Ausslan^ Mckil lliltl Mollen von Frnn; d. Uökcr Iwcilel' önch. (Diinchon. Tkeodor A cl: cr in n n n 1531. Alle Rechte vorbehalten. Uebersicht. II. KiMchc Eigenart und Entwicklung. I. Gau« der Kultur in Rußland. Seite 1. Abmesse......... 3 2. Wottensselnlde....... 5 3- Soziale Grundlasse...... 7 4. Rückblick........ 9 II. Kulturbilder aus dem siebzehnten Jahrhundert. 5. Adain Qlearms ....... 1.! s». .häusliche Vinrichtnnssen..... 14 7. (5sscn nnd Trinken...... 16 ^- Männer nnd ssranen...... 18 9. Charakter ,......- 21 W. Gcistcsaabeu ........ 24 11. Gerichtswesen ....... 25 12. Staatsmescn........ 27 13. Religion........ 29 III. Uebel-Miss zur europäischen Civilisation. '4, Nöthigende Ursachen...... 32 15- Peter der Große....... 35 IV. Schicksal des Zarcwitsch Älrxci. 16- Inssend ... .... 3? 17- Flucht......... 39 V. Vier Generationen. 1«. Europäischer Nolk^heil...... 45 >'i- vlachahmunaMaleut...... 47 -»>- Wirderschein deutscher ^ntnucllünss ... 49 II Vs. Stantsverwaltunss alten Stils. Seite 21. Satrapen........53 22. Veamte.........55 Vll. Altes Bauernelend. 23. Neberantnwrtet....... 57 24. Dienste nnd Abgaben...... 58 25. Sittliche Verkommenheit..... 59 2<'.. Klassen der Nanern...... 61 Vlll. Entstehunss der Loibciqenschnft. 27. Historisches Dnntel...... 61 28. Verlanf in Dentschland..... 6b 29. Nnssische Unterschiede...... 68 IX. Adclsleben in alter Weise. !W- G«uöhuliche Edeliente......71 ^>I. Absoilderliche nnd Vornehme .... 74 :i2- Siltenbildchen...... . 75 Iunqe Männer- Ideale, Hänslichteit. Vornehine Welt. Znknnst, X. EtiidtessriiudilNsse». ^,!. Äiirqertlassen.......79 34. Nawrfehler........<^l2 XI. Neue Neformcftoche. 35. Charakter........ >46 36. Parteien........ 87 37. GrnndMe der Reform...... «>> Xll. llnsscwisjljcit. 3«. hoffen nnd Fiirchten .....<.N 39. Schlüsse ails die Znkunft.....94 Ill Xlls, Perssleilh mit den Nordamerikanern, Seite 4»>. Aehnlichteiten....... 96 41. Unterschiede........ 100 XIV. Polkscinenthümlichkeiten. 42. Beharren........ 103 4:;. Verschiedenheit vo,i Tlaoell ^»nneil nnd Gerinanen 105 44. Familie und Handstand..... 106 45, Gemeinde........ 108 4<>. Mtionalqefnhl »nd ^arenherrschaft ... 110 XV. Tunnlischc Ncstlnqe. 47. Relission^art........ 112 4«. Asiatische Grnndströmnnss..... 114 4',). Sprachlicher yiniueis...... 116 5li. Geschichtliches....... 116 .',!. Zwittcrnatnr........ 119 XVI. Vauerumnsse. 52. Umfang........ 122 5A. Charnktcrziige....... 125 54. sixiste^kmfte........ 127 XVII. Russische Knnfleute. 55. Orientalische Natnr...... 131 50. HäwMMit........ 133 XVIN. HülM-e Klassen. 57. Allcr>ve!t''lnldnnq....... 136 "tt. ^weifelsucht . ,...... 137 5l,'. Vaterlandsliebe....... 13Ä "'. ^tnsä>,e ^>l ächtem Adel..... 140 X I X. Aufhebung der Lcibeistcuschaft. l'l. lHrschntteruilg....... 144 62. Wirthschaftticho Follde ^erse!;>lng...... 153 IV Seite 66, Abnahme der Haus-- und Wcrkgcnosscnschaften . 155 67- Anflösung der alten Laudgemeiude . . . 156 XXI. Heranbildung vom bessern Mittelstand. 68. Abartunaen........ 160 69. Allerlei Schulen....... 162 70. Geschichtlicher Ueberblick des russischen Unterrichtswesens 165 XXII. Höhere Schulen. 71. Universitätseinrichtnng...... 168 72. Mangel an idealem Sinn..... 169 73. Kampf zwischen Realismus uud .Humanismus . 172 74. Gymnasialeinrichtuna....... 174 XXIII. Volksschulen. 75. Nothwendigkeit....... 177 76. Geringer Anfang....... 179 77- Langsamer Fortschritt...... 181 XXIV. Gerichtswesen. 78. Grundsätze der Reform...... 184 79- Standcsgerichte und Friedensrichter . . . 185 80. Geschwornengerichtc...... 187 81. Andere richterliche Behörden..... 188 82. Rechts- oder Polizeistaat?..... 189 XXV. Handelsbetrieb. 83. Europäisch-asiatische Art..... 191 84. Waarenbeförderung...... 192 85. Stnfen der Hanoelslente..... 193 86. Markthandel . . ..... 195 87. Alte und neue Weise...... 1<,>7 XXVI. Groß- «nd Kleinrussc« im Handel. 88. Hausirer und Fuhrleute..... 200 89. Haudelsbedeutung Kleinrußlauds .... 203 90. Kosakeuzeit........204 91. Polnische Zeit....... 206 II. Nllsslsche Eigenart nnd Entwicklung. I. Gang der Lnltnr in Nnkland. 1. Abwege. Es ist noch keinem Volke eine Tchande gewesen, von weiter fortgeschrilteneil Völkern Lehre anzunehmen. Selbst die hochbegabten Griechen innßten bei Phöniciern nnd Acgyvtern in die Tchnle gehn. Anch hat es innnerdar lange nnd inühseligc Arbeit gekostet, bis das Dunkel in den Geistern gelichtet nnd die alte Nohheit besiegt war. Die christlichen Glanbeu^boten mögen vont sechsten bis zmn nennten Jahrhundert gar oft in bittere Klage nnd Verzweiflung verfallen sein über die harten Köpfe der Deutschen. Niemand aber schadet den Seinigeu mehr, als wenn er ihnen beständig von großen Onben nnd geschichtlichen Anlagen vorspricht, und iiber den Mängeln der Gegenwart blinkende Hm-nnngen anfrichtet. Eine andere Lohre der beschichte ist, das; ein Volk nnr dann im Stande, eine neue nnd höhere Civilisation zu schaffen, wenn es sich zncrst all der Vilonngsstosse, die in seinem Zeitalter vorhanden, bemächtigt nnd sie verarbeitet hat. Wer anders verfahren will, führt die Entwickelnng anf Abwege. Man stelle sich doch eimnal vor, wie viel weiter jetzt das russische Volt in seiner ganzen Entwicklung sein würde, wenn der gewaltige Antrieb, welchen ihm Peter der Große zu Anfang 1* ^___^_____ des vorigen Jahrhunderts gab, nin zweihundert Jahre früher Statt Munden hätte. Wäre es dann möglich gewesen, daß die großen Fortschritte, welche die europäischen Völker in Staats-wesen, Industrie, nnd Wissenschaft machten, Rußland fast gänzlich bei Ceite ließen? Der gerügten Fehler aber macht sich die altrussische Partei schuldig. Diese Partei wird noch lange Zeit auf die Stimmungen im Volke starten Einflnß üben, weil sie die einzige ist, welche nicht bloß vom Auslande topirt, sondern ursprüngliche Ideen und warmes Herz hat, nnd welche nnt Allem sich verbindet und uerschwistert, ans Allem Nahruug zieht, was an wahrhaft nationalem Gefühl bei den N,ussen vorhanden. Diese Partei aber treibt geradezu Abgötterei mit dem gemeinen Volke derVauern und Weinbürger. Das rnssische Volk, wird behauptet, sei in der bösen Gegenwart urgesund, schlicht nnd natürlich geblieben; es allein sei von unserer Civilisation nicht verdorben und vergiftet; ans den unermeßlichen Tiefen dieses Volkes werde eine neue Civilisation hervorgehen, welcher die Zukunft gehöre, Grundstein der neuen sozialen Ordnung müsse das Gemeindeleben, der Mir, werden, Grundstein der sittlichen Ordnuug sei der fromme gläubige Sinn des rnssischm Volks. Eine solche nagelneue Cultur wäre nun eine vortreffliche Sache, schon der Langeweile wegen, die Einen wohl in dieser Welt von litcrarischen Kleinmeistern und großen Börsenhcloen anwandeln kann. Ich habe mich deshalb redlich bemüht, dahinter zn kommen, woranf sich denn eigentlich diese erhabene Hoffnung, diefe bergartige Zuversicht gründe? Allein trol; aller Mühe habe ich nichts anderes entdecken können, als ein unklares Massen-bewnßtsein und einen falschen Schluß. Der Schatten, welchen die große dicke Masse wirft, fällt verdunkelnd auch in die Köpfe, und der Schluß ist: weil diese große Masse in der Kulturgeschichte noch gar nichts gethan, deshalb müsse sie um so Größeres 5 noch leisten. Ja edler und majestätischer, so meinen manche Moskauer Herren, iverde diese russisch soziale il'nltur werden, als alles, was das Alterthum und die neueren Völker zusammen genommen geleistet haben. Ohne Zweifel ist eine landschaftliche Ursache mit im Spiele, dasi diesen Ideenreichen die Zukunft als so herrlich nud gewaltig vorschwebt. Wer beständig unermeßliche nackte Ebenen uor Augen hat, dessen Phantasie wird nothwendig in dunkle Weiten hingezogen nnd thürint sich dort nngehenre Nebelberge auf. 2. Wolkcngebilde. Bei deinen« drückt sich dieses Natnrspiel lebendiger aus, als bei dem sonst so scharf blickenden Oogol, Zivei Stellen aus seinem mwollendeten Roman „Todte Seelen" mögen deshalb hier Platz finden. „O Nllsiland, Nusiland! I6) sehe dich ans meiner wunderbaren Weite, ich sehe dich im fernen schönen Lande. Arm nnd dümig ist deine Natur, keine kühnen Naturschöuheiten, uon noch kühnern Kunstwundem gekrönt, erfreuen nnd erschrecken deine Vlicke. Dn hast keine Städte mit in Felsen gehauenen hohen Palästen, keine malerischen Bäume mit (5pl,eu nmwnnden, die unter dem Oeränsche nnd dem ewigen Staube der Wasser« fälle in den Hänsern Wurzel geschlagen. Dn wendest nicht den Kopf rückwärts, um die endlosen in die Höhe sich thürmenden '^ieinmassen anzustaunen. Zwischen den hingeworfenen mit ^ebenzweigen Ephen nnd Millionen wilder Rosen umwundenen Säulengängen glänzen keine blänlichten Verge, die in den Nlbernen klaren Himmel hineinragen. Flach nnd eben ist Alles >n dir. Wie einzelne Punkte, wie Ausrufungs.zeichen erheben sich nnbcmcrkt deine Städte nnf den Ebenen. Nichts verführt und entzückt das Auge. Aber welche unbegreifliche geheime Kraft zieht uns zu dir? Wärmn erschallt nnaufhörlich in nnfcren Ohren dein trauriger von Thal zu Thal, uon Vieer zn Äieer sich verbreitender einförnliger Gesang? Was liegt in diesen Melodien, das rnft nnd schluchzt nnd das Herz ergreift? Welche Töne dringen wehmüthig in die Seele, und ziehen mein Herz in ihren Zanbertreis? Nnßland! Welches unbegreifliche Band knüpft mich au dich? Warurn schallest dn nlich an? Warilm blickt Alles in dir mil harrenden, sehnsüchtigen Augen ans mich? , . - . Und noch slehe ich unbeweglich, voller Zweifel und Beden! lichteiten, uud schon sind drohende Wolken heranfgezogen, schwanger mit künftigen Regengüssen, und der Gedanke verstummt uor deiner Weite, Was prophezeit diese unumfaßbare Ausdehunng? Wird hier uicht, wird nicht iu dir der gränzen-lose Gedanke zur Erscheinung tonimen, da dn selbst so endlos wie der Gedanke? Wird hier uicht ein ritterlicher Yetd ent-stehcu? Hat er doch Platz ncung, zn wachsen, zu gedeihen! Fürchterlich ergreift mich die mächtige Ansdehnnng, mit einer unheimlichen klraft ersüllt sie meine Eeele; »leinen Angen ist eine übernatürliche Seetraft verliehen! Ha, welch ein glänzendes wunderbares Laud imd wird zmnStnrme, l>nd das Renßenland fliegt an der Erde vorbei, und die anderen Völker nnd Reiche weichen ihm ans nnd hemmen nicht seinen Lanf!" „Fliegt an der Erde vorbei'?" Das wäre doch des Nn-sinns zn viel. Gogol wollte aber wohl nnr ausdrücken: Nußland lasse in seinem rasenden fortschritt alle Völker der Erde hinter sich, Ist es nicht erklärlich, das; das furchtbare Gegentheil der Wirklichkeit mörderisch in die Seele dieses Kleinrnssen einschuitt, bk, sein zerrütteter Geist die ^,nf!ncht zn Heiligenbildern nahm nnd er vor ihnen bnssend uerhnngerte^ 3< Soziale Grundlage. Wir wollen uns nnn die „.Helden der Znknnft" einmal etwas schärfer ansehen. Es wird sich dabei Manches deutlicher darstellen, was bei Gelegenheit des vorstehenden Reiseberichts nnr angedeutet worden, ^>nvor aber nehmen nnr noch einen knrzen Rückblick auf die russische ^nltnrgeschichte. Die Großrussen sind in der Urzeit zwar lein Hirtenvolk, wohl aber eine Art Feld Wald- und Fluß Nomaden gewesen, die den Strömen nnd ihren Nebenflüssen folgend sich immer weiter in die Ebenen hinein siedelten. Zu einem eigentlichen l^taatsivesen müssen sie in der ältesten Zeit es noch nicht gebracht haben. Hier nnd dort gab es mächtige Gemeinden, insbesondere Mnttergemeinden, von welchen ansgchend sich Mößere Schaaren von Ansiedlern ringsum ausgebreitet hatten. _____^_____ Hier und dort gab es anch einzelne mächtige ,Herren, die einen Anhang sammelten nnd unt seiner Hiilfc sich in kleinein Umkreise Land nnd Lente pflichtig machten. Das soziale Leben, aber beruhte in Familie nnd Gemeinde. Der Familien-Aelteste, das ist der Vater, bildete mit seineu Söhnen nnd Vnkeln nnd deren Weibern, oder, wo der Vater fehlte, der älteste Bruder bildete mit seinen nächsten Verwandten einen einzigen Haushalt, in welchem die Weiber nuterthcm waren nnd die Männer gleichen Antheil am Familicngnte hatten. Alles gehorchte dem Familicuhanpt, solange die Mehrheit der Männer nicht glaubte, die Noth zwinge sie, sich wider seinen Willen anfznlchnen. Die Familien, welche beisammen wohnten, bebanten gemeinschaftlich das Land, welches sie bei der Ansiedelung in Besitz genommen. Zur «Hrleichternng des Feldbaues theilten sie das nrbare Land nnter die Hanshaltnngen, während Wald nnd Weide zu gemeinschafllicher Benutzung liegen blieb, ^nr leichteren Verwaltung der gemeinschaftlichen Angelegenheiten wählten die Familien-Acltcsteu einen Gemeiudcuorstand, mit welchem sie zusammenkamen, nm zu vereinbaren, was in ihrem kreise zn geschehen hatte. Was der Gemeinde-Aelteste verkündigte, war Gebot für alle, dem sie so lange unbedingt Folge leisteten, bis sie etwa sich gedrungen sahen, eine kleine Revolution zu machen, den Gemcinde-Aeltesten abzusetzen und einen Anderen an seine Stelle zu küreu. Nun war, so wird berichtet, im achten Jahrhundert unserer Zeitrechnung unter den mächtigeren Herren nnd Gemeinden Streit nnd Hader entstanden, nnd da hätten sich die Nnssen nicht anders zu helfen gewußt, als daß sic ein stärkeres Geschlecht, die germanischen Waräger, herbeiriefen, damit sie Ordnung im Lande stifteten nnd das Volk regierten. Ohne Zweifel waren diese Germauen früher schon an verschiedenen Stellen unter die Nüssen eingeornugen nnd hatten ihnen mit scharfein 9 Schwcrtklang und stolzem Willen zn schaffen gemacht. To be^ kämm die Russen nun ein gemeinschaftliches überhaupt, n»d seinen Geboten sich blindlings zil fügen wurde allgemeine Regel. Der Fürst wnrde wie ein Familien^ oder GemeindeAelte^ ster für das ganze Volt aufgefaßt. Das Gefühl jedoch, welches die Männer den drei verschiedenen Nettesten entgegenbrachten, war weniger das der Zuneigung, wie sie nnter dem Patriarchen-Zelte sich findet, sondern der Ehrfurcht ^ch ^g Gehorsams, verbunden mit der Neigung, Andere für sich reden und beschließen zn lassen. Nei dieser höchst einfachen gesellschaftlichen Verfassung, die ihnen als der Mir, d. h. Macht »nd Ordnung auf der Welt, in dreifacher Abstufung vorschwebte, blieben die Nnssen ein Jahrhundert nach dein anderen stehen. Was sie sonst anf kulturhistorischem Gebiete schafften, war nud blieb äußerst dürf> llg. Ihre nationale Triebkraft bekundete sich nur darin, daß die Vauern uud Fischer und Wäldler mit ihren Ansiedelungen ihren Mir stets weiter ausdehnten. To würden wir von ihrer ältesten Religion gewiß mehr wissen, hätte sie nicht in sehr dämmerigen Vorstellungen und sebr kindlichem Gottes- oder Götzendienst bestanden. Was aber an nationalem Recht erwuchs., beschränkte sich auf die drei Tatze: daß das Weib dein Mann «nterthäuig sei, daß alleu Geuosseu der paus- oder Torf« oder Volksgemeinde Feld lind Wald gehöre, daß der Fürst Gottes Stellvertreter auf Erden, ^eiue stäudische Verfassung, kein Bürger-llnun. blos! Ortschaften, die beharrend jahraus jahrein in der einfachsten nud dürftigsten Hans »ud Feldwirtschaft, die Ttädte nichts als größere Ausiedelimgen von Banern uud einigen Handeltreibenden. 4. Rückblick. Wahrscheinlich haben die Rufseu schon von den alten Gnechen einige Einwirkung erfahren. Noch ',u Anfang des 10 siebzehnten Jahrhunderts „richmleu sie sich deren Ankunft und Art/") Das Schwarze Meer war von griechischen Ansiedelungen umringt, von denen die Russen nicht wenig lernen konnten, lind sollten die neugierigen anfgewsckten Weltfahrer, deren es genug uuter den (kriechen gab, sich niemals in die Steppen nud Ebenen Rußlands hinein gewagt haben? Können wir doch die Erzählung vom Schiller Colons, dem Teythen Anarcharsis, der seine wilden Landsk-nte säuftigen wollte, nicht ohne Weiteres zurückweisen. Wohor die sonderbare uralte Vorliebe des russischen Adels, uor ihre kleinen einstöckigen Hänser auf dem Lande ein Säulen-Portal zu setzen? Der Kokoschnik, die kleidsame Stiruhanbc der Russinnen, isl ganz dieselbe, wie wir sie auf Statnen griechischer Göttiucu sehen. Die breite rothe Stickerei, mit welcher die rnssischen Weiber die Ränder Vhrer Handtü6)er uud Hemdärmel breit ausschmücken, zeigt ganz dieselben Muster, wie ich sic auf Thasos uud Sainothrnke, bei den Ephakioteu in ^lreta und im cyprischcu Gebirge gesehen, gerade in ieuen Landschaften, in welchen sich nltgriechische Volksart nnd Sitte noch am meisten luiberiihrt erhalten hat. Als im Beginn unseres Mittelalters (862) Waräger ErieaFssänger, Wargengr) in Rußland sich festsetzten, kamen sie ohne Zweifel mit ansehnlichem Gefolge, das seine germanische Kultur mitbrachte. Daß die neuen Nm'ten einen Leheusadel schufen, daß sie Nathsversammlungen der Leute (liudi) nicht entbehren mochten, daß sie die Volksgesetze der Germauen mit Blutrache und Wire iWehrgeld) nnd dem Gottesurtheil des Zweikampfes, der Feuer und Wasser Probe einführten, ist gewiß. Weiset etwa auch die Druschina, das kriegerische Ge^ folge der Großfürsten, auf die fränkischen Autrustiouen hin? Zeigt sich uicht eiu Widerschein uon der Tafelrunde ^arls dos Großen und des Königs Artus in den Tagen vou den Pala- l) Olcarini 1»l, (Tcitc 1 l Anm, 1), n innen Wladimirs? Allein, geblieben ist uou iener germani^ scheu Kultur kaum etwas anderes, als das älteste geschriebene Recht, die Nichtaja pwwda, welches langsain uermehrt und von Zeit zn Zeit neu redigirt wurde. Tie russischen Hof^G» uossen der Waräger ivnrden keine Germanen. Wladimir in Kiew baute im ueuutcu Jahrhundert eifrig Städte, rief Ansiedler herbei, uud suchte auf alle Weise deu Handel zu beleben, wenngleich man damals in Rußland statt des Geldes mit Mnrder^chuänzchen handelte, die ein Marder^ sell bedeuteten, Seine Vorfahren, Astold Dir Oleg Igor, kannten recht gut die Wege nach der Stadt Konstantins; ihre Russen hatten sich aber begnügt, die goldeueu Kuppeln uon Vyzanz anzuschauen, ohne etwas Gesittllng von dort mit nach Hause Zu nehmen. Wladimir nahm >uit der Hand der griechischen Kaisertochter das Christenthum an: das war nun eine Grundlage neuer Kultur. Eine grosie Menge Griechen erschien U'l'.t iu Rußland, Mönche und Prediger, Tprach- und TchriN-lehver, ^^aumeister nnd ^iinmerleute, Waffeuschiuiede und Ge werter aller Art, byzantinisch ivurde die Soffitte, die Tracht der Vornehmen, das ^lirchenrecht, slauouisch oder griechisch die Vitcratur. Jahrhunderte lang kamen die einflußreichslen Geist-lichen vom Bosporus, uud eben so lauge dauerte die Zustrom' ung byzantinischer Nildung ^ und was ist von ihr geblieben? Außer Kirchen Möucheu und Popen uud dem byzantinischen Kirchenrecht, dem Nomolauou, blieb nichts von all den geistigen und bürgerlichen Gütern, nichlo wollte auf russischem ^'oden Wurzel schlagen. Die Bauern blieben immerdar Smerdi o. h. Kothsassen, nnd die Vojaren ivnrden niemals Griechen. Die, russische Sprache erscheint schon in jeuer frühen Zeit verhältmßmäsiig gnt ausgebildet. Waruni entstand in dieser Sprache kein Rationales von Äedeutuug? Weshalb blieb dieses zahlreiche Volt stnmm in der Weltliteratur, immerdar stmmn bis auf die neueste ^ciN Die Unterjochung durch die Mo- 12 golen, a>lf ivelche man alle Schuld schieben nlöchte, beeinträchtigte den Ruffen ivedcr ihre Neligion noch ihre Na^ tioualität. Anf die byzantinische Zuströmung folgte die deutsche und berieselte die russischen Fluren lange Jahrhunderte hindurch. Wie einst der Dnjcpr eine griechische, wurden Düna und Wolchow deutsche Handelsstraßen. Das große Nowgorod ward ein mächtiges Glied der Hanse, mit Smolensk schloß diese ein HnudelM'iud-niß. Deutsche Waffenmeister erschienen an allen Fürsteuhöfeu, wie deutsche Kaufleute aus allen Märkten. Bereits begannen hier und dort Handwerker ans Tentschlano sich an;nfiedeln. Jeder tüchtige Großfürst, z.B. der siegreiche Alexander Newski, Iwan der wrosie und Iwan der schreckliche, zog Dentsche herbei. .Vew war schon in früher Zeit mit Magdelnirger Recht bewidmet. Deutsche Tracht und Sitte wurden hie nnd da von Hof und Adel angenommen. Also au ilultnrznflimen hat es den Nusseu niemals ssefehlt, uur wollte wenig haften, weil sie alles blos; änßerlich annahmen und nichts recht Eigenes darans machten, ^olk und Adel glichen in Rußlaud eiucm Felsblock, anf welchen man wiederholt mit unsäglicher Mühe etwas fruchtbare Erde hinausschaffte, um Taaten anznkgeu. Bald darauf lnauute die Soune uieder, brannte Woche ailf Woche den ganzen Toinmer lang. Die Saaten vertrockneten, uud die fruchtbare Crde wurde zu Staub uuo Stürme nud biegen riebeu uud wuschen sie von Felsen wieder ab. Nur iu ciuigeu Tchriiudeu und Vertiefungen ver-mochte sich etwas Vrde und etwas Grün ;n erhalten. II Killturbildcr nus dcm sicbzehntcu Jahrhundert. 5. Adam Olearins. Es ist von nicht geringem Werth für nnsere Untersuchung, sich deutlich vorzustellen, wie cs in Nusiland vor etwa dritt^ halb hnlldort Jahren aussah. Daruals in dell Jahren Il^>4, 1^'^6, u>43 niachte ber ssckhrto Adanl Olcarius, lielwrcn zu Ascherslebc», und im Dicnst ilnd Auftrag dcö Herzogs uon HoliteiN'Gottovft im Gefolge einer holsteinischen Gesandtschaft Reisen nach Moskan nnd dnrch Rußland nach Pcrsien. Durch Studien aller Äncher, die in alter und neuer Zeit über jene Länder 5iunde gabeil, insbesondere des Wertes seines Vorgängers Sigmnud von Herberstein') wohl vorbereitet, derrnssischen Mtd persischen Sprache niächtig, hatte Olearius seine Freude baran, sich mit den Leuten in der Fremde näher betannt zn machen und sich nach Allem, was inertwürdig, nmzuschanen und umzuhören, nnd wohl zn prüfen nnd zu dnrchdenken. Auch nach der Rückkehr, als er sein Werk ausarbeitete, war er beständig mit Nüssen nnd Teutschrnssen im Verkehr. Durch s«ne mathematischen Fachstudien an Sorgfalt nnd Oenauig-kcit gewöhnt schilderte er die „Gelegenheit der Ortschaften und ') Si lNüniundi von Hrr bcrstoiii I^nini ^lu^eovilwni-uin <:c,in- 14 Länder, durch welche die Reise ging, sammt der Einwohner Natnr, Leben, Titten, Haus-Welt' nnd Geistlichen Stand." Seine Rciscbeschreibnng') ist daher ebenso glaubwürdig als an» ziehend durch lebhafte nnd auschanliche Schilderuug und wurde zu seiner Zeit viel ablesen. Es mögen uur einige Stellen oarans hier Plal; finden in wörtlicher Wiedergabe, jedoch der Nichtdentschrn wegen, die etwa dieses Vluli lesen, nach unserer jetzigen Schreibweise. tt. Häusliche Einrichtungen. „EZ siild aber die Wohnhänser der Stadt Vtoskau (ausge-nommen der großen Herren nnd Etlicher von den reichsten Kaufleuten nnd Dentschen, welche auf ihren hosen steinerne Palatia haben) uon Hol; oder mit übereinander geschränkten Föhren oder Tannenbalken anfgcbanct. Die Dächer sind mit Schindelbrettern , über dieselben aber Borken von Virkenbäumen und theils nüt Nasen gedeckt. Daher öfters große Feuersbrünste ent> stehen, ja so oft, daß nicht ein Monat, ja Woche hingeht, in welcher nicht etliche vänser, bisweilen wenn der Wind stark, ganze Gassen in Rauch aufgehen. Wir habeu ^u nnserer Zeit des Nachts etlichemal au drei und vier Orten ungleich das Feuer aufgehen sehen. C'5 war kurz vor nnserer Anknuft der dritte Theil der Ttaot abgebrannt, gleich auch vor vier Iahrett wieder soll geschehen sein. Äei solchem Unheil sind die Strclitzen nnd gewisse Wachen bestellt, welche dein Feuer Widerstand thun ninssen. Es wird aber niemals unt Wasser gelöscht, sondern die nächst um den Vrand stehenden Däuser niedergerissen, damit das Feuer seine Kraft selber verlieren nnd verlöschen muß. Zu dessen Behuf muß jeder Soldat und Wache des Nachls ein Beil bei sich tragen. Es können aber die, so ihre Hänser dnrch den Brand uer- ') Ailam Olearii Ausführliche Beschreibung der kündbaren Reise nueh .Moscow und 1'or.sien. 3. Aufl. Schleswig 1GG3. 15 liereu, bald wieder zn neuen Häusern tomnieu; denn sie haben außerhalb der weißen Ringmauer anf einem Hänsermarkt viele Hänser theils anfgesetzt, theils zerlegt stehen, welche man kaufcu nnd mit wenigen llnkosteil anf seine Stelle führen und auf< sehen lassen kann. Ihr Hanswesen ist, nach dem cs jeglicher Stand leiden will, eingerichtet. Sieleben insgemein schlecht nnd geht ihnen nicht gar viel anf ihre Hanshaltuugen, Die großen Herren und reichen Kaufleute zwar wohnen jel;o in ihren kostlichen Palästen, so doch nnr innerhalb dreißig fahren erst erbant sind, znuor behalfen sie sich anch in schlechten Hänsern. Die Meisten, sonderlich der gemeine Mann, vcrnntostet sie nicht hoch. Gleichwie sie in schlechten wohlfeilen Wohnungen, wie abgedacht, anzntreffen, also findet man anch in denselben gar geringen, jedoch ihnen snttsamen Vorrath uud Han^geräthe. Die Meisten haben nicht über drei oder uicr irdene Töpfe nnd auch so viel irdene und hölzerne Schüsseln. Mau sieht wenig zinnerne, viel weniger silberne Geschirre, c3 wären denn Vrannt-wein- oder Methschalen. Sie sind anch nicht gewohnt, iu Reinigung nud Polirnng ihrer Gefäße große Mühe aufzuwenden. Auch die großfürstlichen silbernen lind zinnernen Geschirre, woraus die Gesandten gespeist werden, sahen schwarz nud ekelhaft aus, gleich man die bannen bei etlichen fanlcn Wirthinnen, so iu einem Jahre oder niemals gescheuert, antrifft. Daher sieht man iu keinem Hanse, weder reicher noch armcr Lente , einigen Ziei> rath uon aufgesetzten Geschirren, sondern nnr die bloßen Wände, so bei den Vornehmen mit Sftünmatteu beschlagen nnd ein paar gemalte Heiligen. Sie haben wenig, die Meisten keine Federbetten, liegen anf Polstern, Stroh, Matten und ihren Kleidern. Ihre Schlafstellen nchmen sie nnf den Bänken, nud zur Winters Zeit, gleich den Undeutschen in Lieulaud, anf dem Ofen, welcher als ein Vackofen und oben platt, da dauu Mann, Weib, Kinder, Knechte und Mägde sich beisammen behelfen. Iss Unter den Ofen und Bänken haben nur bei Etlichen auf dem Lande Hühner und Schweine anbetroffen. Die Russen, hohe ^nd niedrige Stäudes-Personen, haben im (^branch nach. dem Ei'en Mittagsruhe zn halten und zu schlafen. Daher findet man U^' meisten nnd vornehmsten 5lram-buden im Mittag zugeschlossen nnd die Gramer oder deren Inngen vor den Buden schlafen liegen. Mau tann auch nm selbige Zeit keinen vornehmen Herrn und Kaufmann wegen der Mittagsruhe zn sprechen bekommen. Es gibt insgemein gesunde nnd alte Leute in Rnsiland, welche nicht viel krank sind und wenn sie denn bettlägerig werden, ist des gemeinen Mannes beste Kur, auch in hitzigen Fiebern, Branntwein und Knoblanch. Die vornehmen Herrn aber pflegen jetzt znm Theil auch der deutschen Aerzte Rath nnd ordentliche Arznei zn gebrauchen." ^) 7. Essen und Trinken. „Tic stud anch zu keinen zarten Speisen und Leckerbissen gewohnt, ihre tägliche ^oft ist Grütze Rüben, 5voh< Gurken frische nnd eiugesalzene, jedoch in Mostan meist gesalzene grobe Fische, welche bisweilen wegen ersparten Salzes sehr stinken, sie aber gerne essen. Daher kann man ihren Fischmarkt eher riechen, als sehen nnd betreten. Sie haben anch ein gar gemein Essen, so sic Ikari (Caviar) nennen, wird von Nogen aus großen Fischen, sonderlich vom Stör nnd Weißfischen zugerichtet. Der gemeinen Leute Getränk ist Qnaß, welcher sich unserm dünnen Vier vergleicht, auch Bier, Meth mid Branntwein. Und muß der Branntwein bei Allen allezeit den Anfang zur Mahlzeit machen nnd hernach anch über Tisch neben anderm Oetränt gebraucht werden, Die Vornehmen aber haben neben gntem Bier, auch Spanischen, Rhein^ und Franzwein, allerhand Arten Meth nnd Doppel Branntwein. Gntes Bier haben sie, welches sonderlich die Deutschen im Frühling wohl ') OW1NN5 > >1—1!(',, 2!«—2Ul, 207—2U«, 17 zu brauen mid einzulegen wissen. Sie haben dam bereitete Eiskeller, in welche sie nuten Schnee nud Eis und darauf eine Schichte Fässer legen, dann wieder eine Schichte Tchuce und Fässer und so fort au. Belegen es hernach oben mit Stroh und Brettern, dann die Keller sind oben offen, Lösen hernach ein Faß nach dein andern zum Gebrauch auf. Köuucn alfo das Bier durch den ganzeil Sommer, welcher bei ihuen ziemlich heiß fallt, frisch und bei gntem Geschmack erbalten. Ten Wein bekommen sie über Archangel ins Land, wird doch nickt so sehr von den Russen, welche guten Branntwein hoher halten, «ls von den Deutschen beliebt. (55 ist das Laster der Trunkenheit in allen Ständen, so wohl geist- als weltlichen, hoben und niedrigen, Männern ulid Weibern, jnngen und alten Persouen so gemein, daß wenn wan sie auf den Gassen hin und wieder liegen niw im 5vothe walzen sieht, es als ein läglicl, Gewohntes nicht achtet. Trifft ein Fuhrmann solche volle Säue, die er kennt, an, wirft er sie auf seinen Wagen und führt sie nach Hans, da ihm dann da-> Fuhrlohn bezahlt wird. <^u unserer Ieit waren allenthalden öffentliche Kabale nnd ^rüge, daß Jeder wer nur wollte, sich hinein sehen und für sein Geld trinken mochte, da dann die gemeinen Leute, was sie nur erwerbeu kouuteu, in den 5lrug trugeu und so fest saßen, bis sie nach auMieertem Beutel ihre Kleider, ja da<, Hemde gar auszogen und dem Wirthe hingaben, und hernach nackend, wie sie auf die Welt gekommen, nach Hanse Mngen. M5 ich 1N43 zu Naugard im Lübeck'scken Hofe nicbt imi von einer Kabak, meine Herberge hatte, sah ich solche »ersoffene und nackende Brüder, etliche ohne Mühen, etliche ohne Schuh und Strümpfe, etliche in bloßen Hemden aus der^abat kommen. Unter anderen einen, welcher erst den Nock versoffen und im Hemde, herauskam, uud als ihm ein gnter Frennd, dessen Gang anch anf dic'Kabak gerichtet, begegnete, tehrle er "- Uü her, Rußland II, 2 18 mit ihm wieder um. ^n etlichen Stilnden kani er ohne Hemde und hatte nur ein Paar Unterhosen am Leibe, Als ich ihm znrnfen ließ: wohin sein Hemd gekommen, wer ihn also beraubet? antwortete er mit ihrem gewöhnlichen je buftfui mat: „Das hat der Wirth gethan. l5i, wo der Rock und das Hemd geblieben, da mögen die Hosen anch bleiben." (Hing daranf wieder zn der ktabak und tani hernach blos; lierans, llahm eine Hand voll Huudoblumen, so neben der ,^abak wilchseu, hielt sie vor die Scham nnd ging also lustig nnd singend nach Haus." ') 8. Männer nnd Frauen. „Die Männer sino insgemein große, dicke nud starke Leute, von Hallt und natürlicher Farbe den anderen Europäern gleich. Sie halten viel uon großen Bärten und dicken Bäuchen, nnd welche damit begabt, sind bei ihnen vor andern in großem A,^ sehen. (55 gebraucht auch Seine Zarische Majestät Solche unter den Kaufleuten gemeiniglich zur Aufwartung bei öffentlichen Audienzen der Gesandten, nüt welchen er sein majestätisches Ansehen zu vermehren meint. Tie Knebelbärte lassen sie laug über den Mnnd herunter hängen. Tas Haar ans dein 5tcwfe tragen nur ihre Popen lang und über die Schultern herunter hängend, die Andern aber alle tnr; abgeschnitten. Tie großen Herren lassen es gar mit einem Scheermefser abnehmen, halten das für eine Zierrath, Sofern sich aber Einer an Ihrer ^arischen Majestät versündigt hat, oder weiß, daß er in Ungnade ist, läßt er das Haar lang nud wild wachsen, so lange solche Ungnade währt. Tie Weibspersonen sind mittelmäßiger Größe, insgemein wohlgestaltet, zart von Gesicht nnd Gliedern; aber in den Städten schminken sie sich alle, auch so grob und merklich, daß ') 201. 2U5. 1',n, 192, 19 es ein Ansehen hat, als wenn einer mit einer vand ooll Mehl über das Gesicht gefahren und nüt eine»«, Pinsel die backen roth gemalt hätte- Sie färben ailch die Angenbraueil nnd Wimpern schivarz, bioiueilen braun. (Gleichwie großer Herren und ^anflente (weibliche) Kinder wellig oder gar nicht ',ur .^an^hnltnng gehalten iverden, also nehmen sie sich anch hernach im Ehestand derselben gar wenig an, Men nuv, nähen und sticken nüt Gold und Tilber schöne 3lasentncher ans weißen Tafset und klare Leinwand, tleine Geldbeulelchen und dergleichen. Tie dürfen weder Hnhn noch anderes Vieh abzuschlachten noch zum Essen znzliriehten angreifen, meinen, es N'erde dnvch sie vernureiniqt, lassen de^iveqen alle solche Arbeit dnrch knechte oerrichteil. Man lässet sie oerdachte^halber Nar wenig aus dem ,^ause, auch selten in die Kirche gehen, ^nter a,cmcinen Renten aber ivird es uicht so genan genonunen. Iu den Däusern gehen sie in gar schlechten Kleidern; wenn sie aber entweder einem fremden Gast auf Befehl der Banner Ehre anthun nnd eine Tchale Branntwein zuzutrinken hmuv treten sollen, oder auch über die Gassen etwa zur Kirche wolleil, müssen sie nuf's köstlichste angethan, und am Gesicht und Hals dick nnd fett geschminkt sein. Daß aber so oft großer Unwille und Schlägerei nnter, "inen entsteht, kommt daher, wenn entweder die Frau den -"lann mit ungebührlichen nnd Tcheltworten anfährt, wie sie b«m in diesem ^all mit dein Manl sehr fertig sind, oder daß Ile sich öfter als der Mann vollsänft, oder nnch wegen allzu Milder Freundlichkeit gegen fremde Männer nnd Gesellen sich bei dem Manne verdächtig macht, welche drei Ursachen dann zum öftern bei den rnnischen Weibern pflegeil beisammen 3u sein. Wann sie dann mit der Peitsche oder Prügel wohl durch' ttcholt wird, emMttdet sie es nicht so gar hoch, weil sie sich 20 schnldig weiß, und dinleben ficht, daß es ihren in solchen Lastern begriffenen Nachbarinen nnd Milchschwestern nicht besser geht. Z>: des Großfürsten Boris Gndenov Zeiten hat sich's begeben iiuie nns der Narvische Pastor H, Martinu^ Aaär, so dantnls in Moskau gelebt, erzählte), daß der Großfürst killst. malo, als er am Podagra große Schmerzen empfunden, hat ausrnfen lassen^ ob Jemand wäre, der ihn von solcher Krank-heit befreien tonnte, der sollte sich angeben; er wave weß Standes oder welcher Religion er wollte, sollte ihni die 5inr mit großen Gnaden nnd Reichthum belohnt werden. Als Solches eines Bojaren Weid, welche von ihrem Manne etwas hart gehalten worden, vernimmt, meint sic hiednrch gnte Gelegmheil zn,überkommen, sich an ihre»n 3)iann zn rächen, gehl deßwegen hin, giebt ihren Wann an, als daß er wohl ein gntes Mittel wüßte, dem biroßfürsten zn helfen, aber er wollle es ihm nicht zn Liebe thun, Ter Bojar wird zum (Großfürsten aufgefordert nnd gefragt, und als er von der !,lur Wissenschaft zn haben sich fremd anstellt, wird er jämmerlich geprügelt und in Haft behalten, lind als er saget, daß ihm fein Weib die^ Bad ans Haß nigerichtet, er wollte es idr wieder gedenken, ist er noch härter gefchlagen und gar init Bebens Strafe gedroht worden, sollte auch schleunigst da>u ge zogen werden, wo er nicht den Großfürsten von der !>irnntheil errette, Ter gute Bojar weiß vor Angst nicht, was er an fangen foll, lnttct gleichwohl lim vierzehn Tage ^rist, damit er etliche Kräuter scunmeln tonnte. Er wollte sein Heil ver-suchen in der Meiuung, sein Leben noch so lange damit zu fristen, vielleicht nwchte sich unterdeß was anderes zutragen. Als ihm diese Zeit erlanbt wird, schickt er nach (izirbact, so zwei Tagreisen von Moskau an dem ^lnß Okka gelegen, nnd läßt einen ganzen Wagen voll allerhand Kräuter nnd Gras nnter einander, so daselbst die Menge nnd lang wachsen soll, herführen, nnd machet davon dem Großfürsten ein Bad. Zn 21 des Bojaren großem Glück vergehen dein Patienten die Schmerlen, vielleicht nicht sowohl von diesem Bade, als von sich selbst. Darauf wivd der Bojar zwar noch Imrter geprügelt, daß er solche Kunst gewußt, verleugnet und dein Großfürsten nicht hat helfen wollen, aber daneben mit einem neuen Kleid, 200 Rubel oder 400 Rthl. und 18 Bauern erb- nnd eigenthümlich begnadigt und beschenkt, mit scharfer Bedrohung, daN er sich au seiner Frau nicht rächen sollte. Es sollen sich auch heruach diese Eheleute gar wohl mit einander begangcil haben," ') l>. «haraktcr. „Siesilld inöqemein eiu zanksüchtiges Bolk, können ciuauder nut ungestümen und liartcn Worten als Hunde anfahren. Alan Ueht auf den Gassen hin nnd wieder solch Schelten und Alt-weiber-Gebeiße mit solchem Eifer, daß, wer es nicht gewohnt, bst meinen sollte, sie würden stracks einander in dio ,>?aare fallen. Es kommt aber Wr selten znm schlagen, und wenn lie ja dazn qerathcn, schlagen sie sich mit Wänsten, stoßen einander aus allen Leibeskräften in die Teiten nud ans die Tcham. Alan hat nie gesehen, daß die Nüssen einander auf Säbel oder "ttgelwechscln, wie wohl in Tentschland nnd anderen ^rteu zu geschehen pflegt, ansgefordert hätten. Mer »uan hat wohl er-sahren, daß die vornehmen ,verren, ja Knesen und sviirsten einander mit Knutpeitschen zu Pferde tapfer hernmgelnmeu, ^ue nils glanlnvnrdig beri6)tet worden, uud wir auch dergleichen von ^iuci Tinbojaren bei Einholnnli oes türtischen Gesandten eschen. . ^s ging keine Nacht vorbei, das« nicht des Morgens Unter« Nhledlichc auf den Gnsmi todt gefunden wurden. Solche Mord-yatcn giugeu viel uor iu ihreil hohen Festcu, aul mcisteu in der Butterwoche, 8 Tage vor Fastnacht, da sie täglich voll und ^Nnd, Zli unserer Zeit wurden den zweiten Tag Wintcr- l) Daselbst 179, 180, ^5>-21ü. ^17, ^?-1ß8. 23 Monats 15» Erschlagene uor dem Temischen Tlvor oder Hof ge> zählt. Denn daselbst werden sie des Morgens hingeschleppt; wer die Semen des Nachts nnvermnthlich im Hanse vermißt, geht dahin, sie zn snchon, Die nicht evlannt nnd »veggeholt luerden, begräbt uian ohne Ceremonien. Sie sind nnch, sonderlich dir, so entweder das Olück nnd Reichthum oder Amt nnd Ehre über den Stand des ssemeinen Manns erhoben, sehr hochmnthig nnd stolz, ivclches sie, sonderlich gegen die Fremden, nicht snbtil, sondern öffentlich mit Gebärden Worten und Werken zn erkennen geben. Und wie sie keinen Allsländer, gegen ihre Landslente zn rechnen, etwas sonderlich achten, also meinen sie anch, das; kein Potentat in der Welt sei, der ihrem Oberhaupt an Reichthnm Macht Hoheit Ansehen nnd Würden zn vergleichen sei. Sie sind grol>ehr-geizig, können's wohl von sich sagen, wenn man sie nicht nach ihrem Willen respektirt nnd traktirt. Die Russen lieben keine freien Künste und hohe Wissenschaften, uiel weniger haben sie Lnst, sich selbst darin zn üben. Es pflegen die Meisten von hohen nnd ihnen nnbekannten Wissen^ schaften nnd bimsten, wenn sie etwa selbige an den Allsländern vernehmen, gar grobe und unverständige Urtheile zn fällen. Wie sie dann Astronomie nnd Astrologie für eine zanberische Wissenschaft gehalten haben. Ob zwar die Aerzte mit ihrer Knnst von ihnen geliebt nnd gechret werden, wollen sie doch nicht billigen nnd znlassen, daß man solche in Dentschland nnd andern Orten gcbränchliche Mittel, wodnrch man die Knren desto besser nnznstcllcn erlerne, vor die Hand nehme und traktire, als da sind: einen menschlichen Körper anatomiren, Skelette zn haben, für welches die Glissen den größten Abschen tragen. Grofte Höflichkeit nnd ehrbare Sitten darf man bei ihnen nicht snchen, sind ziemlich versteckt. Und weil sie viel Knot> lanch und Zwiebeln genießen, fällt Einem, der es nicht ge< wohnt, ihre Gegenwart sehr beschwerlich. Weil sie in loblichen 23 Wissenschaften unerfahren und von denkwürdigen Sachen nnd Geschichten der Alten nnd Vorfahren sich nicht groß bekümmern, auch nicht begierig sind, von fremden Nationen der Beschaffenheit nachzuforschen, hört man sie in ihren Zusammenkünften dergleichen nichts sprechen. Ich rede aber hier nicht von der Mr großen Herren Gelagen. Ihre meisten Reden sind dahin gerichtet, wozu sie ihre Nntnr nnd gemeine Lebensart veranlaßt, nämlich von Ueppigkeiten, schändlichen Lastern, Geilheiten nnd Unzucht, so theils vou ihnen selbst, theils von Andern begangen, Erzählen allerhand schandbare Fabeln, nnd wer die gröbsten Zoten nnd Schandpossen dabei zn reißen nnd sich mit leichtfertigen Gebärden herausznlassen weiß, der ist der Neste, und Angenehmste. Dahin zielen anch ihre Tänze, welche sie Mm Theil mit üppigen Bewegungen der Glieder verrichten. Gleichwie die Russen hart lind von Natnr znr Sklaverei Mühsam geboren sind, also müssen sie auch nnler einem harten uno strengen Joch gehalten nnd immer zur Arbeit und zwar wit Prügel und Peitschen augetrieben werden, wobei sie nicht sogar ungeduldig sich erzeigen, weil es ihr Staud so erfordert uud sio es gewolmt. 3ie jnugc-n und halberwachsenen 5lerle kommen bisweilen in gewissen Tagen znsammen, sehen an< einnudcr, üben sich mit Schlagen, damit sie es in eine Gewohnheit, welche die audere Natur zu sein pflegt, bringen nnd hernach die Strafschläge desto leidlicher fallen. Sklaven nnd Leibeigene sind sie Alle mit einander. Es webt auch ihr Gebrauch uud Art, vor Einem sich demüthigeu, U)r sklavisches Gemüth au den Tag, indem sie vor einein vornehmen Manu zu Erden greifen, ihr Haupt t^f, ja auf die ^'oc schlagen nud sich gar zu Eines Füssen niederwerfen, auch für die Schläge nnd Strafe zu dnuken also pflegen. Wegen der Sklaverei nnd groben, harten Leben, sind die "ussm desto eher in ^rieg zu bringen nnd darin zu gebrauchen. 24 Sie geben bisweilen in gewissen Fällen, >oenns dazu kömmt, herzhafte und tiihne Toloatell."^) 10. Gcistcsgaben. „Es sind zwar die Nüssen, was den Verstand betrifft, scharfsinnig und verschmitzt: sie wenden aber denselben an, nicht sowohl der Tugend und Lob nachzustreben, als ihren Vortheil und Nntzen zu suchen uud ihren Begierden ein Genüge zn thun. Ihre Tcharfsiunigteit und List geben sie nuter andern iu Handlungen, Manien und Verlaufen sattsain zu verstehen, da sie allerhaud Vortheile uno Rauke, den Nächsten zu berücken, erdenken. Und wer sie betrügen null, mus; gilt Gehirn haben. Denn weil sie die Wahrheit sehr zu schonen und gerne Lügen zu gebrauchen uud argwöhuisch zu sein pflegen, wollen sie einem Andern auch gar selten Glauben zustellen, uud wer sie etwa berücken kanu, den loben sie und halten ihn für eiuen Meister. EZ ist Hinterlist und Falschheit bei ihnen so groß, das; sie, nicht allein unter Fremden und Nachbarn, sondern auch zwischen Brüdern und Ehelcnten zn befürchten, wie davon die (5rempel bekannt sind. Tie Handwertslente, weil sie zu ihrem schlechten Leben nicht viel bedürfen, können mit ihrer Handarbeit iu so großer Gemeinde ihre 5xoft nnd Schaale Branntwein sattsam gewinnen nnd sich und die Ihrigen ernähren. Tie find lehrhaft, können, was sie uou den Deutschen sehon, wohl nachäffen, und haben in wenig Jahren viel uon ihnen gesehen uud gelernt, das sie zuvor nicht gewußt habeu. Daher sie auch solche ausgearbeitete Waaren iu höheren Preis, als zuvor, ucrkaufeu. Iusouderheit habe ich mich über die Goldschmiede verwundert, baß sie jetzo ein silbernes Geschirr so tief und hoch, auch ziemlich förmig, treiben können, als ein Deutscher vermag. Darum, wer in ') Tasclbst I'X)'-1!»1, M', 145—M'>, 1','2-193, 200, 201, 25 Handarbeit sonderliche Grisfe und Wissenschaften für sich allein behalten will, läßt keinen Nüssen zusehen. So that anfänglich der berühmte Stückcngießer Hans Falk, wenn er in den vornehmsten Stücken des Fonnirens nnd Gießens zn Werke^ nulsscn die russischen .handlanger ihren Abtritt nehmen- Ietzo aber sollen sie auch große Stücke nnd Glocken zn gießen wissen."') 1l. (Gerichtswesen. „Sie, haben allerhand gräuliche Arien, die Wahrheit peinlich herauszupresseu. Unter anderem, daß sie Einem die Hände ans den Rücken binden, in die Höhe ziehen nnd einen schweren Balken an die Füße hängen, ans welchen der Scharfrichter springt und dem Sünder die Glieder wohl aus einander reckt. Unter den Füßen wird dazu ein Feuer angezündet, welches durch Hitz» dn> Füße und dnrch Nanch das Gesicht peinigt, ^le lassen anch bisweilen oben ans dem 5topf eine Platte schceren nnd darauf kaltes Wasser tropfenweise fallen, welches eme unerleidliche Pein sein soll. Sie lassen anch Etliche, nach Acschasfcuheit der Sache, iu solcher Marter dazu peitschen uud über die Wnndcn nüt gtiihendem Eisen fahren. Es wird über nichts so sehr die Gerechtigkeit gehandhnbt, als über die Schulden und Schuldner, Wer nicht bezahlen will oder kann, der wird pristaffct, das ist, er muß bei eines Rich, ters Knecht im hause sitzen, gleichwie bei nns iin Arrest oder Gchorsam. Erfolgt die Zahlung nicht in ihm vergönnter Frist, s" wird er ohne Ansehen der Person, sei er Rnsse oder Ausländer, Manns- oder Weibsperson, Kails oder Handwerksleute, Priester, Mönche und Nonnen, in den Echuldthnrm ge-IM und täglich vor die KanUei ans einen öffentlichen Platz A'sührt und ^^ Stnnde mit einem schwanken Stecken, als eines kleinen Fingers Ticke, ans die Schienbeine geschlagen, ') TaM'st I,^.^4 an 8 Manns- nnd einer Weibsperson, welche das großfürstliche Gebot überschritten, Tabaknnd Branntwein verkanft hatten, verüben feheu. Diese mußten vor der Kanzlei, Nova Zetwert genannt, ihren Leib bis auf die lüften entblößen uud einer nach dem andern sich über den Nucken des Scharfrichters Knecht legen und um dessen Hals die Arme schlagen. Tie Beine wurden ihm zusammengebnnden und von ciuem anderen am Stricke gehalten, daß er sich weder oben noch nnten bewegen konnte. Hinter dem Sünder stand der Scharfrichter drei gute Schritte zurück nnd hieb mit einer laugen dicken ^uulpeitsche, was er aus uolleu Leibeskräften vermochte, daß nach jeglichem Hieb das Blut milde herunter floß. Denn vorn an der Pritsche sind drei Niemeu vou eines Fingers Länge uon harter uugegerbter (^unhaut, die als wie Messer durchschneiden. (5Z werden auch etliche also, nachdem das Verbrechen groß ist, alsbald zu Tode gepeitscht. Es stand des Richters Diener dabei, las alls einem Zettel, wieviel Schläge jeglicher bekommen sollte und wenn die beschriebene Zahl erfüllt, rief er: PoluZ! es ist genug. Es bekam aber jeglicher 20 und 26, das Weib aber IK Schläge nnd fiel darüber in Ohnmacht. Ihre Nucken behielten nicht einen Finger breit ganze Haut, waren als wie die geschnudcnen 3? Biester anzusehen. Darauf wurde Jeglichem, den Schnnpf-tabakkrämern eiu Brieflein mit Tabak, den Vranutweinhändlern eine Flasche an den Hals gehängt, je zwei nnd zwei an Armen zusammen gebunden, auf beiden Seiten geleitet nnd also ferner znr Stadt hinaus und wieder hinein anf's Schloß gepeitscht."') 1'2. Staatswcsen. „Vö beherrscht ein Herr, nämlich der Zar oder Großfürst, so dnrch Erbschaft znr ktrone gelaugct, allein das ganze Land nud siud alle seine Nuterthaueu, sowohl die Edelleute und Iürsteu, als der gemeine Mann, Bürger und Bauern seine saloppen nud Ttlauen, ivetche er als ein Haiisoater seine ^iuechte regieret nnd trattiret. Die großen Herren müssen sich nnch nicht schämen, sich selbst Sklauen zn nennen und sklavisch traktirt zn werdeu. Man hat uor diesem die Gosten oder vornehmen 5inuslente l>nd große .Herren, n'elche zur Aufwartung oev ofsoutlicheu ^ludienzen sich allezeit in köstlichem Schiunck darstellen müssen, wenn sie ohne erhebliche Ursachen anften blieben, nach sklavischer Art mit der Nuutpeitsche auf bloßein Rücken bestraft; jetzt aber läßt man sie mit zwei oder drei Tagen Gefäuguiß, nachdem sie ihre Güuuer und Vorbitter am Hofe haben, belegen. Sie bilden es auch stracks ihrer Jugend von Kindesbeinen anf ein. daß sie uou der Zarischen Majestät gleich als von Gott reden nud halten sollen, daher sagen sie oft: das weiß ^ott nnd der Großfürst. Dahin gehen auch ihre anderen gewöhnlichen Arten zu reden, als: uor dein Großfürsten cr-scheineu, heißen sie der Majestät klare Augen sehen. Ihre tiefste Demuth und Schuldigkeit erkennen zu geben, fagcn sie, daß Alles was sie l'Men, nicht sowohl ihnen, als Gott nnd dem Großfürsten zugehüre. ') 272, 27 3-275, 28 Das Veschwerlichste ist den Meisten, daß sie von der Majestät hohem Angesichte verstoßen »ud dessen klare Aligeil zu sehen nicht sollen gewürdigt iverden. Er ist keinen Gesetzen unterworfen, mag aber nach seinem Gntdüilken und Belieben Gesetze nnd Vefehle geben nnd ordnen, loelche alle, wie sie anch sein mögen, ohne einige Widerrede, ja so gehorsam, als wenn sie Gott selbst gegeben, aufgenommen nnd gehalten werden. Die Audienzstnbe war ein viereckiges steinernes Gewölbe, nnten nnd ans den Seiten mit schönen Tapeten belegt, oben init Gold nnd allerhand gemalten biblischen Historien gebiert. Tes Großfürsten Stuhl war hinten an der Wand init drei Stufen voll der Erde erhaben lind wnrde mit allen Unkosten ans 1?5M<> Thaler geschätzt; es war drei Jahre von Dentschen nnd Russen, deren vornehmster Meister Esaias Zinckgräff ein Nürnberger war, daran gearbeitet worden. Vci der Gosandien-Andienz saß ans vorgedachtem Stnhle die Mnjestät in einenr nlit allerhlUld Edelsteinen bese!>,ten lind großeli Perlen gestickten Rock: die Krone, so er über einer schwanen Zobelmntzc anf hatte, lvar mit großen Diamanten versetzt nnd nuch der goldeile Szepter, welchen er, weil er schwer sein mochte, bisweiten ans einer Hand in die andere that. Anf jeder Seite standen zwei jnnge starke kvnesen mit weißen Damast Nocken, hatten voll Lnchsfell gemachte Mützen nnd weiße Stiefeln, über der Vrnst mit goldeilen Ketten kreuzweise behängt: Jeder hielt ein silbernes Veil als znm Hieb ans der Echnltcr. An den Wänden hernm znr Linken nnd gegen den Zar saßen die vornehmsten Bojaren Knesen und Reichsräthe über fünfzig Personen, alle ill fehr köstlichen Kleidern nnd hohen schwanen Fuchsmützen, welche sie nach ihrer Manier stets anf den Köpfen behielten. Vei. fünf Schritt vom Stnhl zur Rechten stund der Reichskanzler. Neben des Großfürsten Stnhl znr Rechten stand der Reichsapfel in der Größe einer Paßkugcl von Gold anf 29 einer silbernen durchbrochenen Pyramide, so zwei (5llen hoch; bei demselben ein goldenes Handbecken nnd Gießkanne mit einem Handtnche, damit Ihre Zarische Majestät, wenn die Gesandten an der ,vand gewesen, sich wieder wäscht." ^) 13. Religion. „Sie lassen niemals die ganze Bibel in ihre Kirche kommen, sagen, es wären im alten Testamente viel garstige nnkensche Sack)en, dnrch welche ihre Kirche, so heiliger Ort, konnte verunreinigt werden, haben derwegen nnr etliche Schriften der, Propheten neben dem ncnen Testanient, welche sie darinnen trnktircn. In Hänsern aber ist's vergönnt, die ganze Bibel zu haben nnd zn lesen. Neben dem Herrn Christo thnn sie auch den Evangelisten, Aposteln, Propheten nnd sehr viel anderen Heiligen nicht nnr als Vorbittern, wie die Vornehmsten zwar sagen, sondern auch als Mitwirkern znr ihrer Seele Heil, wie die Meisten glauben, 1a allerdings den gemalten Bildern, so diese Heiligen bedenten sollen, solche Ehre, die Gott allein znkommon kann, täglich an. Daß sie anch ihren christlichen Glanben dnrch gnte Werke und Liebe gegen den Nächsten sollten lenchten nnd »hätig sein lassen, kann mnn a,ar wenig spüren. Den gntm Wevkon aber, die sie an Stistnng nnd Vrbannng der Kirchen nnd Klöster wenden, schreiben sie mehr zn, als sich gebühret. Sie achten nno ehren kein Bild, wenn es nicht von omcm Nnssen oder Griechen gemalt, wenn es von anderen Nationen anch noch so schön nnd künstlich gethan, gleich als wenn von des Meisters Religion dem Bilde etwas mit angeklebt werden konnte. Sie haben in Montan einen eigenen Mnrtt nnd >) TasMst 210—220, 221, 222, W. 30 Krambndcn, auf welchem sie solche Bilder verkanfeu, oder wie sie es nennen, nm Geld n«d Zilber vertauschen, wcil's nicht wohl stehet, daß man die Götter kanfen sollte. Man verläßt sie anch an Memand, der nicht ihrer Religion ist: sie befürchten, nian möchte dieselben nicht nach Gebühr ehren nnd Iraktircn, Es hat ein Jeglicher seinen eigenen Heiligen oder Bild in der Kirche, uor welchem er seine Andacht verrichtet. Wenn Einer sich gröblich versündigt, dasi des Bannes werth ist, wird sein Heiliger anch a»^ den Kirchen gethan nnd mag man ihn zn Hause gebralichen, denn der Verbannte darf nicht wieder in die Kirche kominen. Tie, so Bcrmögens sind, schmücken nnd zieren ihre Bilder am^ köstlichste mit Perlen und Edelsteinen. Ein Bild wird nothwendig zum Gebet erfordert, daher sie dieselben nicht allein in Kirchen nnd bei öffentlichen Begängnissen, sondern anch jeder in seinem,^anse, Ttnbe nnd Kanuner haben müssen, damil sie im Beten die Augen stet<> daranf halten künneil. Wenn sie beten wollen, zünden sie ein oder zwei Wachslichter an, kleben sie vor da<' Bild, daher wenn sie die dichter auszulöschen uerssessen, so viel Fenersbrünste entstehen- Es haben anch bisher die Teutschen, der Nufsen halber, solche Bilder in ihren Haufern leiden müssen, sonst hat tein Russe aern imt ihnen umgehen wollen, haben anch nicht wohl rnssisch Gcfinde bekommen können. Nnnmehr aber will der Patriarch nicht zu-sseben, das« ihre Bilder in deu deuischell Ttnben, n'elche er unwürdig dn'iu schält, nlehr sein sollen, Tic schreiben den Bildern anch große Kraft zn, als wenn sie was Tonderliches könnten wirken helfen. Tie babeu nnn eine Tcheu und Furcht vor ihnen, als wenn wesentlich was Gött^ liches dabei wäre. Wenn nnn ihre Bilder alt werden, daß sie die Motten durchfressen, nnd zerfallen, werfen fie diefclben nicht weg oder verbrennen sie, sondern legeu sie entweder ans 31 ein fließendes Wasser, lassen sie schwimmen, wohin sie «vollen, oder ucrqrüben sie auf dem Kirchhof oder in einem Bauer^ cMten tief in die Erde und lassen alls denselben Trt nicht leicht etwam Unsauberem konnueu." ^) ') Tllsclbst 270, 27«!—^77, 2',>4—2l»5>, 2>,!,">—2W, 2!»,^, III. NrliorglNlg zur europäischen CimlWum. 14. Nöthigende Ursnche». Vergleicht man dies»,' nnd andere Schildernngen dcs Olearins nüt der Gegenwart, so erbebt sich sofort eine dreifache Wahrnehmung, nänllich: daß Sitte und Bildilng der obern blassen sich seitdenl veredelt haben, — das; alles, was den Staat be trifft oder woranf der Staat einwirkt, bedclitend verbessert worden, — daß das gemeine Volt aber erst wenia, iil^r seine Zustände nnd Allschannngen, wie sie vor dritlhaMnndert Jahren beschaffen, sich erholen liat. 3o oft nnd soviel auch Nordländer nud Tentsche, ^yunüiner nnd Polen enwpäischc Titte und Bildunf, nnter der rnssisä)en Volksinasse angesiedelt haben, nnr zerstrcnt nnd stiickiueise vermochte sie einzuwurzeln nud frische Tprossen zn treiben. Vine nralt asiatische (Newöhnnnss wälzte sich immer wieder darüber hin nnd erstickte den inngen Anfing nüt dem alten Nachsthnm, Die Nnssen ivollten eben nicht sein, wie die Festländer, sie wollten bestehn nnd beharren bei ihren eigenen Sitten und Gewohnheiten, nnd fast ihre ganze Geistlichkeit nnd selbst ein Theil de5 Adels stimmte ihnen zu aus voller Neberzengnng, Deshalb lesen sich die Olearius-schen Skizzen, was das gemeine Volk betrifft, beinahe so, als wären sie in unserer Zeit geschrieben. Nicht minder hat der scharfsichtige Öolsteiner gewisse nationale Neigungen geschildert, 33 die sich noch heilte wohl als gesäuftigt in ihrer Erscheinung, aber als unausrottbar in ihren Wurzeln kund geben. Der Fürst aber, der jeneVeräudcruugeu des Staatswesens nud der Sitte und Bildung bei oberen Klassen in breiter Ans-dehnnng dnrchsetzte, war bekanntlich Peter der Kroße. Er voll» Zog aber nur, wozu die Geschichte seines Volkes unwiderstehlich drängte. Als Iwan der Schreckliche 1584 starb, hinterlies; er ein Neich, das im Vergleich zu seinem Gebictsumfaug uor hundert Jahren, wo es nur 20,000 Quadratmeilen umfaßte, nm das Fünffache vergrößert war. Bis gegeu Ende des sechszchuteu Jahrhunderts war dieses Neich durch allgemeine Gesetzgebung innerlich geeinigt. Zugleich war durch Zermalmen der Vojareumacht jede Möglichkeit beseitigt, es wieder auseiuander zu reißeu. Als Peter der Große, weuig über huudert Jahre nach jenem Iwan, auf den Thron gelangte, war die Nmwaudlung im Innern wie in der äußern Stellung des Reichs soweit fortgeschritten, daß nichts Anderes mehr übrig blieb, als es auf europäischem Fuß einzurichten und ungleich in die Neihe der europäischen Staaten als ein lebendiges Glied einzuführen. Es war nämlich im dreißigjährigen .^rieg der Deutschen Macht uud Auseheu zertrümmert. Der gewaltige Vau ihres Deichs hielt nur noch eben in seinen Außenmanern zusammen, nütteu dazwischen hatten sich große uud kleine Fürsten ihre ^genen hellen Säle ausgeballt, nnd lebten die Reichsstädte und Aeichsntter in einer Art uon Polterkammcrn. Das Gefühl, daß in der Mitte Europas eiue Leere entstanden, weil die Centralmacht des Welttheils zusammen gesunken, diese Empfindung machte sich auch im europäischen Osten und Norden bemcrk-^ch- Die Dentscheu, welche die weiten 5tolonialländer an der Ostsee erobert und besiedelt hatten, waren cntmuthigt, die Polen und Schweden dagegen hatten stolz ihr Haupt erhoben und dachten an nichts Audercs, als an russische Eroberungen. Andcrer- d üühcr, Nusiland II, 3 34 seits hatt« die türkische Macht mit ihrem letzten großen Zug bis vor Wiens Ablauern ihr Aenßerstcs gethan, ilnd beutle sich nun unter den sieghaften Streichen der östreichischen Feld Herren. Der russische Herrscher toume also nicht anders, als in diese europäischen Händel eingreifen, um hier zn erobern und dort zu vertheidigen. Diese Politik wnroe ihm nun einmal anfgezwnngeu. Was aber war unbedingt nöthig dazn? <5in russisches vecr nach cnropäischcr Art und russische Gesandte von europäischer Schule. <5iue ^yiccisuiacht aber, wie die Nachbarstaaten sie unterhielten, erforderte sichere regelmäßige Staatseinkünste, diese erforderten eine geordnete Verwaltung, diese erforderte wc^ nigstcns l>ei Beamten und Offizieren die Lebensweise von gebildeten Leuten, Das Vine verlangte gebieterisch das Andere. Im Inneren aber hatte sich die Staatsverwaltung ganz von selbst mehr und mehr uach dem Muster der Nachbarvölker gebildet. Der Wirtschaft der Bojaren, deren Parteiung den Polen des Kreml Thore geöffnet, war allgemach der 5vovs eingetreten, ihre Gcschlechtsregistcr hatte der Scheiterhaufen uer-zehrt, das kirchliche und bürgerliche Gesetzbuch war zu allgemeiner Anwendung gekommen. Es fehlte nnr noch, daß die gefammte Ttaatsverwnltnng einheitlich eingerichtet wnrde. Das geschah durch Peter des Großen zehn Regierungstollegien, eine Vereinfachung der alten Prikafen, nnd als sich die Bojaren hinter die Unabhängigkeit der geistlichen Gewalt steckten, mußte nnch diese gebrochen werden. In Olearins' Schilderungen finden sich Thatsachen eingestreuet, die deutlich beweiseu, wie die ^euutuiß und Verehr^ nng europäischer Bildung bereits vielfach verbreitet war. Nicht bloß, daß Vornehme dentsche Tracht annahmen, auch Handwerker nnd ^austeilte suchten von den angesiedelten Deuscheu zu leruen- Jedoch auch soust verlangte die wirthschaftliche Aewegnng ihr Recht. Seit jener friihen Zeit, wo Westfalen, die von Wisby herkamen, die Mündung der Tüna in den Cechsziger Jahren des zwölften Jahrhunderts „ausgesegelt",') hatten die deutschen Kaufleute Großhandel nnd Großgewerbe in Rußland besorgt nnd ausgebeutet: als mit dem Zerfall der deutschen Reichsmacht anch die Hiansa ihre alte Energie nnd Nnteruehu^ ungsluft einbüßte, sammelteu sich die russischen Kaufleute und verlangten Schul; nnd Förderung ihrer Geschäfte von der Regierung. Was aber bedeutete der Welthandel der Nüssen, wenn ihnen die Ostsee nnd das Schwarze Meer ewig verschlossen blieben i 15. Pctcr der Große. So hätte sich jeder rnssische Monarch, wenn er (Einsicht uud Willenskraft befaß, genöthigt gesehn, zn gründlichen Reformen zu schreiten, indem er entwickelte, was zur Entwicklung drängte. Peter des Großen Verdienst war es, daß er dies im Moßm Stile unternahm und mit furchtbarer Energie durch-schte. ^ ivar nichts weniger als ein ursprünglicher nnd schöftfrischer ^'ist, sondern ein Nachahmer, jedoch sein Eigen war die Erkenntniß, daß er ein gewaltthätigcr Revolutionär auf dem throne sein müsse, sein Eigen der Mnth nnd das Geschick, mit welchem er seine Rolle zu Ende führte. Hätte er es nicht gethan 5o hätte ein Nachfolger das Werk thun müssen, es wäce dann. schwächlicher, langsamer, auch weniger folgerichtig rfolgt, nnd '^»kland stände vielleicht noch im Zeitalter der zweiten Kathanna, Peters revolutionäre Thaten werden noch jetzt gefühlt, und man brancht sich nicht zu wundern, wenn sie noch jetzt slkhaßt und verkannt werden. Solowiew sagt iiu dreizchuten Baude seiner Geschichte hübsch und richtig: „Es gab in einem Staate ein kaiserliches Kind, das in Folge von Familienzwistig- ^) Hühlbaum Gründung der doutschcn Colonie an bcr Tü,m — in bm Hansischen Gchhichtsblattcrn. Iahrnang 1572, Leipzig 18?:!, Zft leiten von großen Gefahren umringt war und anf nnnlderbare Weise gerettet wordelt. Es wuchs in der Einsamkeit auf, umgeben von geringen Leuten, es warb sich ans diesen Lenten ein neues tapferes Gefolge, besiegte unt dessen Hülfe seine Feinde, nnd wurde der Gründer einer neuen Gesellschaft, eines nenen mächtigen Reichs. Sein ganzes Leben war ein unaufhörlicher Kampf, und er hinterließ ein zweifaches Andenken, die Einen segneten es, die Andern verfluchten es. Von wem ist hier die Nede? Will man nns das Märchen von Cyrus lind Romulus wieder auftischen? Wer glaubt dcun noch daran? Nein, es ist kein Märchen, es ist nicht die Nede von Curus und Nomulus, es sind die zweifellosen Berichte über den russischen Zar Peter Alexejewitsch." Glückliches Nusiland! So rief vielleicht mancher Zuschauer damals. Es brauchte seine Kultur nicht selbst in langeu Mühen und Kämpfen hervorznbilden, es brauchte sie nicht zuverdienen, sir und fertig wnrde sie bei ihm eingeführt. Kaiserliche Befehle waren die Kulturblitzc, Beamte ihre Träger. Auf Peter des Großen Wort und Beispiel steckte sich sein Hofadel Hals über Kopf in enropäische .Kleider nnd Sitten: damit war das Eis gebrochen, die Sache bei der Ingend und den Damen Mode geworden. „Der Zar will es" — mit diesen Worten schlugen die Neuerungssüchtigeu die Anhänger des Alten auf den Muud. Diese aber ergrimmten. Liue geheime Verschwöruug folgte der anderen; der Kaiser kam wiederholt in Lebensgefahr; Streit nud Widerstand drang zerstörend bis ins Innerste seiner Familie. Doch wer hätte vermocht, den eisernen Willen dieses schlauen nud hcißköpfigcn Despoteu zu beugen! Hatte er sich doch vorgesehen und zu allererst sich ein treues Heer geschaffen von euro-päischer Ordnnng und Schnelligkeit. Sein Arm griff durch ohne Zögerung, die Gemahlin wnrde in ein Kloster geschickt, den Sohn nnd Thronfolger traf ein schrecklicheres Schicksal. IV. Schicksal dcs Zarewitsch ^lcrci. 1<». Iugrnd. Des Zarewitsch Ale.rei Potromitsch Geschichte, die uns durch neuere Forschungen enthüllt worden,') wirft grelle trauervolle Schlaglichter auf die Art und Weise, wie Rußland unter die europäischen Volter ein>iesiihrt wurde. Alerei war acht Jahre alt, als er von seiner Mutter abtrennt wurde. Sie war eine gläubige Altrussiu, die Zeter schrie über ihres Gemahls Reformen: Dieser ließ sie daher unter Nonnenschleier ails der Welt verschwinden. Es war iin selben Jahre, als dcr grimme Zar die Strelitzeu vertilgte und ^0 von ihnen an den 2« Galgen aufknüpfell liesi, die er unter den Fellstern ihrer Gönnerin , seiner Schwester Sophie, errichtete. Wo fortan seines Vaters Name genannt wurde, las der Prinz m den Mienen der Angehörigen seiner Mntl« nnr Schrecken und Abschon. Dies machte auf sciu weiches uud verzagtes Gemüth den tiefsten Eindrnck. l) A, Ärücki, eri „Ter Czm'l'witjch All'xl'i", Hoidclbcvss, 1««0, bei Winter. Früher schon wilrdcn virle Tutumcnte ucrüfsl.'»tUcht vu„ Ustnalow: Ixwim ii!lr«nv<»v!li!^li 1'oti-», >VoUK,en den Znrewitjch Alexei dls ein schuldloses Opfer darzustellen i» seiner Untersuchung ül>er dessen Proves;. Petersburg 1» dem war es ja Volksglaube, voller Bartwuchs beweise, daß sein Eigenthümer nicht orientalischen Lastern frohne. War es nun Absicht, oder kümmerte sich der Kaiser wenig um seines Sohnes Kindheit, jedenfalls erhielt Alexei erst von seinem eilften Jahre an deutsche Erzieher. Diese wußten anfangs sein Ehrgefühl und seine Wißbegierde anzuregen, deuu 39 der Prinz war nicht ohne Anlassen, und der Erfolg stellte den Vater zufriedeu. Unglücklicher Weise hielt Peter die Erziehuug schon nn Jahre 17«^ für vollendet und ließ, während er selbst fünf Jahre lang auf Kriegszügen abwesend war, den sechzehnjährigen Prinzen im Torfe Preobraschensk bei Moskau seiner Muße nnd Gesundheit leben. Diese fünf Jahre entschieden zwischen Vater nnd Sohn-Des Zaren vertrauter Günstling Meuschitow sollte die Aufsicht über den Prinzen führen, sah aber, wie es scheint, nicht ungern, wenn der Zarewitsch sich immer tiefer in die Gesellschaft von alt-russischen Trnukenbolden. mönchischen Geistlichen nnd Solchen verstrickte, welche den ^ar ob seiner Neuerungen in den Ab-yrnnd der Hölle verfluchten. Iakow Ignntiew, Beichtvater des Prinzen, legte ihm die Äibel, die Kirchenväter nnd die Heiligen-legenden als Bücher vor, die allein eines Christen und Königs würdig seien. Er vermittelte im tiefsten Geheimnisse, daß Alerei mit seiner Mntter inl Kloster zusammenkam, obgleich der Kaiser es auf das Strengste untersagt hatte, nnd die Verworrenheit And Unrnhe des Prinzen stieg in dein Maße, daß er seinem Vater sehnlichst den Tod wünschte. Als er in seiner Gewissensangst dies beichtete, tröstete ihn Ignatiew nüt den Worten: „Gott werde es ihm vergeben, das gauze Volk wüusche ja des Aaren Tod, weil er ihm so schwere Last auflade." Ganz uon' selbst bildete sich in der Umgebung nnd unter den Anhängern des Prinzen eine Art Geheimbund, deren Mitglieder sich Mittheilungen in Chiffren machten und es als selbstverständlich anjahen, daß Alerei, sobald er auf den Thron gelauge, den AuMudcrn und was sie auf russischem Voden vollführten, cm rasches Ende bereite. 1?. Flucht. Der Kaiser, dem jede Aeußerung des Prinzen hinterbracht wurde, ließ ihu wiederholt zu sich kommen, gab ihm militari- 40 sche Aufträge, und ärgerte sich über sein kleinmüthiges und gedrücktes Wesen. Als Alez-ei das zwanzigste Lebensjahr erreichte, beschloß er, ihu nach Europa zu schickm und nüt einer Protestantin zu vermählen. Die Erkorene war Prinzessin Charlotte Sophie von Vraunschweig-Wolfenbüttel, im Jahre 1?l1 wurde die Ehe geschlossen und ließ sich die ersten zwei Jahre gauz günstig au. Dann aber fing Alexei wieder an zu trinken und wurde wochenlang nicht nüchtern. Seine Verschwendung machte ihm es unmöglich, die Gemahlin standesgemäß zu erhalten. Sich schämend vor ihren Mahnungen, denn sie war ihm weit überlegen, fand er immer mehr Gefallen an der Gesellschaft eines finnischen Mädchens Affrosiuja, einer Leibeigenen seines ersten Lehrers Wiasemskij, die bald sein ganzes Herz gefangen nahm, denn sie wußte fröhlich mit ihm zu zecheu und ihren Vortheil zu wahren. In seiner Trunkenheit stieß er schreckliche Flüche gegen seinen Vater aus, und war er wieder bei Verstände, so faud er allem Trost im Studium der Kirchengeschichte und im Ausmäkeln der Unterschiede zwischen der orthodoxen und römischen Kirche. So war der Thronfolger der erklärte Gegner der großen Umwälzung geworden, die sein Vater unternommen. Dieser mußte noch mehr, als von den Gesinuungeu, von der Schwäche des Sohnes fürchten, den seine erbittertsten Anhänger leicht zum Aeußersteu hinreißen tonuteu. Als des Prinzen Gemahlin im Jahre 1714 — in Folge der Geburt ciueS Sohnes, des nachmaligen Peters II. — starb, der Kaiser selbst aber von seiner Katharina zu gleicher Zeit einen Sohn erhielt, stand sein Entschluß fest. Er hatte vergebens gehofft, Alexei werde von seiner Gemahlin fürstlich denken lernen und Rußlands Stelluug begreifen: jetzt beschloß er, wenn es seiu müsse, lieber den eigenen Sohn zu opfern, als sein großes Werk uud des Reiches Zukunft. Am Tage nach der Bestattung der Prinzessin erhielt Alexei 41 von seinem Vater ein Schreiben, aus welchen Gründen Dieser ihn znr Zeit für rcgierungsunfnhig und, wenn keine gründliche Besserung eintrete, sich für verpflichtet halte, ihn der Thron» folge uerlnstig zn erklären. Alerei, der znsammenschrack, wenn Jemand ihn kräftig anherrschte, war bereit, dem Throne zu entsagen. Jetzt verlangte der Zar, er solle Mönch werden oder aus des Vaters Hand eine zweite Frau nehmen, denn er sei ein Verschworer, der den Tod verdiene. In größter Angst schrieb — die Verhandlungen wurden nämlich schriftlich geführt — der Prinz zurück: er »volle ins Kloster gehen. Da er aber keine Anstalt dazn machte uud des Vaters Herz sich wieder erweichte, so besuchte ihn Peter turz vor seiner zweiten europäischen Reise, nahm väterlichen Abschied nnd gab ihm Bedenkzeit auf ein halbes Jahr, Unschlüssig, das geliebte Mädchen vor Augen, schwankte der Prinz hin und her, nnd als das halbe Jahr verflossen und der Zar aus Kopenhagen schrieb, er solle sofort sich zu ihm verfügen oder das .Aostcrgelübde ablegen, erklärte Alexei sich zur Neise bereit, ließ von Meuschikow reichlich Geld holen, reiste ab, jedoch statt zum Vater, nach Wien zum Kaiser, uno 5ehte diesen nm Schul) an als das Haupt der Christenheit und als seinen Verwandten. Die Zuflucht wurde gewährt, erst auf den: Schlosse zu Weuerbrunn, dann auf Ehrcnberg in Tirol, und zuletzt wurde der Prinz mit sciuer Affrosinja, die als Page verkleidet ihn stets nmgab, nach Neapel gebracht, welches damals österreichisch war. Dort gingen dem Pärchen fröhliche Tage auf. Sie freuten sich des herrlichen Südens und kosteten all 1oinc Weine, man konnte ihnen nicht genug zum Trinken schaffen. Allein das fchöne Leben dauerte nicht lauge. Der Zar hatte sie ausgespürt uud forderte durch seine Gesandten in Wien die Herausgabe seines Tohues, widrigenfalls — das wurde an< gedeutet — ein rufsifcher Einfall in Schlesien nicht unmöglich 42 Kväre. Würdig antwortete der Baiser: der siebenundzwanzig-jährige Prinz sei kein Gefangener, sondern sein eigener Herr; der Zar möge sich an ihn selbst wenden. Als nnn die russischen Gesandten in Neapel erschienen, gericth Aler.ei in große Angst. Orst dachte er daran, nach Rom znni Papste zn flüchten. Dann erklärte er: er wolle Afsrosinja heirathen und nlo Privatmann ans seinen Gütern leben, nnd als dies zligesagt nmrde, l>e-zeugte er noch dein Grabe des großen rnssischen Aauernheiligen Nitolans in Vari, und in Rom dein Papste seine Ehrfurcht, und kehrte nach Mookau zurück, Hier erklärte er am vierten Tage nach seiner Ankunft, am 3. Februar ^17)8, aus dem ^ireml vor einer großen Versammlung von Würdenträgern feierlich seine Thronentsagung zn Gnnsten seines Stiefbruders, des Sohnes der Katharina. Dieser nmrde öffentlich als Thronfolger ansgcrufen. Wie aber, wenn Alerei später seine Entsagung als eine erzwungene widerriefe Äiassenhaft n'ären ihm Anhänger zn< geströmt, die danach brannten, die „heidnischen" Schöpfungen seines Vaters uom heiligen Boden Rußlands fortznfegen! Peter beschloß, sie lieber selbst aus dein Wege zn schaffen. Schon Tags nach dem Thronverzichte wurde eine Reihe ^ragepnnkte, die der Zar selber aufgesetzt hatte, Aler.ei vorgelegt und er mit dem Tode bedroht, wenn er nicht anfrichtig antworte. Schlotternd uor Furcht nannte der Prinz Alle, die ihm zur Flucht gerathen oder darum gewußt, EZ waren sein oertran' tester Frennd Kikin, sein Kammerdiener, sein Veichtoater, sein erster Lehrer und uiele Andere. Tie mnrden Alle verhaftet lind Alle hingerichtet. Peter sättigte endlich seinen Daß an Denen, die ihm das Leben so lange verbittert hatten. Der Tiger hatte Blnt geschmeckt, ihn dürstete nach mehr. Diene Bekenntnisse wurden dem Prinzen abgepreßt, massenhaft seine Anhänger ergriffen, nnd als er sie alle beisammen hatte, 43 zog der Zar mit ihnen nach Petersburg, wo er sich sicherer fühlte, als iiü altrussischen Moskau. Hier u'urde auä> Affro-siu>n, die sich voll einer Niederkunft erholt hatte, vernommen, und die Elende gestand alles und jedes, was der Prinz gegeu seinen Vater gesagt uud für sich oder mit seinen Freunden erörtert und geulaut, und wie er selbst ein Programm aufge-selft habe, was er alles von den Neuerungen wieder ändern und nuterdrücken wolle. Peter schäumte vor Wuth, Die O» saugeueu ivurdeu getuutet, gefoltert, martenwll getödtet, Der Prinz selbst kam iu den Kerker uud auf die Folter u,id bekannte: er würde, wenn ein Aufstand nusgebrocheu uud er au oie Tpitzc gerufen wordeu u'äre, dem Anfrufe gefolgt seiu, I'.'lN wurde er vor deu Gerichtshof des Teuates gestellt. Am ^> Iuui erhielt er ^5 kvnuteuhiebe uud gestand, daß er seiuem ^ater ausdriicklich deu Tod gewüusän, Aiu ^4. erhielt er wieder 15 Kuuteuhiebe uud sagte aus: er habe an deu Metropoliten 3u Kiew geichriebeu, um die 5lleinrusseu allf^uioiegelu. Am >clbeu Tage wurde er zum Tode uerurtheilt. Zwei Tage später war er im Kerker gestorbeu. Das Todcsnrtheil besagte: er habe Pläne zu Verschwörungen 6^^)egt, er habe seiuem Vater deu Tod gcwüuscht, er habe "uf des deutscheu Baisers vülfe gehofft, seiueul Vater deu ^irou zu eutreißeu ^ mau sieht deutlich, es wnrdeu Worte, Wünsche, Ideen bestraft. Anch den Anhängern des Prinzen wnrdm keine hochverrätberischeu vaudluugeu bewiese». Es war ein nhulicher Hergaug uue einst am Hofe Philippe II. in ^Vauien: die Empärung in deu Scelcu wurde gerichtet. Don Carlos mußte zu Gruude geheu, weil die gewaltige Reaktion des nltm Staats- uud Kirchenwescus über ihn siegte, Alerei als Anhänger ebcu dieser alteu Ordunng. Tchivächlinge n'aren Ue Aeide. In Spauieu hiillte sich das ganze Trauerspiel in Dunkel, bei deu Russen giug es am hellen Tage vor sich. Einhundertzwanzig Richter sprachen im Senate das Todesurtheil 44 aus, gleich als wcun die Menge der Stimmen keinen Gedanken sollte aufkommen lassen, als habe Furcht uor dem grimmigen Zar mitgewirkt. Nur die Todesart ist auch bei dem russischen Prinzen dunkel geblieben. Wahrscheinlich ist er in Folge des fürchterlichen Knutens gestorben. V. vier Gcucrationcn. 18. Europäischer VolMhcil. Seit Peter der Große mit dein grausamen Opfer des eigenen Sohnes, selbst nur sieben Jahre uon seinem Ende entfernt, das Wagniß seiner Reformen bezahlte, folgten sich bis zum Todeslage des Kaisers Nikolaus 187 Jahre, in welcher elwas über vier Generationen lebten. Diese Zeit umfaßt für Rußland eine Art Mittelalter. Wie haben wir uns die Entwicklung der Zustände in dieser Zeit voranstellend Als die Schreckensknndc erscholl, der Zarewitsch Alexei sei Zum Tode verurtheilt und im Kerker hingerichtet, ja der Zar 'habe selbst Hand an ihn gelegt, erschrak Alles bis ins Herz hinein. Peter der Große hatte Ruhe und konnte seine Reformen ausführen. Die Bojaren kamen scheu und unterwürfig heran und baueten sich. weil der Zar es wollte, ihre Blockhäuser in "er neuen Hauptstadt nnd fanden vor feinen Augen die strömende Newa herrlich und die bleiche Luft und den blei-grauen Himmel über ihr entzückend, und weuu sie wieder iu der, Stille ihrer Blockhäuser saßen, dann weinten sie Thränen dcs Jammers nach ihrem fernen heiligen Rußland uud ver Maledeiten den Ort, an welchem mau in jeder Woche eine ^acht die Sterne zu scheu bekommt. Noch einmal, unter der Kaiserin Anna, erhob der alt- 46 russische Adel das Haupt und ritt': „Keine Reformen ohne unsere Zustimmung!" Aber Viron antwortete uiit Beil uud Sibirien: er räumte schrecklich alls unter den hartnäckigen Anhängern des Alten, Noch immer gehen grauenvolle Tagen umher ucm Unglücklichen, die er mit einem Ttein um den Hals habe in die Newa versenken lassen, Andere hatten im Polizeihofe angefcsselt im Winter durch Vegießen mit Wasser zur Eissäule einfrieren müssen, oder gar wie in Neros Zeiten mil Harz bestriäicn auf' brennen lebendig. Solche Phantasien der Furcht erregte Virous Allftretcn. Vor der Uebcrlcgcuheit seines (benies nnd seiner Thatkraft verluochte sich kein Widerstand zu halten, Münnich nnd Ostermann waren eben so rasch bei der Hand, sich der Gegner zu eulledigen, als sie Heer nnd Verwaltung auf deutschen Fuß einrichteten. Nach nnd nach bequemten sich alle begüterten Adeligen zu europäischer Lebensweise, und an den Adel schloß sich nnn Alles an, was an fremden Offizieren Beamten Lehrern Aerzten Technikern nnd itaufieuteu in das Land einwanderte, eine Zuströmimg, die nach Erwerbung oenischer polnischer und sinuländischer Promisen sehr bedeutend wurde nnd schon im uorigen Jahrhunderte sich über das ganze Neich verbreitete. 3o ist in Nnßlano ein europäischer Volkstheil entstanden. Nur uou diesen: hören nnd sehen wir etwas bei uns, ^- der go meine Mann kommt ja nnr als enropäisch gekleideter Bedienter über die Reichsgrcme, — und wenn wir vom Treiben und Schaffell in Nnßlaut» dnrch Äüchcr nnd Zeitungen lesen, so redet darin nur jener Volkstheil. Die Wenigsten bei nus denken daran, das« die gebildete Bevölkerung in Rußland nur uier oder, wenn man Alles, was halb europäische Kleidung trägt, zn-rechnct, höchstens acht bis zehn Prozent der Oesammlbeuölkerung ausmacht, und daß die nicht bäuerlichen Klassen also zusammen nur eine sehr dünne schichte über der breiten Grundmasse bilden, kaum zu vergleichen grünem Moos alls grauem Fels-gcstem. 47 fragen wir mm, worm besteht, was jetzt dir höheren blassen in Nußland uon den bäuerischen unterscheidet, so sind es nicht so sehr Vermögen und allgemeine Vildnnq als gerade die europäische Tracht, Sitte und Bildung iiberhanpt. Anl ivenigsten spricht dabei mit altadelige Geburt, Man rechnet ans die ge-sammteBeuölkernng uvei fünftel Prozent, die ^un erblichen, nnd davon ein halb Prozent, die '>nül persönlichen Ade! gehören; allein in beiden Klassen ist Aufblühen und hergehen ail der Tagesordnung. 1l>. NachahmunzMalcnt. Tollte inan inin uamhalt machen, wa>o seit Peter den« Großen bis vor etwa sechc^iss Iadren den Iiöderen blassen ill Rußland das Eigenthümlichste ivar, was sie in der bestinniltesten ^'eise von alleil ('»ileiclittehenden nnd l^leichstvebenden in l^ailz ^'nroua unterschied, so tonnte man al^ Tolches nnr bezeichlien uli'> anc'bündinste ^iachahmuiuv>talent, verbunden -^ Ansunhmen U'Niirlich abszerechnet — mit dem allgemeinsten uno oauerliastesten ^iangel a»t cigeller schöpferischer 5tratt iil geistiqeil und reli loosen wie in bürgerlichen und politischen Dingen. Ein Beispiel wird das klarer machen. Tie Rnssen besi!;en "u »lnvergleichliches Dcirstellunssstalent. Mit raschem Blicke or-^aschen sie die Tchwächen nnd Eigenheiten uoll Anderen und wisset si» «us ^ ergöl',licl,sngeben, Unter den "Mischen Banern nnd Soldaten lassen sich bei dem besänge "^ wohllautendsten Stimmen hören, und man könnte lange "klt in Imlien uuchersnchen, bi'> uuni in den Kirchen so prachtvolle Aässe lind Tenore, luie sie bei der jnngen nnd alten Geist' uhten der Nnssen gain gewöhnlich, ->n hören betäme. Nnssische -Ulüftter lernen in tnrzer ^eit die schmierigsten Stücke, und 'lu'Mand gelingt besser ocr->arte und seelcnvolle Vortrag. 9lnn ^"re wohl dic Yoffnnng berechtigt, Rnßlaud n'ürde ansgezcichncte -wmponisten, grohe Sänger nnd Schauspieler, oder mindestens 48 berühmte Virtuosen in Menge aufstellen, allein weder ein kleines, noch ein großes Wnnder dieser Art wollte erscheinen. Peter der Große, Viron, Münnich, Ostermann gcrmani-sirten planmäßig, tyrannisch, der Erfolg steigerte die Unternehmungslust. Sie gaben das Schauspiel, daß ie!;t Negenten nnd Minister in Nußland dieselben Aufgaben vollführten, die ehe» dem sich deutsche Ritter und Städter und Vauern erkoren, als sie, 'Schwert nnd Pflug und Nechnungsbuch in der Hand, m die slavischen Lande einwanderten. Jene Männer und ihre zahlreichen deutschen Helfer stempelten Nußland das dentsche Gepräge iin Staats- Heer- nnd Schulwesen auf, Vergebens blieb fortan jede Bemühung, dies (Gepräge wieder zu verwischen nud die Muster unmittelbar aus Frankreich oder England zu holen. Wohl begreiflich wuchs der Iugrimm über „die deutsche Knechtschaft" und machte sich Luft iu den Verschwörungen, welche die Frauenregierung von Elisabeth uud Katharina II-auf den Thron brachten. Die eine Kaiserin dachte und fühlte in jeder Ader allrussisch, die audcrc folgte mehr dem Audringen ihrer höfischen und militärischen Umgebung, als einem inneren Zuge des Herzens, als sie über Deutschland hinübcvgriff und eben so wie Elisabeths Umgebung französische Bildung nach Nußland holte, französische Lüsternheit vermischend mit der derben russischen Unsitte. Was nun auf den Namen eines Gebildeten Anspruch machte, Mann und Weib wnrde über Nacht die allergetreuesten und allcrgedanteulosesten Nachahmer französischer Mode uud Literatur, Voltaire wurden vergöttert, Voileau war der erhabene Meister. Was brauchte man noch deutsche Akademiker? Die Kaiserin Elisabeth befahk nnr geborue Nussm sollten in die Akademie gewählt werden, sie konnten ja anch ohne Wissensruhm sich eben so gut brüsten auf den Sammtsesseln, als die verhaßten Deutschen, Es war ja damals das französische Wesen in ganz Europa herrschend in Hof- und Adelskrcisen.' in Nußland legte es sich 49 aber wie eine feste dauerhafte Glanzschichle iiber alle vornehmere Gesellschaft, und sie ist dessen honte noch nicht entledigt. Wer in Rußland leben nnd vorwärts will, muß Pariser Sprache und Vilduug annehmen, d. h. in der eigenthümlich rlissischell Weise. Denn der Firniß ist zwar dick nnd glänzend, doch der russische Grundcharakter schauet überall hindurch. 20. Wicderschcin deutscher Entwickluuss. Dagegen blieb es merkwürdig wie vo>l jeder geistigen und politischen Newegung, die durch deutsche Kaue zog, in Ruß-laud der Wiederschein oder, dürsle man öfter sagen, die !>fopiü Nch zeigte. Dents6)l(Uid lag -,u nahe, war zu gros; und regsam, als daß niä)t jede europäische 5vnllnrbewegnng in der ^arbe und Nicht-l>nNagcn sollte. Wir bemerken ja Äehuliches inl ganzen weiten ^!ten bis hinnnter zu den Vtündungs Landen der Tonan, Als die französische Revolution anfing, mit den Lehren über b:c Meuschenrechte, von deuen in Rußland jede seine Gesellschaft sch>vär>»te, blutigen Ernst zu machen, warf man erschreckt die französischcu Bücher in die Ecke, wnrdc empfindsam nnd er-lullte Lüfte nud ,5aiue mit wel>evoller Liebesklage, l'iau: es "uf die geographische Verbreitung au, in welcher um die Leiden ^es iungcn Werther Thränen vergosseil wurden, und auf die Glnt nnd Echwere dieser Thränen, so waren die Russen zweifellos das empfindsamste aller Völter. kosteten ihnen doch anch Grandison nnd Yoricl eine Welt von Senfzern. Als aber Jean ^mU erschien, da gehörte ihm der Thron in den feinsten rns« Mchen Tcelcn inännlichcr wie weiblnher Natnr, nnd noch heutzutage zählt Jean Paul mehr Verehrer in den stillen Land-hausmi Rußlandv, al-> in seiner Heinial. Nach der Aesiegnng Napoleolls lehrten die Offiziere, beladen mit deutschen Ideen, in die Heimat zurück, und bald v' Küher, Rußland H, 4 50 gab sich hier dasselbe verschiedenartige Streben kund in geistigen und politischen Dingen, wie ans deutschem Boden. Die ganze gebildete Welt öffnete sich znm ersten Male willig nud rückhalts-los der Luftströmung ans Deutschland her, Da wnrden vor Allem ästhetische Studien getrieben und Goethe gelesen, noch mehr Schiller, noch mehr Wieland; Lessing blieb merkwürdiger Weise vernachlässigt. Eine zweite Art von Beschäftigung, die besonders in den höfischen Kreisen sich der Beliebtheit erfrente, war die mystisch-religiöse. Frau von Krüdener stimmte den Sopran an, Graf Le Maistre sekundirtc, Jung Stilling, Schwedenborg, Naadcr standen im Chor. Aber auch die politische Regsamkeit blieb nicht ans, sie warf sich vor Allem auf Bücher über Staatskunde nnd Vo.lkswirthschaft. Man erklärte yallers Ncstaurations-Lehren fiir göttlich und bedauerte nur, snr ihre Anivendung in Nnßland so wenig Stoffe zu haben. Die Jüngeren aber, welche von Freiheitsideen nicht bloß reden wollten, gründeten nach dem Vorbilde der deutschen Burschenschaft einen Geheimbund. In Deutschland bezogen nach der Juli-Revolution die wc-heimbündler die Festungen: Baiser Nikolaus schickte sie mnsseu-haft auf das Blutgerüst nnd nach Sibirien. Fortan galten nur zwei Ideenkreiie, die anch in Deutschland obeu waren, der romantische nnd der philosophische. Die jungen Russeu, die in sich etwas wie Zukunft spürten, warfen sich leidenschaftlich anf die deutsche Philosophie. Kant war zn hart nnd trocken, Schellina, zn poetisch: ihr Mann war Hegel mit seinen Alles durchdringenden und nichts leibhaft fassenden Kategorien. Jedes neue Heft vou Ruge's Hallischen Jahrbüchern wurde nirgends sehnlicher erwartet, als in Moskan nnd Petersburg. Die deutsche Romantik aber zeugte glänzende Nachfolger in Puschkin und Lermontow und Anderen, jedoch zeigte die rnssische Nomantik bereits ihre realistischen Gettchtszüge, während Arnim, Tieck, 51 Brentano nur Einigen munden wollten, Diesen aber um so süßer. Mit der Thronbesteigung des Bönigs Friedrich Wilhelm IV. in Preußen zitterte eine nene geistige nud politische Beweglmg burch die oentschen Städte und Schlösser. Sofort fand sie in .^'iißland kräftigen Nachhall. Philosophie und Nomantik wurden plötzlich zmn Stillschweigen verdaulnit, jetzt schwnr Alles auf dir zornigen Verneiner, die in Deutschland mit gewaltigen Schwertern auf Thron nnd Altar losschlugen. Fencrbach er-schien den Russen zu genial aber Moleschott, Vogt nnd Stirner ^ das waren ihre Meister, keiner mehr als Otto Vüchner. Sofort standen dieselben drei Parteien, welche in Deutschland den Kampfruf erschallen ließen, auch in Rußland streitgernstet ba: die nationale, die konstitutionelle, die sozialistische. Zum ersten Male aber schöpfte die Bewegung Ideen und Autnebe aus den noch schlnmniernden Tiefen des eigenen Volkes. Sofort wurde sie eigenartiger und eueMscher, als jemals früher. Nußland fing an zu deuten, selbständig zu denken. Das bewirkte die heilige Vaterlandsliebe, die in frübor nie gekauuter Weise plötzlich allgemein erwachte und zwar nnt Tckain uud Wuth ül'er die elenden heimische» ^ustäuoe. Gogol, der ein paar Jahre früher aufgetreten war nnd das Leben im Inneren Älnßlands in seiner ganzen Blöße und Erbärmlichkeit darstellte, hatte nicht wenig beigetragen, die Sehnsucht nach Vesserem zu entzünden. Nas Oogol damals war, ist Turgenjew heute, Beide so 'charf lebenswahr, Jener voll lachenden Humors, voll Hoffmmg und zulegt uerdüstcrt, Dieser tief wehevoll und fast verzweifelnd. Sollte Tnrgcnjew jetzt ebenso bedeutungsvoll seiu für die rus-sifthe Entwicklung, wie einst GogoN — Doch uorerst werfen wir einen kurzen Blick in die alte russische Welt hinein. Das Jahr 1848! Die Einen nennen es das tolle Jahr, die Andern das Jahr des Heils. Das aber ist gewiß, damals 4 s 52 erfolgte ein vulkanischer Ansbruch der lang unterdrückten Ideen und Forderungen der Völker in Mitteleuropa, nnd diese Ideen und Forderungen haben die folgende Zeit beherrscht. Welch eine klirze nnd doch so erfüllte, stnrmerfüllte Zeit feit ienem Jahre! Für jeden Iheil des deutschen Volkes war sie Etnrm-laufen nach hohen Zielen mid, Gott sei Dank, nicht erfolglos. Rußland hatte sein 1848 fechs Jahre später, aber für Nußland bedeutete 185-4 noch viel mehr. Die sechsnudzwanzig Icchre seitdem bedeuten das innerliche Losreißen voin Mittelalter, doch nicht uoin Mittelalter alkin, Losreißen vom alten starren Afiatenthnm. Peter der Grosie und seine bedeutendsten Nachfolger hatten den nnbehülflichen Riefen mit europäischen Glieomaßcn uerfehen, langsam lernte ermarschiren, schlug noch öfter täppisch nm sich, nnd stürzte, nnd lag wieder trag am Noden, — jel'.t erst, unter Alerander II., drang ellropäischer Geist in all seine Adern, felste sein Mit in ,vil',e und sein G» Hirn in Iieberdrang, VI. HtmüsllcrnmltllNl) liltcn Zttls. 2l. Satrapen. Welchem Neiche alter oder nener Zeit ivnre Nnßland, wie es noch uor uierzig Jahren war, wohl zu vergleichen geiuesen? Ich glanbe, deni persischen Weltreiche des Alterthums. Der Großkönig thronte in seiner weitläufigen Hofburg, um ihn her seine fchiuelgerifchen nnd witzelnden Munster nud Feldherren, ^ie iille nnr seine Höflinge nunen, nnd die reizenden Tnltaninnen, von denen eine Jede c5 mit Leichtigkeit fertig brachte, nn einein Abendfeste die Iahreseinkünfte einer Provinz zn uergendeli- Ter ^roßkönig, seine Brüder nnd Tö!)ne, wundschaft gestellt. Dergleichen Geschichten blieben zwar nnmer AuMahmen, iedoch gar so selten waren sie doch nicht. In dem einen Jahre !«59, allerdings als des jetzigen Baisers "illcht und Herzcu'?gi!te sich gelteud zu machen begann, wnr 58 den ^I'i Gutsbesitzer wegen MißbraucheZ der Gewalt unter 5lilratel gestellt.') Ini großen Ganzen aber wurden die Leibeigenen bil.Iissund gnädig behandelt. Nicht die Erkenntniß, daß es schändlich sei, sie zn guälen nnd nicht für sie zn sorgen, war der Grnnd, sondern die russische (Gutherzigkeit, die Ni'Mcht alls den eigenen Vortheil -^ jeder Leibeigene war ja zinsbares kapital — und die Furcht, daß der Mißhandelte sich räche. Daß nächtliche Nrände den Himmel röthcten, daran war man gewöhnt wie an Sturm uud Hagelwetter. Auch lag eine gewisse Ausgleichung darin, daß alle Aanern vom Besitze ihres Leibherrn so viel stahlen, als sie nur irgendwie mit gntcr Manier bei Seite bringen konnten. In den Winternachten herrschaftliches Holz im Walde fällen nnd heimführen, wnrde von ihnen so leidenschaftlich nnd so ».'erschlagen betrieben, wie nur alte Jäger den: Wilde nachstellen. „Gott hat den Wald, die Erde, und das Wasser für Alle erschaffen" von diesem Sprüchworte ließ der gemeine Russe nicht ab, hatten die Lente aber Geld erworben, so wurde es eilends vergraben, nnd sie duldeten lieber die grüßten Qualen, ehe sie es herausgaben. 24. Dienste und Abgaben. Die Herrschaft erwartete uon den Leibeigenen von ^eit ;n Zeit Geschenke au jnngen Hühnern Ferkeln nnd Lämmern, Eiern Pilzen nnd Walobceren, auch wohl an Lcincwand. Hinwieder half der Gutsherr seinen Banern, wcnu sie in Noth waren, mit Ärot oder Saatkorn, Vanholz oder Vieh, und nahm sich seiner Leibeigenen an, wenn sie sonst keinen Ernährer hatten. Seinen armen Vaner im Unglücke nicht zu verlassen, forderte noch anßer der Torge für fich selbst auch ein gewisses Gefühl der Billigkeit uud des Auslandes. In vielen Gegenden sah l) Mackenzie Wallace „RMtmd", ^eip^ 1,^75, Band II, Seite 242, nach amtlichen Tchriftstückcn, 59 der Unfreie es alZ harte Strafe an, wenn sein Herr ihn ans dein hörigen Verbände ausstiesi. Andere Herren gab es wieder, die ihre Bauern gern für Hilfeleiswna.cn in Tchnlden verstrickten, und Andere, die es damns anlegten, Geld aus den Leibeigenen zu erpressen. Das geschah durch Vermiethen ihrer Dienste, noch häufiger durch die Drohung, einen Sohn nnter die Rekruten zn geben. Dem Soldatenrocke und anderen: Zwängnisse zu entgehen, flüchteten die Leute öfter nach dein Enden, wo man Arbeiter brauchte, oder steckten sich iu Pilger« tloider lind fahrteten durchs Land. Im Uebrigen war die gewohnliche Art und Weise, Leibeigene anszunül;eu, eine vierfache. Eutweder frohndeten sie, ge-N'öhnlich drei Tage in der Woche familienweife, iu der Erntezeit das gauiL Dorf zusammen, -^ oder sie zahlten Lcibgeld, Obrok, durchschnittlich im Jahre etwa 20 Rubel anf den l'vopf oder 50 Nudel anf die Familie, — oder sie gingen in die Städte, lernten ein Handwerk, versuchten sich im Handel nnd schickten einen beduugeueu Theil ihres Verdienstes an ihren Leibherru,-^ oder endlich sie wurden ins .Hausgesinde eingestellt und bilde ten dann das liederlichste Gesindel, das es auf der Welt nur geben konnte, das auf des Herrn dosten sich möglichst ver-Mügte nud faulenzte. Jedoch kamen nnter dein leibeigenen Gesinde nicht selten Beispiele vor wo nicht von eigentlicher Her-^'ustreue, doch von unzerstörbarer kindlicher Anhänglichkeit. Das leibeigene Mädchen, das tagsüber zehn Mal Ohrfeigen öeknm, war Abends bei dem Ausklcideu der Herrin doch wieder die Vertrante ihrer Geheimnisse. 25. Sittliche Verkommenheit. Im Grunde gehörten auch Geist nnd Seele dem Leibhcrrn. Seine Grausamkeit sahen die armen Menschen ja nicht als ein Unecht an, sondern blos; als eine Strafe des Himmels. Zu "'fcncm Anfstande konnten sie den Muth uicht fiudcn, lieber 60 versteckten sie sich uiit Weib und Kind in dm Wäldern. Ach es war tramig, nicht bloß ihr Leib war an die Scholle gefestigt, anch ihre Seele lag wie gefangen in einem dunklen Kerker. Ihr Schicksal beherrschte sie nnd sie nahmen es hin mit dem Gleichmnthc ächter Asiaten. Giltherzig, mild thätig, in Gesellschaft aufgelegt zum Singen nnd Scherzen, redefertig in den Dingen feines Verständnisses, gericth der ge-meine Nnsse jedesmal in die größte Angst, sobald ihn sein Herr oder dessen Verwalter oder auch nnr der Dorfälteste scharf anfaßte, nnd dann wendete er sich hin nnd her in allerlei Ans-siüchten. Außerordentlich stark und zähe im Dnlden, halte er, gerade wie der Bulgare, Feigheit Mißtrauen nnd Lüge ins Innerste seines Wesens aufgenommen. (5r schente fich, irgend einer Anfgabe gerade ins Gesicht zu sehen, nnd selbst da, wo es nicht das Mindeste nüj'.te, stoß ihm Lüge und flunkern vom Munde, gerade als hätte die blanke Wahrheit etwas Unheimliches. Unredlich war auch sein Tagewert auf dein Felde, selbst wenn er bloß für sich selbst arbeitete. Weil er nichts gründlich machte, hatte er auch koine rechle Freude daran, nnd war die Arbeit obenhin abgethan, so wurde wieder geschlafen. Was sollte der Vaner anch den langen Winter hindnrch nnd an den vielen Festtagen Anderes thnn, als schlafen? Sonst war seine einzige Freude das Hantiren im Kleinen, das Behacken nnd Zuschneiden nnd Verzieren von Holz, nnd dabei benahm er sich so findig nnd geschickt, daß es im Sprnchworte hieß: der Mu-schik kommt mit dem Handbeile auf die Welt. Aber bei alledem kam ihm niemals ein höherer Gedanke, niemals trieb es ihn hinaus über den engen Horizont seines kargen Daseins. Die Ortschaften bestanden aus Neihen viereckiger graner .Holzkästen, die auf bloßer Erde standen, bei nasser Jahreszeit im Clothe, Winters im Schnee, Sommers im tiefen Staube. 51 Daß dieses entsetzliche (^rail in biran sich durch ein wenig Grün, ein paar Blnmen beleben könnte, fiel seinen Vewohnern eben so wenig ein, als daß sie doch eine Nacht ihre Kleidung ablegen oder das Wasser noch zn Audcrein gebranchen könnten, nls zunl Trinken nud kochen nnd wöchentlichem Schivitzbade. Die Mütter trngen ;n ihren Kindern eine wahre Affenliebe, eine Mißhnndlllng der kleinen ka>n gar nicht vor: trotzdem erschien es den Weibern nicht als eine Folge unkluger Be^ hlNldlnuf! der zarten Wesen, — der sonst so kräftige thierische Instinkt hatte sie in diesem Ttncke verlassen, -^ sondern als eine Art Natnrgesetz, daß zwei Drittel der Kinder im ersten Lebensjahr sterben mnßten. Oder wäre wohl jemals im Kopfe ^'u>es rnssischen Baneruiveibes eine Ahnn»!', allf^eblitzt, es tonne noch Anderes sür de» täqlichen Tisch geben, als Kohl-iuppe Gnrken Aepfel Waldbeeren Pil',e ein wenig Fisch nnd Schwarzbrots Oilt, daß Tchwarzbrot die Hauptsache blieb n>id t'nß Alles, was klorn Nährendeo enthält, im Brote blieb, ^hne dieses gemeine klebrige Tchwarzbrot hätte der russische ^olkvkmper schiverlich Ttand gehalten. 20 Millionen Menschen, jedoch in vierfacher Abstufung. ">n glücklichsten oder auch am unseligsten war das ^oos ^'s Hausgesindes, näuüich je nachdem die Herrschaft lau nnd nutherzig oder hart nnd boshaft war. Tiese Masse betrug im tanzen an IV, Atillionen Menschen, die sich innerhalb ihres elgencn Kreises ehelich oder nnohclich fortpflanzte, nnd nnr in ^luonahnlsfallen durch Einslellnng, ans den Reihen der Feld-'«»Ml ergänzt imirde. Die Haus nud Hofleule ivaren in aanz ähnlicher Lage, wie bei nus in der ersten Hälfte des lttelalters die rechten Leibeigenen, welche die Farnilia oder 63 die Mancivien genannt wurden, aus deren Reihen die Ministeria' len zu den Nitterbürtigen enlpor-, während die Gemeiufreien mit den Hörigen zusammenwuchsen. Diese leibeigenen Hausund Hofleute machten die Dienstboten Gärtner Kutscher und Köche, auch wohl die Musiker und Komödianten der Herrschaft, wurden vermiethet oder verschenkt oder verkauft, wie es ihr gerade paftte, und lebten, wenn Herr oder Herrin streng war, nn drückendsten Gefühle jammervoller Wehr- lind Echutzlosigkeit. Waren sie, verheirathet, so bewohnten sie gewöhnlich ihr eigenes Häuschen mit einem Gärtchen. Nach dein Gesetze durfte die Herrschaft dem Leibeigenen jedesmal nur vierzig Virkenstrciche oder fünfzehn Stockschlnge verabreichen, allein wenn es mehr waren oder wenn sie Tag für Tag sich wiederholten, wer mochte sie zählen oder darüber klagen? Eine Dame wollte für den Aerger, den sie eines Tags durch einen leibeigenen Kna^ ben hatte, sich das Vergnügen inachen, zu erproben, wie tief sich ihm ein Federmesser in die Vrust stechen lasse, ohne daß er stürbe, und traf unglücklicher Weise das Herz. Ein alter Wütherich hatte auf seinem Gnte eine Fabrik zur Strafanstalt eingerichtet, in welcher jedes Mädchen, das sich vor seinem, Harem scheute, mürbe gemacht wurde, und verkaufte einmal vier seiner ältesten uud trcuesteu Dieuer für vier Hühnerhunde. Ueber 23 Millionen umfaßte die große Klasse der Leibeigenen, die zu den Gütern der Edelleute gehörten, ihr eigen Hans und Feld besaßen, ihren Leibherrn als ihren Beschützer und Gerichtsherrn demüthig ucrehrlen, nud außer kleiuen G>> schenken nur bestimmte Frohndcn oder Abgaben hatten. Auf den Gütern der Fürsten und Grafen, die ihre Leibeigenen nach Tausenden zählten, war ein gewisses patriarchalisches Verhältniß herkömmlich: die kleiueu Gutsbesitzer aber wnßten wohl zu rechnen, wie jeder Mann und seine Arbeit zn verwerthen. Kam die Herrschaft von Paris oder aus den deutschen Bädern mit Schulden überladen zurück, so ging es über die Feldbauern 63 her. Wie von Teufeln aber wurden sie ausgepreßt und ans» gcuützt, wenn Spekulanten Güter kauften, um einen Profit daran zu machen. Beinahe gerade fo uicl Leibeigene, als dem Adel gehörten, auch gegen ^i Millionen waren ans Grönland ailgesesseu oder arbeiteten in den Bergwerken und Fabriken des Staates. Dies waren die Reichsbauern, nnd ihr Leibherr war der Kaiser, der fie durch seine Aeamteu regieren nnd nutzbar machen ließ. Sie hatten mehr, Land als die Leibeigenen des Adels, weniger Dienst nnd Al' gabc, nnd wenn ihr Vorgcse>;ter nicht gerade vom Oeld nnd Machthunger besessen war, so bcfaudm sie sich überhaupt in einer viel freieren und besseren Lage, als Jene. Ein großer ^heil war ,^l osterb a uern gewesen, die, an den Staat übergingen, als man unter Katharina N, viele weitausgedehuteu Kloster-Lüter zn Staatsgut machte. (5iu anderer Theil war von alters-her anf des Zaren Land angesessen. Kaiser Panl begann uor etwa achtzig Jahren, eine große Menge dieser Krongüter mit den daran haftenden „Seelen" unter die besondere Verwaltung des kaiserlichen Hanses ;u stellen, gleichsam als kaiserliches Priuatgut oder, wie man es nannte, Apanage. Diese Apanagebancrn wurden in der Negel nm wenigsten bedrückt. VIII. EiMchilllg dcr Lcibcigcllschnst. 27. Historisches Dunkel. Je dichter Großrussen wohnen, um so allgemeiner ist Leibeigenschaft. Finnen und Tataren kennen sie nicht, während sie iu der Umgegend vou Moskau ain häufigsten vorkommt und i,n selben Grade abnimmt, je weiter man sich uon Moskau entfernt. Sie ist also in ihrer besonderen Art und Weise recht eigentlich als eine nationale Einrichtung der Großrusscn zu betrachten, und es paßt ganz zn großrussischer Zartheit, daß man. die Leibeigenen Seelen nauute, wahrend bloß an ihre arbeitenden Arme und Beine gedacht wurde. Dies fuhrt uns anf die Frage: wie kam es, daß eine so große Meuschemuasse in so unseligen Instand der Stlauerei hineingerieth? War diese Leibeigenschaft uralte Mitgift groß russischer Eigenart, oder entstand sie durch geschichtliche Fügung? Hört ein russischer Zeitungsschreiber diese Frage, so wirft er sich in die Anist und sagt: „Ihr armen Westlcntc — er meint die europäischen Völker anßcr oem seinigeu —- wie seid Ihr zu beklagen! Nic ist eure ganze Geschichte uom Dunkel der Leibeigenschaft bedrückt und bedrängt! Unser edles Polt blieb das ganze Mittclaltcr rein dnuon. Jeder Bauer konnte frei umherwandern nnd arbeiten, wo er wollte. Erst der Krott-ränber Noris Godunow hob das freie Wanderrccht auf, aber 65 persönlich frei blieb nnser Bauer immerdar, er ivar nur mit seiner Arbeit gefestigt auf des Herrn Boden. Alles Andere war ungesetzlicher Mißbrauch." Die Antwort läge nahe: „Trat bei Euch Russen Leibeigenschaft so spät anf, dann hat sie wunderbar eilig ail Orobhcit nachgeholt, was sir an Zeitdauer einbüßte. Russische Leibeigenschaft nnd deutsche Hörigkeit ivaren ^ Allsnahmen abgerechnet ^ verschieden wie knutschn und Spnzierstöckcheu, Seht Ench doch nur nm in eurem großen Nußland'. In der ganzen twsllo^n Weite einförmiger Ebenen — wie wenig leichte Kedankeu in schweren Köpfen, und diese ^üpfe so schwer von knechtischem Eiuu und Weseu! Wie wäve es möglich, daß dieses GeMl der Nntcrthänigkeit, welches den g» uieinen Russell bis in'Z Mark seiner Knochen durchlierrschr, so tief einwm'Me, ohne tausendiährige, ja ohne nratte knechtische Gewöhnung?" Es theilen jedoch auch die meisten russischen sNeschichts-sorscher die Allsicht, das ganze Mittelalter hindurch habe es ln ihrem Lande keine Leibeigenschaft des gemeinen Volts gegeben, erst in den letzten Iahrhnnderten und anf Befehl von obeu her sei das große Uebel entslaudeu. Die Banern seien N'ei gewesen und wären ganz nach Belieben von einem Herrn zum andern gewandert, um n»f deren Mitern zn arbeiten. Habe es ihnen an der einen Stelle nicht gesalleu, so hätten sie sich eine andere ausgesucht. Erst im Jahre 1497 sei ihnen der St. Georgstag zmn Dienstwechsel vorgeschrieben; erst 1592 habe Äoriö Godunow sie eingefcstigt auf den Gütern, anf denen sie damals waren; erst in Folge dessen sei 1,',4'.> ein besetz er^ gangen, daß jede eigenwillige Ortsveränderuug der Bauern, ble seit der letzten Aufzeichnung vor ^l Jahren vorgekommen, uichtig s^ ilnd daß die Banern zu dem Herrn, den sie verlassen, follten zurückgebracht werden. Diese Ansicht setzt aber doch Zustände vorans, wie sie von Natur unmöglich waren. Läßt sich annehmen, aller Grnud v- «Uher, Nukland II. 5 66 und Boden sei von Anfang an in Händen der Herren, das ganze Landvolk aber von Anfang an landlos nnd wildfrei ge-wefcn nnd verdammt, sich auf fremden Gute fein Brod zn suchen? Irgendwo mußte es doch wohncn nnd sich nähren. Ober läßt sich im Ernste denken, all die Vanerugemeinden wären mit Sack nnd Pack anf ewiger Wandernng gewesen? Das läßt sich doch nnr von überzähligen Mädchen nnd Burschen annehmen oder noch etwa von den Männern alls solchen Gemeinden, die ihrer Armuth wegen Verdienst suchten. 28. Verlauf in Deutschland. Tics historische Dunkel, welches über der Entstehung der Leibeigenschaft in Rnßland liegt, lichtet sich vielleicht ein wenig, wenn wir die Geschichte der Leibeigenschaft in Deutschland damit vergleichen. Die Menschen werden ja überall so ziemlich von gleichen bedanken nnd Wünschen bewegt, nnd nnter ähnliche-n Bedingungen entwickeln sich aller Orten ähnliche Einrichtungen. Grnnd uud Hort alles germanischen Staats- uud Volks-Wesens war Freiheit an Person nnd Gnt. Jedoch schon in ältester Zeit finden wir Ansätze zu Hörigkeit in dreifacher Abstufung: erstens Leibeigene, die gekauft oder im Krieg gefangen waren nnd in Hans nnd Hof der Herrschaft Dienste leisteten; zweitens Dieselben in besserer Stellung, wenn sie dauernd auf herrschaftlichen Grundstücken angesiedelt waven; drittens jüngere Söhne von Freien und verarmte freie Leute, die anf fremdem Grund nnd Boden sich ansiedelten und statt des Pachtgeldes Frohndeu oder Abgaben leisteten. Vermehrung trat insbesondere bei der dritten Masse ein, als freie Lente theils ans Frömmigkeit, theils um sich den Plackereien von öffentlichen Beamten zn entziehen, immer zahlreicher Gut nnd Person einem Stifts' oder Klosterheiligen widmeten nnd sich zniu Zeichen dessen zu leichten Abgaben verstanden. Noch immer blieben aber die gemeinen freien Aanern at-' 67 Hauptmasse des Volkes bestehen. Dies änderte sich in: 12. und 1'!. Jahrhunderte aus zwei Ursachen. Die weicheren gesellten sich dem Stande der Gebildeteren d, h. der Ritterbürtigen zn, und zahllose ärmere Freie zogen in die Städte. Nun standen die übrigen Banern den Hörigen ziemlich gleich; denn anch bei ihnen hatten sich Gerichtsbarkeits-Abgaben, die an einen be stimmten Amk'herrn geleistet wnrdeu, allmählig in erbliche basten an Herren verwandelt, in deren Familien jene Aemter erblich Wvorden. Die Entwicklung war vollendet, als Kaiser Friedrich II, im Jahre 12,12 das Gesetz gab: niemand solle ohne des Landes-hcrrn Bewilligung voll einem Gerichtsbezirke in den anderen Ziehens) Eo wllrde das gesmnmte Landvolk, mit Ansnahinc einiger glücklicherer biegenden, in denen die alte Freiheit fester ge wurzelt war, und mit allgemeiner Ausnahme der ritterbürtigen Geschlechter im stillen Lanfe der ^eit in Bande der Hörigkeit verstrickt, jedoch in zahllosen Abstufungen der verschiedenartigsten Michten nnd Re6)te nnd Gebränche, in denen sich die verschiedenartige Entstehung des Verhältnisses andentete. Mehr nnd mehr verschmolz sich das Landvolk durch Heirachen nnd Zuwanderungen, und die Leiswngeu nahmen uumerklich zn mit icdem neuen Jahrhundert. Als aber im Beginne der Ne-sonnationszeit ein gewaltiger Aufschwung durch alle Gemüther lNng, da erhoben sich die Bauern, um ihre"alte Freiheit wieder blank nnd klar, nnd verjährtes Unrecht ab zn stellen. Die furcht-vare Volksbewegnug, aus welcher das ganze Neich in verjüngter ""M uud Neugestaltung hätte hervorgehen können, wurde b> ""ltisst, weil die großen Städte, deren Patrizier selbst Herrschaften hatten, nicht mitthun wollten, nnd die Folge war, daß ?, "^ "'^" basten anf den Bauernstand gewälzt wurden, '^gkeit, die zehn Mal hänfiger gewesen als Leibeigenschaft, ) Looum centae nemo mutabit'siue conscnsu «lomiiil tcrmo. Const. 111 curia Sibidiiti, art. 8, 5* 68 nahm die strengeren Formen der letzteren an, und das Landvolk sank immer tiefer, hier mehr dort weniger, bis vom Ende des uorigen Jahrhunderts an der Nation das größte Heil dadurch widerfuhr, das; im Wege der Ablösung von Grundlastcu der alte freie Vauerustaud wieder hergestellt wurde. In den Dreißiger Jahren waren überall in Deutschland uud zu (5ude der Vierziger auch in Oesterreich die Fesseln der Leibeigenschaft gefallen. 29. Russische Unterschiede. Höchst wahrscheinlich war nun der Verlauf in Rußland im Ganzen nnd Kroßen ein ähnlicher: nur giebt es dafür ohne allen Vergleich weuiger Nrkuuden, die uns die einzelnen Abschnitte des Herganges klar legen könnten. Wohl aher stechen einige harte Thatsachen hervor, die in rnssischer Eigenart ihren Grnnd hatten, von denen auf die Geschichte der Leibeigenschaft düstere Schatten fallen. Finnen und Tataren kannten, wie gesagt, keine Hörigkeit von Banern, wohl aber hielten sie eine Menge Sklaven, die durch Krieg oder Kauf herkamen und hart behandelt wurden. Sklaverei, nicht Hörigkeit, wmde das Vorbild für jede Art von Abhängigkeit. Als die Russen sich den Warägern unterwarfen, haben diese ohne Zweifel ^- denn alle germanischen Heerfürsten machten es so — eine Theilung des eroberten Landes uud der darauf Angesessenen vorgenommen, große Stücke als ihr Haus-gut behalten, andere Stücke an ihre Lehensleute verliehen. Die Wchrgclosabstufung weiset dentlich daranf hin. Die Amtsrechte aber, die ein Herr erhielt und leicht in seiner Familie erblich machte, gaben bei einem so nnterthänigen Volke mehr noch als in Deutschland Gelegenheit, die dem Amte Unterworfenen in dauernde Hörigkeit hineinzuziehen. Die lange Mogolen-Zeit vermehrte die Anzahl von Schuhbcdürftigen und bedrängten Schuldnern, die sich freiwillig in die Leibeigenschaft begaben. 69 Als damals der Moskauer Zar sich über die Groftfürstou erhob, nahm er Tchenkungen von ^.'and nud bellten in Menge vor, nnd sie wnrdcn nin so häufiger, i^ gewaltiger die Macht der ^aren an« schnwll und je eifriger sie trachteten, ihre Helfer nnd Anhänger durch Belohnungen an sich zu fesseln. Noch immer gab es indessen freies Landvolk, das nach alter Weise der nomadischen Fischer nnd Jäger nmherwanderte und bald bei diesem, bald bei jenem Gutsborrn arbeitete, bis Voris Godunow das Gesetz Kaiser Friedrichs II. vollzog nnd die noch Freien auf dem Lande einfestigte. Freilich geschah dies in russischer Weise. Der dentsche Kaiser verbot das eigenwillige Wechseln der Gerichtsbarkeit, der russische Zar das Wechseln des Gutes. Das Vorbild der Leib-Eigenschaft blieb in Rußland die Tklaoerei. In Deutschland bildete diese, die volle Leibeigeuschaft, die Ausnahme, Regel war die bloße Krnndhörigleit, Während es in Deutschland undenkbar, '^öria>> g^trenut vom Grund und Aoden zu verkaufen, wurde, w Nußlaud ltt8^ für den Gutsherrn durch Gesel, ausdrücklich das Recht ausgesprochen, seine Leibeigenen losgelöst vom ^aude iuf da'> paradiesische Wohlsein des Begrabenen, dann ^lgte, während draußen die Bauern standen und Branntwein und Ftttknchen vertilgten, an langer Tafel der Leichenschmnns, und je mehr nian dabei zn trinten ueruiochte, desto lieber lintte inan den Seligeil. Die Popen berauschten sich daher ^golmäing und fingen dann gränlich an zn schiinftfen, ge-nothen anch ,vohl einander in die Haare. Noch sechs Wochen nach der Leichenfeier sagten die Bauern: „Der brave Herr, wie ^cr donnern konnte!" oder: „Die gntc Fran, was sie fnr schone Rezepte hatte!" 74 31, Absonderliche und Vornehme. Es gab nun auch Absonderliche, welche in der dnmpfrn Stille, in der grauen Eintönigkeit, welche den Charakter des Provinz lebens bildete, sich vor Langeweile nicht zn lassen wußten. Diese fingen entweder an, in Sans und Brans zu leben, mit Gelagen Jagd nud Kartenspiel ihre Tage zn verbringen, — oder sie wollten sich ein stattliches Vans banen und die Ge-mächer mit feinen Bildern und Möbeln zieren, wurden aber niemals damit fertig, -^ oder sie warfen sich auf land- und volkswirthschaftlichc Bücher und versuchten sich in allerlei Verbesserungen des Feld- und Wiesenbaues. Der Erfolg war gewöhnlich gleich, nämlich Vergeudung des Vermögens und fressender innerer Aerger anf Lebenszeit, Wo Vornehme d. h. reiche Adelige wohnten, erkannte man auf dem Lande schon von weitem daran, daß der Wohnsitz sich höher über die Erde erhob, nämlich zwei Stockwerke. Das Haus war auch prunthaft, jedoch nichts weniger als behaglich eingerichtet, sicher aber in einem Theile entweder noch unfertig oder schon wieder etwas verfallen. Diese Familien betrachteten indessen nicht die Ruhe und Einförmigkeit des Landes, sondern da> bewegte gesellige Leben einer größeren Stadt als ihr rechtes Daheim. Da lebten sie in eiuem nuauihörlichen Treiben von Geklatsch nnd Gesellschaft, uon Bällen nnd Festen, Die Besorgung ihrer Güter überließen sie ihren Verwaltern, die gewöhnlich einem schrecklichen Rnubslistemc am Herrcngut fröhnten. Kam die fürstliche oder gräfliche Herrschaft nut Vetten nnd Möbeln und nnrndlichem Troß hcrangefahren, um anf kurze Zeit in einem Landschlosse zu wohnen, so setzte sich sofort m'ele Stunden in der Nunde Alles, was nicht Vauer oder Pope war, in Bewegung, um, koste es was es wolle, zu den Gastmählern des uornehmeu Herrn Zutritt zn erlangen. Dieser iimstte in der That ein großes Halls machen und Leute 75 empfangen, deren wohlbekanntes Vorleben sie in emem mitteleuropäischen Lande ganz wo andcrshin verwiesen hätte. Alle Welt sprach uon entsetzlichen Verruchtheiten, die sich dieser und iener reiche Herr erlanbt hatte. Man konnte sie aber nicht aus der guten Gesellschaft fortweisen, denn sie waren viel zn lebensklug und, wie Gribojedow sagt, „waren sie bemüht, aller Welt zu gefallen nnd suchten selbst des Knechtes Hund zum Freunde zu bekommen." Jedoch heitere angeuchme Gesellschafter waren sie alle mit einander, die Nescholtencn nud Unbescholtenen. Jedes folgende Geschlecht wurde noch feiner erzogen, noch üppiger verweichlicht, als das vorhergehende, nnd darf man zahlreichen Berichten tränen, so war in den allermeisten Fällen unter dem liebenswürdigen glänzenden Aeußereu weder gelegenes Wissen zu finden, noch ein ernstes Streben nach irgend etwas Gutem, noch die blasse Spur uou Sittlichkeit uud wahrer Ehre. 32. Sitteubildchen. Gran in Gran, Hänser nnd Geräthe nnd Denken nnd schaffen, alles graue niedrige Einförmigkeit, eine trübe Monotonie, nur unterbrochen vonZeit zuZeit durch Schwelgerei, lustige M'aucnboshcit, Wuthausbrüche der Männer — das war das alte Rußland bis vor fünfzig, ia dreißig Jahren, Alle edleren Geister, denen Gott eine Stimme gegeben, gebrauchten diese Gabe nur, um sich in Schilderungen voll Bitterkeit nnd ohne vosfnnng zu ergehen, Ein paar dieser Sittenbildchen, wie die "eftcn Dichter sie zeichneten, mögen deshalb hier Platz fiudcn. Imigt Mäuncr. „Bei allen Anlagen des Geistes nnd einer kräftigen Natur gehen si« an Willensschwäche nud Geisteöohumacht uutcr. Die kochende Leidenschaft führt sie nicht zu energischem nnd entschiedenen Handeln, sondern zum Karten nnd Würfelspiel, 76 modriger Ausschweifung, oder zu tollem nutzlosen Wagen, dem sie ihr Leben opfern. Oder sie fpielen die Freidenker, die Liberalen, die heimlich der Regierimg grollen und die Lage der .Dinge verfluchen, als ob diese ihnen feindselig im Wege stände. Doch in jeder Lage der Dinge würden sie dieselben gewesen sein, denn sie sind in Keim nnd Wurzel schon verdorben, nnd es ist kein kerniges Gedeihen bei ihnen möglich. Klägliches Geschlecht, armselige, Jugend!" Eollohub. Idcale. „Man sage, was man wolle, der (5omfort bleibt doch eine herrliche Tache! Hätte ich in diesem Augenblick einen weichen Lehnstuhl, dazu einen kiamin und eine gute Cigarre, ich uer-gässc wohl Ttraßen schmus und Regen, meine Phantasie würde sich vielleicht entzünden nno mir Bilder voll lockenden Reizes vorführen. In den feineil Rauchivöltchen meiner Cigarre würden mir Nymphen, Geueralsepnuletten, Ordensfterue, Haltten Geldes, allgemeine Hochachtung uuo so weiter erscheinen^ -- mit einem Wort Alles, was nur immer ei» düuncv Gewölle voll Tabaks-ranch in sich bergen kann . . . Nnd sodann? Todann würde der Schlaf, der süße Tchlaf feine allgewaltige Hand auf alle diese Herrlichkeit legen: die vollbusigen Rymphm würden mit den Geueraloepauletten in verführerischem Tanze dahin stürmen, die Ordenssterne mit der allgemeiucu Hochachtung, und nur die Geldhanfen würden nnbeweglich liegen bleiben als ironische Zuschauer des ganzen Getümmels," Taltitow. tjliüglichiiril. „Wir beeilen uns, zu leben, nnd verspäten uns, zu heiratheu. Jeder null Stabs- oder gar Generalsevanletteu erringen, um sie theurer an deu Mann zu bringen. Die Vraitt geht mit als Zugabe zur Mitgift, nnd wenn man nachher ordentlich zu-iammeu rechnet, so hat die Brmtt einen Teelen , der Bräutigam 77 gar einen 5lörpermanssel. Und so geruht unser .Yochn'ohlge« boren odor unsere Ereellcnz, die schon niit siebzehn Jahren nicht nach Aeggypten zn reisen brauchte, um die l^eheimuisse der ^latur aufzulösen, in'^ Ehejoch zu treten. Die Frau ist dann bci ihm ein Professor der Toilettenkunst." Bestuschew. t>l>r«ch!»c 11>t!t. „In dieser Welt voll Thoren, Lassen, Verkäuflicher Gerechtigkeit, In Uniform gesteckte,,' ^lffen, Aufwürfe jeder Schlechtigkeit, Spione, fröminelilder Gokelten, lind Sklaven, stol,z auf ihre Ketten, — In dieser Welt der Heuchelei, Voll Lug nnd Trug, voll Kriecherei, Verschmitztheit, Nohheit, Alltag^lecre, Klatschsucht, Verlnumdnng, Unnatilr, -^ In diese»: Tugendgrab, ivo nur Tas Laster komiut zn Ruhm und Ehre, — In diesem Sumpf, in welchem wir Nus, Frennde, alle baden hier." Pnfchkin. ^nllimft. "Ich betrachte nnferc Generation mit Schmerz, ihre Zukunft' ^ leer u»d düster, sie wird allern in der Iluthntigkeit, wird unter dem Gewichte des />weife!s und einer fruchtlosen Wissen-Ichaft lahm werden. Taö Leben crulüdet unö ivie eine lange, "eise ohne Ziel. Wir sind wie jene vorzeitigen Früchte, die bisweilen, fremde Waisenkinder, sich unter die Blüthen ver-U'reu: sie fallen ab im Augenblicke, wo sie reifen sollten. Wir kürzen uns dem Grabe entgegen ohne Glück nnd ohne Ruhm, und vor dem Ableben werfen wir noch einen Blick bitterer Ver- 78 achtung auf unsere Vergangenheit. Wir werden unbemerkt über diese Erde weggehn, eine düstere, schweigsame und bald vergessene Menge. Wir werden nusern Nachkommen nichts hinterlassen, weder eine befruchtende Idee, noch ein Werk des Geistes, und sie werden unsere Asche durch einen verächtlichen Vers beschimpfen oder durch deu Sarkasmus, den eiu ruinirter Sohn seinem verschwenderischen Alten entgegenhält." Lermontow. Die verzehrende Sehnsucht nach einem minder leeren Dasein, nach edlerem Inhalt desselben erfaßte die besseren Geister der Nation mit bitterer Gewalt. Nicht ohne tiefere Ursache raffte ein nnglückseliges Verhältniß die Dichter Pnschkin Lcrmontow Gogol Gribojedow Kolzow Bestuschew fort m der Blüthe ihrer Jahre. X. HtiMcyrüudungen. 33. Viirncrklnsseu. In einer Skizze, wie Nnßland vor einem Meuschenalter beschaffen war, darf auch die eigentlich städtische Beuöltcrnug nicht fehlen, nächst Militär und Beamten das Liebliugstind refornnreuder Kaiser. Von vorn herein darf man nicht an Bürgerschaften eur» Väischer Art denken. Denn wie möchte man diese mit rnffischcn verbleichen, in denen die größere .Hälfte von Handel und Ge> werbe in den Händen uou Leibeigenen lag! Diese waren aus verschiedenen Gegenden herbeigezogen mit Bewilligung ihrer Herren und schickten ihnen regelmäßig den Lcibzins, Doch auf wehr oder weniger Freiheit oder Sklaverei kam es früher bei dcn Nüssen nicht an. Peter der Große hatte sich Volk und Verfassuug in unseren nlteu Hansestädten angesehen und bekam große Achtung davor. Nach ihrem Muster verfertigte er nun eine russische Städteordunng, in welcher weder Bürgermeister nnd Stadtrath, noch Gilden und Zünfte, noch Gerichte Polizei Schulen und Krankenhäuser fehlten: Alles stand schön iu Reih und Glied wi Gesetze. Nnr wollte es nicht recht vom Papiere ins Leben tn'ten. Nun las auch Katharina II. viel über den Tiers.etat, von dessen Macht und Verdienst in Frankreich alle Welt sprach. 80 in den Vortagen dor Revolution. Sie erklärte also, sie wolle einen 3iers-etat haben, gab eine nene Städteordnnng nnd er« bante in 23 Jahren niä)t weniger als 216 nene Städte. Dieser Ruhm der Städtcgründung verdiente sich folgender Gestalt. In einer größeren Ortschaft wurden mitten zwischen den lang und breit sich hinziehenden Gassen von kleinen niedrigen Holz-Hütten eiu paar größere Blockhäuser gebaut für Gericht, Po-lizei, Gefängnis! und Beamtcnwohnnngen, die Stadt wurde protokollarisch für „eröffnet" erklärt, und damit war sie fertig. Eigentlich dienten diese Städte bloß zu Sitzen für die Pro-vinzialverwaltnng, die großen hießen Rcgicrnngsstädtc, die kleineren Kreisstädte, nnd für die anderen ließ sich kein besserer Name erfinden, als „überzählige Städte," Besonderes Gefallen nahmen die Herrscher an der Eintheilung der vorhandenen oder gehofftcn Bürgerschaft und ihrer Rechte. Unter Katharina gab es drei Klassen: Kaufleute^ Stadtbürger, Handwerker. Als die Fremden sich ansiedelten, wußte man sie — weil sie ganz anders waren, als die Russen — bei Diesen nichl unterzubringen, und machte eine eigene Klasse daraus. Als Gcbände und Grundbesitz im Werthe stiegen, wnrde wieder eine besondere Klasse ausgeschieden, die der Hans« nnd Grundbesitzer, in welcher aber eben so wohl Mitglieder der anderen Klassen als des Adels oder der Geistlichkeit sich befanden. Kaiser Nitolans endlich, der durchnns Patrizier wollte, schns noch die besondere Klasse der Ehrenbürger. Nun gab es sechs verschiedene Klassen mit ihren Unter abtheilungen, allein dabei blieb es nicht. Wer zwanzig Jahre lang in feiner Stadt ein angesehener Mann gewesen oder zwei Mal zn einem Gemeindcamte gegewählt worden oder studirt hatte und doch nicht Beamter werden wollte, aber auch, wer bloß viel Geld hatte, tonnte vom Senate zum „Ehrenbürger" erhoben werden. Dann besaß er alle Adelsrechte: nur eines blieb dem reichen, vielleicht auch 81 gebildeton und verdienten Mnine verschlossen, er durste keine Leibeigenen besitzen. Dor Stand der Kanflonte hatte drei Abstllfnngen, die sich einfach nach dem Stenerfnße richteten. Wer die höchste Steuer bezahlte, ssehörte znr ersten Gilde, hatte Degen nnd Uniform, konnte mit vier Pferden fahren, nnd dnrfte eben so wenig als der Edelmann gepeitscht werden. Die Kanflente zweiter Gilde waren ähnlich gestollt, hatten aber kein Recht eine» Denen zu tragen nnd tonnton also nicht hoffähig fein. Der Kanfmann dritter Gilde aber war eben bloß Kanfmaun nnd weiter nichts. Wehe aber den Stadtbürgern nnd ihren Beisassen, wehe dem Handwerter: sie standen noch unter der Knute gleichwie Soldat nnd Leibeigener. Gleichwohl dnrften sie sich etwas Besseres dünken. Die „Stadtbürger" ^- es fand sich eben kein besserer Name für Krämer Scheukwirthe Steinmetz» Flößer nnd dergleichen -- hatten gewisse Gemcinderechte, dnrftcn Handel treiben und nicht zu Rekruten gepreßt werden. Mit Schreibern, Hauslehrern und armen Teufeln uon Künstlern nnd Schau Wieler» wußte man wieder nichts anzufangen, als sie den Stadtbürgern nnter dem Titel „Beisassen" zuzuschlagen. Die „Hand^ werker" endlich, welche zu eiuer Zunft gchörteu, dnrftcn mit Gesellen nnd Lehrlingen arbeiten. Ulle Anderen wnrden Taglöhnern und Bauern gleich ge-^l)äi;t nnd bildeten die unterste Klasse. Diese chinesische, zehnsach abgestnfte Nangordnnng sollte "Nenbar den Städtern den uierzehnklassigen Tschiil ersehen. Was aber bewirkte sie? Die reichen Städter wmdcu keiue Patrizier, Und die nicht reichen blieben verkleidete Vancrn. Die Städte U'lbst aber behielten ihr Ansehen vou wcitgedehnten Dorf--'chasten, die aus Reihen uou nackten Blockhäusern bestanden, «M vg,^ einigen bessern Gebäuden unterbrochen. Kurz, das nysische Etädtewesen war nud blieb ein Hohn auf die Geschichte des Vürgerthnmes in der alten mittleren und neueren Zeit, — v' Lüher, Nußlnnd II, 6 82 zugleich ein Veweis, wie tief das russische Volk in feiner nationalen Eigenart festsaß. Man darf aber nicht meinen, daß der russische Kaufmann sich nicht angestrengt hätte, einen vornehmen Herrn ans sich herauszubilden: es tam leider stets uur der Halbasiate hcruor. Machte er doch seine Geschäfte nur nach Asien hin nud uon Asien her; der europäische Handel war seine Sache nicht, dieser erforderte ja doppelte Buchfnhmug, während die einfache schon üoerlästig erschien. Seine Waaren mochte der Rnsse nur ill den Zellen eines orientalischen Vazars auslegen. Je reicher der Mann wnrde, je mehr er sich zn fühlen anfing, desto ent» schiedener uerstoäte er sich gegen höhere Äildnng, desto widei> wärtiger wurde ihm der Europäer Unruhe Pünktlichkeit und offenes Auftreten. 34. Natnrfeliler. Was aber ist der Grnnd, daß die Städte nicht gedeihen wollten trotz aller kaiserlichen Gunst und Fürsorge? Ter weite ebene Boden mit seinen großen Flüssen — ein Land so wenig bevölkert, daß auf einen Quadratkilometer, welchen in Dentsch land ttl> Menschen bewohnen, in Rußland kaum 1'» kommen ^ ein Neich, das der große Zwischenhandel zwischen Asien nnd Enropa dnrchzog, — sie waren wie dazn geschaffen, daß hier, wenn anch keine Menge kleiner Städte, doch eine Anzahl großer mächtiger Stadtgemeinden entstand, gleichwie das hanseatische Nowgorod. Der Grund, weßhalb sie nicht cmporblühteu, war derselbe, weßhnlb das Veamtenthnin in diesem Lande so in der Wurzel verderbt ist nnd trotz aller Klagen Untersuchungen nnd Strafen jedes neue Beamtcngeschlecht doch wieder grau wird in der Väter Sünden. Ter Grnnd liegt in der Eigenart des Voltes, uud wir bo rühren hier etwas, das wie ein nationalnissisches Natnrgeheim- 83 uiß erscheint, doch sofort sich erschließt, wenn man nnr ein wenig darüber nachdenkt. Der gewöhnliche Nnsse kann nnr zweierlei sein: entweder Herr oder Diener. Entweder muß er befehlen und Lindere für sich arbeiten lassen, oder er läßt sich selbst befehlen und arbeitet sür einen Anderen. Neides wurzelt gleichmäßig in einer Un-lust, beständig zn denken und sich in der Gewalt zn haben; denn wer bloß sein eigener Herr sein will, ohne anf einen fremden Willen Rücksicht zu nehmen, und wer zugleich sein eigener Diener sein will, ohne Andere zu bemühen, der mnß beständig seine Kräfte anstrengen, eben so zur Selbstbeherrschung Und Fernhaltnng der Uebrigen, wie znr Arbeit »nd Ordnnug. Nun keimt und entwickelt sich nur dann, wenn man sich völlig unabhängig suhlt, — unabhängig von Dienst und Ehrbe-Zeiguug Anderer, nunbhänssig von Lob nud Gefallen eines änderen, — das frohe Gefühl des Daseins und Schaffens durch s>ch selbst und für sich selbst, nnd mit diesem tröstlichen Bewußtsein, sich selbst zn genügen, verbindet sich sogleich jene Selbstachtung, die von Keinem in der Welt sich einreden läßt als von dem Mahner in der eigenen Brust. In dieser Selbstachtung aber wurzelt das Ehrgefühl. Die weiften Russen beseelt die lebhafteste Begierde nach Rang und Mauz, sie sind höchst empfindlich für öffentliche Beleidigung, — ""ch ist das kein Ehrgeiz, der den eigenen inneren Werth will ^gespiegelt sehen in Anderen, — es ist nicht jener edle Drang, soweit Kräfte und Einfluß reichen, Recht uud Gerechtigkeit zu starken. Ordnung Wohlsein Bildung zn verbreiten, tnrz sich ^lbst gemig zu thun, indem man Anderen wohllhnt, uud sich selbst zu erhöhen, indem man Ruhm nnd Glück der Vaterstadt und des Vaterlandes vermehrt, Nur in der Gewöhnung, so Hu denken und so zn arbeiten, wurzelt der Bürgersiun des Städters und das Pflichtgefühl des Beamten. Wie aber stand es bisher in Rußland? Russischer Staats- 6" 84 oder Stadtbürger, russischer Justiz- oder Verwaltungsbeamtcr — klangen diese Worte nicht als Fehlbearisfe, als Widersprüche in sich selbst? Sobald ein Nnsse Macht erhielt, konnte er nicht anders, als wie ein Herr Geld nnd Gnt an sich reiften und zugleich wie ein Knecht lügen schmeicheln bestechen, mn nur noch mehr .;n bekommen. Der Kaufmann hatte seine stille Wonne, wenn ihm ein ansbündiger Betrng gelang; nicht aber» war sein Leben nnd seine Frende, mitten im grosien Handelsgetriebe mitzuwirken. Der Handwerker be!)iell nur den Gewinn im Auge, nnd ob aus seiner Wertstätte Tchöues uud Tüchtiges hervorging,, war ihm im Grunde völlig eiuerlei. 5tnrzum, so wenig Gemeiligeis! im Grosien und so wenig Ehrgefühl im itteineit, eben so allgemein das Trachten, für geringe Last viel zu gewiunen. Deßhalb blieb Nufzland dein asiatischen Staats-geiste verfallen, nnd es tonnte weder Aürgerthum gedeihen, noch eine pflichttreue Beamtenschule sich entwickeln. Von den tausend Geschichtchen, welche das Verhältnis; zwischen Bürgern und Beamten ins Licht stellen, möge eine hier Platz finden, Ein russischer Fürstensohn, dessen Seele in seinen schönen Kleidern lebte, hatte bei dein vornehmsten Schneider in Petersburg sich eine Uniform bestellt uud kam, sie an;u> probiren. Er fand aber viel daran auszusetzen nnd ausicrte den Tadel so empfindlich, daft der Schneider, beleidigt in seiner Künstlerehre, plötzlich ergrimmte und mit der Olle über das Herrchen herfuhr, nnd als Dieses sich eiligst aus der Thüre rettete, ihm noch einen derben Tritt versetzte. Der Jüngling klagte nun sein Leid bei Polizei uud Richtern, aber jeder Beamte sagten „Was ist da zn inachen, Prinz? Sie haben keinen Zeugen, und Niemand kann iil eigener Sache Zeuge sein." Vergebens wurden sie belehrt, die Gcsclleu im Nebenzimmer Hütten die Schläge nnd das Schreien gehört, der Kutscher vor der Thüre habe gesehen, wie seilt Herr die Treppe heruntergeflogen: die Beamten berieseil sich alle auf den Wortlant des Gesetzes, denn 85 sie hatten entweder bei dem Schneider eine Uniform frei, oder wollten die Gelegenheit benutzen, sich nmsonst eine ^n uerschaffen. Der Prin; uertrailte nnn sein Unsslncl einen: Verwandten, einein alten General, der bei Hofe die Geschichte erzählte. Da regte sich doch das Standcsgefühl, und der Schneider wnrdc bestinnnt, zn angesagter Stnnde znni Pvin;en zn ssehcn nnd Abbitte zil leisten. Als er nnn ins Zinnner trat, >var nnr der Leidjmier da, der sofort ihn bei dem Kragen ergriff, schrecklich dnrch blnnte nnd ihm znlelst einen Tritt gab, daß er halbtodt nuten an der Treppe anlangte, Rnn klagte der reiche Schneider nnd schtc Hinnncl und Hölle in Vewecumc,. Aber er hatte wirklich keinen sengen, die, ftansthiire war verschlossen qewesm, nnd ün »anse hatte sich Niemand blicken lassen, als der Lcibjäger. So behielten die Veamten ihre freien Uniformen lind Prinz und Schneider ein Jeder seine Hiebe. XI. Uouc Rcfurmcpoche. 35. Charakter. Nußland hat jetzt nach der ersten zn Ende des fünfzehnten^ der zweiten nm Mitte des fechszehutcn, der dritten zn Ende des siebzehnten Jahrhunderts die vierte große Neforincpochc. Zwar besteht das alte Rußland, wie uorher kurz geschildert worden in allen Gnmdzügeu, noch heutzutage. Allein abgo fehen von zahlreichen edlen Patrioten, die in der nenern Zeit erstanden, ist das alte Rußland jetzt liberal! ans den Ingen gegangen, diese ^ngen klaffen ans einander, nnd sieht man in die säiwarzen Nisse hinein, so gewahrt uian hier nnd dort jung/ grünes Leben, das zum Lichte eulpordräugt, häufiger jedoch nur tiefe Spalten voll Duukelhcit. Was am meisten Hoffnnng giebt, ist, das; die Bewegung zum Bessern nicht von oben her anbefohlen war, auch nicht einem Anstoße von außen folgte, vielmehr ans dem Volke selbst hervorging. Den Anstoß gab der itnm^tciea,. Wenn die Russen znr Zeit des Kaisers Nikolaus mit Fremden sprachen, so verhüllten sie vor Scham den gräulichen Despotismus in ihrem Lande: waren sie nnter sich, gab es für alle den einen großen Trost, daß Nußlaud durch seine Kaisermacht der allhin befehlende Staat geworden, daß nnßer England die cnro-päischen Mächte sämmtlich dem Petersburger Throne huldigten, _____87_____ das; dem russischen Volke sich ciue unermeßliche Zukunft eröffne, feinem Primate dir nächsten Jahrhundert!,' gehörten. Als dies Kartenhans plötzlich znsaminenfiel, als das Heer bei Enpatoria selbst von den Tinten geschlagen wnrde, als in der ganzen Welt sick) kein Wort, keine Hand für die Nüssen erhob, da ging ein tiefer schwerer Senfzcr dnrch ganz Rnßlano. Was die Einsichtigeren längst geahnt und angedeutet, das starrte jetzt als fürchterliche Wahrheit entgegen, Ja es war so, Rußland war noch viel roher, viel asiatischer, als die Europäer es wußten. Wahrhafte Reue ergriff die besseren Gemüther, die Sclbster-kenntniß schnitt ein wie scharfe Mefser, Sofort aber legte man Hand aus Werk, und gleich standen vier Parteien bei der Arbeit und in größten Hoffnungen. 36. Parteien. Die Einen gmgen auf das alle und acht uatiouale Wesen zurück uud wollten das gau;e Volk verjüngen und beflügeln 5u neueu kulturgeschichtlichen Schöpfungen, für welche die Ideen und bisher ungeahnte Kräfte heruorwachseu sollten aus dein unerschöpflichen Füllhorne der russisch griechischen Kirche und aus den Instinkten nnd nralten Eiurichtuugeu des Volkes, sobald Ue uur zu Leben nnd Geltung geweckt würden. Dies war der Gedanke der Aksakows nnd ihrer Mitstreiter: ihre Partei eng genommen ivar die der Altrussen, erweitert die der Slavophilen, und die Welt möchte sie stürmen als Panslavisten. Die Anderen, an ihrer Spitze Velinsti, hatten kein Verhauen ;u uubekannten Mächten, die im Tchooße des Volkes und der Kirche schlummern sollten. Sie liebten, was im hellen Tageslichte sie anstrahlte — das waren die vielen schönen Vorzüge der europäischen Länder, vor Allem ihre liberalen Ein-nchtuugen, ihr Unterrichtsweseu, ihre geordnete Finanz- und Justizverwaltung. Eine dritte Partei warf sich auf die soziale Frage, dio _____88___^ allerdings in einem großen Lande, dessen ganzes Volk, einen kleinen Vrnchthcil mitgenommen, in nnwiirdiger Knechtschaft gefangen lag, beängstigend ans jedes gebildete oder nur barm herzige (Gemüth wirken mnßtc. Da aber diese Nenerungssnch-tigen überall auf zähen Widerstand stießen, so verfielen sie als-bald alif die bloße Verneinung. Allgemeiner Nutergang des Bestehendeil sollte wirken wie eine Tündflnth, aus deren Oe^ wässern junges, nen befruchtetes Land emporsteigt. Ten Gewinn von al! diesen Träumen und Bemühungen zog die einfach nationale Partei, deren getreuester Tpiegel 5iat kows „Moskauer Leitung" wnrde. Diese Partei war zeitweise mit jeder Andern verbündet, entnahm Kräfte von Allen, nnd hatte bloß das eine Ziel, das russische Voll groß nnd glücklich zu machen- Ihre Ttärke war nationale Politik, ihr wirtsamstes Mittel die Entzündung von Haß und Neid gegen England Oesterreich nnd Alles, wa^ deutsch war, tj?. Gruudzüge der Reform. Die vier Parteien stimmten in der Forderung nberein, zncrst müsse mit der Leibeigenschaft ein Ende gemacht werden. Diese Frage war schon unter Baiser Nikolaus in Fluß gekommen. Er hatte die nnglückselige Lage der Leibeigenen wenigstens soweit verbessert, daß er verbot, sie ohne das Gnt zn verkanfen, und ihnen erlanbte, bürgerliche Verträge abzuschließen. Sein Nach folger begann damit, 1857 eine Kommission zur Nerathnng nno Förderung der Tache niederznsel;en nnd ein Jahr daranf die 5lron- nnd Apanagebanern freizngebcn, und füuf ^ahre später war ganz Nußland von dem fnrchtbaren Trncke der Leibeigenschaft befreit. Gleich zn Anfang seiiu'r segensreichen Regiernng begann Alerander II., in richtiger Erkenntniß dessen, was znnächst noththne, die Lähnrnng zn heben, die Handel nnd Industrie nnlsing. Es war unglaublich, wao für eiue volkswirthschastliche 89 Politik ill ciuoni so produkteureicheu und doch so geldarmen Lande herrschte. Kaum spürten Handel nnd Gewerbe die Für» sorge der Regierung, als sie auch sofort ihre Thätigkeit um das ^ehn^ und .hnudertfache uergrößerteil. Zllr Viseubahuen waren etiva eintanseud Kiloiueter vorhanden, nach wenigen Jahren gab es über zwauzigtansend, Statt der einen Nant, die inan ^l>5 allein kannte, besaß alsbald iede grösiere Stadt ihre eigene Vank. Das halbe Hnndert ^lktiellgesellschaften ver° mehrte sich plötzlich zn einem halben Tausend, und diese Gesellschaften erstreckten, eifrig gefördert uon der Regiernng, ihre Thätigkeit ans Dampfschifffahrten znrSee und ans den ^liissen, alif den Ansban voil Kanälen nnd Häfen, und ans die Ans^ bentnug vielfälliger Bodenschätze, Die uorhaildellen Städte verdreifachten ihre Eiuivohner^ahl, und uene Ttädte nnlchseu ans der (5roo. vlnßlalid glich einem, jiingst entdeckten Neulande, das von der Kultnr plWich iu Vesil; genommen lvird. Die Staatsuerir>altnng litt in allen ^iveigen an schlvereu eingerosteten llebelständeu: in allen Zlveigen spürte man jetzt die neuordnendeu, besseruden, lieileiideu vände. Das i^'eichs-budget nmroe veröffentlicht, »nd unverdrossen an einer billigeren ^ertheilnug der Eteneru gearbeitet. Die I>ls!iz treunte sich — wenigstens für, die gewöhnlichen bürgerlichen Angelegenheiten — uon oer Verwaltung, nnd für Veide entstanden nene '^ehör oen. Das Schul nnd Medimialwesen nnirde anßerordeiltlich gefördert. Die .Heeresehlrichtnug verlor uiel au Schwerfällige ^'it, die Offiziere unhmeu au Bildliug und die Gemeineu an ^lchning zu, bis die lauge Neihe der nulitärischen Reformen ^74 in der allgemeinell Wehrpflicht gipfelte. Eine ganz besondere "nirsorge widmete Kaiser Alerander II. "n- dornigen Anfgabe, die Russell nllmälig znr Telbstverwal-^ttnss und politischen Freiheit heranznbilden. Die Ttadtbchör-^'tt gingen fortail ans freier Wahl der Städter hervor, der Bürgermeister an der Spitze, ihm zur Seite, ebenfalls ans drei 90 Jahre gewählt, ein Ttadttath von drei bis sechs Mitgliedern und ein Stadtuolizci- und Handelsgericht mit zwei Vor- und vier Beisitzern. Für die Pwvinzverwaltung aber wurden aus den Abgeordneten der Grundbesitzer und Kaufleute berathende und richtende Körper geschaffen, und diese Tcmstwo mit weitgehenden Befugnissen ausgestattet. Endlich winde auch die Erblichkeit des PopenstandeZ aufgehoben und in den Popeusöhnen der Staatsuerwaltuug uud Gewerben eine zahllose Menge von nutcruehmmMlnstigen Jünglingen zugeführt. XII. Ungewißheit. 38. Hoffen und Fürchten. In der kurzen Zeit eines halben Menschcnalters waren, all diese Reformen ins Leben gcrufeu, nud ans dem entlegensten Dörfcheu erhielt der Baner eine Ahnung davon, daß eine neue Zeit begonnen habe. Rußland glich einem ungehenren Gebäude, das lange ^ahre fortwährend gegen Licht und Luft verschlossen gewesen: plötzlich standen Thüren nnd Fenster osfen, von allen Seiten drangen die frischen Luftströme hinein. Wir kennen kein Beispiel in der Weltgeschichte, wo in so kurzer Zeit eine so umfangreiche nnd tiefgehende Umwälzung unternommen wurde. Die französische Revolution machte gewiß rasche Arbeit, im Wesentlichen aber hielt sie sich auf dem politischen Gebiete nnd griff weniger in das wirth' schaftliche ein. Am ähnlichsteu war der Hergang der Dinge in Preußen nach dem Jenaer ^usammenbrnch, als die Stein'sche Gesetzgebung ein nenes Staatswesen schuf nnd die edelsten sittlichen Kräfte im ganzen Volte iu rührige Thätigkeit versetzte. Sind aber ähnliche sittliche Kräfte im russischen Volke vorhanden? Sehen wir sie bereits bei der Arbeit, oder müssen sie noch geweckt werden? Werden sie tüchtig nnd ausgiebig geuug sein, um das schwere Werk zu vollbringen? Welcher Grad von 92 nöthiger Vorbildung ist vorhanden, oder inuß auch sie erst geschaffen u'crdeu^ Das sind Fragen, die sich bei dem Allblicke des großen Nmschwnnges der Dinge alls die kippen drängen. Freilich, hörte man während jener fünfzehn Neformjahre Nüssen reden, so erwarteten sie das Höchste nnd herrlichste so zuversichtlich, als man in duntler Nachtkälte sicher ist, daß Morgens die Sonne anfgcht nud Wärine nud fröhliche Tages^ helle verbreitet. Tein Lebenlang hatte Jeder vor Augen gehabt, nüe die große Voltsiuasse duuipf, gleichgültig, sorglos dahinlebte, keiner besseren Regung fähig, ja stumpf gegen die einfachsten Vorschläge zur Besserung der Wirthschaft. Der bessere Theil der Gutsbesitzer selbst fühlte sich wie iu Fesseln gebannt unter unwürdigen Menschen; denn zu dem Drucke der Leibeigenschaft, der allen Aufschwung niederhielt, kam der finstere einschneidende Despotismus »ud das gruuoveroerbte Veamtenuolk- Iu dem schweren trüben Dunste vou Unsittlich-keit, der von diesen drei Quellen ausströmte, krankte jeder edlere Trieb des Herzeus, Nun aber verflogen diese Dünste, der Himmel wurde auf einmal reiu und strahlend, bis iu die nieitcstcn Fernen erblickte man nur das entzückende Aetherblan. Iu solcher Stimmuug war dnB gebildete Rußland, als die Freiheit aller Leibeigeueu verkündigt ward. Vergebens wies Jemand hm auf die kiudische Nathlosigteit dieser Vefreitcn. „Könnt Ihr längnm", hieß es, „das; Rußland groß und gefürchtet worden mit jener wirtschaftlichen Fessel am Veine, jener moralischen Last am Halse? Nuu aber, da das ganze russische Volt frei uud erlöst ist, wie gewaltig müssen jetzt seiue Fortschritte werden, wie weit mnß es das Höchste, was die Wcstländer erreicht haben, hinter sich lassen! Die nnge-Heuren Volkskrnfte sind ja bei uns noch ganz frisch und unverdorben, sie haben unter der Leibeigenschaft gelegen wie unter einer schlitzenden Schneedecke. Ja wohl hatten wir 93 schweren Despotismus, aber er hat wenigstens verhütet, daß wir unsere besten Kräfte in bürgerlichen dämpfen nbniitzteu. Fs Ulckt All lind ^uug in den Armen, und frei nnd offen liegt die Nennbuhn vor uns. Wer will uns hindern, uns denen zn bemächtigen, ivas die anderen Volker iül Alterthume, ini Mittelalter, in der Neuzeit Gutes geschaffen? Wer kann uns hindern, das; wir jetzt mit frischen 7uMndtväften nlehr leistend Jene sind ja alle halb abgelebt, gebunden und zerrissen dnrch soziale Fesseln, die nur nicht kennen. Die unberechenbaren Voltskrnfte Nnßlands, einmal in ss-lusi gerathen, innsseil ja anschwellen nun breit flutenden Ttvcnne, in welchem Eonne nnd 3terne nüt Wonue sicb spiegelu." So sprach nian laut nild einhellig von Freiheit und-Kräften und reichster (5nnmcllnng, und alle'? das nmrde, wie es in Nnszland der Vrauch, sogleich philosophisch, nürthschaft- lich, nlathematisch bennesen, so ;u sageü an<' de>n blauen heraus. ^iiihlere stopfe, die sich von der allgemeinen ^egeisternng nicht erfassen ließen, dachten daran, wie das neue Nnsiland uur durch seine Zaren geschaffen sei, nur durch den Verstand und Befehl und Antrieb von obenhcr, und fragten sich, ob es möglich, daß dieser ordnende Verstand, diese treibende Macht uon oben her jetzt plötzlich durch Kräfle, die frei von nuten her wirken sollten, ersetzt würden! Indem sie das denkfaule nnd Nliedertrnge Wesen des russischen Nauers, seiue Unempfindlichst gegen Ehre nud Manneswürdc, seinen ganzen kleinlichen Charakter sich vergegenwärtigen, geriethcn sie auf noch schling mere Befürchtungen. Nie, diese Bauerinnasse/ eiuinal aufgerüttelt und auf sich felbst gestellt. kouute sie nicht «.'erführt werden, an dem lebeudeu Geschlechte der Gutsbesitzer uraltes Unrecht der Ahnen zn rächen nud zn schwelgen in Metzeleien, Brandstiftungen nnd Ausschweifungen? 94 Welche von beiden Ansichten ist die berechtigte? Wir stehen hier vor einem furchtbaren Geheimnisse- :ji». Schlüsse a«f die Zukunft. Vielleicht geht ein Volt uon mehr als achtzig Millionen ans der Dämmerung, welche noch darüber liegt, hervor im jungen Glänze thanfrischer Kultur. Alls seinem langen Pflanzen schlafe ist es nun erwacht, könnte nicht der neue Weilt schöner Humanität und würdiger Freiheit es nach uud nach begeistern zu den edelsten Thaten, zu einer ganz neuen lieblichen und dnftigen Blüthe am großen Geäste der Menschheit? Doch halt. — sind das nicht Träume? Trnnmc, wie sie der patriotische Russe hegt, dessen Hoffnnngen eben so leicht, wie bei dein Orientalen, in goldenen Phantasien ausschweifen? Ach, uiele Andere deuten ganz anders. Sie fürchten, daß jenes furcht bare Geheimniß sich entschleiern könne zu Szeueu voll Blut nnd Gräncl nnd Zerstörung, wie sie die Welt nicht mehr sah seit der alteu Magyaren nud der Hussiten Zeiten. Und viel-leicht sei unser Erdtheil jetzt verurtheilt, daß die Flammen ans jeuein weiten Gluttessel des Ostens flackernd nnd versengend über ihn hinschlügen. Es seien ja drüben achtzig Millionen, die in eine ganz außerordentliche Bewegung gerathen, da sie aus gutherzigen Frauenseelen auf einmal kämpfendc Männer wenden. Schlimm, genug, daß solche Gedanken nur möglich sind. Führer in diesem Dunkel, das vor uns liegt, sind der Charakter des Volts und die Landcsnatnr. Mit augeborueu Neignugen nnd mit dein, was das Laud seinen bindern einredet, versagt oder gestattet, halten wir zur Probe zusammen, was sich in taltsendjahriger Geschichte und was sich in dem letzten Meuschenalter begeben hat. Daraus bildet sich eine Kette uou Thatsachen, an welche sich unabweisbar Folgerungen anschließen, wie sich die russische llmwälzuug, die vor uuscreu Augeu vor sich geht, wahrscheiulich weiter eutwicteln wird. 95 Schlüsse find es freilich nur, die nicht weiter reichen, als der enge Denk nnd Gesichtskreis des sterblichen Menschen. Auch die richtigsten Folgerungen, gebaut ans unerschütterliche Grnud lagen, könnte ein historischer Sturm wegblasen wie der Herbst wind dürre Blätter vom Baume. Welcher Heerfürst der Alanen oder Vaudalen hätte nicht gelächelt, wcun ihm Jemand pro fthezeite, ein Völkleiu von schmutzigen Veduiuen werde ans der Halbinsel voll Sand^ nud Steinwüsteu, die dahinten zwischen Afrika und Asien liege, hervorbrechen nnd mehr als die Hälfte dcr Mittelmeerlande erobern? Oder wer hätte im Beginne der deutschen Reformation, als sie die gebildeten Völker alle mit sich fortzureißen drohte, wohl daran denken können, vom änßersten Ende Europas, aus eiuem Volte, in welchem der Maul'enseifer von achthundert Jahren voll Mauren-Kämpfe fort glühte, werde Rom sich seine siegreichen Jesuiten uud Soldaten holen? Oder als englische Kapitäns lind Kaufleute an den Flußmündungen der nordamerikanischen Küste Ansiedelungen gründeten, konnte da auch dem Kühnsten nur entfernt vorschweben, was Alles sich in zweihundert Jahren in diesem Neu» lande cutwickeln würde? Schwierig also uud leicht trügerisch sind bei großen historischcu Vorgängen Schlüsse auf ihre Ent» Wicklung. Nur so uiel ist gewiß, das russische Schauspiel, desseu zweiter Akt jetzt Aller Augeu auf sich zieht, wird uuscren Welt-theil noch lange Zeit in Athem halten. Die fiebernde Unruhe wird von dorther sich anderen Völkern mittheilen, hier Rank» spiel, dort Kriege heruorrnfcn, und noch unzählige Male wird die allgemeine Frage sein: was kommt jetzt? Ist Rußland zu einer ruhig gedeihlichen, politischen uud geistigen Entwicklung gelangt? Oder wird bald Wirrsal nnd Zersetzung wie eiust bei den Polen kommen, oder gar ein wild revolutionäres Reich wie einst bei den Franzosen? XIII. vergleich mit dcu ttordlnucriknncrn. 40. Aehnlichkeiten. Um in diesen Dingen etwas Verständniß zn gewinnen, suchen wir möglichst tief in den Volkschnratler der Nnssen einni-dringen, weil in seiner Tiefe der Hauptschlnssel znm Näthscl liegt. Einen Aoltschnrakter aber lernt mau am besten würdigen, vergleicht man ihn mit einem andern, mit welchem er manche Aehulichkeit hat. Nun haben Ruffen und Nord-Amerikaner in der That Vieles mit einander 'gemein. Auf ihren ungeheuren Ge^ bieten ähnelt sich das rasche Emporwachsen uon Städten mitten in großen Ebenen. Diese Ebenen sind einförmig, fast die einzige Abwechslung Rinnsale von Flüssen. Noch auffälliger als in Land nnd Städten ist das vielfach Aehnlichc in Sinnesund Lebensweise. Es treibt sie Beide ruhelose Lust znm Handeln und Schweifen, Niemand hängt au der Scholle, auf welcher er aufgewacbseu, uud die Wenigsten fliegt nuch mir eine Ahnung an von dem stilleu Glücke der Heimat, so das; sie vou ihr sageu möchten, „dieser Vrdwinkel lächelt vor allen mich an." Das ist da eiuc schrankenlose Beweglichkeit im Volte, ein ewiges Äuf nud Nieder: hier scheinen sick) Bestandtheile fester an einander ?u schließen, und dort gehen sie wieder aus einander, gleichwie wogiges Gewässer, das nirgends Stand hält. 97 Weil sie nicht seßhaft, haben sie auch keinen festen eigenen Sinn. Die öffentliche Meinung bildet sich plötzlich, und gleich fährt sie nne ein Stnrni daher: dann lcbt derselbe Gedanke ans ein Mal in allen Köpfen, nnd kanm der Eine oder Andere prüft seine Berechtiguug. Auch bei mittelenropäischen Völkern tritt die Mode zn >>eiteu als Tyraunin auf: bei Russen nnd Nord-Amerikanern sind Manu und Weib das ganze ^ahr hin» durch der Mode gedankenlose Tklaven. Die Leichtigkeit, mit welcher sich der Russe eine nenc Lauf-bahn eröffnet, trägt viel dazu bei, Unzufriedenheit im Keime zu ersticken. Er traut sich Alles zu, ist heute Kaufmaun, morgen Offizier, und sitzt nach ein paar Jahren vielleicht als Lehrer irgend einer Wissenschaft auf dein Katheder. An der Universität Moskau wurde uuter deni vorigen Baiser angeordnet: wenn ein Professor trank werde, solle ihn sofort, wer der Nächste au der Reihe, ersetzen, uud allen Ernstes erhielt einmal der Professor der Logik, der uoch dazu ein Geistlicher war, den Befehl, die geburtshilfliche Klinik zu leiteu. Aehuliches könnte in den westlichen Staaten von Nord Amerika noch iedcn 2ag vorkommen. Ihre selfmade mm, Leute, die sich mit raschein Durchstudiren von ein paar Bücheru zu etwas gemacht haben, finden sich in den schwierigsten bewerben nnd Wissenschaften! und das; Emcr, der als Farmer augefangen, Cchanspielcr oder, Prediger wird uud dann sich als Arzt oder Liauenrfabricant N'gendwo niederläßt, ist etwas ganz Gewöhnliches, Wohl aber zeigt sich der Nord Amerikaner dem Russen überlegen im Talent, Nch die Handgriffe und das Aexßerliche eines Faches in der Geschwindigkeit anzueignen. In beiden Völkern steckt eine nngemein praktische Natnr, ein vorherrschender Tiun für das Thatsächliche, für das, was Mi fnfseu und essen läßt, insbesondere was Geldeswerth hat. Grundzug des täglichen Lebens ist das einförmig Verständige. Nerserter-Wuth bricht eben so selten aus, als ein Ueberfließen v, Loher, Rußland II, 7 V8 an HcMNsglitc, Mid in seligen Ideen nnd Gefühlen schwärmt höchstens ein junges Paar in den kurven .^oiligulouden. In den uordamerikanischen ^ioiuanen nnd Schauspielen findet sich gewöhnlich, wie in den russischen, eine realistische Trockenheit, ein Mangel an idealer Verklärung des Bebens. Mehr schlau als klug, niemals ledig der augebornen ^iueifel-sucht, siud Nnsseu wie Nord Amerikaner äußerst scharfsinnig in den gewöhnlichen Dingen. Spricht man einem russischen Baner von dem, was in seinen: täglichen engen Gedankenkreise liegt, nnr die ersten Worte alls, so weiß er gleich den ganzen Satz. Bei den germanischen Völkern gcberdet sich dagegen der ge-meine Mann wie oie Unbehülflichteil selbst: hat cr aber eine Anfgabe begriffen, so arbeitet er sich gern durch bis znm letzten Ergebnisse. Im Mechanischen, insbesondere im Kunstgewerbe, wird der Russe vielleicht noch Nedentendes leisten, Lall nnd lahm aber erscheinen bei ihm wie bei dein Nord^Ameritaner jene schöpferischen Kräfte in Kunst und Wissenschaft, die alls tieferem Aorne heruor> dringend Originales schaffen/ Großartig siud Beide im Geldausgeben, der Russe für Lust und Pracht, der Amerikaner für Ruhm nnd Landesbestes. Beide denken im Grunde wenig, haben aber beständig Einfälle, nnd je abenteuerlicher, desto lieber hängen sie ihnen nach. Im Ausdrucke dafür sind sie gleich fertig, dabei ungemein anfchau-lich nud nehmen ihre Vergleiche gern alls der niedrigeil Welt. Ein Russe schrieb einmal: „Es jei leichter, ein Ferkel an einen: eingeseiften Schwänze festzuhalten, als einen Diplomaten au seinen Worten/'-^ Das ist doch gerade so, als hörte man einen geift» vollen Yankee reden. Der fromme Kurator der Universität Kasan ließ eiust die anatomischen Präparate mit Geistlichkeit Lichtern und Kreuzen bestatten, »veil sic Theile von Christen-Korpern, die auch zur Auferstehung bestimmt seien, ^ Das tonnte 99 e'm amerikanischer Methodist, schwärmend für den Tan des jüngsten Gerichtes, noch jeden Morgen nachmachen.. Am ähnlichsten sind beide Volker einander in der Selbst-iiberschätzmig. Der Grund liesst in der Ausdehnung ihres Landgebietes, das dabei verhältuißmäsng noch so leer. In der weiten Leere finden Raum alle möglichen Zukuuftsuläne, nnd Phantasie und Eitelkeit sind gleichmäßig geschäftig, bloß Ge-hofftes im Geiste in bereits Thatsächliches zn verwandeln. Sonst abhold hohem Seelenschwunge, gerathen sie in Vo geisterung, wo ihres Voltes Nuhm nnd Große ins Spiel kommt. „Die Engländer schlagen alle Welt nnd wir die Eug^ lander" war früher iu Nord-Amerika ein gangundgäbes Spruch-wort. Alleilt die Jankees haben im langen blutigen Kriege init ihren südländischen Stlauenbarcmen doch gelernt, wie das ans dem Felde Schlagen nicht so leicht uomtatten geht, und seit sie vor eilf Jahren die siegreiche Massenentfaltnng der deutschen Streitkräfte gesehen, find sie in Vezug auf die Leist unss der eigenen bescheidener geworden. Die meisten Nusseu dagegen stellen sich ihre Siege nnd Glücksfälle im jüngsten Kriege noch nmner so groß nnd herrlich vor, daß sie die Fehler lind Schwä-chen, welche sich zeigten, übersehen «nd leicht ärgerlich werden, wenn man sie daraus aufmerksam macht. Mit der Wahrheit wird es daher bei beiden Voltern nicht 5c> genau genommen, wenn es sich um des Landes Ruhm nnd Größe handelt; jedoch wäre den Amerikanern folgendes echt russische Stückchen doch unmöglich gewesen. Es war gewissen russischen Gelehrten eiu Dorn im Auge, ^oaß uon ihrem Volke nach Nestors Berichte die Waräger aufgefordert worden, dasselbe Zu beherrschen und zn regieren. Wie'5 Das hätten Nüssen Mthan? Nein, die Waräger mnßten ihres Stammes nnd Vlntes sein, keine Genuaueu, sondern ächte Slaven. Um solchen Schluß zu bekräftigeu, wurden Verreukuugeu der Geschichte vorgenommen, das; es ihr krachte in allen Gliedern. 7« 100 Die Veklagenswerthen! Da muß eine tritisä)!,' Wissenschaft kommen, die ihnen unwiderleglich alls germanischen, blMntini schen, arabischen Quellenschriften beweist, daß die Waräger, die das westliche Nnßland damals wic Verven durchzogen, wo es ihilell gefiel sich herrschend ansiedelten, und auf dem Schwarten Meere als Krieger oder Hanoelslentc ihre kleinen Schiffe bald hier bald dort ans Ufer trieben, daß diese kühnen Weltfahrer, die Ibn Fadhlan i,n Jahre ',^l als „fchlank ivie Palmen, fleischfarben nnd roth, mit Aexten Schwertern nnd Messern von fränkischer Arbeit bewaffnet" befchreibt, nicht bloß Normanen waren, fondern daß sie es anch gewesen, von welchen die russischen Völkerschaften erst einen Namen erhielten. Jene hießen nämlich ,,,dic Noths" ooer „Nus" (Ruderer), dauon „Nothokärlar" (Rnderniänner d. h. Echifffahrer). Nnter diesen Namen waren fie in aller Welt gekannt nnd gefürchtet, nnd diefer ihr Name iibertrng fich anf das Volk, ivelches sie beherrfchten. ^) Alfo wirklich, selbst ihren eigenen Voltsnamen sollten die Rnssen l^iermanen verdanken? Da >uäre ja ans dem Dorne im Ange ein kleiner Ttich ins Herz geworden. Nnd doch, sollte es scheinen, wäre es ja ehrenvoll, wenn der Name der tnhnen Eroberer sich dem Volte mittheilte, das ihnen angehörte. 41. Unterschiede. Nun sind nnch Unterschiede zwischen dein Russen und dem Nord-Amerikaner merklich genna,. Dieser ist findiger, arbeitsamer, unverdrossener, er nimmt das Leben noch leichter, als der Rnsse, nnd bleibt immerfort fröhlicher, herzhafter nnd scherzhafter gestimmt! Kurz, es steckt ein ganz anderer kteru nnd Trieb darin als im Rufscn, der gerne klagt, nach jeder An ') „Tcr Ursftnmg dc6 russischen Tmnn'ö" T«i Vovl^smMn von Nr, Wilhelm Thllinseu, deutsch vmi N>', L, Vm'!!r»i>i»n, Gutha, 1879, 101 strengung zusammensinkt und Nuhe und bicschwätz bedarf, aber uiel gutherziger und friedfertiger, sanfter und geselliger ist. Des Aincrikaners Blick in die Weite ist schärfer, sein vaus-halt geordneter. Er bleibt stets ein großer Wagehals, der Russe bloß eiu unternehmender Landfahrcr. Jener steht auch manubaft ein für das, was er gethan, während bei deu Nusfeu, wenn eine Zache schief geht, Alles sich bei Seite drückt und Niemand die Schuld habeu will. Hinwieder stehen die gebildeteren kreise iu ^»ußlaud an Ideengehalt und Benehmen den uusrigen viel näher, als die entsprechenden gesellschaftlichen Schichten in Amerika, ^eder Russe, der nicht n>>n gemeinen Volle gebort, kann außer seiucr Muttersprache wenigstens noch ^rauzösisch oder Deutsch, meist beides, häufig Englisch da>n, irähreud der Nordamerikaner fiä) mit seiner häßlichen Mundart des Englischen begnügt. Vei dell Ainerilanoril ist die Ncligion praktische Frönning keit, und die Predigt die Hauptsache in der Kirche. Aei den Russeu besteht die ^ieligion wesentlich iu kirchlichen lleremo-nieu, die bei den gebildeten Ständen fast jedermann bespöttelt uud doch selten Eiuer ',u ueruachlässigeu ivagt. Der Amerikaner hat keine geschichtlichen ^'rinneruiuien, als von den letzten huudert ^ahreu. Dem Rnssen ist stet>> gegen wänig, dasi sein Volk uralt ist, jedoch, setzt er hinni, mit lunggrünem Schmucke, Der Nüsse hat das Bedürfniß, sich befehlen zu lasseu, und wer es uersteht, ihn gehörig anznherrschen, ist sein Meister. Umgekehrt besteht des Amerikauers eigenste Natur darin, daß er Alles selbst erkennen und in jedem Stücke sich selbst re-aierm will. Es ließe sich uoch au Vieles ermneru, woriu beide Volts uatureu von einander abweichen: der größte aber nnd der bis ins Einzelnste gehende Unterschied besteht darin, daß in Amerika alle Bildung und alles Streben, so uiel oder so 102 wenig dauon eben vorhanden ist, hineinreicht bis in die letzte Ortschaft iin fernen Westen, bis in die verlorenste Farm im lirwalde. Deshalb sind die Nordamerikaner das gleichförungste Volk uuter der Tonne, innerlich n'ie äußerlich. Gleich u'ie t>ei ihnen Rlles denselben Nock trägt, dieselben Manieren hat, in der Nede dieselben Bilder nnd Tatze braucht, so finden sich anch dieselben Ideen nnd Wünsche, dieselben Gefühle und An-schauungen so ziemlich allerorten. Nicht Gehalt nnd Farbe sind bei den Einzelnen verschieden, sondern nnr das Mehr oder Weniger an Lebhaftigkeit des Denkens. Ganz anders verhält sich das in Nusiland. (5s findet sich dort eine Eigenthümlich' keit, welche in keinem anderen Lande solcher Gestalt wieder erscheint nnd dem qan^en Volke sein Gepräge stiebt für die Gegenwart nnd ,^ntnnft. Das rnssischc,Volt besteht ans zwei Bestandtheilen, die in Sitten und Lebensweise, Wohnnng und Einrichtung, Denken nnd Einbinden durch einen dicken Ttrich von einander geschieden sind, gleich als wären es Mei einander fremde Nassen. Der eine Bestandtheil ist die große graue Hauptmasse, die andere eine lichtere Tchichte, welche dünn darüber gebreitet ist. Diese dünne Oberschichte ist europäischer Bildung, jene Hauptmasse dagegen in Tracht und Sitte stock russisch: die natioualeu Vorzüge und Fehler finden fich aber in beiden, versteht sich dort in feinerer, hier in gröberer Färbung. XIV. llolksriyclttljiilnlichkcitcn. Wer dem Thun nud Arbeiten des Volks in Rußland eine Weile 5umsehen, kann nicht andero, als often bekeiluen, daß der genleine Aiauu in Nußland ill allen einfachen und niederen Künsten nnd Hantirungen leichter vou Vegriff ist, geschicktere Hand nnd größere Wagelilst besitzt, als irgend ein Standesgenosse keltischer, romanischer, oder germanischerHerkunft. Allein ^ was lehrt die Geschichte, eine (beschichte uon tausend Jahren? Diese bekundet, daß da5 lllssische Volt beinahe immerdar luechsel-los, wandellos in seinen Zuständen bcharrtc, das; kein Ereignis;, keine Erschütterung mächtig genug war, um es in den tieferen Gründen seines Bebens .^u packen und zu änderu. Von den Warägern nahmen die Nüssen die ersten Orund» Züge der Staats nnd Rechtsuerfasnmg an, jedoch eingedrungen ins Volk war germauische Titte und Nechwanschauung nirgends, ^lnch nicht entfernt vermochte die Einwandernug von Germanen eine Umwandlung hervorzubringen, wie sie selbst in Italien Frankreich und Spanien statthatte. ?a,'>u war anch wohl die Anzahl der Waräger zu gering. Von den Byzantinern kam das Christenthum. In die Dumpfheit der Geister streute, die Kirche ein wenig himmlisches Licht, eine Ahnung von edleren: höherem Dasein, allein sie 104 vermocht nicht, die nralte Gewöhnung wegzufegen. Die Kirche verbreitete sich über das ganze Volt, blieb aber all die Jahrhunderte hindurch ziemlich gerade so, wie sie war am ersten Tage ihres Einzuges in Nußland. Sie kannte keine Entwich luug, nnd die Hebel, init ivelchen sie aufrüttelnd nnd nm bildend in das Volk hineingreifen sollte, fielen uiel zu kllrz aus. Deutsches Städte nnd Haudelswesen siedelte sich schon frühzeitig in Nowgorod, Pleskau (Pskow), Kiew, Moskau und anderen Städten au. Tie Russen zogen einigen Nichen dauon, allein die Zahl ihrer Städte wollte sich nicht mehren, und das freie selbstbewußte Vürgerthum, das hie und da anfznblühen begann, mußte wieder erlöschen. Die dritthalbhundertjährige Mogolen-Herrfchaft hat wohl beigetragen, deu Tespotismns der Zaren zn entwickeln, uer-mochte aber auf das russische Volk nicht einzuwirken. (5s beugte und krümmte sich unter der mogolischen Geißel, in seiner inneren Natur wie in seiner gesellschaftlichen Verfassung blieb es nuveräuderl. Eudlich das Veamteuregiment der letzteu zweihundert Jahre — allgegenwärtig, auf das Aeußerste gefürchtet, das ganze Volk knetend und formend wie eine weiche Masse, ^ diese Beamten, die sonst Alles nen regeln wollten, vermochten in die altrussische Ordnung des Hausstandes und der Ge-meiude doch nicht einzngreifeu- Sie erlahmten an demselben stumpfen, dnmftfeu, unbesiegbaren Widerstände, welchen die russische Volksmassc Allem eutgegeusetzt, was zerreißend oder beflügelnd auf sie eindringt. Möge Ulan dies Stockrussenthum bearbeiteu mit Wort und Lehre oder mit Geißel und Schwert, ^- es biegt sich und fügt sich uud schmiegt sich, bricht aber nicht, und bleibt am Ende wie es war zn Anfang. Os gleicht einer weichen, aber dichten nnd zähen Mafse, die keine zersetzende Sänre ein- .105____ oriugen läßt: nur die Oberfläche wird geritzt und gefärbt, das Iuncre läßt sich nicht auflösen nud umbilden. 43. Verschiedenheit von Slaven Finnen und Germanen. Merkwürdige Thatsachen liegen also vor: ein Volk, das in seinen Sitzen leicht beweglich, in praktischen Dingen geschickt, an geistigen Gütern etwas unfruchtbar, in allen Lebensäußcr-ungen gleichförmig, ^ eiu Bolk, das in seiner überwältigenden Masse blos; aus Bauern besteht, -- das endlich ein Iahr-hnndert nach dein andereil unbildsam, unwandelbar in seinen Zllständen beharrt. Dieser bergartig dastehenden, mehr als tausendjährigen Erfahrung gegeuüber erhebt sich die Frage: Was ist denn das, was den unzerstörbaren Widerstand entgegensetzt? Worin besteht denn dies eigenartig russische Wesen? Nach der Lehre, die in allen Echnlen und Schriften Rnß° lands verkündigt wird, wären die Russen ein besouoerer Stamm reinen Slauenthums, dem ein wenig finnisches, uud ein ganz wenig germanisches Wesen beigemischt worden. Allem zu sla^ vischcr Art paßt doch gar nicht die ruhige gleichmütbige Lebeus-gewohuheit der Nüssen^ denn des Slaven Blut geräth leicht in Siedehitze, — paßt weiter nicht die niedrige Temperatur des russischen Familicngefühls; donu der Slave hegt warme Liebe lür Weib und 5lind, — paßt endlich gar nicht der russische Mangel an veiinathsgefühl, das im Slaven tief nnd lebhaft ist- Zu finnischer Natur aber null nicht stimmen, das! der Nüsse Handwerk liebt lind despotischer (Gewalt sich gerne fügt; denn der Finne verabscheut das Eine wie das Audere. lind wo gäbe es denn im rnssischen Wesen dem germanischen verwandte Züge? ^ut Germanen lebt immerdar eine wache Welt von (bedanken und Empfindungen, er kann nicht anders, er muß denken, wenigstens hinbrüten in Valbideeu und dunkeln Gefühlen. Des gemeinen Nüssen Inneres bleibt dagegen so leer und einförmig wie in der Menge seiner trüben Tagen der graue Himmel, 106 unter welchem mau keine Wolke sich bilden sieht, kein Windcs-ranschen sich hören läßt, Genuanisches Volkswesen gliedert sich in Gemeinden Stände nnd Staaten, llnd erschöpft nnd verliert sich in tausendfachen Rechtsbildungeu nud Statuten. Der Russe keunt nur die einfache Ordnung seiues Haus- uud Gemeinde-weseus. ausierdeiu dcu großen ^usaumicnhalt seines Volkes, welches sein Öanpt hat am allherrschenden Zar. Vei w abstechenden Verschiedeuheiteu im Lcbeu uud Charakter der Russeu gegenüber Slaueu, Finnen, Germanen findet fich nun viel Eigenthümliches, wie es bei keinem anderen Volte in Europa in solcher Art vorkommt. Das ist in gesellschaftlicher und politischer, geistiger und religiöser Richtung der Fall. Es bekundet sich hauptsächlich in der Stellnna, der Granen, im Familieuhaushnlt, in der GemeindeverfasNuig', der Natur der Zarcugewalt, der Energie deo Ratioilnlgefiihls, inl geistigen und kirchlichen Leben. 44. Familie und Hausstand. Wenn die Ansicht begründet ist, daß man den Bildungsgrad eines Volkes nach der Menge der Seife, die es gebraucht, und nach der Achtung, die den Frauen gezollt wird, abmessen könne, so stehl es mit den Russen schlecht. Schmu»; ist für die östlichen Völker Enropas ein Element, in welchem sie behaglich leben wie der Fisch im Wasser; die südwestlichen streben wenigstens nach änsierem Anstrich des Sauberen; germanischen Völkern ist Reinlichkeit vou Haut und Hemd Nedürfuisi. Was aber die Franenstellung betrifft, so führt der Russe grobe Sprüchwörter im Muude, wie „Franenseele ist Dunst", oder das kaum schmeichelhaftere „Sieben Weiber haben eine Seele", oder das schändliche „Ich liebe Dich wie meine Seele und schlage Dich wie meinen Pelz." Das Weib genießt bei dem gemeinen Mann in keiner Richtung Eelbstständigkeit, cs u»? hat keine Wahl bei der Yeirath, kein Necht nnf eigenes Vermögen. Ter Vater oder, wenn der Bruoer Familieuältcster ift, 'Dieser sucht dem mannbaren Mädchen den Gatten aus, über einen Widerspruch der Braut würde man höchst verwundert sein. Das Letztere ist Eittc selbst noch bei höheren Ständen. Vermögen besitzt nach altrussischcm Gemcinderechte die Frau nnr so viel, als ihre männlichen Verwandten freiwillig ihr schellten. Im Nebrigen hat die Fran weder in der Familie, noch in der Gemeinde etwas zu sagen. Daunt aber die ans-theilenoe Gerechtigkeit nicht gar zu kurz komme, so ist leicht zn erkennen, das; die Nussinnen kein Blatt vor den Mnnd nehmen, daß sic energischer als die Männer, diese aber für weibliche Znngenstichc höchst empfindlich sind, viele sogar waffenlos. Familie in unserem Sinne kannte ursprünglich der Nüsse nicht, einen dauernden häusticheu und sittlichen Verein näm> lich, der aus Mann Weib und 5liudern und vielleicht noch ans einem oder anderen Verwandten besteht, ans Banden des Mutes beruht und im weiteren Sinne al!e Blutsverwandten nmfasit, rille Familie, die bei Mangel eines Testamenten deshalb ein, natürliches Erbrecht begründet, je nach den Graden der Blutsverwandtschaft, 3tntt dieser Familie im arischen Sinne war dem Rnssen «n Familicnhanshnlt eigenthümlich, der anf Arbeitsgenossenschaft beruhte. Eöhue uuo t^ukel, auch verhrirathet, bleiben >m ,^auso; die uuehelichen ebenfalls; sie arbeiten gemeinschaft-lich insammeu. Vaus u>ld Fnvenlar uild wa^ sonst eliua eriibrigt wird Sehört ihnen aemeiufchaftlich nnd vererbt sich deßhalb anch nach ^opftbeilen, nicht weil fie Blutsverwandte sind, sondern weil sie das Vermögen gemeinschaftlich erarbeitet haben. Arbeitet "n Mitglied eine Zeitlang nicht mr den Haushalt, so mnß es "on seinem Verdienste gleichwohl seinen Theil hergeben, um die Ko,teu des Haushaltes zu bestreiten. 105 Ihr Haupt und Loiter der Familie aber ist der Vater oder älteste Bruder, und dieser heisit b'hasjaiu, Verwalter, oder auch Bolschak, das heißt der Machthaber oder der Starke. In wich' tigeren Dingen beräth sich der Familienälteste nüt den erivachseucn Söhnen Brüdern und Enkeln, oder sucht sich ihrer Beistimmung zu versichern. Das Prinzip der Familieugemciuschaft oder vielmehr der Haushaltung ist also vorwiegend eiu sozialistisches: noch ausge^ prägter beherrscht dasselbe die Gemeinde. 45. Gemeinde. Sämmtlicher Gruud und Bodm, welchen die Geuleiude be sitzt, das Bau- uue das Wald« und Wieseulaud gehört ihreu Männlichen Mitgliedern. Jeder iiuabe, sobald er geboren, hat seinen Nechtsmttheil. Das Land, welches derHäudearbeit z,»n Bebauen bedars, wird llnter die Haushaltungen vertheilt; die anderen Ttncke, nämlich Anger und Wald, werden iu der Regel uou Alleu ge-nreinschaftlich beuützt. Wenn die ^usaunneuschuug der Gemeinde sich ändert, die Familien sich mehren oder durch Tod oder Auswauderung mindern, oder wcuu die Mehrheit mit der bestehcudeu Anstheilung unzufrieden, dauu wird eine nene Theilung vorgenommen. Sicher aber tritt sie ein bei einer ucneu Veranlagung der Steuer, gewöhnlich alle fünfzehn Jahre, danu werden die männlichen Gemeindemitglieder gezählt, auf jedes kommt ein gleicher Autheil. So viele Mänuer uud Knaben ein Hailshalt hat, so viele Antheile werden ihn: zngewieseu, Frauen nud Mädchen werden nicht zugerechnet. Grundsatz bei der Theilung ist, brüderlich und gerecht zu uerfahreu. Eine starke Familie ist, die zwei Pferde "hat, — eine mittlere, die nur eines, -^ eine schwache, die ohne Pferd, -^ eine Hanptlose, die keinen männlichen Arbeiter besitzt. Tas Land selbst wird ge wohnlich iu drei 5i,lasseu vermessen, je nach der größern oder 109 geringern Vodengnte und nach der bessern oder schlechteren Lage, nnd demgemäß ausgetheilt. Jeder betomint aber seinen Theil mit Lust nnd Last, d, h. er mnß auch die Steuern davon zahlen, nänüich die Steuer an die Genieinde, den Gutsherrn, den Staat. Wer die Gemeinde verläßt, behält nichtsdestoweniger seinen Antheil, hat also sein Leben lang ein Daheim, zu welchem er zurücttehren kann; allein er muß anch immerfort die ans seinen Antheil treffenden Stenern fnr Staat nnd Gemeinde entrichten, es sei denn, daß er sich formlich von der Gemeinde losgetauft habe. Wann aber den einzelnen Mnohaltnngen Land neu znge^ theilt werden, wann nnd wie das Pflügen Säen Mähen nnd Ernten, das Ans nnd (Antreiben des Viehes, das Fischen, Jagen nnd Hollen geschehen soll, das wird nach gemeinschaftlicher Berathung beschlossen. Diese leitet der Starosta, der Ge-weindeälteste, der sich mit einigen Angeschenen über den ?>all beräth nnd dann verkündet, was zu geschehen habe, woranf gewöhnlich die Anderen dnrch Stillschweigen znstimmen. Dem Rechte nach aber hat jeder männliche Erwachsene in der Gemeindeversammlung gleiches Stimmrecht. Dies ist die stehende Gemeinde. Eine wandernde oder vorübergehende Gemeinde bilden die Arbeiter, die irgendwo zu einem gemeinsamen Wert znsnmmen tommen. Wenn die Fischer znm Wiß anf den Fang, die Holzschläger in den Wald, die Floßleute anf ihr Fahrzeug, die >>uniner!eute an einen ,v>ansban, die ^abriks- Bahn nnd klanal-arbeiter mi ihre Arbeit, die Hansirer eines ^anfmauns ins Land Ntngen, machten sie einen Vnnd init einander, Artel geheißen, eine Genossenschaft, die ihr gewähltes Haupt hatte, ihre entscheidende Versammlnng und ihre gemeinschaftliche Kasse. Die Genossenschaft bestimmte, welchen Theil Arbeit jeder übernehmen und wie viel uom Lohn er znr Bundeskasse liefern solle. Die l 1,0 Mitglieder bestrittcn gcineinschaftlich ihre Kost und Wohnung, und der freigewählte Aclteste, denl die Uebrigen nüßtraliisch auf seine Kassenführung sahen, vollzog den Mehrheitsbeschluß. Anch die Bedienten in herrschaftlichen Häusern, die Straßenkehrer, die Droschkeuführer, die Pnckträger nud ähnliche Wertleute machten früher und macheu zum Theile noch jelN gern ihrArtel. So offenbarte das rnssische Volk, gleichivie andere begabte Völker iu ihrer ältesten Zeit, grosie Neignng zur Vergesell schaftnng, jedoch hauptsächlich nud mit ausgeprägtem Sinn zu Zwecken des wirthschaftlichen Lebens. Der Grund liesst theils in einem gewissen brüderlichen Zng des Herzens, noch inehr aber in der innern Haltlosigkeit, die Anlehnnng sncht. 4<>. Nationalgefühl «nd Zarcnherrschnft. Eigentliches Standesgcfühl gab es bei den Nüssen nicht. Nnr der Unterschied des reichen oder uornehineu oder gebildeten Mannes macht sich geltend. Anch ist es dem Nüssen, wie bereits bemerkt worden, ziemlich gleichgültig, wo er wohnt. Anf seinen weiten Ebenen ist ja Alles einförmig, höchstens der Städter fühlt eine gewisse Anhänglichkeit an seiueu Geburtsort. Dafür aber wohnt in dein Russen ein anderes, sehr bestimmtes und starkes Gefühl, nämlich daß er lebe uud sterbe dort, wo sein Volk ist. Wenig kümmert ihn, ans welchem Erdflecke er sich befindet, wenn nur Leute seiues Volkes da sind, die seine Sprache reden und seine Ansichten theilen, mit denen er spielen nnd singen und tanzen kann. Man könnte aber nicht sagen, daß er ans nnbewnsitem Begehren nach gleichgestimmter lebhafter Wechselrede, nach Gesang nud Fest uud Gelage seiue Volks genossen oder, wie er sie uennt, seiue Brüder anfsnche; denn alle jene Aeußernugen der Fröhlichkeit uud iunercn Negelnst haben bei dem Nnssen sauften und gedämpften Ton. Ter Grund möchte eher ein gewisser Heerdenmstinkt sein, wie er in den halbwilden Rossen der Steppe und den Hirschen des Wal» IN des lebt, die immer gern bei einander weiden und, mögen sie noch so weit alls einander gesprengt sein, sich doch wieder zn-saiumeufinden. Das sichtbare Zeichen dieser Volkseinheit erblicken die Rnssen weniger in Civil nnd Militärbeamten, als im Zar: er ist das Haupt, welches alle Mieder zum Volte vereinigt. Das Gefühl aber, welches sie gegenüber dem Zaren beseelt, ist wiederum ganz eigenartig. Wir verlegen unsere Liebe nnd Zärtlichkeit in die süße Heimlichkeit der Familie: bei den Nüssen herrscht im Inneren der Wohnnng haushälterisches Äl> rechnen. Wir hegen gegen unsere Fürsten die höchste Verehr-nug, betrachten ihre Stellung aber doch vorzugsweise von po litischer nnd historischer Teite. Anders der Nüsse: das Gl,' fühl, das er seiner Familie vorenthält, überträgt er auf den Zar. Gegen ihn wird sein ehrfürchtiges Gefühl ein kindliches, wie das eines gehorsamen, liebenden, dankbaren Kiudcs. Der Vater kann dem Kinde befehlen, was er will: es gehorcht, weil es denkt, der Vater weiß am besten, was gut nnd nothwendig, der Vater wird nichts allordnen, was über meine Kräfte ginge. Vs müßte schon eine revolutionäre Ttromung nach der anderen sich darüber wälzen,'ehe dies Gefühl ausginge. Ein solches Volk braucht zwischen sich nnd dem väterlichen Haupte keinen Mittler, der da rechtet nnd inarklet, — es braucht nnr Abgesandte, welche dem Vater sagen, was die .Kinder wünschen. Hierin liegt der Grund, wcschnlb in Ruß' land die Ansätze zn Parlament nnd Verfassung immer wieder Ergangen sind, sowohl in der Waräger Zeit der Lehushof als tu der Zareuzeit die Vojareuversammlung. XV. Tllllimsch? Nestlage. 47. Ncligiousart. Wir gingen bei Allfzählung dessen, was sich als russische Eigenthümlichkeit beknndet, vom einfachen Verhältnisse zwischen Mann und Wcib ans, betrachteten dann die Familie, die sich alls Beider Verbindung bildet, dann die Gemeinde, welche sich alls den Familien oder gemeinsam Arbeitenden zusammensetzt, endlich das Volkstänze mit seinem Haupte. Wir sseheil je»;t ans die religiöse Anschauung ein. Freiheilsliebe bethätigt sich im Echaffen eines festgeglicdcr-ten Nechtswesens, — darin blieben die Nnssen allezeit schwach. Edlcrc LcbenZanschauung erhebt sich zn Verständniß von Knnst ultd Wissenschaft, was bei den gebildeteren Russen keineswegs selten, aber auch zn freudigem Mitschnffen alls diesen höheren Gebieten menschlichen Strcbens, und darin ist -..... Leistungen von Gelehrten abgerechnet — das Russen Volk noch weit zurück. Seine innere Gedankenwelt aber, sein tiefstes Wollen und Wünschen enthüllt ein Volk in seinen religiösen Vorstellungen. Was ist min wohl die stärkste Idee in den religiösen Ncbmlssen des gemeinen Mannes in Nnßland'5 Ist es bei Erkenntniß der eigenen Niedrigkeit und Gebundenheit die Sehnsucht, der Sünden lcdig und lichter nnd seliger im Gemüthe N3 .ill werdend Oder ist es ein Wirken für hiinmlische Velohnnnss nach diesem Lobend Wohl sinden sich solche Ne^nngen: die geivöhnlichste Vorstellung aber geht einfach dahin, durch religiöse Nebungen und Sakramente sich geheimer inagischer strafte zu seinem Sehnl;e nud seiner yeilnug zn versichern. Darum dies zahllose sich Bekreuzigen nnd <',ubodenn'erfen, dies nnanf-hörliche Opfern von Kerzen, dies inbrünstige Glissen von Gnadcnbildern, diese allverbreitete Ansicht, schon ihr vorübergehender Schatten sei unmittelbare Wohlthat, dieser festü Glanbc an die weihende nnd heilende klrast der Se>iew>worte des Priestern. Dem Tchicksale aber und seinen Mmmisssten Echlässen sol;t der Nllsse einen fatalistischen Meichnmth enlgegen. „Es »ins; sein!" — mit diesem Worte nimmt der Vaner die här^ t^ste nnd niMrechteste Last aus sich, mit diesem Worte geht der Coldat in den sicheren Tod hinein. In derselben Fähigkeit, (Gemüth nnd Willen gleichgültig gegen alleo Uebrige auf einen bestimmten Puntt ^l richten, wm^elt anch die diistere Entschlossenheit, mit welcher gewisse Teltenglänbisse nnd Ver^ 1chü,iörer, unbeirrt durch Verwiinsclnlngen nnd ^ehlgrisfe, anf u>^ v^iel lovl^ehen nnd, feindselig mitten nnter Anderen lebend, slch beständin tief zn verhiillen nnssen. Eigenthiimlich ist die Ausnahmestellung des geistlichen Standes. Dieser sonderte sich allmälig vom gangen Volke ab, c'^'r uielmehr die Anderen soilderten die znin Popenberufo Gehörenden von sich ab, weil ihnen diese Lente, obwohl die-iclben die heiligstell Sachen in Händen hatten, zuwider waren, ^n- Pope, der seinen Acker mit eigenen fänden bestellte, lebte und wohnte kaum ein wenig besser als die dauern. 3ein Vernf aber, der doch über dem bäuerischen stand, stachelte ihn ans, sich OH ^ machen, wie und wo er tonnte, nnd hatte er Geld, dann lies; er der inneren Nohheit leicht den Zügel Wchen und war nnter allen Sausern nnd Unsittlichen des v> Liihor, Rußland II. 8 114 Dorfes der ärgste. Poventdchter hatten keine andere Allssicht, als wieder Popen zn heiraten, und ihren Brüdern verschloß sich jeder andere Aernf, als der des Vaters. Zuletzt mochte Niemand diesen: geistlichen Stande sich einverleiben, der ihm nicht von Kindesbeinen an angehörte. 4>». Asiatische Grundströmung. Wie aber? Das gleicht ja ganz indischer Knstenbildnug! Und was man von jenen geheimen Vereinen erzählt, dao klingt ja an Geschichten an von gränlichen Sekten, wie sie im Orient anftanchten! Muß man denn bei dem Treiben der Nihilisten nicht an den „Alten voin Berge" denken? lind erinnern jene Religionsübnngen nicht an turanisches Heidenthnm? Wie hoch steht denn etwa der Pope. der die Wirksamkeit seiner Weih« wortc nnd .Heiligenbilder möglichst hoch an den Mann zn bringen sucht, über den Schamanen der Mogolen, den diese gerade so, unc die Russen ihren Popen, nicht weniger fiirchtcn al^ ver achten? Sie hassen ihn als ^anbercr, das Geschäft der Zan-berei ersä)eint ihnen wie etwas Unehrliches! der Ncsorgniß aber, daß der Schamane ihnen heimlich etwas anthun könne, werden sie nicht los. Und finden sich nicht sonst noch viele Anklänge an den Orient in der geschilderten Sinnes- und Lebensart der Nüssen i Glück nnd Herrenlanue macht Alles; hier scheint sich etwas Festes in Staat nud Gesellschaft zn bilden, dort fließt es wieder auseinander; gleichwie alle ständeartige Glicdernng, scheut das bewegliche Wesen der Russen jede Schranke nnd jeden Zwang, die ihm nicht eigene nnstüte Laune anflcgt. Eigenthümlich ist den meisten Russen der schon berührte na-tionale Größenwahn. Für sich allein ist der Maun verständig nnd bescheiden: sobald aber seine Nation in's Spiel kommt, schwebt ihm nebelhaft etwas Riesiges, Unfaßbares vor, dessen furchtbarer Gewalt nichts widerstehe. Bei dem Magyaren und 115 Türken, selbst bei dem ärmlich«! Bulgaren, kurz bei allen, was mehr oder niinder nlr turanischen Veriuandschast gebort, findet sich diese Sonderbarkeit. Nicht europäischer 3lrt ist jene russische seltsame Verbindung von Phantastik nüt Zweifelsncht, von den lnftisssten und an^schweifendsten ^»deen nnd Wiiuschen mit nüchternen Vrotkorbgedanken, von höchst gereizter Empfindlichkeit nin einer bloßen Narrheit willen nüt einer felseuhaftcn Geduld, die keine Laune des Dcspotismns ans der Fassung bringt, Elttsteht serner nicht ebenso, wie die aller Orten anfsälligc schöne Gastfreiheit, der geschilderte Familienhanshalt z^anz von selbst im Nomaden.^elt, sobald seine Bevölkernnn sich anf mebr als Viehhiiten verlebt? Die Kemeinde, die ihren Landbesitz auf Zeit vertheilt, handelt gerade so wie die Horde, die sich an einem Pnnkte fiir längere Zeit, jedoch nicht gerade fnr immer niederläßt. Das patriarchalische Verhältniß aber, in welchem der erhabene Zar, der hohe kaiserliche Vater, ,u< seinen Unterthanen sleht, ähnelt dein Zusammenhalte eines Nomadenstammcs dnrch seinen Häuptling, es ähnelt noch mehr dem Wesen des orien^ talischou Herrschers, der sein Volk dnrch Gottes Willen besitzt. Gleichwie in orientalischen Despotenstaaten, findet man es m Ätnßlnnd natürlich, wenn die regierende Oewalt nächtlich in ein Hau5 cinbrichl nnd Familienglieder in den Kerker oder in 5>ie Verbannung schickt. Beinahe ebenso heiniisch, so nnaus-rottbar wie dort erscheint anf russischem Vodcn die Nanbsncht ktnd Ehrlosigkeit der Beamten i»id ihr freches Spiel mit Recht und Gerechtigkeit. Und gar erst dic Stellung der Frauen! Cs fällt ia allem ^olke, das nm eine Ader von Mogolcnthum in sich trägt, so schwer, sich z^r Ahuung von Franenwürde zu erheben. Ter M'obe Lhiuese meint sogar, das geistige Wesen des Weibes komme nnr etwa einer Hühnerseele gleich. 8 5 N6 49. Sprachlicher Hinwriö. Zu dem allen kommt nun eine sehr N'ichtige Thatsache. Tic großrilssische Sprache hat ilngemeiil uiele nichtslavische Wörter. Tie wnchern darin, und gerade fiir die in sprung lichsten Negrisfe, die einfachsten Sachen finden sie sich so häufig: dagegeil ist der grammatische Bau der Sprache, das logische Neß, in welchem all die bnntgcmischten Wörter einge saßt silld, entschieden slavisch.') H!on der Nlossolenherrschast lttnncn die nicht slavischen Wörter nicht herrühren: denn diese war, wenn anch lana,c nnd drückend, doch unr änßerlich. Tie zersetzte das Volt nicht, Mollen lebten nicht in Nnßlcmd zerstreuet, nnd uerschniol,^en nirgends mit dein einheimischen Oroßrnssen, Die Großrnsscn hatten also — eine andere Erklärung giebt es nicht für diese sprachliche Thatsache — eine finnisch tatarische Sprache, ehe sie von den gebildeteren 'Stauen deren Sprache und Sitten annahmen. Die rohere Tpvache konnte j,e!;t wohl erdrückt nud zersetzt werden: die Menge uuslauischcr Wörter, die einmal im Voltsnmude waren, ließ sich aber nicht mehr ausmerzen. Wir können also nicht anders, als annehmen, daß in den Großrussen noch etwas Anderes steckt, als bloß europäisches Wesen. Sie reden slavisch, sind aber keine Vollblut-, keine ächten Slaven^ müssen folglich aus einer Vermischung von slavischen und anderen Völkerschaften hervorgegangen sein. 50. Geschichtliches. Was lehrt oenn nnu die Geschichte darüber'i Die Gc^ schichte schweigt. Ueber den ungeheueren Waldcbenen nud Steppen von der Ostsee und dein Weißen Meere bis zum ') Vgl, P, I, Echaffarll Geschichte der slavijchm Tpniche mit» Literatur nach allen Mundarten, Ofen 182«. Seite 150. n? Schwarzen Meere nud dent Kaspi-See lagert ein undnrch-drnlgliches historisches Dunkel, das sich erst zu jener Zeit etwas zn lichten begann, als bei uns Karls des Großen Nachkommen regierten. In all den Jahrhunderten vorher findet anf jenen mcergleichen Ebeücn ein unerklärliches Ziehen nnd Wogen uon unbekannten Völkerschaften statt. Kriegerisch treten sie auf, dann verschwinden sie wieder, als seien sie in Meeresfinten nnterge-gaugen. Manchmal fällt ein hastiges ^'icht auf jene Aeweg-nngen, aber nur, lim ssleich nneder ^n erlöichen. Im Alterthume zogen dort Tcythen und Tarmaten uncher. Waren sie arischer oder turanischer vertunft^ Das Gue ist so ivahrscbeiulich, als das Andere. Berichtet ist nur, oaß fie, Rosse lueideud, bald hier, bald dort erschienen nnd init kriegerischen Einfällen die Nachbarn heimsuchten, jedoch die Kriechou nicht zurückwiesen, als diese versuchten, mit ihuen in >)andel'>verbindu»q N! treten. Iui zweiten ^ilirhundert nach Christlls komulen die Gothcn von der Ostsee her uud nehmen das ^.'and riugs u>n oas schwarze Nteer ein, von der Tonan bis zum Dujepr. '^s sie niit oeu Alauen wegzogeit, muß doch hie und da etwas Germanisches hängen geblieben sein, besonders im Gebirge (Haliziens, Ungarns uud der Bukowina. Auch bei deU Kosaclen fielen mir öfter germanische Gesichtsznge ans. Zollten wir oder unsere linder nähere Bekanntschaft mit ihnen machen, fo läßt sich der Vorgleich besser anstellen. Im dritten uud vierten Jahrhundert saßen Tlalieu in dichterer Mcnge vom Ilmeniee biv zur Ukraine, von der Weichsel "lZ znni Dnjepr: n'ir wissen, daß der ostgothische König Her Mannnch sie nuteriochle. Alehr zerstreut und von finnischen Drtschaftcn I,änfig >,uterbrochen, fcheinen sie sich bis in die Nähe der Wolga ausgedehnt zn haben. Erschreckt oder a,e-^'änttt vc,,i Völkerbewegungen im Osten hinter ihnen, wan- 118 dertcn später die westlichen Slaven weiter bis zur Elbe mid dariiber hinaus. Wo aber Slaven nicht in größeren Massen saßen nnd zum Widerstände nicht stark genng waren, mnßten sie sich tatnri-s ch c n Völkersäiaften unterwerfen. Diese Verwandten der F i n n e n, Tschuden, Tnngnsen und Mogolen verbreiteten sich nnter verschiedenen Namen voin fünften bis siebenten Jahr-hnndert über die Gegenden, die jetzt von Großrnsscn bewohnt sind, vermischten sich mit den dort ansäßigen Finnen nnd Slaven und nahmen von diesen als dem gebildeteren Volke Sprache und manche Titte an. Die Slavisirung ging sodann vom Westen allmälig nach dem Norooslen. ^e weiter mau von Kiew aus östlich und nördlich kommt, nin so schwächer wird das reine Slaven--thnm. lhewiß nmrden viele oer tatarischen und sinnischen Völkerschaften, die über weite Flächen dünn zerstreut lebten, von slavischen Fürsten »nd Gemeinden, die ihre Kräfte wieder gesammelt hntlen, mit leichter Mühe überwältigt. Sobald aber die slavische Sprache angenommen war, verlor sich Name nnd Völkerschaft aus der Geschichte, gleich als wären sie niemals da gewesen. Die Vnlgaren und (5hasarcn geben nns deutliche Bci^ spiele. Im 7< Jahrhundert verließen die Nnlgaren ihre Sitzo an der mittleren Wolga nud schoben sich immer weiter nach Westen vor, bis sie in die Donan Lande eindrangen. Schon nn 9. Jahrhundert sprach das ganze Bnlgaren Volt slavisch. Die Chasaren, bei den byzantinischen Schriftstellern Akatzin geheißen, bildeten lange Zeit ein grosies Reich an der nntcreu Wolga: sobald dasselbe aber von den Nnsscn im Beginne des 11. Jahrhunderts über den Hansen geworfen war, erlosch alsbald Volk nnd Name der Chasaren. Im europäischen Rußland zählt man mehr als zwanzig finnische Völkerschaften mit verschiedenen Namen: wie lauge 119 werden sich diese Namen noch erhalten? Jene finnisch tatarischen Völkerschaften scheinen einen: merkwürdigen Gesetze verfallen: so unverwüstlich ihre nationalen Gewohnheiten und Anschannngcn fortdanern, so leicht fügen sie sich fremder Sprache nnd Herrschaft. So ist die slavisch-bulgarische Volkssprache, welche der Einwirkung von Albanesen nnd Griechen am meisten ausgesetzt war, eine beträchtlich andere geworden, als wie sie als Schriftsprache erhalten ist. Alis tatarisch finnisch slavischer Verschmelzung ist also das Volk der Großrussen entstanden, das mit seinen mehr als 40 Millionen in Einopa so weit geht, als sich sein eigenthümlicher Familien nnd Gcmeindehanshalt verbreitet hat, verschieden von den 15 bis IK Millionen Klcinrussen durch größere Körperlänge, dunklere Gesichtsfarbe nnd helleres .haar, wie dnrch härteren Eharnkter und sorglosen leichten Sinn. 51. Zwittcrnatur. Zweifellos alfo, — hier starrt uns in der russischen Eigenart breit ein asiatischer steiniger Grund entgegen, und es erklärt Uch, warum gerade der poesiereichste sowie der ritterlichste Stamm der Slaven, der Kleiurusse (Hinthene) und der Pole ("iächeX eine instinktartige Abneigung gegen den Großrnssen uicht übmviuden tonnen. Es faßt sie ein Granen an, wenn U^ daran denken, sie sollten zu Großrusse» umgewandelt werden. Das ist für sie dasselbe, als sollten sie in ihrem bessern Denken nnd fühlen erniedrigt werden. Auch bei dem Chechen und Elcwaken, Südslauen nnd Kroaten spürt ^eder, der von dm Nüssen kommt, sofort ein anderes geistiges Keimen und ^clien, so sehr sie anch den trockenen Geschäften des Kleinbauers nud Kleinbürgers hnldigen. Diese Alle gehören zn uns, deu Europäern, Und frageu wir uns selbst, was uns innerlich von den Russen scheidet, so ist es ein dunkles Gefühl , als wären jene eine Art Yalbasiaten. ^ei den Fran- 120 zosen und Italienern sitzt dieser Widerwille noch viel tiefer,, wenngleich sie nicht lange sich bedenken würden, in Politik nnd Krieg sich rnssischcr Hülfe zn bedienen. Magyar Türke nnd Nnlgare stehen dagegen dein Großrunen innerlich viel näher. Allein dürfen nur deshalb, wie Manche thun, die Rnsseu einfach zn den Asiaten verweisen? Tas iväre ebenso univahr als unhistorifch. Iu graner Vorzeit haben die Russeu bereits von einem curoväischeu Volksstamut, dein slavischeu, dessen Sprache nnd Ge« sittuug angenommen. Seit mehr als tausend Jahren ist das Christenthum herrschend in Rußtand. Mag es wenig oder viel Gutes dort geschasst haben, jedenfalls war seine Einwirk' nng so groß nno entscheidend, daß der Zusammenhang mit den Asiaten zerrissen wurde. Außerdem haben sich europäische Einflüsse und Einwanderer all die tausend Jahre hindurch über Rußland verbreitet. Selbst zur Mogolenzeit hörten sie niemals ganz ans, nnd als jenes asiatische Joch abgeworfen war, näherte sich Rußland mit immer rascher werdeudem Schritte der europäischen Cultur. In der Gegenwart aber dnrchdriugt und durchsetzt diese, hundertfach beflügelt, den gangen rufsischen Körper. Gegen solche Arbeit vieler Jahrhunderte ist o och kaum in Anschlag zn bringeu, was jetzt iu Japan, oder bei den Türken, Pcrscru, Indern vor sich geht. Man halte, um nur ein Neifpiel w gebeu, die russische Literatur mit der japauischeu seit Nestors Zeiteu zusammen nnd es verflüchtigt sich sofort jede Parallele im historischen .^nlturgailg beider Völker. Im Laufe der Jahrhunderte hat vielmehr da>> russinbe Volk eine ,^witternatur erhalten. Vom nfiatischcu Wesen ist es uoch umschlungen, aber vom europäischen bereits durchwachsen. Man könnte vielleicht anch sagen: sein Herz schlägt asiatisch und sein Geist denkt europäisch. Gewiß sind die Russen gerade deshalb vorzugsweise befähigt, asiatische Völker ans ihren: geistigen und sittlichen Tumpf 121 empor ^u ziehen und dann zugleich nüt sich selbst zu höherer Nildung Ul erhoben, Diese erscheiueu ihueil ja nur wie livine zttriickciel'lirb«ie Gcschwistev. Nicinals abcr wird o^ g^lin^cn, Pol,,'!i und Äemnchland großrussisch zn machcu. Die Großrnssen töntttcu, wonu sic dauernd der harten Selbstsucht wie Engländer fähig wären, dort alleu größereu Grundl'^sil; an sich Nohu, wie Jene in Irland gethan. — si.: würden aber uur dies erreichen, daß Rußland nnch seiu Irland eivig znr Seite hätte. XVI. tiaucrnmnlsc. 52. Umfnnss. Gehen wir mm näher ein ans die ^»stände, wie sie jetzt sich im rnssischen Volke gestaltet haben, so sind drei Klassen zn betrachten: erstens der Vaner, zweitens der Kaufmann, drittens die Adeligen nnd Veamten. Insbesondere inüssen wir nns mit dein Wissen nnd Wollen des Bauern bekannt machen; denn die bäuerliche Bcuölkernng beträgt fünf Sechstel der Gesmumtbevölkerung, nnd von dein übrigen einen Sechstel geht mindestens noch die Hälfte ab, welche auf den Arbeiter nnd Kleinbürger in den Städten fällt, der in seiner ganzen Art nnd Weise noch längst kein Städter geworden ist. Man stelle sich das doch deutlich vor: im nn-geheuren Rnßland sind eilf Zwölftel blosie innern, nnd zwar russisches Vauernuolk, Da wir in Enropa nichts Achnliches kennen, so wird es Denen, die nicht selbst in Rnßland gewesen sind, nicht gleich geläufig, diesen Gegellsatz in seiner vollen Stärke nnd Aedcntung zn würdigen. Am ersten möchte dazu eine kleiue statistische Uebersicht dienen. Die Veuölteruug des eigentlichen Rnßland ^- also ohne den Ostsee-Rand, den Kaukasus und die asiatischcu Läuder ^-vertheilt sich, nach Hundrrtthcilen gerechnet, wie folgt: 123 Bauern............78.9 Militär............ 8.3 Städter............ '.'.7 Gastliche........... 0.',) Vrbadel............ <>.« Dienstadel........... 0.5 Ausländer........... <»,2 Allerlei Leute sonst noch...... l>.7 Wir haben hier schon eine Vauerumasse, die nahe !>!<» Prozent ausmacht, während die ganze übrige Bevölkerung siä) nnr ans etwa ^l, Prozent belauft. Allein in Wirklichkeit stellt sich das Verhältniß noch ganz anders herans, sobald nämlich zur bäuerlichen Bevölkerung hinzurechnet wird, was in bäuerlicher Weise lebt und denkt, wohnt und ißt. Dazu gehören sämmtliche Soldaten und Unteroffiziere: es Nt hoch gerechnet, nimmt mau für Offiziere nnd Gebildete im Heere <),-; Prozent au. Tie außerordentliche Große aber des militärischen Bestandtheils erklärt sich weniger durch Weiber und Kinder nnd andere Angehörige, als dnrch die Menge Derer, die als Feldbancr Jäger Fischer und (Grenzwachen angesiedelt, icooch als Soldaten eingeschrieben Nnd. Den dritten Bestandtheil bilden die Städter, eine winzige Zahl von ^!.7 Prozent. Die ganze städtische Bevölkerung ist um wenig größer, als die militärische. Das allein fällt schon höchst bedenklich in die Wagschale, wenn man die Bedeutung "'wißt, welche heutzutage die Städte in der Kulturbeweguug '-'tuuehnien, »ud dies O'cwicht wird noch ernstlicher, sobald in vergleich gezogen wird, wie viel uon städtischer Bildung und ^cvülterung sich in Europa rings auf da? Laud vertheilt nnd wie wenig in Rußland. Nun nbev lebt in den russischen Städten eiuo dreifache Bevölkerung, Den kleinsten Theil machen die europäisch Gebildeten ans. Den mittleren viel größeren Bestandtheil bilden du' russischen Kanflente, die mit allen ihren Gefühlen nnd Ge- 124 wohnheiten näher, als jener oberen Klasse, den Bauern stehen. Die Hanptmasse aber der städtischen Beuölkerung besteht in russischen Wirthen Handwerkern Kutschern Dienern Taglöhnern und Fabrikarbeitern, nud diese alle sehen halb wie Vauern ans. nnd innerlich sind sie es stanz, Es steigert sich also, anch wenn bloß diese letzte Klasse den Aaneru .zugerechnet wird, deren Anzahl miudestens wieder nm 6.7 Prozent dev Kesammtbe-VölkenlNss. Endlich ist auch »cm der GeistliÄ)keit ein ansehnlicher Theil dein Bauernstände znztlzählen, weil die meisten Popen mit Weib nnd Kino in Armuth und Verehren sich nnr ganz luenig über die gemeinen Bauern erheben. Ihr theologisches Wissen besteht bei den Meisten im Kirchendienste, nnd ihre ganze übrige Bildung sieht der eines russischen Baners ähnlicher alv der eines deutschen Tchnlmeisters. Wir diirfen uon den <>,',» Prozent der Bevölkerung, welche ans die Geistlichkeit einfallen, drein die Hälfte als bäuerliche betrachten. Zählt man nun zu den 7^,9 Prozent reiner Vanern die 8 Prozent Toldaten, ferner i>.7 Prozent Ttädter lind noch etwa 0.4 Prozent uon der Geistlichkeit, so ergiebt sich eine Summe uon ',»4 Prozent Bauevnvolt und nur <> Prozent ge^ bildeter Leute. Es betmgcu die letzteren also nnr ein ^ied^ zehntel uon der gesammten Veuolkernng. Das ist ein Verhält-ms!, das ü.'ohl Tchrecken einjagen kann. Selbst wenn Alles .zusammengerechnet wird, was nicht ge-radezu in der Bauern Tchnnch und geistiger Blöße dahinlebt, wird mau jene sechs Prozent höchstens nm die Hälfte vergrößern dürfen. Telbst dann bleibt noch das nngehenre Mißverhältnis; bestehen, daß eilf Zwölftel des Volksbestandes Banern sind. Welch ein gewnlnges Neich müßte das sein, wären oiese 70 bis 80 Millionen Nanern germanische Welirfester ans ihren Höfen, die schwere Ttreitart in der Hand, iinKopf ihr eisernes Recht nnd in der Brnst lebendiges Ehrgefühl! In Wahrheit aber 125 könueu sie nackter ärmlicher uild nnnüsiender nicht in Irland, Tpanien nnd den nuleren Donnn^anden gefunden iverden. .>:t, Chnraktcrzüge. Es sind gntherzige und gastfreie, friedliche nnd gntmüthige Menschen, dabei weich und biegsam, gefügig und gehorfain, in der Noth geduldig, ?er rnssische ^aner begehrt änßerst uu'niss vou der W>,'It. ^u dl'r !i!itl.'n I,ilin'ozcit nrl^itet cr auf seinem klemm 7v'ldo u^in Älc'rlieu bi>> .^»ui Abend, jedoch ohne sich an;us!reuMi, denn schwere Arbeit ist ihm ^mvider, Tes Wiutcrs licgt cr tmilich ^wölf Ttuuden aus seineui qrcMeu Ofen, Hat "' ein Dach über dem ^anpte, ein nrbeitstart'eo Weib, eiu klein Pserdcheil nud ein tleiil Wäzielcheii, dabei nir Geuinie Tchivarz-^'rod >>ild 3al; b'urten, ^ohl >3uppe nlld biriil;e und ;n Zeiten '-'m Ml^ß Vrailntwein, so ist er seeleiwcrssuüiit nud wüßte nicht, wn5 (>r sich soust noch nniusc!)ett sollte, nl^ etwa m der ^l.rche ^'cl Lichterglanz und au 5>-'Ütaacu Pirogstcn, ciue Art fetter ^losc. Milch und Butter oder liar l5icr oder Fleisch sind für ^w meinen dauern .^ostdarteileu, die selten auf den Tisch kommen; ohnehin haben sie die eine Hälfte der Jahrestage Fasttac,. Die christlichen ^uqeudeu der 3auftmuth und Demnth. ber Narnshevzigkeit und Aufopfernuss^äbissteit. de^ Unbekümmert smts unl die Diüqe der Welt besil'>t — iin l^ro^eu nud ftian,^en üeuommcu, kein'^olk mehr al^ die rnssischc ^auernmasse. Außer seiner ',ähen Körperkraft ilnd Abhartnug und seinem leichtlebigen "ud sseiuil-zsameu Wesen besteht das beste VesiMhum des ge-Meiuen ^Hlaunes in Nuywnd in seiner Relisiioi,. (5r ist kiud-l'ch nläubiss, seine Inbrunst bei der Andacht ist ohne Falsch, "ud für feine relilyöfe Ueberzeugung lampst er wie der größte Hcld ilnd Mmtyrer. Wir sehen also da eiu religiöses gutherziges kindliches Aauerttvolt, das in kleinlicher Wirthschaft sich behaglich fühlt 12k und trine Sorgen nnd teine Ungeduld keilitt. Ob nun gerade dies die Art ist, mis welcher, wie schon Lomonossow vertündigle, „tiefsinnige Platons nnd geistesniächtige Newtons" hervorgehen, möchte doch eben so ungewiß sein, als daß ein unschuldiges 5tind, das noch nichts vou Ehebruch nnd Aknenschwindel weis;, ein sittlich großer Mann wird. lind so ganz nnschuldig ist das russische große 5lmd doch nicht. Daß es sich so leidenschaftlich gern nm Sinn ilnd Verstand trinkt, mag noch hingehen: das ist zu bessern. Anch in Teutschland gab es genug Dörfer besudelt von der Vranntwein-Pcst, bis die Hebung von Vildnng und Wohlstand und das wohl-thätige Bier das Nebel vertrieb. Auch der ,^ang ;nr Ilnteuschhcit, dem in den großnis fischen Bauernhütteu nicht selten gräuliche Gewohnheiten entspringen sollen, und bei welchem für den nur etwas Wohlhabenden eine „Hufrau" als das natürlichste Ding von der Welt erscheint, wird abnehmen, sobald die Leute besser nnd reinlicher wohnen und mehr l^rnnd haben, sich selbst zn achten. Schwieriger wird es der russischen Nolkscr^iehnug sein, den betrügerischen nnd diebischen Hang herauszubringen. Man kanu so sicher wie zweimal zwei vier daranf rechnen, daß ein Bauer, sobald er Lesen und Schreiben versteht, diese Knnst zuerst dazu uerweudet, seine Nachbarn zu betrügen. Vom fremden Eigen-thnm läßt der gemeine Russe, wenn er ohne Aufsicht ist, nicht gern etwas liegen, als heißes (iiscn Mühlsteine nnd dergleichen. Seine Scheu, die reine Wahrheit herans zu sagen, ist so groß, daß er lieber seinen Geist aufs Aenßerste anstrengt, nm sich in allerlei Wendungen nnd Ausrede» zn stecken. Sobald er aber seiner Leidenschaft zu schachern nnd zu handeln nnd zu wandern sich überlassen kann, wird er regelmäßig ein gewandter kleiner Spitzbnbe. Es sind das aber mehr Verstandes als Herzens- 12" fehler. Der Eigenthnmsbc^iff ist schwach entwickelt, und die despotische Regierung erzeugte orientalische Eigenschaften. 54. Ocisteöträfte. Bedenklicher ist Folgendes. Den gemeinen Mann in Nnß-land macht jede kleine Gabe kindlich froh, nnd für Kränkungen hat er ein empfindliches Gefühl: gleichwohl kennt er keine Dank barkeit nnd keine Rachsncht. Wärmn wohl? Er hat die Ursache zur Dankbarkeit wie znr Nache anderen Tags schon wieder ucr-gessen. Schwere Verbrechen kommen bei den gemeinen Russen ucr-hältnißmäsiig selten uor, nm so zahlloser sind die kleinen^ denn zum großen Verbrechen ssehört eine gewisse Energie des Geistes, und diese erwacht im gemeinen Nnssen gewöhnlich erst dann, wenn ihn das eiserne Kommando treibt. Nichts macht ihn verdrießlicher, als wenn er keinen be-stimmten klaren Befehl bekommt. Wärmn wohl? Er will sich nicht sclbst entschließen, denn Wahl macht Qnal. Noch größer ist sein Acrger, wenn der Befehl, während er in der Ans-führung begriffen ist, etwas geändert wird. Er mnß ja dann die Nichtung seiner Gedanken nmlenken, nnd das scheint ihm eine innere müheuolle Arbeit zn sein. Niemand ist im Kleinen geschickter, als der Nnsse mit Handbeil nnd Schnijnnesscr, niemand anstelliger im Hansdienst und Handwerk. Da begreift er leicht, hat ein richtiges Augen-wasi und faßt sogleich jeden Vortheil auf. Man kann nicht anders, als ihn für einen ebenso talentvollen als gelehrigen Manu erklären. Allein mitten in der Arbeit läßt er sie plötzlich fallen nnd ist nicht dam zu bringen, sie fortzusehen: er nmß crit ein paar Tage trinken nnd müßig gehen. Warum? Seine Willenskraft hat nachgelassen, er fühlt, daß er nicht wehr kann. Schlimmcrc Folgen führt sein unbedachtes nnd sorgloses -"^eu, herbei. Seines angebomen Leichtsinns wird er niemals 128 Herr, er denkt nicht an Ursache nnd Wirkung, und sein Sinnen verweilt, wie bei Kindern, mit Vorliebe in der allernächsten Gegenwart. Wohl besitzt der Russe einen gewissen kleinen Kunstsinn und bethätigt ihn gern durch Schniftwerk und Malerei an Haus und Geräthschaft, er bleibt aber stets bei den gewohnten schwächlichen Formen, höchst selten schreitet er fort zu etwas Nenem oder Kroßem. To weiß er anch in gewöhnlichen Dingen leicht und fließend zu reden: sagt mau ihm aber etwa?, das über seinen Horizont geht, so ist das wie in die Luft gesprochen, es' reizt und berührt ihn nicht. Fast jeder Großrnsse auö dem gemeinen ^lolke, der vom Ackerbau loskommt, versucht sich erst in vielerlei, ;n allem hat er Lust, und es entscheidet zuletzt bloß der Zufall, bei welchem Handwerk er hängen bleibt. Hat er nun vorher ein wenig erfinderisch gearbeitet nnd sich am Wert seiner Hände gefreut, so fängt, fobald er irgendwo festsitzt, er gewöhnlich sogleich an, anf dcn Schein '^u arbeiten und wird zehnmal eher liederlich und lotterig, als daß er seine Geisteskräfte zusammen hielte und etwas Vorzügliches in seinem Fach zu leisten suchte. Sein größtes Talent aber besteht im Kleinhandel, und auch diesen mag er nicht gern beständig an einem Drt oder mit derselben Waare treiben. Seine bewegliche Natur verlangt Abwechselung, und taun er nicht das ^and dnrchziehn, schweift er in seinem Geiste uucher. Alles Wagige uud Ungewisse zieht ihn an, deshalb gibt er einen vortrefflichen Fischer und Jäger ab, und bedenkt sich keinen Angenblicl, eine Fuhre in nnbe> kannte Gegenden zu unternehmen. Dcn Feldban dagegen mag er nicht, deun der Ackerbau ist ein Tyrann und zwingt bei der Stauge zu bleiben. Aus innerem Gefallen kehrt ein Großrusse, der einmal Soldat oder Bedienter oder Handwerker gewesen, schwerlich zmn Düngen Pflügen Säen nnd Ernten zurück. Hiemit hängt zusammen, daß der Großrnssc tein HeimathZ- 129 gefühl und selbst an seine Familie nur geringe Anhänglichkeit besitzt. Er hat bloß Volksgefühl, soweit das Volk sich ausbreitet, das seine Sprache redet nnd die gleichen Instinkte hat, soweit fühlt er sich heimisch. Sein Volk ist dem Nüssen Heimath und Familie. Ohne Zweifel übt das Land auf die seelischen Eigenschaften seiner Kinder tiefgehenden Einsiuß, In Rußland gibt es nicht Berg und Thal und keiuen anderen Umriß am Horizont, als die ewig fernhin dämmernde Fläche. Es ist die Ebene, die ungeheure Ebene, welche den Sinn in die Ferne zieht, die Ebene ohne Schranken, die ihren Bewohnern den nomadischen bnng, das Flüchtige und Unfeste einflößt. Der Nüsse ist keinem Menschen und keiuer Sache treu. als seinem Volte. Diese Eigenschaften insgesammt und jede einzeln betrachtet, nöthigen doch wohl zu der Einsicht, daß in den etwa vierzig Millionen Grofnussen — denn die Klcinrussen kommen zur 3^it nur durch ihre zähe, jedoch zahme nnd kleinliche Verneinung des großrussischen Wesen?, die Polen durch ihren ungebrochenen, jedoch stillen Widerstand in Vetmcht — daß also in ^r großrussischen Vanernmasse man keineswegs Menschen uon besonderer Geistes' nnd Willenskraft vor sich hat, Ist nun die Hoffnung gerechtfertigt, diese Menschen würden noch große Eigenschaften offenbaren nnd die ganze bis-h"'ige Cultur, wie sie sich von Memphis und Athen an bis uach Paris und London entwickelt hat, jemals plötzlich mit Niesentraft vorwärts schieben? Liegt nicht vielmehr der Schluß sehr nahe, daß ans dicsm Millionen, abgesehen davon, daß sie über ein unabsehliches Landgebiet dünn zerstreut sind, Uch, wie sie jetzt sind, gar schwer ein organisches Staatöwesen bilden läßt, daß vielmehr dnrch mechanische Gewalt ihre Masse uoch lange muß zusammengeschlossen und geformt werden? In der großen Völkerfamilie gibt es hin und wieder Nmder, die bei allem Talent und gutem Willen es doch nicht "- ^her, Rußland II, 9 130 weit bringen. Mau mag noch so viel Sorge auf die Erzieh-ung verwenden nnd die besten Lehrmeister herbeirnfen, man wird das gute Kind immer nur so weit bringen, daß es im Kleinen richtig denkt und schasst, aber man macht ans ihm nie einen Gelehrten, nie einen ausgezeichneten Staats- oder Geschäftsmann. Wo wenig darin ist, kommt nicht viel herans. Ueberall in Westeuropa arbeiten sich eine Menge Männer durch angeborne Geisteskraft aus niederem Stande empor nnd treten mit innerem Stolz und Heldensinn nnter die lenchten-den Führer ihres Volkes: von Nationalrnsscn dieser Art kann ich mich nnr einer Zahl von drei entsinnen. Der Minister Spe-ranZti war eiu Popeusohn nnd hiosz ursprünglich Nadoshdin, des Dichters Lomonossow Wiege stand in einer Fischci>yütte, und der Liederdichter Kolzow war anfangs gleich seinem Bater Viehhändler. XVII. UlM'cho tunlstcutc. 55. Orientalische Natur. Die Geschichte lehrt, daß die große Masse, nämlich eilf Zwölftel der Station, bisher in ihre,! kleinlichen geistigen uud wirthschaftlichmt Zuständen so nemlich verliarrte ohne Streben, ohne Leben, fast mochte man sagen ohne Seele. - Äou Europa )cr nach Rußlmid tonlmen. Äcau verstehl aber diese eigeu- 182 thümliche Menschenspielart sofort, wenn man ihresgleichen in: Orient gesehen. Uebcrhaupt, will man russisches Lebell und Treiben begreifen, so nlnß man es öfter von der anderen Seite, ich meine uon der orientalischen, anschauen. Volt und Land bilden einmal den Uebergang uon Asien nach Europa wie uon Enropa nach Asien. Die über Nnßland schrieben, brachten nieist nur europäische Anschannngen mit. Wesentlich orientalischer Natnr ist, ebenso wie sein Gosti noi Divor lKanfhof) oder Bazar, der russische Kaufmann, welcher der europäischen Titte eigentlich nur seinen kaftan ge opiert hat, indem er ihn in einen langen schweren Gehrock nm wandelte, den er lieber mit Tchnüren znhakt als ziltilöpft. Tiefer stets ruhevolle und würdige, äußerlich schweigsame, im Ttillen beständig rechnende Altrnsse sitzt nächst dem Landuolke noch am meisten fest in altnalionalen Titten und Anschaunngen. Er kümmert sich nnr nm seinen Mandel, und macht ^eine K^ schäsie uut der tiefen Schlanheit und lauernden Tücte der Orien^ talen. Die Opfer seiner kanfniännischen Berechnunsseu plündert er aus mit kalter Grausamkeit, und würde auch ihre Haut uei> kaufen, wenn er sie abziehen dürfte. Vs ist bezeichnend, daß Peter der Große anordnete: kein Russe dürfe Zlpotheker werden, Ttatt sich mit doppelter ^nchfübrnng zu bemühen, behält der russische ^aufmaun lieber seine kleine Rechenmaschine bei. Auf der Ttraße erscheint er in prächtigem Bart und mit gescheiteltem, Haar, Laugsam schreitet der Mann einher, und kommt er an einer Kapelle vorbei, die eines der berühmten Muttergottes^ bilder birgt, so bleibt er stehen, beugt sich tief und bekreuzigt sich dreimal, ^egeguct ihm aber eine Pope, kehrt er miß mnthig um und wagt das Geschäft nicht, welches er vorhat, des festen Glaubens, es werde ihm mißlingen, ivurzum, ucr-sel'.te man den Mann nach Tamavkuü 5iairo oder Teheran, so brauchte man nichts hinzu zu thun oder abznnehmen; er er schiene wie geboren für den dortigen Noden. 133 5ll. Häuslichkeit. In seinem Hause lebt er mäßig bei Nohlsuppc Grütze Härmn Schnaps und etwas Nnsanberkeit. An den vielen Festtagen sitzt er still im Gemach uud wäl'^t hin und her tiefschlane Pläne, die gescheidtesten seiner bunden doch .^i betrügen, nnd sein höchstes Ideal zn erreichen, nämlich einen blitzenden Orden. Verhaßt sind ihm ^egelbalni und öffentliche Gärten. Bei großen Familienfesten aber öffnet er seine aufgeputzten Säle und ladet alles ein, was einen Orden trägt. Anderen Tags sitzt er mit seinem Weib und rechnet ulsammeu, wieviel Ordenssterne in seinem Saale glänzten: bekommt er ein paar mehr heraus, als sein Nachbar hatte, so ist er überglücklich. Besonders erpicln Ut er daraus, daß die Leute von seinen prächtigen 5iutsclMerden sprechen, und daß -^ behängt mit Perlen nnd Diamanten — sein Weib sich dick nnd stattlich darstelle. Denn wenn sie es nicht wäre, tonnten die Leute ia meiueu, sie müsse n> Haus arbeiten und nicht, ivie es altes Hertommeu ist, ihre Tage hinbringen in Nichtsthun und Vertilgen von 5tucheu und allerlei süßen Sachen, Früher durften die Söhne nicht mehr lernen, als ihr Vater, während sic nber jetzt anfangen Gymnasien zn besuchen, herrscht orientalische Gewöhnung noch hinsichtlich der Töchter. Diese heirathen fast niemals nach eigener Wahl nnd Neignng, sondern «er Vater sucht den Schwiegersohn aus, macht alles mit ihm wle ein Geschäft ab und führt dann der gehorsamen Tochter dm Gatten zu. Nun lebt sie ein-- und abgeschlossen in seiner -"' Frivolität doch etwas »naugenehm: man merkt, diesen Herren ist es mit keiner Sache rechter Ernst, nichts ist ihnen h"l,g, in ihren Händen wird die duftigste Mume gleich welk und trocken, Man kann sich nicht mehr wundern, daß fast Alle ma 138 tsrialistischer Weltauschaunug hnldigcu, wohl aber darüber, daß Leute wie Büchner und Karl Vogt. Molefchott und Renau ihre großen Götter sind. Auch im Iuuereu Nusilands soll bei den Gebildeteren ächte Religiosität selten sein; die Meisten schwanken mnttherzig einher Mischen Kritik und Glauben, Kirche uud Aberglaubeu. Das russische Ttaatokircheuthmn kann ja die Herben uicht anneheu: es weihet uud segnet, was der Staat will. Da nuu die atheistische Weltanschauung bei den Völker» stets nur eine bestimmte Zeit dauert, weil der Mensch so wenig ohuc Glaubeu au das Göttliche bestehen kaun, wie die Seele ohue,Hoffnnng, so könnte mau fragen, ob dasjenige Volk, dcsseu gebildete Kreise aiu uieisteu von Materialismus und äußerer Kirchlichkeit erfüllt sind, vielleicht am ersten die Bestimmung habe, küuftig durch begeisterte gottiunige Männer, durch hinreißende evangelische Thaten dem reiueu Evangelium, der Religion schöucr christlicher Humanität wieder Geltung auf Erdeu uud nelie Wüthe zu verschaffen? Chomiakoff sprach iu seiner scl)öueu i!)de nu Rußland allen Ernstes aus: seiu Volk hnbe die Verhcißuug, für die Welt das lautere Christenthum M bewähren, um alle Völker seiner Liebe Kranz zu winden, sie zur wahreu Freiheit ;u erlüseu nud die Herrlichkeit des Glaubens über sie auszubreiten. Dauu überragst dn rnh>u>l»lzogeu Tie Volker all der Erde weit, Hoch wie der blaue Himmelsbogeu, Allvaters prachtvoll Fcierkleid. Allein schon das Aussprcchen obiger Frage begegnet leiseiu Gelächter in und um Rußland. Es ist ja gar zu ersichtlich, wie iu der Seele dieser Leute, statt geheimuißvollcr Tieseu, ein trockener steiniger Gruud liegt, ans welchem kaum jemals be-seligeude thatkräftige Begeisteruug emporkeimt. Vei läugercr Bekanntschaft mit russischer Literatur uud Gesellschaft dräun,! sich endlich auch Zweifel auf, ob überhaupt 139 in diesen Kreisen — von den Universitäten ist nicht die Rede ^-gründliches Forschen nnd ächtes Wissen gedeihe? Das ist ja alles nur eneuklopädittisch zusammen gelesen zu sofortiger Anwendung, oder bloß auswendig gelernt für den Schein, oder ganz wenig vertieft znm Vergnügen nnißiger Stunden. Wie kann dergleichen anf die Dancr innere Freude und Befriedigung gewährend Zn ihrenl Lieblingsstudium haben uiele vornehme Russen die neue Sozialwissenschnft erwählt: wo aber bekundet sich in ihren Leistungen die unerläßliche Energie des Denkens und Willens, jener geduldige Fleiß, der sich durch Berge von Wissensstoff dnrchgräbt, jene erhabene Kraft des Geistes, vor welchem sich die Räthsel der Natur nnd Geschichte erschließen müssend 5N. Vaterlandsliclic. Etwas jedoch, das Achlnug einflößte, ist mir bei allen go bildrteren Rnsscn entgegengetreten, das ist die tiefe schwärmerische Liebe für das heilige Rußland. Ob sie in Zuknnfts-Phantasien schwelgen, oder ob sie sich in unmännlichen Klagen ergießen, oder ob sie gleich halb Wahnsinnigen dao Kaiserhaus und dessen Beamte verfluchen, ^ die Ursache dieser Einbildungen, dieses Vagens und Tobens ist immer wieder die tiefe Liebe yun Vaterlaude, und das ist doch wohl etwas Schönes, ^ie ermuntern den Fremden znr schärfsten Beurtheilung ihrer 6nständc, sie schlagen sich selbst dabei Wunden durch schonungslose Kritik, alles in der geheimen hoffnuug, der Käst wevde doch etwas Gutes von Nußland sagen, wenigstens von ^uier ^utuuft, ach, nur eiu paar süs;e Tröpfchen Lobes, nach denen ihre Tcele schmachtet. >>wei Dinge aber werden dabei anch dem Weitgereisten, dem denkenden Mann in Rußland gar zu schwer. Das (5'iue ist der Einschluß, uur dao '>u erstreben, was lhrein ^cind allein helfen kann, nämlich ein nuaushörlicheo, unverdrossenes Wirken nnd 'Arbeiten aller Guten nnd Brauen, 140 hier in den Städten dort auf den Landgütern, ein Tckanen, das nie ermüdet und nie verzweifelt, nm langsam Körnchen für Körnchen ailznbauen, mit der Aussicht anf spät reifende llnd verhältnißmäßig doch schmale Frucht. Das Andere ist die bescheidene Einsicht in das Verhältniß, das thatsächlich zwischen Rnssen n»d geistes- nnd waffenmäch-tigeren Völkern besteht. Ttatt dessen machen Viele ein entsetzliches Geschrei nnd Gedröhne, als wollten sie Enropa mit Kosaken-Mützen zudecken, oder wenigstens sollten ihre Rosse nno gleich die Oder mit sammt der Elbe anstriuken. Unverkennbar giebt es zur Zeit in Nnßland nicht Wenige, die uon den Qualen der Eroberungsgier verzehrt werden. Von Diesen rühren solche Redensarten her, welche die Anderen gelegentlich nachsprechen. Das Uebel ist eine Art Hunger-Krankheit, die den Blicken üppige Tafeln uormalt, entstanden durch langdauernde Vorenthaltung gesunder nnd kräftiger Kost, nämlich der bürgerlichen Freiheit und der Aufforderung nnd Gelegenheit, welche in bürgerlicher Frelheit liegt, daß man sich an Wohl uud Wehe des Vaterlandes bctheilige nnd anf den zahlreichen Gebieten des öffentlichen Lebens mit ver; nnd Hand mitwirke zum allgemeinen Besten, Was läßt denn der Desuot dem Thatendnrst übrig? Nichts als die AnZsicht ans Kriegornhm nnd Eroberung. Anch wir Anderen haben deshalb ein Interesse daran, daß Rußland eine konstitutionelle Regierung erhalte. Erst dann werden sich die begehrlichen Blicke seiner 2öhne von den Gränzen nach dem Innern wenden, nnd seine Diplomatie andere Beschäftigung für die unruhigen Geister bekommen, als das rwigc händelstisten. 60. Ansätze zu ächtem Adel. Großer altbcfestigter Güterbcsitz, Gewohnheit, im Hof- nnd Staatsdienst für das Vaterland zn arbeiten, Ueberlieferung oer Pflicht, die Familienehre rein zu halten ^ dao find Vorzüge 141 des englischen Adels, welche der russische lusher nur m wenigen Familien festhielt. (5iu eigentlicher starker Adelstand, der ueben Vermöge»! und feinerer Bilduug das Wesentlichste, nämlich danerndc Nebung politischen Ansehens, besessen hätte, vermochte sich niemals zu bilden, 3» entschiedeil anch die Waräger ihren kriegerischen Hof» und ^eheusadel über das gemeine Volk emporzuheben trachteten — Zeugnis! dessen die Wehrgeldesabstnfuug, — so ott sich unter deu l^roßsiirften Gelegeuhcit bol, daß aus den Bojaren oder GroßgrnndbeMern inld dein bewaffneten Hofge-folge ein Groß- und Kleinadel sich einbürgerte, — so deutlich 5er Gesehgebuug Katharina's II. die Absicht zu Grunde lag, neben städtischem Vürgerthum politischen Erbadel heranzubilden: stets zerflossen diese Ansähe zu eiuem fcstgegliederten Adelsstaude wieder in den Wogen de5 nuterschiedslosen Volksmeeres. Die russische Geschichte, so viele Jahrhunderte sie zählt, hat deßhalb <-">n Besonderes, das sie von der Geschichte jeden europäischen Bandes unterscheidet: sie kennt keine politischen Parteien uuo ^artcikämM, sondern uur hiu llud wieder eiueu Throustreit. Die alten Grosifürsten erlaubten sich Schandthaten, deren ^cheunlichteil nur überboten wurde durch die niederträchtige Gesinnung, mit welcher die Vornehmen ^ beständig ohne (5hre, bc ständig ohne festes Eigenthum, ^ sie erdnldeteu ohne Widerspruch, N»u tnm Peter der Große uud herrschte ihuen zu, ^iropäisch zil werden. Sie murrten, aber zitternd gehorchten '^, schoren sich die Värte und lernten dentsche Titten llnd Gebräuche. Dann kam Katharina II. nnd besahl ihnen fran-!ö!ische Glätte an, uud sie wurden so glatt wie harte Diesel. Nur wenige altbeqüterte Geschlechter gab es; denn in de^ Wotischeu Ltaatcu werden die Fmnilien nicht alt. Aber zahl-loier Hos° und Dienstadel hatte sich immer neu emporgedient und vom Zaren Rang uud Güter empfangen. Der Hofämter iPrikasen) nnd der Beamten und Diener des Zaren in deu Pro- 142 vinzeu war Legion. „In allen Gegenden meines Neichs," sagte schon Iwan der Schreckliche, „habe ich Starosten nnd Geschworene eingesetzt, sowie hundertmäuncr nud Fnnfzignlänner in allen Städten nnd Flecken nnd in den Gauen nnd Bezirken nnd bei den Bojarensöhnen." Es haben daher diejenigen Unrecht, welche das Tschin- und Ehrenwesen erst von der Petersburger Re gierung herleiten. Es ist ja bekannt, wie versessen die Ge schlechter darauf waren, den Nang zu behnnpten, der einmal einem Mitglied der Familie zu Theil geworden, Ter endlosen Klagen Verwietlnnaen liild blntigen Streitigkeiten wnrdcn so viel, daß Zar Feodor II. im Jahre !l',^ nothgrdrllngen den Eilt schluß fahte, denl Unwesen ein Ende zu machen und die Rang-und Geschlechterbücher, Rasrjäds nnd Mjcstuitschewos, zn ver brennen. Die Sache aber erschien uon so großer Wichtigkeit für die ganze Nation, daß ungewöhnlicher Weise eine Landes« Versammlung berufen wnrde, um durch ihre Zustimmung den Muth zu dein großen Schritte zn gewinnen. Die alte Ge-wöhnuug war mit dem Verbrennen der Vücher nicht zerstört, und Peter der Große brachte die Sache nur in ein neues klares System, indem er seine vierzehnklasnge Rangordnung ausstellte uud mit den oberen blassen den Adel als Sclbstfolge uerband. Seitdem nun die Vornehmen europäisch wurden, verloren sie allen Einfluß ans das Volk. Ihren Wohusil; nnd ihre Gesell schaften hatten sie in den Städten, anf ihre Landgüter gingen sie unr znr Sommerfrische, nnd da es dort so leer war an Uuterhaltuuss und Vergnügen, eilte alles möglichst bald M den Städten zurück. Im Uebrigen machten sie jede enropäische Mode in Kleidung, Gesellschaft uud Literatur sllauisch nach. Erst in nenerer Zeit gibt es mehr eigentlichen Landadel, Ten Einen ist das städtische Leben zu theuer gewordeu, die Anderen haben den einzig richtigen Weg ergriffen, mit hochherziger Entsagung widmen sie sich der Verbesserung ihrer Güter und damit der Landcsbessernng, Aber auch diese Landedelleute 143 vermögen noch gar zu wenig über das gemeine Volt, sie tonnen auf sein Deuten und Verehren keine kraftvoll lebendige Einwirkung gewinnen. Der nnfrnchtbare Zelseu steht noch ininier unbeweglich und nnbegrünt. vergebens trachten sie das Volt emvorznbringen und zn sich hcranfzuziehen, die fürchterlich schwere Masse zieht Jeden zu sich herunter, der sich an ihr festhält. HlN'thausen sagt eimnal: „Wer in NttsülUld nicht diente nud anf dein Lande stets lebte, würde uollig verbauern und geuieiu und liederlich werden/") In diesen Worten ist wenig stens zmn Theil erklärt, warum bessere Bilduua, in Nusiland nnmer wieder ^u Vodeu sinkt. Dieses Land besitzt eine junge Literatur uüt köstlichen Blüthen naiver Realistik, Dörfer voll cieschcidter Hausindustrie, Städte nüt ciroszeu Fabriten, und einen Zwischenhandel zwischen zwei Welttheilen, der fort und fort Reichthümer herbeiführt, ^ gleichwohl, im Gauzen betrachtet, hatte das russische Volk bis zu uuserer ^eit hin nur eine Kriegs und Zaren-Geschichte, ^) Haxthausen Studien III, 50. XIX. Aufhebung der Leibeigen schlift. 61. Erschütterung. In die historisch festgewurzelten Zustände Rußlands geschah durch Aufhebung der Leibeigenschaft solch ein Brnch hinein, daß alle Volkstlassen eine tiefe Erschütterung fühlten in ihrem Bestände. Die nächsten Folgen gaben sich, wie es gar nicht anders sein tonnte, nur als Uebelstände und ernste befahren kund. Bei so heftiger Tnrchschüttlung des gangen VolkSwesens sinkt, was bisher wohlthätig nnd lindernd wirkte, plötzlich zusammen, das gute Neue aber ist noch nicht kräftig geworden, während ans den aufgerissenen Fugen, aus der eingetretenen Lockerheit des Altgewohnten alles Schlechte, das in der Menschennatur liegt, sich eilig hervordrängt. Das war uorherznsehcn, demnach dnrfte man sich keinen Augenblick bedenken, den großen Schritt zn thnn. Einmal mnsite doch dem Unwesen dcr Wüthenche, die ihre Nanern miß' handelten nnd anssogen, ein Vnde gemacht und den armcu Menschen das Gefühl ihrer Menschenwürde gegeben werden, das war der unerläßliche Anfang zu allem Besseren. Die große VolkZmasse ist mit der Leibeigenschaftsaufhebung wie ans den Angeln ihres Daseins gehoben, und hätte sie nur ein wenig mehr Feuer im Blute nnd Helligkeit un Gehirne, so 145 würde Werdequal und bösen Zweifels Qual sie ganz anders er-greifeu, als es der Fall ist. Uni so heftiger äußerte sich dieses herbe Gefühl in den Reihen der Gebildeten, die sämmtlich an den laugen nud erbitterten Erörterungen, welche der Leibciaeu-schafts-Aufhebung vorhergingen, sich betheiligt hatten. Der russische Landadel hat sich bei dieser Gelegenheit ein Ehrendenkmal iu der Geschichte aufgerichtet. Die meisten Gutsbesitzer erklärten sich zu allen Opfern bereit, und ciuc große Anzahl kämpfte mit Leidenschaft für das Gesetz. Begeistert stimmten sie ihrem Kaiser zu, als er rasch und unerschütterlich nuf sciu hohes Ziel losging, berathen und unterstützt uon der Neistuollen Großfürstin .Helene, eiucr deutschen Prinzessin, und seinem Bruder, dem Großfürsten Konstantin. Das allgemeine Heil des Voltes schwebte Allen vor Augen, nnd es fehlte nicht viel, so hätten junge Fürsten- und Grafensöhne ihr bestes Iamiliengnt dem Mauue im schmutzigen Schafpelze an den Hals geworfen uud sich am Eude noch dazu. Bei der Regierung aber wurde das große Nntemehmen wohl erwogeu. Handelte es sich doch um die Freiertlärnug von '^ Huuderttheileu des gauzen Volkes, denn so viel Leibeigene fanden sich noch 1857, als die kaiserliche Kommission znsammen trat. Diese prüfte und bedachte gründlich alle Verhältnisse und Werthe. Sie wollte keineswegs die Interessen der Gutsbesitzer liegen die bäuerlichen hintanstellen, trachtete aber danach, mög-l'chst feste Regeln für eine friedliche Abwicklung der Sache fest-zustellen.') Am 19. Februar a. St. 15»'>1 wurde das befreiende Gesetz verkündigt. Das leibeigene Hausgesinde sollte noch zwei Jahre d^tteu, dann war es los uud ledig. Der angesessene Hörige ') Au g, ssrhr, u, Hllxthan son. Die ländliche Verfassung Rußlands, 'Me Vntwictlmineii und ihre Feststellung iu der GcsejMlmnn von 1S2-1«U8), "> Lohör, Rußland II. 10 146 wurde fosort em freier Mann mit allen bürgerlichen Rechten, er behielt auch soviel wie möglich jeglichen Acker, den er bisher bebant hatte. Tie Entschädigung des Gutsherrn dafür vermittelte der Staat. Es wurde nämlich die bisherige Bauernleistung zu Gelde veranschlagt, für s> Nnbel Werth bekam der Gutsherr 100 Rubel. Davon zahlte vier Fünftel der Staat in zinstragenden Papieren, die theils auf den Inhaber, theils auf den Namen des Gutes geschrieben wurden. Die Banern sollten selbst nur ein Fünftel iu Vaarem geben uud für den großen Rest dein Staate N Prozent 49 Jahre lang entrichten. Um die große Umwälzung glimpflich durchzuführen, Rath und Anregnng zn geben, Streit nnd Hader zu verhindern, wurden vom Kaiser allerorten Bevollmächtigte als „Friedeus-vermittlcr" aufgestellt. Die Gutsbesitzer machten ihnen in der Regel leichte Arbeit. Sie führten ehrenhaft das Gesetz ans, ohne ihren Vortheil ängstlich wahrzunehmen oder sich Hinter thüren offen zn lassen. Wo die Bauern sich querköpfig zeig-ten, wurde den Edelleuten leicht des Aergers und der Mühen zuviel. Zahlreich verzichteten sie lieber anf das Fünftel der Entschädigung, welches sie baar von den früheren Leibeigenen erhalten sollten, als daß sie noch länger mit Diesen sich herum streiten wollten. Dreist darf man fragen, in welchem anderen Lande sich der Adel in gleichem Falle so edeliuüthig uud so -^ sorglos würde benommen haben? Welche selbstsüchtige Härte hätten zum Beispiele die englischen Lords bewiesen! 62. Wirtschaftliche Folgen für die Gutsbesitzer. Was aber war nun der Erfolg? Für die Staatskassen ein gewinnreicher, ^ denn die früheren Leibeigenen in den Städten zahlten jetzt dem Staat ihre Steueru, — für den Adel war der Erfolg sehr häufig ein übler, für sein Land durchgehends 147 ein gnter. Tie Aenderung, welche vor sich ging, tam ciuer Umwälznng der Güter nild Gesellschattsverhältnisse gleich. Alle, die bereits mit Schulden belastet ivaren ^ aber anch Solche, die leichtsinnig blosi uo>n Obrok der Bauern gelebt oder bloß mit ihren Frohnden bewirthschaftet, — Solche, die nicht gerechnet ilnd sich vorgesehen hatten, wie sie nüt gemietheten Arbeitern auskämen, — Solche, die überhaupt nicht ssewöhut waren, selbst zn denken nud zn ordnen, ^ a»ch Solche, die nicht neniMnde landlvirthschaftliche Kenntilisse hatten, — alle Diese gingen schaarenweise zn Ornude. Nie die Fliegen stürzten sie in die nuvgespamtten )te!;e der Wncherer. Die Glänbiger Missen zn imd ließen ihnen Hau>? nnd Hof ucrkanfen. In dein nördlichen Drittel von Nnslland blieben nm wenig gröszere Landbesitzer iibrig, einfach ani' dein Grunde, n'eil dort, gleich wie in Deutschland aus kleinen Bauerngütern, nnr die Arbeit mit eigenen Händen lohnt nnd nicht mit gemiethetem Kesiude, das die Leistung der Frohudcn ersehen sollte. In vielen Gegenden waren Arbeitskräfte nicht für schweres Oeld zn beschaffen. Nicht wenige Gutsbesitzer verfielen oaranf, die Waldungen niederznhauen, nnd verlegten sich anf den rohestcn Raubbau. Am wenigstell konnte man sich darüber wnndern, daß Jene sich "ufs Pflaster geworfen sahen, welche die Schahscheine, die ihnen d'e Regierung für die Freiheit ihrer Bauern zahlte, gleich in Grlo ninsetzten. das im Anlande verjubelt wurde. Selbst "weiten, sich s^hst ^ mühen nnd zu sorgen. -^ das verstanden 10 Viele nicht, nnd bloß weil sie es nicht verstanden, gingen lie zu Grunde. Gleichwohl hatte, im Ganzen nnd Großen genommen, das Land nnr Vortheil. Ein ansehnlicher Theil der adeligen Grnnd sicher, nämlich derjenige, der verständig wirthschaftete, ver befserte seine Lage nnd seine Einkünfte, Ein anderer großer Theil kämpft noch immer mit Noth nnd Sorgen, trinkt keinen Champagner mehr, lebt aber in fester geordneten Verhältnissen 10* 148 und kommt alimälig wieder in die Höhe. Von einem dritten Theile, der trotz aller Mühen sich nicht zu rathen nnd zu helfen wußte, und von allen Denjenigen, die uon Rechts wegen zn Grunde ginnen, sind die Güter jetzt in anderen Händen, die mehr darans zu machen verstehen. Eine außerordentliche Lnnoeowohlthat aber besteht darin, daß es ganz ans der Mode gekommen, drei Viertel von: Jahre in den Städten zn leben und die Einkünfte zn verprassen. Tas Land hat jetzt eben so viele vornehme Arbeiter gewonnen, als es früher vornehme. Verzehrer besaß, nnd empfängt uon ihnen Anlagen nnd Verbesserungen, die fortdauern, Es bildete sich jetzt, wie bereits hervorgehoben wnrde. in Rußland ein wirt^ liche Landadel, und es müßte noch die Anshcbuug oder die förm^ lichcr Verachtung des chinesifchen Tschin mit seiueu vierzehn Klassen hiilzntrcten, dann tiune Rnßlnnd der außerordentliche Vortheil zn Gnte, ivelcher in einer Vielzahl von Fauulieu besteh!, die nicht bloß uon Staats wegen vornehm sind, sondern es sind durch Bildung Selbstgefühl nnd sicheren Gnmdbesitz. Freilich, wie lange die rnssischen Edelleute die. einförmig graue Ner-bannnng auf dem Lande aushalten oder wie Viele von Kopf bis zn 5'nß oerbancrn werden, darüber sind die Akten noch nicht geschlossen. <>l. Sinken der Vaucrn. Wie aber steht es nun mit den Befreiten fclbst? Haben sie rafch die glückliche Wendung ihres uralten Geschickes benutzt? Zeigten sie sich würdig des besscreu Looses? Ach das ist ein trauriges kapital, wohl geeignet, den M'nschcnfrcnnd wie den Staatsmann mit Betrübniß uud mit Zweifeln über den Werth gewisser Volwartcu zu erfüllcu. Man muß die ganze geistige Unmündigkeit des russischen Bauers, sein kindisch leichtgläubiges, sein altweibisch abcrgläubiges Wesen kennen, um die nächsten folgen der Aufhebnng seiner Leibeigenschaft natürlich zu finden. 149 Alsbald nach Verkündigung des Freiheitsgesehes ging mif den Dörfern die Tage, es werde davon der beste Theil ver-schwiegen, die Banern sollten, das habe der Kaiser angesprochen, alles Acker- Wiesen^ und Waldland im ganzen Reiche erhalten, und seine Edelleute werde er sämmllich stellen gleichwie seine Beamten und Offiziere, sie sollten ihren Gehalt vom Kaiser bekommen, der Kaiser könne >a so viel Geld machen, als er unr wolle, Es ist nicht leicht gewesen, diese närrischeil Vor-stellnngen ans den Vanernköpfen heransznbringeu, verstärkt war aber das tief eingewindelte Mißtrauen gegen die früheren Gutsherren, bestehen blieb eine Verwirrung des Rechtsbegriffes, in welcher, was billig nnd was uurecht, wimderlich dnrcheinanderlief. Wurden denn die Banern, da sie nun ihres Fleißes Frucht allein genossen, nicht fleißiger, betriebsamer, vorsichtiger? Gab ihnen das Bewußtsein, das; sie keine Hörige mehr, nicht mehr Selbstachtung nno TittlichkeiN Entwickelte sich nicht wenigstens etwas von den Tngenden des freien Mnnneo, als da sind Ehre, Gemeinsinn, Vaterlandsliebe? Was die Masse betrifft inuß man leider alle drei fragen verneinen. Fanlheit und Unordnung nahm zn in Hans und Ield, Truntsncht Liederlichkeit nnd Betrügerei wurden allgemeiner, nnd in der Gemeindeverwaltung führte das große Wort, wer am besten schreien oder am meisten Branntwein spenden tonnte, Die Besseren ärgerten sich, zogen sich aber zuriicl nnd waren um keinen Preis mehr zu bewegen, das Amt eines Vorstehers oder Richters zn übernehmen. Tie Wirthschaft verschlechterte sich, auffällig uahm der Viehstand ab und in Folge alles dessen auch die Stencrtraft nnd zwar in bedenklicher Weise, Der Bauer war des Tporns und der Aufsicht, aber auch der Fürsorge und Anleitung, die ihm der Gutsherr oder dessen Verwalter ange deihen ließ, plötzlich enthoben und wußte sich nimmer selbst zu rathen und zn regieren, Tobalo er frei geworden, ist er ge^ sunken. 150 Wesentlich fiel auch in die Wagschale, daß yi der schweren LandeZsteucr — 50 bis 60 Mark für jede Familie uou fünf Köpfen ^ nnn der sechsurozeutige Zins hin^nkain, welchen der Bauer für die Snnnnen bezahlen sollte, inil denen der Staat den früheren Gnts- und Leibherrn entschädigte, Glänzende Geschäfte ulnchten jetzt Wnchcrcr nnd Aufkäufer an den zahllosen Bauerngütcheu, die zllin Verkaufe kamen. Wie verfallen die Ordnung im Lande, zeigen cin paar ächt russische Beispiele. Ini Jahr 15M; brach in vierzehn Gon-verncnlcnts Hlingcrsnoth ans, ulld es ließ sich keine andere Ursache anffinden, als dasi dem Bauernland wie dein yerrcn-land fleißige Arbeiter gefehll hatten. Mail konnte zur Zeit der Leibeigenschaft rechnen, daß jährlich gegen !i^', Menschen und fechs Mal so viel Stücke Vieh von Wölfen zerrissen wnrden. Nach der Aufhebnng fliegen diefe Zahlen i die der Menschen^ die nnter den würgenden Zähnen der Bestien ansathmeten, ver-nichrte sich in: Jahre t87Z sogar ans 161 Personen. Was war der Grund? Die großen regelmäßigen Wolfsjagden waren weniger angestellt, die Wolfsgruben und Fallen waren weniger gelegt: man konnte nicht mehr Leibeigene dazu tommandircn. Zehn, ja hundertfach zahlreicher, als die Schlupfwinkel der Wölfe mehrten sich andere Naubthierhöhlen: die Branntwcinschcnken. Popen Adelige Kauflente und Ttencrbeamte wetteiferten, die Branntweinpest zu verbreiten, damit der eigene Säckel sich fülle. Wo früher eine Vranntweinschenkc genügt hatte, zählte man ihrer alsbald drei, dann fünf, ja sechs. Die Lente nährten und kleideion sich schlechter, bloß nm den heißen Durst nach Alkohol zn löschen. Ja, es war tranrisse Wirklichkeit. Nur ein schöner Tranm war es gewesen, cin köstlicher Tranm siir jeden Vaterlands-frenno, ^ die große Volksmafse, bestehend alls lauter freien edelmüthMN Naueru, die weuigeu Gebildeten als ihre erleuchteten Führer, die freien Bauern aber mit unverlierbarem Landeigcn- 151 thmn gekettet au ihre Gemeinde, die Genieinden sich selbst regierend in völliger Freiheit, ^- tein Proletariat möglich, kein Auspressen fremden Arbeitsverdienstes, — n'elchc Aussichten für das glückliche, gebenedeite Nußlaud! Man hoffte füuf Jahre, hoffte zehn Jahre, ein halbes Menschenalter, - doch nichts wollte sich verwirklicheu. Träume siud Schäume, wiederholten viele der besten Männer in ihrem Herben, erfüllt von nagendem Kummer, von stillen Verwüufchuugeu gegeu Alles, was zur Negierung gehörte, uou uackter Berziueislung au Ttaat uud Volk. <»4. Aruderunss zum Bessern. Diese l5rbitterteu iibersaheu oder uuterschältteu vollständig die leise Aeuderuug zum Besseren, die sich auf den meisten Dörfern gauz in der Stille begab. Hier nud da fiug eiu Baiter sich besser zu kleiden an; das Krundelemeut in Dorf uud Haus, der Echmutz, ininderte sich ein klein n'cnia,; statt des landes-üblichen Kienspans erschien Abends ein Talglichl. Auf den mldern begann der Pflug hier und dort einem stärkeren Drucke zu gehorchen, der Dünger wurde sorgsamer ausgebreitet, die Saat tiefer eiugceggt. Die Räder am Wägelchen dieses uud jeues Bauers bckameu eiserne Reifen, ja vielleicht das Pferdchen sogar Hufeiseu. Nud fuhr das Bäucrlein vom Felde uach Hnuse, s» uahnl es gern allerlei mit, was zur besseren Streu und Nahrung l>N' sein Vieh dienen to,inte. Bereits sah man auch, wie in der Mitte oder an einem (5nde der Ortschaft sich eiu windschiefes Dach aufrichtele oder ein neues größeres Hans gebaut wurde. Uud jiche da, es gab uach ein paar Jahren Baueru, die danach ^achteten, mehr Laud zu kaufen, uud es baar bezahlen kouuteu. 3^as aber besoudcrs erfreulich: der wildeu Eheu uud auderer niederträchtigen Herhältuisse wurden weniger, uud die Leute Wigeu an, sich gewisser unsauberer 5!ranthoilon, die leider so häufig, zn schämen. Kaum wnrde irgendwo eine Tchule eröffnet, so füllte sie 152 sich nut Kindern, und kamen sic cms der Schule nach Hanse, so horchte der Vater mit Theilnahme, was sie gelernt, und Wünsche keimten, selbst noch lesen uud schreiben zu lernen. Thatsachen dieser Art lassen sich in einigen Gegenden reich-licher, in anderen spärlicher beobachten, ganz fehlen sie nirgends. Kommt nicht eine außerordentlich schwere Landesnoth über Nuß-land, so wird diese leise Bewegnng zum Besseren fortwähren nnd durch ihre Ansdaner sich verstärken, Was aber mnß das Ergebniß dieses Hergangs der Tinge sein? Die zahllosen winzigen Bancrngnlchen werden mehr und mehr verschwinden, ihre Bewohner mehr und mehr herabsinken zu Taglohnern, die nichts mehr ihr Eigen nennen, als ein hänschen mit Gärtchen nnd einem Stücke Feld. Daneben aber bildet sich ein Stand uon Bauern mit besserer Wirthschaft lind Einrichtung, deren Jeder wenigstens einen doppelt so grosien Acker besitzt, als es jetzt gewöhnlich ist, nämlich blos; ^ Morgcu, ein Bauernstand, der besser zu rechnen und vielleicht auch Lesen und Schreiben versteht. XX. Ilutn'gauy dcr Hltgcnojftnschnstcn. l>. Abnahme der Haus- und Wcrknenosscnschaften. Zuerst fielen der Neuheit die Wcrkssenossenschaften zum Opfer, die Artels mit gemeinsamen Haushalt nnd einem Oberhaupt, dein jedes Mitglied gehorchte und doch selteu vollständig trauete. Der Gruud der Einrichtung war die Abneigung, die eigenen Angelegenheiten immerfort selbst bedeuten und ordnen zu müssen. Der Russe mußte einen Herrn mid Negierer haben, uud wo keiuer ihm angeboren, wählte er sich einen. Tas Bewußtsein aber, daß Neiguug m Betrug uud Dieberei so ziemlich allgemriu verbreitet sei, machte, daß die Adelsgenossen ihren: Oberhaupt beständig mißtrauisch auf seine ^'assenführnng schaueteu. Nun werden zwar noch aller Orten Verkgcnossenschaften gegründet, jedoch in neuerer Zeit immer seltener. Tie ^eute finden ihre Rechnung nicht mehr dabei, und es regt sich der Trieb, ans eigene Hand zn wirthschaften, ^lur die Urbilder solcker Genossenschaften sind noch aller Orten am Leben, nämlich die der Jäger und Fischer nnd Holzschläger w den Wildnissen. Diese errichten, wenn sie Wochen oder Monate lang auf ihren ungewissen Erwerb ansgehen, ebenso acwiß ihr Artel, wie bei uns die reisenden Musikanten. Der gemeine Nnsse hat eine derbe nnd düstere Lebensan-tthauung, in welcher von Liebe Tchönheit nnd Menschenwürde kaum ein dünnes Strählchen hineinfällt, Will er heiraten. >o schaut er darauf, ob das Mädchen gesund ist und kräftige 'lrme hat; ob auch schöne Augen dabei sind, kümmert ihn gar 155 wenig, Bei solcher Gemüthsstinouuug konnte die Familie nur eine Geuosseuschaft luerden auf Erwerb inld Vesil;, nur eine gelueinschaftlichc Wohuung umfassen, nud Aufnahme finden allch der Nichtbluwuerwanote. Ist der Bube groß geiuordeu, muß er ein Weib nehmen, damit eine Arbeiterin mehr ins Haus komme: findet er später iu einer Stadt besseren Ver dieust, so vertraut er das Weib seinem Pater oder älteren Bruder au oder wer sonst dem Hause vorsteht, muß aber heim-senden, was er von seinem Verdienste ersparen kaun. Diese Art Hausstnud fiug schou unter Kaiser Nikolaus an, hier uud da locker zu werden. l5iur große Menge löste sich freiwillig auf uud vertheilte das gemeiuschaftliche Vermögen. Seit Aufhebung der Leibeigenschaft ist vollends kein Halt mehr m den Hausgenossenschaften. Manu und Weib trachten danach, ihre eigene Hütte mit ihren bindern zu bewohnen nnd des Lebens Noth nnd Gewinn für sich alleiu zu haben, Das Gefühl, daß mau auf sich selbst stehen könne, nud der selbstsüchtige Wille, was man selbst erwerbe, auch für sich allein zu behalteu, sprengt die altgewohnten Vande des Hauses. <»7. Auflösung ocr alten Linldgcmcinde. Damit ist auch die Art an di.' Wurzeln der eigenthümlich russischen Laudgemeiude gelegt, des Mir, der so häufig als Angelpnnkt der sozialen Eutwickluug des russischen Volkswesens gepriesen worden. Der Mir hatte zur Gruudlage Haushaltungen mit uielcn Köpfen; denn die Antheile eines Mannes an dem Grundbesitze, welcher der Gemeinde gehörte, waren klein, uud gaben das Jahr hindurch weder Arbeit noch Nahrung genug. Wenn er sich aber mit seinen Blutsverwandten zu eiuer Familie vergesellschaftete, tonnten, während einige Mitglieder anderem Erwerbe nachgingen, die Uebrigeu deu auf Jene fallenden An^ theil an der Feldarbeit besorgen. Tobalo aber die Vereinigung 15? zu einem großen ^annlienhaushalt gelöst nulrdc und zu gleicher ^'>cit die Mcilge der kleinen ssanshaltnngen znnahni, fiel der Antheil einer jeden an dem Gemeindelande fort und fort kleiner mw und reichte nicht mehr hin znm Uitterhaltc. Jetzt lag der Wunsch nahe, für das Wellige, was die Gemeinde ge>vährte, ''ich ihrell Zwang nicht mehr gefallen zu lassen. Tchon längst vor Anfhebnng hörten deshalb zahlreiche Gemeinden anf, ihr ganzes Land oder gewisse Stücke davon zu theilen, nnd man konnte in melen Gegenden die Benierknug machen, das; je wohlhabender eine (»iemeinoe war, sie desto seltener zur nenen Theilung schritt, während gerade die ärmeren (Gemeinden nicht oft genug theilen konnten. Als die Leiheigenschaft wegfiel, glaubten Viele, jetzt sei es sofort mit dem Mir vorbei. Allein die Bauern hielten in den ersten Jahrzehnten ihn fest. Sie fchiencn das Gefühl zn haben, da sie nach ohen keinen Anhalt mehr hätlen, müsiten sie diesen nm so mehr in ihrem eigenen Znsammeuhalten sucheu, Alleiu es konnte nicht fehlen, das; allmählig die Anfhebung der Leib" eigenschnft anch dem Mir gefährlich wurde. Denn fic reizte, wie zum eigenen Denken, auch znm eigenen Willen. In der Gemeindeversammlung traten Schreier nnd nnbotmäsn'ge, jnnge ^eute anf, und wie man auch die Vertheilnng des Landes hin und her ucrsnchto, sie wollte den verschiedenartigen Ansprüchen nicht ^ehv genügen. Der persönlichen Nnselbstsländigt'eit gegenüber dem Leibherru entsprach die dingliche Hörigkeit gegeuüber der Gemeinde: als jene fiel, erschien diese den Gescheidtereu nnd Unternehmungslustigen mehr nnd mehr unerträglich. Die aber, welche arm oder träge oder leichtsinnig, kamen in eine üble Lage. Tie nnchten jetzt nnf fich sclhst stehn nnd sich selber helfen. Die Einen konnten die Ttcnern nicht zahlen, die Andern rollten Geld zmn Branntwein, Andere wieder hatten es nöthig, um Lebensmittel oder Vieh oder Saatkorn zn taufen. Die Ver-Ichlilduua, griff reißend nm sich, und die Folge war, daß solche 158 Ballern ihren Antheil am Mir verkauften und die Ätirojedy, die Mirfresser oder Gelddarleiher, ivelche die Mirstncke an sich brachten, sich zahllos vermehrten. Dazu kain, daß die Städte nnd Fabriken rasch znnebmen und immer niehr Landbevölkerung an sich ziehen. Diese bleidt anfangs noch nn die Gemeinde gcbnnden nnd kehrt in der Erntezeit zn ihr znrück, nm ihren Antheil an der Gemeinschaft lichen Feldarbeit zn leisten. Alsbald aber wird die zwie Mächtige Lage widerwärtig. Älnn sucht, nm ganz Städter zn werden, die Landgemeinde anfzntösen oder seinen eigenen Antheil in Keld herauszuziehen. Umgekehrt kaufen uermögliche Städter draußen Wald nnd Aecker an nnd steileil größere Lnndwirthschast denl Bailer vor Augen. Bereits beginnen die (^iescheidteren llnter diesen, ivo sie irgend können, Stücke Landes zusammenzukaufen. Die Hauptursache nl'er ist die größere Äildnng nlid Beweglichkeit, die gleich unsichtbarer reinerer Luft über die Ortschaften sich uerbreitet nnd durch den außerordentlich gesteigerten Gcwerb- nnd Handelsverkehr begünstigt wird. Dadurch wird unfehlbar etwas geweckt, das bisher fchlmmnerte, das Bewußtsein vom Werch nnd Willen der eigenen Persönlichkeit. Der Bauer bekommt Lust am Besitze, am Werke seiner Hände: dabei erwacht anch das Begehren, sein Feld zu bestellen nach eigenein Gutbesindcn und nicht nach dem Gefallen der Meh» heit der Nachbarn. Vr will seinen Verstand nnd Fleiß daran setzen, aber anch die Folgen anf sich nehmen. Wer sein Land tiefer pflügt, besser düngt, sorgfältiger besäet, weigert sich, dieses dnrch sein Verdienst veredelte Landstück wieder in die allgemeine Theilung einzuwerfen nnd vielleicht ein viel schlech teres dafür cinzntaufchen. (5s kann nnch die Einsicht nicht ausbleiben, wie viel leichter und erfolgreicher die Arbeit ist, wenn Jeder sein Land beisammen hat, statt in Stücken ver theilt. Zuletzt gewinnt die Abneignng gegen die Oemcinsam- 15)9 keit des Bodens die Ueberhand, die periodische Vertheilnng hört nach und nach auf, und dem Mir ist sein» wesentliche Grundlage entzogen. Tie Bauern haben tein rechtes Vertrauen mehr zu ihrer Landgenossenschnft, sie zergeht ihnen unter den Händen, nnd das (Abrecht bricht auch die Nisse des alten Gesammteigenthnms, Dieser .Hergang der Dinge hat in den meisten Gegenden bereits begonnen, und wenn sich auch erst die Anfänge geigen, läßt er sich doch nicht mehr ^nrnckhalten. Von einer großen Zuluft de^ Mir ivird im Ernste nicht mehr die Rede sein könueu. XXI. Hmnllilldmlg noil brsserm Mittelstand. 68. Abmtungen. Lin wohlhabender, im Vesitz gefestigter, doch einigermaßen ans Trunksucht nnd Unwissenheit heran^getrctener Bauernstand muß in Nnßland erst werden. Das erfordert Zeit, viele ^eit in nllcn Ländern, in Nußland dreimal so uiel. Eö ist eine Entwicklung, die welligsteus eiu paar Menschennlter brancht. Allein ni6)t bloß ein kräftiger Bauernstand, auch ein ordent-licher Mittelstand, selbst ein rechter Veamtenstcmd muh sich zum größten Theile erst entwickeln. Wirkliches Vüra.crthum ist ja in Nufzland nnr erst in Ansätzen vorhanden. Nnd wie erst da nud dorten von einein gewissenhaften Beamtenstailde mit ge-diesscncr Vildnns, und feiner Gcschäftskenntniß die Rede sein kann, wird jeder Russe zngelien. Im enropäischen Sinne, versteht sich, reden wir hier uon Bauernschaft, Vüra,erthmn, Beamten. Der ewissc Acrger, dem eiuigc patriotische Nüssen unterliegen, hat seine Qnelle eben darin, daß sie die großen dunklen Flecken, die in Nuf;lnnd nach europäischer Anschauungsweise vorhanden, wohl wahrnehmen, jedoch, weil diese Flecken sich nicht so schleimig wegbringen lassen, gleich anf Dies und Jenes verfallen, was das Fehlende aus national rnssischem Hort nnd Vorn heraus ersetzen soll. Wir Ncstländcr kennen znr Zeit eben keine andere, als die euro- 161 päische d. h. die allgemeine höhere Kultur, nnd wie scharf und willig wir auch in Nußland nach Ansätzen zu eiuer anderen umherspäheu, nirgends will sich etwas zeigen, was uns fremd und doch lebensfähig wäre. Wohl aber sticht allerorten eine gewisse russische Eigeuart hervor, die wahrzunehmen man nicht brancht nach Nußland zu rciseu, das Lesen des ersten besten russischen Romans genügt dazu. Wer möchte lcngnen, daß in der russischen Gesellschaft der liebenswürdigste Nmgangston, der feinste Reiz von Weltdamen. iu,d die gefährlichste Kunst der Diplomaten sich gar nicht selten einstellen? Was wir aber sonst von europäischen Gruppe)! und Massen dort erblicken, ist von einer Beschaffenheit, die wir die eigenthümliche Ab- nud Ausartung gerade dieser besonderen Grilppe oder Klasse nennen. Ein paar Beispiele. Wenn der Bauer nicht muß, regt cr weder Hand noch Fuß, -^ auf welchen Baner paßt das besser, als anf den russischen? Wo liegt die Gefahr des Verbanerns dem Gutsbesitzer nccher, als in der grauen Langeweile des russischen Landlebens? Giebt es irgendwo Sektircr, die in ihrer Wortklauberei verbissener und verbitterter wären, als die Nas-kolniks? Klassisch ist die Höhe, bis zu welcher in Rußland die Bestechlichkeit nnd Raubtlugheit der Beamten ausgebildet worden. Mlt nicht geringer Verwunderung erfüllte im letzten kriege die fremden Offiziere der Anblick, wie vollständig der rnssische Soldat znr Maschine geworden in der Hand seiner Vorgesetzten. Lehrer an nnseren Töchterschulen klagen wohlmal über weiblichen Vorwitz, der das folgerichtige Fortschreiten erschwert: die Nlssischeu Hebnmmenschülerinneu, statt sich für die tröstliche Heim-luhteit ihres Berufs iu aller Stille vorzubereiten, spriugen mit Kopf uud Füßen in politische nnd sozialistische Fragen und in dm Nihilismus hinein. So beruht das Weseu des Bürgerthnms vorzugsweise in der Bildung, uud was ihm am stärksten in den Nacken stößt, v. Uöher, Nilstlmid II, II 162 ist das Philistcrthum, Kami es nun in der Welt einen dickköpfigeren Philist« geben, als jene Zwischenart zwischen Baner nnd Bürger, die man rnssischen Kanfiuann nennt? Allein was sehen wir heutzutage? Früher erfüllte es diesen Mann mit Empörung, wenn das Huhn klüger sein wollte als die Henne, —-jetzt ist Niemand eifriger, seine Söhne auf ein Gymuasiuin zu schicken. Das ist auch eiu Zeichen der grüuolichen Umwandlung, die Nußlaud erfährt, eben so wie daß der Mir zergeht, daß der Adel aufs Land zieht, daß durch Gesetz das Herkommen aufgehoben wurde, nach welchem jedes Popenkind ebenso zur Geistlichkeit gerechnet wurde, wie ein Soldatenkind zum Militär. Zahllos uud gleichsam über Nacht wuchsen in den letzten dreißig Jahren, seit Vahnen und Dampfschiffe, Banken und Aktien den Handel und das Gewerbe belebten, nene Städte aus schmutzigen Dörfern empor. Die alten Städte aber verdreifachten ihre Bewohnerzahl und erhoben sich aus litothlachcn uud grauen hölzernen Hütten zu stattlichen Reihen von Häusern, und fiugcu an zu denken, wie sie sich mit Pflaster, mit Beleuchtuug, ja mit Parks und ähnlichen Anlagen versähen. Im selben Grade als sich die städtische Bevölkernng vermehrte, hätte, so sollte man denken, der Ruf nach guten Schulen altschwellen müssen. Allein die Russen dachten darin anders, als Nordamenkaner und Neu Griechen. Wo Diese eine Ansieolung ihres Volkes gründen, ist ihr erster Gedanke— Haudelsuerbindung, ihr zweiter — der Schnlmeister für ihre Kinder. In Rußland schienen bloß die Regierenden zu ahnen, welche unvergleichliche uud uuver-siegliche Quelle von Staatsstärkung im guten Schulwesen liege- «9. Allerlei Schulen. Russisch-europäisches Staatswesen hat kein älteres Leben, als zwei Jahrhunderte: die Geschichte des russischen Schulwesens muß sich mit dem laufenden Jahrhunderte begnügen. Vorher gab es nur Priesterschulen, Volksschulen daaegw 163 mir in zwei Städten, die hauptsächlich dein deutschen Handel Blüthe und Vildnng verdankten, in Nowgorod nnd Pstow (Pleskan), in beiden aber schon in: scchszehnten Jahrhunderte. Außerdem war nnr zu verzeichnen die Gründung uon Kriegs-nnd Schiffmannsfchnlcn nnd einer Akadeulie der Wissenschaften dnrch Peter den Großen, der Universität Moskau durä) Glisa' beth, einiger andern wissenschaftlichen Anstalten dnrch Katharina II. Zu Anfang dieses Jahrhunderts gab es in ganz Rußland drei Gymnasien! eines in der Europäer-Stadt Petersburg, damit man doch anch eiugeborne Akademiker erziehe, eines in der Tataren-Stadt Kasan, eines in der Großrnssen-Stadt MoZ-kan. Tas Moskauer Gymnasillm, mit der Universität zugleich gegründet, ging im großen Nrande bei Napoleons Einfalle nnter nnd blieb im Schulte liegen. Allmälig fingen anch die kleinrussischen Städte an, das althistorische Kiew und die neuaufblühendcn Handelsstädte Char' kow nnd Odessa, nach höheren Aildnngsanstalten zn rufen. Ietft bestehen in den genannten sechs Städten nicht bloß lebhaft befnchte Gymnasien, sondern auch Universitäten, nnd die lerulustigen Kleiurussen könneil stol; darauf sein, daß sie anf ihrem Gebiete allein drei Hochschnlon besi!>,en. Stolzer noch dürfen die Ostsee Deutschen auf ihr Dorpat und die ^innländcr ailf ihr Helsingfors blicken^ denn an beiden Universitäten findet man eben so uiele gelehrte hällser, als an lencn anderen, rnhinvolle Ausnahmen abgerechnet, leere Aüchscn. ^on Warschan, der nennten Universität im russischen Nciche, hört ulan weilig reden. Veterinärschulen sind nnr zwei da: in Dorpat nnd Char-low. Handelsschulen blühen in den größeren Städten auf. Dort finden sich jetzt auch überall Höhcrc Töchterschulen. Zahl' 5«ch sind dagegen die adeligen Lyceen, in diesen aber soll am wenigsten geleistet werden. Die Geistlichkeit hat ihr eigenes Schulwesen, vier Akademien, 11 * 164 ein halbes hundert Gymnasien oder Teminarc, nno vier Mal so viel Knabenschulen. Wer darin ist, mus; geistlich weroeu, jedoch kcmimeu in jiiilgster Zeit Austritte häufiger vor. Aehulich wie die Geistlichkeit und anch auderswo das Mi^ litär besitzt jedes Milüsteriliiil eigeue Lchranstnlten, in denen es sich seine Beamten bildet. (5s grüudete sie derselbe Gc^ danke, ill welche»! nian uor fiiufzig Jahren aufiug, anf den Krougütern Volksschulen zn errichten zu dem ausgesprochenen Zwecke, die fchlendell Gelncindefchreiber zn bekommen. Das Unterrichtsministerium hat nur ein Budget voll 14 Millionen Rubel, die Fachschulen der anderen Ministerien kosten zusammen 18, also noch 4 Millionen mehr. Der Kriegsminister verwendet darauf 6, der Fiuanzmmister.>, und der Minister des Innern mehr als V-« Million. Der Gymnasien aber giebt es jetzt in Rußland dritthalb-hnndcrt, uild die jungen Russinnen lassen die eigens für sie geschaffenen .Hörsäle ^ es giebt an :',<> Fränleinstifte und über ^l)0 Gtiinnasien nnd Progyninasien für Mädchcu -^ niemals leer stehen. Diese Töchter uon Popelt nnd kleinen Beamten entwickeln einen viel andauernderen Fleiß, kräftigeren Willen, aber anch viel größere Fähigkeiten, als die jungen Männer. Uebcrhaupt, wenn es den Russen beschieden ist, das europäische Erbgut zu bereicheru, so wird es die ueue Stellung seili, welche sich bei ihnen das weibliche Geschlecht erkämpft. Die Männer haben m Rußland die schölte Stattlichkeit für sich, die Frauen nber Ideen und Energie, ^ eine umgekehrte Welt. Ueberblickt man alle diese Lehranstalten, die in 80 Jahren entstanden, so muß man bekennen: in diesen 80 Jahren ist für höhere uud mittlere Schulen sehr viel geleistet worden. Möchte es nur mit dem nothwendigen breiten Unterbaue, dem Volksschulweseu, uicht gar so schwächlich bestellt sein! Guter Pfarrschnlen mögen im ganzen Reiche znr Zeit 200 sein, dürf- 165 tic, bestellte nur etiva hundert filial uichr. jedoch sind sic nicht bloß in dm deutschen Gemeinden, sondern auch in dm meisten größeren Städten vortrefflich. 70. Ocschichtlichcv Ueberblick des rnssischcn Unterrichtswesens. Belehrender als solche klnze statistische Ailgaben ist die Geschichte des russischen Unterrichtsweseus.') Mit größtem Nergiuigen gingen Staalsschöufer nud Volksbilduer daran, für Bauern Burner nud Adel Schulen einzurichten, in denen nian auf geradem Wege der Vollkommenheit in die Arme laufen sollte. Sie schnitten hier nnd preßten dort, nnd formten und modelten deu Volkskörper nach ihrem Gefallen. Fn Nußland waren ia die Negierenden allein der Staat, die Anderen nnirden wie eine Art lebendigeu Tei^ betrachtet. Iedeonuü nach zu'anzig Jahren kam wieder Einer, der die Saat seiuer Vorgänger ain liebsten uut d«i Wurzeln herau^i^crisseil hätte, um den Acker nach neuen Grundsäl;eu zu bestellen. Das „deutsche l^ist", wie Vraf Le Maistre die deutschen Ideen nannte, wurde den junaeu Leuten bald ein- bald aus-sictrieben. Ttets aber zeia,te es sich, daß für die Nüssen das deutsche Muster, wenn nicht leichter doch erssicbiaer war, als das smnzüsische oder englische. Aber es gab gar zu viel gute Leute, denen überhaupt das fremde nnerträgtich schieu. Natioualdünkel Uleß ihnen in den Nacken nnd forderte, sie sollteu etwas ganz Ncncs schaffen, etwas ganz Besonderes nnd Nussisches. sie sollten es aber auch thun ohne Mühen nud Tchwriß, Kaiser Alexander I. ist ein Krösus an guten Absichten Nwannt worden, wäre er nnr anch ein Cyrus der Thaten ge° n>eien! ^,^ ^nhrc 1802 gründete er ein ncncs Ministerium das der Voltsanfklarung — ein wunderlicher Name, jedoch kein ') Dr, K, A, Eck,mid Vntticlopadle des gesammw, ErzichunB' uud Unterrichtswcscns, XI, Wotha 187«, Herm, S, «track Rußland 1—!,»5, 166 unglücklicher. Denn in Rnßlnnd sind die Geister entweder sehr dmnpf und düster oder sehr licht nud aufgeklärt: einfach gebildete Männer, die es aber wahrhaft sind, giebt es wenig, obgleich doch viel mehr, als Pogodin 1K4l zählte, nämlich in Petersbmg ><)0, in Moskau 100, und im ganzen übrigen Rnß« land noch 1W, im (tanzen alfo um 3W, ^) Durch des Baisers schönes Wollen angespornt, setzte sich das neue Mini-sterium in fieberhafte Thätigkeit, gründete sofort die Universitäten zn Charkow und klasan, und später die andern, ^ denn bis 1W4 gab es nur die eiue in Moskau, — und entrollte einen großen Plan von Nezirksschulen nud Pfarrschulen, jene eine Art Gymnasien, diese die Volksschulen. Die Aufgabe aber, diese Schulcu mit Lehreru zn besetzen nnd zn leiten, wurde auf die Universitäten gelegt: deren Mitglieder sollten nach russi-scher Anschauung nicht bloß Priester der Wissenschaft, sondern anch Veamte des Staates sein. Ihre Lehrkörper wnrden deßhalb mit vieler Freiheit nnd großein Einflüsse ausgestattet. Allein die Sache wollte nicht recht vorwärts. Die rnssischen Professoren kämpften wie Löwen gegen die Ausländer, Duust war ihnen die Wissenschaft, ein Gewerbe ihre Professur. Die Zuhörer aber blieben aus. EZ kamen so wenige, daß die Fakultäten sie einander abjagten, trotz Stipendien Offiziersrang und akademischer Gerichtsbarkeit wollte sich die Studcuteuschaft uur sehr langsam mehren. Nachdem mau iu solcher Weise sich zwauzig Jahre laug bald abgemüht bald ausgeruht hatte, blies ein eisiger Wind aus Dentschland herüber. Der Bundestag zu Frankfurt erhob sich wider „die politischen Brauseköpfe" anf nnseren Hoch" schnlcn. Sofort mußte das die arme Universitätsschöpfnng m Rußlaud eutgelten, noch in zarter Jugend legte mau ihr die erstickende Schlinge um den Hals. Die Umversitäteu verloren ') Russisches Archiv, 1K71 L, 2095. 1ss7 Freiheit und Selbstverwaltung, die Studenten wurden in Uniform nesteckt, und die dentschen Professoren, mißgünstig angesehen, wanderten mn bittere Täuschungen reicher in die Heimat zurück. Nnn mangelte es freilich bald an Lehrkräften, die nur den dürftigsten Anforderungen genügten, nnd mau hatte wenigstens so uiel Einsehen, in Doruat eine Anstalt zu gründen, an welcher sich inngc Männer für die Professuren vorbereiten sollten, nm später ihre Ausbildung in Deutschland nnd Frank' reich zu vollenden. Als aber das Reuolntionsjahr 1848 den Zar Nikolans auf das Höchste empörte, da war es vollends aus mit jeder Art von geistigem Aufblühen. Der empörte Zar wußte nichts Eiligeres zu thun. als das gesammte Untcr-richtswescn im weiten Reiche mit seiner Soloatcnfaust niederzudrücken, daß ihm Athem nud Seele ansging. XXII. Höhere Schulen. 71. Universitiitseinrichtung. Iit so elender Vcrsannng ging das Schulwesen ans die Heilsrea,ierung des jetzigen Baisers über. Aber merkwürdig, so rasch seine anderen Reformen ins Leben traten, mit der Besserung der Schulen haperte es lange ^eit. Erst !>!!>,". tonnte ein neues Nniuersitäwstatnt vo»l Kaiser bestätigt werden, und anch dieses erhielt rechtes Leben erst drei Jahre später, als Graf Tolstoi das Unterrichtsministerium übernahm. Jetzt wnrden alsbald die Lehrkräfte bedentend ver stärkt, jedeNniversität sollte nicht weniger als 75 ordentliche nnd außerordentliche Professoren nnd Dozenten haben, Die Professoren wnrden im Gehalte wie in Lehrmitteln anständiger gestellt. Bibliotheken Museen Laboratorien nnd Kliniken erhielten reichliche Ausstattung. Für Universitäten wird jetzt das Doppelte dessen ausgegeben, was noch vor sechzehn Jahren genügend erschien. Ihre Nerfassnng weicht uon der unsern in einigen Stücken ab. Die Universität regiert, richtet, nnd verwaltet sich selbst in ihren Micdernngen, jedoch hat jede ihr Hanpt nnd Veto am Kurator, Die Privatdozenten beziehen eine kleine Besoldung, und nach fnnflmdzmanzigjährisser Lehrthätigkeit tritt bereits, nnd zwar gan; von selbst, Peusionirung der Pro^ fessoren mit W00 Nnbcl ein, dem kargen Drittel des regcl- I0<» mäßigen Professorengehaltes. Nur wenn die Mehrheit der Kollegen einverstanden, kann einer noch fünf Jahre weiter doziren, nnd wenn er auch nach Ablauf dieser Frist noch vorzüg. liche Kraft und Lnft zum Katheder verspürt, so taun er sich noch einmal von der Mehrheit der Kollegen ein Nochfähigkeits-attest einholen. Die Studenten aber steigen von einem Knrsjahre zum anderen nicht ohne Prüfung auf. Tie unterstehn dein Gerichte der Universität bloß in Sachen, die innerhalb ihrer ^änme uortommen. l5in Drittel ist houorarfrei, nud eine Menge genießt Stipendien, insbesondere zuin Zwecke, ihre Studien iin Anlande zu verfeinern. Iur Jahre 1859 gehörten uon hundert Studenten 68 zum Adels- und Aeamteu-stände, n ivaren Popcnsöhne, 7 hatten Kaufleute zn Vätern, 1- einen Kleinbürger, nud noch nicht eiumal 1 Prozent war von bäuerlicher Abstammung. Seit der Aufhebung der ^eib-eigeuschaft hat sich dieses Verhältnis; zu dunsten aller Sninde gebessert nnd bloß bei dem Adel abgenommen. 72. Mangel an idealem Sinn. Eigenthümlicher Vorzug des russischen Studenten ist, dnß er beständig Weltmann bleibt und seine Augen offen behält für Alles, was in seinem Vaterlande vor sich geht. Stube«» gelehrte, Bücherwürmer, Wort« oder Tatztlanber kommen selten vor. Aber es fehlt anch ^ eiu wahrer Jammer! -^ beinahe iede Spur von Idealität, sie, welche der Jugend nischeu Schwnug nnd Adel und Feuer in die Seelen gießt-^as Auge starrt so realistisch, so klug lind kalt, daß mau sie bedauern möchte, weil ihnen fehlt, worin iin Iugendalter das halbe Leben besteht: süße Hoffunng und holde Tänschnng. Tie trinken keinen Wein, aber Grog in Massen; sie dichten lucht, liugeu aber Zoten; sie schwärmen nicht in erhabenen 170 Ideen, stürzen sich, aber schaarenweise dein rohesten Nihilismus in die Arme. Doch was soll man Besseres von den Studenten verlangen , wenn die Professoren allem idealen Streben abhold sind? Das ist leider der Fall bei den meisten russischen Professoren, und diese Art Leute bildet, Dorpat nnd Helsingfors ausgenommen, ans den Universitäten nicht eine kleine, sondern eine große Mehrzahl. In der geistigen Eigenart turanischen Volkes liegt es einmal, nur die gemeine Wirklichkeit zu erkennen nnd zu verwerthen. Die Russen nehmen an dieser Eigenthümlichkeit einigen Antheil und lieben es, das Erhabene ans die harte Erbe hernntcrzuziehen, es kopfüber zn stürzen und mit scharfem Schnitt des (Holdschimmers zn berauben. Und doch, mao wäre Kunst uud Wissenschaft, was wären Religion nud all unsere geistigen wüter ohne Ideale, die niemals erfüllt werden? Dein (kriechen schwebte das Schöngnte uor, der Römer trug sein Staats- nnd Rechtsideal in der Brust, der Germane lief; alles Irdische von der Idee des Göttlichen durchscheinen. Ein ächter Nnsse aber hat Wider willen gegen Philosophie, gegen klassisches Alterthum, selbst gegen allgemeine Weltgeschichte, Daher herrscht beständig großer Mangel an guten Professoren in solchen Wissenschaften, während in der Naturkunde, insbesondere in der Mechanik, auch in russischer Geographie, russischer Geschichte und Sprache alle Lchrstühle besetzt siud nnd zwar häusig mit recht begabten Mänucrn. Und diese Begabten -— wie wenig leiste» sie doch im Verhältniß zu ihrer Meugc! Warum bringen die meisten russischen Professoren so wenig Ergebnisse ihrer wissenschaftlichen Forschung in die Ocffentlichkeit? Ja, warnm hören so Viele bereits auf, überhaupt noch Fortschritte zn mncheu, weun sie ihr Vorlesnngsheft, ihren „5turs" fertig haben? Wenn man die tüchtigen Leistnngen auf dem Gebiete der Geschichte nnd Geographie, der slamstischeu 171 Sprachstudien, der Technologie, und einzelner Fächer der Medizin und Naturkunde, abrechnet, -^ steht doch die ganze Bereicherung, welche die Wissenschaft von Nußlaud her empfing, iin Vergleich mit andern Ländern gar zn weit zurück. Rächt sich nicht vielleicht gerade darin die Verachtung des Idealitätssinns, der im Geiste' ewig ein nnrnhigcs Streben nach höherem Wissen anfachn Sehe doch Jeder sich um nntcr seineu Bekannten, die in Naturwissenschaften als schöpferische Geister glänzten, einerlei ob Engländer oder Franzosen oder Italiener oder Dentsche, ob nnr Einer darunter war, der ein trockener 5?opf oder eine niedrige Seele gewesen? Wir dürfen sogar noch einen Schritt weiter gehn uud behaupten, daß anch das naturwisscnschaft' liche Problem, so lange es nngclöst ist, dem Geiste in der Form eines Ideales vorschwebt, an welchem die Phantasie eben so viel Antheil hat, als der berechnende und Schlüsse ziehende Verstand. Man kann sich daher leicht vorstellen, in welch eine traurige Lage mancher dentsche Professor gericth, der hoffnnngsfrendig und mit dem reinsten Willen, für des Volkes Heil zu wirken, nach Nnfjland zog. Nach ein paar Monaten überkam ihn eine ^mpfmdung, als müsse er sich in seinen Sinnen nnd Ideen vergröbern, wenn er gedeihen wolle, als müsse er einen schonen Theil der gewohnten geistigen Genüsse fahren lassen, als müsse ^' Nch beständig vorhalten, daß in diesem Lande Ehrlichkeit gar ^icht sür Beschränktheit gelte, daß man mindestens über seine Aufrichtigkeit eine starke Weste knöpfen müsse. Längnen läßt es sich nicht: wird eine gute Einrichtung ans russischen Boden verpflanzt, gleich sprießt, als wäre er damit geschwängert, das llnkrant in vollen Garben auf, so im Lehrkörper der Universe taten Nepotismus, in der Fakultät der Geist des Neides uud der Tücke», auf dem Katheder Unwissenheit, nnd am Stndir-tische Trägheit. Unglaubliches wird vom Ränkespiele der Professoren erzählt. Will Einer auf sich selbst stehen in edler Un« 172 abhängigkeik, gleich werfen sich auf den die Anderen wie eine schwane Krähenwolke nnd wissen ihm das Leben gründlich zu verbittern. 73. Kampf zwischen Realismus und Humanismus. Das Aufblühen russischer Gymnasien wird schwer behindert dnrch deu Kampf, der leidenschaftlich zwischen den Realisten und den Hnmanisten hin und her tobt. Von der Meinung, ich möchte fassen, von einer immer wiederkehrenden Stimmung und Ahnung, als sei ihrem Volke eine ganz besondere Bahn in glorreicher Znknnft eröffnet, als könne es bei einer anßerordentlichen Ve-gabnng Fortschritte im Stnrme machen uud brauche nicht die langen mühevollen Wege der übrigen Europäer zu wandeln, von dieser unseligen Täuschuug können sich die wenigsten Nüssen frei macheu, „Nas sollen wir nns — sagen sie ^ mit Latein und Griechisch die schöne Zeit verderbend Wir sind Kinder der Neuzeit, weder an das Mttelalter gebannt, uoch au da5 Alterthum, Was von Kunst nud Philosophie, Ttaatswcsen und Geschichte der Griechen und Römer zu wissen nöthig, läßt sich nuch ohne langweilige Sprachstudien leicht beschaffen." Natürlich sties; die Presse lanthallcnd in dieses Horn, nannte die klassischen Studien Unsinn nud eitelu Gelehrteukram, verlangte Altslauisch statt des Lateins, und wies mit Hohngelächter auf die Klassiker der Neuzeit hin, auf die „verrotteten" Deutschen, die große Weisen des Alterthums und Kiuder in der Politik seien nud vor lauter Unbehilflichkcit über die eigenen Füße stolperten. Diese russischen Literateu und Professoren mnßten gar uiel Aerger verschlucken, als sie plötzlich sahen, wie blaut in der realsten aller Leistungen nnsere Heere auftraten. Noch immer stehen in Rußland die meisten Gymnasial-Professoren deu Freunden klassischer Bildung schroff nnd erbittert gegenüber, Der Trost ist mir, daft sie schrittweise immer weiter znrückgedrängt werden. Ernsthaft realistisch fiug manches 173 russische Gymnasium au und mußte sich mehr und mehr in eine humanistische Schule llulivaudeln, Weßhalb doch diese Erscheinung mitteu im Jahrhunderte dcs Daniptes nnd der Geldmacht? Trol; allen Geschreies mehren sich eben unter den Regierenden die Äiäiiner, die eo klar erkannten, das; des Alittelalters Cultur in der antiken ivurzclt wie die unsrige iin Ätittelalter, nnd daß es tein Bildnugounttel giebt, n'elches, von leichteren zil feineren Anfanden aufsteigend, so geeignet ist, den jungen Geist zu zügeln und zu bilden, zu schärfeil nnd zu stählen, als die klassischen Ttndien. Freilich forderte anch die Elendigkeit des mittleren Schulwesens znm Nachdenken nnf. Vor fünfzig Jahren bestand auf russischen Gymnasien nahezu die Hälfte der Professoren ohne alle llniversitätsl'ildung, die Direktoren waren abgedankte Offiziere, die öffentlichen Prüfungen reine Komödie, Unter den Schillern wucherte jene rufsische Eigenart, die fo stnrk znv Eelbstüberhebnng neigt, nnd neben geistiger nnd sittlicher Nohhcit herrschten noch andere abschenliche l^ewohnheiteu. Wer Oeld spielen ließ, kam anch ^hne Studien vor>r'ärts und auf die Universität, wenn er nur ein wenig Latein verstund, Ursprünglich sollten auf Mathematik, Physik nnd Naturrecht, auf allgemeine Grammatik, Logik nnd Nhowrik, auf alte Geschichte und Geographie, anf Staats' und Wirthschaftslehre, üuf Naturgeschichte, Handels- und Gewerbekunde und Zeichnen monatlich 86 Lehrstuuden verwendet werden, auf Latein und Teutsch 32. Es war eiu großes Glück, daß der geistvolle Graf Uwarow, freilich erst 2ö Iah"' "lt, 5lurntor des Petersburger ^'hrbezirkes wurde. Er warf die Tcchuologie nnd politische Oetouomie sammt Natnr und Völkerrecht ans dem Lehrplam hcraus, nahm dafür Religion und Russisch hiuein, lind stellte die, alten Sprachen als Grundlagen der Gymnasialbildung fest. ^ies wurde 18^ allgemeiu augeilouluien. Das Reich besaß damals 50 Gymnasien und ähnliche Anstalten, der Lehrer aber 174 waren noch nicht 800, der Schüler noch nicht 8000. Von 183!> bis 1849 führte Nwarow als Minister das Steller. Die Zahl der Gymnasien sties, anf 70, der Schüler anf 20,000, die Lehrer kollegicn, die ihre Anstalten selbst verwalteten, waren mit lebhaftem Interesse dafür erfüllt. Dann kam die schwere Zeit, wo Kaiser Nikolaus in klassischer Vildnng etwas Gefährliches witterte, Angst nnd Trägheit zog in die Lehranstalten ein, der Vesnch minderte sich znsehends, die Nnsittlichteit unter Lehrern wie Schülern nahm reißend zu. 74. (i>y,unasialei»richtung. Als nun die jetzige Negierung die bessernde Hand anlegen wollte, erfuhr sie heftigen Widerstand. Ein (5ntwurf des Lehrplaues nach dem anderen entstand, keiner konnte es der einen und anderen Partei recht machen; denn die Gehässig keit gegen die klassischen Studien war auf das Höchste gestiegen. Sie hätten, so hieß es in einer Schrift/) „die Geister anf die linanistischen Vcrsteinernngen, die todten Sprachen, konzeutrirt nnd uom Lernen der lebenden Sprachen, dieser lebendigen Kräfte und thätigen Dvgaue der modernen nnd znkünftigen Civilisation, uom Lernen der lobenden, mächtig fortschreitenden Erzeugnisse des modernen Verstandes abgezogen". Kaiser Aler.aN' der II. dachte anders. Er fand im Grafen Tolstoi anfangs einen zweiten Uwarow, und gab diesem Minister, trotzdem die Mehrheit in den oberen Reichsbehörden anderer Ansicht war, gleichwohl darin recht, daß Rußland, das Tpättind der Kultur, nicht berufen sei, für sie neue Wege zn bahnen, daß vielmehr „die klassischen Stndien nicht bloß die der alten Sprachen, son dern anch der alten Tugenden seien, und ihre Wirkungen sich beknndeten in der Entwicklung des Verstandes, in der Stärke i) S ch t schapo w SuMl-pädagogischr BMinWngen dev g«ft>llen Mt° Wicklung des russischen Voltes, Moskau 1670, Seite ^ sich erhob. Von besonderem Interesse ist der Vergleich zwischen Natio^ nnlitnten und Stauden. Wir wählen eine dreijährige Frist aus, in welcher die Vewegunss besondere stark war, Vs gab uuler den Gymuasial-schillern 1869 1871 orthodoren Bekenntnisses........9,856 25,719 katholischen „ ........3,510 10.500 protestantischen „ ........2,^63 3.363 Mohammedailer.......... 52 92 Juden, Armenier, und Andere ..... 1,306 3,015 Es gab sich also ein viel größerer Lerntrieb nnter d^n Katholiken oder Polen nnd unter den Inden und Armeniern kund, als nuter den Orthodoxen oder Russen. Die Zahl der Protestanten oder deutschen hatte bereits im ersten Jahre 176 einen hohen Stand erreicht, im Verhältnisse zn ihnen hätten die Russen vier Mal so viel Gymnasiasten stellen müssen. Auffällig ist die Lernbewegung je nach Verschiedenheit der Stände. Es stellten Gymnasiasten 1869 1870 Adeline oder Beamte........18,018 25,401 Geistliche............1,028 2,00,'» Kauflente oder Kleinbürger......0,278 11,9W Bauern............ 1,289 2,455 Ausländer............ 481 061 Die Popensöhne stechen heruor: sie haben sich am zahlreichsten vermehrt. Aber anch die städtische nnd ländliche Äe-Völkerlina verdoppelte beinahe in drei Jahren die Zahl ihrer Gymnasiasten. Bloß die vom Staate Meistbegünstigten bleiben znrück, nnd ihr Ansfall trifft, da die kleineren Beamten sich um ihrer Söhne Bildnng beeifern, die Adeligen. Theils sind ihrer Viele in Folge der Leibeigenschafts-Aufhebung zu Grunde gegangen, und Andere können das Geld nicht mehr auf bringen, das der Aufenthalt in den Gymnasialstädten kostet. XXIII. Volksschulen. 75. Nothwendigkeit. Kaiser Alexander II. schrieb am 13. Mai 1«6K an sein Ministerium, wie folgt: „Ich habe Weisungen ertheilt zn dem Zwecke, daß die Iugenderziehuug im Geiste der Wahrheiten der Religion, der Achtung vor dem Rechte des Eigenthums, der Aufrechthaltuna. der Prinzipien der öffentlichen Ordmmg betrieben, und daß iu allen Allstalten sämmtlicher Ministerien weder offenes noch geheimes Predigen umstürzender, allen Bedingungen der sittlichen nnd materiellen Volkswohlfahrt gleich feindlicher Lehren geduldet werde. Doch ein den wahren Ve-dürfuisscu der Jugend entsprechender Unterricht würde den vollen von ihm zu erwartenden Nutzen nicht bringen, wenn im Privatleben Lehren vorgetragen würden, welche mit den Gesetzen christlicher Frömmigkeit uud den Pflichten eines trenen Unterthans nicht im Einklänge stehen." Diese Worte lesen sich, als wären sie nicht vor einem halben Menschenalter, sondern jetzt ^schrieben, wo die Unthaten der Nihilisten Angst nnd Ent< setzen verbreiten. Zn Hanse und in der G^lschast soll also die Jugend nichts Schlechtes hören, die Erziehung in der Familie soll der öffentlichen zur Seite gehen. Wird uud kann die Familie das in Rußland wirklich leisten in Kraft lind .heilsamkeit? Vei vielen Ovimdbesitzern und Beamten wohl, vielleicht U' Loher, Rußland II. 12 178 auch bei einigen Popen nnd Kaufleuten. Im Kroßen und Ganzen aber wird der Erfolg fraglich, wo fo viel Leichtfertigkeit im Verkehre, so wenig süßes Heimathsgefühl in der Familie herrscht. Und gar erst die große Masse, die für die Kleinen eine Art Affenliebe entwickelt nnd, wenn die Buben laufen können, sie sich selber überläßt! Wie viel abscheuliche Verhält -nifse lernen die Kinder auch in Dorfhäusern kennen! Wie oft sehen sie den Popen mit dem Vauer betrunken liegen in: Kassen kothe! Hier kann nur die Volksschule aushelfen, wie derselbe Kaiser im Dezember 1873 an den Grafen Tolstoi schrieb: „sie müsse zugleich mit den Elementarkenntnissen ein klares Verständniß für die göttlichen Wahrheiten der christlichen Lehre und lebendiges thatkräftiges Gefühl für die sittlichen und bürgerlichen Pflichten verbreiten. Allein" ^ setzt der Kaiser voll trüber Ahnung hinzn -- „die Erreichung eines für das Wohl des Volkes so wichtigen Zieles muß im voraus sicher gestellt werden. Das, was nach meinen Vorzeichnungen zur wirklichen Aufklärung der heranwachsenden Geschlechter dienen soll, könnte bei mangelhafter Neberwnchung leicht in ein Werkzeug der Entsittlichung des Volkes verkehrt werden, wie einige Versuche der Art bereits festgestellt wurden, und dasselbe jenen Glaubenslehren entfremden, nntcr deren Schntze im Laufe von Jahrhunderten Rusünnd sich einigte, kräftigte nnd groß wurde." Eine furchtbare Wahl -^ eiu unmündiges Volk oder ein schlechtes, ein kindisch nber-gläubiges oder ein irreligiöses. Veinahe muß man auch für die Zukunft fürchten, was einst ein rnfsischer Parriot in seiner Verzweiflnng sagte: „To lauge bei der allgemeinen Sklaverei Alles in Erstarrnng lag, brachten wir znr Noth nns fort. Sobald jedoch das erste warme Frühlingslüftchen über nns hinwehte, fing unsere vermeintliche Bildung an, rasch in Fäulniß überzugehen nnd hauchte tödtlichc Dünste um sich her." Gleichwohl — es bleilit keine Wahl mehr. Es giebt kein 179 fern entlegenes Rußland mehr, thöricht wäre jeder Versuch, es nochmals wie unter Nikolaus abzuschließen. Die Kultur marschirt unaufhaltsam in den weiten Osten hinein. Welches Volk sic «icht ertragen kann, wird von ihr zersetzt, zerrieben und — Völkerdünger. ?l». Geringer Anfang. Tie Regierenden in Rußland müssen also das Volk im Ganzen nud Großen in Schule nehmen, die Volksschnle muß Zwangsschule werden für jedes Dorf. Was ist nun bis jetzt geschehen? Katharina II. wollte natürlich den Ruhm der Volksaufklärung sich nicht entgehen lasfen. Tie gründete !9 Volks-fchulen, von denen fich eine in ein Lehrerseminar verwandelte. Damit begnügte man sich, einige neue Stadt- und Pfarrschnlcn ausgenommen, beinahe fünfzig Jahre lang, bis Graf Uwarow die Sache angriff. Der kaftenartigen Eintheilung des Volkes gemäß wurden im Jahre 1828 Pfnrrschulen für die Kinder von Bauern, Brzirksschnlen für Kinder von Kaufleuten Klein-bürgern nnd niederen Beamten, Gymnasien für vornehme Kinder als nothwendig erklärt. In den Pfarrschulen sollte Lesen Schreiben Rechnen uüt Religion nnd biblischer Geschichte gelehrt werden, für die Bezirksschnlen Geometric Geschichte Geographie und Zeichnen hinzukommen. Allein vom Entwürfe znr Wirklichkeit war ein langer Weg, Die Popen forderten für den Tchnldienst ^eld, nnd die Bauern wollten kein Geld für Dinge hergeben, die nach ihrer Meinnug ganz schön seien, jedoch eigentlich über flüssig, u,ch hie meisten Grnndherren dachten ebenso. Aloß in Ctndten mehrten sich die Schulen, Die Regiernng befahl nun Men Krön- und Apanagebauern, Schulcn zu eröffnen. Richtig 8ab es im Jahre 1853 bereits an !'.,500 Schnlen mit etwa 1lX»M0 Kinderu, Untersuchte man dies Schulwesen näher, so zeigte sich wohl, daß die Beamten auf den Staats- und kaiser- 12^ 180 lichen Familiengütern, wenn ein Pope cm paar Mal in einer alten Scheune Kinder versammelte, gleich eine Schule mehr verzeichnet hatten. Als die Vaueru von der Leibeigenschaft frei wurden, schlössen sie eine Echnle nach der nudereu. Nwarows wohlgemeintes Werk war misiluugen. Im Jahre !8<>4 legte man die Aufgabe in die Hände der Provinzial-Landtage, der Eemstwos, diese sollten die Volksschulen gründen nnd für ihren Unterhalt sorgen, die Regiernnss wollte durch ihre Echulräthe anregen nnd leiten. Die Landtage, gingen auch mit solchem Eifer daran, daß schon im nächsten Jahre 21,000 Schuleu eröffnet waren, freilich fast alle nur für die Winterszeit, die meisten bloß für Lefen und Schreibe»!, nnd einige in einer Art Stall untergebracht, für dessen Wintermicthe dritthalb Rubel gezahlt wurden. Die Regierung aber erklärte, sie wolle in jedem Gouueruemeut ein paar Normalschulen eröffnen, und ließ Inspektoren reisen, die den Landtagen überall dareinredeten uud doch kein Geld für die Normalschuleu zu^ fammeubrachtcu. Am Ende des Jahres 1871 hatte man im Ganzen gegen 24,000 Volksschulen mit 875,000 Schnltindern, und die Kosten beliefen sich auf vierthalb Millionen Rubel, uur etwa 142 Rubel für eiue Schule- Es gab freilich Schulen, deren yausmiethe und Lehrer das ganze Jahr nur offnnugen llud Allusionen, allein drei Jahre Erfahrung haben sie vernichtet." Das ist wieder ein Bekenntniß, als wäre es gestern geschrieben, nnd doch sind bereits fast siebeuzig Jahre seither verflossen. Erinnern wir uns aber, wie es vor zwei Menscheualtern mit dem gesammten Schulwesen in Nußlaud bestellt war, so läßt sich doch uicht läuguen, daß es damit bedeuteud besser geworden. Bedeutend im Verhältnisse zu dem Geringen, was da war, ^ immer noch wenig im Verhältnisse, zur langen Zeit, — noch weit, sehr weit zurück hinter ieder Gegend in Mitteleuropa. Langsam faßt in Nußlaud das Gute schwächliche Wurzeln, ^ uon eigenthünüichen Gefahren wird es bedroht, ehe Gedeihen kommt, — der edelste Schweiß muß iu strömen rinnen, ehe er den Boden befruchtet. Zum Gliicke ist der russischen Eigenart ein hübsches Talent zum Leichtsiune, ein noch größeres zur Selbsttäuschung beige» mischt. Wie bei jungen Mädchen heißt es: „Himmelhoch jauche zend -^ zum Tode betrübt." Derselbe Uwarow, dessen ächzende Verzweiflung wir eben lasen, schrieb zwanzig Jahre später, freilich amtlich, Folgendes: „Der russische Geist, gesund, erhaben in seiner Einfachheit, demüthig in seinem Heldemnnthe, uicht wankend im Gehorsam gegen das Gesetz, ein Vergötterer des Zaren, bereit, Alles hinzngcben für das geliebte Vaterland, hat seit Urzeiten die sittlichen Kräfte desselben gehoben. Die Autokratie hat die zerstreuten Glieder des Ttaates geeinigt, seine Wuuden geheilt, ihm Einheit gegeben, und in der ungeheuren Masse, wie in der Weltgeschichte keine ähnliche dasse-wesen ist, seine Integrität befestigt. Endlich hat der Glanbe, 183 der über alles irdische Elend triumfthircude, ihm geholfen, in-mittcu aller Ttiirmc nnd Aufregungen festznstehen; er hat die Vristcn'i Nnsilands bei>n Andrängen der halbwilden Horden des heidnischen Ostens wie der halbgebildeten (!) Tchnaren des anf-ständischen (!) Westens behütet i ebenso dient er ldcr Olanbe), gegründet anf dein unerschütterlichen Felv der Rechtglnulugteit, ihm als sicherster Schild gegen die Verkehrnug der Geister, die verderblicher ist, als alles physische Böse nnd alle Invasionen fremder Stämme. Auf diesen heilsamen Prinzipien rnht nnser gegenwärtiges Wohl nnd die feste ,voffnnng anf die Zukunft." ^ Wie viele dieser Sätze, würden sie schärfer geprüft an der Hand geschichtlicher Erfahrung, mochten sich wohl als schöne Phrase erweisen? XXIV. Genchlswrlctt. 78. Grundsähe der Reform. Jede Volksart hat ihre besonders gedeihlichen Gewächse. In Spanien nnd Griechenland sind es die Parteihäuptlinge, die beständig auf der Jagd sind nach Aemtern nnd Staatsbente, — in Italien die schreienden nnd Alles verdrehenden Advokaten im Parlamente, in Frankreich nnd England die Rentiers, die gegen ihre Gäste die Liebenswürdigkeit nnd gegen ihre Schuldner die Härte selbst sind -- in Dentschland die Stubengelehrten, ^ in Schweden die Wachtmeister. Vei den Nnssen waren es von jeher die Veamten, die an Raubgier nnd Bestechlichkeit, an Trägheit und Ignoranz das Aenßerste leisteten. Insbesondere war das Gerichtswesen so eingerichtet, als hätte man ein Muster aufstellen wollen, wie es auf diesem bedeutungsvollen Gebiete des Staatölebens nicht sein sollte. Tie Instiz war in die Nerwaltnng hinein verwickelt. Das Verfahren schleppte sich langwierig nnd schriftlich nnd belastet mit einem Wust von Maßregeln, welche den Richter au die Gerechtigkeit fesseln sollten und doch von Jedem wie Spinnweben zerrissen wnrden. Nie Richter waren schlecht besoldet nnd nn-wissend, abhängig von jedem Winke von oben, ein ehrlicher Mann nnter ihnen ein weißer Rabe, deßhalb der gan^e Stand verachtet. Unschuldige konnten jahrelang im Kerker sitzen. Einen 185 höheren Beamten zu belangen, war schier unmöglich. Von den beide» Trägern emer nute» Illstiz — Eh« und iDesfentlichleit — keine Spur zu finden. Der Ruf nach besseren berichten schallte daher durch das ganze Land, solialo Baiser Nikolaus gestorben, und sein Nach« folger führte eine allseitige Reform durch nach den heiwollen (Hruudsähen: Trennung des Werichtsivesens von der Verwalluug, Uuabhäugigteit der Richter, Einfachheit des Verfahreus, Orffcnt-lichkeit der Rechtspflege. Das ftianze wurde, wie es in Rußland bei solchen Reformen gewöhnlich, aus Prinzipiell heraus neu und logisch erdacht und unmittelbar eingeführt, ohne daß jedoch dein Eingreifen der obersten liiewalt, die i» Rußland bisher dao ^ei'te geschaffen «nd noch r>iel »lehr schlechtes ullterdrüclt hat, 2hi>r und Thor verschlossen w«rde. 79. Stalldesgerichte und Friedensrichter. Es giebt setzt i» Nllsilaud dreierlei WeriÄ)te: Eta«dessse^ richte, allgemeine, heimliche (berichte. Die ersten nnd letNen sind allrussischer verknust, die andere» bilden die große Neuerung, die nach englischem, französischem, deutschein Muster gearbeitet Ül. Zu den Stande>?gerichten zahlen außer denen der l^eistlich> teit, der Aeantteu, der Milila« die Äanevugerichte; die heim-lichen gehören der Regierung an und den im Finsteren schlei» chende» Letten uud Verschwörern; iu den allgemeinen berichte» wird entweder dlirc!) ^riedenorichter oder durch ('irschivorue oder dnrch Kreisgerichte und höhere Instanzen das Urtheil gesprochen. Wenn eine Tchuldsordcrnug 3<»0 Rubel übersteigt, oder an einer Handlung vcischiedene Etände Theil nahmeu, oder ein Verbrechen der Bauern oder Geistlichen mit einjährigem Kerker bestraft wird, so sind die allgemeiueu berichte ;ur 3achc bc< rcchtigt. Nu» läßt sich zwar ei» Soudergericht für ^ianuschaft u»ter den Waffen nicht entbehren, auch dem geistlichen berichte 186 die Zucht des Klerus uud das Nechtsprechen in Ehesachen ge« mäß dem Brallche der griechischen Kirche nicht entziehen: wohl aber sollte Niemand, der durch einen Militär oder Geistlichen qekränkt ist, genöthigt sein, sein Recht vor dessen Ttandesgc-richt zu snchen- Mit den Bauerngerichten aber ist es eine ivunderliche Sache. Die Nichter sind Bauern, die uon ihren Ttandesgenossen gewählt sind. Tie richten nach altein brauch und über jedermann, nnd, wo es ihnen dienlich scheint, nehmen sie die Ruthe znr Hand. Wenn aber der Frevler ein oder zwei Maß Branntwein auf den Tisch setzt, dann greift das ganze Gericht erheitert zu, bis Angeklagte und Zcngen mit den Nichtern unter dem Tische liegen, und uon Rechtspflege ist weiter keine Rede. Am ersten eingebürgert hat sich die Einrichtung der Friedens« richter. Sie entscheiden, Grundbesitz ausgenommen, in allen Prozessen, deren Gegenstand nicht den Werth von 500, nnd nbcr alle Vergehen, deren Strafe nicht das Maß von .M) Nnbel oder ein Jahr Gefäuguis! übersteigt. Sie sind Einzelrichtcr, müssen weuigstcns mittleren Grundbesitz haben, nnd werden alle drei Jahre srei gewählt dnrch die Semstwo oder den Pro" vinzial Landtag, in welchem die Mehrheit der Stimmen dein Adel gehört, juristische Bildung ist zum Amt eines Friedens-richten nicht nöthig, nm so entschiedener das öffentliche Ver-tränen. In ganz geringen Sachen findet uon ihm keine Be-rnfung statt, wohl aber in anderen an die Versammlung der Friedensrichter, die regelmäßig zn bestimmten Zeiten im Kreise zusammentritt und gegelt jedes ihrer Mitglieder Untersuchung einleiten kann. Die rasche und nicht theure Entscheidung der Prozesse, welche uor die Friedensrichter kommen, hat diese beliebt gemacht, uud man muß uur hoffen, daß allmählig bei ihrer Wahl Nechtschasscnheit nud etwas juristische Bilduug größeres Gewicht bekommen, als die Stmunen einiger uornehncen uud einflußreicheu Adeligen, 18? 8tt. Geschwornengerichtc. Die Einführung uon Geschwornengerichten für alle schwcreli Verbrechen, außer wenn sie durch die Presse verübt siud, erschien manchem Naterlandsfrennde ein gewagtes Unternehmen. „Nie können," hieß es, „Üente Geschworne sein, die noch niemals die Freiheit und noch niemals den Mllth einer eigenen Meinnng gehabte Mindestens fordere man zu diesen: Amte den Nachweis von mehr als bäuerlicher oder kleinbürgerlicher Bildung." Allein der Griff ins Unbekannte wnrde gethan, jedoch mit Vorsicht. Von einer Urliste der Geschwornen, die ein Vermögen von 200 Rubel Einkünfte besitzen, scheidet eine vertrauliche Konimission, welche von der 3emstwo gewählt wird und den nächsten Friedensrichter znzieht, Diejenigen aus, welche uicht die gewünschte Nildung und Ehrenhaftigkeit besitzen. Das Ergebniß ist nun wenigstens der Art, dasi nur Wenige die alten berichte zurück wünschen. Die Urtheile russischer Geschwornen sind oft lächerlich, sie beweisen eine übergroße Mildherzigkeit.' sie sprechen frei, wenn das Gesetz ihnen zu hart dünkt, sie sprechen anch frei, wenn ihnen der frevler leidthut und nntcr Thränen verspricht, nicht mehr zu sündigen. Gerade alls den am meisten landläufigen Verbrechen, ans Betrng,Unterschleif nnd Bestechung, machen sie sich so weuig, daß ein Fremder sich öfter in Ae-slurping fragt: 2ind denn in diesem Lande noch die einfachsten sittlichen Begriffe wie Nebel flüssig oder wie leichtes Nohr biegsam ? Im groszen Ganzen genommen bewährten jedoch die Geschwornen viel häufiger gesunden Menschenverstand, als das Gegentheil, und war ihre geistige Unmündigkeit so groß, daß sie die Aeweise nicht genall abwägen konnten, so hielten sie sich daran, daß der angeschuldigten That ein schlechter Mensch fähig, ein unbescholtener nicht fähig gewesen. Das größte Unglück ist, oaß man für die Geschwornen nicht genng Advokaten hat, denen sich Ehrenhaftigkeit nnd Ge- 188___ setzeskenntmß zutrauen läßt. Mau mußte alls Mangel an Juristen die Advokatur völlig freigeben: in ihre Reihen drängte sich das leichteste Gelichter, weuu es nur Zungenfertigkeit besaß, und machte den edlen Beruf zum Handelsgeschäfte. Dem Frevler, der gut zahlen kanu, eröffnet sich nun am ersten Aussicht, glimpflich durchzukommen. Vielleicht würde es etwas helfen, wenn man die Advokaten zu einer öffentlichen vereidigten Genossenschaft vereinigte, die zu bestimmten Tagen zusammen« träte, um die Wahrnehmungen anzuhören uud zu prüfcu, die ihr der Staatsauwalt zu macheu hätte. KI. Andere richterliche Behörden. Was uun nicht vor Friedensrichter und Geschworne gehört, kommt vor die allgemeinen Gerichte, die also eigentlich nur für Edelleute uud Städter bestehen. Sie bilden zwei Instanzen: das llntergericht, das wenigstens mit drei Nichtern be> setzt sein muß, uud die Nathskammer oder den Auuellatious-hof. Nichtigkeitsbeschwerden gehen au den Teunt, jedoch nur dann, wenn ein wesentlicher Formfehler oder eine offenbar falsche Anwendung einer Gesetzesstclle stattgefunden- Ist bei diesen Gerichten ein Amt erledigt, so haben sie selbst Kandidaten vorzuschlagen. Damit aber keiu Nepotismus einreihe, hat der Instizminister nicht bloß selbst freies Anstel-lungs-, sondern auch der Stnatsauwalt freies Vorschlagsrecht. Im Staatsauwalte schuf sich die Regieruua. eine Behörde, die ständig das Gerichtswesen überwacht und in gewissen Fälle» berathend, eiuschräukeud, ausgleichend eingreift. Die Richter sind zwar unabsetzbar, allein in der Regel kommt es auf deu Bericht des Staatsauwaltes an, ob ein Richter in Rang Gehalt und Orden vorrückt. Der Staatsnuwalt uimmt also eine so einflußreiche Stellnng ein, daß sie die innere Unabhängig' keit der Nichter bedroht, znmal deren Gehalte zwar vergrößert 189 siud, jedoch innner noch der Würde ihres Amtes nicht ent»-sprechen. Man hat diese Uebelstände wohl gefühlt nnd i,n unabsetzbaren Untersuchungsrichter ein anderes Amt geschaffen, das selbstständig die Nntersnchnng eröffnet nnd weiter führt. Allein auch den Untersuchungsrichter beaufsichtigt der Staatsanwalt, er kaun ihm seinen Rath aufdringen, seine Entfernung in eine andere Gcgeud verlangen, und wenn der Untersuchungsrichter ihm die geschlosseneil Atteu übergiebt, so liegt es im Gutdünken des Staatsanwalts, ob er den Iuhalt der Rathskammer vortragen will. Tie Nathskammer entscheidet dann, ob der Staats-"nwalt die Anklage stellen nnd vertreten soll. Eo viel ist nun ersichtlich, dies gesammte Gerichtswesen ist wohl durchdacht uud mit Geschick den russischen Zuständen und Neigungen angepaßt. Es ist neben der Aufhebung der Leibeigenschaft, der außerordentlichen Förderung der Verkehrsmittel, und der Entwicklung des Schulwesens inS Breitere die größte Reform, uud — was gerade für Rußland viel heißen will — nn Ganzen ist sie gelnngen. Das ist eine ansehnliche Bürgschaft, daß die Entwicklung der Dinge zum Besseren fortschreite. Nöthig möchten noch sein ein kurzes, klares Gesetzbuch, — eine Advokntentare mit schweren Strafen für ihre Überschreitung, ^ höhere Gehalte der Richter und bei tadelloser Amtsführung festgesichertes Vorrücken, — endlich größere Verbreitung jmistischer Bildung mit Hinwirten daraus, daß sie im Amte der Friedensrichter, Advokaten und Geschwornen stärker vertreten sei. 82. Rechts- oder Polizoistaat? Das Ideal, welches der Gerichtsreform vorschwebte, war dor Rechtsstaat. Allein tausendjährige Zustände nnd Gewohnheiten im Volke erschienen noch immer derart, daß mau glaubte, neben dem richterlichen Wege des administrativen nicht entbehren zu können, d. h. der Gewalt, die tmmlich des Einzelnen 190 Thun und Treiben beobachtet und plötzlich aus dem Dunkel heraus ihn ergreift, richtet, straft. Was die öffeutlichen Gerichte unmöglich machen follen, nämlich Willkür und Täuschung. Beides uinßte — das war ganz unausbleiblich — sich breit ansiedeln in der hohen Polizei, die unter den: Nameu „dritte Ab-theilung" im Cabinet des 5laifers ihr Haupt hatte, nnt ihren zahllosen öffentlichen nnd 'geheiiueu ^lgentcn das ganze Reich unistrickte, und namentlich in den letzten Iahreu viele Tausende in den Kerker oder nach Sibirien oder irgendwo audershin unter strenge Anfsicht schickte. Die dritte Abtheilung ist in den jüngsten Tagen ansge-löst, an ihre Stelle tritt ein Ministerium, dem die Polizei-Meister uud die gesammte Genödarmcrie in den Städten unterstehen. (5o muß sich nnn zeigen, ob Rnszland ein Rechtsstaat geworden. Wenn die Gerichte nicht ihre Schuldigkeit thäten, wenn sie der Unredlichkeit uud Trägheit anheimfielen nud das öffentliche Vertrauen verlören, wenn wiederum die furchtbare heimliche Gewalt deu Gerichten zur Seite treten und ihre Thätigkeit zwar nicht mehr in der alten rohen, sondern verfeinerten, mehr venetianischen Weife ergänzen müsitc, — dann könnteu sich die Besten im Lande der traurigsten Gedanken nicht erwehren. XXV. Handelsbetrieb. 83. C'uropiiisch-asilltische Alt. Die verschiedenen Bestandtheile, ans denen in ungeheuren Ansdchnungen sich das rnssische Reich zusammenfegt, stehen nüt einander im Verkehr nnd Znsanüneuhalt ans dreifache Weise: burch die Beamten, die Kirche, den Handel, Von den kaiserlichen Beamten militärischer nnd bürgerlicher Art ist beständig ein ansehnlicher ^heil ans Reisen, Die' Kirchenvorsteher schicken ihre Sendboten in die Tprengel nnd zu den Gemeinden, nm über die Zustände sich mttrrrichlen zu lassen nnd Anordnungen zn treffen, nnd darin sind die Tekten msgeheim noch viel rühriger, als die Staatskirche, Der bauoel nber setzt eine ansierordentliche Menge von Menschen in Ve-Regung, welche das Reich von einem Vnde zum andern durchziehen. Lebhaft spiegelt sich besonders im Handelswescn der ruisische VoltX'chnratler ab, nnd gerade deßhalb werden darin auch die Veränderungen dcntlich, welche die russische Eigenart m unserer Zeit erfährt, nnd die Richtungen, in welchen die Umwaudlnng weiter greift. Rnßland ist auch in Handelssachen halb asiatisch halb europäisch, EZ hat emm Binnenhandel, der sich in seinem Betriebe nur vergleichen läßt mit dem Verkehrswesen in Nord-Amerika oder in China oder nnch allenfalls in Indien. 192 Noch immer bildet Rußland ein für sich und auf sich selbst bestehendes Gebiet, abgeschlossen dnrch strenge Zollgränzen uon andern Ländern. Jedoch folgt es nicht mehr seinen alten Sitten nnd Gewohnheiten allein. Der Handel ist ia in dec ganzen Welt der Pionier der Kultur: dieser Pionier ist in das russische Gebiet in jüngster Zeit weithin vorgedrungen, trägt aber ein entschieden europäisches Gesicht- Gleichwie Staat nnd Gesellschaft einst durch Peter den Großen nnd seine nächsten Nach-folger eine Umwälzung erfuhren, so geht sie jetzt in den bürgerlichen Geschäften vor sich, nud zwar im Wesentlichen ohne Zn-greifen von oben her. 84. Waarenbefördcrnuss. Stellen wir nns zunächst den Handelsverkehr vor, wie er noch vor einem Menschenalter in Nußland beschaffen war. Nur eiu kleiner Theil der Waaren lagerte in den Magazinen nnd Buden der Kaufleute und Krämer, der größte Theil war anf der Wanderung. Entweder wurde die Waare aus der Gegend, welche sie erzengte, zu den Vcrtaufsulätzen am Meere gebracht, oder sie wurde von Messe zu Messe, oder von diesen zu einem Markte nach dem andern verführt. Mehr als zwei Millionen Fuhrleute nnd mehr als eine Million Schiffslente waren Tag für Tag beschäftigt, auf kleinen hölzernen Lastwagen oder anf großen rohgezimmerten Lastschiffen Waaren fortzuschaffen. Jeder Fuhrmann hatte drei bis vier Wägelchen, die nur von geringer Tragkraft. Auf ein Pferd durfte mau höchstens zehn Zentner rechnen; denn die Wege waren schlecht und das Gefährt sehr gebrechlich. Die Flüsse aber, welche bei Wasserfülle für das große Reich der Ebenen ein treffliches Geäder von Nasserstraßen ergeben, lagen einen großen Theil des Jahres unter dem Eise nnd litten einen andern Theil an Untiefen. So ; ging die Reise langsam von Statten. Wohin man 193 heilte nicht kam, kam man morgen, oder gewiß in der nächsten Woche, oder noch sicherer im nächsten Monat. Bald blieben hier bald dort ein Wagen im Koth, oder alls seichter Stelle ein Schiff stecken mW konnte nicht weiter, oder es gab Gebrech und man stellte die Fracht nnter, so gut es gehen wollte. Die Verlnste zahlte der Eigenthümer der Waare: er mnßte sich in sein Schicksal ergeben, es war ja Gottes Wille so. Das Getreide, das ans den Wolgagegenocn kam, mnßte ans seinem Wege nach Moskau überwintern und war dis zu seinem Einsclnsfsplatze an der Ostsee öfter ein Jahr nnd darüber unterwegs. Auf den Eisenwerken am Ural war man schon Zufrieden, wenn das Metall erst im nächsten, vielleicht im zweiten Jahre cmf den richtigen Markt gelangte. Sieht man noch jetzt die ^ahrläfsigkeit, mit welcher ans Bahnhöfen die Güter in Schnee und Regen liegen dk'ibcu, ohne Schutz nnd ohne hinlängliche Wache, so begreift sich, wie es noch immer eine Art von Glückssache ist, wenn sie richtig und unversehrt eintreffen. Das einzige Gute bei solcher Art von Waarenbefördcrnng lst ihre Billigkeit. Es ist nnglanblich, mit wie wenig Lohn, unt wie geringer Kost Fuhrleute und Tchiffskncchte vorlieb nehmen. Ter Verdienst scheint ilmcn Nebensache, das Umher' fahren in weiter Welt die Hauptsache zn sein. Daß ihnen srische Lnft nm ocu Part wehet, daß ihre Blicke sich frei bis zwn fernen Horizonte ergehen, daß ihr Tagwerk geringe Auf"-Mrtsamkeit fordert und sie unbekümmert ihren Grillen nach" klängen, — das scheint ihnen des Lebens einzige Lnst nnd Aufgabe. 85. Stuf,:» der Handelsleute. Etwas von dieser Nomadennatur steckt anch in den Handelsleuten, deren Leben früher gewöhnlich drei Abstnfuugcn kannte: 'Vmisircr, 5lnnfmann, Großhändler. v- Kuh er, Rußland ii, 13 194 Des gemeinen Rnsfen liebste Beschäftigung ist flottes Handeln und Schachern, bei welchem er täglich andere Gesichter schaut. Hat so ein Mnschik glücklich ein wenig Geld erübrigt, so kauft er sich einen Tragkasten, entnimmt ans den nächsten Anden allerlei Waare, wie man sie auf dem Lande brancht, Kattun und Bänder, Nähsachen nnd Ohrringe, Glasperlen nud Schlößchen. Volksbücher uud Harmonikas, packt Alles m seineu Kasten und wandert mit diesem zu Fuße von einem Dorf znm andern, zwanzig, fünfzig uud hnndert Meilen weit. An jedem Orte bietet er seine Waare ans, nimmt dafür Geld oder Leinwaud oder Garu oder Wolle oder was sich sonst leicht tragen läßt, uud schachert vom Morgcu bis zum Abeud uach feiuem Leibspruch „Ohue Betrug keiu Handel." In der Regel gedeiht sein Geschäft, uud sobald es soviel abgeworfen hat, schasst er sich Pferdcheu nnd Wägelchen an, uud kanu nnn viel inchr Waare fortbringen. Als der Glücklichste der Sterblichen zieht er seine alten Wege und dünkt sich keinen geringen Handelsmann. Denn jetzt nimmt er Honig Getreide Häute Gänse uud Jungvieh in den kianf und weiß schou eiue Stadt, wo er das Alles mit Nntzen wieder losschlägt. Allem bald genügen ihm die alten Wege nicht mehr. Entweder macht er Vertrag ans Gewinntheil mit einem Großhändler, welchem er Waare anfkanft oder nuterbringt, oder strebt in die Weiten uud dehnt seine Reisen aus bis uach Sibirien uud dem Kaukasns. Mau trifft auf diese Hansirer anch dort in jedem Dorfe: ihr gewöhnlicher Name ist Ofener, Opheni, der Neiu-rnsse nennt sie Waräger, der Sibirier Suesdaler. Die meisteu Hansirer findeu ihr Wauderlebeu so reizeud, daß sie uiemals dauou ablassen. Im Gonuernement Wladimir giebt es ganze Dörfer, die nnr uou wohlhabenden Hausireru bewohnt find. Diese bringen das Jahr über höchstens sechs Wochen in ihren Familien zn. Die aber Ehrgeiz im Ansen fühleu, lassen sich, sobald sie das Vermögeu dazu haben, in 195 eine Gilde einschreiben und vertauschen dio Tracht des gemeinen Mannes uut der eines wiirdigen russischen Kawmanns. )lnn bedeckt ein Hut den dichten Haarwnchs, der schon genug Regen und Eonnengluth anbehalten, den Leib hernieder wallt der blantuchene lange Kaftan, die Beine stecken in einer Art von Iagdstiefeln. Der kleine Bnoenbesisier behält noch eine Zeitlang seine Schürze vor: wirft er auch diese bei Seite, so ist cr ein Mann von Gewicht geworden, der, vielleicht im Stillen schon einige zwanzigtausend Rubel sein nennt. Dann beginnt er sicher anch Brocken feiner Lebensart in seine Sprache und Klcidnng einzumischen, Bon doppelter oder nur geordneter Buch -siihrung ist aber noch immer keine Rede, das Handclsbuch des Mannes ist sein Gedächtniß, das in Geldsachen Erstaunliches leistet. Mehrt sich nnn das Geld in der heimlichen Truhe, so denkt unser Mann an die dritte Häutung uud wird Kaufmann erster Gilde, der nnnmehr modern enropäische Kleidung anlegt, die er trcch ihrer Nnschönheit n'ürdevoll zu tragen weiß. Er baut sich rin prächtiges Haus, nimmt alte und sunge Zwischenhändler an, die er in seinem „Kabinet" empfängt, nnd macht große Geschäfte und giebt grosic Feste. Entweder gewinnt cr ietzt ungeheure Summen, oder er macht Vankerott, Im ersten ^'al! aber sind es gewohnlich die Kinder, welche die bedeutende Erbschaft vom Vater, der in seiner Jugend einst ein kleiner bausirer gewesen, möglichst rasch durchbringen. Im zweiten 3all verschwindet die Familie nnter der Menge, allgemein bedauert, sofort jedoch von aller Welt vergessen. Daß die größten Hänser «löblich stürzen, kommt nirgends hänfiger vor, als in Nußland. 80. Markthandel. Die Art nnd Weise nnn des Handelsabschlusses ging auf Mit asiatisch vor sich. Nicht nach Proben und Mustern wurde 1o» 1W gekauft, nicht auf feste Bestellungen arbeiteten die Fabriken., nicht unter wohlbekannten Firmen von altem gutem Nuf be luegtcn sich die Geschäfte, gleichwie in Curopa, in feststehendem wohl übersehlichem Geleise, auch nicht mit Voraussicht auf längere Zeit und inii einem, Gewinn, der zum Voraus sich ziemlich sicher berechnen läßt. Viel eher war und ist theilwcise noch das Gegentheil uon alledem der Fall. Denn der (5ha-rakter des rnssischen Handelsbetriebs ist Wagnis; und rascher Umschlag. Dieser Handel ist Schacher im Großen: er ist nicht kaufmännischer Art, sondern Markthandel, deßhalb die Waare selbst zu Zeiten spottbillig, gewöhnlich aber theuer. Negel war, daß die Güter zn bestimmten feiten ans einen Platz zusammen geführt, dort besichtigt und getauft, dort die Preise gemacht wurden. Tie Aelteren nnter uns erinnern sich, was früher die Leipziger Messe war, nnd wieviel in Gegenden, wo bäuerliche Bevölkerung das große Uebergewicht hatte, die Jahrmärkte bedeuteten. In solcher Weise waren bis in die letzte Zeit Messen und Märkte die Hebel des Handels in Rußland, ^iiächta alt der russisch-chinesischen Grenze, Nischuij Nowgorod an der mittleren Wolga, Orenburg für das südweltliche Nußland, Tiflis für das tankasischc, Charkow für Klein-rusilaud erschienen als die vornehmsten Meßplätze, zahlreiche andere, die nicht so bedeutend, waren durch ganz Nußland zerstreut. Nach diesen Plätzen bewegen sich noch jetzt zu bestimmien Zeiten endlose Waarenzüge. Zur Dreikönigsmesse kamen m Charkow früher an hunderttausend Wageu und Tchlitten mit Ladung zusammen- Wochenlang treibt sich dort ein großes buntbewegtcö Marktgewühl hin nnd her in fieberhafter Unruhe, kommen uor-zngsweise Gutsbesitzer hin, um Wolle abzusetzen nnd ihre Ein känfe zn machen, ist es eine Panenmesfe: eine hitzige Messe heißt diejenige, auf welcher Alles in ein paar Tagen abgemacht werden nmß; eine Geldmcsse, wenn es uiele baar Geld haschende Juden 19? er Handelsverhältnisse ist anf diesm 3Nessen nicht zn denken; dafür gebricht es an Zeit und Nuhc. 3^lanchen auch, die gleich' ivohl große Geschäfte inachen, an gehörigen Kenntnissen. Die Hauptsache besteht darin, massenhaft zn taufen nnd gleich wieder loszuschlagen, bald mit großem Gewinn, bald nur mit Zins-gewinn, öfter auch mit Verlust, Nicht der baare Geldbesift, nicht die Gewißheit, daß er zahlen wird, gibt dem Käufer die Möglichkeit zu Ankäufen in: Großen, sondern die Lust dazu und der Kredit. Jeder fordert, Jeder gibt Kredit aufs U>p ssowisse. Nicht der Waare Güte, nicht ihre Billigkeit, sondern bic Größe des Credits anf sechs oder zwölf oder achtzehn Monate ist es, wodurch die Verkäufer einander niederringen, Dabei brauchen sie noch andere Mittclchen. nm ihre Kunden an zuziehen nnd festzuhalten. In der Bilde mit Eisenwaarcn verkanft man ihnen z. V. zum Linkaufspreise Peitschen, in der Zuckcrmlde Briefpapier. Kein Geschäftchen ohne Schnäpschen. Der Inhalt eines jeden Gläschens ist klein, die Zahl Legion. 57. Alte und neue Weise. ^ine Art großer Lotterie, ein Spiel mit allem aufregenden 9'eiz des Wettens und Wagens ist also solch ein Handel. Käufer und Verkäufer deuten: kommt die Waare richtig am Platze au, wo der Wiederverkauf stattfinden soll, und gelingt dort em rascher Absatz, so wird bezahlt; gelingt die Tache nicht, so tst es ein Unglück, das man tragen muß. Man erkennt leicht, wie sehr diesem altrussischen Hansir- nnd Markthandel, dieser langsamen nud nnsichern Waarenbeförderung "uf Pferde- nnd Kameelrücken, Wagen und Lastschiff noch das orientalische Wesen anhaftet. Daß es sich aber in solchem Um fange erhätt nnd nicht längst überholt wurde durch euro- 198 päische Handelsweise, dafür liegt der Grund im raschen Anwachsen uon Gebiet und VolkZzahl einer- und in der nnabselilicheu dünnbevölkerten Allsdehnnng des Reiche andererseits Würden Faiuilieu und Ortschaften ruhiger und gleichmäßiger auf einem Fleck verharren und wachsen, würde ihr Vereich sich ein Jahr wie das andere überschauen lassen, so müßte sich ein stätiges Maß dessen einstellen, was sie erzeugen nnd was sie brauchen, und der Verkehr könnte sich darnach einrichten- So aber geht die Bewegung der Beuolkernng so eilig vor sich, daß der Handel noch nicht nachkommen kann nnd ans Wandern und Ungewißheit angewiesen bleibt. Haben sich die Handelsleute im fernen Osten ans einem jüngst eroberten Lande sc> weit eingerichtet, daß sie Erzeugnisse nnd Dnrchgangswaare und ^racht-wege und Absatzweise kennen, so kommt alsbald ein benachbartes neues Gebiet hinzu, das sie wieder in ihre Berechnungen aufnehmen müssen- Und was dort an den Gränzen des Reichs sich ereignet, wirkt dann zurück auf alle Landschaften, die mehr nach vorn d, h- mehr nach Europa s Mitte hin liegen. Es ist ein ähnlicher Vorgang, wie er noch uor einigen Jahren in Nordamerika statt hatte, als im „fcruen Westen" ein Territorium und Staat nach dem andern den Vereinigten Staaten angegliedert wurde. Wo aber Nordamerikaner hinkamen, da brachten sieanch gleich ihre Posten nnd Telegraphen mit und zogen Eisenbahnen nnd Kanäle durch die Wildnisse. In Nußlaud geht das nicht so rasch. Dort langen in den wilden Landschaften zuerst die Soldaten an, um sie zn besetzen, — haben diese sich einigermaßen eingerichtet, kommen die.Händler, die ihnen LebenZnüttel zuführen, — eine Zeitlang später zeigt sich ein kleiner Vortrab von Kaufleuten, die sich umschauen, was sich für sie machen läßt, — nach noch einer Weile kommen die Missionäre der orthodoxen Kirche, ^ ihnen schließen sich bereits auch nichtmilitärische Ansiedler an, und mit diesen fängt erst ein ordentlicher Handel an aufzuleben, dem aber Eisenbahnen noch wie ferne goldene Träume erscheinen- 1W Wo aber und soweit die Eisenbahnen Rußland üblichen und die Flüsse sich mit Dmupfschiffen beleben, ändert sich der altgewohnte Handelsbetrieb und nimmt europäische Art und Weise an. Ties geschieht zuerst in den großen Städten, dann auf den übrigen Haltpläl;en der Eisenbahnen nud Dampfschiffe, später in belebten Nachbarorten, nno allmählig lernt man geordneteren Waarenverkehr etwas weiter im Lande kennen und richtet sich danach ein. Zwanzig Stunden von der Eisenbahn entfernt aber herrscht noch die alte Weise, und je weiter man nach Osten kommt, desto mittelalterlicher, desto asiatischer ist noch der gesammte Handelsbetrieb. XXVI. Grok- Ulld tilcinrulscil im Hlttldcl. 88. Hnusirer und Fuhrleute. Eine merkwürdige Verschiedenheit bekundet sich auch im Handelswesen hier der Groß dort der Kleinrnssen. Bei den Großrnsscn hänfen sich in den Gonvernements-und Kreisstädten die Waaren in Magazinen, zn denen der Gutsbesitzer nnd Beamte ab und zn kommt, nm ailszusnchon und zu feilschen. Der Vornehme geht natürlich nur in Magazine mit englischen oder französischen oder deutschen Waaren, er mnß zu Ausländern, nm, wie er meint, seine Würde zn behaupten. Den Hanvtvertrieb aber besorgen die Hausirer. Magazine und Hausirer gehören in Großrußland zusammen wie Offiziere nnd Soldaten, Die bedeutendsten Großhändler halten Agenten, die im Lande umhen'ahren und an festgesetzten Punkten mit den Hansirern oder „Jungen" zusammen kommen, um Waare ihnen zn geben oder von ihnen zu nehmen. Oefter bilden anch die .^orb- und Nasteuträger ihren Er-werbsbund (Artet) nnd wählen einen Hanptmann, den sie mit Wagen und Pferd ansrüsten- Dann bestimmen sie die Städte und Tage, wo sie alle sich treffen wollen. Diese Städte liegen vielleicht hundert Stunden in: Umkreise, vielleicht auch nimmt ihr Gcsammtgebiet den fünften oder vierten Theil von Ruft-land ein. Der Hauvtmnun erhält nnn ans Credit nnd etwas 201 Anzahlung verschiedene Waaren von den Großhändlern und vertheilt sie nnter seine Genossen. Gleichwie Strahlen von einem Punkte ans ziehen Diese zu Fnß durch das Land, von Ort zu Ort, von Gut zu Gut, und schwatzen den Leuten ihre Waaren ans. Ist der Tragkorb bald leer oder sind sie bis an's Ende ihrer uorbestimmten Rciselinie angekommen, so wenden sie sich nnd pilgern der nächsten vorausbestimmtcn Stadt zu, wo sie Alle wieder znr festgesetzten Zeit bei ihrem Hanptmann vereinigt siud. Da machen sie brüderlich Abrechnung. Oefter verschieben sie auch das unangenehme Rechnen bis ganz znletzt, wo der Artel sich auflöst, und wird dabei der Eine vom Andern oder werden Alle vom Hauptmann auch noch so sehr betrogen, find sie doch gewohnlich geneigt, Dergleichen zu verzeihen. Das Auf- nud Abwandern war ja ihre Freude, das Erwerben Glückssache, nnd was Geldsparcn und Geldanlegen betrifft, Nt dieses Volk gewöhnlich der Leichtsinn selbst, wenige Schlaue ausgenommen, die dann in der Regel auch emporsteigen. Die kleinrnssischen Hausirer halten den Spruch uor Augen : Bleibe im Lande nnd nähre dich redlich. Sie verkehren gewöhnlich unr in der Umgegend ihres Wohnsitzes, wagen nicht viel, nnd sind zufrieden, wenn sie nach langem Wandern und Handeln souiel Geld erspart haben, daß fie sich ein Häuschen mit ^uh und Garten oder auch ein Gütchen kaufen können. In Kleinrußland richtet sich bei dein gemeinen Manne das iagliche Trachten auf Erwerb von Grundbesitz, bei den Groß-russou auf eiligen Geldgewinn- Von der größten Bedeutung ist der Hausirhiiudel für die kleinen landwirthschaftlichen Erzeugnisse, die Prassolstowowaaren. Jede Banersfran oder tleine Gutsbesitzerin hat ein Häufchen Vorstcn und Flaumfedern oder einen Topf Wachs Honig nnd Talg oder ein Viindel Hanf nnd Wolle oder etwas Getreide oder eine Ziegenhaut oder ein Stückchen Leinwand oder Jung' vieh. Ein Artikel dieser Art ist seiner Kleinheit wegen wenig 202 werth und gern wirft man ihn fort für allerlei Tand nnd Hausrath: gesammelt aber wird daraus ein bedeutender Werth für den Markt und die Ausfuhr. Bei den ^teinrussen giebt es aus den Ortschafteu Fuhrleute, die am bestimmten Tasse durch-fahren und solche kleine,sAmsartitel mitnehmen. Oefler werden sie ihueu auf Treue uud Glauben iibergeben und sie bringen, weun sie das Nächstemal kommen, ehrlich zurück, was sie in einer Stadt dafür erlöst haben. Aei deu Großrusscu läßt der ,hausirer diese Waare sich selber nicht entgehen, er feilscht mit Leidenschaft in den zahllosen kleinen Baueruhütten um jeden Topf, um jedes Bündel- Von deu großen Gütern bringen die Händler selbst oder ihre Agenten solch landwirthschaftliche Erzeuguifse zusammen. Ohne langes Prüfen und Bedeuten wird die Waare je nach dem augenblicklichen Stande des Marktes znsammengekanft, dann geht sie au den größeren Kaufmann, von diesem vielleicht noch durch die dritte uud vierte Haud an den eigentlichen Großhändler, Jeder Zwischenhändler kanft halb auf Hoffnung, keiner mit Sicherheit gnten Absatzes Jeder größere .^aufmaun hat seine bekannten Fnhrleute au der Haud, die uicht selteu auch ihre Artels bilden- Der IZwoschtschi! ist der Großrnsse, der ohne Bedenken eine Ladung bis in die entferntesten Gegenden unternimmt, der Furschtfchik ist der ,Veimnssc, der uicht „nach Rußland", soudern blos zu seinen eigenen Plätzen, d. h. im alten kleinrnssischen Gebiete fährt. Jener spannt Pferde vor seiueu Wagen und fährt Sommer und Winter durch, dieser hat Ochsen uud geht blos in guter Jahreszeit anf diese Reise, wo das Gmsfutter billig ist. Der Großrnsse lebt flott uuterwegs uud übernachtet im Wirthshanse, der Kleinrusse macht sich Abends auf freiem Felde sein Feucrchen an, kocht sich daran seine Grütze nnd wickelt sich zum Schlafen in seiue Decke ein. Der Eine befördert das anvertraute Gut rasch, aber nusicher, der Andere langsam, jedoch redlich nnd zuverlässig. 203 8!>. Hcmdclsbedelltung Klcinruszlands. Tit! Heimath aber der kleiurnssischen Fuhrleute nahm von jeher inl russischen handelswesen eine Ttellllng ein, die weit über die Größe ihres Landes hinaus rassle.') Es besitzt so viele Messen und Jahrmärkte, daß, in Farben ausgedrückt, sein Gebiet hochroth erscheint, Großrußland dagegen kaum mattgelbcn Tchimmer zeigt. Während das Gouvernement Charkow allein über 4()0 Messen und Jahrmärkte, das von Poltawa nnr wenig darunter zählt, hat ein großrussisches Gouvernement etwa zehn bis zwanzig. Kleinrnßland ist das rechte Land der wandelnden Bazars: kamn ist an einem Ort der Markt zu Ende, so wird eilends eingepackt nnd znm nächsten andern gezogen. Klein-rußland nimmt ein gutes Drittel russischer Industriewnare für sich allein. Auf seinen Märkten wird für sie, wie für die öafenwaare, die zur 3ee geht, gar häufig der Preis gemacht, der für ganz Nußland mehr oder weniger Norm gibt. Diese Handelsbedeutnng des kleinrussifchm Gebiets erklärt sich ans seiner Lage in Verbindung mit Geschichte uud Be-uolkerungsart. Dieses Gebiet behauptet noch heutzutage die Mitte zwischen den polnischen uud Ostsee-Ländern, Südrußland und dem ganzen Osten. Die großen Handelsstraßen zwischen der Ostsee und dem Afowschen und Tchwarzen Meere führen über altes Gebiet der Kleinrnfscn, Doch das allein erklärt noch nicht, warum das verhältnißmäßig kleine Land noch jetzt die lebendigste Handclsmitte ist, das hängt mit seiner Neltstelluug in früherer <>>eit zusammen. Es lag an beiden Teiten des Dnjeur, der noch jetzt von seiner Mündnng bis Krementschug für große nnd höher hinanf für kleine Tchine fahrbar ist. Großrußland oder Moskowien erschien damals, als es noch bloßeo Binnenland war uud feine ') I, Als a low Das Volksleben und dic Wcsscu in d«' Utmin,,', 1,^">4, !« Nodenstcdt'3 Riiss, Fragmenten, I N!3—259. 204 Bevölkerung noch genug, keineswegs bedeutender als Polen. Die Strecken nördlich nnd östlich uon der Wolga konnten ja noch gar nicht in Betracht kommen. Nnn halte Veinrnsiland anf der einen Seite die Polen Weißrussen nnd Moskowiter (Großrnssen), anf der andern Galizieil Ungarn Siebenbürgen nnd die Walachei. Nach Westen hin streckten die Veinrnssen einen Zweig ihres Volkes zwischen die Polen Slovaten Magyaren Walachen nnd Deutschen hinein, nach dein Tüdostcn hin aber blieb lebendig die uralte Verbindung mit dem Schwarzen Meer nnd By',anz. Die Kleinrussen selbst aber wustten die Vortheile ihrer Lage zu benutzen, empfingen Waare von alleil Enden, hier Mann-faktnr dort Noherzeugnisse, nnd verführten sie nach jeder Richtnng. W. Kosakcnzoit. Als Kleinrnsiland seine romantische Vpoche erlebte, blieb sie nicht ohne Nachwirknng im Vandelsgetriebe. Wenn die Standlager der Kosaken mit Raubgittern gefüllt waren, wnrden sie uon Händlern besncht, die ihnen Sklaven Nosse Pclzwerke Geschmeide und feine Waffen abkauften. Tie Kosaken selbst gebrauchten vielerlei, was sie in der Steppe sich nicht machen konnten, als da waren Zenge, Arznei nnd Salbe, Gewürze, Schmncksachen, Wein nnd andere Getränke. Sie mußten also kanfen nud verkaufen, nnd es kamen deshalb Griechen Inden nnd Walachen zn ihnen, Waaren zn bringen und zn nehmen. Besonders wenn die Kosaken ihre Iahresfeste feierteil oder im Frühsommer sich zn einem Zug in die Ferne ausrüsteten oder im Spätherbst mit Aente zurückkehrten, entwickelte sich um ihre, Zelte uud Blockhäuser eiu lebhafter Markt-verkehr. Die Kosaken konnten anch nicht immer insgesammt nnd anch nicht das ganze Jahr hindnrch den: Kriegs- lind Nanb-gewcrbe obliegen, das verbot sich schon von selbst. Sie konnten 205 anch nicht für Mann nud Nosi sich alle Nahrung znführen lassen, sie mußten selbst Feldbaner nnd Viehziichter iverden nnd hatten bei der Fruchtbarkeit des Vodens oft genng Getreide allerlei Vieh 2alg Häute nnd dergleichen übrig. Es kamen anch Zeiten, wo mit den Nachbarn Friede war, wo man sich von Niederlagen erholen mußte, oder nenc Züge nüt den Genossen vorsichtig geplant u,>urdcn, in solchen Zeiten, die Monate nnd Jahre dauerten, wollte das nnruhige Volk Beschäftigung haben. Was lag näher als yandel treibend Wo die Vildung noch mit halben! Naturzustände im dampfe liegt, sseheu Naub nnd vandel leicht in einander nber. Der 5?osak, der zu allen Völkern in die Nnnde, streifte, wusite am besten, was die b'inen ini lleberfluß hatten nnd woran die, Andern Mangel litten. To »onrden denn Eamnthiere nnd ^chseniva^en beladeil und in die ^ernc ssezogen. Gelduerdirnst und luftig Wander nnd ,vändlerleben — Veides lockte gleich' »msnii. Je mehr Ordnung und Nnhe in die Ansiedluugen der ttosaken kam, je mehr der Raubkrieg anfhörte jeden Mailnes täglicher Verus in sein: — n»d das erfolgte überall, seit das ^and polnisch wurde, — desto zahlreicher und regeliuäsuger wurden diese Hmidelszügc. Salz nnd Fisch vom Schwarzen Meer zn holen, erschien so nothwendig nnd lohnend, das; sich dessen eine Gruppe der Kosaken, die Tschumaks, als ihres eigenthümlichen Gewerbzweiges bemächtigte. To nahm das Land der Kosaken mehr nud mehr eine bedeutende Ttellnng im Welthandel ein. Cie holten von allen Eeiten Waare aus der Fremde herbei, gewöhnten sich, selbst viel davon ;n brauchen, nud brachten das Nebnge gegen baaren Gewinn zu den Nachbarn. Ihr Land wurde noch mehr als früher die Stätte der Lin- nnd Ausfuhr, der Niederlage, und des Austausches sowohl fur die landwirtschaftlichen Erzeugnisse der Großrussen nnd Tataren, als für die Mnnnfaktnrwaare, die ans Oesterreich Schlesien und Polen kam. 206 91. Polnische Zeit. Eine andere Ursache kam hinzn, um den Handelsverkehr füv Kleinruszlaud zn festigen und zu fördern, dies war die städtisch Bevölkerung. .^lcinrußland hatte Städte: östlich von seinen Gränzen gab es in den weiten Gebieten dor Moskowiter nnd Tataren nnr Ortschaften, Ätoskau nnd noch etwa ,^asan nnd Astrachan ausgenommen. Die polnischen Könige bewidmeten nnn die kleinrnssischen Städte uüt Maadeburger Necht, verliehen ihnen stärkt- und Meßprivilegien, und gaben sich alle Mühe, sie in regelmäßigen Handelsverkehr mit Deutschland, insbesondere mit Schlesien, hineinzugehen, Kleinrnßland ivnrde der Gränzposten der europäischen Civilisation, und etwas von diesem Charakter verblieb ihm bis aus den heutigen Tag im Gegen sa<; znm Lande der Großrusson. (5'iner der letzteren schrieb uor jelzt etwa hundert Jahren über Kleimnßland wie fo!s,t; ') „Die weißen, reinlichen und hellen Nancrnhäuscr, die gut bearbeiteten Gärten, die ange legten Obstgärten zengen von einer Lebensweise, die sich sehr von der Lebensweise Anderer (d. h. der Großrussen Finnen mw Tataren) unterscheidet. Dies ist der Grnnd jener Sympathie und jener aufrichtigen Zuneignng, die mit Wohlgefallen von allen Fremden empfunden wird, welche in ihre Dörfer kommen und dort Quartier nehmen. Der Geist europäischer Gesittung fern von aller asiatischen Wildheit, erfüllt die innern Gefühle mit einem gewissen Wohlbehagen; der Geist der Ehrliebe, welcher zn einer Erbtngend der Bewohner geworden ist, verhindert jede sklavische Unterwürfigkeit und Kriecherei, ^ er ist der Stimme der Obrigkeit gern gehorsam, aber ohne knechtische Furcht." Die Meinrussen sind seit dieser Schilderung sich gleich geblieben, es weht eine europäische Lnft dnrch ihr Land. Sie find viel wohlhabender, aber nuch ehrlicher nnd fleißiger, als l) Topographische VeichreibmiH der L!iarlow'jttn',i TwttlnilN'lichatt, Kn'w 18?ü, in Bud cnslcdt Rufs, FrMM'üte» II 171, A» 7 die Großrussell, haben, ihren Feld« und Gartenbau in, gutem Stand erhalten, nnd sind jetzt znm Anbau uon Tabak nnd Zuckerrüben nnd zl, besserer Viehzucht iibergegangen. Wie sehr aber hat sich in diesen hundert fahren der Großrusse zu seinein Vortheil ueriindert! Nie ist er mit lachender Starte und Mhn heit der .Veinrussen Meister geworden! Von seiner cigelithiiililichellvandelsstelliilig herbehielt Klein-rußlaud uoch lailge seine eigene ,^ollgränze gegen das übrige Reichsgebiet, Als diese Zollschranke fiel, stürzten die großrns-sischen Händler darüber her, wie über ein erobertes ^nnd. Grosirnsseu nnd polnische Juden füllten seine Messen und Märkte an und überboten sich, den Minrussen auszuholen nnd niit ihrer Waare zu überladen. Die großrussischen Fabrikanten kamen nut Agenten und Hansirern, um ihre Manusnktnr au den Mann zu bringen, nnd die großrussischen .^tanfleute bemächtigten sich des vandels und baneten sich in den Städten der Ukraine ein steinernes Halls nach dem andern. Der einge-schüchterte ^leiurusse wich anfauas ihnen ans, er ging nach dem Süden lind Westell: denn uor dem Lande der Moskowiter (Großrusseu) behielt er seiue alte Scheu. Erst in den beiden letzten Jahrzehnten haben die, Meimussen sich wieder ermuthigt. Sie lasseu sich nnu selbst lind in Menge in den Städten der Grosirusseu nieder nnd überbieten sie durch (Neist Emsigkeit und haushälterischen Sinu auf dein Gebiete des Handels, wie der ^ikeratnr nnd Wissenschaft,