mit der Sittlichkeit der römisch-katho¬ lischen Bolksteile? Daß die Zustände in der römischen Kirche zu Luthers Zeit auch nicht sehr zufriedenstellende waren, wird bewiesen durch das bekannte Eingeständnis des Papstes Hadrian VI., das dieser dem Reichstag von Nürnberg 1523 überbringen ließ: „Wir wissen, daß bei diesem Heiligen Stuhle schon einige Jahre her viele abscheuliche Dinge sich vorgcfnndcn, Mißbräuche und Exzesse sich eingeschlichen und es also kein Wunder sei, wenn die Krankheit von dem Haupte auf die Glieder, von den Päpsten auf die untergeordneten Prälaten sich verbreitet habe." Be¬ zeichnenderweise war der Papst, der so sprach, der letzte Germane und Nichtitaliener auf dem Papstthron, seit nun bald 400 Jahren. Daß es auch im folgenden Menschenalter nicht viel besser wurde, beweist ein Wort des „Apostels Deutschlands", dem erfolgreichsten Gegenreformator, den die römische Kirche über¬ haupt auf deutschem Boden gehabt hat, Petrus Canisius. In einem vertraulichen Rechenschaftsbericht, den dieser Jesuit 1558 seinem Ordensgcneral Jakob Lainez erstattete, finden sich die Worte: „Was das äußere (sittliche) Leben betrifft, so schadet der Teufel uns viel, indem er Prediger und Priester von besserem Vorbild hat (gemeint sind die evangelischen Geistlichen), als 51 gemeinhin unsere katholischen beschaffen sind. Diese reden, aber handeln nicht darnach und zerstören mehr durch ihre Taten, als sie mit ihren Worten aufbauen, voll Trunksucht, Schamlosigkeit und Begierlichkeit" (Vom Jesuitenorden approbierte Ausgabe der „Briefe und Akten des Canisius", herausgegeben von Brauns- bcrger 1898, 2. Bd. S. 262). Mag ein Kirchenhistoriker in welchem Lager immer stehen, er wird unmöglich behaupten können, daß, abgesehen'etwa von einer kurzen Uebergangsperiode, die Sittlichkeit der Evangelischen durchschnittlich niedriger gestanden habe als die der Römischen. Damit wird aber das, was die Schmähschrift beweisen will, hinfällig. Allerdings tritt diese Schrift dann aus dem Rahmen ihres Gegenstandes heraus, indem sie eine vergleichende Statistik der Ehescheidungen in unserer Zeit bringt. Es ist hierbei an ein weibliches Lcsepublikum gedacht, das durch die Unauflöslichkeit der römisch-katholischen Ehe im römischen Lager festgehalten werden soll. Wir geben hierüber ein Zitat aus der „Statistischen Korre¬ spondenz": „Volkssitte, wirtschaftliche und soziale Verhältnisse und Dichtigkeit der Bevölkerung sind neben der Gesetzgebung und dem Religionsbekenntnis von großem Einfluß auf die Häufigkeit der Ehescheidungen, wie die Unterschiede der Scheidungs¬ ziffern von Wcstpreußen, Westfalen und Posen mit überwiegend römisch-katholischen Bewohnern im Bereich des preußischen Land¬ rechts, von Oldenburg, Mecklenburg, Hannover und Sachsen, Thüringen nebst den Hansestädten mit überwiegend protestantischer Bevölkerung im Gebiet des gemeinen Rechts, sowie Rheinland und Elsaß-Lothringen, deren Bewohner der Mehrzahl nach römisch-katholisch sind, im Gebiet des OoUs Haxoloon, erkennen lassen" (Bd. 38, 1898). Es wird dort nachgewiesen, daß überwiegend katholische Gebiete eine hohe Scheidungsziffer, ganz überwiegend Protestan¬ tische eine niedrige besitzen. Jeder Sachkenner aber wird das Wort des streng katho¬ lischen Grafen Coudenhove bestätigen müssen: „Die protestan¬ tischen Ehen sind um kein Haar schlechter als die katholischen" („Zur Charakteristik der Los von Rom-Bewegung", Wien 1906, S. 107). Wenn von römischer Seite die vergleichende Konfessions- 4* 52 statistik gegen den Protestantismus ausgebeutet wird, so könnten wir demgegenüber auf folgende Zahlen Hinweisen: Nach alter ultramontaner Behauptung sind die protestan¬ tischen Länder Herde des Selbstmordes. Aber das katholische Frankreich hat mehr Selbstmörder als das protestantische Deutsch¬ land, das katholische Belgien mehr als doppelt so viel wie das benachbarte protestantische Holland. Auf je eine Million Ein¬ wohner kamen nämlich in den Jahren 1894 bis 1898 in Deutschland 206, in Frankreich 246, in Holland 57, in Belgien 127 Selbstmorde. Im katholischen Frankreich steigen die Selbst¬ mordzahlen zudem von Jahr zu Jahr und haben sich in 50 Jahren verdreifacht, während sie in Deutschland jährlich sinken. Uebrigens haben die katholischen Metropolen Paris und Wien mit 2,93 v. H. mehr Selbstmorde als das protestantische Berlin mit 2,75 v. H.! Die Konfession ist bei den Selbstmorden überhaupt sicher nur ein Faktor von vielen. Hohe Selbstmord¬ zahlen beweisen nicht immer sittlichen Tiefstand, niedrige nicht immer das Gegenteil. Nicht nur heldenhafter Glaube und fromme Geduld, sondern auch Stumpfsinn und Gleichgültigkeit schützen oor Selbstmordgedanken. Ein sittlicher Gradmesser sind dagegen vielmehr die Mordtaten. Davon kommen nach Guyot: „Die soziale und politische Bilanz der römischen Kirche" z. B. im Protestantischen Deutschland auf 56 Millionen Einwohner 444, in den katholischen Staaten Frankreich und Spanien aber, die zusammen auch 56 Millionen Einwohner haben, 1348! Im katholischen Spanien allein entfallen auf eine Million Einwohner 45 Morde, im protestantischen England 3! Es ist aber überhaupt untunlich, auf bloße Statistiken hin die Sittlichkeit ganzer Länder und ganzer Konfessionen abschätzen zu wollen. Viel mehr beweisen schon von Sachkennern gemachte Beobachtungen an Ort und Stelle. Wir können es uns nicht versagen, in diesem Zusammenhang auf Beobachtungen hinzu¬ weisen, die ein hoher österreichischer Beamter, der kürzlich ver¬ storbene Graf Coudenhove, in seinem angeführten Buche wiedergibt, zumal dieser ein strenggläubiger Katholik und ent¬ schiedener Gegner des Protestantismus war. „Alle protestantischen Staaten haben alle katholischen weit¬ aus überflügelt. In Ungarn sind die Protestanten den Katho¬ liken weitaus überlegen. Ein Offizier hat mir einmal versichert, man erkenne in Ungarn bei den stellungspflichtigen Rekruten 53 die Religion sofort, wenn sie entkleidet sind. Der Ungewaschenste ist der Orthodoxe, dann komme der Katholik, am gewaschensten sei der Protestant. Ein anderer sagte mir, man erkenne auf Märschen in Deutschland sofort, ob ein Dorf protestantisch oder katholisch sei. Ist das Dorf rein, nett, in Ordnung, klappt alles, so ist es sicherlich protestantisch und das Hauptverdienst daran gebührt dem Pastor. In allen protestantischen Ländern sind die Pastoren ge¬ wöhnlich Muster guter Familienväter, überall blühen die Wissen- schäften, der Handel, das Gewerbe. Die Zahl der unehelichen Kinder ist geringer in protestantischen Ländern: kurz in allem, was man Kultur und Zivilisation nennt, ist der Protestantis¬ mus voraus. England, Nordamerika, Preußen einerseits — Spanien, Oesterreich, Bayern, Italien, Südamerika andererseits, welch ein Unterschied" (S. 77 und. 78). „Die römische Kirche kann wilde Barbaren durch ihre Milde (?) bekehren und bändigen, Völker regieren kann sie nicht und wird es nie können. Alle Länder, in denen sie allmächtig wurde, hat sie, ohne zu wollen und ohne zu wissen wie, zugrunde gerichtet. In Frankreich herrschte die Kirche seit Chlodwigs Zeit unumschränkt, der Schluß war die französische Revolution, deren Grundlehren die Umkehrung aller Grundsätze des Katholizismus vorstellen. So miserabel, schwach und resultatlos war ihr Einfluß auf die Nation. Bon den protestantischen Staaten als da sind: England, Schweden, Norwegen, die Schweiz, Holland, Dänemark, Nord¬ amerika und Deutschland haben die ersten sieben bereits die schmachvolle Unsitte des Duelles überwunden, Deutschland nur zum Teil. Es ist merkwürdig, daß von diesen acht protestan¬ tischen Ländern Deutschland dasjenige ist, in welchem der Katholi¬ zismus am mächtigsten vertreten ist. In den katholischen Staaten dagegen blüht noch immer diese Barbarei, und zwar fast in allen, trotz aller Bemühungen der römischen Kirche, es abzu¬ schaffen. Die Sklaverei war im protestantischen Nordamerika bereits im Jahre 1864 abgeschafft, im katholischen Brasilien erst 26 Jahre später, also im Jahre 1890, obwohl die Kirche die Sklaverei verbietet. Diese zwei Beispiele beweisen, wie un¬ fähig die römische Kirche ist, freie Völker zu regieren. Zur Zeit ihrer größten Macht blühte die Sklaverei in Südamerika 54 natürlich ganz gegen ihren Willen (!!). Der Kirchenstaat war einer der am schlechtesten regierten Staaten" (S. 18 st). Oder geben wir die Worte eines anderen Mannes wieder, der von den österreichischen Klerikalen, vielleicht nicht mit Unrecht, wie ein „Heiliger" und Patriarch verehrt wird, des ersten deutschen Redemptoristen Clemens Maria Hoffbauer: „Seitdem ich in Polen die religiösen Zustände der Katho¬ liken und in Deutschland die der Protestanten habe vergleichen können, ist es mir klar geworden, daß der Abfall von der katholischen Kirche eingetreten ist, weil die Deutschen das Be¬ dürfnis hatten und haben, fromm zu sein. Nicht durch Ketzer und Philosophen, sondern durch Menschen, die wirklich nach einer Religion für das Herz verlangten, ist die Reformation verbreitet und erhalten" (1816). Wenn man es wagt, den Protestanten von römischer Seite vorzuwerfen, daß sie sittlich verkommen seien, so möchten wir schließlich noch ein Zitat eines der namhaftesten neueren römisch- katholischen Theologen, des bis zu seinem Lebensende 1902 im Schoß der römischen Kirche verbliebenen Hofrats und Universitäts¬ professors Franz Xaver Kraus in Freiburg i. B. anführen, eines Mannes, der die Zustände in Rom genau kannte: „Kardinal Hohenlohe war seit mehr als fünfzig Jahren Beobachter der in Italien sich abspielenden Ereignisse. . . Nie¬ mals hat er ein Hehl daraus gemacht, daß seiner Ueberzeugung nach Leos XIII. erster Staatssekretär, Kardinal Franchi, als Opfer seiner Versöhnungs- und Reformpolitik gefallen und durch Gift aus dem Wege geräumt worden sei: wie er denn auch den tiefen Eindruck bezeugte, welchen dies Ereignis auf Papst Leo machte. Er selber hielt sich in dieser Hinsicht bedroht, nament¬ lich seit den Erfahrungen, welche er gelegentlich des Mordversuches gemacht, dem seine Verwandte, die Fürstin Katharina von Hohen- zollern, in Rom ausgesetzt war" („Essays", 2. Sammlung, Berlin 1901, S. 170). Der von Kraus genannte Kardinal Hohenlohe, bekanntlich ein Bruder des gleichnamigen Reichskanzlers, hat während des vatikanischen Konzils zu seinem Sekretär, Prof. I. Friedrich aus München, die Worte gesprochen: „Haben Sie je ein Wunder erlebt? Sehen Sie mich an! Fünfundzwanzig Jahre lebe ich nun an der römischen Kurie und ich bin noch nicht an allem 55 Christentum irre geworden." (Herr Prof. Friedrich bestätigte brieflich dem Schreiber dieses die Tatsächlichkeit dieses Ausspruchs.) Schreiber dieses hatte im Jahre 1903 Gelegenheit, den Leichenfeierlichkeiten des Papstes Leo XIII. beizuwohnen. All¬ gemein gerügt (z. B. von Kardinal Mathieu in