UDK 821.124*02.09 Vergilij VERGIL UND DIE WESTLICHE ÜBERLIEFERUNG Vid Snoj Abstract Der Artikel befasst sich mit dem Stellenwert der Vergilschen Dichtung in der westlichen Überlieferung. Vergil bezieht sich in der berühmten Vierten Ekloge auf den Mythos vom goldenen Geschlecht, der in der Dichtung erstmals bei Hesiod bezeugt wird. Als erster in der griechisch-römischen Überlieferung dichtet er über Rückkehr des Goldenen Zeitalters, die er zugleich mit der Geburt und Wachstum des Göttlichen Knaben bzw. des kindlichen Erlösers vorhersagt. Sein Dichten erhält damit eine messianisch-eschatologische Dimension, wodurch es sich von der griechisch-römischen hin zur jüdischen Überlieferung bewegt. Es ist jedoch Vergil selbst, der die messianisch-eschatologische Kunde seines Frühwerkes säkularisiert. Im sechsten Gesang der Aeneis erkennt er nämlich nachträglich im Göttlichen Knaben den Kaiser Augustus und trägt so im Rahmen der römischen Aneignung des trojanischen Erbes maßgebend zu der Übersiedlung der Macht bzw. des Imperiums von Osten nach Westen bei. Große Dichtung wird nicht nur durch den literarischen Kanon oder auf den Listen der Pflichtlektüre erhalten. In der späteren Überlieferung sind ihre Überlebungs-formen sehr verschieden: Dichtung, der ein glückliches Schicksal widerfährt und die noch gelesen wird, kann sogar so fortleben, dass sie unsere Ansichten, unsere Sitten, unsere geschichtliche Welt gestaltet (und sich dabei auch selbst verwandelt). In der westlichen Überlieferung kommt dem Vergilschen Dichten ohne Zweifel eine besondere Stellung zu. Theodor Haecker nennt Vergil1 nicht ohne Belang „den Vater des Abendlandes".2 Wie aber lebt Vergil in der westlichen Überlieferung fort? 1 Vergil wurde am 15. Oktober 70 v. Chr. im Örtchen Andes bei Mantua geboren. Sein erstes größeres Werk stellt eine Sammlung der Hirtengedichte Eclogae oder Bucólica (42-39 v. Chr.) dar. Ihr folgte das didaktische Gedicht Geórgica (37-29 v. Chr.), das Asinius Pollio gewidmet wurde, der ihn bei Augustus einführte und ihm Zugang zum Kreis der römischen Dichter (Properz, Horaz u. a.) ermöglichte, die sich um den eponymen Förderer der Dichtung Maecenas sammelten. Im Jahre 29 v. Chr. begann Vergil das Epos Aeneis zu schreiben, das aber bei seinem Tod am 21. September 19 v. Chr. in Brundisium unvollendet war. Im Europa des Mittelalters, vor allem aber in den romanischen Ländern, aber auch in der Neuzeit wurde Vergil für den größten Dichter überhaupt gehalten. - In die slowenische Sprache wurden alle seine Hauptwerke übersetzt. Die erste vollständige Übersetzung von Geórgica hat Jozef Subic (1863) geschaffen, die ersten vollständigen Übersetzungen der Bucólica und der Aeneas und eine neue Übersetzung von Geórgica stammen von Fran Bradac (1964). Die Bucólica, eine Auswahl der anderen Vergilschen Sammlungen, Appendix Vergiliana und Catalepton, und eine Auswahl aus der Geórgica erschienen im Jahre 1994 in der Übersetzung von Marko Marincic. 2 Die genannte rühmende Bezeichnung findet sich bereits im Untertitel des Haeckerschen Buches (1931). 129 Wie lässt sich sein Fortleben erklären? Was empfängt er in dieser Überlieferung, in dieser Übergabe, und was gibt er weiter? Was nimmt er vom Mythos auf und was gibt er an die Geschichte ab? Ich möchte beim heutigen Yergilschen Erbe beginnen, beim westlichen Alltag, beim tagtäglichen Geldgeschäft. Das große Siegel der Vereinigten Staaten, abgebildet auf der Rückseite des amerikanischen Dollarscheins, trägt die Aufschrift: novus ordo seclorum. Magnus ordo saeclorum, so aber sprach Vergil. Was der Geldschein behauptet, was er in harter Währung in Geltung und in Umlauf setzt, ist nichts weniger als eine neue Weltordnung, wobei er sich auf Vergil bezieht.3 Der Geldschein nimmt einen Kredit auf bei einer literarischen Autorität, einen Kredit als eine Bevollmächtigung. Nicht durch Zufall. Denn Vergil ist auch in dieser Hinsicht „der Vater des Abendlandes". Am Beginn der berühmten Vierten Ekloge, der der Spruch auf dem Dollarschein entliehen ist, heißt es (V. 4-10): Ultima Cumaei venit iam carminis aetas; magnus ab integro saeclorum nascitur ordo. Iam redit et Virgo, redeunt Saturnia regna, iam nova progenies caelo demittitur alto. Tu modo nascenti puero, quo ferrea primum desinet ac toto surget gens aurea mundo, casta fave Lucina: tuus iam regnat Apollo.'' Schon kommt das letzte Alter des kumäischen Liedes; groß vom Anbeginn an gebiert sich die Ordnung der Zeiten. Schon kehrt zurück die Jungfrau, es kehrt die Saturnische Herrschaft, schon entsteigt ein neues Geschlecht dem erhabenen Himmel. Sei nur dem Knaben, gebornem, mit dem sich das eiserne Alter schließen wird, und rings auf der Welt ein goldnes Geschlecht aufgehen, sei, Lucina, ihm hold: schon herrscht dein Apollo. Beim Auslegen dieses Gedichtes, vielleicht eines der am häufigsten interpretierten Gedichte, das es je gegeben hat, möchte ich mich nur auf das Notwendigste beschränken. Das Gedicht bringt, gleich nachdem der Dichter die sizilianischen Musen zum Mitsingen aufgerufen hat (V. 1-3), eine Kunde. Das Gedicht kündigt an, was bevorsteht, was kommt, was beinahe schon da ist, und zwar einerseits mit einem dreifachen „schon", das zweimal sogar am Anfang des Verses steht, und gleichzeitig dramatisch, d.h. als sich verwirklichend. Das deutet die Handlung im Präsens an, das an einem Punkt der Verwirklichung, die es so darstellt, als ob es schon vergangen wäre, in das Futur übergeht. Die Kunde im Präsent ist ein Voraussagen des Künftigen und endet im Futur. 3 Michael Ferber weist in A Dictionary of Literary Symbols, Stichwort „Sun" (1999, 213), auf die Aufnahme und Anpassung von Vergilschen Versen auf dem Dollarschein hin. 4 Zitiert nach der textkritischen Ausgabe (1900). Die Verdeutschung des Originals folgt im Grunde der Sprachstruktur der alten Übersetzung von Johann Heinrich Voss, doch sie verändert ihre Wortwahl an den Stellen, die für die Auslegung von Bedeutung sind. 130 Was bevorsteht, ist das letzte Weltalter (aetas), das die kumäische Sibylle vorausgesagt hat. Dieses Zeitalter kommt, indem die Ordnung der Zeiten (ordo saeclorum) entsteht bzw., wie Vergil sagt, „sich gebiert" (nascitur). Das Gebären dieser Ordnung, das sich sozusagen „gleichzeitig" mit dem Aufkommen des letzten Weltalters vollzieht, fällt doch am Ende mit der Geburt des Knaben zusammen, der einem neuen Geschlecht (nova progenies) vom Himmel angehört. Mit dem Knaben, der geboren wird, wird eigentlich auch die „große Ordnung der Zeiten" geboren. Eine Ordnung, die sich gebiert - der die eigene Geburt bevorsteht wird in Wahrheit im genau gleichen Moment wie der Knabe geboren, der gerade jetzt geboren wird (modo nascenti) - und dadurch entsteht das letzte Weltalter. Dies ist das Zeitalter, in dem zwar nicht sofort, sondern erst allmählich das goldene Menschengeschlecht (genus aurea) zurückkehrt. Die Kunde des Gedichtanfangs lautet also, dass die Welt mit der Geburt eines Knaben in das letzte Zeitalter eintritt. Dieses Zeitalter, das von der Geburt des Knaben eingeführt wird, soll aber so lange dauern wie das Leben des Knaben, genau so lang wie ein saeculum. Was heißt saeculum ursprünglich? Seiner Herkunft nach handelt es sich um einen etruskischen Begriff, der ursprünglich nicht ein Weltalter kennzeichnete, sondern eine Lebenszeit, die Dauer des längsten Lebens innerhalb eines Menschengeschlechts, d.h. die Lebenszeit, die mit der Geburt und dem Tod des ältesten Angehörigen gemessen wurde, desjenigen, der in einem Geschlecht von allen am längsten gelebt hat.5 Später entwickelte sich daraus in Rom die neue Vorstellung vom Menschen eines saeculi, nach der es sich um einen Menschen mit halbgöttlichen Eigenschaften handelte, z. B. Pompeius, Cicero, Cäsar oder Aügustus.6 Vergil aber benennt den Knaben, den Angehörigen des neuen himmlischen Geschlechts, überhaupt nicht, sondern nennt ihn bloß puer, so dass er ohne eigenen Namen bleibt. Als Vergil, gleich nach der anfänglichen Kunde von der Ankunft des letzten Weltalters durch die Geburt des Knaben, sich an seinen Gönner Pollio wendet, sagt er über diesen Knaben nur, dass er während seiner Amtszeit als Konsul geboren wird (V. 11-12). Es ist jedoch offensichtlich, dass Vergil als den Menschen des saeculi, der Zeit des neuen himmlischen Geschlechts, gerade den unbenannten Knaben verkündet und als das neue saeculum, das einmal während der erwähnten Amtszeit anfangen wird, die Lebenszeit des Knaben. Der Kunde des Vergilschen Gedichtes zufolge stimmt also das letzte Weltalter, das mit der Geburt des Knaben beginnt schon seit seinem Beginn mit der Lebenszeit des Knaben überein. Diese Lebenszeit aber umspannt in ihrem künftigen Verlauf die „große Ordnung der Zeiten" und ihr Nacheinander: Die Ordnung, die „sich gebiert", wird mit der Geburt des Knaben nicht nur geboren, sondern wird mit dem Knaben in seiner Lebenszeit auch wachsen. Die Zeit wird wachsen. In der Zeit werden sich die Zeiten aneinander reihen. Zwei Zeiten werden wachsen. In der Lebenszeit des Knaben, seines Heranwachsens zur Reife, wenn eine Zeit des Menschengeschlechts nach der anderen wachsen wird, sollen die Zeiten, eine nach der anderen, aufbrechen. So soll mit der Geburt des Knaben die Zeit des eisernen 5 Vgl. Nisbet (1978, 60) und Du Quesnay (1977, 40). 6 Vgl. Du Quesnay, ebd. 131 Geschlechts enden. Am Ende seiner Kindheit, mit dem Beginn der Reife, wenn der Knabe die „Loblieder über die Helden" und über die „Taten des Vaters" (V. 26) zu lesen beginnen wird, soll die Zeit des Heroischen anbrechen. Und nachdem der Knabe reif geworden ist, bricht endlich die Zeit des Goldenen Zeitalters an. Doch diese Zeit wächst nicht nur nach den ersten beiden, sondern auch durch die zweite Zeit hindurch. Ihr Wachstum beginnt schon mit der Geburt des Knaben, in seiner Kindheit, wenn die Erde „ohne Zucht" (V. 18) den Knaben mit Rosen und Blumen überschütten wird, und hört zu wachsen erst in seiner Erwachsenenzeit auf, wenn, ohne dass die Erde von Menschenhand bearbeitet worden wäre, „jedes Land alles tragen wird" (V. 39). Erst wenn die unberührte Erde alles im Überfluss geben wird, wird auch die Zeit des goldenen Geschlechts, ihren Wachstum erfüllend, erneut erstrahlen - und es wird kommen, ohne wegzugehen. Und wiederzukehren. Und so weiter. Es wird ohne Weggang und Wiederkehr zurückkehren, ohne die ewige Wiederkehr, für immer. Dann wird die Zeit anbrechen, die es schon einmal gegeben hat, die Zeit der Saturnischen Herrschaft. Nur, dass sie diesmal bleiben wird, wobei auch die Jungfrau zurückkehrt, d.h. die Gerechtigkeit, die, wie Vergil in der Georgica (2, 474) andeutet, bei Anbruch des Eisernen Zeitalters in den Himmel, in das Sternbild der Jungfrau, gefahren ist. Die Lebenszeit des Knaben, in der sich die drei Zeiten von drei Geschlechtern aneinanderreihen werden, und zwar so, dass die letzten beiden nacheinander und die dritte, die Zeit des goldenen Geschlechts, auch durch die zweite hindurch wachsen und am Ende ihres Wachstums endgültig zurückkehren bzw. bleiben wird, ohne wegzugehen - dieses neue saeculum wird ein Weltalter werden, das nicht von der Welt, sondern vom Himmel ist. Im Vergleich mit der offiziell ersten dichterischen Übertragung des Mythos vom goldenen Geschlecht in Tage und Nächte von Hesiod hat Vergil die Zahl der Geschlechter von fünf auf drei reduziert. Dies ist aber keineswegs die bedeutendste Veränderung. Vergil ist der erste, der in der griechisch-römischen Überlieferung die Rückkehr von der Zeit des goldenen Geschlechts bzw. vom Goldenen Zeitalter überhaupt dichterisch erschaffen hat. Er zeigt es als Wachstum, das mit der Geburt des Göttlichen Knaben beginnt und mit seiner Reife endet, womit das Goldene Zeitalter selbst als das Allerletzte des letzten Weltalters dargestellt wird. Für die Alten stellte das Goldene Zeitalter ein verlorenes mythisches Paradies dar, das nie wiederkehrt. Obwohl es schon bei Hesiod (ebd., V. 109-111) mit der Herrschaft von Chronos bzw. Saturnus verbunden wird, war in der griechisch-römischen Überlieferung vor Vergil keine Rede von seiner Rückkehr. Und noch weniger davon, dass es nach seiner Rückkehr bleiben würde. Vergil besingt somit nicht nur das Goldene Zeitalter anders, als es in der griechisch-römischen Überlieferung üblich ist, sondern auch den Menschen des saeculi. In seiner Dichtung gibt es etwas, was wohl am treffensten mit Ausdrücken, die durch den jüdisch-christlichen Gebrauch bestimmt sind, als das Messianische und das Eschatologische zu bezeichnen wäre. Diese beiden sind in seinem Gedicht eng miteinander verflochten. Das Messianische ist das Neue, etwas oder jemand, der kommt und das Alte rettet. Das Eschatologische ist das rettende Neue, das zuletzt und endgültig kommt, d.h. es kommt nur einmal, ohne Wiederholung jedes anderen, eventuellen Einmal. Das Retten des Alten geschieht durch den Knaben und verläuft allmählich, gleichzeitig mit seinem 132 Wachstum, aber trotzdem endgültig. In seiner Lebenszeit, seines saeculi als des letzten Weltalters, kehrt das Goldene Zeitalter schließlich rettend zurück - und es bleibt jenseits der ewigen Wiederkehr des Gleichen, jenseits von Weggang und Wiederkehr, jenseits des ewigen Kreislaufes der Zeitalter, die die Welt durchläuft bzw. durchlaufen hat. Das Vergilsche Dichten von der endgültigen Rückkehr des Goldenen Zeitalters lässt aus dem saeculo, in dem diese Rückkehr als das Allerletzte geschieht, ein eschatologisches werden. Weil sich aber die dichterische Eschatologisierung des Mythos vom Goldenen Zeitalter stets mit der neuen Vorstellung, dem Mythos vom Menschen des saeculi, verflechtet und dadurch den alten griechischen Mythos mit dem neuen römischen verbindet, ist sie mit der Messianisierung seiner Gestalt untrennbar verflochten. Das eschatologisch-messianische Dichten Vergils in der Vierten Ekloge wirkt innerhalb der griechisch-römischen Überlieferung befremdend. Es entfernt sich von ihr, ohne sie ganz zu verlassen: Es befremdet in der sich innerhalb der griechischrömischen Überlieferung vollziehenden Bewegung hin zur jüdischen Überlieferung, wodurch die beiden Überlieferungen näher zueinander rücken. Und gerade in dieser befremdlichen messianisch-eschatologischen Dimension wurde das Vergilsche Dichten auch vom Altchristentum aufgenommen. Dieses wurde sich, indem es sich die jüdische Überlieferung zusammen mit der Heiligen Schrift aneignete, der Nähe dieser Dichtung sowohl zu den alttestamentarischen als auch zum außerbiblischen, im griechischen Judentum entstandenen Sibyllinischen Weissagungen bewusst. Ursprünglich galt es als von diesen Weissagungen abhängig, worauf Vergil selbst verweist, wenn er sich auf die Weissagung der kumäischen Sibylle beruft (V. 4), oder aber als völlig unabhängig, als die eigentliche Prophetie inmitten des Heidentums.7 Die am Ende des Vergilschen prophetischen Gedichts stehende Rückkehr des Goldenen Zeitalters, wenn auch die Gerechtigkeit aus dem Himmel zurückkehren wird, bringt, nach einer Zeit des heroischen Geschlechts und nach dem Feldzug des zweiten Achilles nach Troja (V. 36) während der Reifezeit des Knaben, nicht nur den Menschen Frieden, sondern schon am Anfang, in der Kindheit des Knaben, auch den Tieren. Das kennt auch die griechisch-römische Überlieferung, doch wiederum nicht im Goldenen Zeitalter. „... nicht fürchten [wird] das Rind die großen Löwen," sagt aber Vergil (V. 22). Dieser Friede trotz der Anwesenheit der Wildtiere, dieses friedliche Miteinander der zahmen und der wilden Tiere, die nach der Metamorphose ihrer Raubtiernatur auch zahm geworden sind, erinnert uns an die Vision Jesajas vom tierischen Frieden im eschaton (11, 6): Da werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern. Und noch: Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben.8 7 Vgl. Luiseiii (1983-1984, 133-149). 8 Luthersche Übersetzung (1985, 671). 133 Das Bild des tierischen Friedens ist auch den Sibyllinischen Weissagungen bekannt.9 Sie künden aber in diesem Bilde nicht von einem Knaben, vom „kleinen Knaben (na 'ar katan)", so wie Vergil vom puer. Doch gerade der Knabe (na 'ar) wird in der messianischen Prophezeiung vier Kapitel vorher, bei Jesaja (7, 14), als der angekündet, der vom einem Mädchen oder, in der Lesung der Septuaginta, von einer Jungfrau (griechisch parthenos, hebräisch 'alma, „Mädchen") geboren und Emmanuel genannt wird.lp Kurz gefasst: in der Tatsache, dass Vergil das eschatologische saeculum dichtet, in dem das Goldene Zeitalter zurückkehrt und mit ihm ebenso die Jungfrau bzw. die Gerechtigkeit, die den Frieden unter die Menschen und auch unter die Tiere bringt, gerade darin, dass Vergil dieses saeculum als das saeculum des kindlichen Erlösers dichtet, sah das Altchristentum das Aufkeimen des Logos, das Aufkeimen seines Samens in einer anderen Kultur, ohne dass dieser in der eigenen Literaturüberlieferung zuvor kultiviert worden wäre. Ein Aufkeimen ohne vorherige Zucht - eine prophetische Offenbarung. Doch was ist mit der Wendung novus ordo seclorum von der Rückseite des Dollarscheins, die sich auf Vergil bezieht? Worauf zielt sie? In jedem Falle auf etwas anderes, und zwar auf die Tatsache, dass sich die Macht, welche die neue Ordnung für alle zukünftige Zeiten gründet, im Westen befindet. Dass sie dorthin übersiedelte. Die Übersiedlung der Macht bzw. des Imperiums nach Westen stellt eine gewaltige geistesgeschichtliche Bewegung dar, die auch den Dollarschein trägt, der die Worte aus dem Vierten Ekloge paraphrasiert. Sie beginnt aber nicht in diesem Vergilschen Jugendwerk und wurde von Vergil auch nicht selbst ausgelöst, wohl aber maßgebend in Gang gesetzt, allerdings erst in seinem unvollendeten Lebenswerk Aeneis, einem Gedicht über Aeneas, der die Trojaner aus der besiegten Stadt auf die italienische Halbinsel brachte, nach Hesperien, ins Abendland, in das „Land des Abends" bzw. das Land im Westen. Erster Anstoß für die Übersiedlung der geistigen und weltlichen Gewalt und Macht, des Geistes und Imperiums vom Osten nach Westen, gab die Aneignung des trojanischen Krieges im großen römischen Epos Vergils. Dabei handelt es sich um die Aneignung aller Aneignungen, um die „Kronaneignung" in der römischen Literaturüberlieferung sozusagen, die bis zu den epischen Dichtern Ennius und Naevius zurückgeht. Für Herodot, den ersten griechischen Historiker und Erforscher der griechisch-persischen Kriege, in denen es den Griechen mit ihrem Sieg gelang, ein Bollwerk im Osten zu errichten und so das Aufkeimen ihrer Frühkultur zu sichern, war der Trojanische Krieg der erste Krieg zwischen den Barbaren überhaupt, d.h. zwischen den Persern, die über die barbarischen Völker im Asien herrschten, und den Griechen in Europa. Nach der Meinung von Herodot handelte es sich um den ersten Krieg zwischen Asien und Europa.11 So war der erste Militärsieg Europas über Asien, sei es ein mythischer oder historischer, in jedem Fall ein Verdienst der Griechen. 9 Vgl. Nisbet (1978, 66). 10 Das hebräische Original und die Übersetzung der Septuaginta sind nach der elektronischen Ausgabe BibleWorks for Windows (1993) zitiert. " Vgl. Herodot, Historai 1, 4. Zitiert nach der textkritischen Ausgabe (1927). 134 Indem die römische Mythendichtung die Wurzeln des Römertums im - wie Vergil ihn mehrmals nennt - „frommen Aeneas" sah, der durch die Achtung der Überlieferung der alten Götter Latium eroberte, in dem später das zweite Troja gegründet wurde, hat sich Rom, anstatt der Ehre vom ersten Militärsieg über Asien, das geistige Erbe des Ostens angeeignet. Den zweiten Anstoß für die Übersiedlung der Macht bzw. des Imperiums nach Westen gab die Wiedererkennung des Knaben aus der Vierten Ekloge in der Aeneis. Es wurde bereits versucht zu zeigen, dass die messianisch-eschatologische Dimension des Vergilschen Dichtens vom Mythos des Goldenen Zeitalters durch die Gestalt des kindlichen Erlösers die historisch-politische Dimension des Mythos erfasst und verwandelt, z.B. die Angabe, dass der Knabe während der Amtszeit des Konsuls Pollio auf die Welt kommen soll. Diese messianisch-eschatologische Dimension hat Vergil jedoch selbst wieder historisiert. Die Sprechzeit in der Vierten Ekloge ist nämlich seit Anfang an nicht die Zeit, die besprochen wird: das letzte Weltalter ist noch nicht da, es kommt erst, es tritt mit der Geburt des Knaben erst in Erscheinung, wenn das Goldene Zeitalter zurückzukehren beginnt, das erst mit der Reife des Knaben völlig zurückgekehrt sein wird. Im sechsten Gesang der Aeneis knüpft aber Vergil selbst an die Prophezeiung aus der Vierten Ekloge an, so als ob das Ereignis, das von dieser Prophezeiung vorausgesagt wurde, nicht mehr kurz bevorstehen würde, sondern sich die Prophezeiung selbst in der Zwischenzeit, vom Schreiben der Ekloge bis zum Schreiben des Epos, schon erfüllt hätte. Das Vergilsche Dichten sollte auf diese Weise vaticinium post eventum werden, da Vergil im Knaben aus seiner eigenen Prophezeiung Augustus wiedererkennt, den ersten römischen Imperator, und ihn mit den Worten lobt, die er aus dem früheren prophetischen Gedicht nahm. Im Hinblick auf die Sprach-und Ereignisgestaltung des Gesangs wird es jedoch vaticinium ex eventu, da Vergil die Prophezeiung, die sich noch zu seiner Lebenszeit erfüllen sollte, den mythischen Trojaner Anchises aussprechen lässt. Die Worte des Wiedererkennens, „die Lösung des Rätsels aus der Vierten Ekloge" (Glei 1991, 56), legt Vergil also Anchises in den Mund, der sie zu seinem Sohn Aeneas spricht, und zwar über seinen künftigen Nachkommen (6, 791-795): Hic vir, hic est, tibi quem promitti saepius audis, Augustus Caesar, Divi genus, aurea condet saecula qui rursus Latio regnata per arva Saturno quondam, super et Garamantas et Indos proferet imperium...12 Dort der Mann, dort ist er, den oft dir verheißen du hörest, Kaiser Augustus, das Geschlecht Gottes, welches die goldnen Zeiten wieder gründet in Latium durch die Gefilde, über die Saturnus einst herrschte, jenseits Garamanten und Indern dehnt er das Reich... 12 Zitiert nach der textkritischen Ausgabe (1900). 135 Mit anderen, fast identischen Worten, doch mit einem anderen Wortsinn, spricht Yergil hier folgendes aus: Goldene Zeiten (aurea saeclä) bzw. das Goldene Zeitalter ist schon zurückgekehrt, es kehrte dorthin zurück, wo einst schon Saturnus herrschte, nach Latium. Es kehrte mit dem Kaiser Augustus zurück, der schon geboren wurde und der bereits in allen Himmelsrichtungen seine Herrschaft angetreten ist, auch im Osten. Der über die ganze Welt seine Herrschaft ausgebreitet hat, „das große Imperium" (6, 812), das auf dem trojanischen Erbe des Westens gegründet wurde und dessen Zweck es ist, über die Völker zu herrschen, über jedes Volk mit dem ihm gehörigen Maß des Friedens (6, 852-853): ... pacisque imponere morem, parcere subiectis, et debellare superbos. ... Zucht anordnen des Friedens, mild dem Ergebenen sein und niederducken den Trotzer. Damit wird die Prophezeiung, die messianisch-eschatologische Kunde aus der Vierten Ekloge säkularisiert, d.h., sie verflechtet sich wieder mit der geschichtlichen, der sich ereigneten und sich ereignenden Welt. Durch die Säkularisierung wird das jetztige Weltalter zum letzten Zeitalter, sie preist den bestehenden Zustand bzw. die erlangte Weltordnung und verherrlicht sie zugleich als die gerechteste Weltordnung. Mit Augustus und seinem Imperium besingt Vergil die pax Romana, den ersten imperialen Frieden im Westen. Die Geschichte kennt ähnliche Verherrlichungen der säkularisierten Eschatologie unter den Namen pax Hispanica, pax Britannica oder pax Americana. Und auch andere Gedichte von Übersiedlungen, die nach der Aeneis geschrieben wurden, andere metaphorische Bewegungen von geistiger und weltlicher Macht bzw. des Imperiums nach Westen. Dorthin siedeln Freiheit, Kirche und sogar die Dichtung über;13 oder wie, alles zusammenfassend, im 18. Jh. George Berkeley in einem Vers aus Verses on the Verses on the Prospect ofPlanting Arts and Learning in America sagt, die in den Vereinigten Staaten oft zitiert wurden: West ward the course of empire takes its way...14 Westwärts bewegt sich die Richtung des Imperiums... Seien wir präzis bei diesemwestward, bei seinem Woher: das Übersiedeln des Imperiums begann nicht in Mittelasien, wo sich ehemals von Indus bis nach Mesopotamien persische Imperien ausbreiteten, die dem späteren römischen Imperium im Westen ähnlich waren und im großen persischen Epos, in Buch der Könige, von Firdusi besungen werden. Dieses Übersiedeln erfolgte nicht von Persien über Mesopotamien bzw. dem Nahen Osten bis nach Griechenland und dann noch weiter westlich. Es begann weder mit dem mythischen Sieg Griechenlands über Persien, der von Homer besungen wird, noch mit Griechenlands historischem Sieg, den Herodot 13 In der englischen Dichtung ist von westering, d.h. von der Übersiedlung der Freiheit nach Westen bei Jammes Thomson und William Collins, von der Übersiedlung der Kirche bei George Herbert und der Dichtung bei Thomas Gray die Rede. Vgl. Ferber, A Dictionary ofLiterary Symbols, Stichwort „East and West" (1999, 69). 14 Zitiert nach Ferber (1999, 213). 136 beschreibt - dem Sieg Europas über Asien, der vom militärisch-politischen Gesichtspunkt aus gesehen die günstigen Bedingungen für den Beginn des klassischen Zeitalters der griechischen Antike schuf. Im Gegenteil: das Übersiedeln begann mit der römischen, vor allem aber der Vergilschen dichterischen Aneignung vom besiegten Troja, und zwar als das Übersiedeln des Ostens westwärts, nach Westen, als der immer neue, ewige Aufgang des Ostens im Westen. Der Aufgang des Westens. Als ob das Licht, als ob die Kraft von Osten nach Westen ginge, wie die Sonne, die ihrem unabänderbaren Lauf von Aufgang und Untergang folgt. Die Metapher der Macht- bzw. der Imperiumsübersiedlung nach Westen beschreibt allerdings eine Bewegung, die nur scheinbar den Lauf der Sonne wiederholt, denn obwohl das Übersiedeln seinen Gang nach Westen nimmt und, im Westen angekommen, sich immer westlicher bewegt, kennt es, im Gegensatz zur Sonne, keinen Untergang, es geht nie unter. Im Gegenteil: Es scheint, als würde die Sonne der Gerechtigkeit, des Friedens und der Freiheit, die im Osten aufgegangen ist, im Westen fortwährend scheinen, so als würde sie immer westlicher aufgehen und mit einer nicht nachlassenden, wachsenden Kraft scheinen, ohne je unterzugehen. Bleibt aber das Imperium im Westen, ohne sich immer westlicher zu verlagern, von Rom noch weiter, in das christliche Westeuropa und nach Amerika? Oder bleibt das Imperium im Westen so, dass es sich in das christliche Osteuropa verlagert, nach Konstantinopel und, unter der Fahne der Orthodoxie als des rechten Rühmens des christlichen Gottes, nach Moskau, also dem zweiten und weiter noch dem dritten Rom, nach Russland, dem fortwährenden Bollwerk gegen das große gelbe Asien, die schlummernde Katze, die immer kurz vor dem Aufwachen ist? Im Westen - ostwärts, nach Russland? Oder westwärts, nach Amerika, in die Vereinigten Staaten? Wie auch immer, die zeitgenössischen linken Kapitalismuskritiker Antonio Negri und Michael Hardt stellten sogar fest, dass im Westen ein Imperium als eine „neue globale Souveränitätsform" (2001, XII) entstanden ist. Dieses Imperium wiederholt nicht nur die alten Formen des Imperialismus und stellt nicht nur ein Weltreich unter denen dar, die durch das Ausbreiten ihrer Herrschaftsgrenzen die bekannte Welt von der unbekannten, das besiedelte Land der kultivierten Welt von dem der barbarischen Welt oder von dem unbesiedelten Land überhaupt trennten. Sein Raum, die Stätte, an der es seine Herrschaft demonstriert, die ohne Imperator, ohne Mittelpunkt und ohne Ort der Macht überhaupt auskommt, ist jetzt die ganze Erdkugel. Mit den alten Imperien teilt es nur die Bestrebung, den Frieden über die bekannte Welt, d.h. über die ganze Erdkugel als die menschliche Welt zu verbreiten. Gerade diese Bestrebung aber macht dieses neue Imperium zum Erben des römischen Imperiums. Demzufolge ist es kein Zufall, dass Negri und Hardt als den herausragendsten Bekunder des römischen Friedens, des frühesten Vorfahren des Friedens, der jetzt verkündet und verwahrt wird, gerade Vergil anführen, und zwar die Stelle, die sich auch der Dollarschein zueigen gemacht hat: „The final age that the oracle foretold has arrived; / the great order of the centuries is born again" (167). Ein Text wächst mit seinen Lesarten stimmt Paul Ricoeur,15 einer der größten Hermeneuten unserer Zeit, einem mittelalterlichen Denker zu. So wächst auch der 15 Vgl. Ricoeur (1999, 21). 137 Vergilsche Text aufgrund seiner Bedeutungsangebote, bekräftigt seine Autorität und verwandelt sich durch unser Lesen. Und was sagen die Dichter über die Macht in unserer Zeit? Existiert überhaupt die Macht über die Welt in der Welt? Wohin zeigt, welche Bewegung zeichnet ihr dichterisches Wort? Universität von Ljubljana, Slowenien BIBLIOGRAPHIE Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. 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