Valentin Tine Hribar 41 Valentin Tine Hribar Was ist die europäische Goldene Regel? Gibt es überhaupt ein »Europäisches Ethos« (Trawny: 2007) und damit auch seine Goldene Regel? Die europäische Goldene Regel lässt sich auf zwei Weisen interpretieren: Erstens in der Bedeu- tung der europäischen Auffassung der Goldenen Regel als einer universalen Regel, als »einer sittlichen Grundformel der Menschheit« (Reiner 1948), und zweitens in der Bedeutung einer Grundregel des europäischen Ethos, einer Re- gel in der Rolle einer ausschließlich europäischen Goldenen Regel. Im letztge- nannten Fall handelt es sich nicht nur um eine spezifische europäische Formu- lierung der Goldenen Regel, um eine unter den besonderen Formulierungen dieser allgemeinen, »kulturübergreifenden ethischen Regel« (Küng 2007: 2), sondern vielmehr um ihre Dekonstruktion: für den Abbau der bestehenden Goldenen Regel und ihren Austausch und/oder Ersatz durch eine neue Regel in der Rolle der Goldenen Regel. Ein solcher Vorsatz ist uns wohl nicht unbekannt. Er ist nicht von gestern, sondern schon über zweihundert Jahre alt und wird wie folgt begründet: »Man denke ja nicht, dass hier das triviale: quod tibi non vis fieri etc. zur Richt- schnur oder Prinzip dienen könne. Denn es ist, obzwar mit verschiedenen Einschränkungen, nur aus jenem abgeleitet; es kann kein allgemeines Gesetz sein, denn es enthält nicht den Grund der Pflichten gegen sich selbst, nicht der Liebespflichten gegen andere (denn mancher würde es gerne eingehen, dass andere ihm nicht wohl tun sollen, wenn er es nur überhoben sein dürfte, ihnen Wohltat zu erzeigen), endlich nicht der schuldigen Pflichten gegeneinander; denn der Verbrecher würde aus diesem Grunde gegen seine strafenden Richter DIE EUROPÄISCHE GOLDENE REGEL Phainomena xviii/68-69 Valentin Tine Hribar 42 argumentieren u.s.w.« (Kant 1968: 62) Kant spricht hier freilich von der Gol- denen Regel, und sie wird dabei als etwas Triviales betrachtet, als etwas, was auf einer vorphilosophischen Ebene vorgefunden wird. Die philosophische Ebene ist die Ebene einer neuen, philosophischen Gol- denen Regel, eines Grundprinzips der reinen praktischen Vernunft, d. h. des kategorischen Imperativs: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde«. Die triviale Regel ist nach Kant die »sogenannte« Goldene Regel, das heißt die sprichwört- liche Regel: »Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu«. Von ihr wird immer wieder behauptet, sie gebe in populärer Form das wieder, was Kant mit dem Kategorischen Imperativ ausdrücken wollte. Aber Kant hat der Goldenen Regel ein abfälliges Urteil gewidmet und dieses Urteil Kants über die Goldene Regel, zusammen mit der Ersetzung derselben durch den Kategorischen Imperativ, dürfte die Ursache dafür sein, dass die Philoso- phie seit Kant, die Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert, über diese Regel weithin fast völlig verstummt ist. Die Rehabilitierung der Goldenen Regel Nach zweihundert Jahren kam es zu einer Wende und einige Philosophen haben damit begonnen, die Goldene Regel erneut als die einzige richtige Gol- dene Regel hervorzuheben. Die Goldene Regel sei eine Grundregel nicht nur vom historischen Gesichtspunkt aus betrachtet, nämlich als die fundamentale Regel »des Achsenethos« (Armstrong 2006: 11), sondern auch vom geographi- schen und insbesondere vom philosophischen Gesichtspunkt her. Inwieweit unterscheidet sich nun diese Goldene Regel vom Kategorischen Imperativ und stellt sie diesem gegenüber eventuell »eine überlegene Alternative« (Brülisauer 1980: 325) dar? Die Goldene Regel und der Kategorische Imperativ unterscheiden sich einmal formal durch die tragende Leitidee: für die Goldene Regel ist es die der Gegensei- tigkeit, für den Kategorischen Imperativ die der Verallgemeinerung. Die Goldene Regel nötigt einen, sich einem Gegenüber, einem Anderen zuzuwenden; der Ka- tegorische Imperativ nötigt einen statt dessen zur Unterordnung unter ein Ge- setz. Der gewichtigere Unterschied liegt jedoch darin, dass die Goldne Regel, so- bald sie auf den Einzelfall angewandt wird, tatsächlich eine inhaltlich bestimmte Verhaltensorientierung gibt, der Kategorische Imperativ dagegen nicht. Der kategorische Imperativ ist der moralische Maßstab dafür, was jemand wollen kann, jedenfalls eines nicht sein dürfte, nämlich seine Neigungen und Interessen, denn es handelt sich bei ihnen um empirische und daher zufälli- Valentin Tine Hribar 43 ge Beweggründe, die ausnahmslos auf dem Prinzip der Selbstliebe beruhen; im Gegensatz dazu wird in der Goldenen Regel die Moral durch eben diese Selbstliebe begründet, nur dass die Überlegung der Gegenseitigkeit, des ima- ginativen Rollenaustausches, hinzutritt. Nach grundsätzlichen Erwägungen Kants dürfen Neigungen und Interessen bei der moralischen Beurteilung ei- ner Handlung deshalb keine Rolle spielen, weil die moralischen Normen nicht bloß für Menschen gelten sollen, sondern »für alle vernünftigen Wesen«; dass mithin der Grund der Verbindlichkeit »hier nicht in der Natur des Menschen, oder den Umständen in der Welt, darin er gesetzt ist, gesucht werden müsse, sondern a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft« (Kant 1968, 51; BA 52). Die Moralphilosophie beruht nach Kant »gänzlich auf ihrem reinen Teil, und auf den Menschen angewandt, entlehnt sie nicht das mindeste von der Kenntnis desselben (Anthropologie)«. Nach dem Kategorischen Impera- tiv beurteilt, sind die Handlungen dann verwerflich, wenn ihre Maxime nicht ohne Widerspruch verallgemeinert werden kann – und nicht etwa deshalb, weil sie Anderen möglicherweise Schaden zufügen. Der Bezug zum Anderen wird nur als ein Mittel zur Erkundung der eigenen Pflicht im Sinne der eigenen moralischen Reinheit relevant. Der Vorzug der Goldenen Regel gegenüber dem Kategorischen Imperativ ist deshalb darin zu sehen, dass die Goldene Regel »interpersonal« gültig ist, wobei der Kategori- sche Imperativ dagegen bloß eine »unipersonale« Gültigkeit hat. »Der Gegen- stand des moralischen Respekts ist gemäss dem Kategorischen Imperativ nicht der Nächste, sondern das Gesetz«. (Brülisauer 1980: 344) Selbst in der modi- fizierten Formulierung desselben, worin auf den Anderen als einen »Zweck« Bezug genommen wird, ist das Verhältnis zum Nächsten nur negativ gefasst: mir ist geboten, ihn nicht nur als ein Mittel zu gebrauchen. Dem christlichen Gebot »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«, das Kant in seinem Kategori- schen Imperativ wiederzuerkennen glaubte, steht die Goldene Regel in Wirk- lichkeit also näher. Gemeint ist die Liebe im Sinne einer Willenshaltung, als Achtung vor dem anderen und als Fürsorge für ihn, und zwar eben für den Nächsten – nicht für das Gesetz. Deswegen wird von Klaus Held zu Recht hervorgehoben, dass der Katego- rische Imperativ keine Goldene Regel des Europäischen Ethos, sondern viel- mehr seine Ausnahme ist. Wenn ich einer Neigung folge, lasse ich es zu, von Kräften außerhalb meines eigenen Willens bestimmt zu werden und unterliege so einer Fremdbestim- mung. Befolge ich hingegen unbedingt geltende Imperative um ihrer selbst willen, so wird mir damit meine Selbstbestimmung, die Freiheit meines Wil- Phainomena xviii/68-69 Valentin Tine Hribar 44 lens bewusst. In diesem Sinne sind meine Handlungen gut, wenn in ihren Mo- tivationen die Erfahrung meiner Freiheit uneingeschränkt zum Zuge kommt. Dann können aber meine Handlungen nicht mehr deshalb gut sein, weil sie aus den Tugenden als guten Gewohnheiten hervorgehen. Denn es kann zwar ein freier Entschluss sein, der bei mir zur Entstehung einer guten Gewohnheit führt, aber wenn sie mir erst einmal »in Fleisch und Blut übergegangen« ist, ist sie gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht mehr von meiner Freiheit abhängt. Eben dies verleiht den guten Gewohnheiten des Ethos die Selbstver- ständlichkeit, auf der die intersubjektive Verlässlichkeit beruht, durch die das Ethos das für den Menschen Gute ist. Diese Qualifikation als gut aber muss das Ethos für die Moralphilosophie, in der alles auf das uneingeschränkte Bewusstsein der Freiheit ankommt, ver- lieren, weil der Gewohnheitscharakter der Tugenden eine Einschränkung der Freiheit bedeutet. Das verurteilt die Tugenden in moralphilosophischer Sicht letztlich zur Bedeutungslosigkeit. »Die Faszination der Freiheit ist einer der Gründe, die erklären, warum in der Neuzeit die Moral allmählich das Ethos überlagert hat«. (Held 2007: 14) Ein anderer Grund ist der Vorzug, den die gegenständlich vorgestellten Vorschriften der Moral in den Augen der Moral- philosophie aufweisen. Ein gesolltes Gutes lässt sich immer als ein Imperativ formulieren, und bei einem »Gesetz« solcher Art ist grundsätzlich der Ver- such denkbar, seine Geltung als universal berechtigt zu erweisen. In diesem Sinne gehört die Normenbegründung zur Moralphilosophie. Bei einer un- gegenständlich gelebten Gewohnheit besteht diese Möglichkeit nicht. Dieser Zug erklärt eine Überzeugung der Moralphilosophen, die glauben, ihr Denken entspreche den Anforderungen unseres Zeitalters, das im Zeichen des fort- schreitenden Zusammenwachsens aller Kulturen steht. Jedes Ethos ist als Geflecht von Gewohnheiten ein geschichtlich bedingtes Produkt einer bestimmten Kultur. Welche Handlungen als gut angesehen wer- den, hängt von der jeweiligen Gesellschaft ab. Für eine Tugend-Ethik scheint es unvermeidlich, alle in den verschiedenen Kulturen als gut geltenden Gewohn- heiten als legitim anzuerkennen, so dass die Philosophie in einen ethischen Re- lativismus gerät. Davor scheint die Moralphilosophie durch den gegenständli- chen Charakter der von ihr untersuchten Normen geschützt zu werden. Apel und Habermas, behauptet Held, bringen den Geist der Moralphilosophie zum Ausdruck, wenn sie von der »konventionellen Moral« sprechen und damit das Ethos meinen; auf die Dauer wird und muss nach ihrer Überzeugung an die Stelle des kulturell variablen Ethos eine alle Kulturen übergreifende »postkon- ventionelle Moral« treten, die wegen ihrer Unabhängigkeit von allen in den Valentin Tine Hribar 45 Traditionskulturen vorgefundenen ethischen Konventionen eine universale, nicht relativierbare Geltung hat. Diese Möglichkeit der Rechtfertigung eines universalen Geltungsanspruchs scheint zusammen mit dem ausgeprägten Freiheitsbewusstsein der modernen »Moral« eine Stärke zu verleihen, die das Ethos zu seinem Verschwinden in der künftigen Menschheitsgeschichte verurteilt. Aber es deutet einiges darauf hin, dass die Stärke der Moral damit überschätzt wird. Wir können die erste Bekannt- schaft mit dem gesollten Guten nicht auf solche Weise machen, dass wir es als be- wiesene Vorschrift wie einen Lehrsatz lernen. Dann bleibt aber nur die Möglich- keit, dass uns die Maßstäbe unseres Handelns zunächst dadurch bekannt werden, dass wir mit guten Gewohnheiten vertraut sind, die uns selbstverständlich wur- den, indem wir sie, angeleitet durch Erziehung, als Tugenden habitualisierten. Hierin zeichnet sich bereits eine Priorität des Ethos vor der Moral ab. Aus der Perspektive des Ethos stellt sich die Isolation des Menschen als Individuum, die mit dem Misstrauen gegen die Anderen einhergeht1, als eine Verleugnung der vorgegebenen intersubjektiven Verfassung unserer Existenz dar. Dieser Verfassung zufolge ist die Normalität der menschlichen Lebenswelt durch die Gemeinsamkeit des Zusammenhandelns bestimmt. Wenn jemand diese Gemeinsamkeit durch sein Misstrauen untergräbt, erscheint dies des- halb den Anderen als eine Ausnahme von jener Normalität, als eine Möglich- keit am Rande der Gemeinsamkeit des Zusammenhandelns: als Grenzfall und nicht als Normalfall. Der Individualismus der Moral erweist sich so als Grenz- fall der intersubjektiven ethischen Normalität. Die Moral in ihrer eigensten und höchsten Möglichkeit orientiert sich am Grenzfall und nicht am norma- len lebensweltlichen Zusammenhandeln. Dass die Anderen darauf eher mit Tadel als mit Lob reagieren, treibt den Misstrauischen in eine Isolation.2 1 »Warum ist eigentlich der gute Wille gut, was wird durch ihn gewährleistet? Es kommt nur eine Antwort in Betracht, die Kant auch selbst gegeben hat: Der gute Wille gewähr- leistet, dass wir beim Zusammenhandeln die Andern nicht als bloße Mittel zur Verwirk- lichung unserer neigungsbedingten Wünsche missbrauchen und so die Personwürde, die ihnen durch die Idee des Ethos als des genuin menschlichen Aufenthaltsortes stand, kehrt hier mit einer eigenartigen Färbung wieder: Wir bedürfen der Verlässlichkeit der Ande- ren primär deswegen, weil wir ihnen misstrauen; denn sie könnten uns für ihre Wünsche instrumentalisieren«. (Held 2007, 15) 2 »Es könne auch sein, dass jemand sich durch ein Handeln isoliert, das die Anderen am Ende als Lobes wert, vielleicht sogar als höchster Ehre wert betrachten. Um ein klassisches Beispiel zu wählen: Wer in einer gewalttätigen Diktatur unter dem Druck von polizeili- cher Verfolgung oder gar von Folter das Versteck seiner Freunde nicht verrät, kann damit in eine extreme Einsamkeit geraten und hat doch Anspruch auf die moralische Anerken- nung der anständig Gebliebenen, weil er – wie wir mit einem bezeichnenderweise aus der Stoa stammenden Begriff sagen – seinem Gewissen folgt«. (Held 2007, 16) Phainomena xviii/68-69 Valentin Tine Hribar 46 Die phänomenologische Frage lautet, welches Bewusstsein – das ethische oder das moralische – die originäre, ursprüngliche Erfahrung vom Guten er- hält. Wenn die neuzeitliche Moralphilosophie erklärt, das Ethos stehe gegen- über der Moral auf verlorenem Posten, ereignet sich damit das Erstaunliche, dass der Grenzfall zum Normalfall wird, indem er zum Muster der Erfahrung, des Guten überhaupt aufsteigt. Die rigorosen Moralphilosophen sind deshalb überzeugt, dass das aus dem vorneuzeitlichen Europa stammende Ethos der Tugenden dazu verurteilt sei, zugunsten der »Moral« und ihrer trankskultu- rellen Normen zu verschwinden. Und weil damit zu rechnen sei, dass in der künftigen Welt auf lange Sicht alle Unterschiede zwischen den Kulturen einge- ebnet werden, sei nur noch eines zu verlangen und vielleicht zu erwarten: die Befolgung schlechthin allgemeiner, für alle Kulturen gleichermaßen verbind- licher moralischer Normen. Aber ist diese Auffassung haltbar? Alle Weltreligionen bzw. Weltkulturen haben die Goldene Regel als ihre ethische Grundregel konstatiert und formu- liert. Das lässt die Konsequenz zu, dass die ethische Erfahrung vom Guten, von der Goldenen Regel, das originäre Bewusstsein darstellt. Das Achsenethos, das Europäische Ethos und die universale Gewalt Angesichts dieser Existenz der Goldenen Regel in allen Weltreligionen, in allen Zivilisationen in der Welt3, wird diese einseitige Einstellung einiger oder doch wohl immerhin der meisten europäischen Philosophen fraglich, und zwar noch besonders im Zusammenhang mit der Gewalt bzw. durch den Bezug der Philosophie selbst auf die Gewalt seit Platon. »Die Befreiung zur Philosophie hat«, sagt Peter Trawny (2007, 33), »als solche etwas Gewaltsames (Politeia, 515d)«. Sie besteht, das Höhlengleichnis sei in dieser Hinsicht ein beredtes Zeugnis, in einem Herausreißen der Einzelnen aus den dem Leben folgenden Gewohnheiten. Demnach ist die von der Philosophie verlangte Selbstunterscheidung des Lebens zu Anfang mit einem spezifischen Zwang und Schmerz verbunden. Die Philosophie ohne Zwang ist womöglich »Wissenschaft«, aber keine Philo- 3 »Jede Tradition entwickelte ihre eigene Goldene Regel: Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu. Nach der festen Ansicht der Achsenweisen war Reli- gion der Respekt vor den geheiligten Rechten des Anderen – und nicht etwa orthodoxer Glaube. Wenn die Menschen gegenüber ihren Mitmenschen Freundlichkeit und Großzü- gigkeit bewiesen, konnten sie damit die Welt retten. Wir müssen heute dieses Achsenethos wieder entdecken«. (Armstrong 2006: 11) Valentin Tine Hribar 47 sophie. Im Falle der Verrechtlichung ethischer Prinzipien tritt noch eine ganz andere Gewalt hinzu; jetzt beginnt die Polis selbst, Gewalt über sich auszu- üben. Das tut sie mit objektiven Gesetzen und Institutionen. Gute Gesetze sind dabei solche, die sich eindeutig auf die ethischen Prinzipien zurückführen las- sen und darum sich als deren konsequente Realisierung erweisen. In diesem Sinne lässt sich auch von einer guten Gewalt sprechen. Abzulehnen ist nur eine solche politische Gewalt, deren Herleitung einer Verrechtlichung unethischer Behauptungen eines ideologisch oder religiös verblendeten Führers bzw. einer solchen Führerclique entspricht. Dass grundsätzlich jede politische Gewalt abzulehnen wäre, geht indes an dem natürlich gespannten Verhältnis zwischen dem Ethos und der Polis, mit- hin an dem Charakter von Recht und Gesetz vorbei. »Das Europäische Ethos ist in seiner ihm eigenen Reflexivität in sich selbst gewaltsam, und die Ab- schaffung der Gewalt wäre eine solche des Ethos selbst«. Insofern das Euro- päische Ethos von sich her einen universalen Anspruch auf seine Verrecht- lichung erhebt, sich ihn folglich nicht einfach anmaßt, entsteht das Problem einer universalen Gewalt. »Diese Gewalt lässt sich nicht als schlecht oder gar als böse bezeichnen, folgt sie doch dem Anspruch klarer ethischer Prinzipien. Zu erwarten, dass sich diese Gewalt gleichsam gewaltlos durchsetzen könnte, ist kein Traum, sondern eine bloße Träumerei«. (Trawny 2007: 34) Gewohn- heiten, die das Europäische Ethos in seiner Verrechtlichung als unethisch und d. h. als verbrecherisch betrachtet, können nicht geduldet werden. Daraus ergibt sich unvermeidbar ein universaler Konflikt, der erst dort be- endet wäre, wo das Europäische Ethos als Universales Ethos ein universales Recht geltend machen könnte. Denn der Universalismus des Europäischen Ethos betrifft lediglich solche »Gewohnheiten«, die, seien sie europäisch oder nicht-europäisch, als unethisch, mithin als verbrecherisch bezeichnet werden müssen. In dieser Hinsicht käme es einer Selbstaufgabe gleich, würde das Eu- ropäische Ethos auf die gute Gewalt, die es von Anfang an über sich selbst ausübt, Verzicht leisten. Aber dieser Universalismus, der seine eigene Partikularität verkennt, ist, wie die Geschichte lehrt, im hohen Masse gewaltanfällig. Diskussionen, die solchen Überlegungen »Eurozentrismus« und »Partikularität« vorwerfen, ge- hen nun nach Trawny am Problem vorbei. Trotzdem erscheint seine These problematisch, und zwar zusammen mit der These, dass die hypostasierte uni- versale Bedeutung des Europäischen Ethos kulturelle Differenzen keineswegs verhindert bzw. dass gerade das Europäischen Ethos eine Achtung vor dem Dasein des Anderen kennt, sich bereit erklärt, von Anderen zu lernen. Denn Phainomena xviii/68-69 Valentin Tine Hribar 48 die Grundwerte der Menschheit, die als Urwerte des Weltethos bezeichnet werden, sind nicht universal, weil sie ihrem Ursprung nach europäisch (z. B. über Altes und Neues Testament) sind, sondern sie sind vielmehr universal, insofern auf ihnen alle Weltreligionen/Weltkulturen an und für sich beruhen bzw. von ihnen herrühren. Der ethische Bruchstrich Die Goldene Regel ist nicht universal, weil sie als solche europäisch ist, son- dern weil sie auch europäisch ist; im Rückspiegel betrachtet ist die europäische Ethik universal, weil und insofern auch sie die Goldene Regel für ihr ethisches Grundprinzip hält. Bei der ursprünglichen ethischen Universalität handelt es sich also nicht um eine weltweite Ausbreitung des Europäischen Ethos, son- dern um einen gemeinsamen, aus weltweiten Ethea zusammengefassten ethi- schen Nenner. Das Weltethos ist universal, weil es Ethos aller Weltteile ist. Es ist der minimale gemeinsame ethische Nenner sowohl des europäischen als auch des chinesischen, des indischen und des amerikanischen Ethos – sowohl des Hinduismus als auch des Buddhismus, Taoismus, Konfuzianismus, Judais- mus und Christentums (Orthodoxie, Katholizismus und Protestantismus). Das heißt aber, dass das Europäische Ethos und das Weltethos nicht ein und dasselbe sind. Wir sind Zeuge von einem gewissen Bruch. Zwischen dem minimalen gemeinsamen ethischen Nenner als Weltethos und dem Europä- ischen Ethos als solchem und im ganzen gibt es einen ethischen Bruchstrich, und zwar ganz so wie zwischen dem Ethos aller anderen Weltkulturen und dem Weltethos. Veranschaulichen wir das durch das Verhältnis des Menschen zu Toten: Alle Kulturen haben im Grunde ein respektvolles Verhältnis zu Toten; und sie alle kennen nicht nur den Respekt gegenüber Toten, sondern auch den letzten Abschied, die rituelle Verabschiedung vom Verstorbenen. Diese rituelle Verab- schiedung von Verstorbenen bildet also den gemeinsamen Nenner aller Ethea in der Welt und ist somit eine der Urregeln, der ursprünglichen und allgemei- nen Regeln des Weltethos. Verschiedene Kulturen wenden dabei verschiedene Arten der Verabschiedung von Verstorbenen an, die von der Begrabung und Feuerbestattung bis zu der Flussbestattung und rituellen Aussetzung der Toten etwa den Vögeln reichen. Keine von diesen oberhalb des ethischen Bruchstrichs vorkommenden Formen darf universalisiert werden: sie darf nicht unterhalb des ethischen Bruchstrichs gestellt und als ein gemeinsamer Nenner des Welt- ethos allen anderen aufgedrängt werden. Der universale, gemeinsame Nenner des Weltethos ist nicht diese oder jene Form der rituellen Verabschiedung, der Valentin Tine Hribar 49 Bestattung, zum Beispiel, das Begräbnis, die Begrabung als Beerdigung, son- dern die rituelle Verabschiedung von Verstorbenen als solche: der Weiheakt, d. h. die Heiligung der Toten. Dieser Akt des Weihens als solcher, die Heiligung der Toten, und nicht etwa die Begräbnisfeierlichkeit als eine der Formen der Heiligung der Toten, ist also der Grundwert des Weltethos. Das Gesetz der Toten als »das Grundgesetz des Lebenden, das was im Ge- setz des Seins gefügt und verfügt ist« (Heidegger 1984, 126), ist das erste Ge- setz des Seins des Menschen, des Menschen als Menschen; das zweite Gesetz ist das Gesetz der Heiligkeit des Lebens (»Du sollst nicht töten«.); das dritte Gesetz ist das Gesetz der Würde des Menschen. Diese in allen Weltreligionen/ Weltkulturen geltenden Gesetze des Seins des Menschen als Menschen bilden drei Urwerte der Menschlichkeit des Menschen, d. h. drei inhaltlich irredu- zible Normen des Weltethos. Die Goldene Regel verbindet sie als Form des Weltethos und kann zugleich ohne sie nicht bestehen, denn eine Form ohne Inhalt der Gesetze des Seins des Menschen ist nichts anderes als eine Struktur ohne Orientierungselemente. Jacques Lacan hat in seinem Aufsatz Kant mit Sade gezeigt, dass man sich zur (Selbst)Quälerei und dem (Selbst)Mord nur auf der Grundlage des Kategorischen Imperativs – ohne Achtung der Heilig- keit des Lebens, die Kant selbstverständlich findet, und ohne dessen Ergän- zung betreffend die Würde des Menschen als Person – autonom entschließen kann.4 Und ohne Grundorientierung, die durch die drei inhaltlichen Elemente des Weltethos geboten wird, könnte man sich ohnehin auch zum kollektiven Selbstmord der Menschheit oder zur Zerstörung aller Lebewesen auf der Erde entschließen. Das Weltethos mit der Goldenen Regel als seiner Form und mit den Ur- werten als seinen inhaltlichen Elementen ist kein Resultat eines interkulturel- len Dialogs, sondern dessen Voraussetzung. Aus der Sicht des Weltethos han- delt es sich um keine Setzung oder Aufdrängung des gemeinsamen ethischen 4 »Die Philosophie im Boudoir erscheint acht Jahre nach der Kritik der praktischen Vernunft. Wie man sehen wird, verträgt sie sich nicht nur mit ihr, sondern ergänzt sie vielmehr, ja sie spricht, wie wir schließlich nachweisen werden, die Wahrheit der Kritik aus […] Der Nerv der Streitschrift, wenn man so sagen darf, tritt in der Maxime zutage, die dem Genie- ßen seine Regel aufstellt, ungewöhnlich, weil ihre Rechtsetzung auf Kantische Weise er- folgt, nämlich in der Erhebung zur allgemeinen Regel. Sprechen wir diese Maxime aus: Ich habe Recht, deinen Körper zu genießen, kann ein jeder mir sagen, und ich werde von diesem Recht Gebrauch machen, ohne dass irgendeine Schranke mich daran hindern könnte, diesem diesen Lustzoll nach Belieben zu erpressen […] Wir wollen daher, wie man wohl sieht, nicht danach fragen, ob es vonnöten ist oder genügt, dass eine Gesellschaft ein Recht auf Ge- nießen sanktioniert, indem sie jedermann erlaubt, sich darauf zu berufen, soll damit ihre Maxime zum Imperativ des moralischen Gesetzes erhoben werden«. (Lacan 1975: 138) Phainomena xviii/68-69 Valentin Tine Hribar 50 Nenners, »um die Weltzivilisation zu zivilisieren« (Beck 2007, 383), sondern vielmehr um seine Hervorhebung: um ein reflektiertes Vorfinden von Etwas, was bereits besteht.5 Aus dem globalen interkulturellen Dialog ergibt sich eine globale Ethik, wobei das Weltethos, dessen Strukturregel die Goldene Regel ist, die Grundlage und damit auch schon den Kern bildet, um den herum sich die globale Ethik als ein Komplex ethischer Normen herausbildet.6 Erlauben Sie mir schon wieder eine Veranschaulichung: Die Heiligkeit des Lebens ist ein Wert des Weltethos, sein gemeinsamer Nenner. Die Ausdrük- ke der Heiligkeit des Lebens, wie etwa Abschaffung der Todesstrafe, dieser rechtlich verankerte Bestandteil der europäischen Zivilreligion, die wir ober- halb (oberhalb, weil auch schon der Sachverhalt, dass man keine unschuldigen Menschen tötet, wie es im Katechismus der Katholischen Kirche kodifiziert wird, Ausdruck der Heiligkeit des Lebens ist) des ethischen Bruchstrichs vor- 5 »Was wir brauchen, sind Religionen, die jenseits der von ihnen verwalteten Heils- güter und Dogmen das undogmatische Wissen um eine allgemeine, verborgene ausgebildet haben und sich selbst auf diesen Begriff hin zu re- lativieren verstehen. Diese Weisheit gilt es in allen Religionen zu entdecken und zu ak- tivieren. In dieser Form könnte uns das Prinzip der religio duplex vor dem Kampf der Kulturen bewähren«. (Assmann 2007: 353) 6 »Es gibt verschiedene Konzepte des Weltethos, so dass eine Auflistung, ein Katalog seiner Werte noch nicht zur Gänze vorliegt. Es ist zudem eine solche Auflistung auch schwie- rig zu erstellen, denn es geht dabei um die unterschiedlichen Theismen und auch unter- schiedlichen Atheismen gemeinsamer Werte. Es ist nämlich nicht jede Gottlosigkeit auch schon Glaubenslosigkeit. Dem ursprünglichen Buddhismus folgend ist der Zen-Buddhis- mus atheistisch, ohne Götter, und gilt dennoch als Religion. Der europäische Atheismus des Freidenkertums lehnt den Glauben an Gott ab, glaubt aber an eine absolute Gültigkeit der Urwerte des Weltethos und steht somit im Gegensatz zum kommunistischen kämp- ferischen Atheismus, der auf keinen dieser Werte Rücksicht nahm. Ich selber sehe den Kern des Weltethos, den kleinsten gemeinsamen ethischen Nenner aller Menschen, dieses Minimum des Minimums, in folgenden vier Urwerten: Heiligkeit des Lebens, Heiligung der Toten, Menschenwürde und Goldene Regel. Da in zwei von den bezeichneten Urwer- ten des Weltethos das Heilige unmittelbar vorkommt, handelt es sich beim dargestell- ten Ethos nicht nur um eine Ethik im gewöhnlichen Sinne, sondern auch – wenn nicht auch vor allem – um Religiosität, jedoch nicht um die klerikale Religiosität im gängigen, konfessionellen oder sogar theistischen Sinne. Da das Weltethos mit seiner ursprüngli- chen religiösen Dimension sowohl die Theisten im gängigen als auch die Atheisten im be- zeichneten Sinne durchdringt, lassen sich nicht alle Gebote/Verbote der Weltreligionen in seinen Rahmen einordnen. Der Weltethos-Katalog kann z. B. die ersten drei Gebote nicht berücksichtigen, denn diese schließen diejenigen aus, die nicht an (einen) Gott glauben; diese drei Gebote machen sich selbst für einen gemeinsamer Nenner aller Menschen un- geeignet. Sie gehen nicht von dem Menschen als Menschen, sondern von den Menschen eines bestimmten Glaubensbekenntnisses aus. Sie bilden somit die ethische Grundlage einer biblischen Superkultur, nicht aber auch einer möglichen globalen Weltkultur (im Sinne Huntingtons)«. (Hribar 2007: 141) Valentin Tine Hribar 51 finden, können sich durch den kulturellen Dialog, nämlich eben aufgrund der Heiligkeit des Lebens als eines Urwertes des Weltethos, zu einer Norm der globalen Ethik umwandeln – gemäß der Goldenen Regel als Form, Rahmen des Weltethos. In dieser Hinsicht gibt es also keine europäische Goldene Regel, die nur und allein europäisch wäre. Die spezifisch europäische Goldene Regel wäre die Regel der konsequenten Einhaltung der universalen Goldenen Regel und ihrer hypothetischen bzw. potentiellen ethischen Gegenseitigkeit. Die typische eu- ropäische Goldene Regel als Regel eines Europas der Zukunft wäre also iden- tisch mit der Regel der goldenen Mitte, der Mitte, die – dem »römischen Weg« (Brague: 1992) folgend – im Namen der Angemessenheit Fundamentalismen und ihre Extremität, Einseitigkeit bzw. Parteilichkeit konsequent vermeidet. Die europäische Goldene Regel ist auf der Grundlage der Goldenen Regel als einer Regel des Weltethos Regel der Toleranz, der Duldung des Anderen und Andersheit jenseits des ökonomischen Neoliberalismus und religiösen Neo- dogmatismus. Die Welt ist auf dem Weg, glaube ich, zu einer Kooperationsgemeinschaft, die allen ihren Mitgliedern Mitwirkungspflichten auferlegt: Sowohl hinsicht- lich der Tiefe als auch hinsichtlich der Breite. Das Weltethos als Einheit der formalen und materialen (qualitativ inhaltlichen) Sittlichkeit7 ist die Grund- lage sowohl der holistischen als auch der globalen Ethik, d. h. der kulturüber- greifende, ja, interkulturelle Kern einer im Werden begriffenen global-holisti- schen Ethik: einer Ethik der Verantwortung für unsere gemeinsame natürliche Substanz (Ökologie, Genetik) und unsere gemeinsame kulturelle Substanz (Weltethos). Übersetzt von Alfred Leskovec 7 »Auch gehen derartige Gemeinsamkeiten über das Prinzip der Menschlichkeit und die Goldene Regel der Gegenseitigkeit hinaus. Vier konkrete ethische Regeln wurden im budd- histischen Kanon von Patanjali, dem Begründer der Yoga, in der chinesischen Tradition und natürlich auch in den drei prophetischen Religionen festgelegt: töte nicht, stiehl nicht, lege kein falsches Zeugnis ab und missbrauche die Sexualität nicht.« (Küng 2007: 2) Phainomena xviii/68-69 Valentin Tine Hribar 52 LITERATUR Armstrong, Karen (2006): Die Achsenzeit – Vom Ursprung der Weltreligionen, München: Siedler. Assmann, Jan (2007a): »Religio duplex«; in: Religionen der Welt – Ein Alma- nach zur Eröffnung des Verlags der Weltreligionen, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Beck, Ulrich (2007): »Weltreligionen, Weltkonflikte«, in: Religionen der Welt – Ein Almanach zur Eröffnung des Verlags der Weltreligionen, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Brülisauer, Bruno (1980): »Die Goldene Regel«, Kant-Studien 71(1980), 325– 347. Held, Klaus (2007): »Zur phänomenologischen Rehabilitierung des Ethos, Phainomena 60–61 (2007), 7–22. Hribar, Tine (2007): »Weltethos und die europäische Zivilreligion«, Phaino- mena 60–61 (2007), 133–146. Heidegger, Martin (1984): Hölderlins Hymne »Der Ister«, GA 53, Frankfurt am Main: Klostermann. Kant, Immanuel (1968): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Kant Werke VII, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Küng, Hans (1996): Projekt Weltethos, München: Piper. Küng, Hans (2007): The Globalization of Ethics (http://www.projekt-syndica- te.org/commentary/kung;). Lacan, Jacques (1975): »Kant mit Sade«, in: Schriften II, Freiburg im Breisgau: Walter. Rainer, Hans (1948): »Die Goldene Regel – Die Bedeutung einer Sittlichen Grundformel der Menschheit«, Zeitschrift für Philosophische Forschung 3 (1948), 74–105. Trawny, Peter (2007): »Europäisches Ethos seit Platon und Aristoteles«, Phai- nomena 60-61 (2008), 23–34.