259Kajetana Obreza: DIE INFORMATIONSVERHÄLTNISREKONSTRUKTION ... Kajetana Obreza UDK 82.0 Doktorandin DOI: 10.4312/vestnik.16.259-276 Philosophische Fakultät, Universität Ljubljana Izvirni znanstveni članek Slowenien kajetana.obreza@gmail.com DIE INFORMATIONSVERHÄLTNISREKONSTRUKTION UND IHR VERGLEICH IN DER FIGURENKONSTRUKTION ALS AUSGANGSPUNKT UND ZUGANGSMÖGLICHKEIT ZUM WISSEN DES MODELL-RETEXTUALISIERERS IN DER HISTORISCHEN PERSPEKTIVE 1 EINLEITUNG In der Geschichte der Erzählforschung wurde der Leser1 meist als derjenige verstanden, auf den ein Text wirkt (vgl. Prince 2009: 399). In Barthes´ (1974) S/Z wird zwar noch immer strukturalistisch gearbeitet, aber es wird auch eine Übergangsphase deutlich, in der die Forschung der Dynamik des Lesens eine bedeutendere Rolle zuschreibt. Die- se Dynamik zwischen Text und Leser betonen vor allem auch Ingarden (1972), Jauß (1970), Iser (1972, 1976) und Eco (1987), die von einer aktiven Beteiligung des Lesers am Rezeptionsprozess und vor allem an der Bildung von Bedeutung ausgehen. Der ko- gnitionswissenschaftliche Ansatz ist somit nicht der erste, der eine aktive Beteiligung des Rezipienten bei der Konstruktion von Bedeutung vorsieht, jedoch werden im Gegensatz zu anderen Ansätzen erst in der Kognitionsliteraturwissenschaft die Verstehensprozesse des Rezipienten und die Informationsverarbeitung erfasst. In der Kognitionsliteraturwissenschaft gewinnen somit auch die kognitionspsycholo- gischen Untersuchungen an Bedeutung, die von einer ständigen Informationsverarbeitung des Gehirns ausgehen (vgl. Schneider 2000: 6). Weil der Rezipient Informationen verarbei- ten muss, bekommt auch das ‚Wie‘ der Informationsvergabe samt Informationsvernetzung im Text eine größere Bedeutung für die Sinn- und Kohärenzbildung –einerseits, weil das ‚Wie‘ der Informationsvergabe die Anweisungen für den Rezipienten darstellt, andererseits werden dadurch neue Fragestellungen ermöglicht. In komparatistischen Untersuchungen 1 Die Bezeichnung ‚Leser‘ wird wegen der spezifischen Vortragsart der mittelalterlichen Texte und der Anknüpfung des Artikels an diese im Weiteren durch den Überbegriff ‚Rezipient‘ ausgewechselt. Es sei denn, er wird in Bezug auf den Retextualisierer der altfranzösischen Vorlagen verwendet. 260 VESTNIK ZA TUJE JEZIKE/JOURNAL FOR FOREIGN LANGUAGES – im vorliegenden Fall zwischen den altfranzösischen Vorlagen und den entsprechenden mittelhochdeutschen Retextualisierungen anhand der Analyse von literarischen Figuren – kann eine Fragestellung wie folgt lauten: ‚Wie wurden Figureninformationen im verschrift- lichten Kontext in der Vorlage und im Vergleich dazu in der Retextualisierung vergeben und welche Folgen hat dies für die Figurenkonstruktion?‘ Oder sogar: ‚Wie anders retex- tualisierte der Retextualisierer die literarischen Figuren und was wollte er damit erzielen?‘ Allerdings stößt die kognitive Literaturwissenschaft in der historischen Perspekti- ve auf einige Herausforderungen. Um die Prozesshaftigkeit der Bildung von Bedeutung erforschen zu können, muss der Literaturwissenschaftler eine empirische Analyse durch- führen. Diese ist jedoch mit Problemen verbunden: Denn neben der Abwesenheit des historischen Lesers stellt die Informationsmenge eine Herausforderung dar. Das Ziel dieses Beitrags ist es, zu zeigen, dass die kognitive Literaturwissenschaft auch in der historischen Perspektive mit einer angepassten Methodik am Beispiel der Figurenkonstruktionsanalyse anwendbar und ein Ansatz für interessante Resultate ist. Die nachfolgende Informationsvergabeanalyse der literarischen Figuren und die Figuren- konstruktionsanalyse wurden an den altfranzösischen Vorlagen und im Vergleich2 dazu auch an den entsprechenden mittelhochdeutschen Retextualisierungen durchgeführt: La Chanson de Roland und die Retextualisierung des Pfaffen Konrad Rolandslied; Bataille d´Aliscans und Wolframs von Eschenbach Willehalm; Erec et Enide von Chrétien de Troyes und Hartmanns von Aue Erec; Le Chevalier au lion von Chrétien de Troyes und Hartmanns von Aue Iwein. 2 LITERARISCHE FIGUREN ALS MENTALE MODELLE Im kognitionswissenschaftlichen Ansatz werden literarische Figuren als „textuell ba- sierte mentale Modelle von möglichen Individuen [verstanden], die in den Gedanken des Lesers durch den Prozess des Lesens gebildet werden [...]“ (Margolin 2007: 76). Die Konstruktion von mentalen Modellen ist demnach nicht nur vom Text an sich ab- hängig, sondern vor allem vom mentalen Einsatz des Rezipienten. Es ist der Rezipient, der sein Wissen und seine Erfahrungen einsetzen muss, um die im Text gegebenen In- formationen zu verarbeiten und kohärente Schlüsse zu ziehen. Wissen soll dabei nicht nur als angeeignetes Allgemeinwissen verstanden werden, sondern vor allem auch als Wissen darüber, wie kohärente Verbindungen zwischen den Informationen gebildet werden können und woher das Wissen geschöpft werden soll. Letztendlich können zwei verbundene Informationen in verschiedenen kulturellen Umgebungen völlig Un- terschiedliches bedeuten. 2 Die angeführten Vorlagen und ihre entsprechenden Retextualisierungen werden auch als Vorlagen- Retextualisierungs-Paare benannt. 261Kajetana Obreza: DIE INFORMATIONSVERHÄLTNISREKONSTRUKTION ... Jannidis (2004) zufolge gibt es drei Quellen der Aneignung vom Wissen über die mentalen Modelle und zwei Arten der Aneignung von denen: Jannidis unterscheidet zwi- schen der Informationszuschreibung und der Bindung, wobei nicht jede Bindung das Resultat einer Informationszuschreibung ist (vgl. Janndis 2004: 199). Denn literarische Figuren werden nicht nur durch Informationen, sondern auch durch Tatsachen und Infe- renzen konstruiert. Die Informationen werden im Text entweder direkt oder indirekt ver- geben, zudem kann der Rezipient Inferenzen aufgrund von figurenbezogenen Tatsachen bilden, die auf der discours-Ebene vergeben werden, oder er kann Inferenzen aufgrund von Zusammenhängen bilden, die auf der discours-Ebene nicht vorkommen und er sie daher selbst erschließen muss (vgl. Jannidis 2004: 199). Die Kohärenz als ein seit Platon existierender Begriff (vgl. Schneider 2021: 42–58) kann als anthropologische Konstante angesehen werden. Sie bezeichnet „[...] einen Zusammenhang, der nicht über die genannten linguistischen Merk- male, also über die Textoberfläche, sondern über die Texttiefenstruktur herge- stellt wird.“ (Jannidis 2004: 140) Kohärenz bedeutet seitens des Rezipienten Schlüsse zu ziehen bzw. Informatio- nen und Tatsachen zu verarbeiten sowie Inferenzen zu bilden und verweist damit im Fall der Retextualisierungen auf die Prozesshaftigkeit des Verschriftlichten oder des Wiedergegebenen. Aus diesem Grund muss die Prozesshaftigkeit der Bedeutungs- konstruktion auch in der historischen Perspektive so viel wie möglich berücksichtigt werden. Die Zugänglichkeit zu den mentalen Modellen als Endprodukte des Rezipienten ist schon für den Literaturwissenschaftler, der mit einer empirischen Analyse arbeiten kann, schwierig – geschweige denn in der historischen Perspektive, die vollkommen unmöglich ist. Jedes individuelle mentale Modell ist nur dem Individuum selbst als sein persönliches Unikum zugänglich. Denn welcher Mensch kann genauso wie ein anderer denken und wessen Gedanken kann ein Wissenschaftler ‚wirklich‘ beobachten? Es kann aber davon ausgegangen werden, dass es „Bezugsgrößen“ (Lüsebrink 2016: 13) gibt, die über ein gemeinsames Wissen verfügen und die Leerstellen im Text entweder mit ihrem eigenen Inhalt füllen oder Verbindungen zwischen zwei oder mehreren Elementen des Textes in einer ähnlichen Weise ziehen können und somit einer ähnlichen Kohärenzbildung unter- liegen. Dabei sind in der historischen Perspektive vor allem Inferenzen vom Interesse, die tatsachenbezogen sind. Bezugsgrößen müssen nicht an nationale Gebilde gebunden sein, sondern können auch durch eine gemeinsame Sprache, Religion oder sogar Interesse ver- bunden sein. Es kann davon ausgegangen werden, dass der Modell-Retextualisierer über das Wissen, wie zwei Bezugsgrößen Schlüsse ziehen, verfügte. Nicht umsonst betont Müller: 262 VESTNIK ZA TUJE JEZIKE/JOURNAL FOR FOREIGN LANGUAGES „Literarische Texte entstehen nicht im luftleeren Raum, sondern im Zusam- menhang einer historischen Kultur, die ihnen bestimmte Themen und Motive, bestimmte Ordnungen des Wissens und bestimmte Diskurstypen, bestimmte Probleme und Lösungen vorgibt. Solche Vorgaben liegen den spezifische[n] literarischen Traditionen, poetischen Strategien, Gattungen usw. voraus, die im Allgemeinen der Hauptgegenstand der Literaturgeschichtsschreibung sind.“ (Müller 2007: 6) Die Rezipienten verwenden ihr angeeignetes Wissen nicht nur, um die Leerstellen im Text zu füllen. Das Herstellen von Verbindungen zwischen den textuellen Elementen kann als ein Lernprozess des Rezipienten gesehen werden – denn er schöpft aus den tex- tuell vermittelten Möglichkeiten der Kohärenzbildung auch Erfahrungen für sein Leben und bekommt kulturelle Konzepte in Form einer textuellen Erfahrung vermittelt. Bei den Untersuchungen von mentalen Modellen wird die gesamte Gewichtung der Rezeption auf den Interaktionsprozess zwischen dem Text und dem Leser verlagert und weniger auf die ‚Wahrheit‘ oder ‚Korrektheit‘ (vgl. Margolin 2007: 76). Der Rezipient ist derjenige, der die Verbindungen zwischen den textuellen Elementen herstellt. Weil aber nur textuelle Anweisungen für die Konstruktion von mentalen Modellen zugänglich sind, können in diesem Fall bzw. in der historischen Perspektive Schlüsse lediglich aufgrund komparatistischer Vergleiche gezogen werden, um Eigeninterpretationen zu vermeiden. Wie die Figureninformationen vergeben wurden, kann im Vergleich zu einem anderen Text einen Ausgangspunkt in Form von Anweisungen für mentale Prozesse darstellen. Vor der Auseinandersetzung mit der Informationsverhältnisrekonstruktion und ihren Vergleichen wird nachfolgend auf einige Spezifika der mittelalterlichen Retextualisie- rungen hingewiesen. 3 RETEXTUALISIERUNGEN IM HOCHMITTELALTER „[D]ie mittelalterliche Kultur bringt durchaus Neues hervor, wenngleich sie sich bemüht, es unter den Überresten der Wiederholung zu verstecken (im Ge- gensatz zur modernen Kultur, die auch dann vorgibt, Neues zu produzieren, wenn sie nur Altes wiederholt).“ (Eco 1991: 13) Dieses Zitat von Eco zeigt die Besonderheiten der mittelhochdeutschen Retextuali- sierungen. In der Abwesenheit eines theoretischen Rahmens für die textuellen Übertra- gungen wurden altfranzösische Vorlagen für das mittelhochdeutschsprachige Publikum übertragen. Diesbezüglich gibt es in der Wissenschaft zahlreiche Auseinandersetzungen zu den dadurch entstandenen Fragen zur Autorschaft (Forquet 1944, Huby 1968, Worst- brock 1985, Bumke 2005: 10-13; zu Eigenbezeichnungen: Unzeitig 2002, Unzeitig 2010) 263Kajetana Obreza: DIE INFORMATIONSVERHÄLTNISREKONSTRUKTION ... und Terminologie (Geith 1996, Krass 1996, Unzeitig 1996, Worstbrock 1999, Bumke 2005, Steinmetz 2005), wobei die terminologische Frage wegen der Alterität der mediä- vistischen Werke und den durch moderne Theorien geprägten Wortschatz (vgl. Bumke 2005: 10) noch nicht beantwortet wurde. Wie Cramer (1986: 262) konstatiert, durfte im Mittelalter nur Gott Neues erschaffen. Deswegen vergewisserten sich die mittelhochdeut- schen Retextualisierer, nichts Neues zu schaffen, sondern ‚nur‘ die materia zu übertragen. Die Retextualisierungen führen mit all ihren Spezifika zu neuen Fragestellungen, die anhand gegenwärtiger Übertragungen, Übersetzungen u. Ä. wegen genauer theoretischer Rahmen der Übertragung nicht möglich sind. Es ist in der Forschung zu mittelhoch- deutschen Retextualisierungen allgemein bekannt, dass die Texte erweitert und gekürzt wurden (vgl. Klein 2015: 40, Worstbrock 1985). An dieser Stelle muss aber auch auf die Ambivalenz der literarischen Figuren hingewiesen werden. Literarische Figuren stellen bekanntlich eine große Herausforderung für den Wis- senschaftler dar. Sie sind einerseits selbstständige Grundelemente der Erzähltheorie, an- dererseits fest in das Netzwerk des Textes eingebunden (vgl. Heidbrink 2010: 67). Für den Rezipienten sind sie ein wichtiger Teil des Rezipierten, weil sie Empathie wecken oder zu Identifikation führen können (vgl. Zupan Sosič 2017: 186). Im Sinne ihrer Am- bivalenz können sie sowohl das ‚Veränderte‘ als auch das ‚Unveränderte‘ darstellen. Mit dem ‚gleichen‘ Namen in der Retextualisierung wird auf die gleiche literarische Figur wie die in der Vorlage verwiesen und mit einigen Eigenschaften auf dieselben Merkmale dieser. Doch trotz derselben Merkmale einer literarischen Figur – in diesem Beitrag sind es die erstvergebenen Figureninformationen – kann es einen Unterschied in der Figu- renkonstruktion beim Rezipieren der Vorlage und der Retextualisierung geben. Dieser Unterschied resultiert aus der unterschiedlichen Informationsverarbeitung – mit dem An- fang bei den Anweisungen, wie literarische Figuren konstruiert werden sollen – und dem Kontext der einzelnen Figureninformationen. Die Informationsverhältnisverarbeitung durch die Retextualisierung wird erst nach einem close reading und der Eingrenzung von Figureninformationen analysierbar. 4 LÖSUNGSVORSCHLAG FÜR EINE KOGNITIVE WISSENSCHAFTLICHE FIGURENKONSTRUKTIONSANALYSE IN DER HISTORISCHEN PERSPEKTIVE 4.1 Modell-Retextualisierer Die Rezeptionsästhetiker haben als Lösung für die Analyse von Texten anthropomorphe Konstrukte angeboten. Eco (1987: 31) geht davon aus, dass Texte von diesen anthropo- morphen Konstrukten „aktualisiert werden müssen“, weil sie ansonsten „unvollständig“ (Eco 1987: 61) bleiben. 264 VESTNIK ZA TUJE JEZIKE/JOURNAL FOR FOREIGN LANGUAGES Auf ähnliche Weise, doch auf das Beispiel der altfranzösischen Vorlagen und mit- telhochdeutschen Retextualisierungen bezogen, wird in dieser Untersuchung der Mo- dell-Retextualisierer eingeführt. Der Modell-Retextualisierer ist ein anthropomorphes Konstrukt mit zwei integrierten Rollen und bietet die Lösung für die Unzugänglich- keit des historischen Retextualisierers an, die mit einer modellhaften Rekonstruktion und dem Vergleich von Unterschieden in der Figurenkonstruktion gelöst werden kann/ muss. a. Die erste Rolle des Modell-Retextualisierers ist die des Modell-Lesers, der über das Wissen verfügt, spezifische Informationsverhältnisse in einer Vorlage als Leerstelle zu erkennen und zu füllen. Leerstellen „[...] ergeben sich überall, wo in einem Text eine Sinnverbindung zwischen zwei oder mehr Elementen nicht (eindeutig) hergestellt oder unklar ist.“ (Schneider 2021: 15) Die Figureninformationen sind demnach deutlich miteinander verbunden, geben aber nicht alle Antworten über diese Informationsverbindung sofort preis. Die Leerstel- len werden deswegen mit Allgemeinwissen, Erfahrungen, kulturellem, politischem, so- ziohistorischem Wissen etc. gefüllt, das im Text nicht vermittelt wird. Dieser Teil des Verständnisses und der Kohärenzbildung ist dem Wissenschaftler unzugänglich. Leer- stellen werden aber auch mit Inferenzen gefüllt, die auf den im Text vorhandenen Tatsa- chen basieren und erst später im Text vorkommen. Ein Informationsverhältnis, bei dem eine Leerstelle im Text bleibt, bildet beim Rezipienten Erwartungen in Bezug auf das In- formationsverhältnis. Da die Antworten ausbleiben und die Erwartungen des Rezipienten nicht sofort bestätigt, negiert oder verändert werden, muss der Rezipient die Antworten auf Annahmen über das Informationsverhältnis an einer späteren Stelle im Text suchen und erklärt bekommen. Wichtige Verweise auf das Informationsverhältnis stellen für den Modell-Leser Wiederholungen der Figureninformationen dar. b. Die zweite Rolle nimmt der Modell-Interpret ein, der über das Wissen verfügt, wie er eine Leerstelle in der Retextualisierung – in diesem Fall in Form des gleichen Informationsverhältnisses wie in der Vorlage – verändern muss, um sie für ein neues Publikum anzupassen. Der wichtigste Teil der Informationsverhältnisrekonstruktion ist der Übergang zwi- schen dem Modell-Leser und dem Modell-Interpreten. Die im Text signalisierten Bezüge zu einem Informationsverhältnis bzw. einer Leerstelle können durch den Modell-Inter- preten verändert werden. Das bedeutet, dass Passagen im Text, die durch Wiederholun- gen auf ein Informationsverhältnis referieren, verändert werden können. Dadurch wird auch der textuelle Ausgangspunkt für die Inferenzbildung verändert. Das mentale Modell an sich bleibt noch immer unzugänglich, doch die verän- derten Informationsverhältnisse sind aussagekräftig an sich. Mit der modellhaften 265Kajetana Obreza: DIE INFORMATIONSVERHÄLTNISREKONSTRUKTION ... Rekonstruktion von Informationsverhältnissen und ihrem Vergleich kann letztendlich der gedachte Unterschied vom Modell-Retextualisierer rekonstruiert werden. Wenn vom Unterschied in der Retextualisierung gesprochen wird, ist damit diese Stelle im Prozess gemeint. 4.2 Jannidis´ Analysemodell Das Instrumentarium für die Figurenkonstruktionsanalyse ist ein wichtiger Teil der In- formationsverhältnisrekonstruktion. Die Informationsverhältnisrekonstruktion erfolgt anhand der komparatistischen Figurenkonstruktion, für die das Analysemodell von Fotis Jannidis (2004) Figur und Person verwendet wird. Dieses Modell hat die Rolle eines Instrumentariums inne, das die Figurenkonstruktion auf vier Ebenen nachverfolgt (vgl. Jannidis 2004: 198–235). Dies ermöglicht die Nachverfolgung der prozesshaften Kon- struktion von literarischen Figuren im Text. Die literarischen Figuren fangen mit einem Figurenreferent an zu existieren und erhalten direkte oder indirekte Informationen, die weiter vernetzt werden. Nach der Informations-Ebene geht Jannidis (2004) von der Charakterisierungs-, Motivierungs- und Identifikations-Ebene aus. Dem Figurenreferenten werden somit Informationen zugeschrieben, die sukzessive im Prozess der Figurenkonstruktion verfolgt werden können. Auf der Charakterisierungs-Ebene werden die Dauer, Menge, Häufigkeit, Ord- nung und Dichte der Informationen sowie der Informationskontext und Figurenkon- text untersucht. Die Motivierungs-Ebene ist eine „Sinnstruktur, mit der ein Element des Textes mit anderen Elementen in einen sinnhaften Zusammenhang gebracht wird.“ (Jannidis 2004: 254) Als Identifikations-Ebene, die vor allem in der historischen Per- spektive schwer zu erforschen ist, beschreibt Jannidis (vgl. 2004: 229) vorwiegend die Lenkung der Empathie der Leser gegenüber den literarischen Figuren und die Imitation dieser. Durch die Figurenkonstruktionsanalyse auf vier Ebenen wird die Betrachtung und Beschreibung der literarischen Figuren zu einem dynamischen Prozess. 4.3 Einheitliche Einschränkung der Informationsmenge Jeder Text weist eine Menge an Informationsvernetzungen auf, die durch die sukzessi- ve Aneignung von textuellen Informationen exponentiell wächst. Um die veränderten Figureninformationsverhältnisse modellhaft rekonstruieren und vergleichen zu können, müssen die Ausgangsinformationen der Figurenkonstruktion eingeschränkt werden. In der kognitiven Literaturwissenschaft scheinen die erstvergebenen Figureninformatio- nen die richtige Wahl für den Ausgang der Untersuchung zu sein, da sie schon an sich interessante Aspekte der kognitiven Analyse eröffnen. In diesem Zusammenhang wird vom „primacy effect“ (Grabes 1978) gesprochen. Grabes (1978) beschreibt die beson- dere Bedeutung der ersten und letzten Informationen folgendermaßen: 266 VESTNIK ZA TUJE JEZIKE/JOURNAL FOR FOREIGN LANGUAGES „[Da] die ersten Informationen bei der Bildung der Personenvorstellung ein stärkeres Gewicht haben als die folgenden („primacy effect“), wirkt sich [dies] auf die Konstituierung literarischer – und damit fiktiver – Figuren besonders stark aus. Der Grund dafür ist der, daß es diese Figuren ja ‚in Wirklichkeit‘ gar nicht gibt und somit keine Chance besteht, einmal gebildete ‚Vorurteile‘ durch eigene Beobachtung über die Sinneserfahrung zu stützen oder zu widerlegen.“ (Grabes 1978: 418) Da das Informationsverhältnis zwischen der erstvergebenen Figureninformation der Vorlage und der erstvergebenen Figureninformation der Retextualisierung gebildet wird, wird eine genauere Verfolgung der veränderten Informationsverhältnisse in der Retextualisierung ermöglicht. Die Voraussetzung dafür ist, dass die Informationen un- terschiedlich sind und die erstvergebenen Figureninformationen sowohl in der Vorlage als auch in der Retextualisierung vorkommen und auf der discours-Ebene wiederholt werden. Wiederholungen sind für die Verfolgung von kontextuellen Veränderungen in Bezug zum ausgewählten Informationsverhältnis wichtig. 5 REKONSTRUKTION DES INFORMATIONSVERHÄLTNISSES UND VERGLEICH ALS LÖSUNGSANGEBOT Aufgrund der komparatistischen Informationsvergabeanalyse bei der Konstruktion von literarischen Figuren in den ausgewählten altfranzösischen Vorlagen und ihren mittel- hochdeutschen Retextualisierungen werden literarische Figuren in vier Gruppen einge- teilt. Die Analyse der erstvergebenen Figureninformationen erfolgte bei 47 literarischen Figuren in vier Vorlagen-Retextualisierungspaaren. In der Tabelle 1 werden alle Figuren und ihre Gruppenverteilung dargelegt. In den Tabellen 2–5 werden Beispiele aus jeweils einem untersuchten Vorlage-Retextualisierungspaar gezeigt, um die Möglichkeiten der Informationsverhältnisrekonstruktion samt den Retextualisierungseingriffen des Retex- tualisierers, die nur in Gruppe 4 möglich sind, darzustellen. Tabelle 1: Übersicht über die Gruppeneinteilung aller literarischer Figuren, die in die Informationsvergabeanalyse eingeschlossen sind. ChR/RL Y/I EeE/E Al(BdA)/w Gruppe 1 0 1 4 0 Gruppe 2 1 1 1 1 Gruppe 3 6 8 7 11 Gruppe 4 2 0 2 2 Anzahl von allen literarischen Figuren in der Informationsvergabeanalyse 9 10 14 14 267Kajetana Obreza: DIE INFORMATIONSVERHÄLTNISREKONSTRUKTION ... Es gibt literarische Figuren, denen sowohl in der Vorlage als auch in der Retextua- lisierung die gleiche erstvergebene Information zugeteilt wurde. Diese Figuren gehören den Gruppen 1 und 2 an, wobei bei jenen der Gruppe 1 die Informationen nur einmal vorkommen und ohne Wiederaufnahme auf der discours-Ebene der Vorlage und der Re- textualisierung bleiben. Ein Beispiel einer literarischen Figur aus der altfranzösischen Vorlage Erec et Enide und der mittelhochdeutschen Retextualisierung Erec, die zur Gruppe 1 gehören, sind die 2 Riesen/2 Riesen E3, deren Informationsvergabe in Tabelle 2 vorgelegt ist. Die Tatsache, dass die 2 Riesen im Vergleich zu den 2 Riesen E die ‚gleiche‘ Information zugeschrieben bekommen – ‚der Mann der Jungfrau wurde entführt bzw. verschleppt‘ – macht die Bildung eines Verhältnisses, unter dem die Figurenkonstruktion der 2 Riesen/2 Riesen E vergleichend analysiert werden könnte, unmöglich. Tabelle 2: Beispiel einer literarischen Figur der Gruppe 1. Erec et Enide Erec Begründung für die Gruppenauswahl 2 Riesen Seule la leisse, et seus s´an va, / tant que la pucele trova / qui par le bois aloit criant / por son ami que dui jaiant / avoient pris, si l´an menoient; / vilainnemant le demenoient.4 (EeE 4299–4304)5 2 Riesen E „herre, dâ hânt mir in benomen / zwêne risen, die vuorten in / des gevertes vor mir hin. [...]“ (E 5355–5357)6 Gruppe 1 Der Figurenreferent in Erec et Enide sind ‚zwei Riesen‘ mit der erstvergebenen Figureninformation ‚den Freund der Frau gefangengenommen und schlecht behandelt‘ zu haben. Der Figurenreferent in Erec sind ‚zwei Riesen‘ mit der erstvergebenen Figureninformation ‚sie haben den Mann der Jungfrau verschleppt‘. Bei den literarischen Figuren der Gruppe 2 werden die erstvergebenen Figureninfor- mationen noch mindestens einmal auf der discours-Ebene sowohl in der altfranzösischen Vorlage als auch in der mittelhochdeutschen Retextualisierung aufgenommen. Im Fall der literarischen Figuren Yvain/Îwein, wie in der Tabelle 3 dargelegt wird, ist die erstvergebene 3 Falls die Namen sowohl in der Vorlage als auch in der Retextualisierung identisch geschrieben werden, wird die Abkürzung des Werkes zum Namen hinzugefügt, um zwischen den literarischen Figuren differenzieren zu können. Alle Abkürzungen der Vorlagen und der Retextualisierungen werden neben den Werken unter der Primärliteratur angeführt. 4 Hochdeutsche Übersetzungen von altfranzösischen und mittelhochdeutschen Zitaten aus der Primärliteratur werden als Fußnote zu jeweiligem Zitat angeführt. 5 Erec ließ sie allein und ritt fort, bis er die Jungfrau fand, die schreiend durch den Wald lief, ihres Freundes wegen, den zwei Riesen gefangengenommen hatten und fortführten; sie gingen roh und grausam mit ihm um. 6 „Herr, geraubt haben ihn mir / zwei Riesen, die ihn / auf dem Weg vor mir wegschleppten. [...].“ 268 VESTNIK ZA TUJE JEZIKE/JOURNAL FOR FOREIGN LANGUAGES Figureninformation ‚die Pflicht der Rache für seine Verwandtschaft‘. Auch in diesem Fall kann kein Verhältnis zwischen den ‚gleichen‘ Informationen gebildet werden, unter dem diese zwei literarischen Figuren komparatistisch verglichen werden können. Tabelle 3: Beispiel einer literarischen Figur der Gruppe 2. Yvain Iwein Begründung für die Gruppenauswahl Yvain „Par mon chief!“, dist mes sire Yvains, / „Vos estes mes cosins germains, / Si nos devons mout antramer; / Mes de ce vos puis fol clamer, / Quant vos le m´avez tant céle. [...]“ (Y 581–585)7 Îwein Dô rechent der herre Îwein / die künneschaft under in zwein: / er sprach: „neve Kâlogrêant, / ez richtet von rehte mîn hant / swaz dir lasters ist geschehen. [...]“ (I 803–807)8 Gruppe 2 Der Figurenreferent für Yvain ist ‚Yvain‘ mit der erstvergebenen Figureninformation ‚er muss seinen leiblichen Vetter rächen‘. Der Figurenreferent für Îwein ist ‚Îwein‘ mit der erstvergebenen Figureninformation ‚Rache für die Verwandtschaft ist seine Pflicht‘. Zur Gruppe 3 gehören literarische Figuren, denen in der altfranzösischen Vorlage und ihrer entsprechenden mittelhochdeutschen Retextualisierung unterschiedliche erst- vergebene Figureninformationen zugeschrieben wurden und die nicht beide sowohl in der Vorlage als auch in der Retextualisierung vorkommen. Als Beispiel wird die Infor- mationsvergabe von Ariofles/Arofel in der Tabelle 4 gezeigt. Im Fall von Ariofles aus dem altfranzösischen Aliscans ist die erstvergebene Information: ‚er kam den Christen entgegen und brachte die Leute in sehr große Bedrängnis‘. Diese Information kommt in der mittelhochdeutschen Retextualisierung nicht vor. In der mittelhochdeutschen Re- textualisierung Willehalm ist die erstvergebene Figureninformation von Arofel auf sein verwandtschaftliches Verhältnis zum mächtigen heidnischen König Terramêr bezogen: ‚Bruder von Terramêr‘, die aber nicht in der Vorlage Aliscans in Bezug auf die literari- sche Figur Ariofles vorkommt. Auch wenn der historische Retextualisierer einen Grund für die Veränderung der Fi- gureninformationen von Ariofles/Arofel hatte und einzelne Aspekte unterschiedliche Fi- gurenkonstruktionen oder ihre Interpretation verursachen, fehlt den literarischen Figuren der Gruppe 3 die Möglichkeit, die Figurenkonstruktion unter einem Informationsverhält- nis zu analysieren, weil nicht beide Figureninformationen sowohl in der Vorlage als auch in der Retextualisierung vorkommen. Dass die erstvergebenen Figureninformationen in 7 „Bei meinem Haupt!“, sagte Herr Yvain, „Ihr seid mein leiblicher Vetter, und so sind wir gehalten, einander viel Liebe zu erweisen; und doch mag ich Euch einen Toren nennen, weil Ihr mir dies solange verschwiegen habt.“ 8 Nun zählte Herr Iwein / zu seiner Verwandtschaft, / er sagte: „Vetter Kalogreant, / es ist meine Pflicht, daß meine Hand rächt, / was Dir an Schande geschehen ist. [...].“ 269Kajetana Obreza: DIE INFORMATIONSVERHÄLTNISREKONSTRUKTION ... der Vorlage und in der Retextualisierung nicht wiederholt werden, macht keinen großen Unterschied für die Gruppe 3, weil als Erstes ein Informationsverhältnis in der Vorlage und in der Retextualisierung existieren muss. Welche Unterschiede bei der Retextualisie- rung durch neu hinzugefügte Informationen in diesem Fall gewünscht waren, kann nur vermutet werden. Der Grund dafür liegt darin, dass der gegenwärtige Leser ein Verhält- nis zwischen zwei Figureninformationen in der Vorlage nicht mit dem in der Retextua- lisierung vergleichen kann, weil dasselbe Verhältnis in der Retextualisierung nicht exi- stiert. Die Gruppe 3 ist somit diejenige, die keine Informationsverhältnisanalyse erlaubt und dadurch auch keinen Zugriff auf das Wissen über die Informationsverhältnisse des Modell-Retextualisierers ermöglicht. Tabelle 4: Beispiel einer literarischen Figur der Gruppe 3. Aliscans Willehalm Begründung für die Gruppenauswahl Ariofles Icele jenç i fu mol isbaratee, / Qant li Ariofles li sorç d’une valee / A toç .X. mille d’une gens desfaee.9 (BdA, 263–265) Arofel Terramêr was ir vater. / Arofeln, sînen bruoder, bat er / und den starken Halzebier. (W 9,21–9,23)10 Gruppe 3 Der Figurenreferent für Ariofles ist ‚Ariofles‘ mit der erstvergebenen Figureninformation ‚er kam den Christen entgegen und brachte die Leute in sehr große Bedrängnis‘. Der Figurenreferent für Arofel ist ‚Arofel‘ mit der erstvergebenen Figureninformation ‚Bruder von Terramêr‘. Am interessantesten für die Analyse ist die Gruppe 4, zu der die literarischen Fi- guren gehören, denen in der Vorlage und in der Retextualisierung zwar unterschiedli- che erstvergebene Figureninformationen zugeschrieben wurden, die jedoch beide in der Vorlage und in der Retextualisierung vorkommen. Aufgrund dessen kann die Figuren- konstruktion unter dem Paradigma von einem Informationspaar in der Vorlage und dem ‚gleichen‘ Informationspaar in der Retextualisierung analysiert und verglichen werden. Im Fall von Chanson de Roland, wie in der Tabelle 5 dargelegt wird, wird Guenes mit der erstvergebenen Figureninformation ‚begang Verrat‘ verbunden, die auch bei Genelûn im Rolandslied vorkommt – aber nicht als erstvergebene Figureninformation. Genelûn wird im Rolandslied mit der erstvergebenen Figureninformation ‚widersprechen‘ verbun- den, die auch im Fall von Guenes im Chanson de Roland vorkommt – jedoch mit einer 9 Diese Leute wurden dort sehr in Bedrängnis gebracht, / als Ariofle ihnen aus einem Tal heraus entgegenkam / mit allen zehntausend ungläubigen Männern. (Al, 263–265) 10 Terramer war ihr Vater. / Arofeln, seinen Bruder, bot er auf / und den starken Halzebier. 270 VESTNIK ZA TUJE JEZIKE/JOURNAL FOR FOREIGN LANGUAGES veränderten Reihenfolge bzw. nicht als die erstvergebene Figureninformation. Dadurch können beide literarische Figuren – Guenes und Genelûn – unter dem Informationsver- hältnis Verrat und Widerspruch analysiert werden, das zum Paradigma der Untersuchung der vergleichenden Figurenkonstruktion wird. Tabelle 5: Beispiel einer literarischen Figur der Gruppe 4. Chanson de Roland Rolandslied Begründung für die Gruppenauswahl Guenes Guenes i vint, ki la traïsun fist. (CdR 12; 178)11 Genelûn Genelûn ûf spranc. / er sprach: „die fürsten haben alle undanc, / daz si edele unde wîse sint. / wie man die tumbesten vernimt! / die sint nû ze hove râtgeben. [...]“ (RL 1093–1097)12 Gruppe 4 Figurenreferent für Guenes ist ‚Guenes‘ mit der erstvergebenen Figureninformation ‚begang Verrat‘. Der Figurenreferent für Genelûn ist ‚Genelûn‘ mit der erstvergebenen Figureninformation ‚widersprechen‘. Beide literarische Figuren werden mit den Informationen ‚Verrat, Verräter‘ und ‚Widerspruch, widersprechen‘ verbunden. Deswegen kann diese literarische Figur mit der ausgewählten Methode analysiert werden. Die Figurenkonstruktionsanalyse derselben literarischen Figur der Vorlage und der Retextualisierung unter einem Informationsverhältnis durchzuführen, das sowohl in der Vorlage als auch in der Retextualisierung vorkommt und anschließend die Rekonstruktio- nen des Informationsverhältnisses zu vergleichen, vermeidet das Füllen einer Leerstelle mit Eigenannahmen des Interpreten. Zweitens ermöglicht der Vergleich der Figurenkonstrukti- onsanalyse unter dem Paradigma des Informationsverhältnisses die Verfolgung der Verän- derungen in der Figurenkonstruktion in der Vorlage mit demselben in der Retextualisierung. Die veränderten retextualisierten Informationsverhältnisse bedeuten auch eine Ver- setzung oder Veränderung im Kontext, der um die Figureninformationen gegeben und mit den Figureninformationen verbunden wird. Dadurch wird das Wissen des Modell- Retextualisierers im Sinne des Wissens über die textuellen Anweisungen als Rekonstruk- tion sichtbar. Daraus können letztendlich soziohistorische Spezifika des Veränderten und veränderte kulturelle Konzepte erschlossen werden. 11 Ganelon kam dorthin, der den Verrat beging. 12 Genelun sprang auf. / Er sagte: „Fluch über die Fürsten alle, / daß sie edel und erfahren sind. / Wie man hier auf die größten Toren hört! / Die sind heutzutage Ratgeber bei Hofe. [...].“ 271Kajetana Obreza: DIE INFORMATIONSVERHÄLTNISREKONSTRUKTION ... 6 SCHLUSSBEMERKUNGEN Der vorliegende Beitrag zeigt eine mögliche Annäherung an das Wissen des Modell- Retextualisierers mithilfe einer komparatistischen Figurenkonstruktionsanalyse, die ein Informationsverhältnis als Untersuchungsparadigma hat. Durch die Informationsver- hältnisrekonstruktion desselben Verhältnisses in der Vorlage und der Retextualisierung wird eine Eigeninterpretation der Leerstellen vermieden, weil die Schlüsse aufgrund der textbasierten Tatsachen von literarischen Figuren gezogen werden. Der Vergleich der Unterschiede in der Informationsverhältnisrekonstruktion zwischen der Vorlage und der Retextualisierung kann Antworten auf die Retextualisierungseingriffe des Retextualisie- rers geben, die wiederum soziohistorisch und kulturell spezifisch kontextualisiert werden können. Diese Analysemethodik ermöglicht kognitiv, literaturwissenschaftliche Ansätze in der historischen Perspektive anzuwenden und die Prozesshaftigkeit der Bedeutungs- bildung zu rekonstruieren. Weil nur die erstvergebenen Figureninformationen verfolgt werden, bedeutet das aber nicht, dass das die einzigen Möglichkeiten der Analyseeingrenzung und Gruppenzu- teilung der literarischen Figuren sind. Die erstvergebenen Figureninformationen bilden aber aufgrund ihrer besonderen Bedeutung bei der sukzessiven Aneignung von Informa- tionen, Tatsachen und Bildung von Inferenzen einen guten Ausgangspunkt zur Eingren- zung einer exponentiell wachsenden Zahl von Informationen, Tatsachen und Inferenzen einer literarischen Figur. LITERATURVERZEICHNIS Primärliteratur (CdR): Das altfranzösische Rolandslied (1999) Afrz./Dt. Übers. u. komm. von Stein- sieck, Wolf. Nachwort von Kaiser, Egbert. Stuttgart: Philipp Reclam. 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POVZETEK REKONSTRUKCIJA RAZMERJA DVEH INFORMACIJ IN NJUNA PRIMERJAVA PRI ANALIZI KONSTRUKCIJE DVEH LITERARNIH OSEB KOT IZHODIŠČE IN MOŽNOST DOSTOPNOSTI K ZNANJU MODELNEGA RETEKSTUALIZATORJA V HISTORIČNI PERSPEKTIVI Članek se osredinja na možnost uporabe kognitivnih literarnih pristopov v historičnem kontekstu, s ciljem sledenja procesu konstrukcije literarne osebe. Pri tem izhaja iz specifik literarnega prenosa staronemških tekstov in njihovih ustreznih starofrancoskih izhodiščnih besedil. Ti literarni prenosi niso vezani na moderne prevajalske teoretične okvire. Ta posebnost se kaže v velikem vsebinskem razkoraku, ki pa kljub temu ohranja podobnosti med prenesenim in izvirnim tekstom. V središče raziskave so postavljene literarne osebe, ki so nosilke tako podobnosti kot tudi razlik pri prenosu za novega recipienta. Teoretično jih razumemo kot mentalne modele, ki nastanejo v interakciji med bralcem in tekstom. Mentalni modeli kot končni produkti sicer za raziskavo ostajajo nedo- segljivi, saj vsak recipient tvori svoj lastni unikatni mentalni model v interakciji s tekstom, ta pa ostaja nedosegljiv ne le ob odsotnosti historičnega recipienta, temveč tudi z empirično analizo v sedanjosti. To sicer ne onemogoča proučevanja teksta, ki predstavlja navodila za konstrukcijo mentalnih modelov. Opisana metoda temelji na primerjalni rekonstrukciji razmerja dveh informa- cij iste literarne osebe. To razmerje postane paradigma za analizo konstrukcije teh dveh literarnih oseb v kulturnem transferju in na podlagi njune primerjave omogoča slediti spremembam, ki so nastale pri retekstualizaciji literarnih oseb v in za novo sociološko-historično okolje. Za to analizo se ponuja model Fotisa Jannidisa (2004) Figur und Person, ki opiše konstrukcijo literarne osebe na štirih ravneh, od njenega nastanka in prve podane informacije preko karakterizacije, motivacije in vse do identifikacije. Primerjalno sledenje konstrukcij dveh literarnih oseb z omenjenim modelom na štirih ravneh omogoča sledenje procesu konstrukcije razlik in s tem spremenjenih navodil za konstrukcijo mentalnega modela ter dostop do znanja mentalnega retekstualizatorja. Ključne besede: literarne osebe, kulturni transfer, retekstualizacija, kognitivna historična pripove- dna teorija, paradigma razmerja informacij 276 VESTNIK ZA TUJE JEZIKE/JOURNAL FOR FOREIGN LANGUAGES ABSTRACT THE INFORMATION RELATIONSHIP RECONSTRUCTION AND ITS COMPARISON IN THE CONSTRUCTION OF LITERARY CHARACTERS AS A STARTING POINT AND POSSIBILITY OF ACCESS TO THE KNOWLEDGE OF THE MODEL RETEXTUALIZER FROM A HISTORICAL PERSPECTIVE The following article emphasizes the possibility of using cognitive literary approaches in a histori- cal context with the aim of following the process of the construction of a literary character. In doing so, it derives from the specific literary transmission of Old German texts and their corresponding Old French source texts. These literary transmissions are not tied to modern translation theoretical frameworks. This peculiarity is manifested in a large gap in content, which nevertheless maintains similarities between the transmitted and original texts. The focus of the research is placed on literary characters who are carriers of both similarities and differences in transmission for a new recipient. Theoretically, they are understood as mental models that arise in the interaction between the reader and the text. Mental models as final products remain inaccessible for research, since each recipient creates their own unique mental model in interaction with the text, and this remains inaccessible not only in the absence of a historical recipient, but also through empirical analysis in the present. However, this does not prevent the study of the text, which presents instructions for the construction of mental models. The method is based on the comparative reconstruction of a relationship between two information sources of the same literary character. This informational relation, however, has become a paradigm for the analysis of the construction of these two literary characters in a cultural transfer. Their comparison also enables the changes that occurred during retextualization of literary characters to be tracked in and for the new socio-historical context. For this analysis, the model from Fotis Jannidis’ Figur und Person (2004) is presented, which describes the construction of a literary character on four levels: from its creation and the first information given through characterization, motivation and all the way to identification. The com- parative tracking of the constructions of two literary characters with the aforementioned model on four levels enables the process of construction of differences, and thus the changed instructions for the construction of the mental model to be tracked and the knowledge of the mental retextualizer to be accessed. Keywords: literary character, cultural transfer, retextualization, cognitive historical narratology, informational relation paradigm